Form- und Bewegungskräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft 3110743930, 9783110743937

Die Beiträge des Bandes untersuchen Vorstellungen von Form- und Bewegungskräften anhand von Beispielen aus Kunst, Musik,

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Form- und Bewegungskräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft
 3110743930, 9783110743937

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Form- und Bewegungskräfte
Kraftreflexionen: Natur, Geschichte, Ästhetik
Biologische Autonomie
Natur, ‚Kraft‘ und Geschichte
Handelnde Kräfte
Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900
Bewegungskräfte in den Künsten
Die Form musikalischer Bewegungskraft nach 1600
Elevation – Erhebung – Schweben
Wandern, winden, sprossen, steigen
Plötzliches Italien
Transformationen
Liquid Matters
Formkräfte: Ökonomien, Organismen, Techniken
Die Pflanze als Erfinder
Technologie im Sinne Leonardos?
Das Unding der Kraftverschwendung
Die unheimlichen Kräfte der Natur in ‚spekulativen Seinserzählungen‘ von der Romantik bis zur Gegenwart
BILDNACHWEISE

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Form- und Bewegungskräfte

Band 11

Herausgegeben von Frank Fehrenbach Cornelia Zumbusch

Form- und Bewegungskräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft Herausgegeben von Frank Fehrenbach, Lutz Hengst, Frederike Middelhoff, Cornelia Zumbusch

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer FOR 2767

ISBN 978-3-11-074393-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074396-8 ISSN 2698-7899 Library of Congress Control Number: 2021946969 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Reihengestaltung: Petra Florath, Stralsund Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis



Lutz Hengst und Frederike Middelhoff

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Vorwort



Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch

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Form- und Bewegungskräfte Zur Einleitung

Kraftreflexionen: Natur, Geschichte, Ästhetik

Georg Toepfer

37

Biologische Autonomie



Simone De Angelis

51

Natur, ‚Kraft‘ und Geschichte



Adrian Renner

77

Handelnde Kräfte Zur Narrativierung der Natur in Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791)



Malika Maskarinec

97

Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900

Die Kraft aus der Form, oder: Die Rehabilitierung der Lebenskraft aus dem Paradigma der Selbstorganisation

Kraftkonzeptionen in den ‚Wissenschaften vom Leben‘ und ihre Bedeutung für die Analogie von Natur und Geschichte in der Spätaufklärung

Bewegungskräfte in den Künsten

Ivana Rentsch

119

Die Form musikalischer Bewegungskraft nach 1600



Ivo Raband

141

Elevation – Erhebung – Schweben



Frederike Middelhoff

167

Wandern, winden, sprossen, steigen



Caroline Torra-Mattenklott

193

Plötzliches Italien



Isa Wortelkamp

215

Transformationen



Schirin Kretschmann

231

Ortsbezogene Interventionen mit Lederfett

Zur fundamentalen Neubestimmung klanglicher Phänomene zwischen Mechanik, Universalharmonik und höfischem Verhaltensideal im Frankreich Marin Mersennes

Bewegungskräfte im Mausoleum der Grafen von Holstein-Schaumburg und in der Auferstehungsgruppe des Adriaen de Vries

Pflanzliche Bewegungskräfte und romantische Phytopoesie (Sophie Mereau/Henriette Schubart)

Bewegungskräfte und literarische Form in Kafkas frühen Reisetexten

Der Serpentinentanz Loïe Fullers in Bewegung und als Bild

Liquid Matters

Formkräfte: Ökonomien, Organismen, Techniken 251

Matthew Vollgraff

Die Pflanze als Erfinder Raoul Francé, die Biotechnik und die Avantgarde der Zwischenkriegszeit



Magdalena Holzhey

291

Technologie im Sinne Leonardos? Zum Begriff einer organischen Mechanik bei Joseph Beuys



Lutz Hengst

303

Das Unding der Kraftverschwendung



Sophie Wennerscheid

329

Die unheimlichen Kräfte der Natur in ‚spekulativen Seinserzählungen‘ von der Romantik bis zur Gegenwart

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Bildnachweise

Erscheinungsweisen und Grenzen von Verausgabung in der Kunst nach 1945

Lutz Hengst und Frederike Middelhoff

Vorwort

Der vorliegende Band II der Reihe Imaginarien der Kraft, herausgegeben von der gleichnamigen DFG-Kolleg-Forschungsgruppe an der Universität Hamburg, widmet sich aus kunst-, literatur- und wissenshistorischer Perspektive Konzepten und Phänomenen von Form- und Bewegungskräften in der bildenden Kunst, in Tanz, Musik, Fotografie und Literatur. Die Publikation geht initial auf die erste Jahrestagung der Kolleg-Forschungsgruppe zurück, die im Januar 2020 unter dem Titel „Form- und Bewegungskräfte“ im Warburg-Haus in Hamburg stattfand. Das fachliche Spektrum der Tagung wurde für den Sammelband nun um Beiträge ergänzt, die sich zu den Fragen nach Kräften in den verschiedenen Künsten aus diskurs- und begriffsgeschichtlicher Perspektive in Beziehung setzen. Die Beiträge des Bandes sind den Sektionen (1) Kraftreflexionen, (2) Bewegungskräfte und (3) Formkräfte zugeordnet. Sie versammeln die Aufsätze entlang methodisch-konzeptueller, motivischer oder auch historischer Schwerpunkte zueinander, ohne dabei die zahlreichen sektionsübergreifenden Fragestellungen gegeneinander abzuschließen. Im Folgenden werden die einzelnen Sektionen und Themenbeiträge kurz umrissen; die Einführung in die Leitthemen des Bandes besorgen Cornelia Zumbusch und Frank Fehrenbach in einem anschließenden Beitrag. Die erste Sektion widmet sich wissens-, philosophie- und ästhetikgeschichtlich orientierten Perspektiven auf die Frage, in welchen Kontexten, mit welchen Argumenten und mithilfe welcher Darstellungsstrategien über den Begriff der Kraft nachgedacht wurde. Die Beiträge untersuchen Vorstellungen und Funktionalisierungen organischer und mechanischer Kräfte von der Antike bis in die Gegenwart und stellen dabei die Konjunktur einer Reflexion über Kräfte, ihre Erklärbarkeit und Formausprägungen in den historischen Schwellenepochen der Zeit um 1800 und 1900 vor Augen. Georg Toepfers wissens- und philosophiegeschichtlicher Beitrag Bio­lo­ gische Autonomie. Die Kraft aus der Form, oder: Die Rehabilitierung der Lebens­ kraft aus dem Paradigma der Selbstorganisation zeichnet in einer diachronen

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Lutz Hengst und Frederike Middelhoff

Übersicht die Grundlinien des Stellenwerts und der Entwicklung einer Vorstellung von Kräften nach, die als Bedingungen des Organismus und des Lebens konzipiert werden. Während in der Antike und in der Frühen Neuzeit die Annahme eine Vielzahl lebendiger Kräfte dominierte, wurde die Existenz und Erklärungsfunktion einer spezifischen ‚Lebenskraft‘ in der Biologie und Philosophie des späten 18. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt. Mit der Dominanz morphologisch konzipierter Vorstellungen von Körpern in der Physik und Mechanik zog im späten 19. Jahrhundert dann eine bis heute maßgebliche Erklärung von organischen Kräften als spezifische Begrenzung körperlicher Formen in die Diskussion ein. Toepfer zeigt allerdings auch, inwiefern das als Kraft konzipierte Vermögen einer solchen ‚Form-‘ bzw. ‚Selbstbegrenzung‘ bereits im 18. Jahrhundert bei Immanuel Kant, Johann Christian Reil und JeanBaptiste de Lamarck bedeutsam wurde und aktuelle Debatten über „organische Formen als Kräfte“ im Prinzip schon vorwegnahm. Auch Simone De Angelis beleuchtet in Natur, ‚Kraft‘ und Geschichte. Kraft­ konzeptionen in den ‚Wissenschaften vom Leben‘ und ihre Bedeutung für die Ana­ logie von Natur und Geschichte in der Spätaufklärung den Begriff der Lebenskraft, legt den Fokus dabei aber auf die philosophie- und funktionsgeschichtli­ chen Dimensionen der Diskussion um die organischen und die ‚Natur-Kräfte‘ im 18. Jahrhundert. Maßgeblich ist dabei ein sich um 1750 vollziehender ­Para­­­digmenwechsel, den De Angelis als eine Analogisierung von Natur und Geschichte beschreibt. Sein Beitrag verdeutlicht, wie ‚die Wissenschaft vom Leben‘ und ein insbesondere durch George Louis Le Clerc de Buffon initiierter historisierender Ansatz von Organismus- und Erdentstehung ein neues Ge­­ schichts­­denken jenseits einer Verklammerung von Naturgesetzlichkeit und Moral begründete. Organische Kräfte spielten in diesem u. a. für Johann ­Gottfried Herder und Alexander von Humboldt relevanten Verständnis einer Interdependenz von Natur-, Menschheits- und Kulturgeschichte eine zentrale Rolle und beförderten die vitalistischen Theoriebildungen des späten 18. Jahrhunderts. Unmittelbar an De Angelis anschließend führt Adrian Renner in seinem Beitrag Handelnde Kräfte. Zur Narrativierung der Natur in Herders ‚Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ (1784–1791) Johann Gottfried ­Herders Reflexionen und ambivalente Verwendungsweisen des Kraftbegriffs im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Lebendigkeit und Mechanik, Menschheitsgeschichte und Geschichtsschreibung mit literaturgeschichtlichen und erzähltheoretischen Fragestellungen eng. Renner erläutert unter Rückgriff auf Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), wie Herder in den Ideen ausgehend von der Vorstellung permanent wirksamer Naturkräfte, die Bildungsvorgänge von Lebewesen ebenso wie physikalische Prozesse bedingen, ein temporal und kausal verknüpftes Darstellungsmodell für seine Überlegungen zur Menschheits- und Kulturgeschichte entwickelte. Deutlich wird dabei

Vorwort

nicht nur, dass Herder die Kräfte der Natur als handlungs- und wirkungsmächtige Instanzen konzipierte, sondern vielmehr auch, dass seine Strategien der Darstellung handelnder Kräfte romantheoretisch betrachtet als narrativ aufzufassen sind. Wie Kraftvorstellungen, Körperwissen und Formen in Raum und Zeit in den ästhetischen Theorien der Einfühlung im Übergang zum 20. Jahrhundert gedacht wurden, veranschaulicht Malika Maskarinecs Beitrag Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900. Anhand der Grundtheoreme der zentralen Vertreter einer Empathie für anorganische Entitäten – Theodor Lipps und Heinrich Wölfflin – erläutert Maskarinec die Relevanz und Erklärungsfunktion des aus der Mechanik und Physik entlehnten Kraft­begriffs. Kraft, so kann Maskarinec unter Einbezug der für die Einfühlungs­ästhetik wesentlichen Theorien ­Hermann von Helmholtz’ und Robert Vischers zeigen, wurde von Lipps und Wölfflin als Lösungsfigur für ein epistemologisches Problem und als Scharnier zwischen leiblichem Erfahrungswissen und mechanischen Prozessen verstanden. Wenn alle Lebewesen und Dinge als um Homöostase bemühte kinästhetische Formen erscheinen, seien ganz buchstäblich Kräfte am Werk. Gestalt und Kraftausdruck wurden daher laut Maskarinec in der Einfühlungsästhetik um 1900 als kongruente Einheiten gedacht. Um den Stellenwert der ästhetischen Funktionalisierung von Kräften in Bezug auf Prozesse der Bewegung geht es in der zweiten Sektion des Bandes. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage, wie und warum in der Musik, der Literatur, der bildenden und der darstellenden Kunst die Rede und Inszenierungen von Bewegungskräften maßgeblich werden. Die Beiträge beleuchten dabei ein künstlerisch und historisch breites Spektrum, das von der Instrumentalkunst des 17. Jahrhunderts über die Lyrik der Romantik bis in die Prosa und Tanzkunst der ästhetischen Moderne um 1900 reicht. Ivana Rentsch lotet in ihrem Beitrag Die Form musikalischer Bewegungskraft nach 1600. Zur fundamentalen Neubestimmung klanglicher Phänomene zwischen Mechanik, Universalharmonik und höfischem Verhaltensideal im Frankreich Marin Mersennes am Beispiel der Harmonie universelle des Minimenpaters Mersenne Vorstellungen von Bewegungskraft und das Verhältnis von Musiktheorie, Mechanik und Moral im frühen 17. Jahrhundert aus. Rentsch verdeutlicht, inwiefern Mersenne die u. a. von Galileo Galilei gewonnenen Erkenntnisse zur Mechanik nicht nur für eine Theorie des Klangs, der Universalmusik und ihrer Wirkungsästhetik fruchtbar machte, sondern auch mit der Frage nach den göttlichen Ursprungskräften und mit dem sozialen Verhaltens­ideal des honnête homme auszutarieren suchte. Um sich von den bewegenden Kräften der Musik nicht überwältigen zu lassen, betonte Mersenne die Relevanz einer gemäßigt-tugendhaften, aber gleichfalls kraftvollen Komposition, die er u.a. in Jacques Mauduits Messe de Requiem realisiert sah. Rentsch arbeitet die

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Lutz Hengst und Frederike Middelhoff

­historischen Bezüge zur höfisch-geistreichen Form des ‚gewissen Etwas‘ heraus, dessen Ursprünge sich laut Mersenne, ebenso wie die Kraft der Musik, der menschlichen Erkenntnis entziehen. Ivo Rabands Beitrag Elevation – Erhebung – Schweben. Bewegungskräfte im Mausoleum der Grafen von Holstein-Schaumburg und in der Auferstehungsgruppe des Adriaen de Vries setzt bei einem herausragenden Beispiel der nordalpinen Grabmalskunst des frühen 17. Jahrhunderts an. In der ostwestfälischen Provinz ließ der aufstrebende Graf Ernst von Holstein-Schaumburg ein Mausoleum durch Adriaen de Vries, kaiserlicher Bildhauer und Kenner Giambolognas, mit einer Auferstehung Christi ausstatten, wobei ein zentrales Thema der Skulptur der Akt der Erhebung ist. An ihr lässt sich nicht nur die intensive renaissancekünstlerische Auseinandersetzung mit einer Steigerung körper­ licher Bewegungskraft erfahren, sondern mit einem Aufstiegswillen im übertragenen Sinne zusammensehen. Frederike Middelhoff nimmt in ihrem Beitrag Wandern, winden, sprossen, steigen. Pflanzliche Bewegungskräfte und romantische Phytopoesie am Beispiel der botanisch informierten Pflanzen-Gedichte der Schwestern Sophie Mereau und Henriette Schubart das Spannungsverhältnis in den Blick, das die Darstellung vegetabiler Bewegungskräfte in Lyrik und Naturforschung um 1800 kennzeichnet. Während die Botanik von der Annahme einer prinzipiellen Unfähigkeit pflanzlicher Lebewesen zur Eigenbewegung und -wirksamkeit geleitet war, wie Middelhoff am Beispiel der Schriften der für Mereau und Schubart zentralen Referenzfigur August Batsch zeigt, unterminiert die Phytopoesie Mereaus/Schubarts die Vorstellung eines Bewegungsunvermögens der Pflanzen gleich auf mehreren Ebenen. Die argumentativen Widersprüche, die Batschs Vorstellung pflanzlicher Kräfte durchziehen, machen die Autorinnen in ihrer Lyrik zugunsten einer Revision phytologischer Vermögen u. a. mittels der ­rhetorischen Personifizierung und Verlebendigung produktiv, die Mereau/ Schubart gleichermaßen einen Raum eröffnen, um Geschlechterdifferenzen subversiv verhandeln zu können. Caroline Torra-Mattenklott analysiert in Plötzliches Italien. Bewegungskräfte und literarische Form in Kafkas frühen Reisetexten das Zusammenspiel von Bewegung, Wahrnehmung und ästhetischer Darstellung in der von Franz Kafka verfassten Reportage Die Aeroplane von Brescia (1909) und in den ebenfalls in Italien angefertigten Reisenotizen aus dem Jahr 1911. In Verbindung mit Kafkas zwischen Ermüdung und Energetisierung oszillierenden Tagebuchreflexionen stellt Torra-Mattenklott die dramaturgischen und kompositorischen Elemente der Reisetexte in den Vordergrund, die bei der Diskrepanz zwischen Bewegungserwartung und -ausführung und bei den auf der Reise und in der Bewegung perspektivierten, maximal abstrahierten „Bewegungsskizzen“ ihren Anfang nehmen. Torra-Mattenklott deutet nicht nur an, dass sich in diesen frühen Texten Kafkas die erst wesentlich später in den Tagebüchern doku-

Vorwort

mentierten Kräftemängel manifestieren, sondern dass die Kräfte der Bewegung in den Reisetexten vielmehr an der Ästhetisierung der Reisewahrnehmungen und ihrer Literarisierung maßgeblich beteiligt sind. Isa Wortelkamp ruft in Transformationen. Der Serpentinentanz Loïe Fullers in Bewegung und als Bild die Erfindung eines Tanzes in Erinnerung, der bereits zu Lebzeiten der mit ihm identifizierten Bühnenkünstlerin legendär geworden war und heute zum festen Bestand der Tanzgeschichte zählt. Von nahezu genauso großer Bedeutung wie der performativ-physische Einsatz Loïe Fullers in Theatern dies- und jenseits des Atlantiks war allerdings, wie Wortelkamp zeigt, der Einsatz von Licht- und Kameratechnik sowie besonders von Fotografien. Gerade mithilfe dieser konnte sich die Mehrdimensionalität einer spezifisch modernen Bewegungs- und Formkunst an ein entsprechend erweitertes, oft enthusiastisches und stets assoziationsfreudiges Publikum vermitteln. Schirin Kretschmanns Beitrag Liquid Matters. Ortsbezogene Interventionen mit Lederfett bereichert den Band um einen Blick auf eine Reihe von Arbeiten aus der gegenwärtigen Produktion durch die Künstlerin selbst. Ihre Besonderheit in der Auseinandersetzung mit Form- und Bewegungskräften gründet zunächst in der Konzentration auf Qualitäten des – im Kunstkontext – ungewöhnlichen Basismaterials: Kretschmann greift auf industriell gefertigtes Schuhpflege- und Lederfett zurück. Durch den gezielten Auftrag auf unterschiedliche Trägergründe demonstriert sie die bemerkenswerte Eigendynamik, die das grundsätzlich liquide Material je nach Exposition annehmen kann. Im weiteren Zusammenspiel mit den Umgebungsbedingungen, mit Licht und Temperatur, außerdem mit der Geschichte von Architektur und Ort, zeigen sich die Lederfettarbeiten als komplexe Versuchsaufbauten, die in ihrem spezifischen Bewegungsrhythmus ein aktuelles Beispiel der Energie dynamischer Form vor Augen führen. Die dritte, den Band abschließende Sektion wendet sich künstlerischen, fotografischen und filmisch-literarischen Rekursen auf Formkräfte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu. Der historische Bogen schließt frühe Positionen zum Verhältnis von maschineller Produktivität zu Erscheinungsformen organischer genauso ein wie künstlerische Arbeiten aus den Jahrzehnten nach den Weltkriegen. Im Ringen um Formungsressourcen inmitten sich zuspitzender zivilisatorisch-ökologischer Krisen berühren sie sich. Vor dieser Folie scheint konsequent, dass ganz zum Schluss des Bandes aktuelle Werke ein Thema werden, die ein Formgeschehen jenseits menschlichen Einflusses visionieren. Matthew Vollgraff richtet in Die Pflanze als Erfinder. Die Biotechnik Raoul Francés und die Avantgarde der Zwischenkriegszeit, vor einem detailkenntnisreich aufgespannten Hintergrund insbesondere der Bauhaus-Moderne und des Konstruktivismus, den Fokus auf die frühen phytologisch-biotechnischen

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Lutz Hengst und Frederike Middelhoff

Publikationen des österreichisch-ungarischen Botanikers Raoul Francé. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts war Francé Autor populärer Sach­ bücher und, gemeinsam mit Wilhelm Bölsche, Zeitschriftenherausgeber, wobei seine teils esoterischen Titel einen nach 1930 in Deutschland immer fataleren Zug zu gesellschaftlicher Homogenisierung erahnen lassen – und zwar nicht zuletzt aus einem dezidiert organizistischen Formdenken heraus. Magdalena Holzheys, mit Technologie im Sinne Leonardos? Zum Begriff einer organischen Mechanik bei Joseph Beuys überschriebene Interpretation mehrerer Beuys-Arbeiten nimmt ihren Ausgang bei Zeichnungen, die der Künstler 1975 in kleiner Buchauflage zu Leonardos Codices Madrid herausgebracht hat. Dabei rückt das Konzept einer „organischen Mechanik“ in den Mittelpunkt, das allerdings nicht auf eine modernistische Totalwissenschaft ausgeht. Vielmehr versucht Beuys, so Holzhey, an eine als ursprünglicher aufgefasste Verknüpfung von Mechanik und Morphologie anzuschließen. Darüber lassen sich dann auch visionäre Entwürfe verstehen, in denen sich Mensch und Maschinen zu neuen Formen verbinden. Lutz Hengst geht in seinem Text Das Unding der Kraftverschwendung. Erschei­ nungsweisen und Grenzen von Verausgabung in der Kunst nach 1945 der Frage nach, inwieweit eine Verausgabung von Kraft in der bzw. als Kunst des 20. Jahrhunderts denk- oder sogar nachweisbar ist. Sowohl in überblickender kunsthistorischer Perspektive als auch anhand ausgewählter Positionen der Kunst nach 1945 kommen darüber begrenzende Faktoren in den Blick. Ihnen werden aber Versuche einer zunehmend radikalen Freisetzung von Kunst aus der Bindung an ein festes Werk und dessen Zwecke entgegengehalten – um in einem Idealfall die Synchronie von Bewegung und Form auszustellen. Sophie Wennerscheid untersucht in ihrem Artikel Die unheimlichen Kräfte der Natur in ‚spekulativen Seinserzählungen‘ von der Romantik bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des skandinavischen Sprachraums die über den Naturkraftbegriff vermittelten Verbindunglinien zwischen der spekulativen Philosophie der Romantik (Schelling, Steffens, Ørsted), rezenten post­huma­nis­ tisch-neumaterialistischen Theorien (Harman, Bennett, Haraway) und aktuellen Texten und Filmen, in denen die Kräfte der Natur als unheimliche und den Menschen transzendierende Mächte inszeniert werden. Wennerscheid profiliert die literarischen und filmischen Beispiele als spekulative Fiktionen, die sich als nicht-mimetische Annäherungen an eine quasi-vertraute Welt präsentieren, in der unheimliche und empirisch nicht verifizierbare Kräfte das Handeln von Mensch, Natur und Technik konturieren. Die Konjunktur dieser Imaginationen und Philosopheme ‚dunkler Kräfte‘ um und nach 2000 skizziert Wennerscheid als Aktualisierungen und Transformationen der Romantik einerseits, als verschärftes Bewusstsein für die ökologischen Krisen der Gegenwart und einen Wunsch nach zukünftigen Alternativen andererseits.

Vorwort

Eine Vielzahl von Personen war im Einsatz, um diesen Band buchstäblich in Form und Bewegung zu bringen und das Erscheinen des Buchs zu ermöglichen. Als Herausgeber*innen sind wir den studentischen Hilfskräften Julia Klar, Caroline Stobbe und Bend Strebel zu großem Dank für ihre Arbeit bei Korrekturgängen und Formatierungsprozessen verpflichtet, sowie außerdem dem erweiterten Team, nicht nur in Hamburg, sondern auch im De Gruyter Verlag in München. Ein herzlicher Dank ergeht zudem an das Warburg-Haus, das seine besonderen Räumlichkeiten für die Ausrichtung der Tagung zu den „Form- und Bewegungskräften“ im Januar 2020 zur Verfügung gestellt hat. Wir danken da­rüber hinaus der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung der Tagung und für den Druck dieses Forschungsbandes.

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Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch

Form- und Bewegungskräfte Zur Einleitung

Der Titel des vorliegenden Bandes verweist auf eine Trias – Form, Bewegung und Kraft –, die philosophiegeschichtlich als wechselseitiger Begründungszusammenhang entwickelt wurde, und dies in einer Komplexität, die heutige Leser und Leserinnen immer wieder verblüfft.1 Aristoteles entwarf die Heterogenität von Form (morphe, eidos) und Stoff (hyle) gerade deshalb, um das Pro­ blem der Bewegung als ‚Normalfall‘ der physischen Wirklichkeit naturphilosophisch und begriffslogisch fassbar machen zu können.2 Bewegung beruht auf der Einwirkung einer Form, welche die an sich unveränderte, weil allen Bewegungsphasen als identisches Substrat zugrundeliegende Materie jeweils neu prägt, wobei das jeder Bewegung eingeschriebene Ziel zugleich als Verwirklichung einer Form-Stoff-Synthese erscheint, die zuvor bloß potentiell gegeben war. Die spätere arabische und die christliche Auslegungsgeschichte des aristotelischen Ansatzes hat insbesondere die Dualität von Potentialität (potentia) des Stoffs (materia) und Aktualität (actus) der Form (forma) in unübertroffen komplexer analytischer Anstrengung ausgearbeitet. Mit Potenz und Akt als dingkonstituierenden und bewegungserzeugenden Grundlagen waren so der Wirklichkeit von vornherein zentrale Merkmale späterer Kräftelehren eingeschrieben, bis hin zum Grundsatz, dass jeder Kraft eine Gegenkraft entspricht. (In den aristotelischen und christlich-arabischen Systemansätzen existiert die reine Form nur im Falle Gottes ohne widerständige Materie.) Form ist entelechetisch wirksame, intrinsische Kraft; Stoff ist ‚Mangel‘, Widerstand und zugleich Sehnsucht nach der bestimmenden Kraft. Die Mischungsdynamik zwischen Form und Stoff ist aber auch – und dies zieht sich durch die Deutungsgeschichte der Kraft als zweiter Fundamentalsatz – 1  Vgl. Claus von Bormann u. a.: Art. Form und Materie (Stoff), in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel u. a. 1972, Sp. 977–1030. 2  Vgl. Frank A. Lewis: Form and Matter, in: Georgios Anagnostopoulos (Hg.): A Companion to Aristotle, Oxford 2009, S. 162–185.

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Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch

nur an ihren Wirkungen ablesbar: an der bewegungsförmigen Wirklichkeit. So wie Potenz und Akt als unselbstständige Konstituenten der Wirklichkeit immer nur in Synthesen existieren und zur Erfahrung gelangen, so zeigt sich auch Kraft nur an ihren Wirkungen, ‚ist‘ nur in ihren Wirkungen aktuelle Kraft. Indem Aristoteles der Form ein bestimmendes, in die Wirklichkeit drängendes Wesen zusprach, welches das Mögliche zu seiner Bestimmung führt, definierte er diese Wirklichkeit als eine von einem jeweiligen Agens, das Bewegung hervorruft, determinierte. Die spätere Rede von der ‚Formkraft‘ (vis formativa) erscheint daher im aristotelischen Denkhorizont eigentlich als ­Pleonasmus. Form ist an sich ein aktives Prinzip, das Veränderung, Bewegung in der Welt des bestimmungslosen Substrats hervortreibt. Die Analogie mit dem Werkprozess, die Aristoteles zur Verdeutlichung des komplexen Sachverhalts wählt, lässt die Praxis der Arbeit, der techne, und damit auch die Kunst als Paradigma der dynamischen Wirklichkeit erscheinen. Das Ursachengefüge, das die Rede von Akt und Potenz aufzuschlüsseln sucht, wird in der handwerklichen (und künstlerischen) Praxis transparent: An einem gebauten Haus werden die vier Ursachen jedes dinglichen Seins zugleich sichtbar. Das Artefakt beruht auf dem zugrundeliegenden Baustoff (causa materialis), dessen Gestaltziel (causa formalis) die geeignete bewegungsförmige Zurichtung (causa efficiens) verlangt, durch die das Gebilde zuletzt beispielsweise Schutz und Annehmlichkeit ermöglicht (causa finalis). Das Formziel setzte Bewegungen in Gang, die zu einer zweckhaften Verwandlung des Ausgangsmaterials führen.3 Das Paradigma der keineswegs auf die menschliche Sphäre beschränkten Technik bzw. der Kunst lag auch der schwindelerregend komplexen Begriffsgeschichte des Stoffes, der Materie zugrunde. Gerade die Passung zwischen causa materialis und causa formalis ist es nämlich, die neben der Adäquatheit der spezifischen Bewegungsweisen (der causa efficiens) über das Gelingen des teleologischen Vorgangs entscheidet. Das Problem der stofflichen Potentialität (bzw. des Stoffs als Potentialität) beschäftigte die Philosophiegeschichte mindestens ebenso tiefgreifend wie die Frage nach dem Seinsmodus der Form. Ist die materia das schlechthin Andere der bestimmten, bestimmbaren, sagbaren und sichtbaren Wirklichkeit – das immer Beharrende, Ungeschiedene, Unsagbare, gar Ewige (Giordano Bruno: „Dio in tutte le cose“4)? Oder determiniert die potentia der materia nicht doch in rätselhafter Weise ihre Aktualisierung durch die forma, wie der Baustoff das konkrete Haus, die Bronze die Statue? Bietet die radikale Abscheidung alles Bestimm- und Sagbaren vom „Zugrundeliegenden“ 3  Vgl. zum aristotelischen Paradigma der Skulptur (Met. 1029 a 2–5) Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, Paderborn 2018, S. 245–253. 4  Giordano Bruno: De la causa, principio e uno, in: Dialoghi italiani, hg. von Giovanni ­Aquilecchia, Florenz 1957, S. 274.

Form- und Bewegungskräfte

– seine Negativität im Sinn der steresis/privatio bzw. seine Gleichsetzung mit dem „Bösen“5 – überhaupt heuristische Vorteile bei der Deutung der Natur, der bewegten Wirklichkeit? Welcher Seinsmodus sollte dem vollständig Unbestimmten überhaupt vernünftigerweise zukommen ­– derjenige des „nicht­ seienden Seienden“ (est non est)? Sollte man nicht vielmehr von gestuften Potentialitäten ausgehen, bei denen auch am äußersten Rand der analytischen Anstrengung noch so etwas wie eine minimale Bestimmung, eine Neigung (inclinatio) der Materie zu konstatieren ist – ihr „beinah Nichts“ (paene nihil)6? Diese vor allem in der Scholastik in extreme begriffslogische Verästelungen getriebene Frage sah sich immer wieder mit den beiden aristotelischen Paradigmata konfrontiert, bei denen von einer Unbestimmbarkeit des ‚Ausgangsmaterials‘ keine Rede sein konnte: die bereits erwähnte technisch-künstlerische Praxis sowie der Vorgang der Erzeugung neuer Lebewesen. Auch bei der biologischen Formbildung wirken die typischerweise vom männlichen Akteur stammenden Formkräfte auf jeweils „geeignetes“ mütterliches Material ein, das eine inclinatio zur Herausbildung eines bestimmten Lebewesens besitzt.7 Stoff antizipiert und determiniert die jeweilige Wirkkraft der Form. Potentialität ist ein Modus der Kraft; sie ersehnt, ermöglicht und spezifiziert ihre Aktualisierung durch Form (principium individuationis). Welchen Anteil am Formbildungsprozess besitzt das Material? Anders gefragt: Wie ließe sich die potentia des Materials so beschreiben, dass seine Passivität zugleich als potentielle Kraft beschrieben werden könnte? Sollte man nicht besser davon ausgehen, dass sich Form und Stoff in der dynamischen Wirklichkeit in unendlich komplexen, häufig unvorhersehbaren Mischungsvorgängen durchdringen, gegenseitig rückbestimmen und verwandeln? Ist das Paradigma der ‚Form- und Bewegungskräfte‘ die göttliche Schöpfung aus dem Nichts, oder nicht doch eher der werdende, lebendige, alternde Leib, der immer schon auf unterschiedliche Mischungsverhältnisse von Form und Stoff und ein vorgängiges, zeugendes Leben zurückgeht? Michel Jeanneret hat gezeigt, wie die Naturphilosophie und die Ästhetik bzw. Poetik der Renaissance Entwicklungen der Spätscholastik aufgriffen, die das hierarchische Verhältnis von aktiver Form und passivem Stoff zugunsten einer „horizontalen“ Prozessontologie allmählich umstellte.8 Bei der Neubewertung der Materie als fruchtbarem Grund (so bereits Bernardus Silvestris:

5  Vgl. Plotin, Enneaden I, 8, 3. 6  Vgl. Augustinus: De vera religione XVII, 36. 7  Vgl. Galen: De naturalibus facultatibus I, 7; dazu Maryanne Cline Horowitz: Aristotle and Woman, in: Journal of the History of Biology 9 (1976), Heft 2, S. 183–213 (bes. S. 200f.). 8  Michel Jeanneret: Perpetual Motion. Transforming Shapes in the Renaissance from da Vinci to Montaigne, Baltimore u. a. 2001.

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Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch

generationis uterus indefessus)9 spielten stoisch-augustinische Vorstellungen von in sie eingesenkten, schlummernden Seminalkräften eine wichtige Rolle. Vorbereitet wurde diese Neubewertung durch die Debatte um forma fluens vs. fluxus formae, bei der es – stark verkürzt – um die Frage ging, ob sich Bewegung als Abfolge sukzessiver Einprägungen einer an sich unveränderten Form verstehen lässt oder ob die Form in der Bewegung bzw. durch die Bewegung nicht vielmehr selbst „fließend“ wird.10 In der Renaissance erscheint Form im Anschluss an Letzteres zunehmend als transitorisches Ergebnis von Bewegungskonstellationen.11 Formen prägen sich nicht vektoriell dauerhaft in der Materie ein, sondern sie zeigen sich gleichsam fließend in den vorübergehenden Gestalten und Figurationen der Wirklichkeit. Ausdruck dafür ist die Aufwertung der Materie als ‚mütterlicher‘ Ermöglichungsgrund aller Konkretion, dem zugleich – als Material – eine jeweilige „Neigung“ (inclinatio) zur Form innewohnt. Dieser Zusammenhang wird in den neuplatonisch inspirierten Eroslehren der Renaissance vielfältig als sympathetische Reziprozität von forma und materia ausgestaltet, die von der älteren Analogie zwischen Form als männlichem und Stoff als weiblichem Prinzip ausgeht.12 Ihr Pendant in der Wahrnehmungs- und künstlerischen Rezeptionstheorie ist die Vorstellung eines transitorischen Flusses von reinen Formen (species), die sich gleichsam von der Oberfläche der Dinge ablösen, das stoffliche Medium in einem Berührungskontinuum aktualisieren und zuletzt auf ein Sinnesorgan aufprallen, das seinerseits Bewegungsimpulse im ‚Inneren‘ freisetzt, welche u. a. zu Gefühlsreaktionen und Ortsbewegungen der Rezipientinnen und Rezipienten führen.13 Die Karriere des ‚Chaos‘ als fruchtbarem Grund aller denkbaren Erscheinungen ist für diese Rekonzeptualisierungen signifikant.14 Das Amorphe erfährt seit dem Ende des 15. Jahrhunderts eine deutliche Aufwertung. Im 66. Paragraphen seines posthum zusammengestellten Malereibuches, der um 1492 niedergeschrieben wurde, empfiehlt Leonardo da Vinci ein „neues Verfahren der malerischen Spekulation“ (una nova invenzione di speculazione). Es

9  Bernardus Silvestris: De mundi universitate sive megacosmus et microcosmus, hg. von Carl Sigmund Barach und Johann Wrobel, Innsbruck 1876, S. 10. 10  Vgl. Anneliese Maier: Forma Fluens oder Fluxus Formae?, in: dies.: Zwischen Philosophie und Mechanik. Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, Rom 1958, S. 61–143; Ruggero Pierantoni: Forma fluens. Il movimento e la sua rappresentazione nella scienza, nell’arte e nella tecnica, Turin 1986, bes. Kap. 5. 11  Vgl. Fabio Frosini: „Artefiziosa natura“. Leonardo da Vinci dalla magia alla filosofia, Rom 2020, S. 28–39. 12  Vgl. Ioan P. Couliano: Eros and Magic in the Renaissance, Chicago u. a. 1987. 13  Vgl. Patrice Koelsch Loose: Roger Bacon on Perception: A Reconstruction and Critical Analysis of the Theory of Visual Perception Expounded in the ‚Opus Majus‘ [1979], Ann Arbor 1995; Frank Fehrenbach: Leonardo da Vinci und der Impetus der Bilder, Berlin 2019. 14  Jeanneret 2001 (wie Anm. 8), S. 81–103.

Form- und Bewegungskräfte

besteht darin, in formlosen Mauerflecken, Wolken oder gefleckten Steinen Bilder (similitudini) von Landschaften, Schlachten, merkwürdigen Gesichtern, monströsen bzw. teuflischen Gestalten „und unendlich mehr“ (infinite cose) zu erblicken, die dann in einem zweiten Schritt zur zusammenhängenden und guten Form (integra e bona forma) gebracht werden sollen.15 Im etwa gleichzeitig entstandenen 189. Paragraphen des Manuskripts betont Leonardo, dass die amorphen Gebilde (macchie) der Natur zwar keine vollendeten Teile aufwiesen, jedoch „Vollendung der Bewegungen“ zeigten (non mancavano di perfezione nel­ li loro movimenti o altre azzioni).16 In der Rede vom „Chaos des Gehirns“ (caos del mio cervello; Antonfrancesco Doni)17 verbindet sich die fruchtbare Potentialität des Stoffs mit der zeitgenössischen Fakultätspsychologie, genauer: mit der Einbildungskraft. Die kontingente Dynamik der wogenden, feucht-warmen spiriti im Inneren des Gehirns sind der Ermöglichungsgrund künstlerischer Formfindungen (invenzioni).18 Die Depotenzierung der Form als teleologische, im Inneren der Materie mysteriös wirkende Kraft weist in der Frühen Neuzeit drei grundlegende Aspekte auf. Erstens erscheint „Form“ zunehmend als (vergängliche) „qualitativa forma“ (Duns Scotus), als konkrete „Gestalt“ künstlerischer Hervorbringungen; ihr normativer Kern ist durch die semantische Gleichsetzung von „geformt“ und „wohlgeformt“ gewährleistet (ital. formoso). Am Ende dieser Entwicklung wird Form schließlich mit der äußeren Gestalt, der Materialität gleichgesetzt und für die ursprünglich von der Form besetzte Stelle eine neue Nomenklatur entwickelt. Für Wassily Kandinsky gilt: „nicht die Form (Materie) [sic] im allgemeinen ist das Wichtigste, sondern der Inhalt (Geist)“19; der zeitgenössische Künstler Per Kirkeby fragt nach den „Kräften hinter den Formen“20. – Zweitens entspricht dem Abbau teleologischer Formen zunehmend die Vorstellung der von außen auf die Körper einwirkenden Kräfte, für die sich seit dem frühen 14. Jahrhundert das neue physikalische Paradigma des Impetus anbietet.21 Die

15  Leonardo da Vinci: Libro di Pittura. Codice Urbinate lat. 1270 nella Biblioteca Apostolica Vaticana, hg. von Carlo Pedretti, Transkription Carlo Vecce, 2 Bde., Florenz 1995, Bd. 1, S. 177. 16  Leonardo da Vinci 1995 (wie Anm. 15), S. 222. 17  „[N]ella fantasia & nella mia imaginativa, nel caos del mio cervello“, Antonfrancesco Doni: Disegno del Doni, Venedig 1549, fol. 22r. 18  Vgl. Roland Kanz: Die Kunst des Capriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock, München u. a. 2002, S. 96; Michael Cole: The Demonic Arts and the Origin of the Medium, in: The Art Bulletin 84 (2002), Heft 4, S. 621–640. 19  Wassily Kandinsky: Über die Formfrage, in: ders., Essays über Kunst und Künstler, hg. von Max Bill, Bern 1963, S. 17–47 (Zit. S. 22). 20  Beate Ermacora (Hg.), Die Kräfte hinter den Formen: Erdgeschichte, Materie, Prozess in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2016. 21  Anneliese Maier: Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie. Das Problem der intensiven Größe, die Impetustheorie, Rom 1951; zur Analogie zwischen vis formativa und

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intrinsischen Kräfte, die in der traditionellen aristotelischen Physik für die „natürlichen“ (kataphysischen) Bewegungen verantwortlich waren, ziehen sich zunehmend auf die – allerdings grundlegende – Schwere zurück, als inclinatio schwerer Körper zum Erdmittelpunkt (Galilei) bzw., bei Newton, als attractio des jeweils schwereren Körpers, oder sie wandern in den Bereich okkulter sympathetischer Wirkkräfte.22 Unter mechanistischen Vorzeichen wird „Form“ als konkrete Bestimmung des jeweiligen Dinges zunehmend als Resultat „widernatürlicher“ (paraphysischer), dem inerten Körper „äußerlicher“, gleichwohl gesetzhaft wirkender Bewegungsimpulse verstanden, mithin als Resultat von „Gewalt“ (Aristoteles: bia).23 Die mit Francis Bacon aufkommende juristische Metaphorik ersetzt „Form“ zunehmend durch die zwanghaft wirkenden „Gesetze“ der physikalischen Bewegung, deren Kenntnis die Beherrschung der Natur ermöglicht. Die gleichsam anonyme, blinde „Kraft“ beerbt so den „Kin­ derglauben“24 an wesensartige Formwirkungen – bevor die Kraft im 19. Jahrhundert dann selbst dem Verdikt verfällt, lediglich anthropomorphe Projek­ tion zu sein. Beharrlich hält sich aber das Problem der formbildenden Lebensvorgänge (s. u.), ihrer virtù formativa, die für Dante noch Garant der den Tod überstehenden Gestalt individueller Leiber war.25 – Und drittens rückt, wie bereits erwähnt, die Teleologie der perfekten, ruhenden Form-Stoff-Synthese naturphilosophisch und in den Kunstlehren zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer unabschließbaren Prozessualität, in der aktive und passive Komponenten der Bewegung fortwährend ihre Plätze zu tauschen vermögen.26 Für diese Rekonzeptualisierung der „Form- und Bewegungskräfte“ in der Frühen Neuzeit mögen hier zwei Beispiele stehen: Kein Forschungsbereich hat

Impetus vgl. Michael Wolff, Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter, in: Jürgen Miethke und Klaus Schreiner (Hg.): Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 413–423 (S. 417). 22  Vgl. Maurice Saß: Physiologien der Bilder. Naturmagische Felder frühneuzeitlichen Verstehens von Kunst, Berlin u. a. 2016. 23  Dazu grundlegend Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1992; zur aristotelischen bia vgl. Physik 215a, 14–19; 266b, 27–267a, 7; dazu auch Max Jammer: Concepts of Force. A Study in the Foundations of Dynamics, Mineola 1999, S. 35–41. 24  So in Paraphrase von Descartes E. Gilson: Études sur le rôle de la pensée mediévale dans la formation du système cartésien, Paris 1951, S. 170. 25  Dante, Divina Commedia, Purgatorio XXV, S. 79–108. Vgl. Michael Sonntag: „Lebenskraft“. Die Biologie vor 1859, in: Jean Clair u. a. (Hg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 543–550 und Georg Toepfers Beitrag in diesem Band. 26  Vgl. dazu Jeanneret 2001 (wie Anm. 8), S. 101 (zu Montaigne).

Form- und Bewegungskräfte

1|  Leonardo da Vinci, Hydrologische Studie, ca. 1508, Feder, Tinte und Rötel, Windsor, Royal Library, Inv. Nr. 912661.

Leonardo da Vincis Aufmerksamkeit stärker beansprucht als die Hydrologie.27 Zur paradigmatischen Rolle des Wassers, die praktisch alle anderen Wissensbereiche (Anatomie, Optik, Meteorologie, Mechanik etc.) transformierte, trug genau die Ununterscheidbarkeit zwischen aktivem Bewegungsimpuls und passiv rezipierendem Stoff bei. Leonardo entwickelte graphische und sprachliche Verfahren, um die Reziprozität von Kraft bzw. Stoß (forza, colpo) und Trägheit bzw. Gewicht (peso) im Zusammenhang eines übergreifenden Bewegungsge-

27  Vgl. Frank Fehrenbach: Leonardo and Water. The Challenge of Representation, in: Pietro C. Marani und Maria Teresa Fiorio (Hg.): Leonardo da Vinci. The Design of the World, Ausst.Kat. (Palazzo Reale, Mailand), Mailand 2015, S. 369–375; zuletzt Leslie A. Geddes: Watermarks. Leonardo da Vinci and the Mastery of Nature, Princeton u. a. 2020.

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schehens (moto) zu erfassen (Abb. 1).28 Die Formen des bewegten Wassers verdanken sich nicht primär der verwirklichenden Kraft eines formenden Akteurs, sondern sind das Ergebnis einer kontinuierlichen Transformation von Bewegungsimpulsen im identischen Medium. Wer hierbei aktiver und passiver Akteur ist, kann in der Strömungshydrologie nicht mehr angegeben werden; alles was erscheint, ist das Ergebnis von dynamischen Rückwirkungsprozessen. Im Horizont der aristotelischen Ursachenlehre nimmt Leonardos Strömungslehre nur noch zwei „Gründe“ in den Blick, die causa materialis (allerdings bereits mit grundlegenden Eigenschaften wie Ruheneigung, Sphärizität und Kontinuität) und die causa efficiens (die transitorische Gestaltungen hervorbringende Kinetik)29 – auch wenn an den Rändern von Leonardos Naturphilosophie immer wieder teleologische Motive aufblitzen (etwa die „Sehnsucht“ der transitorischen Körper nach Bewegungslosigkeit und „Tod“ bzw. „Chaos“).30 Die Umkehrung der Deszendenz zwischen Form und Bewegung, die sich hier zeigt, wird später von Leibniz elaboriert als Grundsatz der vis activa als vis motrix, die so lange wirkt, bis ihr jene vis passiva bzw. resistenti entgegensteht, die in der Scholastik materia prima genannt worden sei.31 In seiner ausführlichen und vom Künstler akzeptierten Auslegung von Michelangelos Sonett „Non ha l’ottimo artista alcun concetto, / Ch’un marmo solo in se non circonscriva“, die 1549 gedruckt wurde, referiert der Florentiner Humanist Benedetto Varchi explizit den aristotelischen Hylemorphismus, den er liebesphilosophisch reformuliert, und entwickelt eine Theorie skulpturaler Gestaltung, bei der dem bildhauerischen Material eine potenza passiva zu unendlicher Gestaltbildung durch die potenza attiva des Künstlers zugeschrieben wird.32 Obwohl die Deutung noch konventionellen Hierarchien von Form und Stoff folgt, wird die notwendige Passung zwischen geeignetem Material und angemessenem Formziel mehrfach betont; außerdem kreist die Deutung um das Problem der ausführenden „Hand“, mithin um die zwischen intelletto und Werk vermittelnde causa efficiens. Dennoch ist aber die potenza des künstlerischen Werkstoffs weniger vollkommen als die in der Einbildungskraft (immaginazione) gegenwärtige Form (concetto). Kurze Zeit später wird aber auch in den biographischen Entwürfen der Michelangelo-Viten Giorgio Vasaris und Ascanio Condivis dem bildhauerischen „Machen“ ein neuer Stellenwert verliehen; eine Sicht, der Michelangelo selbst durch das ostentative Betonen 28  Vgl. Fabio Frosini: Il concetto di forza in Leonardo da Vinci, in: Andrea Bernardoni und Giuseppe Fornari (Hg.): Il Codice Arundel di Leonardo. Ricerche e prospettive, Poggio a Caiano 2011, S. 115–126. 29  Thomas Hobbes postuliert dies später explizit (De corpore 10, 1 und 6). 30  Vgl. Fehrenbach 2019 (wie Anm. 13), S. 35 (m. Nachweisen). 31  Vgl. Georg Wilhelm Leibniz: Specimen dynamicum [...], zit. in von Bormann u. a. 1972 (wie Anm. 1), Sp. 1017f. 32  Benedetto Varchi: Due lezzioni, Florenz 1549, S. 19.

Form- und Bewegungskräfte

2|  Michelangelo, „Gefangener“ (Kopie), ca. 1520–1530, Marmor, Aufstellung 1585–1592, Giardino Boboli, Grotta Grande, Florenz.

des fare in seinen Sonetten sekundierte.33 Dies eröffnet die Möglichkeit, auch den unvollendeten Werken des Meisters perfezzione zu attestieren. Im Fahr­ wasser dieser Neubewertung können dann die unvollendeten „Gefangenen“ (Prigioni) Michelangelos, die für das Grabmal Papst Julius’ II. vorgesehen waren (1520–1530; Florenz, Galleria dell’Accademia), gerade wegen ihrer Unvollendung als vollendet angesehen werden34 und gegen Jahrhundertende in einen thematischen Kontext eingefügt werden, in dem es um die ‚spontane‘ Herausbildung organischer Formen aus amorpher Materie geht. Im ‚Gesamtkunstwerk‘ von Bernardo Buontalentis Grotta Grande des Palazzo Pitti (Florenz) erscheinen Michelangelos überlebensgroße Athleten als Produkt einer allgemeinen Gestaltdynamik, in der numinose Mächte und in der Materie schlummernde

33  Vgl. Susanne Gramatzki: Zur lyrischen Subjektivität in den Rime Michelangelo Buonarrotis, Heidelberg 2004. 34  Francesco Bocchi: Le bellezze della città di Fiorenza, dove à pieno di pittura, di scultura, di sacri tempii, di palazzi i più notabili artifizii, & più preziosi si contengono, Florenz 1591, S. 69f.

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Formkräfte durch Tageslicht und Wasser lebendige Körper zu bilden scheinen (Abb. 2).35 Die skulpturale Form beansprucht dabei eine Wirklichkeit, die sich auch umgangssprachlich in der Gleichsetzung zwischen formosità (als „Üppigkeit“) und Schönheit zeigt. Im Malereidiskurs erscheint das entsprechende Konzept in der semantischen Koppelung von „Kraft und [scheinbarer] Dreidimensionalität“ (forza e rilievo), die bereits vor ihrer geradezu topischen Verwendung im 16. Jahrhundert durch Petrarca antizipiert wurde; er konzediert den Gemälden seiner Zeit große Kraft (vis), weil sie – neben anderen Merkmalen – ihre Figuren „wie aus Türen hervorbrechen“36 ließen. Die Dynamik des Formbegriffs konzentriert sich in der Malereitheorie der Renaissance auf das fiktive Hervortreten einer Fläche in den Raum der Betrachterinnen und Betrachter, in Analogie zum embryonalen Formprozess als Austreiben eines Nukleus (des punctum saliens) in den Raum.37 Malerei ist in dieser Perspektive gleichsam auf Dauer gestellte Ausstülpung von fiktiven Körpern, die immer wieder neu aus der faktischen Fläche ‚herausstehen‘.38 Michelangelos unvollendete Skulpturen (in denen sich für Francesco Bocchi bereits „vigore e forza“ und Bewegung der Figuren zeigt39) und die durch Helldunkelmodellierung wie „hervorbrechenden“ Figuren der Malerei sind visuelle Paradigmata von unabschließbar wirksamen Form- und Bewegungskräften. * Die aus Antike und Mittelalter überlieferte reiche Matrix aus bewegenden, belebenden und beseelenden Kräften scheint sich mit der neuzeitlichen Ausprägung eines physikalisch-mechanischen Kraftbegriffs zunächst empfindlich zu verengen. Newtons Grundlegung der Mechanik macht das Verhalten von Körpern aus dem Widerspiel von Kräften verständlich, die zwischen 35  Vgl. Jürgen Wiener: Metamorphose – Mimesis – Material: Biblische und antike Schöpfungsmythen in der Grotta Grande in Florenz, in: Wilhelm G. Busse (Hg.): Schöpfung. Varianten einer Weltsicht, Düsseldorf 2013, S. 117–158. 36  Petrarca: De remediis utriusque fortunae I, 40; vgl. Wolf-Dietrich Löhr: „Quanta vis …“. Fragmente einer Kunsttheorie in Petrarcas de remediis?, in: Sebastian Schütze und Maria Antonietta Terzoli (Hg.): Petrarca und die Bildenden Künste. Dialoge – Spiegelungen – Transformationen, Berlin u. a. 2021 (im Erscheinen). Zur semantischen Koppelung von forza und rilievo vgl. Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208. 37  Zum Herz als punctum saliens des Fötus vgl. Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens, Frankfurt/M. 1992, S. 95f. 38  Vgl. David Summers: Emphasis. On Light, Dark, and Distance, in: Claudia Lehmann u. a. (Hg.): Chiaroscuro als ästhetisches Prinzip, Berlin 2018, S. 165–188. 39  „Ella non ha avuta l’ultima mano, come si vede, e pur mostra vigore e forza, e pare che si muova ogni figura in sua attitudine.“ (Bocchi 1591, wie Anm. 34, S. 167f.).

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bewegten und inerten trägen Massen wirken. In seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) legt Newton dar, dass Körper, verstanden als Massepunkte, aufgrund einer Gravitationskraft aufeinander einwirken, wobei die Stärke dieser Anziehung von der jeweiligen Schwere der Körper abhängig ist. Überzeugend ist für die Debatten in der Physik, dass Newton mit seiner Formalisierung der Gravitationskraft sowohl Bewegungen von Körpern auf der Erde als auch von Himmelskörpern beschreiben kann, die sich gleichermaßen exakt bestimmen lassen. Eine wichtige Konsequenz auch für angrenzende Kraftdiskurse besteht indes darin, dass Kraft von einer numinosen Entität zu einer Größe in mathematischen Gleichungen wird. Dies hebt Newton als methodisches caveat selbst hervor: „Diese Kräftetheorie ist natürlich rein mathematisch, denn die Ursachen der Kräfte und ihre physikalische Grund­ lage erwäge ich noch nicht“40. Mit seinen Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie setzt Newton nicht nur in der Physik, sondern auch in der Anthropologie, der Physiologie und der Psychologie neue Maßstäbe für das Nachdenken über Kräfte. Die Folgen lassen sich in den Wissenschaften des 18. Jahrhunderts beobachten. Olaf Breidbach hat für das Kräftedenken der Aufklärung entsprechend dreierlei hervorgehoben:41 Kraft wird von einer metaphysischen zu einer physikalischen Größe, insofern das Wort ‚Kraft‘ streng genommen nicht die Ursache bezeichnet, sondern aus der Formalisierung einer Ursache-Wirkungs-Relation hervorgeht. Kraft ist so behandelt schlicht eine Maßzahl, die Verhältnisse und Wirkungszusammenhänge zwischen Körpern bezeichnen soll. Daraus folgt zweitens, dass die in einem leeren Raum wirkenden Kräfte ihrerseits immaterielle Abstraktionen sind. Und drittens: Auch der menschliche Körper soll als Maschine verstanden werden, die nach dem Schema von Reiz und Reaktion funktioniert. Newtons Physik eröffnet dergestalt eine Perspektive auf die Natur als Welt aus bewegten und bewegenden Körpern, in der sich sämtliche Kräfte der Natur wie auch des Menschen in den Termini der Mechanik auffassen lassen. Kraft, dies lässt sich in dem 1737 publizierten Artikel „Krafft“ in Zedlers Universallexicon nachlesen, wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwar noch allgemein aufgefasst als „Grund“, „warum in einem Dinge der Zustand desselbi40  Isaac Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Hamburg 1988. Mit seinem Vorschlag hat sich die Spekulation über die Gravitation vis occulta aber keineswegs erledigt. Nicht nur hat man in der Wissenschaftsgeschichte über den Einfluss mystischer Kraftmodelle – etwa Jakob Böhmes – auf Newton diskutiert. Im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert kreisen auch unterschiedliche, meist neoplatonisch inspirierte Entwürfe um den von Newton unbestimmt gelassenen Grund der Kraft. Vgl. Max Jammer: Concepts of Force, Cambridge/MA 1957, S. 133ff. und 155ff. 41  Olaf Breidbach: Kraft, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung, Stuttgart u. a. 2015, S. 300–309.

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gen verändert werde“42. Hier scheint die seit der aristotelischen Metaphysik verbindliche Auffassung von Kraft (dynamis) als Ursache einer Veränderung durch. Grundsätzlich habe man, so wird weiter erläutert, zwischen Kräften der Repräsentation und Kräften der Bewegung zu unterscheiden. Wenn die in der Vermögenspsychologie katalogisierten Kräfte der Einbildungs- oder Gedächtniskraft dann aber wie Bewegungen gedacht werden sollen – Lichtstrahlen setzen die Retina des Auges in vibratorische Bewegung, Schall ist eine Welle, die auch „das Typanum unser Ohrs tremulirend macht“43 – dann setzt sich hier die Mechanik als Leitbild durch. Die Vorstellung von einer „Ähnlichkeit zwischen denen Kräfften der Seelen und denen bewegenden Kräfften“44 erweist sich aber nicht so sehr als Lösung, sondern vielmehr als Problem. Denn ob bei der Übertragung dieser Wahrnehmungen in Vorstellungsbilder eine ähnliche „Translation“ zum Tragen kommt, wie dies in den mechanisch gedachten Einwirkungen von Körpern aufeinander der Fall ist, muss der Verfasser offenlassen. Noch schwerer fallen ihm schließlich die Beschreibung, die Systematisierung und vor allem die Erklärung der Tätigkeiten lebendiger Organismen. Hier liefert der Artikel keine Antworten, sondern reiht Fragen an Fragen: „Wo gehören aber diejenigen Kräffte hin, die wir bey denen Thieren, Pflanzen, Mineralien und andern irdischen Cörpern wahr nehmen, Vermöge welcher sie Actiones zu verrichten, ingleich zu wachsen und andere Dinge von ihrer Art zu erzeugen in den Stande seyn“45. Besonders die Zeugungskraft bereitet dem Verfasser des Artikels Kopfzerbrechen: „Allein von der Natur dieser Krafft, wissen wir überaus wenig, doch scheinet sie ebenfalls unter die bewegenden Kräffte mit zu gehören, weil von ihr die Formationen eines Cörpers, unter einer gewissen Gestalt, herrühret.“46 Hier soll sogar die Fortpflanzung lebendiger Wesen als Effekt einer mechanischen, nach den Regeln der klassischen Physik beschreibbaren Bewegungskraft gedacht werden. Dieser Vermutung möchte man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zumindest in der deutschsprachigen Diskussion nicht so recht folgen. Wenn Caspar Friedrich Wolff, Johann Friedrich Blumenbach oder Karl Friedrich Kielmeyer für die Beschreibung lebendiger Körper und ihrer Wachstums- und Fortpflanzungsprozesse Wortprägungen und Kategorien wie vis essentialis,

42  Krafft, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, 1731–1754, Bd. 15, Halle u. a. 1737, Sp. 1662–1717, hier Sp. 1663. 43  Zedler 1737 (wie Anm. 42), Sp. 1666. 44  Zedler 1737 (wie Anm. 42), Sp. 1667. 45  Zedler 1737 (wie Anm. 42), Sp. 1667. 46  Zedler 1737 (wie Anm. 42), Sp. 1668.

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Bildungstrieb, Lebenskraft oder Zeugungskraft aufgreifen, dann steht hier keine primär bewegende Kraft, sondern ein dem lebendigen Körper inhärentes Prinzip der Selbstorganisation im Sinne einer Gestaltung oder Formwerdung zur Debatte.47 Mit dieser Vorstellung vom Organismus als einem sich selbst bewegenden und sich selbst fortzeugendem Körper lässt sich die mechanistische Unterscheidung in unbelebte Körper und darauf wirkende Kräfte aber kaum vereinbaren. Es scheint also eine klare Demarkationslinie zwischen unbelebter und belebter Natur, zwischen Mechanik und Biologie zu verlaufen. In diesem Sinn formuliert Kant über diejenige Wesen, die zur Selbstorganisation in der Lage sind: „Ein organisches Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern [es] besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzenden bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.“48 Wenn die in der Physik konzeptualisierten Bewegungskräfte nicht erklären können, wie sich organische Körper ‚bilden‘, dann werden nicht nur diszipli­ näre Zuständigkeiten zwischen Physik und Biologie aufgeteilt.49 Vielmehr werden auch bildende und bewegende Kraft, Form- und Bewegungskräfte in ein

47  Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb, Göttingen 1789; Karl Friedrich von Kielmeyer: Ueber die Verhältnisse der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältniße, s. l. 1793. 48  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. 12 Bde., Bd. 10, Frankfurt/M. 1968, S. 322. Siehe in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von Georg Toepfer in diesem Band. 49  Die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensiv geführten Debatten um eine Lebenskraft sind sowohl in der Wissenschafts- als auch der Literaturgeschichte aufgearbeitet worden. Vgl. in diesem Sinne Robert J. Richards: The Romantic Conceptions of Life. Science and Philosophy in the Age of Goethe, Chicago 2002; Peter Hanns Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley 2005; aus der Autonomie des Lebendigen, so ist festgehalten worden, ergibt sich auch die Autonomie der Biologie als Wissenschaft, vgl. dazu Lynn K. Nyhart: Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities, 1800–1900, Chicago 1995; Ernst Mayr: What Makes Biology Unique? Considerations on the Autonomy of a Scientific Discipline, New York 2004; zu Konzeptionen von Leben und Lebenskraft in der Literatur vgl. Maike Arz: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart 1996; Hubert Thüring: Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, München 2012; Georg Toepfer: Zur Trennungsgeschichte des Lebenswissens. ‚Leben‘ bei Georg Büchner und in der frühen Biologie. In: Benjamin Brückner, Judith Preiß und Peter Schnyder (Hg.): Lebenswissen. Poetologien des Lebendigen im langen 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br. u. a. 2016, S. 31–51.

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Verhältnis des wechselseitigen Ausschlusses versetzt. Dies hat Konsequenzen für ästhetische Konzeptualisierungen der Kraft. In kunsttheoretischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine Verlagerung von der mechanistischen Modellierung von Bewegungskräften auf biologistisch gedachte Formkräfte ab. Die Wirkung des Newton’schen Weltbilds auf das Naturdenken im Allgemeinen und auf die Gattung des Lehrgedichts ist unübersehbar.50 Wie Karl Richter zeigen konnte, hat die neue Kosmologie auch Klopstocks Hymnik entschieden geprägt.51 Dabei werden mechanische Grundvorstellungen nicht nur als Gegenstandsbezug der Dichtung relevant, sondern setzen sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch in wirkungsästhetischen Programmen durch: Die Seele soll – so sehen es Theoretisierungen des Enthusiasmus oder der Rührung vor – buchstäblich in Bewegung gesetzt werden.52 In dem kurzen Aufsatz Gedanken über die Natur der Poesie etwa formuliert Klopstock: „Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unserer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.“53 Wie wenige Zeilen später expliziert wird, geht es bei diesem In-BewegungSetzen um die „starken Wirkungen auf die Seele“, die hier mit Bezug auf die Dichtung besprochen werden. Sulzer bringt diesen Zusammenhang auf den Begriff der ‚ästhetischen Kraft‘, die er in einem Aufsatz „Über die Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste“ entwirft und dann in dem entsprechenden Eintrag in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste definitorisch 50  Zur Rezeption der Newton’schen Physik in der Aufklärung vgl. Simone De Angelis: Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung. Tübingen 2003 sowie seinen Beitrag in diesem Band; Eric Achermann: Im Spiel der Kräfte. Bewegung, Trägheit und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung, in: Simone De Angelis, Florian Gelzer und Lucas Marcus Gisi (Hg.): ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900), Heidelberg 2010, S. 287–320; Reto Rössler: Poetologien kosmologischen Wissens der Aufklärung, Göttingen 2020. 51  Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung, München 1972. 52  Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. 53  Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, hg. von Winfried Menninghaus, Frankfurt/M. 1989, S. 180. Vgl. auch Klaus Hurlebusch: Wandlungen einer Bewegungsidee. Klopstock zwischen Leibniz und Goethe, in: Kevin Hilliard und Katrin Kohl (Hg.): Wort und Schrift – das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, Tübingen 2008, S. 71–99.

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zu umreißen versucht.54 Ästhetische Kraft ist auch hier als Wirkungskategorie gefasst, in der die rhetorischen Lehren nicht nur besonders prägnanter und lebendiger Anteile der Rede (enargeia), sondern auch die von Quintilian als Kerngeschäft der Rhetorik ausgewiesene Kraft der Überzeugung nachwirken. Herder bringt dies als Wesensbestimmung der Poesie dezidierter auf den Begriff der Kraft und differenziert das Beschreibungsvokabular zugleich weiter aus, indem er Kraft, Energie und Werk (ergon) voneinander unterscheidet. Während die Bildkünste – hier schließt Herder an Lessing an – als Raumkünste Werke liefern, zielen die Zeitkünste, wie sie in Dichtung, Musik, Theater und Tanz ausgeprägt sind, auf Energie im Sinne einer Tätigkeit. Sie realisieren sich als Vorwärtsbewegung in der Zeit. Mit Kraft will Herder nun den für die Dichtung entscheidenden Vorgang bezeichnen, dass künstliche Sprachzeichen Vorstellungen und innere Bilder hervorrufen können. Oder in Herders Formulierung: „Ließe sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkürliche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen: [...] die Künste, die Werke liefern, wirken im Raume; die Künste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge; die [...] Poesie, wirkt durch Kraft.“ Und weiter heißt es über diese Kraft, sie sei „die Zauberkraft, die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie.“55 In dem Maß, in dem sich die Kraft der Poesie nicht nur mit Bewegung – sowohl im Sinne der motorischen kinesis als auch der emotionalen Aktivierung –, sondern mit dem produktiven Vermögen der Phantasie verbindet, nähern sich die mechanistischen den biologistischen Beschreibungsweisen an. Denn die Einbildungskraft ist eine Bildkraft, die nicht allein Bewegungsmuster, sondern Formprägungen verantwortet.56 Es scheint, dass hier die rein mechanistischen Modelle verlassen werden, etwa wenn Kant in seiner Kritik der Urteilskraft ein physikalisch anmutendes Bewegungsmodell mit Vorstellungen von Belebung und Lebendigkeit über54  Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1, Leipzig 1773, Reprint Hildesheim u. a. 1974, S. 122–145; Johann Georg Sulzer: Kraft, in: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1774, S. 602–605. 55  Johann Gottfried Herder: Erstes Kritisches Wäldchen [1769], in: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a., Bd. 1, Frankfurt/M. 1985, S. 63–245, hier S. 194. Vgl. Cornelia Zumbusch: ‚es rollt fort‘. Kraft und Energie in Herders Erstem Kritischen Wäldchen, in: Poetica 49 (2017/2018), S. 337–358. 56  Zu Herders Vorstellung von den handelnden Kräften der Natur s. den Beitrag von Adrian Renner in diesem Band.

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blendet. Die Einbildungskraft, so Kant, sei nicht nur reproduktiv, sondern selbst schöpferisch, da sie „das Vermögen intellektueller Ideen in Bewegung“57 bringen könne. Die Einbildungskraft sei entsprechend dazu angetan, „das Gemüt zu beleben“58. Wenn sich Bewegung zumindest metaphorisch als Belebung realisiert, dann ist die organische Autopoiesis des Lebens Vorbild für die Konzeptualisierung von Kreativität geworden. Eine am Paradigma des Lebendigen orientierte Kraft, Kunstwerke hervorzubringen, rückt bei Karl Philipp Moritz etwa zur selben Zeit in eine Genielehre ein.59 Was Moritz „Bildungskraft“ nennt, soll im Rückgriff auf Johann Friedrich Blumenbachs Konzept des Bildungstriebs dasjenige erfassen, was „das schaffende Genie zur immerwährenden Bildung treibt“60. Dabei sei eine solche Bildungskraft besonders begabter Künstlernaturen in der Lage, dem „leblosen Stoff“ ihr besonderes „Leben“ einzuhauchen.61 Entscheidende Anstöße geben biologische Kraftbegriffe aber nicht nur in der Genielehre, sondern vor allem dort, wo über Fragen der Form nachgedacht wird. So hat die von Blumenbach ins Spiel gebrachte Vorstellung von einem

57  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. 12 Bde., Bd. 10, Frankfurt/M. 1968, S. 251. 58  Kant 1968 (wie Anm. 57), S. 251. Wie Winfried Menninghaus gezeigt hat, schreibt Kant in den betreffenden Paragraphen die rhetorische enargeia-Devise der lebendigen Darstellung um und ersetzt sie durch die substantivische Rede von einem „Leben“, das die Kunst zu befördern habe (vgl. Winfried Menninghaus: „Ein Gefühl der Beförderung des Lebens“. Kants Reformulierung des Topos „lebhafter Vorstellung“, in: ders., Armen Avanessian und Jan Völker (Hg): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich u. a. 2009, S. 77–94, hier S. 82). Zum ‚pygmalionischen‘ Prinzip ästhetische Verlebendigung vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions: Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München u. a. 2001. 59  Bénédicte Abraham hat das Zentrum der ästhetischen Kraftlehren um 1800, die sie an Herder, vor allem aber an Goethes Vorstellung von einem ‚Kraftgenie‘ untersucht, in der Genielehre gesehen. Vgl. Bénédicte Abraham: Au commencement était l’action. Les idées de force et d’énérgie en Allemagne autour de 1800, Villeneuve d’Ascq 2016. Wenn Christoph Menke die dunkle Kraft der Kunst in die unbewussten Kräfte des Menschen verlegt, dann reaktiviert er, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, dieses genieästhetische Programm. Siehe Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt/M. 2008; Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Frankfurt/M. 2013; als ähnlich unverfügbare ‚unforce‘ bestimmt McLaughlin die poetische Kraft der Sprache, die er von Kants Analytik des Erhabenen aus entwickelt: Kevin McLaughlin: Poetic Force. Poetry after Kant, Stanford 2014. 60  Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: ders.: Werke in zwei Bänden, hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier, Bd. 2, Frankfurt/M. 1997, S. 958–991, hier S. 973 und S. 969. 61  Moritz 1997 (wie Anm. 60), S. 980. Vgl. auch Helmut Müller-Sievers: Self-Generation. Bio­ logy, Philosophy and Literature Around 1800, Stanford 1997; Helmut Müller-Sievers: Formative Forces. Biological, Philosophical, and Linguistic Generativity, in: ders.: The Science of Literature. Essays on an Incalculable Difference, Berlin u. a. 2015, S. 15–33.

Form- und Bewegungskräfte

Bildungstrieb oder einem Formtrieb (nisus formativus) die formästhetische Reflexion um und nach 1800 inspiriert. In den 1795 abgeschlossenen Briefen über die ästhetische Erziehung überführt Schiller die Begriffe ‚Form‘ und ‚Stoff‘ in die Kraftderivate ‚Formtrieb‘ und ‚Stofftrieb‘, aus deren Zusammenwirken sich die als „lebende Gestalt“ gedachte künstlerische Form ergeben soll.62 Goethe macht sich 1820 nach erneuter Lektüre des Blumenbachtexts und der Kantischen Kritik der Urteilskraft ein Schema, in dem er zwischen die Pole ‚Form‘ und ‚Stoff‘ eine Reihe von Kraftbegriffen – ‚Vermögen‘, ‚Kraft‘, ‚Gewalt‘, ‚Streben‘, ‚Trieb‘ – platziert, um die Dynamik von Formgenesen abzubilden.63 Wenn sich ‚Natur‘, wie Goethe in seiner Metamorphosenlehre zugrundelegt, in ständiger Bildung und Umbildung realisiert, dann bezeichnet ‚Form‘ einen Übergangseffekt nicht stillzustellender Dynamiken.64 Jenseits der Frage nach Mechanismus oder Vitalismus zeigt sich hier das intrikate Ineinander von Formgebung und Bewegung. Allianzen gehen Form- und Bewegungskräfte auch in den kunsttheoretischen und poetologischen Kraftdiskursen des späten 19. und beginnenden 20.  Jahrhunderts ein. Heinrich Wölfflin etwa reformuliert die Bildungskraft als eine Formkraft, die sich gegen die universale Wirkung der Gravitation zu behaupten hat.65 Insofern Schwerkraft nicht nur bremsend und akzelerierend, sondern auch formend und verformend zu wirken vermag, scheint es sinnvoll, beim Nachdenken über Form- und Bewegungskräfte kein ‚oder‘ zu setzen, sondern vielmehr das verbindende ‚und‘ zu betonen. Als Leitmetapher figurieren Kraft und Energie auch in Warburgs Konzeptualisierung der Pathosformel, die

62  Friedrich Schiller: Über die Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Bd. 8, hg. v. Rolf-Peter Janz u. a., Frankfurt/M. 1992, S. 556–676, hier S. 605. Hier wirken zweifellos die bereits in der Frühen Neuzeit ausgeprägten Vorstellungen von einem gleichsam lebendigen Kunstwerk nach. Vgl. Frank Fehrenbach: Quasi vivo. Lebendigkeit in der italienischen Kunst der Frühen Neuzeit, Berlin u. a. 2021. 63  Johann Wolfgang v. Goethe: Über den Bildungstrieb, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. v. Hendrik Birus u. a., Abt. I, Bd. 24, Frankfurt/M. 1987, S. 452. 64  Dazu grundlegend Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016. In David Wellberys Rekonstruktion zeichnet sich Goethes Vorstellung der ästhetischen Form dadurch aus, Form als „spezifische Konfiguration in der Zeit“ zu denken. Wellbery rückt entsprechend formdynamische Prinzipien wie das der ‚Übergänglichkeit‘ in den Blick: David E. Wellbery: Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800, in: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ‚anschauliches Denken‘ in den Geistesund Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin u. a. 2014, S. 17–42, hier S. 26. Zu den gattungspoetischen Konsequenzen vgl. Cornelia Zumbusch: Ruhende Löwen. Goethes Novelle und die Kraft der Dichtung, in: Schiller-Jahrbuch 64 (2020), S. 217–239. 65  Vgl. Malika Maskarinec: The Forces of Form in German Modernism, Evanston 2018. Siehe dazu auch Maskarinec’ Beitrag in diesem Band.

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Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch

als eine mit „Wucht“ und „elementare[r] Gewalt“ eingeprägte Bildform die Jahrhunderte überdauert und immer wieder reaktiviert wird.66 Die Rezeptionseffekte künstlerischer Formen zeigen sich hier nicht nur in der Bewegung einzelner Gemüter, sondern werden zum entscheidenden Schlüssel für historische Überlieferungsdynamiken. Bei Wölfflin wie bei Warburg liefert die Einfühlungsästhetik des 19. Jahrhunderts entscheidende Stichworte, um die Dynamisierung der Form in der Wahrnehmung zu beschreiben. Diesen Spielarten ästhetischer Kräfte als Kräften der Wahrnehmung wird an anderer Stelle nachzugehen sein – ebenso wie den Konjunkturen einer Metaphysik der Kraft, die sich als Kräfte des Unheimlichen und Numinosen auch und gerade in der (Post-)Moderne nicht erledigt haben.67 Was hier einleitend an kunst- und dichtungstheoretischen Positionen zu Form- und Bewegungskräften skizziert wurde, vertiefen die nachfolgenden Beiträge zu Malerei und Skulptur, Musik und Tanz, Literatur und Film. Sie erweitern den Radius der Betrachtungen in doppelter Weise, indem sie neben den Künsten auch einen genaueren Blick auf wissensgeschichtliche Dimensionen richten und neben die historischen Perspektiven auch die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Positionen stellen. Ziel der Zusammenstellung ist ein genaueres Verständnis der zentralen Rolle, die Kraftvorstellungen im Nachdenken über Formbildungsprozesse, im Umgang mit Bewegungsformen und bewegten Formen wie auch in Konzeptualisierungen der ‚bewegenden‘ Wirkung einer solchen künstlerischen Form gespielt haben und immer noch spielen. Kräfte in ihren grundlegenden Spielarten der vis motrix und der vis formativa sind eine Herausforderung der Künste wie der sich an ihnen entzündenden Debatten und Diskurse.

66  Aby Warburg: MNEMOSYNE. Einleitung, in: ders.: Gesammelte Schriften Studienaus­ gabe, hg. von Horst Bredekamp, Michael Diers u. a., Bd. II.1, Der Bilderatlas MNEMOSYNE, hg. von Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, Berlin 2000, S. 3–6, hier S. 5. Vgl. auch Cornelia Zumbusch: Transformationen. Die Kraft der Kunst bei Aby Warburg, in: Frank ­Fehrenbach, Robert Felfe und Karin Leonhard (Hg.): Kraft – Energie – Intensität, Berlin u. a. 2017, S. 327–340. 67  Siehe in diesem Kontext auch den Beitrag von Sophie Wennerscheid in diesem Band.

Kraftreflexionen: Natur, Geschichte, Ästhetik

Georg Toepfer

Biologische Autonomie Die Kraft aus der Form, oder: Die Rehabilitierung der Lebenskraft aus dem Paradigma der Selbstorganisation

I. Prinzipien der Ursache und Differenz (‚Lebenskräfte‘) Der Grund für die Besonderheit von Lebewesen als einer eigenständigen Seinsform wird seit der Antike kraftförmig gedacht. Eine allen Lebewesen gemeinsame spezifische Kraft wird angenommen, um ihre Besonderheit zu begründen und zu erklären. Und eine Vielfalt von weiteren spezifischen Kräften dient dazu, die verschiedenen organischen Funktionsbereiche – wie die Ernährung und Fortpflanzung, Wahrnehmung und Bewegung sowie das Denken – voneinander abzugrenzen und auf den Begriff zu bringen. In der klassischen antiken Philosophie lautet das zentrale Konzept, auf das die Lebendigkeit zurückgeführt wird, Seele. Aristoteles charakterisiert die Seele wesentlich darüber, dass sie eine Ursache (aitia) und ein Prinzip (archê) des lebendigen Körpers ist.1 Die Seele verfügt nach Aristoteles über mehrere dynameis. Dieses Wort wird meist mit „Vermögen“ übersetzt; es kann aber auch „Kraft“ heißen. Ein Charakteristikum der Vermögen oder Kräfte von Lebewesen liegt in ihrer Potenzialität (das Substantiv ist abgeleitet von dem Verb dynamai mit der Bedeutung: „können, imstande sein, Macht haben“): Kräfte bezeichnen Fähigkeiten von Lebewesen, die nicht in jedem Moment aktualisiert vorliegen. Eine Pflanze hat die Kraft zu wachsen, ein Hund die Kraft zu laufen und ein Mensch die Kraft zu überlegen, auch wenn diese Aktivitäten nicht immer praktiziert werden. Die Vermögen oder Kräfte bestehen also auch jenseits der Aktualisierung der Tätigkeiten, die durch sie bedingt sind; sie hängen an dem Beharrenden des Lebewesens; sie sind mit ihren Körpern gegeben, in ihren Körpern verankert und insofern verkörpert. Mit dem allgemeinen Verständnis von Kraft als einem Prinzip, das die Ursache von Bewegungen oder Veränderungen bezeichnet – so konzipiert

1  Aristoteles: Über die Seele, übers. von Klaus Corcilius, Hamburg 2017, S. 415b8.

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Aristoteles dynamis allgemein2 –, lag es in der Antike nahe, den Begriff auf Lebewesen zu beziehen, weil Lebewesen definiert waren über ihre Fähigkeit zur Selbstbewegung. Lebewesen hatten also die Ursache der Bewegung in sich selbst; sie verfügten über eine Lebenskraft, ζωτικὴ δύναμις, wie es seit den ­Lehren der älteren Stoa, spätestens seit Poseidonios hieß.3 Meist ist in den antiken Lehren allerdings nicht von der einen Lebenskraft, sondern von einer Mehrzahl von organischen Kräften die Rede. ‚Kraft‘ dient in dieser Hinsicht nicht nur der Erklärung des Ursprungs von organischen Bewegungsvorgängen, sondern auch deren Ordnung in organische Funktionsbereiche. Verschiedene Einteilungen, meist Dreiteilungen, stehen dabei nebeneinander: Hippokrates wird die Dreiteilung in zeugende, ernähren­ de und erhaltende Kraft zugeschrieben.4 Die Dreigliederung der Seele, die sich bei Platon und Aristoteles findet,5 wird in der peripatetischen Schule sowie von arabischen Gelehrten des Mittelalters in eine Lehre von drei Grundkräften der Lebewesen transformiert, die tres-vires-Lehre. Bei Avicenna erscheinen die drei Seelenkräfte (vires animae) als vis vegetativa, vis movens und vis intellectiva6 (übersetzt als „Pflanzenkraft“, „animalische Kraft“ und „rationelle Kraft“7). Die für alle Lebewesen basale vegetative Kraft wird von ihm weiter unterteilt in die drei Kräfte vis nutritiva, vis augmentativa und vis generativa, und er bringt diese drei in eine teleologische Ordnung, in der die ernährende Kraft den Anfang bildet, die Kraft des Wachstums die Vermittlung und die zeugende Kraft das Ziel.8 Die Annahme spezifischer Kräfte hat hier also zumindest auch die Funktion, das einheitliche Phänomen des Lebens in Subsysteme einzuteilen und in eine funktionale Ordnung zu bringen. Weil es sich um spezifisch lebendige Kräfte handelt, grenzen sie außerdem den Bereich des Lebendigen vom Anorganischen ab. Diese Funktion betont besonders der in Rom tätige griechische Arzt Galen, wenn er eine für alle Lebewesen angeborene Kraft (δύναμις) annimmt, die sich von den Kräften der anorganischen Materie unterscheide

2  Aristoteles: Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, bearb. von Horst Seidl, Hamburg 1995, S. 1020a1. 3  Karl Reinhardt: Poseidonios, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. 22 (1), Stuttgart 1953, S. 558–826, hier S. 649. 4  Theodor Haarbrücker (Übers.): Abu-’l-Fath’ Muh’ammad asch-Schahrastâni’s Religionspartheien und Philosophen-Schulen, Bd. 2, Halle 1851, S. 149. 5  Platon: Politeia, übers. von Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1959, 439d–440d; Aristoteles: Topik, übers. von Eugen Rolfes, Hamburg 1995, 133a; ders: De generatione animalium, übers. von A. L. Peck, London 1843, S. 736b; Aristoteles 2017 (wie Anm. 1), S. 412aff. 6  Avicenna: Liber de anima seu sextus de naturalibus, I–III, hg. von Simone Van Riet, Louvainla-Neuve 1972, S. 74–79 und S. 101. 7  Samuel Landauer: Die Psychologie des Ibn Sina, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 29 (1876), S. 335–418, hier S. 378. 8  Avicenna 1972 (wie Anm. 6), S. 81f.; vgl. Landauer 1876 (wie Anm. 7), S. 385.

Biologische Autonomie

und die Lebewesen zum Angemessenen hinführe, vom Fremden fortführe und das zur Nahrung Bestimmte umwandele.9 In der Frühen Neuzeit sind verschiedene für den Bereich des Organischen charakteristische und diesen Bereich sogar definierende Kräfte postuliert worden.10 Dazu zählen Johan Baptista van Helmonts archaeus, eine Art kleiner Baumeister, die „plastischen Kräfte“ bei Henry More und Ralph Cudworth, die vital force bei dem Botaniker Nehemiah Grew, oder die Seele bei Georg Ernst Stahl, die dieser als eine „Leitkraft“ versteht, ein ausrichtendes, teleologisches Prinzip (director in corpore vivo), ein aktives „Vermögen“ des Tuns und Unterlassens (energiam activam ad agendum, & non agendum11). Die Annahme dieser Faktoren ist dabei meist gegen die rein mechanistische Sicht der Cartesianer gewandt, und auch gegen solche Konzeptionen, die alle Ordnung als unmittelbar durch Gott verliehen ansehen. Denn über die Annahme von Kräften in den Lebewesen werden diese mit einer gewissen Autonomie ausgestattet. Der Grund der zweckmäßigen Einrichtung und zielgerichteten Aktivität der Lebewesen wird von dem externen göttlichen Baumeister in die Lebewesen selbst verlegt. Die Erwartungen an den Begriff sind seit Mitte des 18. Jahrhunderts sehr hoch. Der Zustand des Lebens oder der Lebendigkeit wird über ihn definiert, so von Christian August Crusius 1753, der „Lebendigkeit“ als „Stand der Wirksamkeit einer lebendigen Kraft“12 versteht. Auch Friedrich Casimir Medicus hat 1774 ein sehr emphatisches Verständnis vom Begriff der Lebenskraft, wenn er diese als „Triebfeder des tierischen [...], des mechanischen Lebens“ bezeichnet, als „Quelle aller Bewegungen“, besonders solcher „Handlungen, die ich schlechterdings ohne meinen Willen vollbringe“13. Das Attraktive des Konzepts ergab sich aus seinem doppelten Charakter, einerseits einen Anschluss an die physikalischen Wissenschaften zu ermöglichen und andererseits die Eigenständigkeit des Bereichs des Lebendigen herauszustellen.14

9  Galen: De naturalibus facultatibus, engl. Übers. von Arthur John Brock, Cambridge/MA 1916, S. 80f. (II, 3). 10  Vgl. Georg Toepfer: Vitalismus, in: Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 3, Stuttgart 2011, S. 692–710, hier S. 700. 11  Georg Ernst Stahl: Dissertatio inauguralis medica de medicina medicinae curiosae, Halle 1714, S. 28 (§ 21); vgl. Bernward Josef Gottlieb: Georg Ernst Stahl, Leipzig 1961, S. 49 und S. 71. Für Stahl ergibt sich diese Kraft allerdings ausdrücklich nicht aus der Struktur des Körpers („non à constitutione partium absolutè pendentem“; ebd.). 12  Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengesetzet werden, Leipzig 1766, S. 947 (§458). 13  Friedrich Casimir Medicus: Von der Lebenskraft, Mannheim 1774, S. 26. 14  Vgl. Hubert Thüring: Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, Paderborn 2012, S. 42 und S. 303.

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II. Vom Markierungsparadigma zum Fetisch (Kraftelimination) Wie die Lebenskräfte aber als „Triebfeder“ oder „Quelle“ in physiologischen Theorien zu verankern wäre – darüber gab es keine Modelle. Daher konnten auch keine konkreten Erklärungen mittels der postulierten organischen Kräfte erzielt werden. Ihnen kam insgesamt weniger eine Explanations- als eine Demarkationsfunktion zu: Sie markierten den Bereich des Lebendigen in seiner ontologischen Eigenständigkeit, wiesen auf den spezifischen Erklärungsbedarf hin und entwickelten eine funktionale Systematisierung und Ordnung organischer Phänomene. Die Lebenskraft kann daher treffend als ein „Lückenoder Markierungsparadigma“ bezeichnet werden; der Begriff ist „weniger Ausdruck der Lösung eines Problems als vielmehr seiner Artikulation“15. Dieses vagen Status sind sich viele Verfechter des Begriffs wohl bewusst: Johann Friedrich Blumenbach nennt die Ursache seines Bildungstriebes eine „qualitas occulta“16; Carl Friedrich von Kielmeyer hält „Lebenskraft“ 1793 für ein „Behelfswort“17. Die mangelnde Erklärungskraft des Begriffs bedingte seine allmähliche Eliminierung im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Der entscheidende erste Schritt auf diesem Weg bestand in der Pluralisierung der einen Kraft zu vielen. Kielmeyer vollzieht ihn in seiner Rede von 1793, in der er fünf Arten organischer Wirkungen unterscheidet und diesen jeweils eine Kraft zuordnet: „Sensibilität“, „Irritabilität“, „Reproductionskraft“, „Sekretionskraft“ und „Propulsions­ kraft“18. Kielmeyer geht es dabei besonders um die „Verhältniße der organischen Kräfte unter einander“, wie es im Titel seiner Arbeit heißt, und er transformiert damit die eine Lebenskraft zu einem Gefüge von differenzierten, zusammenwirkenden Kräften. Diese „Dezentralisation der Lebenskraft“19 führt damit im Ergebnis zur Aufhebung des eigentlichen Konzepts einer zentralen Lebenskraft. Im Anschluss an diese Auffassung und gegen das Postulat einer einzigen Lebenskraft bekennt Alexander von Humboldt 1797, er wage es nicht

15  Eve-Marie Engels: Die Teleologie des Lebendigen. Kritische Überlegungen zur Neuformulierung des Teleologieproblems in der anglo-amerikanischen Wissenschaftstheorie. Eine historisch-systematische Untersuchung, Berlin 1982, S. 103. 16  Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb, Göttingen 1791, S. 33. 17  Carl Friedrich von Kielmeyer: Über die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse, [Stuttgart] 1793, S. 9. 18  Kielmeyer 1793 (wie Anm. 17), S. 9f. 19  Alexander Berg: Die Lehre von der Faser als Form- und Funktionselement des Organismus. Die Geschichte des biologisch-medizinischen Grundproblems vom kleinsten Bauelement des Körpers bis zur Begründung der Zellenlehre, in: Virchows Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 309 (1942), S. 333–460, hier S. 445.

Biologische Autonomie

mehr, „eine eigene Kraft zu nennen, was vielleicht bloß durch Zusammenwirken der, im einzelnen längst bekannten, materiellen Kräfte bewirkt wird“20. Im darauffolgenden Jahr schließt sich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling der Sache nach dieser Auffassung an, wenn er feststellt, dass „Lebenskraft“ ein „völlig leerer Begriff“ sei und behauptet: „Das Wesen des Lebens […] besteht überhaupt nicht in einer Kraft, sondern in einem freyen Spiel von Kräften [...]. Organisation und Leben drücken […] nur eine bestimmte Form des Seyns, ein Gemeinsames aus mehrern zusammenwirkenden Ursachen aus“21. Diese Reduktion der Lebenskraft auf Organisationskonzepte bildet die für das 19. Jahrhundert grundlegende Konstellation. Trotz vereinzelter Verteidigungen des Konzepts ist es doch die überwiegende Auffassung der Naturforscher, dass Lebenskräfte nicht fundamental, sondern aus der Organisation der Materie abzuleiten sind. Diese gleichsam holistische Auflösung der Lebenskraft in ein Netz von sich gegenseitig beeinflussenden und kontrollierenden Faktoren wird im letzten Viertel des Jahrhunderts von einer anderen, von der Physik ausgehenden ‚kraftfeindlichen‘ Bewegung unterstützt. In ihrem Effekt, an die Stelle der älteren agentenzentrierten Kraftbegrifflichkeit eine dezentrierende interaktionistische und systemische Perspektive zu rücken, ähneln sich die Entwicklungen in der Biologie und Physik; die Begründungen für die Aufgabe des Kraftbegriffs erfolgen aber unabhängig und ohne Bezug zueinander. Den Vorschlag, in der Physik auf das Konzept der Kraft ganz zu verzichten und die Mechanik allein von Bewegungen her zu entwickeln, macht Gustav Kirchhoff in seinen Vorle­ sungen über Mechanik von 1876. Indem das Konzept der Kraft durch die einfache Verbaldefinition „Masse x Beschleunigung“22 ersetzt wird, könne die Mechanik allein aus der Bewegung die Definitionen ihrer Begriffe schöpfen. Außerdem treten nach Kirchhoff an die Stelle einfacher Kräfte Kräftesysteme, und damit werde der Begriff der Kraft nicht mehr definierbar. Statt von linear wirksamen Kräften ist nun von Feldern die Rede – Gravitationsfeldern, magnetischen oder elektrischen Feldern –, in denen Kräfte lediglich als abgeleitete Größen aus der Interaktion von Elementen entstehen. Um einen systematischen Aufbau der Mechanik unter Verzicht auf den Kraftbegriff bemüht sich Heinrich Hertz in seinen posthum erschienenen Prinzipien der Mechanik von 1894. Seine neue „Darstellung der Mechanik“

20  Alexander von Humboldt: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, Bd. 2, Posen 1797, S. 433. 21  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren ­Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [1798], in: ders.: Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. I,6, hg. von Jörg Jantzen, Stuttgart 2000, S. 254. 22  Gustav Kirchhoff: Vorlesungen über mathematische Physik, Bd. 1: Mechanik, Leipzig 1876, S. 11.

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c­ harakterisiert er dadurch, dass in ihr „von Anfang an der Begriff der Kraft zurücktritt zu Gunsten des Begriffs der Energie“23; ‚Kraft‘ gehört für Hertz zu den „Vereinfachungen oder Hilfsbezeichnungen, welche vielleicht zweckmäßig, aber jedenfalls nicht notwendig sind“24. Noch darüber hinaus gehen wenig später Ernst Mach und Bertrand Russell, indem sie nicht nur den Begriff der Kraft, sondern auch den der Ursache in den Naturwissenschaften aufgeben wollen. Mach sieht in der Rede von Ursachen „Spuren von Fetischismus“ und will diese ersetzen durch ein „System von Bedingungen“25: Die Rede von Ursachen könne aufgelöst werden in „Verknüpfungsverhältnisse“, die es gelte zu „beschreiben“, ohne dahinter mysteriöse Anfangspunkte zu setzen. Das Denken in Ursachen ist ein Beispiel für die von Mach beschriebene menschliche Neigung, „ihre selbstgeschaffenen abstrakten Begriffe zu hypostasiren, ihnen Realität ausserhalb des Bewusstseins zuzuschreiben“26. Gemäß dem von Mach hochgehaltenen Sparsamkeitsprinzip in der „Oekonomie der Wissenschaft“ ist die Rede von Ursachen und Kräften aber zu vermeiden.27 Russell illustriert dies später anhand des Gravitations­ gesetzes, in dem es nur noch „wechselseitig gravitierende Körper“ gebe und nichts mehr, wie er schreibt, „das im eigentlichen Sinne ‚Ursache‘ genannt werden könnte“28. Ursachen werden diesen Autoren zu fetischistischen Überbleibseln animistischer Naturauffassungen. Andreas Hüttemann spricht von der „Elimination kausalen Vokabulars“.29 Der Wissenschaftshistoriker Bruno Heller verortet den Begriff der Kraft insgesamt in einem Denken, das dem „Stil des Barock“30 verhaftet sei: Leitend für diesen Stil sei die Vorstellung von barocken Residenzen, die als Zentren konzipiert sind, in denen alle Macht konzentriert sei und von denen alle Veränderungen in linearer und direktionaler Weise ausgingen. Abgelöst werde dieses Denken am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Paradigmen von Feld und System. Ein wesentlicher Faktor in dieser Ablösung waren die Kraft- oder Energieerhaltungssätze, die die Äquivalenz von mechanischer Arbeit und Wärme nachwiesen. Sie machten deutlich, dass Kräfte

23  Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik, in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894, S. 17. 24  Hertz 1894 (wie Anm. 23), S. 19. 25  Ernst Mach: Principien der Wärmelehre, historisch-kritisch entwickelt, Leipzig 1896, S. 433. 26  Mach 1896 (wie Anm. 25), S. 51. 27  Mach 1896 (wie Anm. 25), S. 391. 28  Bertrand Russell: On the notion of cause, in: Proceedings of the Aristotelian Society 13 (1912–1913), S. 1–26, hier S. 14. 29  Andreas Hüttemann: Ursachen, Berlin 2013, S. 44. 30  Bruno Heller: Grundbegriffe der Physik im Wandel der Zeit, Braunschweig 1970, S. 169.

Biologische Autonomie

­ eine isolierten und eigenständigen Naturfaktoren sind, sondern Resultate k energetischer Potenzialdifferenzen. Allerdings folgen durchaus nicht alle Physiker dieser Eliminierung des Kraftbegriffs. Max Planck beispielsweise plädiert in seiner Abhandlung über Das Princip der Erhaltung der Energie von 1887 zumindest für die intuitive Plausibilität des Kraftbegriffs und sieht in ihm eine für uns Menschen angemessene Grundgröße. Denn wir verfügen nach Planck über einen „Kraftsinn“, aber keinen Sinn für Arbeit oder Energie. Kraft erscheine uns als „das primäre, als die Ursache“. Er spricht von der „Unmittelbarkeit des Kraftbegriffs“, der uns gegeben sei über unseren „Muskelsinn“31, den Planck auch als „Kraftsinn“ bezeichnet. Philosophen um die Jahrhundertwende stützen diese Auffassung mit dem phänomenalen Argument, dass „Spannung“ neben Weg und Zeit als basales „drittes Phänomen der Mechanik“32 zu berücksichtigen sei, weil sie auch ohne Bewegung vorliegen kann und festzustellen ist. Der Kraftbegriff könnte auch vor dem Hintergrund verteidigt werden, dass er im Grunde das bezeichnet, was die Physiker ab den 1870er Jahren ‚Energie‘ nennen. In den ersten Abhandlungen zur Begründung des später so genannten ‚Energieerhaltungssatzes‘ erscheint auch der Begriff der „Kraft“ (bei Robert Mayer 1842 in der „Gleichung von Fallkraft, Bewegung und Wärme“33, bei ­Hermann von Helmholtz 1847 als „Erhaltung der Kraft“34). Vor dem Hintergrund der griechischen Begrifflichkeit erscheint ‚Kraft‘ darüber hinaus als die sehr viel bessere Bezeichnung für den Sachverhalt als ‚Energie‘, weil das griechische dynamis – und seine Übersetzung als ‚Kraft‘ – im Gegensatz zu energeia die Potenzialität der Verhältnisse zum Ausdruck bringt. Ausgehend von der aristotelischen Begrifflichkeit ist ‚potenzielle Energie‘ ein Selbstwiderspruch und ‚kinetische Energie‘ eine Tautologie.35 Unabhängig von dieser terminologischen Frage ist die Unterscheidung zwischen Potenzialen und Potenzialdifferenzen aber eine für die Physik wichtige Einsicht. Entscheidend für den Energiebegriff in seiner neuen (physikalischen) Bedeutung und für den Kraftbegriff in seiner alten (aristotelisch-lebensweltlichen) Bedeutung ist die Potenzialität. Von Helmholtz streicht dies für die Physik heraus, indem er feststellt, dass das Vorhandensein einer Kraft nicht allein aus vorhandener Beschleunigung geschlossen werden kann, dass wir vielmehr in manchen Fällen, „die 31  Max Planck: Das Princip von der Erhaltung der Energie, Leipzig 1887, S. 150. 32  Alois Höfler: Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik, Leipzig 1900, S. 34; vgl. auch Hans Driesch: Naturbegriffe und Natururteile. Analytische Untersuchungen zur ­reinen und empirischen Naturwissenschaft, Leipzig 1904, S. 19. 33  Julius Robert Mayer: Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, in: Justus ­Liebigs Annalen der Chemie 42 (1842), S. 233–240, hier S. 239. 34  Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, Berlin 1847. 35  Höfler 1900 (wie Anm. 32), S. 30.

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Anwesenheit einer Kraft anzunehmen Grund haben, ohne dass wir ihre Wirkung als Beschleunigung auftreten sehen.“36 Auch für die Biologie ist die Potenzialität der Kräfte von zentraler Bedeutung, weil die Aktivitäten von Lebewesen auf „Vermögen“ beruhen. Diese Vermögen hängen aber nicht an einer gleichrangig neben den physikalischen Grundkräften stehenden „Lebenskraft“, sondern sie sind in der körperlichen Organisation der Lebewesen verankert. Die Lebenskraft liegt also in den Formen der Organismen. Die organischen Strukturen bedingen Kräfte aus den Formen, ein kausales Regime, das mit Hans Driesch „Konstellationskausalität“ genannt werden kann.37

III. Maschinen und Organismen (formdeterminierte Systeme) Inwiefern organische Formen als Kräfte verstanden werden können, wird am besten in dem Vergleich von Organismen und Maschinen deutlich. Ende des 19. Jahrhunderts wird der Begriff der Morphologie bezeichnenderweise aus der Biologie in die Maschinenkunde übernommen. Der Begründer der Maschinenmorphologie, der Ingenieur Franz Reuleaux, liefert in seiner Theoretischen Kinematik von 1875 eine allgemeine Definition der Maschine. Diese lautet: „Eine Maschine ist eine Verbindung widerstandsfähiger Körper, welche so eingerichtet ist, dass mittelst ihrer mechanische Naturkräfte genöthigt werden können, unter bestimmten Bedingungen zu wirken.“38 Die besondere Wirksamkeit einer Maschine hängt danach an ihrer „Einrichtung“; die Teile einer Maschine seien so angeordnet, „dass sie jedem der bewegten Körper nur eine einzige Bewegung und zwar die bezweckte gestatten“39. Das, was diese Einschränkung vornimmt, ist die besondere Konstellation der Komponenten, die Struktur oder eben die Morphologie der Maschine. Die Morphologie wirkt im Sinne einer „Einschränkung“ oder „Nötigung“ der allgemeinen Naturgesetze in einer bestimmten Richtung. Was das Spezifische einer Maschine ausmacht, ist also nicht durch zusätzliche Naturkräfte bedingt, sondern durch ihre spezifische Form.

36  Hermann von Helmholtz: Vorlesungen über theoretische Physik, Bd. I,2: Vorlesungen über die Dynamik discreter Massenpunkte, hg. von Otto Krigar-Menzel, Berlin 1898, S. 24. 37  Driesch 1904 (wie Anm. 32), S. 210; ders.: Ordnungslehre. Ein System des nicht-metaphysischen Teiles der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Werden, Jena 1912, S. 210. 38  Franz Reuleaux: Theoretische Kinematik. Grundzüge einer Theorie des Maschinen­ wesens, Braunschweig 1875, S. 38. 39  Reuleaux 1875 (wie Anm. 38), S. 38.

Biologische Autonomie

Michael Polanyi überträgt 1968 diesen Gedanken der Formbestimmtheit von Maschinen auf Lebewesen und sieht beide durch eine „irreduzible Struktur“ gekennzeichnet: Ihre Eigenheiten seien nicht aus den allgemeinen Gesetzen und Prinzipien der Physik ableitbar, oder darauf reduzierbar, sondern in den Formen der Maschinen oder Lebewesen, die als Randbedingung („boundary condition“) für die physikalischen Kräfte fungieren, verkörpert.40 Polanyi spricht von der „doppelten Kontrolle“, der die Maschinen und Organismen unterworfen sind: Die eine geht von den physikalischen Naturgesetzen aus, denen alle Gegenstände unterliegen, die andere besteht in einem Einspannen („harnessing“) dieser Naturgesetze durch die jeweilige Struktur des Systems.41 Die Formen sind nach dieser Konzeption nicht direkt eine zusätzliche Kraft, aber doch der entscheidende und überhaupt der einzige Faktor, der über die Naturgesetze hinausgeht und die Eigenart von Maschinen und Lebewesen bedingt. Insofern diese Eigenart an nichts als der Form des Systems hängt, könnten diese, so ließe sich Polanyis Punkt zusammenfassen, formdetermi­ nierte Systeme genannt werden. In der Debatte der letzten Jahre wird die von den Formen ausgehende Determinierung vor allem unter dem Stichwort der constraints diskutiert. Der Ausdruck stammt ursprünglich aus der Mechanik – er geht zurück auf Carl Friedrich Gauss’ Prinzip vom „kleinsten Zwange“42 – und wird seit Ende der 1960er Jahre für die Beschreibung der besonderen Organisationsform von Lebewesen verwendet. In dieser Bedeutung stimmen sie weitgehend mit dem überein, was Polanyi die Randbedingungen für die physikalischen Gesetze genannt hatte, also die Faktoren, die die Naturgesetze kanalisieren oder „einspannen“. Bei Organismen werden vor allem die morphologischen Strukturen als constraints diskutiert. Im Prinzip alle materiell verkörperten Formen eines Organismus – angefangen von den organischen Molekülen, Membranen und Zellen bis hin zu den makroskopisch sichtbaren morphologischen Merkmalen – bilden den Komplex seiner constraints.43 Über diese wird ein System der hierarchischen Kontrolle aufgebaut, das die Naturgesetze in für die Organismen funktionaler Weise wirksam werden lässt.44 Die spezifischen Aktivitäten und Funktionen der Organismen werden auf diese Weise erklärlich auf der Basis ihrer Formen; sie sind nichts als Effekte der Form, weil die Formen in ihrer 40  Michael Polanyi: Life’s irreducible structure, in: Science 160 (1968), S. 1308–1312, hier S. 1309. 41  Polanyi 1968 (wie Anm. 40), S. 1309. 42  Carl Friedrich Gauss: Über ein neues allgemeines Grundgesetz der Mechanik, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 4 (1829), S. 232–235, hier S. 233. 43  Howard Pattee: Laws and constraints, symbols and languages, in: Conrad Hal Waddington (Hg.): Towards a Theoretical Biology, Bd. 4, Edinburgh 1972, S. 248–258, hier S. 249. 44  Howard Pattee: The nature of hierarchical controls in living matter, in: Robert Rosen (Hg.): Foundations of Mathematical Biology, Bd. 1, New York 1972, S. 1–22, hier S. 4.

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Eigenschaft als Randbedingungen die einzigen spezifischen Faktoren in der Lenkung der Naturkräfte sind.45 In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es auch, das Besondere von Lebewesen nicht darin zu sehen, was sie von Maschinen unterscheidet, sondern gerade in dem, was sie mit diesen gemeinsam haben: eine spezifische Form, die als Randbedingung für das Wirksamwerden von Naturgesetzen fungiert. Durch diese Gemeinsamkeit mit Maschinen sind Organismen rein mechanisch unerklärlich oder „irreduzibel“46. Die Irreduzibilität von Lebewesen ergibt sich aus ihrer Maschinenförmigkeit – oder weniger überspitzt formuliert: aus ihrer Formdeterminiertheit. Der Unterschied liegt allein darin, dass Lebewesen ihre Struktur selbst determinieren, dass sie nicht von einem ihnen äußerlichen Designer entworfen wurden, sondern „in sich bildende Kraft“ besitzen und daher „sich selbstorganisirende[] Wesen“47 genannt werden können, wie es Kant formulierte. Im Unterschied zu Maschinen bringen Lebewesen die sie konstituierenden Randbedingungen selbst hervor und stabilisieren diese. Ihre Tätigkeit besteht, so kann es mit einem vergessenen, aber präzisen Begriff bezeichnet werden, in Autophelie, Selbstnützlichkeit.48 Mit dem theoretischen Biologen Stuart Kauffman können die Verhältnisse bei Organismen als ein Arbeits-constraints-Kreis­ lauf beschrieben werden49: Durch ihre eigene Form sind Organismen in der Lage, die Naturgesetze zur Verrichtung bestimmter Arbeit zu nutzen, nämlich zu genau der Arbeit, die darauf gerichtet ist, ihre Form, also ihre spezifischen Randbedingungen (constraints), zu erhalten. Die constraints ermöglichen die spezifische Arbeit, und die Arbeit erhält die constraints. Weil die constraints auf sich selbst zurückwirken, kann auch von einer Schließung der constraints („closure of constraints“50) oder den Selbst-constraints bei Lebewesen gesprochen werden. Die Erhaltung der constraints erfolgt dabei entweder im Körper eines bestimmten individuellen Organismus, durch dessen Selbsterhaltung, oder – durch Fortpflanzung – im Körper anderer, ihm ähnlicher Organismen,

45  Stephen T. Asma: Following Form and Function, Evanston/IL 1996, S. 58. 46  Hannah Ginsborg: Kant’s biological teleology and its philosophical significance, in: ­Graham Bird (Hg.): A Companion to Kant, Malden/MA 2006, S. 455–469, hier S. 462. 47  Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft (1790/93), in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Berlin 1913, S. 165–485, hier S. 374; vgl. Aristoteles: Physik. Vorlesung über die Natur, übers. von Hans ­Günter Zekl, Hamburg 1995, S. 199b. 48  Wilhelm Roux: Ziele und Wege der Entwickelungsmechanik, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen über Entwickelungsmechanik der Organismen, Bd. 2, Leipzig 1895, S. 55–94, hier S. 58. 49  Stuart Kauffman: Investigations, New York 2000, S. 4. 50  Maël Montévil und Matteo Mossio: Biological organization as closure of constraints, in: Journal of Theoretical Biology 372 (2015), S. 179–191, hier S. 180f.

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seiner Nachkommen. Viele klassische Definitionen des biologischen Lebensbegriffs beruhen auf dieser Selbstbezüglichkeit der organischen Formen: „Das Leben […] besteht in einem Kreislauf, in einer Aufeinanderfolge von Processen, die continuirlich in sich selbst zurückkehren“51 oder: „Das ‚Leben‘ charakterisiert sich […] durch die spezifische Art des Kreisprozesses, der […] von der eigenen Körpersubstanz ausgeht und wieder in die eigene Körpersubstanz mündet“52.

IV. Ursachen und Umstände (Zeitgebundenes und Zeitallgemeines) Auch wenn organische Formen als die spezifischen (selbstbezüglichen) Randbedingungen für Naturgesetze wirksam sind, bleibt die Frage, ob und inwiefern sie als Ursachen oder Kräfte angesehen werden können. Ein verbreiteter Einwand gegen eine solche Sicht geht davon aus, dass Organismen ontologisch als Substanzen in der Zeit beharren, also keine zeitlich zu datierenden Ereignisse sind – von Ursachen aber genau eine solche Datierung erwartet wird. Dieser Datiertheitseinwand hat eine lange Geschichte, die vor allem mit dem Status von (moralisch) handelnden Personen als kausalen Akteuren und Akteurinnen verbunden ist.53 Im Rahmen von klassischen philosophischen Kausalitätskonzepten ist es selbstverständlich, Substanzen als Ursachen anzusehen. Es gehört zum Begriff der Handlung, dass ein Subjekt als Substanz kausale Wirkungen entfaltet.54 Um die Vorstellung von Subjekten als aktiv Handelnden nicht aufzugeben, kann die Rede von Wirkungen damit nicht auf die Rede von Ereignissen reduziert werden.55 Nicht nur Ereignisse, sondern auch Subjekte als zeitlich beharrende Substanzen können kausal wirksam sein. Analog dazu lässt sich auch die Position von nicht-menschlichen Akteuren und Akteurinnen als Substanzen verteidigen, von denen kausale Wirksamkeiten und Kräfte ausgehen. Auch in diesem Bereich gibt es neben einer zeitlich zu datierenden auslösenden Kausalität (triggering) eine Kausalität, in denen zeitlich beharrende Substanzen eine aktive und entscheidende Rolle spielen.56

51  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [1798], in: Jörg Jantzen (Hg.): Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I,6, Stuttgart 2000, S. 237. 52  Julius J. Pikler: Das subjektive (praktische) und das objektive (theoretische) Kriterium des Lebens, in: Zeitschrift für Konstitutionslehre 12 (1926), S. 1–49, hier S. 43f. 53  Vgl. C. D. Broad: Ethics and the History of Philosophy, London 1952, S. 215; Carl Ginet: On Action, Cambridge/MA 1990, S. 13f. 54  Vgl. z.B. Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft, Riga 1781, S. 205. 55  Eric Watkins: Kant and the Metaphysics of Causality, New York 2005, S. 412. 56  Erasmus Mayr: Understanding Human Agency, Oxford 2011, S. 217.

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In der Konzipierung von Subjekten oder Systemen als Ursprungsort von Kräften und Ursachen liegt eine gewisse Umkehrung der Rollen von Ursachen und Umständen: Zur Kraft und Ursache werden die Randbedingungen bzw. constraints, d.h. die körperlichen organischen Strukturen, die in der Zeit beharren; das zeitgebundene datierbare Ereignis ist dagegen in den Umständen gegeben, die nicht an den organischen Strukturen hängen, sondern deren Kräfte aktualisieren. Damit wird dem Datierbarkeitseinwand entgegengehalten, dass die Substanz der organischen Form keine Ursache im ereigniskausalen Sinne ist, sondern eine substanzspezifische Disposition.57 Die Disposition ist in der materiellen Form des Organismus gegeben. Diese Form ist der Faktor, der für die Erklärung der kausalen Eigenheiten von Organismen von entscheidender Bedeutung und insofern von hoher kausaler Relevanz ist. Die organische Form ist in ähnlicher Weise „zeitallgemein“ kausal relevant, wie die Eigenschaft einer Person, vernünftig zu sein, nicht nur für einen Zeitpunkt gilt, sondern als Disposition bei entsprechenden zeitlich zu datierenden Anlässen oder Umständen wirksam wird.58 Die Formen der materiellen Strukturen von Organismen verleihen den physikalischen Kräften eine Ordnung und Richtung. Über die Formen werden damit die biologischen Funktionen realisiert. Der Effekt der Strukturen beruht nicht auf zusätzlichen Energiereserven, sondern auf der geordneten Beeinflussung des thermodynamischen Energieflusses. Diesem Energiefluss sind die Strukturen selbst insoweit entzogen, als sie phasenweise materiell konserviert sind: als der Körper eines Organismus, der sich im thermodynamischen Fluss erhält.59 Weil die Strukturen auf diese Weise zeitallgemeine Potenziale sind, die durch geeignete zeitspezifische Umstände aktualisiert werden, können sie selbst auch als Kraft verstanden werden, als die für Lebewesen spezifische Kraft.

57  Vgl. Geert Keil: Substanzen als Ursachen?, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 67 (2013), S. 143–148, hier S. 147. 58  Vgl. Boris Hennig: Zu Watkins’ Kant and the Metaphysics of Causality, in: Kant-Studien 102 (2011), S. 367–384, hier S. 374; der Begriff zeit- oder „tempusallgemein“ stammt aus Sebastian Rödl: Norm und Natur, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), S. 99–114, hier S. 110. 59  Alvaro Moreno und Matteo Mossio: Biological Autonomy. A Philosophical and Theoretical Enquiry, Dordrecht 2015, S. 15.

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V. Die Kraft aus der Form (Substanzkausalität) Die spezifischen Kräfte der Lebewesen aus ihren Formen zu erklären, ist im Grunde eine klassische Position, die lediglich mit der Kritik des Postulats von „Lebenskräften“ seit Ende des 18. Jahrhunderts und mit den Versuchen zum Aufbau der Mechanik ohne den Kraftbegriff seit Ende des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund getreten ist. Die besondere kausale Potenzialität organischer Strukturen lässt sich aber im Grunde kaum besser als durch den Begriff der Kraft zum Ausdruck bringen. In Richtung eines immer noch vertretbaren spezifisch organischen Kraftbegriffs liegt es, wenn der Mediziner Johann Christian Reil 1796 in seiner Schrift Von der Lebenskraft behauptet, diese sei nicht „als etwas von der Materie Verschiedenes zu denken, und die Materie gleichsam als das Vehikel der Kraft anzusehen“; die Materie sei vielmehr selbst „nichts anders als eine Kraft“; das Leben werde bewirkt durch eine „gewisse Mischung und Stellung der Materie“60. Eine von der Anordnung der Materie unabhängige Lebenskraft lehnt Reil daher ab. Für diese „Mischung und Stellung der Materie“ tritt dann wenig später in terminologischer Rolle der Begriff der Organisation ein: Der Kantianer Carl Christian Erhard Schmid ist 1798 der Ansicht, wir dürften uns die „organische Kraft nur als an vorhandene Organisation gebunden, nicht aber als ursprünglich organisirend, denken“61. Schmid argumentiert, es könne nicht etwas Einzelnes sein, das in der Materie diese zu einem Lebewesen organisiere, und daher würden auch die Begriffe der Lebenskraft oder Seele nicht helfen. Zu verstehen sei die Kraft nur ausgehend von der Wechselwirkung der Teile in einem Ganzen, also in einer Organisation. Bei Schmid heißt es 1799: „Die Lebenskraft kommt nicht zu dem Organismus hinzu, sondern sie ist mit und in dem Organismus zugleich gegeben“62. Der Begriff der Lebenskraft wird hier also nicht eliminiert, sondern nur als letztes Erklärungsprinzip aufgegeben und in dieser Funktion ersetzt durch das Konzept der Organisation – die nicht statisch gedacht wird, sondern als Ursprung von Dynamiken. Deutlich arbeitet auch Jean-Baptiste Lamarck in seiner Philosophie zoolo­ gique von 1809 dieses Verhältnis der Lebenskraft zur Organisation des Körpers heraus. Auch Lamarck beschreibt die Lebenskraft als Folge oder Resultat der körperlichen Organisation: Der „Zustand und die Ordnung der Dinge“ (l’état et

60  Johann Christian Reil: Von der Lebenskraft [1796], Leipzig 1910, S. 13. 61  Carl Christian Erhard Schmid: Physiologie philosophisch bearbeitet, Bd. 1, Jena 1798, S. 129. 62  Carl Christian Erhard Schmid: Physiologie philosophisch bearbeitet, Bd. 2, Jena 1799, S. 371.

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l’ordre de choses63) in einem Lebewesen würden den Naturgesetzen eine Rich­ tung verleihen. Im Grunde seien es aber die gleichen Kräfte und Gesetze der Natur, die in lebenden und leblosen Körpern wirksam sind – die Auffassung besonderer organischer Gesetze lehnt Lamarck wiederholt ab–,64 allein die spezifischen Randbedingungen (circonstances) führten zu einer regulierten Wirkung in den organischen Körpern.65 Lamarck spricht auch davon, dass die organischen Kräfte und Eigenheiten aus den Randbedingungen, der Ordnung und dem Zustand der organischen Körper, resultieren würden (le résultat […] de circonstances et d’un ordre de choses66). Hervorgebracht sind diese Randbedingungen oder Umstände (circonstances) – das macht Lamarck weniger deutlich – durch den Organismus selbst; sie bestehen in seinen körperlichen Strukturen. Nichts als diese sind die spezifische Randbedingung für die Wirksamkeit der Naturgesetze. Erst in den letzten Jahren ist diese Auffassung wieder zur Geltung gekommen. Die strukturellen constraints der Organismen werden als ein eigenes kau­ sales Regime beschrieben (a distinct regime of causation67). Dieses Regime geht von den verkörperten organischen Formen aus und führt zu einer zwar physikalisch möglichen, aber unwahrscheinlichen, weil geordneten und funktional geschlossenen Organisation. In ihrer zeitlich dauernden, „zeitallgemeinen“ Existenzweise hängt die kausale Wirksamkeit der organischen Formen von geeigneten zeitgebundenen Ereignissen ab. Aus dieser Form der Potenzialität folgt die Berechtigung, die organischen Formen als Kräfte anzusehen, als die einzigen spezifisch organischen Kräfte, die in der Selbstorganisation der organischen Körper erzeugt und erhalten werden.

63  Jean-Baptiste Lamarck: Philosophie zoologique, Bd. 2, Paris 1809, S. 92. 64  Vgl. Lamarck 1809 (wie Anm. 63), S. 93, S. 101, S. 103 und S. 165. 65  Lamarck 1809 (wie Anm. 63), S. 97; vgl. André Pichot: Histoire de la notion de vie, Paris 1993, S. 601f. 66  Lamarck 1809 (wie Anm. 63), S. 105. 67  Moreno und Mossio 2015 (wie Anm. 59), S. 15.

Simone De Angelis

Natur, ‚Kraft‘ und Geschichte Kraftkonzeptionen in den ‚Wissenschaften vom Leben‘ und ihre Bedeutung für die Analogie von Natur und Geschichte in der Spätaufklärung

Der Beitrag thematisiert die Entstehung der analogen Betrachtung von Natur und Geschichte bzw. die Beziehung zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ausgangspunkt dieser Beziehung bildete dabei der methodische Neuansatz der ‚Wissenschaften vom Leben‘ um 1750. Der Terminus der ‚Kraft‘ gehört sicherlich zu den schwer zu fassenden und gleichzeitig fundamentalen Konzepten der physikalischen und biologischen Wissenschaften des 18. Jahrhunderts. Eine signifikante Entwicklung in der Interpretation des Kraftbegriffs zeigte sich beim Dichter und Physiologen Albrecht von Haller (1708–1777), der zur Embryogenese forschte und mit dem Newton’schen Kraftbegriff hypothetisch arbeitete. Während der Dichter Haller die Anstrengungen des mathematischen Genie Newtons in der Naturforschung desavouierte, benutzte der Physiologe Haller den Begriff der Newton’schen Attraktionskraft in der Embryogenese nur unter strengen methodologischen Vorkehrungen und theologischen Vorannahmen. Und dennoch avancierten die ‚Wissenschaften vom Leben‘, die durch Buffon, Haller, Bonnet und C. F. Wolff etabliert wurden, in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Modell des Geschichtsdenkens und zur Grundlage von Gedankenexperimenten und Hypothesen im Bereich der Natur- und Menschheitsgeschichte. Der Beitrag erörtert Aspekte dieses vielschichtigen Wissenschaftsprozesses und begründet, weshalb Natur und Geschichte nach 1800 nicht länger als Analogvariable, sondern zunehmend als getrennte Sphären betrachtet wurden.  Die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Geschichte in der Spätaufklärung beruhen auf vier fundamentalen wissenschaftshistorischen Prämissen: 1. Grundlage für die Analogie von Natur und Geschichte war der Begriff des Gesetzes in der Tradition des modernen Naturrechts (Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Richard Cumberland).

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2. In der naturrechtlichen Theorie wurden sowohl der physische Bereich der Körperbewegungen (physica) als auch der ‚moralische‘ Bereich der menschlichen Handlungen (ethica) als naturgesetzlich geregelt angesehen.1 3. Gesetzeskonstruktionen erfolgten besonders auf naturwissenschaftlichen Gebieten wie der Geographischen Geschichte oder der Theorie der Epigenese und wurden als Analogvariable auf die Geschichtsmodelle übertragen. 4. Nach 1800 erfolgte der Abbau des naturrechtlichen Paradigmas, u. a. durch die kritische Philosophie Kants, die sog. Rechtshistorische Schule und die konservative Geschichtstheorie, welche die naturwissenschaftlich fundierte Idee einer Geschichte der Menschheit (Geschichtsphilosophie) ablehnte. Ein möglicher Grund für die Ablehnung des naturgesetzlich bedingten Geschichtsdenken war natürlich das Problem des Determinismus, das vor allem durch den Rekurs auf natürliche ‚Kräfte‘ das Moment der Freiheit zu tilgen drohte. Dies kam besonders im Geschichtsmodell Johann Gottfried Herders zum Ausdruck, der strukturell an das Gesetzesdenken in der Theorie der Epigenese anknüpfte. Der Beitrag erörtert im ersten Teil den neuen methodologischen Ansatz der Naturgeschichte, der von Haller, Bonnet und Buffon ausging. Der mittlere Teil thematisiert ferner die Analogie von Natur und Geschichte, wie sich diese konkret artikulierte sowie wie der Übergang von der Natur- zur Kulturgeschichte erfolgte. Der Schlussteil erläutert knapp wichtige geschichtliche Faktoren, die zum Abbau des naturrechtlichen Paradigmas führten und damit die im 19. Jahrhundert sich vollziehende Trennung der Natur- und der Geisteswissenschaften einleiteten.

Ein neuer methodologischer Ansatz in der Naturgeschichte In seinem Lehrgedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden (1730) entwarf der junge Dichter Albrecht von Haller ein ambivalentes Porträt des mathematischen Genies Isaac Newton: „Wie unterscheidest du die Wahrheit und den Traum? Wie trennt im Wesen sich das feste von dem Raum? Der Körper rauhen Stoff, wer schränkt ihn in Gestalten,

1  Simone De Angelis: Lex naturalis, Leges naturae, „Regeln der Moral“. Der Begriff des ‚Naturgesetzes‘ und die Entstehung der modernen ‚Wissenschaften vom Menschen‘ im naturrechtlichen Zeitalter, in: Simone De Angelis, Florian Gelzer und Lucas Marco Gisi (Hg.): ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900), Heidelberg 2010, S. 45–70.

Natur, ‚Kraft‘ und Geschichte

Die stäts verändert sind, und doch sich stäts erhalten? Den Zug, der alles senkt, den Trieb, der alles dähnt, Den Reitz in dem Magnet, wonach sich Eisen sehnt, Des Lichtes schnelle Fahrt, die Erbschaft der Bewegung, Der Theilchen ewig Band, die Quelle neuer Regung, Dieß lehre großer Geist die schwache Sterblichkeit Worinn dir niemand gleicht, und alles dich bereut. Doch suche nur im Riß von künstlichen Figuren Beym Licht der Ziffer = Kunst, der Wahrheit dunkle Spuren; Ins innre der Natur dringt kein erschafner Geist, Zu glücklich, wann sie noch die äußre Schale weis’t Du hast nach reifer Müh, und nach durchwachten Jahren, Erst selbst, wie viel uns fehlt, wie nichts du weist erfahren.“2 Auf der einen Seite erkannte Haller die großen Leistungen der mathematischen Naturphilosophie Newtons und der Interpretation von Raum, Zeit und Gravitationskraft, welche die Phänomene und die Bewegung der physikalischen Körper in der Welt und im All erklärten. Auf der anderen Seite benannte Haller jedoch genau die Grenzen der abstrakten geometrischen Methode Newtons, welche die innere Beschaffenheit der natürlichen Körper nicht zu erfassen vermochte. In seiner Vorrede zum ersten Band der deutschen Übersetzung von Buffons Histoire Naturelle (1750) zeigte sich der erfahrene Physiologe Haller etwas skeptischer bezüglich der Möglichkeit, die Eigenschaften der Natur­ körper evident und sicher zu erkennen und sprach die Probleme, die sich dem empirischen Naturforscher stellen, direkt an: „Da ich von der Naturlehre in ihrem ganzen Umfange hauptsächlich schreibe: so ist es bekannt, dass uns von den Körpern, aus denen die Natur besteht, und von der Bewegung, die ihre Kräfte ausmacht, das meiste unbekannt ist. Ein mathematischer Lehrer fängt beim Punkte, von der Linie, von solchen einzelnen Dingen an, deren vollständige Erklärung er zur Hand hat. Wo fängt der Naturlehrer an? Die Elemente der Körper sind völlig verborgen, die ersten aus den Elementen entstandenen Körner der Materie, die Urkräfte der Schwere, der Schnellkraft, des elektrischen und des magnetischen Wesens, des Lichts und des Feuers, sind uns nur hin und wieder stückweise, und unvollkommen bekannt.“3

2  Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, Hildesheim 2006, S. 106. Vgl. hierzu Simone De Angelis: Newton in Poetry, in: Helmut Pulte und Scott Mandelbrote (Hg.): The Reception of Isaac Newton in Europe, Vol. II, London u. a. 2019, S. 563–580 und S. 646–648. 3  Albrecht von Haller: Vorrede, in: George Louis Le Clerc Comte de Buffon: Allgemeine­ Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschrei-

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Diese Aussagen Hallers waren wissenschaftstheoretisch reflektiert: Haller dachte, dass in der empirisch-experimentellen Naturforschung mathematische Gewissheit weder angemessen noch möglich war. Jedoch war nicht der Skeptizismus der Ausweg, sondern die Einsicht, dass im Bereich der empirischen Forschung prinzipiell nur eine moralische Gewissheit erreichbar war. Der Begriff moralische Gewissheit oder certitudo moralis entstammte der theologischen Diskussion des 17. Jahrhunderts, wo die demonstrative Evidenz (evi­ dentia demonstrationis) von der moralischen Gewissheit unterschieden wurde und die Trias certitudo metaphysica, mathematica und moralis oder civilis vel humana bekannt war.4 Die moralische Gewissheit fungierte somit einerseits als Bereichsbegriff, wie ihn Haller für die Naturlehre intendierte, andererseits als Gradationsbegriff, wenn also verschiedene Grade von Gewissheit oder Evidenz unterschieden wurden. So war zum Beispiel von moralischer Gewissheit die Rede, wenn ein bestimmter Grad von Wahrscheinlichkeit (probabilitas) überschritten wurde.5 Dieser theologische Hintergrund spielte nicht nur in der natural philosophy eines Robert Boyle (moral assurance) eine wichtige Rolle, sondern auch im Newtonianismus der 1720er und 1730er Jahre: Der holländische Newton-Exeget Willem Jacob ’sGravesande etwa behandelte die moralische Evidenz im Rahmen seiner empiristischen Wissenschaftslogik, wo sie drei Kriterien umfasste: Sinneswahrnehmung (sensus), Analogie (analogia) und Zeugenaussage (testimonium).6 Dieser Wissenshintergrund ist nicht nur relevant, um den methodologischen Neuansatz der Naturgeschichte um 1750 zu verstehen, sondern auch um zu verstehen, warum Haller, der in den 1720er Jahren in Leiden ’sGravesandes Vorlesungen hörte, in der Naturforschung die Hypothesen wieder einführte, die Newton mit dem berühmten Diktum im Scholium Generale der Principia mathematica – hypotheses non fingo – aus der Naturphilosophie verbannt hatte.7

bung der Naturalienkammer, Erster Theil [Erster Band], Hamburg u. a. 1750, S. IX–XXII, hier S. XIII. 4  Petro Hurtado de Mendoza: Universa Philosophia, Lugduni 1624, bes. Disputatio XI, De demonstratione, Sectio 3. De evidentia et certitudine praemissarum, S. 152–154. Vgl. zum Evidenzkonzept in der Wissenschaftstheorie des frühen 18. Jahrhunderts auch Simone De Angelis: Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen 2003, S. 291–305, hier S. 294f. 5  Francisco Suárez: Tractatus De Legibus, ac Deo Legislatore, Conimbricae 1612, Lib. 8, Cap. 3, 19, S. 880b: „tum quia maior probabilitas est quaedam moralis certitudo, si excessus probabilitatis certus sit“. 6  Willem Jacob ’sGravesande: Introductio ad philosophiam; Metaphysicam et Logicam continens, Leiden 1737, Cap. XIV–XVI, S. 154–181. 7  Isaac Newton: Die mathematischen Prinzipien der Physik, hg. von Volkmar Schüller, Buch 3, Allgemeines Scholion, S. 512–516, hier S. 516. Vgl. zu Wahrscheinlichkeit und Hypothesen bei ’sGravesande und Haller De Angelis 2003 (wie Anm. 4), S. 417–438.

Natur, ‚Kraft‘ und Geschichte

In seiner Buffon-Vorrede sprach Haller nun den Nutzen der Hypothesen und der Wahrscheinlichkeit in der Naturforschung explizit an: „Doch die Hypothesen haben noch einen ersthaften Nutzen [...]. Sie werfen nemlich Fragen auf, deren Beantwortung von der Erfahrung gefordert wird, und die ohne Hypothesen uns nicht eingefallen wären, eine Wirkung, die ihren unsäglichen Vortheil in den Wissenschaften hat. [...] Eine jede Wahrscheinlichkeit hat einen Theil der einzelnen Wahrheiten, die einen allgemeinen Satz mit noch andern ausmachen, die uns noch mangeln. Wir ersehen also genau, aus dem, was wir haben, dasjenige was wir ermangeln, und finden ein Verzeichnis von denjenigen Erfahrungen und Bemerknissen vor uns, die unsere Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit machen würden, wenn wir sie besässen.“8 Die Aufwertung der Hypothesen und der Wahrscheinlichkeit war gerade in den ‚Wissenschaften vom Leben‘ um 1750 bedeutsam. In der Vorrede zum zweiten Band der deutschen Übersetzung von Buffons Histoire naturelle (1752) verteidigte Haller seinen französischen Kollegen vor dem Vorwurf der Theologen der Sorbonne, dass Buffons Theorie der Erde und der Entstehung der Lebewesen mit der Offenbarungslehre im Konflikt stehe: Herrn von Buffons Meinung sei, so Haller, „in Ansehung des Satzes einer allgemeinen gebildeten und bildbaren Materie, die gleichgültig ist, ein Mensch, ein Thier, oder ein Kraut zu werden“ vor dem Hintergrund der Konzeption des Naturganzen, in dem wenige prinzipielle Kräfte wirkten, wahrscheinlich.9 In der Tat überprüfte Haller die Hypothese der Newton’schen Attraktionskraft (vis adtractiva) als ursächlicher Faktor der Bildung von Lebewesen in seinen Studien zur Embryogenese (1746–1752 und 1755–1757). Wegen der neospinozistischen bzw. materialistischen Implikationen dieser Hypothese mit der Gefahr des Atheismus nahm Haller jedoch diese Hypothese später wieder zurück und sprach sich schließlich für die Theorie der präformierten (mütterlichen) Keime (development) aus, die einen kreationistischen Akt des Schöpfergottes voraussetzte und theologisch somit vertretbar war.10

8  Haller 1750 (wie Anm. 3), S. XVII. 9  Albrecht von Haller: Vorrede, in: George Louis Le Clerc Comte de Buffon: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer, Zweyter Theil [Erster Band], Hamburg u. a. 1752, unpag., [Blatt 4]. 10  Albrecht von Haller: Sur la Formation du Coeur dans le Poulet, Sur L’Oeil, sur la Structure du Jaune, &c. Second Mémoire précis des Observations; suivi de Reflexions sur le Development, Avec un Mémoire sur plusieurs Phénomènes de la Respiration, vol. 2, Lausanne 1758. Vgl. hierzu ausführlich De Angelis 2003 (wie Anm. 4), S. 439–477 sowie De Angelis 2019 (wie Anm. 2), S. 577–580.

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Wie die Frage der embryogenetischen Erklärungsmodelle – Epigenese oder Präformation – zeigt, hatte die Wiedereinführung von Hypothesen in der Naturforschung auch damit zu tun, dass der Empirismus in den ‚Wissenschaften vom Leben‘ um 1750 an eine Grenze gestoßen war. Diese Auffassung teilte Haller mit zwei anderen großen Naturforschern seiner Zeit – George Louis Comte de Buffon und Charles Bonnet –, die beide davon überzeugt waren, dass die Naturforschung im Bereich der Lebensphänomene es durch Beobachtung allein nicht schaffen würde, sich weiterzuentwickeln und deshalb der Hypothesenbildung und der Verwendung auch nur wahrscheinlicher Annahmen bedurfte. Nicht zuletzt waren diese methodologischen Erwägungen durch die einige Jahre zuvor gemachte Entdeckung des Süßwasserpolypen durch den Genfer Naturforscher Abraham Trembley verursacht worden.11 So nahm etwa Charles Bonnet im Abschnitt Considérations philosophiques sur le sujet des Polypes seiner Contemplation de la Nature (1764) diese Entdeckung zum Anlass, um eine bedeutsame Reflexion über die Methodik der Naturgeschichte einzuführen: Man könne in der Naturgeschichte nicht davon ausgehen, dass wir von den Lebewesen bereits eine Idee im Kopf hätten, unter die wir die neuen Phänomene einfach subsumieren könnten, sondern dass wir im Gegenteil mit der Entdeckung des Polypen am Rande eines neuen Kontinents stünden, der noch vollkommen unerforscht sei: „Les Polypes nous ont étonné, parce qu’à leur apparition, ils n’ont trouvé dans notre Cerveau aucune idée analogue, & que nous avions pris grand soin d’en écarter jusques à la possibilité de leur existence. [...] Les Polypes sont placés sur les frontières d’un autre Univers, qui aura un jour ses COLOMBS & ses VESPUCES. Imaginerons-nous que nous ayons pénétré dans l’intérieur des Continens, pour avoir entrevû de loin quelques Côtes? Nous nous formerons de plus grandes idées de la Nature; nous la regarderons comme un Tout immense, & nous nous persuaderons fortement, que ce que nous découvrons, n’est que la petite partie de ce qu’elle enferme.“12

11  Abraham Trembley: Mémoires pour servir à l’Histoire d’un Genre de Polypes d’Eau Douce, À Bras en Forme de Cornes, Leiden 1744; vgl. hierzu Marc J. Ratcliffe: The Quest for the Invisible. Microscopy in the Enlightenment, Farnham 2009. 12  Charles Bonnet: Contemplation de la nature, Bd. 1, Amsterdam 1764, VIII Partie, Chapitre XVI, S. 220–230, hier S. 224. In der Übersetzung von Johann Daniel Titius lautet diese Stelle: „Die Polypen haben uns in Erstaunen gesetzet, weil wir, als sie entdecket wurden, von dergleichen Geschöpfen kein Bild im Kopfe hatten, und uns sogar Mühe gaben, die Möglichkeit ihres Daseins uns aus den Gedanken zu bringen. [...] Die Polypen haben gleichsam die Gränzen einer neuen Welt inne, die mit der Zeit ihre Columben und Verspuccis bekommen wird. Wollen wir uns wohl einbilden, mitten in ein Land gedrungen zu seyn, davon wir nur die Küsten von weitem gesehen haben? Wir wollen uns größere Begriffe von der Natur machen; wir wollen sie als ein unermeßliches Ganzes ansehen, und gewiß glauben, daß wir nur den allergeringsten

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Bonnet betrachtete die Natur folglich nicht nur unter dem Aspekt ihrer Einzelteile, sondern er bildete sich auch die Idee eines unermesslichen Naturganzen. Um die zukünftigen neuen Erfahrungstatsachen in dieses Naturganze zu integrieren, um von einzelnen Befunden auf verallgemeinernde Ideen zu schließen, bedurfte es der Möglichkeit der Gedankenexperimente und der Methode der Analogie, die nicht die Wahrheit waren, aber – wie es schon Haller formulierte – als Behelf indispensabel waren, um zu ihr zu gelangen: „L’Analogie est liée à la doctrine des hypothèses & des probabilités; à mesure que nos connoissances s’étendront & se perfectionneront, les probabilités, en chaque genre, aprocheront de la certitude. Si nous pouvions embrasser la totalité des êtres de nôtre globe, la méthode analogique seroit une méthode démonstrative. Plus les parties rationelles de la Philosophie s’aideront de la Physique, & plus elles se perfectionneront. Les maîtres de Logique se renferment trop dans ces parties; c’est qu’ils imaginent faussement, que cette science pratique n’a pas besoin d’un grand assortiment de connoissance naturelles. Toutes nos Théories, & même les plus abstraites, ne sortent-elles pas du sein de la Physique? L’art de généraliser les idées est-il autre chose que l’art d’observer? Cet art si universel, si fécond, si précieux, n’a-t-il pas pour premier objet les corps & leurs modifications diverses? C’est lui qui saisit les raports généraux qui sont entre les êtres, & qui en découvre l’enchaînement, l’harmonie, & la fin. Nos abstractions de tout genre ne sont donc au fond que des idées purement physiques, plus ou moins déguisées, ou qui se sont éloignées plus ou moins de leur premier origines.“13

Theil von ihr bisher entdecket haben.“ Karl Bonnet: Betrachtung über die Natur mit Anmerkungen und Zusätzen, hg. von Johann Daniel Titius, Bd. 1, Leipzig 1803, Teil 8, Kap. 16, S. 401. 13  Bonnet 1764 (wie Anm. 12), S. 229. [„Die Übereinkunft ist mit der Lehre von den Hypothesen und den Wahrscheinlichkeiten verknüpfet; je mehr unsre Erkenntnis sich ausbreiten und verbessern wird, desto näher werden die mancherley Wahrscheinlichkeiten zur Gewißheit kommen. Wenn wir den ganzen Umfang der sämmtlichen Wesen auf unserer Erdkugel begreifen könnten, so würde die analogische Methode eine demonstrativische Methode seyn. Je mehr die theoretischen Theile der Philosophie die Physik zu Hülfe nehmen werden, desto mehr werden sie vollkommen werden. Die Lehrer der Logik bleiben zu sehr bei diesen theoretischen Theilen stehen; denn sie bilden sich fälschlich ein, als wenn diese praktische Wissenschaft die Kenntnisse der Natur nicht sonderlich bedürfe. Gleichwohl sind alle unsere Theorien, selbst die allerabstractesten, aus dem Schooße der Physik hergekommen! Die Kunst, die Begriffe allgemein zu machen, ist in der That nichts anders als die Kunst zu beobachten! Diese so allgemeine, so fruchtbare, und so vortreffliche Kunst hat ja die Körper, nebst ihren mancherley Modificationen, zum ersten Gegenstande! Sie ist es, welche die allgemeinen Verhältnisse der Dinge zu einander bestimmt, und ihre Verbindung, Uebereinstimmung, und Absicht entdecket! Alle unsere Abstractionen sind daher im Grunde nichts anders als durchaus physische

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Die Verallgemeinerung der Idee der Natur, d.h. die Erfassung der Totalität der Gegenstände des Erdglobus’ („la totalité des êtres de notre globe“), konzipierte Bonnet somit als abstraktere Form der Beobachtung, die allgemeine Beziehungen („raports généraux“) und die Verkettung („enchaînement“) zwischen diesen Gegenständen zu begreifen erlaubte. Dieser Gedanke, der, wie noch zu zeigen sein wird, um 1750 bereits von Buffon formuliert wurde, bildete eine zentrale Voraussetzung, um „die Domänen der Natur und der Geschichte als analog Variable zu betrachten“14, um also den Übergang von der Natur- zur Menschheitsgeschichte – etwa in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) – zu verstehen. Ein eindrückliches Beispiel, wie auf der Seite des Naturverständnisses Gedankenexperimente vollzogen wurden, zeigt der Wandel in der Auffassung der Scala naturae bzw. der Idee der Stufenleiter der natürlichen Wesen in der Spätaufklärung. Charles Bonnet war in seinem Traité d’Insectologie (1745) noch von einer Idée d’une échelle des êtres naturels ausgegangen, die ganz traditionell linear und kontinuierlich verlief und die Lebewesen auf einer eindimensionalen Skala („Stufenleiter“) darstellte.15 So hatte etwa der Polyp bei Bonnet einen Platz zwischen den Pflanzen und den Insekten erhalten (Abb. 1). Der vielleicht wichtigste Versuch, die Idee der Scala naturae zu retten, stammte vom Straßburger Zoologen Jean Hermann (1738–1800), der in seinen Tabulae Affinitatum Animalium [„Tafeln der Verwandtschaften zwischen den Lebewesen“] (1783) ein Verwandtschaftssystem zwischen den Lebewesen aufstellte, das die Transformation der Stufenleiter in ein zweidimensionales Gebilde erforderte. Dabei versuchte Hermann eine Reihe von Affinitätskriterien, die bereits andere Naturforscher vor ihm benutzt hatten – nämlich äußere Form, Habitat, Bewegung, Reproduktion, kognitive Fähigkeiten oder interne Struktur –, in seine Tabulae zu integrieren, um ein System zu schaffen, das die Komplexität der Natur so akkurat als möglich darstellen sollte.16 Der entscheidende Punkt war hier, dass Hermann die Grenzen des linearen Konzepts der Naturordnung aufzeigte und

Ideen, die mehr oder weniger verstellt, oder von ihrem ersten Ursprunge mehr oder weniger entfernet sind.“ Bonnet 1803 (wie Anm. 12), S. 406f.] 14  Wolfgang Proß: Die Ordnung der Zeiten und Räume. Herder zwischen Aufklärung und Historismus, in: Claudia Taszus (Hg.): Vernunft, Freiheit, Humanität. Über Johann Gottfried Herder und einige seiner Zeitgenossen, Eutin 2008, S. 9–73, hier S. 49. 15  Charles Bonnet: Traité d’Insectologie, ou Observations sur les Pucerons, Paris 1745. 16  Jean Hermann: Tabulae Affinitatum Animalium Olim Academico Specimine Edita Nunc Uberiore Commercio Illustrata Cum Annotationibus Ad Historiam Naturalem Animalium Augendim Facientibus, Argentorati 1783, S. 31: „alios in instruenda naturae scala magis sectari formarum similitudinem, alios structuram, alios plus tribuere organorum multitudini & perfectioni, alios elementum quod animalia inhabitant, motus, propagationis, aliarumque qualitatum convenientiam respicere, alios sibi in numeris partium placere, alios magis animae facultatis urgere“.

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1|  Die lineare Darstellung der Scala naturae gemäß dem Naturforscher Charles Bonnet. Charles Bonnet: Traité d‘Insectologie, ou Observation sur le Pucerons, Paris 1745. 2|  In einem Gedankenexperiment stellte sich der Strassburger Zoologe Jean Hermann die Scala natura als dreidimensionales zylinderartiges Gebilde vor. Jean Hermann: Tabulae Affinitatum Animalium, Argentorati 1783.

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eine räumliche Ausdehnung der Scala naturae ins Auge fasste. Dabei war es ihm bewusst, dass es unmöglich war, die beschriebenen Affinitäten auf einem zweidimensionalen Stück Papier darzustellen und stellte sich die Repräsentation des Natursystems sogar als dreidimensionales Gebilde in Form eines Zylinders vor (Abb. 2).17 Der Wandel in der Konzeption der Scala naturae lief dabei parallel zum Wandel der Geschichtskonzeption: Wie weiter unten gezeigt wird, wurde auch im Geschichtsdenken der Spätaufklärung die Idee der Eindimensionalität bzw. der chronologisch-linearen Abfolge der politischen Reiche in der traditionellen Universalgeschichte zugunsten der Vernetzung und eines komplexeren raum-zeitlichen Zusammenhangs der Dinge aufgegeben. Diese Entwicklung ist wiederum auf das analoge Verhältnis von Natur und Geschichte zurückzuführen, das von der methodologischen Erneuerung der Naturgeschichte ausging.

Die Analogie von Natur und Geschichte In der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichtsschreibung besteht immer noch die Tendenz, die Geschichte der Renaissancephilosophie, deren Kern die Philosophie des Aristoteles bildete, die History of the Scientific Revolution im 17. Jahrhundert und die Histoire naturelle de l’homme im Zeitalter der Aufklärung als ‚isolierte‘ Geschichten zu betrachten. Dies mag damit zusammenhängen, dass die History of the Scientific Revolution noch immer von „historiographical biases“ gegenüber dem Aristotelismus geprägt ist.18 Denn die Scientific Revolution bestand nicht einfach darin, das aristotelische Programm durch ein alternatives Programm der New Science zu ersetzen, sei es das Descartes’sche Programm des Mechanizismus, das Bacon’sche der experimentellen oder das Newton’sche der mathematischen Naturphilosophie.19 Dieses Argument betraf besonders

17  Vgl. hierzu Florian Meixner: History of Nature – Nature of History, Graz 2015, S. 32–35, On­­­lineAusgabe:  https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/782602/full.pdf, (31. 03. 2021); Kees van Putten: Three Eighteenth-Century Attempts to Map the Natural Order: Johann ­Herr­mann [sic.] – Georg Christoph Würtz – Paul Dietrich Giseke, in: Early Science and Medicine 24 (2019), S. 33–89, bes. S. 41–60; Giulio Barsanti: Le Immagini della Natura: Scala, Mappe, Alberi 1700–1800, in: Nuncius 3 (1988), Heft 1, S. 55–125. 18  David Wootton: The Invention of Science. A New History of the Scientific Revolution, London 2015; Marco Sgarbi: Renaissance Aristotelianism and the Scientific Revolution, in: Physis 52 (2017), Heft 1–2, S. 329–345. 19  Daniel Garber: Why the Scientific Revolution Wasn’t a Scientific Revolution, and Why It Matters, in: Robert J. Richards und Lorraine Daston (Hg.): Kuhn’s Structure of Scientific Revolution at Fifty. Reflections on a Science Classic, Chicago 2016, S. 133–148, bes. S. 142: „the diversity of alternative of anti-Aristotelian programs that blossomed in the late sixteenth and early seventeenth century never completely sorted itself out into a single alternative to the Aristotelian program, nothing that could be called the new science.“

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die „life sciences, an integral part of the Aristotelian project“20, an dem sich gerade Buffons Histoire naturelle de l’homme – in Absetzung vom Newton’schen Programm – orientierte. Hinzu kommt, dass das aristotelische Programm, so wie es etwa der Paduaner Aristoteliker Jacopo Zabarella (1553–1589) im späten 16. Jahrhundert vertrat, durch einen „experimental empiricism“ charakterisiert war, der auf der Sinneswahrnehmung beruhte.21 So bezeichnete kein Geringerer als Buffon in der Abhandlung De la manière d’étudier l’histoire naturelle (1749) die Historia animalium des Aristoteles als „vielleicht noch heutzutage das Beste dieser Gattung, was wir haben“, und meinte damit vor allem die exakte Beschreibung und Beobachtung einzelner Objekte in Aristoteles’ Zoologie.22 Und dennoch ging Buffon einen wichtigen Schritt über Aristoteles hinaus: Es gelte nämlich die Beobachtungen zu kombinieren, die Fakten zu verallgemeinern und sie durch Analogieschlüsse miteinander zu verbinden, um zu Vues générales – also zu Gesamtbetrachtungen der Naturgeschichte – zu gelangen: „[M]ais il faut tâcher de s’élever à quelque chose de plus grand & plus digne encore de nous occuper, c’est de combiner les observations, de généraliser les faits, de le lier ensemble par la force des analogies, & de tâcher d’arriver à ce haut degré de connoissances où nous pouvons comparer la Nature avec elle-même dans ses grandes opérations, & d’où nous pouvons enfin nous ouvrir des routes pour perfectionner les différentes parties de la Physique. [...], mais il faut ici quelque chose de plus, il faut des vûes générales, un coup d’œil ferme & un raisonnement formé plus encore par la réflexion que par l’étude; il faut enfin cette qualité d’esprit qui nous fait saisir les rapports éloignéz, les rassembler & en former un corps d’idées raisonnées, après en avoir apprécié au juste les vrai-semblances & en avoir pesé les probabilités.”23 20  Garber 2016 (wie Anm. 19), S. 142. 21  Gabriele Baroncini: Forme di esperienza e rivoluzione scientifica, Firenze 1992, S. 53–60; Marco Sgarbi: The Aristotelian Tradition and the Rise of British Empiricism. Logic and Epistemology in the British Isles (1570 – 1689), Dordrecht u. a. 2013, Zitat S. 77. 22  Georges Louis Le Clerc Comte de Buffon: Histoire Naturelle, Générale et Particulière, Avec la description du Cabinet du Roi, Bd. 1, Paris 1749, S. 43f.: „L’histoire des animaux d’Aristote est peut-être encore aujourd’hui ce que nous avons de mieux fait en ce genre“ (meine Übers.). 23  Buffon 1749 (wie Anm. 22), S. 51. [„aber man soll trachten, sich zu etwas Größerem zu erheben, das uns zu beschäftigen noch würdiger ist, nämlich die Beobachtungen zu verknüpfen, die Sachen zu verallgemeinern, sie durch die Stärke der Aehnlichkeitsgesetze zu verbinden und jene hohe Stufe der Kenntnisse zu erstreben, wo wir urtheilen können, daß die besonderen Wirkungen von allgemeinern abhangen, wo wir die Natur in ihren großen Verrichtungen mit sich selbst vergleichen und von wo aus wir uns endlich Wege zur Vervollkommnung der verschiedenen Theile der Naturlehre eröffnen können. [...] hier aber thut etwas mehr Noth; es bedarf allgemeiner Ansichten, eines festen Blickes und einer mehr noch

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Es bedarf also nach Buffon eines reflexiven Aktes, einer Eigenschaft der Urteilskraft, die entfernt liegende Verhältnisse zwischen den Objekten der Naturgeschichte erfasst und zu gut durchdachten und wahrscheinlichen Annahmen verbindet. Gleichzeitig ging es Buffon um eine Teil-Ganzes-Analyse, auf die im nächsten Abschnitt zurückzukommen ist. Diese signifikanten Bemerkungen Buffons geben Anlass, grundlegende Aspekte des Verhältnisses von Wissenschaften vom Menschen und Geschichtsdenkens zwischen 1670 und 1800 zu verdeutlichen. Diese wissenschaftsgeschichtliche Phase war durch das Naturrechtsdenken geprägt, also von einer Rechts-, Sozial- und Moralphilosophie, die den Menschen sowohl von seiner physisch-körperlichen als auch von seiner moralischen Seite, d.h. von den menschlichen Handlungen im gesellschaftlichen Verband her, zu begreifen versuchte. Eine zentrale Annahme der Naturrechtstheoretiker des 17. Jahrhunderts (Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Richard Cumberland) war, dass sowohl der Bereich der Körperbewegungen (physica) als auch der Bereich der menschlichen Handlungen (ethica) als naturgesetzlich geregelt anzusehen waren.24 Von dieser Annahme rührten auch die Gesetzeskonstruktionen in den Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts her, die sowohl die unbelebte als auch die belebte Natur betrafen. Diese doppelte – physische und ethische – Perspektive auf den Menschen bildete ferner die Voraussetzung, weshalb bis um 1800 Natur- und Menschheitsgeschichte aufeinander bezogen wurden. Aspekte der Anthropologie und Geschichtsphilosophie der Spätaufklärung lassen sich somit durch das Ineinandergreifen von vier Fragekomplexen erläutern, die unabhängig voneinander entstanden: 1. die Naturalisierung der Geschichte; 2. die Beziehung von Moralphilosophie und Geschichte bzw. der Konflikt zwischen Norm und Kontingenz; 3. die Entstehung eines neuen Modells von Geschichtsschreibung durch die Kulturgeschichte und den Kulturvergleich; 4. die geographische Geschichte als Leitwissenschaft. Auf diese vier Aspekte soll im Folgenden kurz eingegangen werden, um zu zeigen, wie Anthropologie und Geschichte multiperspektivisch aufeinander bezogen waren. Dabei wird deutlich, welche zentrale Funktion die bildenden Kräfte der Materie bei der Analogie von Natur und Geschichte einnahmen.

durch das Nachdenken als durch das Lernen gebildeten Urtheilskraft; es bedarf endlich jener Geisteseigenschaft, die uns die entfernten Beziehungen ergreifen, sammeln und zu einer Masse wohlbegründeter Vorstellungen vereinigen läßt, nachdem wir zuvor die Wahrscheinlichkeiten geschätzt und die Muthmaßlichkeiten erwogen haben.“ Büffon’s Sämmtliche Werke sammt den Ergänzungen, nach der Klassifikation von Cuvier, Bd. 1, übers. von Heinrich Schaltenbrand, Köln 1837, S. 108f.] 24  Vgl. De Angelis 2010 (wie Anm. 1), S. 47–70.

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Die Naturalisierung der Geschichte Buffons Überlegungen zur analogischen Methode und sein neues Verständnis von Allgemeinem und Besonderem in der Naturgeschichte dienten als Modell für das Geschichtsdenken der Spätaufklärung.25 Dieses Verhältnis veranschaulichen nicht nur Buffons Erdentstehungshypothese und epigenetische Zeugungslehre, die beide auf das naturkundliche Wissen der Renaissance und des späten 17. Jahrhunderts zurückgreifen, d. h. auf Newtons Gravitationsgesetz sowie auf Aristoteles’ und Harveys Studien zur Embryologie.26 Auch die Entdeckung des Süßwasserpolypen durch Abraham Trembley, die Irritabilitätslehre Hallers und Caspar Friedrich Wolffs embryogenetisches Prinzip der wesentlichen Kraft (vis essentialis) trugen dazu bei, die Auffassung der bildenden Kräfte der Materie zu etablieren und eine grundsätzlich mechanistische Natur­ konzeption mit vitalistischen Elementen zu überlagern. Dieser Interpretation zufolge war die Natur mit lebendigen oder organischen Kräften ausgestattet, die Lebewesen ex novo bilden. Dadurch traten Naturgeschichte, ‚Wissenschaften vom Leben‘, Naturgeschichte des Menschen, Kultur- und Menschheitsgeschichte in ein neues Verhältnis zueinander, das zur Naturalisierung von Konzepten wie ‚Entwicklung‘ (development), ,Fortschritt‘ (progress), ,Genese‘, ,Kontingenz‘ usw. führte. Wie dies Peter Hanns Reill formuliert, übernahmen die Historiker die Sprache der life scientists.27 Die Rezeption Buffons in Schottland machte sich in der Geschichtsphilosophie der Philosophen Adam Ferguson oder Adam Smith besonders bemerkbar. Beispielsweise definiert Adam Ferguson „subjects progressive“ bzw. „subjects organized“ wie folgt: „Progressive natures are subject to vicissitudes of advancement or decline, but are not stationary, perhaps in any period of their existence. Thus, in the material world, subjects organized, being progressive, when they cease to advance, begin to decline [...]. While subjects stationary are described by enumeration of co-existant parts [...], subjects progressive are characterized

25  Vgl. Peter Hanns Reill: Das Problem des Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts, in: Karl Acham und Winfried Schulze (Hg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München 1990, S. 141–168. 26  Buffon 1749 (wie Anm. 22), Second Discours. Histoire et Theorie de la Terre, S. 65–124; Preuves de la Théorie de la Terre, S. 125–612; Georges Louis Le Clerc Comte de Buffon: Histoire Naturelle, Générale et Particulière, Avec la description du Cabinet du Roi, Bd. 2, Paris 1749, Histoire Générale des Animaux, bes. zur Embryologie, S. 53–426; vgl. zu Buffons Erdentstehungshypothese auch De Angelis 2003 (wie Anm. 4), S. 372–377. 27  Reill 1990 (wie Anm. 25), S. 156: „Diese neue ‚Sprache der Natur‘ eigneten sich die spätaufklärerischen Historiker begeistert an, denn fast einmütig glaubten sie, daß eine enge Beziehung zwischen Geschichte und Natur bestünde.“

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by the enumeration of steps, in the passage from one form of state or excellence to another, [...] the natural state of a living creature includes all its known variations, from the embryo and the foetus to the breathing animal, the adolescent and the adult, through which life in all its varieties is known to pass.“ 28 Dabei bezog sich Ferguson explizit auf die verschiedenen Entwicklungsstufen eines Lebewesens vom Embryo bis zum Tod, wie sie Buffon in seiner Histoire naturelle de l’homme im zweiten Band der Histoire Naturelle (1749) erläuterte.29 In seiner History of Civil Society (1767) sprach Ferguson ferner davon, dass das Ziel des Zivilisationsprozesses ergebnisoffen und prinzipiell nicht rational planbar sei; dennoch legte er – ganz im Sinne einer naturrechtlich basierten Anthropologie – fest, dass instinktive Handlungsmotive (instincts) sowie die örtlichen Umstände (circumstances), wie etwa geographische oder klimatische Verhältnisse, Gesellschaften formen und sich auf die Menschheitsentwicklung auswirken.30

Moralphilosophie und Geschichte Aus moralphilosophischer Sicht stellte ferner der schottische Philosoph David Hume die Frage, inwiefern menschliches Verhalten normiert bzw. menschliches Handeln nach den Maßstäben der Evidenz beurteilt werden könne, und betrachtete die Menschheitsgeschichte als ein Experimentierfeld, das die Selbstversuche der Menschen dokumentierte; dabei verglich Hume die Tätigkeit des Politik- oder Moralphilosophen, der die Prinzipien menschlichen Verhaltens erforscht, mit derjenigen des Mediziners oder des Naturphilosophen, der aufgrund von Experimenten die Objekte der Natur sichtet und deren Prinzipien zu ermitteln versucht: „The records of wars, intrigues, factions, and revolutions, are so many collections of experiments by which the politician or moral philosopher fixes the principles of his science, in the same manner as the physician or natural 28  Adam Ferguson: Principles of Moral and Political Sciences, Bd. 1, Edinburgh 1792, S. 190– 192. 29  Buffon 1749 (wie Anm. 26), S. 429–603. 30  Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society, London 1768, Part. III, Sect. 2 (The History of Subordination), S. 187: „Like the winds, that come we know not whence, and blow whithersoever they list, the forms of society are derived from an obscure and distant origin; they arise, long before the date of philosophy, from the instincts, not from the speculations, of men. The croud [sic] of mankind, are directed in their establishments and measures, by the circumstances in which they are placed; and seldom are turned from their way, to follow the plan of any single projector.“

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philosopher becomes acquainted with the nature of plants, minerals, and other external objects, by the experiments which he forms concerning them.“31 Im Kapitel Of Liberty and Necessity stellte Hume zudem fest, dass es nicht so sehr um die „uncertainty“ von Ereignissen und deren Ursachen ging, sondern um die zufälligen Motive und Bedingungen menschlichen Handelns („the secret operation of contrary causes“32), die eine angenommene Konstanz der menschlichen Natur als problematisch erscheinen ließen. Damit machte Hume auf einen zentralen Widerspruch aufmerksam: nämlich den Widerspruch zwischen der Norm, die von den Prinzipien des Naturrechts definiert war, und der Kontingenz, die der Arbitrarität der Konventionen geschuldet war. Als Lösung des Widerspruchs zwischen Norm und Kontingenz bot sich daher ein genetisches Geschichtsmodell an, das die Vielfalt der Resultate menschlichen Handelns betrachtete und vielfältige Beweggründe als Voraussetzung der Erklärung geschichtlicher Wirklichkeit annahm.

Kulturgeschichte und Kulturvergleich Eine neue Form der Kulturgeschichtsschreibung, die eigentlich eine Geschichte der Entwicklung von Kulturtechniken war, bildete Antoine-Yves Goguets Werk De l’Origine des Loix, des Arts et des Sciences (1758), das 1760–1762 ins Deutsche übersetzt wurde und etwa für Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) bedeutsam war.33 Der neue Typus der Geschichte der Menschheit kannte im Gegensatz zur traditionellen Universalgeschichte, wie sie etwa noch Vico, Goguet selbst oder Gatterer schrieben,34 keine chronologische Ordnung mehr und ging nach dem Modell des Kulturvergleichs in JosephFrançois Lafitaus Die Sitten der amerikanischen Wilden Im Vergleich zu den Sitten

31  David Hume: Enquiries Concerning the Human Understanding and Concerning the Principles of Morals [1777], hg. von L.A. Selby-Bigge, Oxford 1902, Sect. VIII, Part I, S. 83f. 32  Hume 1902 (wie Anm. 31), S. 86f.: „But philosophers, observing that, almost in every part of nature, there is contained a vast of variety of springs and principles, which are hid, by reason of their minuteness or remoteness, find, that it is at least possible the contrariety of events may not proceed from any contingency in the cause, but from the secret operation of contrary causes.“ 33  Antoine-Yves Goguet: De L’Origine des Loix, des Arts, et des Sciences; et de leurs progrès chez les Anciens Peuples, Paris 1759; Wolfgang Proß: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Stefan Greif, Marion Heinz und Heinrich Clairmont (Hg.): Herder Handbuch, Paderborn 2016, S. 171–216, hier S. 179. 34  Giambattista Vico: Principj di Scienza Nuova D’intorno alla Comune Natura delle Nazioni, Napoli 1725/1744; Goguet 1759 (wie Anm. 33); Johann Christoph Gatterer: Abriß der Geographie, Göttingen 1775.

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3|  Die chronologisch-lineare Darstellung geschichtlicher Perioden gemäß dem Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer: Abriß der Geographie, Göttingen 1775.

der Frühzeit (dt. 1752) von einem veränderten Raum-Zeit-Verständnis aus.35 Beim Jesuitenpater Lafitau war es zum Beispiel der Vergleich zwischen den ältesten griechischen Völkern wie die Pelasger und die Chaldäer, von denen Herodot schrieb, und den „wilden Indianern“ Kanadas, mit denen Lafitau selbst zusammengelebt hatte. So zielte die komparative Methode in der neuen Geschichts35  Joseph-François Lafitau: Mœurs des Sauvages Américains Comparées Aux Mœurs des Premiers Temps, Paris 1724.

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schreibung auf die Erkenntnis der Präsenz des Vergangenen im Gegenwärtigen und ihre Verkettung (enchaînement). Der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer sprach von der „Regel des Gleichzeitigen“ sowie von der „Vorstellung des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge in der Welt (Nexus rerum univer­ salis).“36 Wie dies der Göttinger Philosophieprofessor Christoph Meiners pointiert schilderte, stellte die Geschichte der Menschheit „in allen ihren Abschnitten Nationen, Handlungen und Begebenheiten zusammen, die durch Zeit und Raum unendlich voneinander getrennt waren.“37 Hiermit zeigte sich eine wichtige Analogie zwischen dem natur- und dem menschheitsgeschichtlichen Denken im späten 18. Jahrhundert: Das Aufbrechen der Eindimensionalität bzw. der chronologisch-linearen Abfolge der politischen Reiche in den Geschichtsmodellen der Spätaufklärung, wie sie etwa Gatterer noch in seinem Abriß der Geographie (1775) tabellarisch darstellte (Abb. 3),38 entsprach analog dem Aufbrechen der Linearität der traditionellen scala naturae der Lebewesen in der Naturgeschichte. Die multiperspektivische und mehrdimensionale Darstellung der Geschichten der Menschheit bedeutete somit, dass unterschiedliche Völker und Kulturen und entlegenste historische Zeiten und geographische Räume miteinander verglichen werden konnten.

Geographische Geschichte als Leitwissenschaft Die vielleicht wichtigste Erneuerung auf dem Feld der Naturwissenschaften, die sich auf Anthropologie und Geschichtsphilosophie um 1800 auswirkte, bildete die Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere (1778–1783) von Eberhard August Wilhelm Zimmermann (1743–1815). Zimmermann kannte den Bericht von James Cooks zweiter Südseeexpedition (1772–1775) und war auch mit Buffons Konzept der Verartung 36  Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: ders. (Hg.): Allgemeine und historische Bibliothek von Mitgliedern des königlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen, Halle an der Saale 1767, S. 15–89, hier S. 63 und S. 85. Vgl. auch Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft, Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang, Stuttgart-Bad Cannstatt 2012 sowie Han F. Vermeulen: Before Boas: The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment, Lincoln u. a. 2015, bes. S. 295f. (mit Bezug auf die Konzepte Ethnographie und Völkerkunde des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer). 37  Christoph Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit, Lemgo 1785, Vorrede, unpag., [Blatt 8]. 38  Vgl. hierzu Gierl 2012 (wie Anm. 36), S. 294–296 sowie Helge Jordheim: Making Universal Time. Tools of Sychronization, in: Hall Bjornstad, Helge Jordheim und Anne Régent-Susini (Hg.): Universal History and the Making of the Global, New York u. a. 2019, S. 133–151, hier S. 145–150 (über Herders Kritik an Schlözers tabellarischer Darstellung in dessen Vorstellungen einer Universal-Historie, Göttingen, Gotha 1772).

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(dégénération) im vierten Supplementband der Histoire Naturelle von 1777 vertraut, wonach Varietäten des Menschengeschlechts auf eine klimatisch bedingte Veränderung der Haut zurückzuführen waren und nicht auf einen Typus der Natur, der sich ohne Veränderung fortpflanzte und eine konstante Rasse bildete.39 Diese Auffassung Buffons prägte auch Zimmermanns Begriff des physikalischen Klimas, „welches zum öftern nicht mit dem geographischen zutrifft“, so „daß ein und eben dasselbe physikalische Klima eine und eben dieselbe Pflanze begünstigt und erzeugt.“40 Entscheidend war, dass sich Zimmermann die lebende Natur nach Proportionen, Verhältnissen und Gesetzmäßigkeiten dachte und die Verteilung von Tier-, Pflanzen- und Mineralienreich quantitativ zu bestimmen versuchte. So mag es denn auch nicht erstaunen, dass Zimmermann auch in die Debatte über Hautfarben und sogenannte Menschengattungen eingriff und die Meinungen der „philosophischen Schriftsteller“ à la Cornelis de Pauw41 oder Lord Kames42 etwa durch Daten über die weiße Hautfarbe von Völkern im Andengebiet (also nicht nur von Europäern) dekonstruierte: „Es wäre also der Natur der Sache weit mehr angemessen, bey der Abtheilung des Menschen, oder bey seiner Zerfällung in verschiedene Racen mehr auf das Klima Acht zu geben.“43 Das Denken nach Proportionalitäten, das Zimmermann zu einem fundamentalen methodischen Verfahren ausbaute, wies genau in die Richtung, die Buffon in der Naturgeschichte forderte, nämlich über die exakte Beschreibung einzelner Objekte hinauszugehen und ­Fakten durch Analogieschlüsse zu verallgemeinern. Zwischen Buffon und Zimmermann entwickelten sich somit zentrale Kategorien der Interpretation von Natur und Geschichte, die sich etwa im Werk Johann Gottfried Herders oder

39  Georges Louis Le Clerc Comte de Buffon: Histoire Naturelle, Générale et Particulière, Avec la description du Cabinet du Roi, Supplément, Bd. 4, Paris 1777, S. 569: „toutes ces différences rapportées par les Voyageurs, paroissent indiquer qu’il y a des blafards de bien d’espèces, & qu’en général cette dégénération ne vient pas d’un type de nature, d’une impreinte particulière qui doive se propager sans altération & former une race constante, mais plutôt d’une désorganisation de la peau plus commune dans les pays chauds qu’elle ne l’est ailleurs“. 40  Eberhard August Wilhelm Zimmermann: Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, nebst einer hierher gehörigen Zoologischen Weltcharte, Bd. 1, Leipzig 1778, Einleitung, S. 12. 41  Cornelis de Pauw: Recherches Philosophiques sur les Américains, ou Mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine, Berlin 1768. Vgl. zu de Pauws Rassenkonzept Ottmar Ette: Wörter – Macht – Stämme. Cornelius de Pauw und der Disput um die neue Welt, in: Markus Messling und Ottmar Ette (Hg.): Wort Macht Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie (18./19. Jh.), München 2013, S. 107–135. 42  Henry Home (Lord Kames): Sketches of the History of Man, Bd. 1, Edinburgh 1774, S. 20: „If the only rule afforded by nature for classing animals can be depended upon, there are different species of men as well as of dogs“. 43  Zimmermann 1778 (wie Anm. 40), S. 109.

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Alexander von Humboldts niederschlugen. Im letzten Teil dieses Aufsatzes soll nun also gezeigt werden, wie auf der Basis des Interagierens der soeben dargestellten vier Fragekomplexe Natur- und Menschheitsgeschichte um 1800 aufeinander bezogen wurden und welche Rolle hierbei die Kategorie der organischen Kräfte spielte.

Von der Natur- zur Kulturgeschichte In Eberhard August Wilhelm Zimmermanns geohistorischem Ansatz bezog sich das Proportionalitäts- und Gesetzesdenken konkret auf das Verhältnis von Individuen und Arten und deren Verteilung auf die drei Naturreiche: das Mineralien-, Pflanzen- und Tierreich. Dabei sah er als das Hauptziel der Entwicklung des Naturganzen die Hervorbringung von Leben: „Hier ist nämlich die Frage, wie verhalten sich die Summen der Arten und Individuen der verschiedenen Naturreiche unter einander? Welches überwiegt das andere, und um wie viel? Die Antwort hierauf läuft sehr auf Wahrscheinlichkeiten hinaus, da uns noch so viele Arten unbekannt sind. Indessen sieht man dennoch, daß der Hauptzweck der ganzen Schöpfung Leben ist, und eben daher ergiebt sich von selbst die weit größere Anzahl belebter, das ist thierischer Körper, über die minder belebten. Also sind der Pflanzen weniger als der Thiere, und wiederum weniger Minerale als Pflanzen.“44 Obwohl Zimmermann dieses Verhältnis nur aufgrund von Wahrscheinlichkeiten berechnete, so ließ sich ihm zufolge die Entwicklung der Naturreiche bzw. die Höherentwicklung von Leben durch ein „merkwürdige[s] Gesetz” erhärten: Das Anwachsen der Grundkraft der Sensibilität verhält sich proportional zu der Zunahme der Artenvielfalt des organischen Lebens: „Die Summe der Arten organisirter Körper wächst wie die Grade der Empfindung und des Lebens [Dies geht indeß nur auf das Ganze, nämlich auf jedes der drey Naturreiche; bey jedem Naturreiche selbst würde dies schwerlich zu behaupten stehen.] Die organisirte lebende Pflanzenwelt läßt das todte Mineralreich an Verschiedenheit der Arten weit hinter sich zurück, da sie selbst wiederum von dem deutlicher empfindenden Thierreiche hierin unermeßlich übertroffen wird. Es ist der Mühe werth, diese merkwürdige Stufenfolge, diesen Drang der Naturkräfte zum Hervor­bringen des

44  Zimmermann 1778 (wie Anm. 40), S. 7.

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Bessern, des höher Organisierten, genauer darzustellen. Die Verhältnisse der Arten in den drey Naturreichen lassen sich allgemein so übersehen.“45 Wie ist denn dieser Wachstumsmechanismus zu verstehen? Welche Naturkräfte sind hierbei involviert? Und was ist das Gesetz der Bildung und Organisation organischer Körper? In zwei Abhandlungen über die Nutritionskraft versuchten der Zoologe und Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach (1752– 1840) und der Mineraloge und Geologe Ignaz Born (1742–1791) diese Fragen zu beantworten. Born fasste die Resultate der Diskussion über Nutritionskräfte zusammen, indem er auf die Arbeiten des Physiologen und Rivalen Albrecht von Hallers, Caspar Friedrich Wolff (1733–1794), verwies. Träger der Wolff’schen vis essentialis als dem bildenden Prinzip organischer Materie sei der Nährsaft oder Nutritionssaft; daraus schließe er erstens: (i) „Daß überall wo die Säfte ruhen, Zellen entstehen; aus welchen, wenn sie weiter fließen, Gefäße geformt werden“46, womit Born das Wolff’sche ZweiPhasen-Gesetz des organischen Wachstums benannte.47 Und zweitens: (ii) „Daß die regelmäßige Bewegung der Säfte in Pflanzen nicht blos von den Kräften der festen Theile, oder einer blinden Anziehungskraft, sondern von einer den Säften eigenen, wesentlichen Kraft, (v is essent ialis organica Wolffii) abhängen müsse“, womit das Wachstum organischer Körper erklärt werden könne.48 Anhand von Borns Aussage lässt sich ein paradigmatischer Wandel in der Theorie der Lebenskraft im späten 18. Jahrhundert sowie eine endgültige Absage an die Theorie der präexistenten Keime, wie sie Haller in den späten 1750er Jahren vertreten hatte, festmachen: aus wissenschaftlichen und theologischen 45  Eberhard August Wilhelm Zimmermann: Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, nebst einer hierher gehörigen Zoologischen Weltcharte, Bd. 3, Leipzig 1783, S. 8. 46  Ignatius Born: Zwote Abhandlung über die Nutritionskraft, in: ders. und Johann Friedrich Blumenbach: Zwo Abhandlungen über die Nutritionskraft welche von der Kayserlichen Academie der Wissenschaften in St. Petersburg den Preis getheilt erhalten haben, St. Petersburg 1789, S. 19–63, hier S. 42. 47  Vgl. Caspar Friedrich Wolff: Theorie von der Generation, Berlin 1764, §28: „so können wir ein allgemeines Gesetz von der Formation der natürlichen organischen Körper daraus machen. ‚Ein jeder organischer Körper, oder Theil eines organischen Körpers, wird erst ohne organische Struktur producirt, und alsdann wird er organisch gemacht;‘ Diese Organisation nemlich ist alsdann die Formation der Gefäße oder der Zellen und Bläschen.“ Zit. nach: Caspar Friedrich Wolff: Theorie von der Generation in zwei Abhandlungen erklärt und bewiesen / Theoria Generationis. Mit einer Einleitung von Robert Herrlinger, Hildesheim 1966. Vgl. zu C. F. Wolffs Theorie der Epigenesis auch Janina Wellmann: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760–1830, Göttingen 2010, bes. S. 107–136. 48  Born 1789 (wie Anm. 46), S. 42.

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Gründen hätte Haller keine anderen Kräfte als attraktive oder repulsive Kräfte bei organischen Bildungsprozessen akzeptiert.49 In seinem eigenen Beitrag zur Nutritionskraft und gewissermaßen als Kommentar zu den Abhandlungen von Blumenbach und Born bekräftigte Caspar Friedrich Wolff nochmals sein Zwei-Phasen-Gesetz der Bildung organischer Körper, indem er Produktion und Organisation klar trennte: „Andere Beobachtungen lehrten mich denn endlich, wie allerdings durch die Nutrition Gefäße und Bläschen, als die gemeinste und einfachste Organisation, alsdann auch Theile, die selbst aus Bläschen und Gefäßen bestehen, innerhalb anderer Theile durch Deposition gebildet, und Theile dadurch organisirt, würden, die unorganisch produziert waren. Ich sahe nun, was ich mich vorher nicht würde haben träumen lassen, daß Produktion und eigentliche Bildung oder Organisation zweyerley Dinge wären, und daß jeder Theil einer Pflanze oder eines Thieres zuerst produzirt, alsdann erst organisiert würde.”50 In Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit kommen nun die bislang entwickelten Aspekte der Verbindung von Anthropologie und Geschichte zusammen: Herders Geschichtsphilosophie war vom Geschichtsdenken Humes, Fergusons und Goguets sowie von Zimmermanns Geohistorie geprägt. Genau genommen koppelte Herder Fergusons Konzeption der subjects progressive mit Wolffs Zwei-Phasen-Modell der Bildung von Organismen und übertrug dieses Modell auf die Kulturgeschichte der Menschheit:51 I. Phase – Produktion: Die Lebenskraft entfaltet sich in den verschiedenen Naturreichen und in den Naturkörpern im Raum sowie in den verschiedenen Klimazonen in der Zeit der Erdentwicklung; 2. Phase – Organisation: Durch Wanderbewegungen verbreitet sich der Mensch in alle geographischen Räume und Klimazonen der Erde; es organisieren sich Familien und Gruppen als Zellen des sozialen Lebens („Gemeingeist“). Es verfestigen sich ferner (arbiträre) Verhaltensweisen, um schließlich in Staatsgebilden zu erstarren: „vestgestellte“ Formen der Regierung und Religion (z. B. in China und Ägypten). In begünstigten Klimazonen nimmt die Abhängigkeit vom Milieu zugunsten der Heraus49  De Angelis 2003 (wie Anm. 4), S. 439–477. 50  Caspar Friedrich Wolff: Von der eigenthümlichen und wesentlichen Kraft der vegetabilischen und sowohl als auch der animalischen Substanz, in: Ignatius Born und Johann Friedrich Blumenbach: Zwo Abhandlungen über die Nutritionskraft welche von der Kayserlichen Academie der Wissenschaften in St. Petersburg den Preis getheilt erhalten haben, St. Petersburg 1789, S. 1–94, hier S. 49. 51  Wolfgang Proß: Die Begründung der Geschichte aus der Natur: Herders Konzept von „Gesetzen“ in der Geschichte, in: Hans Erich Bödeker, Peter Hanns Reill und Jürgen Schlumbohm (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900, Göttingen 1999, S. 187–225.

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bildung von Kulturtechniken ab. Auf Herders Ideen ist somit jener Begriff von Gemeinschaft (oder Gemeinschaftssinn) zurückzuführen, die als Basis des sozialen Lebens und der Gesellschaft zu verstehen sind und die – als Grundbegriff der modernen Soziologie um 1900 – innerhalb einer untergehenden Kultur stets neue Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens hervorzubringen in der Lage sind.52 In historiographischer Perspektive zeigte sich in Herders Ideen somit eine Auflösungstendenz des Chronologie-Schemas der alten Universalgeschichte à la Jacques Benigne Bossuet (1627–1704), die sich noch im Rahmen der biblischen Chronologie abspielte und den Lauf der menschlichen Dinge dem Plan und dem Auge Gottes unterordnete.53 Relevant war in Herders naturalistischem Ansatz vielmehr ein life-science-Modell der Kulturentwicklung: Natur und Kultur schöpfen gewissermaßen das gesamte Potential aus, das in ihnen angelegt ist – eine Idee, die Herder übrigens von Descartes‘ Kosmologie übernommen hatte.54 Insofern war eine solche Natur- und Kulturentwicklung von Höhepunkten und Neuanfängen geprägt, jedenfalls war deren Verlauf nicht linear. Wie schon Ferguson festhielt, beginnen in der materiellen Welt die sub­ jects organized zu verfallen, sobald sie aufhören zu wachsen. Insofern knüpften solche Geschichtsvorstellungen, die von Aufstieg und Verfall ausgehen, an Geschichtskonzeptionen der Renaissance an, wie sie etwa Niccolò Machiavelli in den Discorsi sopra la prima decade di Tito Livio (1517) oder im Principe (1513) formulierte. Herders Geschichtsphilosophie verfolgte darüber hinaus das Ziel, eine plausible Erklärung für die Diversität der Menschheit zu geben. Zu diesem Zweck verband er sein Geschichtsdenken mit dem geohistorischen Ansatz Zimmermanns: Herder reflektierte dabei über den proportionalen Zusammenhang der organischen Kräfte, die analog von der Natur- auf die Kulturgeschichte übertragen wurden.55 Wie sehr sich Herder an die geohistorische Konzeption 52  Vgl. hierzu Carsten Schlüter-Knauer: Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Ein Klassiker kommunitaristischen Denkens oder Vorspiel des Nationalsozialismus?, in: ­Walter Reese-Schäfer (Hg.): Handbuch Kommunitarismus, Wiesbaden 2019, S. 73–99; Wolfgang Proß: Herder zwischen Restauration, Vormärz und Reichsgründung. Zur politischen und anthropologischen Interpretation seines Werkes (1805–1870), in: Liisa Steinby (Hg.): Herder und das 19. Jahrhundert, Heidelberg 2020, S. 119–147. 53  Jacques Benigne Bossuet: Discours sur L’Histoire Universelle, Pour expliquer la suite de la Religion & les changemens des Empires, Paris 1681; vgl. hierzu Anne Régent-Susini: Perspectives Dépravées, Perspectives Rectifiées: L’Histoire Universelle peinte par Bossuet, in: Littérature classiques 82 (2013), S. 201–216. 54  Paolo Rossi: I Segni del Tempo. Storia della Terra e Storia delle Nazioni da Hooke a Vico, Milano 1979, S. 71f. 55  Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784– 1791], in: ders.: Werke, hg. von Wolfgang Proß, München u. a. 2002, Bd. III,2, S. 589–603; Proß 1999 (wie Anm. 51), S. 211.

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­ immermanns hielt und diese auf sein Projekt der Bildung der Menschheit Z transferierte, zeigt die Schlusspassage von Herders 6. Buch der Ideen, das auf der Basis von Reiseliteratur die physische und kulturelle Beschaffenheit bislang bekannter Völker der Erde beschreibt: „[S]o wäre es ein schönes Geschenk, wenn Jemand, der es kann, die hie und da zerstreueten treuen Gemälde der Verschiedenheit unseres Geschlechts sammlete und damit den Grund zu einer entsprechenden Naturlehre und Physiognomik der Menschheit legte. Philosophischer könnte die Kunst schwerlich angewandt werden und eine anthropologische Charte der Erde, wie Zimmermann eine zoologische versucht hat, auf der nichts angedeutet werden müßte, als was Diversität der Menschheit ist, diese aber auch in allen Erscheinungen und Rücksichten; eine solche würde das philanthropische Werk krönen.“56 Genauso grundlegend war der Ansatz Zimmermanns auch für Alexander von Humboldts Pflanzengeographie,57 der die unterirdische Flora nicht nur be­­ schrieb, sondern zur oberirdischen in ein analoges Verhältnis setzte: die subterrane Flora war somit ein „corresponding space“58 der oberirdischen Flora. Dadurch gewann Humboldts Pflanzengeographie eine theoretische – und nicht nur eine deskriptive – Dimension, die auf eine globale klimatologische Perspektive ausgerichtet war. Die methodologischen Prinzipien von Zimmermanns Geohistorie, die Alexander von Humboldt in der Meteorologie und Pflanzengeographie umsetzte,59 bildeten somit die Grundlage von Herders Projekt einer

56  Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke, hg. von Wolfgang Proß, München u. a. 2002, Bd. III,1, S. 225f. 57  Alexander von Humboldt: Essai sur la géographie des plantes; accompagné d’un tableau physiques des régions équinoxiales, Paris 1805. 58  Patrick Anthony: Mining as the Working World of Alexander von Humboldt’s Plant Geography and Vertical Cartography, in: Isis 109 (2018), Heft 1, S. 28–55, hier S. 41: „Humboldt’s inclusion of the subterranean flora in the Essai was not merely descriptive; he did not merely wish to make these plants known to naturalists. Rather, subterranean flora had a theoretical importance for Humboldt, which bears the stamp of his earlier description of the subterranean not as a space apart but as a corresponding space. Humboldt’s meteorological insight that ‘nature knows no over- and underground’ – that the same weather phenomena occur above as below the surface of the earth – echoes through his climatological point in the Essai that the environs at opposite extremes of the earth are hospitable to corresponding vegetation.“ (E.W.A. Zimmermann ist bei Anthony allerdings nicht erwähnt). 59  Alexander von Humboldt: Ueber die unterirdischen Gasarten und die Mittel ihren Nachteil zu vermindern. Ein Beytrag zur Physik der praktischen Bergbaukunde, Brauschweig 1799, S. 201: „Die Natur kennt kein Oben und Unten.”

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komparativen Naturgeschichte der Menschheit, die als Scienza Nuova die Verständigung und den humanen Verkehr unter den Völkern anvisierte.60

Fazit Ein erstes wichtiges Anzeichen der Unterminierung jener Prinzipien, die das analoge Verhältnis von Natur- und Menschheitsgeschichte im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmt hatten, kam von Kants Rezension von Herders Ideen (1784/1785). Kants Kritik richtete sich auf Herders Konzeption der „Analogie der Natur“ und besonders auf die „Hypothese unsichtbarer die Organisation bewirkender Kräfte“, durch welche Kant vor allem „das denkende Prinzip im Menschen“ gefährdet sah; dieses schien Herder gemäß Kant „durch das Bauwerk der Organisation aus dem Chaos herauszuheben“, so als sähe ­Herder die menschliche Seele „nicht als besondere Substanz, sondern bloß Effekt einer auf Materie einwirkenden und sie belebenden unsichtbaren allgemeinen Natur“ an.61 Es war demnach folgerichtig, dass in Kants Anthropologie die Physiologie für das Verständnis mentaler Prozesse vollkommen irrelevant war.62 In seiner transzendentallogischen Wende verstand Kant ferner auch das Recht als Freiheit des Rechtssubjekts, ohne es, das Recht, auf eine objektive oder „natürliche“ Grundlage zu stellen.63 Um 1800 fand somit – einen vielschichtigen und komplexen Prozess stark vereinfachend – ein Wandel vom naturrechtlichen zum historistischen Paradigma der Interpretation der Ge­­ schichte statt. Dieser Wandel wirkte sich besonders auch auf das konservative

60  Herder 2002 (wie Anm. 56), S. 223: „Wer da sagt: Amerika sei warm, gesund, naß, niedrig, fruchtbar, der hat Recht; und ein andrer der das Gegenteil sagt, hat auch Recht, nehmlich für andere Jahreszeiten und Örter. Ein Gleiches ists mit den Nationen: denn es sind Menschen eines ganzen Hemisphärs in allen Zonen. Oben und unten sind Zwerge, und nahe bei den Zwergen Riesen: in der Mine wohnen mittelmäßige, wohl- und minder wohlgebildete Völker, sanft und kriegerisch, träge und munter, von allerlei Lebensarten und von allen Charakteren.“ 61  Immanuel Kant: Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen, in: ders.: Werke, Bd. 10, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Zweiter Teil, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, S. 781–806, Zitate S. 790f. Vgl. hierzu auch Wolfgang Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“. Was kritisiert Kant an Herder?, in: Scientia Poetica 1 (1997), S. 62–119. 62  Thomas Sturm: Why Did Kant Reject Physiological Explanations in His Anthropology, in: Studies in History and Philosophy of Science 39 (2008), S. 495–505. 63  Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre [1797], in: ders.: Werke, Bd. 7, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Zweiter Teil, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, S. 309–349. Vgl. hierzu auch Thomas Sören Hoffmann: Kant und das Naturrechtsdenken. Systematische Aspekte der Neubegründung und Realisierung der Rechtsidee in der kritischen Philosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), S. 449– 467.

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Rechtsdenken der sog. Rechtshistorischen Schule Friedrich Carl von Savignys (1779–1861) aus, der das Recht auf dem „Volksgeist“ begründete.64 Der dritte Bereich, in dem das naturrechtliche Paradigma unterminiert wurde, war die konservative Geschichtstheorie. Der Historiker Wilhelm Wachsmuth (1784– 1866) etwa stellte die Gleichheit und Vergleichbarkeit des Menschengeschlechts in Raum und Zeit in Frage und desavouierte damit das Projekt einer komparativen Geschichte der Menschheit, wie sie Herder konzipierte.65 Spätestens um 1830 wurde somit klar, warum Natur und Geschichte, die im Naturrecht einer gemeinsamen Matrix entsprungen waren, nunmehr tatsächlich nebeneinanderstanden, und weshalb Naturalismus und Historismus „die beherrschenden Haupttendenzen werden mussten“, die um die Deutungshoheit des menschlichen Geistes rivalisierten.66 Die Schüler des Physiologen Johannes Müller (1801–1858) beispielsweise – die Generation der sogenannten organic physicists (Hermann von Helmholtz, Emil du Bois-Reymond, Rudolf Virchow), die auf ihren Lehrstühlen die chemische Physiologie etablierten –, subsumierten die gesamte organische Natur nunmehr unter physikalischen und chemischen Kräften und Gesetzen und vermieden den Terminus „Lebens­ kraft“67. Genuin historistisch argumentierend,68 machte schließlich Wilhelm Dilthey (1833–1911) rückblickend das Naturrecht als „System der gesellschaftlichen Ideen“ für die Französische Revolution und die für das Deutsche Reich verheerenden Napoleonischen Kriege verantwortlich und knüpfte episte­ mologisch an Kant, Savigny sowie an die deutsche hermeneutische Tradition Friedrich Schleiermachers und August Boeckhs an.69 Damit haben eine Reihe

64  Benjamin Lahusen: Alles Recht geht vom Volk aus. Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft, Berlin 2013. 65  Vgl. Wilhelm Wachsmuth: Entwurf einer Theorie der Geschichte, Halle 1820, bes. S. 150: „Das menschliche Geschlecht kann in Rücksicht auf die verschiedenen Zeiträume eben so wenig als ein Gleiches betrachtet, die durch eigenthümlichen Charakter von einander unterschiedenen Zeiträume eben so wenig aufgelöst und gemischt werden, als die verschiedenen Kreise des Volksthümlichen.“ 66  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, Erstes (Einziges) Buch: Das Logische Problem der Geschichtsphilosophie [1922], Aalen 1977, S. 106. 67  David Cahan: Helmholtz. A Life in Science, Chicago u. a. 2018, hier S. 62f. 68  Donald R. Kelley: Fortunes of History. Historical Inquiry from Herder to Huizinga, New Haven u. a. 2003, S. 329. 69  Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Bernhard Groethuysen, Bd. 4, Leipzig u. a. 1922, Zitat S. XV. Vgl. hierzu Simone De Angelis: Frühneuzeitliche Anthropologie. Grundaspekte, Konzepte, Entwicklungslinien zwischen Renaissance und Spätaufklärung. Ein Überblick, in: Sascha Salatowsky und Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.): De homine. Anthropologien in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2021, S. 15–29.

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von Faktoren – besonders der aufklärungsfeindliche Historismus und Nationalismus – der Beziehung von Natur und Geschichte, wie sie das 18. Jahrhundert auffasste, endgültig ein Ende gesetzt oder diese – wie im Evolutionismus und Darwinismus – in ihrer Bedeutung komplett verändert.

Adrian Renner

Handelnde Kräfte Zur Narrativierung der Natur in Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791)1

Johann Gottfried Herders geschichtsphilosophisches Hauptwerk, die vierbändigen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, beschreiben, so vermerkt Herder 1787 im „Dritten Teil“ des Werks, die „ganze Menschengeschichte“ als „reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit“.2 Herder fasst die Geschichte der Natur als ein auf den Menschen zulaufendes Bildungs- und Entwicklungsmodell. Die Darstellung der Natur als genetischen Zusammenhang von Bildungsprozessen beruht auf den Wirkungen „organischer Kräfte“ (87), eine der zentralen begrifflichen Prägungen der Ideen. Diese umschließen physikalische Naturgesetze, biologische Entwicklungsvorgänge und durch den Menschen verantwortete kulturelle und geschichtliche Prozesse, die alle zu Manifestationen einer „lebendigen Kraft der Natur“ (175) erklärt werden. Wie jüngst Carl Niekerk anhand Johann Friedrich Blumenbachs Beyträge zur Naturgeschichte (1790) argumentiert hat, lässt sich die Verschiebung innerhalb der Naturgeschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert von räumlichen und statischen Ordnungsmodellen hin zu temporal organisierten Modellen auch als eine „Narrativisierung der Natur“ auffassen.3 Meine Überlegungen

1  Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen der Forschungsgruppe Imaginarien der Kraft, insbesondere Laura Isengard, Dominik Hünniger, Lutz Hengst und Cornelia Zumbusch, sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des von Eva Blome, Martin Jörg Schäfer und Cornelia Zumbusch geleiteten Kolloquiums „Poetik und Ästhetik“ für zahlreiche wertvolle Kommentare und Hinweise während der Entstehung dieses Aufsatzes. 2  Johann Gottfried Herder: Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 6, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1989, S. 568. Alle weiteren Angaben erfolgen mit Seitenzahl im Text nach dieser Ausgabe. Zitate werden gegebenenfalls grammatikalisch angeglichen, alle Kursivierungen geben, sofern nicht eigens vermerkt, die des Originaltextes wieder. 3  Carl Niekerk: Zur Narrativisierung der Natur. Johann Friedrich Blumenbachs Beyträge zur Naturgeschichte (1790) zwischen Naturgeschichte und Anthropologie, in: Rhetorik. Ein interna­ tionales Jahrbuch 38 (2019), Heft 1, S. 18–37. Niekerk identifiziert den Vorgang der „Narrativisie-

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zielen demgegenüber nicht auf die Unterscheidung temporaler oder räumlicher Ordnungsstrukturen, sondern auf die narrativen Verfahren, mit denen in Herders Ideen eine zusammenhängende Geschichte der Natur und der Menschheit verfertigt wird.4 In den folgenden Ausführungen analysiere ich den Vorgang der Narrativierung, nicht das als Resultat erzeugte Narrativ: Wie ich zeige, lässt Herder Kräfte als Akteure in gänzlich heterogenen und zeitlich weit auseinanderliegenden physischen und kulturellen Bildungsprozessen auftreten, um die Geschichte der Natur und der Menschheit als einen in temporaler und kausaler Hinsicht verknüpften Zusammenhang darzustellen.5 Der in Herders Narrativierung der Natur erzielte Effekt, dass die Verbindung einzelner Ereignisse als geordneter kausaler Zusammenhang erscheint, steht ebenfalls im Mittelpunkt von Friedrich von Blanckenburgs romantheoretischer Schrift Versuch über den Roman (1774). Blanckenburg definiert die erzählerische Verfertigung einer Geschichte temporal als „Wirklichwerden“ einzelner Geschehnisse „vor unseren Augen“6, die in kausaler Hinsicht als „anschauende Verbindung von Ursache und Wirkung“7 oder als „anschauender Zusammenhang von Ursache und Wirkung“8 aufgefasst werden können. Schreibt Herder in den Ideen, dass die „Zeiten“ sich „Kraft ihrer Natur“ aneinander „ketten“ rung“ vor allem durch den Unterschied eines temporal dynamischen „Entwicklungsnarrativs“ im Gegensatz zu räumlich dargestellten Ordnungsmodellen im „Diskurs der aufgeklärten Naturgeschichte“ (S. 27 und S. 25). 4  Zum Begriff des Narrativs als erzählerische Muster und Schemata, die die „in ihnen enthaltenen Elemente konfigurieren, aber nicht bis ins Letzte festschreiben“ vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2012, S. 29–38, hier S. 30. Meine Verwendung des Akteur-Konzepts folgt Koschorkes Ausführungen zu einer narrativen „Zuschreibung von agency“ (S. 79–84). Zum Kraft-Begriff als Vermittlung von agency und Tätigkeit in Herders poetologischen Schriften vgl. Cornelia Zumbusch: „es rollt fort“. Energie und Kraft der Dichtung bei Herder, in: Poetica 49 (2017/2018), S. 337–358. 5  Zur epistemologischen Funktion des Erzählens im 18. Jahrhundert vgl. Sebastian Meixner: Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen, Berlin u. a. 2019; Frauke Berndt und Daniel Fulda: Einleitung, in: dies. (Hg.): Die Erzählung der Aufklärung. Beiträge der DGEJ-Jahrestagung 2015 in Halle a. d. Saale, Hamburg 2018; aus Perspektive der Geschichtswissenschaft: Daniel Fulda: Wissenschaft als Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung, Berlin u. a. 1996. Wie Dirk Oschmann rekonstruiert hat, lässt sich um 1800 eine Ausdehnung des Handlungsbegriff auf zahlreiche weitere Gegenstandsbereiche beobachten. Vgl. Dirk Oschmann: Ästhetik und Anthropologie. Handlungskonzepte von Gottsched bis Hegel, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 55 (2011), S. 91–118. 6  Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Faksimile-Druck der Ausgabe von 1774, hg. von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 359. Zu Blanckenburgs Romantheorie vgl. Adrian Renner: Erzähltes Leben. Möglichkeiten des Romans um 1800, Göttingen 2021, S. 63–76. 7  Blanckenburg 1965 (wie Anm. 6), S. 311. 8  Blanckenburg 1965 (wie Anm. 6), S. 284.

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(656), kann der Vorgang der Verkettung – eine der Generalmetaphern der Ideen – als ein narratives Verfahren begriffen werden, durch welches heterogene Einzelereignisse vermittels der in ihnen als handelnd vorgestellten Kräfte in einen geordneten „Zusammenhang von Ursache und Wirkung“ (Blanckenburg) gebracht werden.9 Herders narrativer Zugang resultiert nicht nur in einer Vergeschichtlichung der Natur, sondern, wie ich in meinem Aufsatz darlege, in einer korrespondierenden Naturalisierung der Kulturgeschichte, in der menschliche Handlungen ebenfalls nach den Wirkprinzipien natürlicher Kräfte dargestellt werden. Herders Verwendung des Kraft-Begriffs ist zumeist mit einem naturphilosophischen Vitalismus gleichgesetzt worden.10 Ich zeige in den folgenden Überlegungen, wie sich die vitalistische Vorstellung selbsttätig handelnder Kräfte in den Ideen durch ihre narrative Funktion präziser fassen lässt. Das ‚vitalistische‘ Verständnis selbsttätig handelnder Kräfte wird von Herder anthropologisch als „Analogie der Natur“ (17) begründet, wie ich im ersten Teil meines Aufsatzes zeige. Im zweiten und dritten Teil beschreibe ich anhand des für die Ideen zentralen Formprinzips der inneren Organisation die temporale Dynamisierung von Herders natürlichem Entwicklungsmodell in Abgrenzung zu Vorstellungen bewegender Kräfte. Herders genetisches, auf den Wirkungen natürlicher Kräfte gegründetes Entwicklungsmodell führt auf der Darstellungsebene der Ideen zu einer Naturalisierung geschichtlicher Dynamiken und Prozesse, wie ich im abschließenden vierten Teil skizziere.

9  Carl Niekerk verortet die für die Ideen zentrale narrative Ordnungsmetapher der Kette in einem statischen und räumlich gedachten Ordnungsmodell (vgl. Niekerk 2019 (wie Anm. 3), S. 22). Zur narrativen Funktion der Kette in Herders Ideen vor allem in Bezug auf die Menschheitsgeschichte vgl. Meixner 2019 (wie Anm. 5), S. 78–82. Zum Bild der Kette allgemein vgl. Christian Strub: Weltzusammenhänge. Kettenkonzepte in der europäischen Philosophie, Würzburg 2011. 10  Zu Herder als vitalistischem Denker vgl. Peter Hanns Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley u. a. 2005, S. 186–191; Robert J. Richards: The Romantic Conception of Life. Science and Philosophy in the Age of Goethe, Chicago 2002, S. 223–225. Zum Kontext der Vorstellung einer ‚vitalistischen‘ Lebenskraft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Maike Arz: Literatur und Lebenskraft: Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart 1996; Johannes F. Lehmann: Energie, Gesetz und Leben um 1800, in: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Zur Entstehung eines Dispositivs um 1800, München 2005, S. 41–67; Hubert Thüring: Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, München 2012, S. 310–422. Die jüngere wissensgeschichtliche Forschung hat verstärkt die Kontinuitäten der Organismusund Lebenskräfte-Vorstellungen mit der Naturgeschichtsschreibung des frühen 18. Jahrhunderts herausgearbeitet. Vgl. John Zammito: The Gestation of German Biology. Philosophy and Physiology from Stahl to Schelling, Chicago 2018, S. 97–171; Jessica Riskin: The Restless Clock. A History of the Centuries-Long Argument Over What Makes Living Things Tick, Chicago u. a. 2016, S. 178–202.

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I. „Analogie der Natur“ Die in den Ideen beschriebene Geschichte der Menschheit beginnt mit einer Erzählung von der Entstehung der Erde und des Lebens und reicht von der Entwicklung komplexer Organismen bis zur Herausbildung des Menschen. Herders Bericht von der Genese pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens beruht auf der Konzeption „organischer Kräfte“, die vielgestaltig als „Lebenskräfte“ (90), „Kräfte der Natur“ (273), „wirkende Kräfte“ (376), „Naturkräfte“ (403) oder „lebendige Menschenkräfte“ (508) auftreten und auf eine „genetische Kraft“ (270) oder „Urkraft“ (381) zurückgeführt werden. Herders Verwendung des Kraft-Begriffs speist sich, wie in der Forschung umfassend herausgearbeitet wurde, aus einer Vielzahl von Quellen. Die ideengeschichtliche Rekonstruktion folgt hierbei Herders eklektischem, oftmals Texte paraphrasierendem und kollationierendem Vorgehen. Die Ideen enthalten nicht nur philosophische und theologische Anleihen bei Leibniz, Spinoza und Kant, sondern auch bei der Naturforschung des 18. Jahrhunderts.11 Herder schließt an kosmologische, physikalische und philosophische Verwendungen des Kraft-Begriffes an, die mit physiologischen Konzepten wie etwa dem ReizBegriff Albrecht Hallers und dem Epigenesis-Begriff Caspar Friedrich Wolffs oder Überlegungen aus Zimmermanns Geographischer Geschichte der Mensch­ heit verbunden werden.12 Aus wissens- und ideengeschichtlicher Perspektive lassen sich sowohl die Uneinheitlichkeit und internen Widersprüche in Herders Verwendung des Kraft-Begriffs wie auch Herders originärer Beitrag zur Anthropologie der Aufklärung herausstellen, der sich gerade durch die diskursive Überlagerung 11  Zu Herders Spinoza- und Leibniz-Rezeption, vgl. Martin Bollacher: Herders ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘, in: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 6, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1989, S. 922–927; John Zammito: Kant, Herder, and the Birth of German Anthropology, Chicago 2002, S. 315–320; zur Kant-Rezeption bei Herder vgl. aus philosophiegeschichtlicher Perspektive Nigel DeSouza: Herder’s Theory of Organic Forces and its Kantian Origins, in: Daniel O. Dahlstrom (Hg.): Kant and his German Contemporaries, Volume 2: Aesthetics, History, Politics, and Religion, Cambridge 2018, S. 109–127. Wolfgang Proß sieht Herders Theorie der organischen Kräfte als Reaktion auf Kants elementare Materiebestimmung in dessen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels; vgl. Wolfgang Proß: Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Stefan Greif, Marion Heinz und Heinrich Clairmont (Hg.): Herder Handbuch, München 2016, S. 171–215, bes. S. 188f. 12  Die umfassendsten Aufarbeitungen von Herders Quellen finden sich in: Hugh Barr Nisbet: Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1970; Zammito 2002 (wie Anm. 11); Wolfgang Pross: ‚Natur‘ und ‚Geschichte‘ in Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschich­ te der Menschheit, in: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 3,1: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Wolfgang Pross, München 2002, S. 833–1042; Proß 2016 (wie Anm. 11), S. 171–215. Siehe dazu auch den Beitrag von Simone De Angelis in diesem Band.

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unterschiedlicher Wissensbereiche ergibt.13 Das von Herder für die Entwicklung der Natur veranschlagte Wirkmodell natürlicher Kräfte ermöglicht es, gänzlich heterogenes Material in die Ideen zu integrieren und eine Vielzahl natürlicher und kultureller Prozesse durch ein einheitliches und umfassendes Wirkprinzip zu erklären. In Herders genetischem Entwicklungsmodell der Geschichte können die Kräfte der Natur in einem narrativen Sinn als Akteure verstanden werden, weil das an ihnen exemplifizierte Wirkprinzip sich einerseits unmittelbar an jedem einzelnen Geschehnis aufzeigen und andererseits analogisch auf alle Entwicklungsprozesse der Natur übertragen lässt. Wie zu zeigen ist, beruht die geschichtliche Ordnung der Ideen, die als „Kette aller auf einander dringenden Kräfte“ (168), „Kette der Tradition“ (343), „Kette der Bildung“ (344) oder „Kette der Ursachen und Wirkungen“ (584) adressiert wird, in einem narrativen Sinn auf den Handlungen lebendiger Kräfte, durch die einzelne Ereignisse in zeitlicher Hinsicht aneinander angeschlossen werden und somit in kausaler Hinsicht als „anschauender Zusammenhang“ (Blanckenburg) erscheinen. Herders Konzept der organischen Kräfte folgt einem „Hauptgrundsatz“, den Herder auf folgende Weise erklärt: „Wo Wirkung in der Natur ist, muß wir­ kende Kraft sein“ (87). Herder bezieht sich zunächst auf eine metaphysische Verwendung des Kraft-Begriffs, in der Wirkungen auf ein zu Grunde liegendes Vermögen zurückgeführt werden.14 Hieraus lässt sich eine für den Kontext der Naturkräfte im 18. Jahrhundert charakteristische Trennung zweier Aspekte des Kraft-Begriffs ableiten: In epistemologischer Hinsicht treten Kräfte treten nur immer durch ihre Wirkungen auf. Es kann daher nur aus Erscheinungen auf die zu Grunde liegende Kraft geschlossen werden. Metaphysisch ist Kraft hingegen als primär aufzufassen, weil sie die Disposition oder das Vermögen meint, Wirkungen zu erzeugen. Herders theoretische Ausführungen zum Kraft-Begriff betreffen vor allem den Aspekt des Vermögens oder der Disposition zu Wirkungen, den Herder nicht metaphysisch, sondern als Gegebenheit der Natur erklären möchte. Herder präzisiert im Dritten Buch des Ersten Teils: „Wirkende Kräfte der Natur sind alle, 13  Vgl. exemplarisch die Kritik Herders in Nisbet 1970 (wie Anm. 12), S. 264–274; zu einer Kritik an Nisbet und einer Würdigung Herders im ideengeschichtlichen Kontext vgl. Zammito 2002 (wie Anm. 11), S. 319f.; zu Herders Beitrag zu einem anthropologischen Geschichtsdenken vgl. ebd., S. 332–345. 14  Diese Tradition speist sich vor allem aus der Rezeption antiker dynamis-Konzepte. Vgl. überblickshaft Max Jammer: Concepts of Force. A Study in the Foundation of Dynamics, Cambridge 1957; Olaf Breidbach: Kraft, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart u. a. 2015, S. 300–309; Thomas Leinkauf: Möglichkeit, Potential und Kraft (possibilitas, potential, potestas, virtus/vis), in: Frank Fehrenbach, Robert Felfe und Karin Leonhard (Hg.): Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst, Berlin u. a. 2018, S. 31–52.

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jede in ihrer Art, lebendig: in ihrem Innern muß ein Etwas sein, das ihren Wirkungen von außen entspricht“ (100f.). Dieses innere Prinzip der Kraft als das in metaphysischer Hinsicht primäre Vermögen, Wirkungen hervorzubringen, beschreibt Herder als einen der Natur immanenten Vorgang der Verlebendigung. Die sich in Vorgängen der „Bildung“ und „Gestaltung“ manifestierenden „Formen“ und „Gesetze“ der Naturkräfte sind daher als Vermittlungen von „innern Kräften“ der Natur und nicht durch ihre „äußern Verhältnisse“(55f.) bestimmt, wie Herder am Anfang des Zweiten Buchs des Ersten Teils erklärt. Um die eigentümliche Aktivität von Kräften zu erklären, artikuliert Herder den metaphysischen Kraft-Begriff der inneren Dispositionen als eine anthropologische Bestimmung, in der die Wirkung von Kräften als Ausdruck eines von Leben und Gefühl begleiteten inneren Seelenzustandes erscheint. Mit dem Ausdruck der „innern Kräfte“ greift Herder auf die Begrifflichkeit des „innern Zustandes“ zurück, die den Ausgangspunkt seiner 1778 veröffentlichten Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele bildet. Herders anthropologisches Hauptwerk der 1770er Jahre beginnt mit einer Aufzählung „würkender Kräfte in der Natur“, die von „Stoß, Fall, Bewegung“, der „Kraft der Trägheit“ bis zu körperlichen Eigenschaften wie „Elastizität“, „Magnetismus“ und dem „elektrische[n] Strom“15 reichen. Für Herder besteht in den Wirkungen der Naturkräfte eine „‚Analogie zum Menschen‘“, die Herder zunächst als menschliche Projektion beschreibt. So komme der Mensch nicht umhin, das „große Schauspiel würkender Kräfte“ mit „Empfindung zu beleben“.16 Die Analogie zwischen Menschen und Natur reicht jedoch weiter als eine animistische Belebung der Natur. Für Herder lassen sich umgekehrt auch seelische Prozesse in Äquivalenz zu natürlichen Vorgängen beschreiben. Aufbauend auf Hallers Konzepten der Irritabilität und Sensibilität setzt Herder Physiologie und Psychologie in ein analogisches Verhältnis: So wie die Physiologie den Lebensprozess der organischen Natur am Vorgang der Reizung beschreibt, lässt sich die Psychologie als Vorgang seelischer Reizungen erklären.17

15  Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 4, Schriften zu Philosophie, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1994, S. 327–393, hier S. 329. 16  Herder 1994 (wie Anm. 15), S. 329. 17  Zu Herders Verwendung von Kraft als Lösung des Cartesianischen Problems der KörperGeist-Interaktion vgl. Nigel DeSouza: The metaphysical and epistemological Foundations of Herder’s Philosophical Anthropology, in: ders. und Anik Waldow (Hg.): Herder. Philosophy and Anthropology, Oxford 2017, S. 52–71; zu Herders psychologischem Kraftbegriff vgl. Ulrike Zeuch: ‚Kraft‘ als Inbegriff menschlicher Seelentätigkeiten in der Anthropologie der Spätaufklärung (Herder und Moritz), in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 99–122; Natalie Binczek: „Im Abgrunde des Reizes“. Zu Herders Vom Erkennen und Empfin­ den der menschlichen Seele, in: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert ­Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, S. 91–112,

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Auch in den Ideen greift Herder die in der Seelen-Schrift am Reizbegriff hergeleitete Analogie zwischen inneren, psychologischen Zuständen und äußeren, physiologischen Wirkungen auf. Herder formuliert: Wo Reiz nicht auch „von innen gefühlt“ werde, da höre „aller Zusammenhang der Bemerkungen, alle Analogie der Natur auf“ (87f). Die von Herder gesuchten inneren Kräfte der Natur stehen in einem analogischen Verhältnis zu ihren äußeren Wirkungen, so wie in Herders anthropologischer Modellierung der Seele körperlich sichtbare Wirkungen von inneren seelischen Reizen begleitet werden.18 Die als „Analogie der Natur“ sichtbar werdende, unmittelbare Verbindung von innerem Prinzip und äußerer Wirkung, die Wirkungen von Kraft als lebendige Vorgänge erscheinen lässt, stellt eine der zentralen Ordnungs- und Darstellungsfiguren der Ideen dar. Die anthropologisch fundierte und analogisch erklärte Identifikation von Gefühl und Empfindung mit inneren Kräften umfasst auch Pflanzen und Tiere und verbindet Natur und Mensch: „Daß wir für diesen innern Zustand der Pflanze oder der noch unter ihr wirkenden Kräfte keinen Namen haben, ist Mangel unserer Sprache“ (101). Ohne ein „dunkles Analogon“ von Empfindungen oder Gefühl jedoch, so Herder, lasse sich auch im Pflanzenreich keine Vorstellung eines „Triebs“ oder einer dem „Ganzen zugegebenen Kraft der Vegetation“ (101) denken. Ein ähnlich gelagertes Beispiel liefern für Herder die „Schalentiere“, Tiere „voll so viel Lebens, als sich in diesem Element, in diesem Gehäuse nur sammlen und organisieren konnte“ (90). Leben ist jedoch nicht nur äußeres Kenn­ zeichen einer wirkenden Kraft, sondern drückt gleichermaßen ein als Empfindung und Gefühl bestimmbares inneres Wirkprinzip aus: „Wir müssen es Gefühl nennen, weil wir kein andres Wort haben; es ist aber Schnecken- oder Meeresgefühl, ein Chaos der dunkelsten Lebenskräfte“ (90f.) Die dunklen Kräfte, die sich in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele noch als ­vorsprachlicher Urgrund darstellen, werden nun in Lebensformen der Natur lokalisiert.19 Herders Grundsatz lautet hierbei: „[W]o Leben sich äußert, ist inneres Leben.“ (168).

v.a. zum Verhältnis von Sulzer und Herder; Hugh Barr Nisbet: Herders anthropologische Anschauungen in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Jürgen ­Barkhoff und Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992, S. 1–23; sowie: Wolfgang Pross: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 2, hg. von Wolfgang Pross, München 1987, S. 1128–1174, v.a. zum Verhältnis von Condillac und Herder. 18  Zur Genese des Analogie-Begriffs im Werk Herders vgl. Hans Dietrich Irmscher: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 64–97. 19  Hans Adler vermerkt zur anthropologischen Bestimmung der dunklen Kräfte: „Herder faßt das Dunkle als Ursprung auf, an den alle menschliche Entwicklung gebunden war, ist und bleiben wird.“ (Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichts-

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Evident gemacht wird dieses innere Leben wiederum durch Empfindung, Selbstgefühl und die Interaktionen von Lebewesen: Selbst die Verrichtungen der Bienen können, wie Herder schreibt, „nicht ohne Sinn und Gefühl geschehen“, wenngleich es „nur Bienensinn, Bienengefühl“ (103) darstelle. Herder sieht die Wirkungen einer Kraft nicht als Problem epistemologischer Vermittlung, nach dem auf wirkende Ursachen nur vermittels der durch sie verursachten Wirkungen geschlossen werden kann. Herders „Analogie der Natur“ zielt auf die unmittelbare, sinnlich gegebene und anthropologisch begründete Evidenz von Gefühl und Empfindung, mit der Herder das Hervorbringen von Wirkungen als Prinzip der Lebendigkeit artikuliert. Vermittels der „Analogie der Natur“ können Wirkungen als Resultat einer handelnden Instanz dargestellt werden, ohne diese in kausaler Ansicht zu begründen. Dies ermöglicht, gänzlich unterschiedliche Wirkrelationen etwa bei Pflanzen, Tieren und Menschen, in ihren Wirkprinzipien zu parallelisieren und als Beleg für einen gemeinsamen, in der Natur auffindbaren Wirkzusammenhang zu sehen. Herders „Analogie der Natur“ lässt sich aus dieser Perspektive auch als narratives Prinzip der „Zuschreibung von agency“20 verstehen, das erlaubt, die Wirkungen von Kräften auf eine aktive, innere Disposition zurückzuführen. Die Korrespondenz von inneren Wirkprinzipien und äußeren Wirkungen betrifft auch den für die Ideen zentralen Bildungsgedanken. Herder bestimmt „Bildung (genesis)“ als „Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar machen sollen.“ (172). Auch die Herausbildung körperlicher Gestalten wird als Resultat innerer Kräfte erklärt. Herder führt die Gestaltung von Körpern auf ihre Organisation zurück, mit dem Herder die korrespondierende innere Form zu äußeren Gestaltungen bezeichnet. Mit dem inneren Formprinzip der Organisation vollziehen die Ideen den Übergang von einem statischen Naturmodell hin zu einem historischen Entwicklungsdenken. Die Wirkungen der als lebendig gedachten Naturkräfte können, wie ich im nächsten Abschnitt darlege, hierbei nicht mehr an einem Modell der Verursachung begriffen werden, das von der Mechanik der Bewegungsvorgänge abgeleitet ist. Herders Konzeption einer in Kräften lebendig und selbsttätig wirkenden Natur äußert sich vielmehr in zeitlich dynamischen Entwicklungsvorgängen, deren kausale Abfolge nicht anhand des Bewegungsvorgangs beschrieben werden kann, sondern auf der narrativen Vermittlung von Ursache und Wirkung als „anschauendem Zusammenhang“ (Blanckenburg) beruht.

philosophie bei J. G. Herder, Hamburg 1990, S. 65). Herders „Kraftbegriff“ sei daher nicht als „Ursache“, sondern nur als eine „vorkausale Tendenz zur Ursache und als solche nur durch den – sinnlich bedingten – Rückschluß von der Wirkung, dem ‚sinnlichen Phänomen‘ auf die Ursache hypothetisch erschließbar.“ (S. 66). 20  Koschorke 2012 (wie Anm. 4), S. 79.

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II. Bewegende und organisierende Kräfte Der Aussage Herders, dass in einer wirkenden Kraft der Natur etwas „in ihrem Inneren“ sein müsse, „das ihren Wirkungen von außen entspricht“, folgt der Nebensatz: „wie es auch Leibniz annahm und uns die ganze Analogie zu lehren scheint“ (101). Der Begriff der Kraft spielt in Leibniz‘ philosophischem System eine zentrale Rolle, die hier kurz umrissen werden soll, weil sich am Bezug Herders auf Leibniz die Differenz von bewegenden und formenden Kräften im Vergleich zur Leibniz-Rezeption der Wolff-Schule verdeutlichen lässt. Kräfte bilden bei Leibniz den Kernbestand einer dynamischen Auffassung der Natur, die dieser einerseits physikalisch an Bewegungsvorgängen unter dem Begriff einer wirkenden Kraft, von Leibniz vis viva genannt, entwickelt.21 Dieser KraftBegriff wird von Leibniz andererseits auch auf den metaphysischen Begriff der Substanz übertragen, wie er sowohl physischen als auch geistigen Körpern als eine vis activa zukommt.22 Dieses entelechische „Vermögen zu handeln“, so führt es Leibniz 1695 in einem kurzen Text zum Substanzbegriff aus, werde im Deutschen als „Kraft“ und im Französischen als „la force“ bezeichnet.23 Leibniz’ doppelte Verwendung des Kraft-Begriffs für physikalische Phänomene wie Bewegungsvorgänge sowie im Sinne eines metaphysisch bestimmten Vermögens gibt diesem einen ambivalenten Status zwischen Physik und Metaphysik, der auch den teilweise synonym zu Kraft verwendeten Begriff der Natur betrifft. In seinem ebenfalls 1695 publizierten Nouveau Systeme de la Nature erklärt Leibniz dass die als Seele oder Natur von Körpern bestimmte „innere Kraft“ [force interne] und die naturgesetzlichen „Veränderungen des Universums“ [changemens de l’univers] einander entsprechen.24 Diese Physik und Metaphysik verbindenden Kräfte nennt Leibniz im Nouveau Systeme auch „forces primitives“, denen eine „ursprüngliche Wirksamkeit“ [une activité ori­ 21  Ausführlich entwickelt Leibniz die physikalische Bestimmung der vis viva in seiner Schrift Specimen Dynamicum aus dem Jahr 1695. Der vis viva wird hier eine vis mortua als nichtaktiviertes Potenzial von Körpern zur Bewegung entgegengestellt. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Specimen Dynamicum, hg. u. übers. von Hans Günter Dosch, Glenn W. Most und Enno Rudolph, Hamburg 1982, zur vis mortuam im Gegensatz zur vis vivam vgl. S. 12f. 22  Zur Entwicklung von Leibniz metaphysischem Kraft-Begriff aus der Physik vgl. das Kapitel Forces in Catherine Wilson: Leibniz’s Metaphysics. A Historical and Comparative Study, Princeton 1990, S. 138–144. 23  Gottfried Wilhelm Leibniz: De Primae Philosophiae emendatione, et de notione substantiae [Über die Verbesserung der Ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz], in: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften. Bd. 1, hg. u. übers. von Hans Heinz Holz, Frankfurt/M. 1996, S. 194–201, hier S. 199. 24  Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveau systeme de la nature et de communication des substances aussi bien que de l’union qu’il y a entre l’âme et le corps, in: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften. Bd. 1, hg. u. übers. von Hans Heinz Holz, Frankfurt/M. 1996, S. 201–227, hier S. 221.

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ginale] zugeschrieben wird.25 Leibniz Konzeption einer dynamischen Natur drückt sich daher einerseits naturgesetzlich in einer physikalischen Bewegungslehre, andererseits metaphysisch als die aktive Verwirklichung innerer Dispositionen aus, die Leibniz als die Natur oder die Seele von Körpern be­­ zeichnet. Die von Herder geforderte Übertragbarkeit von inneren und äußeren Wirkungen im Begriff der Kraft schließt an die Korrespondenz von physikalischen und metaphysischen Kräften bei Leibniz an. Herder wählt jedoch nicht die Physik der Bewegungsvorgänge als Ausgangspunkt, mit der nach Leibniz beispielsweise Christian Wolff und Johann Christoph Gottsched Physik und Metaphysik aufeinander beziehen. Wolff und Gottsched bestimmen den Begriff der Natur aus dem Vermögen der Körper, Träger einer „bewegenden Kraft“ zu sein. In Wolffs 1723 publizierter Schrift Vernünfftige Gedanken von den Würckun­ gen der Natur wird Kraft als physikalische Bewegung definiert. Wolff erklärt, dass durch „Bewegung alle Veränderungen in dem Cörper geschehen“ und daher „in allem was cörperlich ist, eine bewegende Krafft zuzugeben“26 sei. Wolff folgert weiter: „[E]ben diese bewegende Kraft ist dasjenige, warum wir denen Cörpern eine Natur zueignen. Derowegen wenn wir sagen, daß etwas der Natur eines Cörpers gemäß sey; so verstehen wir dadurch nichts anders, als daß es aus den Bewegungen erfolgen können, die ein Cörper haben kann“27. In Herders „Analogie der Natur“ kann Kraft als inneres Vermögen von Körpern nicht mehr anhand des Bewegungsvorgangs beschrieben werden. Die inneren 25  Leibniz 1996 (wie Anm. 24), S. 221. 26  Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Würckungen der Natur, Halle 1723, S. 27. 27  Wolff 1723 (wie Anm. 26), S. 27f. Zu Wolffs Physik vgl. Simone De Angelis: Physik, in: Robert Theis und Alexander Aichele (Hg.): Handbuch Christian Wolff, Wiesbaden 2018, S. 335–356. Die auf Wolff aufbauende Schulphilosophie unterscheidet zwischen körperlichen und geistigen Kräften. Den Kräften der Seele widmet sich Wolff in zwei epochemachenden Lehrbüchern (der Psychologia empirica, und der Psychologia rationalis). In Gottscheds 1733 publizierter und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrfach wiederaufgelegter Schrift Erste Gründe der gesamten Weltweisheit bestimmt dieser im II. Hauptstück „Vom Wesen und Natur der Körper“ zunächst Bewegung mit Rückgriff auf Leibniz’ physikalisches Konzept der vis viva als „Quelle der Veränderungen in den Körpern“ (Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit. Erster, Theoretischer Theil, Leipzig 1733, S. 178) und erklärt, dass „jeder in Bewegung stehende[] Körper eine wirkende Kraft“ (S. 180) habe. Diese wirkende Kraft führt Gottsched analog zu Wolff auf die jeweilige Natur der Körper zurück und bezeichnet die „die wirkende Kraft in den Körpern“ als die „Natur derselben“ (S. 185). Gottsched folgert zusammenfassend: „So ist die wirkende Kraft in der ganzen Welt ausgebreitet. Diese ganze Kraft nun zusammen genommen, nennet man schlechtweg die Natur, auch wohl die ganze Natur, imgleichen die Natur aller Dinge.“ (S. 186).

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Wirkprinzipien von Körpern, die anthropologisch als von Gefühl begleitete Zustände gefasst sind, werden vielmehr an einem Prinzip der Form, an Gestaltungs- und Bildungsprozessen physischer Körper, ersichtlich. Herder verwendet zur Charakterisierung der inneren Gestaltung und Bildung von Körpern mit dem Begriff der Organisation einen weiteren von Leibniz entlehnten Begriff und nicht mehr das Vokabular der Bewegung, wie es bei Wolff zur Bestimmung der Natur von Körpern verwendet wird.28 Die Bedeutung des Begriffs der Organisation für Herders Vorstellung lebendig wirkender Naturkräfte lässt sich insbesondere im Dritten Buch im Kapitel zu den „Trieben der Tiere“ nachverfolgen. Herder zitiert hier Hermann Samuel Reimarus’ einflussreiche Schrift Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, der ab der zweiten Auflage von 1762 ein „Anhang von der verschiedenen Determination der Naturkräfte“ beigegeben wird. Reimarus’ Über die Triebe der Thiere widmet sich der Frage, wie Tiere zu gänzlich unterschiedlichen Fertigkeiten befähigt werden – z. B. die Spinne zum Bau eines Netzes oder die Greifvögel zur Jagd. Für Reimarus sind die Kunsttriebe der Tiere in ihrer Natur begründet: „Es lassen sich den Thieren keine neue und andere [sic] Triebe einflößen, als ihnen die Natur gegeben. Denn die Triebe bestehen in einem natürlichen Bemühen zu gewissen Handlungen und also in der Wirksamkeit der Naturkräfte.“29 Wie Reimarus im Anhang der Schrift „Zur Determination der Naturkräfte“ begründet, kommt den Tieren damit keine eigene Entwicklungs- oder Lern­ fähigkeit zu. Vielmehr sei „alles was zu einer einzelnen Handlung erfodert“ werde, „durch die eingepflanzten Regeln bestimmt“30. Herder würdigt Reimarus’ Schrift in den Ideen ausdrücklich und zustimmend. Doch wie kann Herder Reimarus’ scheinbar gegenteilige Position einer vollständig determinierten Naturkraft mit der Konzeption einer „lebendigen Kraft der Natur“ zusammenbringen? Herders Lösung liegt im Begriff der Organisation. Herder greift in Reimarus’ Argument nur an einer entscheidenden Stelle ein und erklärt, es liege in der „Organisation des Geschöpfs“ die „gewisseste 28  Zu Leibniz’ Begriff der „organisation“ als französischer Übersetzung des lateinischen „organismus“ vgl. Tobias Cheung: Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt/M. 2000, S. 40–54; Tobias Cheung: What is an Organism? On the Occurence of a New Term and Its Conceptual Transformations 1680­–1850, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32 (2010), Heft 2/3, S. 155–194. 29  Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, Hamburg 1762, S. 184. 30  Herrmann Samuel Reimarus: Anhang von der verschiedenen Determination der Naturkräfte, in: ders.: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, Hamburg 1762, S. 26.

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Richtung, die vollkommenste Determination, die die Natur ihrem Werk eindrücken konnte“ (100). Der Begriff der Organisation zielt nicht auf die äußere Gestalt, sondern auf die in der Gestaltung ermöglichten Fähigkeiten, die Herder als das „gesunde, mächtige Zusammenstimmen“ im Gebrauch „mehrerer Werkzeuge und Glieder“ zu „einem Zweck“ (104) beschreibt,31 und damit auf die praktische Befähigung zu Handlungen. Die einem organisierten Körper innewohnende Wirkungsweise „organischer Kräfte“ äußert sich in lebendigen Tätigkeiten, Handlungen und Hervorbringungen, die die Natur dieses Körpers definieren. Die anthropomorphe, in Analogien beschreibbare und als Natur wirkende „organische Kraft“ ist in den Ideen nicht mehr entlang der Physik der Bewegungsvorgänge und ihrer Kausalitätsprinzipien konzipiert. Kräfte drücken sich vielmehr in der Befähigung organisierter Körper zu spezifischen Handlungen aus. Das in der körperlichen Organisation gefasste Handlungsvermögen ist Resultat natürlicher Entwicklungs- und Bildungsvorgänge und umschließt dessen zukünftige Weiterentwicklung, Adaption und Veränderung. Herders genetisches Modell natürlicher Bildungsprozesse beruht, wie ich im Folgenden zeige, auf einer in zeitlicher Hinsicht dynamischen Formkonzeption, die Herder im Rückgriff auf narrative Verfahren zu plausibilieren versucht.

III. Form und Zeit Das im Begriff der Organisation angelegte Bildungs- und Entwicklungsmodell thematisiert Herder im Kapitel zum „Zusammenhang der Kräfte und Formen“ (175) im Fünften Buch der Ideen. Wie Herder schreibt, verweist die „innere Gestaltung“ von Lebewesen auf ihre „innere organische Kraft“ (176) und ihr „inneres Leben“ (168). Das unmittelbare Verhältnis von lebendigen, auf Fähigkeiten beruhenden Kräften und der Entwicklung von Formen erlaubt Herder, die gesamte Natur „als eine aufsteigende Reihe von Kräften im unsichtbaren Reich der Schöpfung“ zu begreifen, die „in ihrem sichtbaren Reich“ mit der Bildung von „organisierten Formen“ (168) korrespondiere. Herder ordnet die

31  Mit dem Begriff der Organisation scheint Herder auf die Vorstellung des Organismus als in sich autonome, jedoch in einem Funktionszusammenhang stehende Wechselwirkung einzelner Teile zurückzugreifen. Anklänge an Organismus-Vorstellungen zeigen sich etwa, wenn Herder schreibt, jeder „Teil mit seiner lebendigen Kraft“ tue das „Seine“, um in der „ganzen Erscheinung das Resultat von Kräften sichtbar“ (100) zu machen. Wie Stephan Metzger argumentiert, bildet das Paradigma des Organismus als einer zweckmäßigen Einheit von Kräften, die sich gemäß dem Prinzip der Vektoraddition in einzelne Wirkungen zerlegen und wieder addieren lassen, den systematischen Kern von Herders Ideen. Für Metzger besetzt ­Herder mit dem Begriff des Organismus den Systembegriff physikalischen Denkens, macht es jedoch durch eine konjekturale Methode zu einem offenen System. Vgl. Stefan Metzger: Die Konjunktur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert, München 2002, S. 207f.

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Gestaltungen und Bildungen der Erde in eine Stufenfolge vom einfachen bis zum komplexen Organismus, von Steinen über Kristalle und Pflanzen bis zu Tier und Mensch. Der Mensch bilde, wie Herder im Zweiten Buch ausführt, in systematischer Hinsicht als „Mittelgeschöpf“ die „Hauptform“, um die sich „die Züge aller Gattungen“ als „Inbegriff sammeln“ (74). Die Stufenfolge organisierter Lebewesen meint hierbei nicht nur auf die Fähigkeit, die in der jeweiligen Organisation angelegten Fähigkeiten zu gebrauchen. Stattdessen liegt im Gebrauch der Kräfte für Herder auch die Möglichkeit, diese Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Die auf den Menschen zulaufende, aufsteigende Reihe organisierter Formen beschreibt kein statisches Ordnungs-, sondern ein dynamisches Entwicklungsmodell. Die Lebensformen der Erde stehen untereinander in einem Verhältnis der „Fortbildung“ (105) und „Fortschreitung“ (175). Herder formuliert: „Nichts in ihr [der Natur, AR] steht still: alles strebt und rückt weiter“ (176). Jede organisierte Form strebt danach, sich zur nächsten höheren Form weiterzuentwickeln und ist daher gleichzeitig als Gewordene wie Werdende zu begreifen. Hierin liegt der geschichtliche Bezug des „Zusammenhangs der Kräfte und der Formen“: „Neue Gestalten erzeugen sich nicht mehr; es wandeln und verwandeln sich aber durch dieselbe [die Natur, AR] untere Kräfte, und was Organisation heißt, ist eigentlich nur eine Leiterin derselben zu einer höheren Bildung“ (176). Organisation und Kraft sind in ihrer Reichweite nicht deckungsgleich: Das in den wirkenden Kräften ersichtlich werdende Vermögen, zu handeln, ist weiter gefasst als die spezifischen Fähigkeiten, die aus der Organisation einer Lebensform entstehen. Während die Organisation einen aktuellen Zustand beschreibt, umschließt Kraft in einem spezifischen Zustand der Organisation angelegte, aber noch nicht realisierte Vermögen und Möglichkeiten. Um diese auf die Zukunft zielende Dynamik der „lebendigen Kraft der Natur“ zu begründen, führt Herder eine spezifische Kraft ein, die die Gesetze der „Fortschreitung“ im „Zusammenhang der Kräfte und Formen“ (175) erklären soll. Diese Kraft, von Herder „genetische Kraft“ genannt, umfasst nicht nur spezifische Befähigungen organisierter Lebensformen, sondern das Vermögen zur Adap­ tion und Verwandlung dieser Fähigkeiten.32

32  Im der „genetischen Kraft“ gewidmeten Kapitel des Siebten Buchs nutzt Herder auch den Begriff der Lebenskraft zur Charakterisierung der genetischen Kraft als formerzeugende Kraft und als Potenzial, diese Form erneut zu verändern. Herders „Lebenskraft“ bezeichnet den „Grund meiner Naturkräfte“ und macht ersichtlich, „wie alle Kräfte der Natur in Verbindung stehen“ (273). Es ist wiederum das anthropologisch bestimmte Selbstgefühl der Kraft, das ihre Wirklichkeit als „Fakta der Natur“ garantiert: „[S]o gewiß empfinde und sehe ich, daß ich lebe, wenn ich gleich auch nie weiß, was Lebenskraft sei.“ (273).

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Im Fünften Buch der Ideen verweist Herder auf Konzept der Epigenesis zur Bestimmung der Wirkungen der genetischen Kraft.33 Die der Epigenesis-Theorie zu Grunde gelegte Kraft ist, wie es der Physiologe und Begründer der Epigenesis-Theorie Caspar Friedrich Wolff als Kennzeichnung seiner in der Theorie der Generation beschriebenen vis essentialis darlegt, eine „formirende Kraft“34. Auch Herder erklärt die genetische Kraft als „Wirksamkeit“, die dem „toten Chaos der Materie lebendige Form zu geben“ (272) zu geben vermag. Herders Wendung der „lebendigen Form“ legt den Fokus nicht nur auf die Ausbildung physischer Gestalten, sondern auf ihre beständige Aktivität. Die genetische Kraft erschöpft sich nicht in der Bildung eines organisierten Lebewesens, sondern fährt fort, sich „in ihm tätig zu offenbaren“ (272). Als „lebendige Form“ ist die genetische Kraft nicht identisch mit der Organisation der Lebewesen, sondern bildet ein zeitlich gefasstes Vermögen ab, diese zu adaptieren und zu verändern. Das Entwicklungsmodell der Ideen speist sich nicht aus einer kausalen und temporal instantanen Umsetzung von Ursache und Wirkung, wie es anhand der Physik der Bewegungskräfte gefasst werden kann. Herder verstehet jede organisierte Form in den Ideen als hervorgebracht wie auch als zu weiteren Adaptionen befähigt. Die als geschichtliche Folge artikulierte Entfaltung der jeweiligen Vermögen und Fähigkeiten resultiert im „Zusammenhang der Kräfte und Formen“ (175) als eine in ihrem kausalen Zusammenhang durch narrative Prinzipien hervorgebrachte Ordnungsstruktur. Auf der Ebene der narrativen Verfahren erlaubt Herders Kraft-Begriff, eine Vielzahl einzelner Ereignisse und heterogener Entwicklungsschritte han­deln­ den Kräften als Akteuren zuzuschreiben und in dieser Zuschreibung zu vereinheitlichen. Indem Herders „organische Kräfte“ einzelne Ereignisse handelnd hervorbringen, entsteht eine narrative Logik der Verknüpfung dieser Ereignisse als „anschauende[r] Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen“, wie ihn Blanckenburg für die Form des Romans beschrieben hat. Dieser „Zusammenhang“ beruht auf dem temporalen, durch Akteure und Akteurinnen hervorgebrachten „Wirklichwerden“ einzelner Geschehnisse, als deren Effekt die erzählte

33  Zum Kontext dieser Formulierung in Bezug auf Kants frühes Epigenesis-Modell vgl. John Zammito: Epigenesis: Concept and Metaphor in Herder’s Ideen, in: Regine Otte und John ­Zammito (Hg.): Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, Heidelberg 2001, S. 129–144. Zur EpigenesisDebatte vgl. Helmut Müller-Sievers: Self-Generation. Biology, Philosophy, and Literature around 1800, Stanford 1997, S. 26–47; Janina Wellmann: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760–1830, Göttingen 2010, S. 107–136. 34  Caspar Friedrich Wolff: Theorie von der Generation, in zwo Abhandlungen erklärt und bewiesen, Berlin 1764, S. 30.

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Geschichte als geordnete kausale „Verbindung von Ursache und Wirkung“35 erscheint. Im Vorwort der Ideen versucht Herder, den Eindruck einer selbsttätig handelnden Natur, wie er sich durch die Darstellungsstruktur der Ideen durchaus ergibt, abzuwehren und erklärt scheinbar unmissverständlich: „Die Natur ist kein selbstständiges Wesen; sondern Gott ist alles in seinen Werken“ (17). In Herders narrativer Modellierung sind die Handlungen und Hervorbringungen der lebendigen Kräfte der Natur zumindest in der „Zuschreibung von agency“36 durchaus als selbstständig zu bewerten.37 Das aus Blumenbachs BildungstriebSchrift entlehnte Beispiel eines Polypen, dem ein Arm abgeschnitten wird, worauf dieser wieder nachwächst, stellt Herder etwa auf folgende Weise dar: „Er treibt Glieder, solange seine Kraft es vermag, und das Werkzeug der Kunst seine Natur nicht ganz zerstörte. An einigen Teilen, in einigen Richtungen, wenn die Teile zu klein, wenn seine Kräfte zu matt werden, kann ers nicht mehr“ (90). Die Kraft des Polypen ist in diesem Beispiel als „seine Kraft“ bezeichnet, über die „er“ im Modus eines ihm eigenen Vermögens verfügt. Die dem Polypen zukommende Aktivierung von Kräften nutzt Herder aufbauend auf Blumenbach als Argument gegen die Vorstellung, dass „in jedem Punkt der präformierte Keim bereit läge“ (90) – eine Vorstellung, die sich nur nach dem Modell mechanischer Kausalität begründen lässt. Die „organischen Kräfte“ der Natur verknüpfen in den Ideen nicht nur gänzlich unterschiedliche Bildungsvorgänge innerhalb der Natur, sondern ermöglichen auch den Übergang von der Natur- zur Menschheitsgeschichte, in deren Kulturentwicklung sich die Wirkprinzipien lebendiger Naturkräfte fortsetzen. Paradoxerweise treten gerade im menschheitsgeschichtlichen Teil die darstellerischen Probleme von Herders Modellierung lebendiger Kräfte als narrative Akteure zu Tage: Die an der Vorstellung handelnder Kräfte vollzogene Narrativierung der Natur, mit der Herder heterogene Entwicklungen in einen einheitlichen kausalen Zusammenhang verbindet, führt in der Beschreibung menschlicher Akteure zu konzeptuellen und darstellerischen Schwierigkeiten.

35  Blanckenburg 1965 (wie Anm. 6), S. 284, S. 359 und S. 311. 36  Koschorke 2012 (wie Anm. 4), S. 79. 37  Tritt die Frage nach der „göttlichen Macht“ (175) in den Ideen auf, verweist Herder auf das Prinzip der Analogie: „Doch die Metaphysik bleibe bei Seite; wir wollen Analogien der Natur betrachten.“ (136).

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IV. Handelnde Kräfte zwischen Natur- und Kulturgeschichte Herder vollzieht den Übergang von der Naturgeschichte des Menschen zur Menschheitsgeschichte mit dem Achten Buch der Ideen. Von hier an wird der Stufengang der Naturgestaltungen, der die Ideen bisher bestimmte, als kultureller Bildungsvorgang in der Menschheitsgeschichte weitergeführt. Auch diese Entwicklung ist durch ein Ziel bestimmt: Wie die Naturgeschichte auf den Menschen als die höchste Stufe eines organisierten Wesens zuläuft, folgt die Geschichte des Menschen der Ausbildung der „Humanität“ als „System geistiger Kräfte“ (180). Herder verdeutlicht die Entfaltung der Vernunft in der Menschheitsgeschichte zunächst an der Erziehung des Individuums. Aufbauend auf den „Trieben des Kindes“, das Gesehene und Gehörte „mit wunderbar reger Aufmerksamkeit und innerer Lebenskraft“ (337) aufzunehmen, bestimmt Herder die menschliche Vernunft als ein „Aggregat von Bemerkungen und Übungen“ und als „Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die nach gegebnen fremdem Vorbildern, der Erzogene zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet“ (337). Weil die Vernunft als höchste Form natürlichen Organisation auftritt und alle vorherigen Formen einschließt, ist der Mensch zur Erkenntnis seiner eigenen Geschichte befähigt. Der Genese natürlicher Formen und des Menschen aus der Natur folgt nun „diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht“ und die Herder als „von der Bearbeitung des Ackers Kultur, oder vom Bilde des Lichts Aufklärung“ (338) bezeichnet wissen möchte.38 Nach dem Vorbild der individuellen „Geschichte des Menschen“ soll auch die aus einer „Kette von Individuen“ (338) gebildete Menschheitsgeschichte erzählbar werden. Aufbauend auf dem durch handelnde Naturkräfte hervorgebrachten Entwicklungsmodell der Natur postuliert Herder, wie eingangs zitiert, auch für den Verlauf der Menschheitsgeschichte: „Die Zeiten ketten sich, Kraft ihrer Natur, an einander“ (656). Herders Herleitung der Entwicklungsprinzipien der Menschheitsgeschichte als Modell einer natürlichen „Fortschreitung“ 38  Der universale Anspruch von Herders Kultur- und Humanitätspostulat wurde insbesondere von der älteren Herder-Forschung zum ideellen Kern von Herders Geschichtsphilosophie erklärt. Aufgearbeitet (mit weiterhin positiver Würdigung) ist die Problematik des Humanitätspostulats in: Sven-Aage Jorgensen: Fortschritt und Glückseligkeit in Herders Ideen, in: Jan Watrak und Rolf Bräuer (Hg): Herders Idee der Humanität. Grundkategorie menschlichen Denkens, Dichtens und Seins, Szcecin 1995, S. 131–148; Ulrike Zeuch: Herders Begriff der Humanität, in: Regine Otto und John Zammito (Hg.): Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, Heidelberg 2001, S. 187–198; Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg 2005, hierin auch ein weiterer Forschungsüberblick zur Humanitätsfrage (S. 18–26).

Handelnde Kräfte

führt jedoch im menschheitsgeschichtlichen Teil der Ideen zu darstellerischen Problemen und lässt sich nicht vorbehaltlos auf die Kulturgeschichte als „zweite Genesis“ (338) des Menschen übertragen. Der Übergang von der Natur- zur Menschheitsgeschichte erfordert es, das Vokabular der lebendigen Naturkräfte um spezifische, nur auf den Menschen und seine kulturellen Entwicklungen bezogene Kräfte zu erweitern. Im Neunten Buch nutzt Herder hierfür den Begriff der Tradition: „Tradition und organische Kräfte“ werden zu gleichrangigen „Prinzipien“ einer in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ gegründeten „Philosophie seiner Geschichte“ (339) erklärt. Im Zwölften Buch kommentiert Herder: „Lebendige Menschenkräfte sind die Triebfeder der Menschengeschichte.“ (508). Die lebendigen Menschenkräfte variieren die lebendigen Kräfte der Natur, nach deren Vorbild Herder auch die Hervorbringung kultureller Traditionen darstellt. Der die Bücher 11 bis 15 umschließende Dritte Teil der Ideen, der geschichtlich die Zeit von der chinesischen Staatenbildung bis zum Verfall Roms umfasst, folgt dem Schema der „selbstwirksamen Natur“ (633), die Herder im Fünfzehnten Buch in ihren „Naturgesetzen“ zu systematisieren sucht. Hier findet sich zunächst eine der Dynamik geschichtlicher Verläufe angepasste Terminologie von „zerstörenden“ und „erhaltenden Kräften“, die in der Geschichte zu einem „höheren Maximum zusammen-wirkender Kräfte“ (649) konvergieren. Die Geschichte der Menschheit beruht für Herder auf der beständigen Aktivität wirkender Kräfte, aus deren Gemeinsamkeit heraus der Mensch als das „vielfach-künstlichste Geschöpf“ (314) und als „divergierendes Geschlecht“ (315) zum Darstellungsziel der Ideen erklärt werden kann. Herders Modell einer „klimatischen Diversität der vielartigen Menschen“ (339) kennt jedoch nur ein Wirkprinzip natürlicher Kräfte, welches der Menschheitsgeschichte zu Grunde gelegt wird.39 Herders Geschichte der Menschheit beschreibt nicht die Handlungen einzelner, durch spezifische historische Momente unterschiedener Akteurinnen und Akteure, sondern entfaltet ein unterschiedenen

39  Der Begriff des Klimas beschreibt in den Ideen die Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung: „Klima“ definiert Herder als den „Inbegriff von Kräften und Einflüssen, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt, und der allen Lebendigen in einem in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet“ (269). Herder erklärt weiterhin, dass der „Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es [das Klima, AR] durch Kunst ändere“ (269). Hanna Hamel hat gezeigt, wie Herder in seiner Klimatheorie einer „beweglichen gemäßigten Zone“, – die sowohl die menschliche Fähigkeit zur „Akklimatisierung und Kultivierung“ als auch die „Gestaltbarkeit der Natur“ durch den Menschen beinhaltet –, die Wechselwirkung zwischen Menschen und ihren Umwelten als „gemeinsame Geschichte von Kultur und Natur“ beschreibt. Vgl. Hanna Hamel: Gemäßigte Temperatur. J. G. Herders Klimatologie der Mitte, in: Urs Büttner und Ines Theilen (Hg.): Phänomene der Atmosphäre. Ein Kompendium Literarischer Meteorologie, Stuttgart 2017, S. 421–432, hier S. 428.

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Geschichtsmomenten zu Grunde liegendes Handlungsprinzip, das Herder in der „Naturgeschichte“ der Menschheit auffindet. Diese Ausweitung der „Analogie der Natur“ auf die Menschheitsgeschichte führt zu einer darstellerischen, den argumentativen Verlauf der Ideen prägenden Konsequenz: Durch die Herleitung kultureller Bildungs- und Entwicklungsprozesse aus den Wirkprinzipien organischer Kräfte verliert sich die spezifische Handlungsfähigkeit unterschiedlicher geschichtlicher Akteurinnen und Akteure. Für das Gesamtprojekt einer Menschheitsgeschichte folgt hieraus, dass jede spezifische Wirkung nicht einzelnen Akteurinnen oder Akteuren zugerechnet werden, sondern als Handlungen natürlicher Kräfte betrachtet werden können, die nach einem einheitlichen Wirkprinzip verlaufen. Die Darstellung geschichtlicher Prozesse als Wirkungen natürlicher Kräfte ent­ differenziert die einzelnen Handlungsträger und die jeweiligen historischen Zusammenhänge. Die Angleichung geschichtlicher Prozesse in einem gemeinsamen Wirkprinzip prägt auch die in den Ideen tragenden Zeitmodelle: Zum einen die präsentisch sich ereignende Handlung als Aktivität der Kraft, zum anderen das „Naturgesetz“, aus dem sich einzelne Wirkungen im idealen Zeitlauf einer beständigen Gegenwart verbinden. Weil alle spezifischen Wirkungen geschichtlicher Handlungen als durch die Kraft ‚der Natur‘ oder ‚der Menschheit‘ veranlasst gesehen werden können, ist Herders Menschheitsgeschichte strukturell durch ein „intensivierende[s] Moment des Repetitiven“40 gekennzeichnet, wie dies Cordula Braun in stilistischer Hinsicht für Herders Prosa in den Ideen beschrieben hat. Strukturell wiederholen sich nicht die einzelnen Vorgänge, aber das jeweilige Wirkgesetz. Die Modellierung geschichtlicher Kräfte als natürliche Prozesse nivelliert den zeitlichen Gegensatz zwischen momentaner Wirkung und ewiger Gesetzmäßigkeit. Das Verhältnis von natürlicher und geschichtlicher Zeitlichkeit wird von Herder an einer Stelle der Ideen explizit aufgegriffen. Kurz nach der Beschreibung der „lebendigen Menschenkräfte“ als Motor der Geschichte stellt Herder einen Vergleich zwischen „Naturforscher“ und „Geschichtsschreiber“ hinsichtlich den Darstellungsprinzipien der Geschichtsschreibung an. Nach dem Vorbild des „Naturforschers“ müsse auch der „Geschichtsschreiber“ „unparteiisch 40  Cordula Braun: Prosa der Verbindung. Zum Status geschichtsphilosophischer Überlegungen Herders, in: Jan Watrak und Rolf Bräuer (Hg.): Herders Idee der Humanität. Grundkategorie menschlichen Denkens, Dichtens und Seins, Szcecin 1995, S. 57–72, hier S. 63. Wilhelm Schmidt-Biggemann erklärt die „Zeit der Naturgeschichte“ in Herders Ideen ebenfalls für „zirkulär“, begründet dies jedoch gerade aus ihrem Kontrast zu der sowohl „heilsgeschichtlich“ als auch „profangeschichtlich“ argumentierenden Geschichtsphilosophie der Ideen. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Rhetorik und Topik der Geschichtsphilosophie am Beispiel Herders, in: Ralf Simon (Hg.): Herders Rhetorik im Kontext des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 129–144.

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sehen und leidenschaftslos richten“ und nicht „irgendeinen Stamm der Völker zum Liebling annehme[n]“ (509f.).41 Doch nicht auf ihre Unparteilichkeit, sondern auch auf die Behandlung der jeweiligen Zeitphänomene erstreckt sich der Vergleich. Herder schreibt: „Nun hat die Natur die ganze Erde ihren Menschenkindern gegeben und auf solcher hervorkeimen lassen, was nach Ort, Zeit und Kraft irgend nur hervorkeimen konnte. Alles, was sein kann ist: alles was werden kann wird; wo nicht heut, so morgen. Das Jahr der Natur ist lang: die Blüte ihrer Pflanzen so vielfach, als diese Gewächse selbst sind und die Elemente, die sie nähren.“ (510) Dieses unbestimmte „lang“ währende „Jahr der Natur“ beschreibt auch die zeitliche Gestalt der in den Ideen dargestellten Geschichte der Menschheit. Es bildet einen Zeitraum, in dem, was noch nicht geworden ist, noch werden wird, weil sich in der Abfolge der Geschichte eine als Natur gekennzeichnete Gesetzlichkeit von Kraft und Wirkung wiederholt. Herders Vergleich zwischen „Geschichtsschreiber“ und „Naturforscher“ zeigt, wie Herder sowohl natürliche und geschichtliche Bildungs- und Entwicklungsvorgänge als Effekte „organischer Kräfte“ und ihrer Wirkungen konzipiert. Die Übertragung der Wirkgesetze natürlicher Kräfte auf die Menschheitsgeschichte führt jedoch zu darstellerischen Problemen, die im menschheitsgeschichtlichen Teil der Ideen auf zwei Arten zu Tage treten: Zum einen erweist sich Herders Konzeption natürlicher Entwicklungsprozesse als ein Modell, das bereits auf die Darstellung kultureller Prozesse hin konturiert ist. Die Wirkungen natürlicher Kräfte und das ihnen inhärente Prinzip genetischer „Fortschreitung“ erlaubt Herder, Natur und Menschheit durch ein gemeinsames Wirkprinzip zu verbinden, bei dem in den Verläufen der Naturgeschichte die Menschheitsentwicklung vorgebildet und vorgeformt erscheint. Die Kräfte der Natur sollen als Vorgeschichte eine genealogische Perspektive auf die Entwicklung der Menschheit liefern, sind aber als selbsttätig wirkende Kräfte bereits auf ihre Übertragbarkeit hin auf die Menschheitsgeschichte angelegt. Zum anderen gleicht Herder durch seinen Fokus auf Kräfte als Handlungsträger historisch unterschiedene Akteure und Situationen einander an. Herders Narrativierung der Natur ermöglicht zwar den universellen Ansatz der Menschheitsgeschichte und stellt diese als einheitliches Entwicklungsprinzip

41  Herder nutzt die zuvor eingeführte, naturalisierende Beschreibung von Kulturen als „Gewächse“. Herder spricht von der „menschlichen Nationalpflanze“, wenn man „die Erde als einen Garten ansehen könnte“ (509). Die Menschheit sei jedoch „keine festgewurzelte Pflanze“, sondern von Ortsveränderungen und „durch harte Zufälle des Hungers, Erdbebens, Krieges“ (509) geprägt.

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natürlicher Kräfte dar, nivelliert jedoch die realen Differenzen zwischen geschichtlichen Akteuren und historischen Momenten in dem Maße, wie es sie als Teil einer Geschichte erzählbar macht. Immanuel Kant hat in seiner 1784 publizierten Schrift Idee zu einer allge­ meinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht angemerkt, dass ein „philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur“ darzustellen, der auf „Vereinigung in der Menschengattung abziele“, zwar als „möglich“ und sogar „für diese Naturabsicht beförderlich“ angesehen werden müsse. Als Resultat könne jedoch nur „ein Roman zu Stande kommen“42. Kant kennzeichnet in diesen deutlich auf den ersten Teil der Ideen bezogenen Sätzen Herders Werk als bloße Erfindung. Stellt man jedoch nicht die Wahrheitsfähigkeit, sondern die darstellerischen und narrativen Verfahren von Herders Geschichtsphilosophie ins Zentrum, dann eröffnet Kants Wertung eine weitergehende Perspektive auf die Ideen: Mit der Konzeption lebendig und selbsttätig wirkender Naturkräfte schafft Herder einen narrativen Akteur, aus dessen Handlungen eine Ordnungsstruktur resultiert, die sich in ihrer temporalen und kausalen Verknüpfung von Ereignissen und der Logik ihrer genetischen „Fortschreitung“ als narrativ beschreiben lässt. Versteht man die Vorstellung handelnder Kräfte in den ­Ideen durch ihre narrative Funktion der Verbindung und Verkettung von Ereignissen, zielt Herders Darstellung natürlicher Entwicklungsvorgänge durchaus auf einen Bildungsroman der Natur.

42  Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders.: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 8, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923, S. 29. Kant hatte 1785 den ersten und zweiten Teil von Herders Ideen kritisch rezensiert.

Malika Maskarinec

Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900

Zu den merkwürdigeren Behauptungen der Theorien der Einfühlungsästhetik des späten 19. Jahrhunderts, denen die Verbreitung des deutschen Neologismus ,Einfühlung‘ und dessen englische Übersetzung ‚empathy‘ zu verdanken sind, gehört, dass wir fähig sind, uns nicht nur in figurative Darstellungen, sondern ebenso in geometrische und architektonische Grundformen einzufühlen.1 Dass wir um Laokoons Söhne fürchten und bangen, wenn wir ihre Bemühungen im Kampf gegen die Schlange erblicken, ist beinahe ein Gemeinplatz in der Ästhetik der Skulptur. Aber ist es möglich, wie es von etlichen Vertreter*innen der Einfühlungsästhetik geltend gemacht wird, nicht-figurative Formen als expressiv zu erleben? Können kinetische und emotionale Erfahrungen in einer abstrakten Form wiedererkannt werden? Und was würde es bedeuten, mit einem architektonischen Element wie der Säule oder einer einfachen geometrischen Form wie der Linie zu sympathisieren? Wenn die Einfühlungsästhetik darlegt, dass es möglich ist, für eine Säule oder eine Linie Empathie zu empfinden, mag das heute wie eine falsche Begriffsverwendung klingen. Die Behauptung, dass die Betrachterin einer abstrakten geometrischen Form sich darin einfühlen kann, ist umso bemerkenswerter angesichts der Konjunktur, die der Begriff der Einfühlung in heutigen Diskursen hat und unter anderem in Auseinandersetzungen über Erziehung oder in einer Politik der Einfühlung Anwendung findet. Zu dieser Konjunktur gehört ein wachsendes wissenschaftliches Interesse am Begriff über die Disziplinen hinweg: der Versuch der Einfühlungsästhetik um 1900, Empathie als Gegenstand der empirischen Forschung zu etablieren, wird hier eifrig weitergeführt. Den verschiedenen Ausprägungen des Diskurses ist gemein, dass Empathie fast ausschließlich

1  Die Wortprägung im Deutschen wird gemeinhin Robert Vischers Dissertation zugeschrieben, die unter dem Titel Das optische Formgefühl 1872 veröffentlicht wurde. Der amerikanische Psychologe Edward Bradford Titchener übersetze 1909 als Erster ‚Einfühlung‘ mit ‚empathy‘. Edward Bradford Titchener: Lectures on the Experimental Psychology of the Thought-Processes, New York 1909, S. 21.

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dazu verwendet wird, das Nachempfinden der Emotionen eines anderen Menschen zu bezeichnen. Diese anthropozentrische Auffassung geriet zwar unter Druck, als die tierpsychologische Forschung zeigte, dass eine Vielzahl anderer Säugetierarten ebenfalls Empathie für ihresgleichen empfindet. Aber auch hier wird Empathie charakterisiert als Vermögen, die Gefühle wesensähnlicher Geschöpfe nachzuempfinden.2 Die Einfühlungsästhetik hingegen prägte den Begriff der Einfühlung, um zu beschreiben, wie es möglich wird, sich in Formen im Raum hineinzuversetzen, die uns radikal unähnlich sind: Gegenstände, die keine Gefühle empfinden oder ausdrücken können, weil sie selber leblos sind. Empathie, wie sie um 1900 konzipiert wird, versucht eine Brücke zu schlagen zwischen Personen und einer Welt von Gegenständen, die sich grundsätzlich von uns unterscheiden.3 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese konzeptuelle Brücke auf einer umfassenden Vorstellung von Kraft beruht. Um 1900 untermauert die Vorstellung von mechanischen und deswegen universalen Kräften eine Beziehung der Einfühlung zu einer ästhetischen Form – sei es zu einer figurativen Skulptur, einer einfachen geometrischen Form oder zu einem architektonischen Baustein. Im ersten Teil des Aufsatzes lege ich dar, dass der Nachdruck, den die Einfühlungsästhetik auf den Begriff der Kraft legt, auf ein epistemologisches Problem antwortet: Mittels welches Vermögens ist das Bewusstsein fähig, eine räumliche Vorstellung zu bilden, die dazu verhilft, mit Gegenständen im Raum zu interagieren? Und was gewährleistet, dass diese Vorstellungen gesetzmäßig und nicht willkürlich sind? Die Antwort ist, wie im zweiten Teil gezeigt wird, dass die leiblichen Erfahrungen mit mechanischen Kräften, die wir durch Bewegung erworben haben, uns mit einem verkörperten, intuitiven Wissen über deren Wirkungen ausgestattet hat. Dieses Wissen wird in der Wahrnehmung räumlicher Formen angewendet, um ihre Gestalt als Ausdruck von Kraft zu interpretieren und mit ihnen zu agieren. Diese Antwort erörtere ich am Beispiel von zwei Vertretern der Einfühlungsästhetik: Theodor Lipps und Heinrich Wölfflin. Deren erstaunliche Vorstellung von Einfühlung umfasst letztendlich die Fähigkeit, die Umwelt von Gegenständen im tiefsten Sinne des Wortes zu verstehen. Innerhalb des von mir rekonstruierten Diskurses weist Kraft somit folgende Merkmale auf: 2  Vgl. dazu beispielsweise Greg Miller: Animal Behavior. Signs of Empathy in Mice, in: ­Science 312 (2006), S. 1860–1861; Ana Pérez-Manrique und Antoni Gomila: The Comparative Study of Empathy. Sympathetic Concern and Empathic Perspective-Taking in Nonhuman Animals, in: Biological Reviews 93 (2018), Heft 1, S. 248–269; und Franz de Waal: The Age of Empathy. Nature’s Lessons for a Kinder Society, New York 2010. 3  Der nachfolgende Text basiert auf dem dritten Kapitel meiner Monografie, Malika Maskarinec: The Forces of Form in German Modernism, Chicago 2018. Für ihre Arbeit an der Übersetzung bedanke ich mich bei Sarah Wiesdanger und Markus Klammer.

Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900

1 Kraft ist von der Masse eines Körpers nicht zu unterscheiden. Kraftvek­ toren sind in der Gestalt und in der Bewegung eines Körpers wahrnehmbar und, unter idealen Bedingungen, quantifizierbar. 2 Kräfte setzten Körper gemäß universellen, mechanischen Gesetzen in Bewegung, das heißt, sie sind gleichermaßen auf biologische Organismen und leblose Gegenstände anwendbar. 3 Alle Körper sind grundsätzlich kinetische Entitäten, die einen Gleichgewichtszustand anstreben und auf Kräfte in ihrer Umgebung entsprechend reagieren. Die Möglichkeit mit einer Form zu sympathisieren, beruht auf der Tatsache, dass Operationen universaler Kräfte auch leblosen Gegenständen Merkmale des Lebens verleihen, beispielhaft etwa das Streben nach Homöostase.

I. In seinem Aufsatz „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (1931) bietet Ernst Cassirer eine Erklärung dafür, warum die philosophische Ästhetik um 1900 mit einer Untersuchung der Form räumlicher Anschauung beginnt, das heißt, warum zuerst die „Vorfrage nach dem Wesen des Raumes“4 gestellt werden muss, bevor sie sich den Themen der künstlerischen Form oder der ästhetischen Erfahrung nähert. Sein Argument erfolgt in zwei Schritten. Erstens: Um Gewissheit über die eigene Erkenntnismöglichkeit zu erlangen, muss jede Form des Wissens ihre epistemologischen Voraussetzungen, ihre „Grundvoraussetzungen und ihr eigentümliches Prinzip“5 hinterfragen. Wesentlichste Grundvoraussetzungen sind die Anschauungsformen von Raum und Zeit. Zweitens: Wenn sich eine Wissensform nach innen wendet, wird sie zwangsläufig feststellen, dass sie durch eine eigentümliche Raumkonzeption bedingt ist. Die schon im Titel unterschiedlich ausfallenden Antworten auf die gestellte „Vorfrage nach dem Wesen des Raumes“ führen zu der Erkenntnis, dass es nicht nur einen einzigen, homogenen, Newton’schen Raum gibt, sondern eine Vielzahl von „Räumen“, die von der historischen, kulturellen oder disziplinären Perspektive abhängen. Cassirer betrachtet die Ästhetik und Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts als exemplarisches Beispiel für diesen Weg der Untersuchung. „Es braucht nicht […] im einzelnen dargelegt zu werden, wie stark ebendiese Problemstellung die Grundrichtung der neueren Ästhetik und der allgemeinen Kunstwissenschaft, insbesondere in Deutschland, bestimmt hat. 4  Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 17, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1998, S. 412. 5  Cassirer 1998 (wie Anm. 4), S. 411.

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In diesem Sinne hat z. B. Adolf Hildebrand in bekannten und grundlegenden Erörterungen das ‚Problem der Form‘ gestellt. In der Frage nach dem Wesen der Form kann, wie er betont hat, erst Klarheit kommen, wenn zuvor die Vorfrage nach dem Wesen des Raumes und der räumlichen Darstellung gestellt und geklärt ist.“6 Auch Theodor Lipps beginnt mit den „Vorfragen nach dem Wesen des Raumes“, ein Ausgangspunkt, der zunächst im Titel seiner frühen Arbeit Raumäs­ thetik und geometrisch-optische Täuschungen (1897) deutlich wird. Die Publikation, die die Eigenschaften optischer Täuschungen anhand zahlreicher geometrischer Illustrationen demonstriert, legt den Grundstein für eine spätere Darlegung der Einfühlung in Grundformen. Das Interesse, das Lipps’ Ästhetik der Raumwahrnehmung entgegenbringt, ist so tragend, dass sie letztendlich versucht, eine umfassende Theorie dafür zu liefern, wie Vorstellungen räumlicher Formen entstehen; die Antwort wird lauten, dass eine Betrachterin sich mithilfe eines erworbenen impliziten Wissens um Kraftgesetze in sie hineinversetzt. Fragen nach den Unterscheidungsmerkmalen der ästhetischen Erfahrung oder den Künsten erhalten dabei wenig Beachtung. Daraus wird deutlich, dass Lipps das Gebiet der Ästhetik wie in seiner ursprünglichen Ausrichtung als Wissenschaft der Wahrnehmung und nicht als Theorie von Kunstobjekten versteht. Cassirers Argumentationslinie legt nahe, dass jeder Ansatz, die Welt zu verstehen, mit seinen eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ebenso vertraut werden könnte, indem er seine eigene Zeitkonzeption befragt. Und doch stellt Cassirer, wenn er die Entstehung kunsthistorischer Untersuchungen beobachtet, ebenfalls vornehmlich die Frage nach dem Raum. Obgleich man meinen könnte, das Interesse am Raum entspringe der tradierten Auffassung, die bildenden Künste seien räumlich und die Kunst der Poesie spiele sich im Gegensatz dazu in der Zeit ab, wie es G. E. Lessing im Laokoon formuliert hatte, entsteht die Hinwendung zur Frage nach der räumlichen Form aus einer vermeintlichen epistemologischen Problematik. Der Fokus auf die Wahrnehmung von Raum und die damit einhergehende Ausrichtung auf die bildenden Künste als Paradigma räumlicher Formen ist nämlich auf eine im 19. Jahr­ hundert weithin verbreitete Annahme zurückzuführen: Dass die zeitliche Form unseres Bewusstseins mit der räumlichen Form äußerer Objekte unvereinbar ist.

6  Cassirer 1998 (wie Anm. 4), S. 412. Cassirer legt nahe, dass weitere Untersuchungen verschiedener Raumauffassungen sich positiv auf das Feld der Ästhetik auswirken, so dass die beiden Untersuchungsfelder des Raumes und der Ästhetik gleichermaßen gewinnbringend füreinander sind.

Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900

Kurz gesagt: Dieses philosophische Erbe beteuert, dass unser Bewusstsein, einschließlich der Empfindungen und mentalen Vorstellungen, zeitlich, nicht aber räumlich ausgedehnt sei. Obwohl also Zeit und Raum zwei Grundformen der Anschauung darstellen, verstehen aus diesem Grund die Philosophie und das sich etablierende Feld der Psychologie des 19. Jahrhunderts die Anschauungsform der Zeit als primär. Da die Welt nichtdestotrotz räumlich wahrgenommen wird, tut sich die Frage auf, wie es möglich ist, räumliche Vorstellungen zu bilden, obwohl das Bewusstsein selbst nicht räumlich ausgedehnt ist. Seit seiner ersten Monographie Die Grundtat­sachen des Seelenlebens (1883) hält Lipps die Elementarität der Anschauungsform der Zeit für unumstritten, weshalb er in dem Frühwerk die Form der Zeit bloß in einigen Absätzen verhandelt.7 Stattdessen widmet er den substantielleren Teil des Buches dem Problem unserer Raumwahrnehmung, eine Priorität, die er über seine gesamte, extrem weitschweifige Wissenproduk­tion beibehält. Die Metapher der Einfühlung, die den Prozess beschreiben soll, durch den räumliche Repräsentationen gebildet werden, ist genau das: eine räumliche Metapher für ein nicht-räumliches, weil: mentales Phänomen.8 Wie andere Befürworter*innen der Einfühlungsästhetik formuliert Lipps diese Befürchtung um Inkommensurabilität zwischen menschlichem Geistesleben und dem Raum in Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen nie explizit. Zum Ausdruck kommt diese implizite Voraussetzung jedoch in einer historisch verwandten Schrift: Wilhelm Worringers Abstraktion und ­Einfühlung (1907). Ziel von Worringers Dissertation ist es, Lipps’ Ästhetik der Einfühlung durch eine Ästhetik der Abstraktion kritisch zu ergänzen und zu historisieren (dass er Lipps’ Theorie dabei grundlegend missversteht, sei nur nebenbei angemerkt). Die Arbeit lässt sich als Erörterung von Lipps’ Fixierung auf abstrakte räumliche Gebilde lesen; denn Abstraktion und Einfühlung zeigt, weshalb das 19. Jahrhundert im Allgemeinen und Lipps im Besonderen sich veranlasst fühlten, ein einfühlendes Verhältnis zur Welt zu vertreten und weshalb abstrakte Formen dafür als primäres Beispiel dienten. Worringer argumen-

7  Lipps äußert diese langlebige historische Ansicht, wenn er schreibt: „Die Zeit ist die allumfassende, über die Räumlichkeit übergreifende Form der Anschauung.“ Theodor Lipps: Grundtatsachen des Seelenlebens, Bonn 1883, S. 590. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie legt nahe, dass die gedachte Inkommensurabilität zwischen menschlichem Bewusstsein und der äußeren Welt René Descartes’ Discours de la méthode (1637) zuzuschreiben ist, demgemäß das Ego zunächst in der Zeit denkt und erst in zweiter Linie mit einem räumlich ausgedehnten Körper verknüpft wird; mit dieser Diskrepanz bleibt Lipps’ philosophische Epoche belastet. 8  Für eine Diskussion über die Metaphorizität von ‚Einfühlung‘ – eine Metapher, die die Herstellung von Metaphern selbst beschreibt – vgl. Tobias Wilke: Einfühlung als Metapher, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88 (2014), S. 321–344.

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tiert, dass eine ästhetische Neigung zur geometrischen Form, die sowohl in Lipps’ Ästhetik wie auch in der von Worringer als primitiv bezeichneten Kunst zu finden ist, symptomatisch ist für den Zustand der Agoraphobie (Raumangst oder Raumscheu): das Gefühl, von der Außenwelt entfremdet und bedroht zu sein. Nach Worringer entsteht dieses Gefühl dann, wenn das nötige begriff­ liche Werkzeug fehlt, um die objekthafte Umwelt zu erfassen und als gesetz­ mäßig zu begreifen.9 Aus Worringers Perspektive gelesen erscheint die Ausrichtung auf abstrakte Formen in Lipps’ Ästhetik von dieser Raumangst getrieben zu sein. Lipps versucht nichts anderes, als ein Unbehagen bezüglich der Umwelt zu beseitigen, indem er über den Begriff der Einfühlung eine innige Beziehung herstellt zwischen menschlichen Subjekten und der umgebenden Welt, die gleichermaßen von Organischem und Anorganischem bevölkert ist. Wenn also die Neigung zur geometrischen Figur auf eine Raumphobie zurückzuführen ist, dann sollte die Einfühlungsästhetik als ein Versuch verstanden werden, dieser Phobie entgegenzuwirken, indem ein begriffliches Werkzeug zur Verfügung gestellt wird, das beschreiben kann, wie aus Sinnesdaten zuverlässig räumliche Vorstellungen gebildet werden, um Gesetzmäßigkeiten der Umwelt zu erkennen. Auch wenn die Annahme, dass ein zeitlich strukturiertes Geistesleben und räumliche Formen unvereinbar sind, während des gesamten 19. Jahrhunderts weit verbreitet ist, setzt sich die Einfühlungsästhetik ausdrücklich mit zwei zeitgenössischen Quellen auseinander, von denen die erste Hermann von Helmholtz’ Werk ist. Lipps betrachtet Helmholtz, der einen bedeutenden Teil seiner überaus erfolgreichen Karriere mit der Erforschung von Optik und Raumwahrnehmung verbrachte, als seinen intellektuellen Vorgänger und folgt dessen zugleich psychologischem und physiologischem Interesse an Raumwahrnehmungen. Helmholtz versteht seine Forschung als wissenschaftliches und experimentelles Pendant zu Kants philosophischer Arbeit: Sein Beitrag besteht darin, den Erwerb einer Anschauungsform des Raums auf empirischer Grundlage zu beschreiben. Für die kantische Form der Anschauung eine empirische Grundlage zu liefern, gehört im 19. Jahrhundert zu einem weiter gefassten

9  Nach Worringer stammt die figürliche Kunst der Einfühlung von einem Gefühl, in Harmonie mit der Welt zu sein; die Abstraktion reagiert dagegen auf ein Gefühl der Raumscheu und versucht, die Welt auf Distanz zu halten: „Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Aussenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer grossen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transzendentalen Färbung aller Vorstellungen. Diesen Zustand möchten wir eine ungeheure geistige Raumscheu nennen.“ Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1921, S. 19–20.

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Unterfangen, das versucht, eine „objektive Wissenschaft des Geistes“10 zu etablieren, indem kognitive Mechanismen dem Werkzeug des wissenschaftlichen Positivismus unterworfen werden. In seinem Vortrag „Die Thatsachen in der Wahrnehmung“ (1878) artikuliert Helmholtz die gedachte Inkommensurabilität zwischen menschlichem Geistesleben und dem Raum deutlich: die Erfahrung des Bewusstseins geschieht in der Zeit und weist keine räumliche Struktur auf. Er unterscheidet zwischen der Innerlichkeit des Selbst und der Außenwelt folgendermaßen: „Dasjenige, an dem keine Raumbeziehung wahrzunehmen ist, begreifen wir als die Welt der inneren Anschauung, als die Welt des Selbstbewußtseins“11. Im Gegensatz dazu ist die Fähigkeit, Gegenstände im Raum zu repräsentieren, erlerntes Verhalten. Um zu verstehen, wie Vorstellungen der Außenwelt im Bewusstsein entstehen, bedarf es aus der Perspektive der dominierenden wissenschaftlichen Forschungsprogramme des 19. Jahrhunderts demnach keiner philosophischen Reflexion, sondern vielmehr um­­ fangreicher Experimente und (Selbst-) Beobachtungen. Die Tatsache, dass sich diese Experimente auf die Zeit als Standardmaß stützen (was bedeutet, dass sie als objektiv angesehen werden), mithilfe dessen Prozesse wie zum Beispiel Nervenreaktionszeiten gemessen werden können, bestätigt einmal mehr die Voreingenommenheit zugunsten der Zeit als verlässlichere Anschauungsform.12 Die Inkommensurabilität zwischen Geistesleben und räumlicher Form drückt sich auch in der Frage nach der Objektivität und Mitteilbarkeit der wahrnehmenden, primär visuellen Erfahrung aus. Wenn Repräsentationen des Raums das Ergebnis komplexer psychologischer Mechanismen sind, was gewährleistet dann, dass das, was wahrgenommen wird, nicht bloß eine subjektive Illusion ist? Wie Jonathan Crary in Suspensions of Perception zeigt, wurde der allgegenwärtige Zweifel an der Objektivität der Wahrnehmung im 19.  Jahrhundert dadurch genährt, dass das Sehen nicht länger als autonome Funktion gedacht, sondern als verkörperter Prozess entdeckt wurde. Dass das

10  Lorraine Daston und Peter Galison: Objectivity, New York 2007, S. 263. Andrea Pinotti beschreibt Helmholtz’ Projekt treffend als „materialization of the aprori.“ Andrea Pinotti: Body-Building. August Schmarsow’s Kunstwissenschaft between Psychophysiology and Phenomenology, in: Mitchell B. Frank und Daniel Adler (Hg.): German Art History and Scientific Thought: Beyond Formalism, Abingdon u. a. 2016, S. 13–32, hier S. 14. 11  Hermann von Helmholtz: Die Tatsachen in der Wahrnehmung, in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 2, Saarbrücken 2006, S. 225. 12  Henning Schmidgens Arbeit zu Helmholtz’ Forschung über das menschliche Nerven­ system kommt zu dem Schluss, dass die Kluft zwischen dem Auftreten einer Nervenstimulation und der nachfolgenden Reaktion konsequent als zeitliche und weniger als räumliche Kluft begriffen wurde. Diese Experimente stützten sich auch auf die Zeit als festen Maßstab, um physiologische Prozesse zu messen; vgl. Henning Schmidgen: Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin 2009.

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Sehen im Leib verankert ist, hat zur Folge, dass die „density and materiality of the body“13, zwei Quellen subjektiver Differenzen, die Wahrnehmung bedingen und ihre Objektivität und Mitteilbarkeit in Frage stellen. Lipps’ Werk, das von einer Faszination für optische Täuschungen durchdrungen ist, erfasst die Subjektivierung des Sehens eindringlich. Ziel seiner Ästhetik ist es, eine objektive, d. h. nicht-willkürliche Beziehung zwischen räumlichen Formen von Gegenständen und mentalen Repräsentationen sicherzustellen. Aus Gründen, die im Folgenden darlegt werden, schließt er aus der Verkörperung des Wahrnehmungsapparats allerdings nicht, dass Sehen lediglich rein subjektiv oder willkürlich sei. Nach Lipps zeigen seine an sich selbst durchgeführten experimentellen Versuche mit optischen Täuschungen, dass die Täuschungen und deswegen auch die Raumwahrnehmung selbst gesetzmäßig sind. Das heißt nicht zuletzt, dass Wahrnehmungen von Individuen geteilt und kommuniziert werden können.14

II. Die Einfühlungsästhetik von Lipps und Wölfflin, auf die ich nun näher eingehen möchte, besitzt im Werk von Robert Vischer einen zweiten wichtigen Bezugspunkt. Vischer prägte den Begriff der ‚Einfühlung‘ für das Gebiet der Ästhetik in seiner Dissertation Über das optische Formgefühl (1873). Anspruch 13  Jonathan Crary: Suspensions of Perception: Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge 1999, S. 11–12. Wie Crary für das 19. Jahrhundert umfassend gezeigt hat, führte die Erkenntnis, dass das Sehen von dem komplexen physiologischen Aufbau des Betrachters abhängig war, dazu, dass visuelle Eindrücke als fehlerhaft, unzuverlässig und willkürlich verdächtigt wurden. Sogar vor Mitte des Jahrhunderts beschäftigte sich ein umfangreicher Teil von Arbeiten in Wissenschaft, Philosophie, Psychologie und Kunst damit, unterschiedlich mit der Auffassung umzugehen, dass dem Sehen und den anderen Sinnen nicht länger eine essentielle Objektivität oder Gewissheit zugesprochen werden konnte. Die Ästhetik von Wölfflin und Lipps verstehe ich als Gegenversuch, diese Objektivität zu sichern. 14  Anson Rabinbach formuliert diesen Punkt sehr treffend: „Nineteenth-century positi­v­ ism was characterized by a profound suspicion of subjectivity and by the search for scientific laws that could transcend the disorder and instability of mental and physical states.“ Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990, S. 43. Gerade weil auch er die radikale Subjektivierung des Sehens in Frage stellte, war Helmholtz für Lipps von Bedeutung. Helmholtz weicht stark vom physiologischen Idealismus seines Lehrers Johannes Müller ab, dessen Spätwerk postuliert, dass die Welt nur das Produkt mentaler Projektionen von Sinneseindrücken sei. Im oben diskutierten Vortrag insistiert Helmholtz, dass – auch wenn die Welt bloß aus subjektiver Perspektive beschrieben werden könne – die äußere Welt aus diesem Grund nicht als reine Projektion des kognitiven Apparates des Subjektes verstanden werden solle. Weiterhin müsse die Existenz einer Außenwelt angenommen werden, wenn auch nur, weil diese Behauptung für die wissenschaftliche Forschung und praktische Handlungen eine notwendige Annahme sei. Vgl. Helmholtz 2006 (wie Anm. 11).

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der Arbeit ist, zu erklären, wie Naturgegenstände uns emotional ausdrucksstark erscheinen können. Vorausgesetzt wird die Beobachtung, dass diese Gegenstände nie als bloße Strukturen wahrgenommen werden, sondern stets mit einem symbolischen Wert versehen und mit Gefühlen aufgeladen sind. Ganz allgemein möchte Vischer, wie anschließend Lipps und Wölfflin, unsere häufig vorgenommenen, anthropomorphisierenden Charakterisierungen von Gegenständen erklären, was sich z. B. darin äußert, dass wir sagen, ein Stuhl habe mit der Last der darauf sitzenden Person zu kämpfen oder ein Baum recke sich in den Himmel. Wie kommt es, dass Gefühle wie Freude und Missfallen, Erfolg und Frustration in der Gestalt von empfindungslosen Formen enthalten und ausgedrückt zu sein scheinen? Wie entsteht der Eindruck, dass Gegenstände Bewegungen ausführen und dabei Erfahrungen machen, die den unseren ähnlich sind? Wie können Affekte, die ihrerseits keine räumliche Dimension haben (da sie zur Psyche gehören), Prädikate von Gegenständen werden, die in der Welt wahrgenommen werden? Eine ästhetische Theorie, die erklärt, weshalb menschliche Empfindungen in der Welt der Objekte ausgedrückt werden oder weshalb ein Subjekt in räumlichen Formen Erfahrungen des Kämpfens oder des Reckens erkennen kann, muss die Differenz überbrücken zwischen dem kategorisch als nicht-räumlich verstandenen Wesen der Empfindungen und einer Welt räumlicher Formen. Um zu erklären, wie Affekte in räumlichen Formen zu sein scheinen, greift Vischer auf Karl Albert Scherners Das Leben des Traums (1861) zurück, in dem Scherner den Vorgang beschreibt, mit dem räumliche Formen im Traum mit symbolischem Gehalt ausgestattet werden. Gegenstände, denen wir im Traum begegnen, stellen räumliche Aktualisierungen unserer Erfahrung dar. Anders ausgedrückt: Im Traum übersetzt die Psyche Nervenreize, die mit vergangenen Erfahrungen assoziiert sind oder während des Schlafes empfunden werden, in räumliche Formen. Dass ein Haus regelmäßig im Traum erscheint, ist damit zu erklären, dass es den Körper als Sitz des Bewusstseins und als Empfänger äußerer Reize repräsentiert. Gemäß Vischer liegt Scherners Verdienst darin, zu zeigen, „[w]ie der Leib im Traum auf gewisse Reize hin an räumlichen Formen sich selber objektiviert. Es ist also ein unbewußtes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne.“15 Vischer verwendet also den Begriff der Einfühlung, um unsere Erfahrung von Naturgegenständen zu erläutern, die uns fremd erscheinen, weil sie im Unterschied zu künstlerischen Artefakten nicht für den menschlichen Betrachter gemacht worden sind und daher keinen symbolischen Wert in sich selbst besitzen. Gemäß Vischer überwinden wir im einfühlenden Empfinden die 15  Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik, Leipzig 1873, S. 4.

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Fremdheit, die für Naturgegenstände konstitutiv ist. Über die Einfühlung verleiht das Subjekt einem Gegenstand seine Gefühle und meint daraufhin sich selbst darin wiederzuerkennen: ein Baum scheint sich nach dem Himmel zu recken, weil das Subjekt sein eigenes Streben und die zugehörigen Gefühle im Baum erkennt. Vischer und später Lipps beabsichtigen, unseren Bezug zu Formen zu begründen, die menschlichen Erfahrungen gegenüber grundsätzlich gleichgültig sind, und im Unterschied zum gefertigten Artefakt nicht darauf zielen, Empfindungen auszulösen.16 Schöne Naturgegenstände oder solche, die ästhetisches Vergnügen auslösen, sind jene, die in den Betrachtenden Erinnerungen an angenehme Situationen ungehinderter Bewegungsfreiheit aufrufen, während kleine, unbewegliche Objekte im Kontrast dazu die Betrachtenden in ihr Gravitationszentrum zwingen und ein Gefühl der Beengung und des Unbehagens hervorrufen. Einfühlung wiegt die vermeintliche Gleichgültigkeit der Gegenstände auf, indem sie ihnen Bewegungen und die damit verbundenen Affekte, die ihnen sonst fehlen würden, zuschreibt – so wirkt sie einer rein abstrakten oder intellektuellen Beziehung zu den Dingen entgegen. Lipps’ ­Theorie schlägt im Vergleich zu Vischer ein eher nüchterneres Konzept von Einfühlung vor; Lipps entwirft keine pantheistische Vision, in der das Subjekt dank seines Einfühlungsvermögens in der Natur aufgeht und jede Differenz zu ihr verliert. Für Lipps bleibt die Differenz zwischen Subjekt und Objekt bestehen, auch wenn Einfühlung voraussetzt, dass das Subjekt seinen Körperbau und seine kinetische Erfahrung in einer einfachen Form wiederkennt. Von Vischer übernimmt Lipps jedoch den Versuch, „die geistige Erregung immer genau an und mit der leiblichen zu erklären“17, d. h. den affektiven Wert von Gegenständen auf unsere leibliche Erfahrung zurückzuführen. Die Hinwendung zu einem als „mechanisch“18 bezeichneten Verständnis von Kraft ermöglicht es Lipps, den Leib in eine Einfühlungstheorie einzuschreiben, ohne dass dies in ein Modell pantheistischer Projektion mündet.

16  Wilhelm Perpeet beleuchtet diesen Punkt sowie Lipps’ Interesse an geometrischen Formen, wenn er die historischen Wurzeln der Einfühlungsästhetik als Auseinandersetzung mit Gegenständen, die den Betrachter nicht adressieren, identifiziert. „Seiner [dem ästhetischen Bewußtsein als einfühlendes, M. M.] ursprünglichen Konzeption nach ist es nicht aus dem verstehend-erlebenden Umgang mit Kunstwerken gewonnen, sondern aus dem Umgang mit solchem, das prinzipiell nicht zu verstehen ist und von sich selbst her gar nichts bedeutet.“ Wilhelm Perpeet: Historisches und Systematisches zur Einfühlungsästhetik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 11 (1966), S. 193–216, hier S. 207. 17  Vischer 1873 (wie Anm. 15), S. vii. 18  Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, Leipzig 1897, S. 5.

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III. Die Behauptung, dass wir verkörpertes Wissen einsetzen, um unseren Wahrnehmungen Sinn zu verleihen, wurzelt in einer Faszination für unsere Erfahrung der Schwerkraft. Als schwere – wenngleich aufrechte und lebende – Gebilde sind wir konstant der Gefahr ausgesetzt umzufallen; somit müssen wir uns dauerhaft um die Erhaltung unserer vertikalen Form bemühen. Jeder Schritt, den ich vorwärtsmache, jeder Versuch, meinen Körper von der Erde zu erheben und aufzustehen, jede Bewegung, z.B. mich am Kopf zu kratzen oder einen Gegenstand in die Hand zu nehmen, verlagert meine Gewichtsverteilung, und ich bin aufs Neue herausgefordert, mit Kraft mein Gleichgewicht wiederherzustellen. Um einen Zustand der Homöostase zu gewinnen oder zu erhalten, ist der Körper gezwungen, auf die Welt als Feld von Kräften zu reagieren und seine innere Kräfteökonomie danach zu richten. Grundlegend für die Einfühlungsästhetik von Lipps und Wölfflin ist der Gedanke, dass diese Alltagserfahrungen den aufrechten Menschen mit einem Wissen über Kraft und Gegenkraft ausgestattet haben; ich weiß zugleich, was es an Kraft braucht und wie es sich anfühlt, die eigene strukturelle Integrität, die Form des Körpers aufrechtzuerhalten. Dieses Wissen bildet ein konzeptuelles Muster, auf das ich zurückgreife, um Vorstellungen räumlicher Formen zu bilden. Die Idee, dass nicht nur der menschliche Körper, sondern Körper aller Arten ihre Form erhalten, indem sie ihr Gleichgewicht suchen und u. a. der Anziehung der Schwerkraft entgegenwirken, ist in Heinrich Wölfflins Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886) prägnant zusammengefasst: „Die Materie ist schwer, sie drängt abwärts, wird formlos am Boden sich ausbreiten. Wir kennen die Gewalt der Schwere von unserem eigenen Körper. Was hält uns aufrecht, hemmt ein formloses Zusammenfallen? Die gegenwirkende Kraft, die wir als Wille, Leben oder wie immer bezeichnen möchten. Ich nenne sie Formkraft.“19 Form entsteht gemäß Wölfflin aus einem explizit antagonistischen Kräfteverhältnis. Um zu erklären, wie eine Säule der „Gewalt der Schwere“ und der damit einhergehenden Gefahr der Formlosigkeit entgegenwirkt, muss Wölfflin einen zweiten Vektor erschaffen, und zwar den der Formkraft. Bei der Benennung der Kraft, die sich der Formlosigkeit widersetzt, lehnt Wölfflin mit Bedacht alle Begriffe ab, die zu eng mit dem Menschlichen oder gar dem Lebendigen verbunden sein könnten. Denn obwohl wir vermittels unseres Körpers

19  Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Berlin 1999, S. 17.

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um die Formkraft wissen, kommt sie keinesfalls nur organischen Wesen zu, sondern gehört jeglichen schweren Körpern an. Wie Lipps ist Wölfflin dazu bereit, die Konsequenzen aus der Idee zu ziehen, dass unser Wahrnehmungsapparat im Körper verankert ist. Für beide bildet diese Verankerung eine epistemologische Möglichkeit: Nur weil wir leibliche Wesen sind, können wir uns eine Welt von Körpern überhaupt vorstellen oder sie beurteilen. Weil das Sehen, wie Crary schreibt, in „the density and materiality of the body“20 eingebettet ist, beteiligt sich nicht allein das Auge, sondern der gesamte Leib am Prozess der Wahrnehmung. Die Antwort auf die Leitfrage „Wie ist es möglich, daß architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können?“21 lautet entsprechend: Es ist möglich aufgrund von Erfahrungen der Kraft, die wir von unserem Körper gewonnen haben und mit diesen Formen teilen. „So müssen wir auch hier sagen: Körperliche Formen können charakteris­ tisch sein nur dadurch, daß wir selbst einen Körper besitzen. Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müßte uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft usw. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen“22. Wölfflin lehnt sich an Kants Theorie des Urteils an, das die Anwendung von Kategorien des Verstandes auf Sinnesdaten postuliert. Allerdings bricht er überraschend mit Kant, wenn er behauptet, dass diese „Kategorien“23 nicht transzendentaler Natur sind (sie sind keine apriorischen Bedingungen der Erkenntnis), sondern durch körperliche Erfahrungen gewonnen werden. Die Kategorien „Schwere, Kontraktion, Kraft, usw.“24, die wir anwenden, um uns Körper vorzustellen, erlangen wir durch unsere körperliche Veranlagung (insbesondere unsere vertikale Haltung) und kinästhetische Erfahrung, insbesondere unseren Umgang mit der fortwährenden Gefahr der Formlosigkeit. Diese Kategorien bleiben als prädiskursive oder nicht-konzeptuelle Formen des Verstehens im Körper eingebettet, ohne je ins Bewusstsein zu gelangen. Ein ästhetisches Urteil, folgert Wölfflin, wird nicht vermittelt durch Vernunft oder Einbildungskraft (wie für Vischer), sondern ist in einem „unmittelbaren körperlichen

20  21  22  23  24 

Crary 1999 (wie Anm. 13), S. 11f. Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 7. Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 9. Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 10. Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 9.

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Gefühl“25 verankert. Das Urteilen über Körper im Raum ist daher vom Bereich des rationalen, bewussten Denkens ausgeschlossen. Wölfflin schlägt also einen alternativen Zugang zur gegenständlichen Welt vor, der die Kluft zwischen der Zeit des Bewusstseins und dem Raum der Körper überbrückt. Seine kinästhetischen Kategorien versprechen, unmittelbar auf die energetische Dynamik eines Gegenstandes zugreifen zu können. Sie bieten damit einen empirisch erworbenen Zugang zur Welt, der sich stark unterscheidet vom Apriori, das nur anhand von Kategorien urteilen kann, die aber der Natur des Gegenstandes fremd sind. Im Gegensatz zu den Kant’schen Kategorien des Urteils wurzelt die Zuverlässigkeit dieser empirischen Kategorien in der Tatsache, dass sie menschlicher ebenso wie nicht-menschlicher Erfahrung gemein sind. Die Gewalt der Schwerkraft und die Kraft der Form bilden gemeinsame Nenner unseres Lebens und den Eindruck von Lebendigkeit von zumindest ästhetischen Gegenständen: „[W]ir fassen die Körperwelt mit den Kategorien auf (wenn ich so sagen darf), die wir mit derselben gemeinsam haben.“26 Auf dieser Grundlage spricht Wölfflin von einem „Miterleben der fremden Form“27. Die Allgemeingültigkeit der Dynamik zwischen der Schwerkraft und einer ihr entgegenwirkender Formkraft wird zum Grundpfeiler einer epistemologischen Brücke zwischen dem Selbst und dem ästhetischen Objekt.28 Die Behauptung, dass Kategorien, die aus unserer kinetischen Erfahrung abgeleitet sind, die Welt adäquat fassen, weil sie alle räumlich ausgedehnten Körper betreffen, steht in Lipps’ Ästhetik ebenfalls im Vordergrund, die sich einem geschwächten universalistischen Paradigma der Mechanik weiterhin verpflichtet fühlt. Nach Lipps leitet das Unbewusste mechanische Regeln, die das Verhalten von Körpern begreifen, von minuziösen, endlos wiederholten Bewegungen ab. Diese Regeln gewinnen wir aus dem unablässigen Bemühen, unser körperliches Gleichgewicht zu erhalten und zu riskieren, wodurch uns 25  Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 13. 26  Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 10. „Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck ist, wir sind am Boden zusammengesunken, wenn wir der niederziehenden Schwere des eigenen Körpers keine Kraft mehr entgegensetzen konnten, und darum wissen wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen und begreifen den Drang alles Stoffes, am Boden formlos sich auszubreiten.“ Ebd., S. 9. 27  Wölfflin 1999 (wie Anm. 19), S. 11. 28  Obschon ich vor allem Wölfflin und Lipps in den Blick nehme, durchdringt die Faszination für die Schwerkraft die Ästhetik des ganzen 19. Jahrhunderts. Zwei weitere Paradebeispiele sind das Frühwerk von Hermann Lotze, insbesondere sein Mikrokosmus: Ideen zur Naturge­ schichte und Geschichte der Menschheit (Leipzig 1856); und August Scharmarsows Theorie der Architektur, die die aufrechte Haltung des Körpers als konstitutiv für die ästhetische Erfahrung des Raumes betont. Vgl. dazu auch Malika Maskarinec: Gewicht der Abstraktion, in: ­Jutta Müller-Tamm, Henning Schmidgen und Tobias Wilke (Hg.): Gefühl und Genauigkeit. Empirische Ästhetik um 1900, München 2013, S. 75–103.

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ein unbewusstes Gefühl vermittelt wird, wie unterschiedliche Kraftoperationen in einer Gestalt zum Ausdruck kommen und sich anfühlen.29 Lipps verweist auf den bewegten Körper, mit spezieller Betonung jener Bewegungsformen, die eine prekäre Beziehung zum Boden unterhalten. „Wir gehen etwa, oder laufen, treiben die Kunst des Schlittschuhlaufens oder des Radfahrens und halten uns dabei in sicherem Gleichgewicht. Wir thun dies, obgleich die Bedingungen des Gleichgewichtes beständig wechseln, jede Unebenheit des Bodens, jeder Windhauch, jede neue Lage des Körpers oder eines Theiles desselben sie verschieben. Was dabei zu Grunde liegt, sind Erfahrungen. […] Dabei erinnern wir uns aber nicht jetzt, wo wir die erlernte Kunst ausüben, an die vergangenen Erfahrungen, um uns in jedem einzelnen Moment nach der hier gerade in Frage kommenden Erfahrungen zu richten. […] Wir folgen nicht den einzelnen Erfahrungen, sondern dem Gesetz oder der Regel, die die vergangenen Erfahrungen in sich schliessen, speziell dem Gesetz oder der Regel des Gleichgewichts.“30 Helmholtz’ Theorie des Unbewussten folgend nimmt Lipps an, dass sich die Summe dieser Erfahrungen in pragmatischen Prinzipien oder Regeln verdichtet, die uns zum Beispiel wissen lassen, wieviel Kraft für die Ausführung einer bestimmten Aufgabe notwendig ist.31 An der Wahrnehmung aller räumlichen 29  Weil die Empfindung für Kraft, die in der Einfühlung am Werk ist, von der alltäglichen Erfahrung herrührt, ist Juliet Koss’ Behauptung, dass Lipps die Kapazität für einfühlende Empfindungen nur einer bourgeoisen Elite zuspricht, skeptisch zu betrachten. Juliet Koss: On the Limits of Empathy, in: Art Bulletin 88 (2006), S. 139–157, hier S. 144. Wie Zeynep Çelik Alexanders Besprechung des Nachlebens der Einfühlungsästhetik in der Architekturtheorie und -praxis von August Endell (ein Student Lipps’) aufzeigt, glaubte Endell, dass die arbeitende Klasse besonders empfindlich für ästhetische Erfahrung war, weil ihr Lebensunterhalt von körperlichen Arbeiten abhing. Zeynep Çelik Alexander: Metrics of Experience. August Endell’s Phenomenology of Architecture, in: Grey Room 40 (2010), S. 50–83, hier S. 63. 30  Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 36–37. 31  Helmholtz’ berühmt gewordene Theorie des unbewussten Schlusses behauptet, dass Repräsentationen von Gegenständen durch einen einzigen kognitiven Vorgang der unbewussten Induktion geformt werden; wobei ein Assoziationsprozess in erinnerten Erfahrungen Regelmäßigkeiten identifiziert und Erfahrungen ausblendet, um für sich allgemeingültige Gesetze zu etablieren. Ein Subjekt beteiligt sich nur insofern aktiv an der Bildung dieser Gesetze, als dass sie in vorsätzlichen Handlungen praktisch getestet und bestätigt werden. Für eine Diskussion von Helmholtz’ Theorie des unbewussten Schlusses und dem Problem räumlicher Wahrnehmung im 19. Jahrhundert vgl. Gary Hatfield: The Natural and the Normative. Theories of Spatial Perception from Kant to Helmholtz, Cambridge 1990. Wenn Lipps die unbewusste Natur dieser Regeln, die von vergangenen Erfahrungen abgeleitet werden, betont, geschieht dies offensichtlich in Anlehnung an Helmholtz: „Das alltäglichste Leben zeigt, dass mechanische Erfahrungen uns, in unserem praktischen Verhalten und in unserem ­Urtheil, leiten können, ohne dass wir von dem Inhalte dieser Erfahrungen jetzt eine bewusste

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Formen beteiligt ist ein „Gefühl für mechanische Vorgänge“32, eine verkörperte Mechanik, die uns ein Schema dafür liefert, wie wir die Vielfalt der Sinnesdaten, die zu räumlichen Formen gehören, sortieren, organisieren und verstehen. Mit anderen Worten: Vergangene Erfahrungen haben uns mit der unmittelbaren Fähigkeit ausgestattet, Krafteinwirkungen vorauszusehen und auf diese zu reagieren, so dass wir unser Gleichgewicht erhalten. Eine (abermals unbewusste) Analogie zwischen meinem und anderen Körpern ermöglicht es mir, diese Regeln in der Beurteilung äußerer Phänomene anzuwenden.33 Jedes Ereignis des Alltags, bei dem wir nicht umfallen, bestätigt das Vorhandensein dieses unbewussten Gedächtnisses, das eine praktische Form von Wissen darstellt, die mindestens gleichbedeutend ist mit den Inhalten des Bewusstseins. Lipps’ Argument für verkörpertes Wissen geht noch einen Schritt weiter, der allerdings nicht präzedenzlos ist: Die Regeln, die wir aus kinästhetischer Erfahrung gewinnen, sind verblüffenderweise universelle mechanische Ge­­ setze.34 Die Prinzipien, auf deren Grundlage unsere Körper auf Krafteinwirkun­ gen reagieren oder gemäß denen wir andere Körper einschätzen, sind keine naiven, rein subjektiven Prinzipien. Sie sind universelle Gesetze, deren Gültigkeit ebenso durch Experimente in den Naturwissenschaften wie durch die alltägliche Erfahrung bestätigt wird. Ähnlich argumentiert auch Ernst Mach in seiner Geschichte der Mechanik, wenn er zu zeigen meint, dass die Menschheit die Gesetze der Mechanik schon immer intuitiv verstanden hätte (was es beispielsweise den Ägyptern erlaubte, ihre eindrucksvollen Bauten zu errichten)

Erinnerung haben. Vergangene mechanische Erfahrungen wirken also zweifellos in uns unbewusst.“ Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 37. 32  Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 37. 33  Die Annahme, dass vermeintlich ungleichen Phänomenen allgemeine Prinzipien zugrunde liegen, basiert stark auf der Figur der Analogie. Sind in einem Sachverhalt einer Wissenschaft mechanische Mechanismen entdeckt worden, können diese Entdeckungen, gestützt auf die angenommene Universalität der mechanischen Gesetze, auf weitere Gebiete angewendet werden. Die Mechanik verleiht demnach Helmholtz, und dem 19. Jahrhundert im Allgemeinen, die konzeptuelle Rechtfertigung, zwischen verschiedenen Kräftesystemen explizite Analogien zu ziehen, um zum Beispiel den menschlichen Körper, die Dampfmaschine und das elektrisch-magnetische Telegrafen-System zu vergleichen. Sie alle funktionieren gemäß Helmholtz, indem sie den Input einer Art von potentieller Energie (Kohle, elektrischer Impuls) in eine Form von kinetischer Energie umwandeln (Hitze, elektrische Reihenschaltung), eine Form, die fähig ist, Arbeit zu verrichten. Vgl. Hermann von Helmholtz: Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 1, Saarbrücken 2006, S. 381. Lipps stützt sich gleichermaßen auf den Erklärungswert der Analogie. Eine Form gemäß den Gesetzen der Mechanik zu interpretieren bedeutet, sie in Analogie zu der Erfahrung der Krafteinwirkung auf unsere Körper zu interpretieren. 34  „Es walten in ihnen [unseren Erfahrungen räumlicher Formen, M. M.] allgemeine mechanische Gesetze. Und diese Gesetze wirken in uns und bestimmen unsere Beurtheilung räumlicher Formen.“ Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 39.

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und sie nun auch wissenschaftlich verstanden werden.35 Unsere mechanische Intuition nimmt vorweg, was die physikalischen Wissenschaften kürzlich ‚wiederentdeckten‘ und in diskursiven und mathematischen Gesetzen artikulierten; wissenschaftliche Entdeckungen in der Mechanik versichern uns, dass die Gesetzmäßigkeiten, die wir aufgrund unserer Verleiblichung intuitiv kennen, auch objektiv verifizierbar sind. Auch Lipps stützt sich auf dieses Weltbild der klassischen Mechanik, demzufolge die Welt als gesetzmäßig und regulär zu verstehen ist, wenn er behauptet, dass mechanische Gesetze auch als Gesetze der Erkenntnis dienlich seien; mechanische Gesetze, die empirisch durch verkörperte Erfahrung gewonnen werden, liefern einen universalen und objektiven Rahmen zur Beurteilung räumlicher Formen. Festhalten lässt sich, dass Lipps’ Darstellung räumlicher Wahrnehmung in dem Sinne Objektivität garantieren soll, dass Vorstellungen eine regelhafte Beziehung zur Außenwelt haben und dass sie geteilt und kommuniziert werden können. Die Annahme, dass die Regeln, die wir zur Beurteilung räumlicher Formen gebrauchen, eine intuitive Form der Gesetze der Mechanik sind, garantiert vordergründig die Objektivität der Wahrnehmung, indem erklärt wird, dass diese Regeln ein und dieselben sind wie diejenigen, die die Kräfteökonomie der Welt determinieren; geistige Repräsentationen von Kräften in Formen sind insofern objektiv, als sie die Prinzipien geltend machen, die auch das Zusammenspiel von Kräften in der Außenwelt beherrschen. Der Schlussfolgerungsprozess, durch den unbewusste mechanische Prinzipien aus vorhergehenden Bewegungen abgeleitet werden, stellt sicher, dass subjektive Abweichungen zugunsten allgemeingültiger Gesetze eliminiert werden. Wenn diese Erfahrungen auf ihren gemeinsamen Nenner reduziert werden, bleibt ein universell geteiltes Bewusstsein zurück darüber, wie eine Kraft beschaffen ist, wenn sie sich zu unseren Körpern und zur Außenwelt verhält. Die in einem mechanistischen Paradigma gründende Intuition für physikalische Kräfte überbrückt die Trennung zwischen Subjekt und Objekt ebenso wie intersubjektive Differenzen. Was nehmen wir also durch die Linse „mechanischer Interpretation“36 wahr? Obwohl Lipps beinahe ausschließlich auf geometrische Formen fokussiert, beginnt er mit dem Beispiel der Säule. In einer Säule erkennt die Betrach35  Machs Die Entwicklung der Mechanik ist die Darstellung einer historischen Progression von den intuitiven mechanischen Sinnen hin zu einem mathematischen und diskursiven Ausdruck dieser Intuitionen. Im Laufe der Geschichte erwarb die Menschheit eine „instinctive Sammlung“ mechanischer Erfahrung, die bis heute wissenschaftliche Experimente in der Physik anleitet. „In der That haben wir zu unterscheiden zwischen mechanischen Erfahrungen und Wissenschaft der Mechanik im heutigen Sinne. Mechanische Erfahrungen sind ohne Zweifel sehr alt.“ Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1883, S. 1 und S. 5. 36  Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 5.

Formkräfte in der Einfühlungsästhetik um 1900

terin ihr Streben nach Vertikalität als Eigenschaft des Objektes, sodass zwischen ihr und der Säule eine mitfühlende Identifikation entsteht: „Vor meinen Augen scheint die Säule sich zusammenzufassen und aufzurichten, auch ähnlich sich zu verhalten, wie ich es thue, wenn ich mich selbst zusammenfasse und aufrichte, oder der Schwere und der natürlichen Trägheit meines Körpers zum Trotze zusammengefasst und aufrecht verharre. Ich kann die Säule gar nicht wahrnehmen, ohne dass mir in dem Wahrgenommenen unmittelbar diese Thätigkeit enthalten zu liegen scheint. […] Ich sympathisiere mit dieser Weise der dorischen Säule sich zu verhalten oder eine innere Lebendigkeit zu bethätigen, weil ich darin eine natürlichgemässe und mich beglückende eigene Verhaltungsweise wiedererkenne. So ist alle Freude über räumliche Formen, und wir können hinzufügen, alle ästhetische Freude überhaupt, beglückendes Sympathie­ gefühl.“37 Weil wir uns auf kinästhetische Kategorien verlassen, sehen wir in der Säule keine statische Form, sondern die Aktivität von Kraft: Wir erkennen den Akt des Sich-Zusammennehmens (buchstäblich: des Bauch-Einziehens) und des Aufrecht-Stehens, um die Gefahr der Formlosigkeit zu überwinden. Was als Ansammlung lebloser Materie missverstanden werden könnte, wird in der Perspektive von Lipps’ Ästhetik zur bewegten Form. Nach diesem weitgefassten Verständnis von Kraft gehorcht die Säule der ältesten Bestimmung der ästhetischen Form, nämlich, dass sie eine Lebendigkeit ausdrückt. Wenn Lipps von der „Thätigkeit“ der Säule schreibt, werden diese Kräftevektoren am besten als Affekte im doppelten Wortsinn verstanden: als energetische Affizierung und Reaktionen und gleichzeitig als Gefühlsintensitäten, die nicht unbedingt einem menschlichen Subjekt angehören müssen. Gemäß Lipps scheint die aufwärtsstrebende Kraft von solcher Intensität, dass eine Säule viel höher anmutet, als sie tatsächlich ist (die obere Hälfte scheint im Vergleich zur unteren ausgedehnt), und dass sie in einem Akt der Levitation gar ein wenig über dem Boden zu schweben scheint. Das Vergnügen, das wir bei der Betrachtung einer Säule empfinden (und, folgen wir Lipps’ argumentativem Sprung, jedes Vergnügen ästhetischer Natur), ist also ein Wiedererkennen meiner aufrechten Haltung; in einer uns zunächst fremden Form erkennen wir unser menschliches Vermögen zu selbstbestimmten und zweckgerichteten Handlungen. Die ästhetische Charakterisierung einer Säule erlangt die „Vorstellung eines sinnvollen Zusammenhanges lebendiger Kraftwirkungen, die sich verbinden, auseinander hervorgehen und sich das Gleichgewicht halten, nicht unvergleichbar sinnvoller auf ein bestimmtes und 37  Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 7.

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klar erkanntes Ziel gerichteter menschlicher Thätigkeit“38. Es ließe sich nun vermuten, dass der empfundene Antagonismus zwischen Schwere und Formkraft, zusammen mit dem Bewusstsein des kontinuierlichen Arbeitens an der aufrechten Haltung und der Gefahr des Kollapses hin zur Formlosigkeit, Gefühle der melancholischen Müdigkeit hervorrufen könnte. Lipps besteht aber darauf, dass eine ästhetische Erfahrung nur als solche gilt, wenn sie den Betrachtenden eine bejahende Bestätigung dafür liefert, energetische Akteur*­ innen zu sein. Die einfühlende Interpretation anhand vergangener kinetischer Erfahrungen erlaubt nicht nur ein inniges Verstehen der Energiedynamik des Gegenstandes, sie ist auch eine Bestätigung der Kohärenz der Subjektivität der Betrachterin. Die Feststellungen zur Form von Säulen, die Lipps am Anfang seiner Rau­ mästhetik entwickelt, werden dann auf eine erste einfache räumliche Form übertragen, woran sich die Ausrichtung der restlichen Arbeit zeigt. Wie zuvor in der Säule, erkennen wir in einem vertikal-ausgedehnten Rechteck das Bemühen um eine aufrechte Form. Auch auf diese einfache und masselose Form wenden wir die Linse der mechanischen Erfahrung an und spüren in ihr die Gefahr der Formlosigkeit, ein Zerren in die Weite und nach unten. Die von Lipps attestierte optische Täuschung, dass wir die Höhe des Vierecks überschätzen, wird zurückgeführt auf unseren Versuch, dem Viereck Formkraft zu verleihen und sicherzustellen, dass die Gefahr der Formlosigkeit nicht eintritt. Über diese sicher gewagte Deutung der Form des Vierecks offenbart sich auch die geometrische Form als Ausdruck von Kraft und Empfängerin unseres einfühlenden Mitgefühls.

IV. Das Argument, dass unsere verkörperte Intuition für Kräfteverhältnisse einen objektiven Blick auf die Welt erlaubt und darüber hinaus eine kohärente Subjektivität bestätigt, dürfte heute kaum vertretbar erscheinen. Umso erstaunlicher ist es, dass das aktuelle Interesse an Phänomenen der Empathie auf bestimmte Thesen zurückgreift, die von den Autor*innen der Einfühlungs­ ästhetik vertreten werden. Besonders der Vorschlag, dass Empathie auf der Aktivierung unserer Spiegelneuronen beruht, wie unter anderem von Vittorio Gallese skizziert,39 geht davon aus, dass das Vermögen zur Empathie eine Form von verkörpertem Wissen darstellt, und weiter, dass dieses insbesondere von der Wahrnehmung von Bewegung aktiviert wird. Wenn Gallese zusammen mit David Freedberg die Theorie der Spiegelneuronen anwendet, um eine zeitge38  Lipps 1897 (wie Anm. 18), S. 11. 39  Vittorio Gallese: The Roots of Empathy. The Shared Manifold Hypothesis and the Neural Basis of Intersubjectivity, in: Psychopathology 36 (2003), Heft 4, S. 171–180.

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nössische Einfühlungsästhetik zu entwickeln, weisen die Resultate gegenüber der Einfühlungsästhetik 150 Jahre zuvor jedoch einen bemerkenswerten Unterschied auf. Wie ich zu Beginn dieses Aufsatzes unterstrichen habe, ist es das erstaunliche Verdienst der Einfühlungsästhetik von Wölfflin und Lipps zu beschreiben, wie wir uns aufgrund der Erfahrung von Kräften auf nicht-figurative Formen beziehen. Im Gegensatz dazu argumentieren Gallese und Freedberg, dass eine einfühlende Erfahrung von Kunst möglich ist 1) aufgrund des repräsentativen Gehalts (der Darstellung von Schmerz in den Gesichtern der Opfer von Goyas Soldaten beispielsweise), oder 2) wenn wir abstrakte Formen (wie in der Malerei Jackson Pollocks) als Spur menschlicher Gesten betrachten, deren Bewegung wir imaginär nachvollziehen können (d.h. wir ahmen in der Vorstellung die Geste des Künstlers nach). Gallese und Freedberg konstatieren, dass „the relationship between embodied empathetic feelings in the observer and the quality of the work in terms of the visible traces of the artist’s creative gestures, such as vigorous modeling in clay or paint, fast brushwork and signs of the movement of the hand more generally“ ästhetische Erfahrungen ermöglichen.40 In einer solchen Erfahrung ästhetischer Empathie empfinden wir also die Bewegung einer menschlichen Hand nach, die der unseren analog ist. Wölfflin und Lipps hingegen beschreiben die Möglichkeit, sich mit Gegenständen und einfachen räumlichen Formen in Beziehung zu setzen, nicht als Spuren einer vergangenen menschlichen Tätigkeit, sondern als reine Kraftvektoren. Aus der Perspektive heutiger Einfühlungstheorien bleibt das ein radikaler Vorschlag, den es zu berücksichtigen gilt – nicht zuletzt, wenn wir versuchen, ein ökologisches Bewusstsein für eine Welt von Lebensformen und Gegenständen zu entwickeln, die von uns selbst radikal verschieden sind.

40  David Freedberg und Vittorio Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Esthetic experience, in: Trends in Cognitive Sciences 11 (2007), Heft 5, S. 197–203, hier S. 199.

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Bewegungskräfte in den Künsten

Ivana Rentsch

Die Form musikalischer Bewegungskraft nach 1600 Zur fundamentalen Neubestimmung klanglicher Phänomene zwischen Mechanik, Universalharmonik und höfischem Verhaltensideal im Frankreich Marin Mersennes

Bei den Debatten um musikalische Wirkungen und Nebenwirkungen, die nach 1600 europaweit geführt wurden, standen mitnichten nur ästhetische, sondern vielmehr auch theologische, physikalische und moralische Fragen auf dem Prüfstand. Wie unter einem Brennglas konzentrierten sich insbesondere in Frankreich die ebenso unterschiedlichen wie aktuellen Perspektiven, die in einem essentiellen Punkt übereinstimmten: dem Wissen um die Kraft von Musik. Dass klanglichen Phänomenen eine überwältigende Wirkmacht eigne, stand seit der Antike außer Frage. Der springende Punkt lag jedoch darin, dass es das tradierte Wissen zu einem Zeitpunkt von Grund auf neu zu bestimmen galt, als sich mit der tiefgreifenden wissenschaftlichen und philosophischen Wende im Umkreis von Descartes, Galilei oder Huygens selbstverständliche Überzeugungen verflüchtigten. Musik war hierbei gleich in mehrfacher Hinsicht betroffen, da die akustischen Phänomene einerseits mit den bahnbrechenden Entdeckungen der Mechanik zusammenhingen und andererseits die harmonischen Gesetze etwa von Johannes Kepler prominent in die aktuellsten astronomischen Berechnungen einbezogen wurden. Diese naturwissenschaftliche Dimension wurde, mehr noch als in der Physik oder Astronomie, von einer theologischen Frage überlagert, da Musik nicht nur in der Universalharmonik an den Kern der Schöpfung rührte, sondern darüber hinaus in der musikalischen Praxis den himmlischen Klang evozieren konnte. Die Eigenheit der frühneuzeitlichen Musik, auf theoretischer Ebene als gewichtiger Gegenstand der (Natur-)Wissenschaft zu gelten und gleichzeitig in der Praxis – weit über geistliche Zwecke hinaus – integraler Bestandteil der vornehmen Lebenswelt zu sein, rückt schließlich als weiteren zentralen Parameter das Verhaltensideal zu Zeiten von Louis XIII in den Fokus. Geradezu paradigmatisch dafür, dass es in Frankreich selbst in einer Mönchszelle, trotz unbeirrbarer theologischer Überzeugung und mit genuin wissenschaftlichem Interesse bereits im frühen 17. Jahrhundert schlechterdings unmöglich war, das weltliche Modell des honnête homme zu ignorieren, erscheinen die Veröffentlichungen des Minimen­ paters Marin Mersenne.

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Am Beispiel Mersennes, dessen Schrifttum in der Harmonie universelle kulminierte, der zeitlebens eine beeindruckende Korrespondenz mit zahllosen Wissenschaftlern pflegte und in Verbindung zum geographisch benachbarten Königshof stand, sollen im Folgenden die physikalischen, theologischen und gesellschaftlichen Dimensionen des musikalischen Kraftdiskurses im frühneuzeitlichen Frankreich nachvollzogen werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die elementare Wirkmacht, die der Musik attestiert wurde, in der musikalischen Praxis ein Regulativ unausweichlich machte. Aufgrund der genuinen Sinnlichkeit des Phänomens, dessen Kraft sich ohne Umwege über die Ratio unmittelbar körperlich entlud, erschien eine moralische Kanalisierung unabdingbar. Dass die Zivilisierung der Klänge grundsätzlich über kompositorische Ordnungsprinzipien erfolgte, anhand derer die flüchtigen musikalischen Bewegungskräfte in eine honette Form gegossen wurden, soll abschließend dargelegt werden. Um jedoch die Wirkweise und moralische Dimension der damit verbundenen Kompositionsästhetik in ihrer ganzen Tragweite begreifen zu können, gilt es erstens, den von Mersenne an vorderster Front erforschten wissenschaftlichen Kraftdiskurs sowie zweitens das Verhältnis der Universalharmonik zum Ideal des honnête homme zu skizzieren.

I. Musikalische Bewegungskraft Wie der Titel seiner erklärten Hauptschrift, der 1636 und 1637 in Paris veröffentlichten Harmonie universelle, explizit macht, und wie es von der geradezu omnipräsenten Auseinandersetzung mit Musik in fast allen Veröffentlichungen seit den Quæstiones celeberrimæ in Genesim (1623) untermauert wird, positionierte sich Mersenne von Beginn an auf dem Feld der Universalharmonik. Damit knüpfte er an eine traditionsreiche Disziplin an, die als musica fest im Quadrivium verankert war und auf gewichtige antike Ahnherrn zurückblicken konnte. Dass Mersenne jedoch keineswegs bloß auf überliefertes Wissen zugriff, sondern ganz im Gegenteil nach einer grundlegenden Neuformulierung universalharmonischer Phänomene strebte, macht die Harmonie universelle zu einem eindrucksvollen Zeugnis moderner Physik. Ganz im Sinne der quadrivialen Disziplin der Musik zielte Mersenne zeitlebens darauf, die essentiellen Mechanismen klanglicher Erscheinungen zu erkennen und präzise zu beschreiben. Im frühen 17. Jahrhundert bedeutete dies, dass auch andere Zugriffe denkbar gewesen wären – Alternativen, die Mersenne ausnahmslos als Sekten verurteilte: sei es astronomisch-geometrisch ausgerichtet wie in Johannes Keplers Harmonices mundi, sei es latent esoterisch wie bei Robert Fludd oder (al-)chemisch wie Heinrich Khunrath.1 Es zeugt von Mersennes wissenschaftlichem 1  Marin Mersenne: Traité de l’harmonie universelle [1627], hg. von Claudio Buccolini, Paris 2003, S. 338. Zu Johannes Keplers Harmonices mundi siehe Michael Dickreiter: Der Musiktheo-

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Selbstverständnis, dass er nur in die Theoriebildung aufnahm, was er als experimentell erwiesen ansah. So erscheint es charakteristisch, dass er als erster die berühmte und noch im 17. Jahrhundert ungebrochen rezipierte antike Legende als unhaltbar ablehnte, der zufolge Pythagoras an einer Schmiede vorbeigegangen sei und zufällig Schläge von einem kleineren und einem exakt doppelt so schweren Hammer auf einen Amboss gehört habe, die im Oktavabstand erklungen seien, worauf er die harmonischen Schwingungsverhältnisse – sprich: das universalharmonische Kernmoment schlechthin – entdeckt habe. Während neben vielen anderen auch der in den musikpraktischen Teilen der Harmonie universelle einschlägig rezipierte Gioseffo Zarlino ganz selbstverständlich auf die Pythagoras-Legende rekurrierte, überprüfte Mersenne das Phänomen experimentell – mit negativem Ergebnis.2 Unter grundsätzlicher Vermeidung von Metaphorik trat er als Verfechter eines naturwissenschaftlichen Anspruchs in Erscheinung, der die Universalharmonik auf dem neuesten Kenntnisstand der Physik zu verhandeln suchte. Diese Fokussierung wurde zwar dahingehend theologisch eingebettet, dass Gott als Urheber der Schöpfung unantastbar blieb, theologische Prämissen für die experimentelle Erforschung jedoch keine Rolle spielten. Obwohl Mersenne den herausragenden Stellenwert von Musik als Forschungsgegenstand damit begründete, dass man alle anderen Wissenschaften kennen müsse, um sie vollkommen zu verstehen, ist die klare Priorität mechanischer Phänomene unverkennbar.3 Das von Mersenne in den ersten drei Büchern der Harmonie universelle ausführlich dargelegte Grundprinzip sämtlicher Erscheinungen ist denn auch buchstäblich zu verstehen: die Bewegung.

retiker Johannes Kepler, Bern u. a. 1973; Rainer Bayreuther: Johannes Keplers musiktheoretisches Denken, in: Musiktheorie 19 (2004), S. 3–20; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Der Streit um Kosmologie und Harmonie zwischen Robert Fludd und Johannes Kepler, in: Michael Zywietz (Hg.): Buxtehude jenseits der Orgel, Graz 2008, S. 119–150; D. P. Walker: Kepler’s Celestial Music, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 30 (1967), S.  228–250. Zum Verhältnis von Musik und Alchemie siehe u. a. Ivana Rentsch: Sphärenklänge am Hof Rudolfs II. Musik zwischen Alchemie und Astronomie: Michael Maier und Johannes Kepler, in: Die Tonkunst 6 (2012), S. 320–330. 2  Mersenne 2003 (wie Anm. 1), S. 413; siehe auch François de La Mothe le Vayer: Discours sceptique sur la musique, in: Marin Mersenne: Questions harmoniques, dans lesquelles sont contenu plusieurs choses remarquables pour la physique, pour la morale et pour les autres sciences, Paris 1634, S. 84–169, hier S. 149f. 3  Marin Mersenne: Questions harmoniques, dans lesquelles sont contenu plusieurs choses remarquables pour la physique, pour la morale et pour les autres sciences, Paris 1634, S. 51: „la Musique […] est bien plus difficile que l’on ne se l’imagine, et qu’il faut sçavoir toutes les autres sciences pour la comprendre parfaitement.“ („die Musik […] ist viel schwieriger, als man denkt, und man muss alle anderen Wissenschaften kennen, um sie vollkommen zu verstehen.“) Sämtliche Übersetzungen aus dem Französischen stammen von Ivana Rentsch.

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Der in Mersennes Schrifttum geradezu omnipräsente Kernbegriff der „mouvemens“ und dessen ausführliche Entfaltung werden bisweilen als „Bewegungslehre“ bezeichnet4 – ein Terminus, der im Rahmen des musiktheoretischen Schrifttums eine verschrobene Singularität suggeriert und den Blick darauf verstellt, dass der Autor mitnichten jenseits des zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurses stand. Ganz im Gegenteil pflegte Mersenne über Jahrzehnte und bis zu seinem Tod eine extensive Korrespondenz mit zahlreichen europäischen Wissenschaftlern, wobei zu der illustren Riege an vorderster Stelle René Descartes, Blaise Pascal, Thomas Hobbes, Gilles Personne de Roberval oder François de La Mothe le Vayer zählten.5 Zusätzlich unterstrichen wird das permanente Bemühen um einen breiten Austausch über wissenschaftliche Fragen, Experimente und Ergebnisse durch die regelmäßige „Académie“, die der Minimenpater ab 1635 – und somit gut 30 Jahre vor Gründung der Aca­ démie Royale des sciences – in seiner Klosterzelle veranstaltete.6 Dass Mersenne ein europaweites Wissenschaftsnetzwerk pflegte, lässt sich detailliert im umfangreichen Nekrolog mit einer ausführlichen Aufzählung der Rezep­ tionszeugnisse nachvollziehen.7 Mersennes eigentliche Motivation für diesen ­kommunikativen Kraftakt bestand fraglos darin, sich des aktuellsten Standes insbesondere der experimentellen Physik zu versichern und mit eigenen Forschungen daran anzuknüpfen. Die für seine Theoriebildung zentrale Bedeutung der „mouvemens“ deckt sich denn auch mit den aufsehenerregenden Erkenntnissen der modernen Mechanik.8 Dies erscheint umso bemerkens­ werter, als der Minimenpater Mersenne durchaus persönliche Risiken in Kauf nahm, rekurrierte er doch ausführlich auf Galileo Galilei, der 1633 unter Häresie-Verdacht stand und von der Römischen Inquisition zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Bereits 1634 und 1639 veröffentlichte Mersenne in zeit­ typisch freier französischer Übersetzung zwei von Galileis nur handschrift-

4  Vgl. Philippe Vendrix: Mersenne, Marin, in: Laurenz Lütteken (Hg.): MGG Online, Kassel u. a. 2016ff., zuerst veröffentlicht 2004, online veröffentlicht 2016, www.mgg-online.com/mgg/stable/15297, (01. 09. 2020). 5  Zu Mersennes Position im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs siehe Penelope Gouk: Music, Science and Natural Magic in Seventeenth-Century England, New Haven 1999, S. 170– 178; Albert Cohen: Music in the French Royal Academy of Sciences. A Study in the Evolution of Musical Thought, Princeton 1981, S. 97–114 und S. 191–201. 6  René Taton: Le P. Marin Mersenne et la communauté scientifique parisienne au XVIIe siècle, in: Jean-Marie Constant und Anne Fillon (Hg.): Actes du colloque. 1588–1988. Quatrième Centenaire de la naissance de Marin Mersenne, Le Mans 1994, S. 13–25, hier S. 22f.; siehe auch Armand Beaulieu: Mersenne. Le Grand Minime, Brüssel 1995, S. 173–185. 7  F. H. D. C. [Hilarion de Coste]: La Vie du R. P. Mersenne. Theologien, philosophe et mathematicien de l’ordre des peres Minimes, Paris 1649. 8  Ausführlich dargelegt in Robert Lenoble: Mersenne ou la naissance du mécanisme, Paris 1971.

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lich kursierenden Mechanik-Traktaten: Les Mechaniques de Galilée und Les Nouvelles Pensées de Galilée.9 Mersennes Grundidee besteht darin, dass die neuesten Erkenntnisse zur Mechanik auf Musik nicht nur übertragbar seien, sondern sich dort auch besonders deutlich herauskristallisierten. Dabei spielen Experimente zur Gravitation, zur Bewegung von Körpern oder zur Beschaffenheit von Luftmassen insofern eine entscheidende Rolle, als Mersenne die Gesetze der „mouvemens“ für die „mouvemens des sons“ geltend macht. Der Argumentationsgang spiegelt sich direkt im Aufbau der insgesamt neun Traktate der Harmonie univer­ selle, deren erster Traktat von der Natur der Klänge und den Bewegungen aller Körper handelt („Traitez de la nature des sons, et des mouvemens de toutes sortes de corps“).10 Darin wird zunächst im ersten Buch („de la nature et des proprietez du son“) der Klang als Gegenstand eingegrenzt, worauf das zweite („des mouvemens de toutes sortes de corps“) und das dritte Buch („du mouvement, de la tension, de la force, de la pesanteur, et des autres proprietez des chordes Harmoniques, et des autres corps“) die Kräfte von Körpern und Saiten erforschen.11 Gleichsam als Zusammenschau aller physikalischen Kräfte schließt sich daran ein 36-seitiger „Traité de mechanique, des poids soustenus par des puissances sur les plans inclinez à l’Horizon“ an. Dieser Mechaniktraktat über Anziehungskräfte und Gravitation in der Horizontalen ist zwar explizit dem Mersenne nahestehenden Gilles Personne de Roberval, Mathematikprofessor am Collège Royal de France, zugeschrieben, kommt jedoch einer Galilei-Paraphrase gleich, wie sie Mersenne auch in den französischen Übersetzungen vorgelegt hatte.12 Für Mersennes Universalharmonik ist der Stellenwert der

9  Zu Mersennes Galilei-Rezeption und den beiden freien Übersetzungen ins Französische siehe Bernard Rochot (Hg.): Introduction, in: Marin Mersenne: „Les Mechaniques“ de Galilée Mathématicien et Ingénieur du Duc de Florence [1634], Paris 1966, S. 7f.; John Lewis: Galileo in France. French Reactions to the Theories and Trial of Galileo, New York u. a. 2006, S. 133f.; vgl. Lenoble 1971 (wie Anm. 8), S. 391–413. Mersennes verklausulierte Stellungnahme zur Verurteilung Galileis findet sich in Marin Mersenne: Questions théologiques, morales, physiques et mathématiques où chacun trouvera du contentement ou de l’excercice, Paris 1634, S. 214–228. Siehe dazu Pierre Costable: Mersenne et la cosmologie, in: Jean-Marie Constant und Anne Fillon (Hg.): Actes du colloque. 1588–1988. Quatrième Centenaire de la naissance de Marin Mersenne, Le Mans 1994, S. 47–55, hier S. 51–55. 10  Zur langwierigen Entstehungs- und Druckgeschichte sowie zur Untergliederung der Harmonie universelle in unterschiedliche Traktate mit (meist) eigenständiger Paginierung siehe Beaulieu 1995 (wie Anm. 6), S. 133–172. 11  Marin Mersenne: Harmonie universelle. Contenant la Theorie et la Pratique de la Musique, Bd. 1, Paris 1636, S. 1–84 (Livre premier), S. 85–156 (Livre second), S. 157–228 (Livre troisieme), S. 1–36 (Traité de mechanique). 12  Zur Zuschreibung von Mersennes Galilei-Paraphrasen an Roberval im „Traité de mechanique“ der Harmonie universelle siehe Rochot 1966 (wie Anm. 9), S. 7f.; zu Mersenne und Roberval siehe u. a. Lenoble 1971 (wie Anm. 8), S. 413–437; Alan Gabbey: Mersenne et Roberval, in:

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physikalischen Prinzipien deswegen von entscheidender Bedeutung, weil er nicht etwa in bloßer Analogie und mehr oder weniger metaphorisch darauf rekurrierte, sondern die mechanischen Gesetze direkt und mit experimentellem Zugriff anhand von Klangphänomenen erforschte. Hier kommen die „mouvemens“ ins Spiel: Eine angeschlagene Saite, eine Trommel oder eine Kanonenkugel werden durch eine einwirkende Kraft in Bewegung versetzt und übertragen diese auf einen anderen Körper, der dadurch seinerseits erschüttert wird. Dies bedeutet, dass es sich bei jedem akustischen Phänomen um eine mechanische Kraftübertragung handelt, die – im Gegensatz zur Gravitation – nicht von ruhenden Körpern ausgeht, sondern durch eine physische Manipulation ausgelöst wird. Dass Mersenne nicht einfach auf physikalische Gesetze rekurrierte und diese stattdessen über Dutzende von Seiten weitenteils ohne Bezug zur Musik ausführte, liegt nicht etwa daran, dass er die Harmonik aus dem Blick verloren hätte, sondern an den lückenhaften Gesetzen der jungen Disziplin. Für eine musikalische Mechanik, auf die Mersenne letztlich zielte, musste zunächst die Kraftübertragung von Körpern experimentell erforscht und die Frage nach der Beschaffenheit von Luft geklärt werden. Vor dem Hintergrund der physikalischen Wende um 1600 erklärt sich Mersennes Konzeption der Universalharmonik, die sich direkt in den zeitgenössischen mechanischen Diskurs eingliedert. Es sind dieselben physikalischen Probleme, die auch seine Korrespondenzpartner vom nahestehenden Roberval über Descartes bis hin zu Huygens oder Gassendi umtrieben. Damit wurde selbst die umstrittene Frage nach dem Vakuum insofern zu einer musikalischen, als nicht geklärt war, was mit den „mouvemens des sons“ passiert, wenn die Luftmasse wegfällt. Gerade weil sich daraus grundsätzliche Erkenntnisse über musikalische Kräfte ableiten ließen, experimentierte Mersenne – etwa im Gegensatz zu Descartes, dessen Forschungsinteresse anders gelagert war und der die Möglichkeit eines Vakuums kategorisch ausschloss – mit dem „vuide“13. Es entsprach Mersennes wissenschaftlichem Selbstverständnis, nur in Theorie zu fassen, was experimentell beweisbar war. Dass er denn auch – wie von Blaise Pascal pointiert formuliert – mehr „belles questions“ stellte, als er selbst je beantworten konnte,14 widerspiegelt schlicht den hohen Stellenwert Jean-Marie Constant und Anne Fillon (Hg.): Actes du colloque. 1588–1988. Quatrième Centenaire de la naissance de Marin Mersenne, Le Mans 1994, S. 93–111; zu Mersennes Rezeption von Galileis mechanischer Resonanztheorie siehe Sigalia Dostrovsky: Early Vibration Theory. Physics and Music in the Seventeenth Century, in: Archive for History of Exact Sciences 14 (1975), S. 169–218, hier S. 179–183. 13  Mersenne 1636 (wie Anm. 11), Livre premier de la nature et des proprietez du son, S. 8f.; vgl. Lenoble 1971 (wie Anm. 8), S. 429f. 14  Blaise Pascal: Œuvres complètes, hg. von Jean Mesnard, Bd. 4, Paris 1992, S. 214: „[U]n talent tout particulier pour former de belles questions, en quoi il n’avait peut-être pas de sem-

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von Arbeitshypothesen. Besonders deutlich wird dies an den Grenzen von Mersennes Erkenntnissen der „mouvemens des sons“: Während er beweisen konnte, dass Klangphänomene durch mechanisch ausgelöste Kräfte zustande kommen, war die genaue Art und Weise, wie die Übertragung durch die Luft erfolgt, experimentell nicht zu belegen. In Anlehnung an die mechanische ­Vorstellung von Gassendi, der eine Zusammensetzung von sich stetig bewegenden Atomen zur Diskussion stellte, hielt Mersenne eine atomistische Klangtheorie zwar für möglich, als unbeweisbare Hypothese jedoch nicht für belastbar.15 Solange aber nicht experimentell nachvollzogen werden könne, wie die unterschiedlichen Klangqualitäten mit den jeweiligen Atombewegungen kausal zusammenhingen, verbleibe „la speculation des atomes“ bei den ungelösten Problemen des Philosophierens.16 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Mersenne nur in die Harmonie universelle aufnahm, was er als erwiesen erachtete, also die mechanischen Kräfte als Grundprinzip aller Erscheinungen und: Gott als Urheber.

II. Bewegung der Seele Obwohl Gott in den wissenschaftlichen Ausführungen und Experimenten keine Rolle spielte, blieb er selbstverständlicher Ausgangspunkt des physikalischen Universums – eine conditio sine qua non der naturwissenschaftlichen Wende um 1600, die nicht zuletzt die Bandbreite von Mersennes Korrespondenzpartnern erklärt, denen neben vielen anderen auch Descartes angehörte,

blable. Mais encore qu’il n’eût pas un pareil bonheur à les résoudre, et que ce soit proprement en ceci que consiste tout l’honneur, il est vrai néanmoins qu’on lui a obligation, et qu’il a donné l’occasion de plusieurs belles découvertes, qui peut-être n’auraient jamais été faites s’il n’y eût excité les savants“. („[E]in ganz besonderes Talent, schöne Fragen zu formulieren, bei dem er vielleicht nicht seinesgleichen hatte. Obwohl er kein vergleichbares Glück darin hatte, sie zu lösen, und genau darin die ganze Ehre besteht, ist es dennoch wahr, dass man ihm verpflichtet ist und dass er Anlass zu mehreren schönen Entdeckungen gegeben hat, die man vielleicht niemals gemacht hätte, wenn er die Wissenschaftler nicht dazu angeregt hätte“). Vgl. dazu Jean Mesnard: Histoire de l’œuvre de Mersenne, in: Jean-Marie Constant und Anne Fillon (Hg.): Actes du colloque. 1588–1988. Quatrième Centenaire de la naissance de Marin Mersenne, Le Mans 1994, S. 69–81, hier S. 71; Peter Pesic: Music and the Making of Modern Science, Cambridge u. a. 2014, S. 103 und S. 120. 15  Siehe dazu Lenoble 1971 (wie Anm. 8), S. 420f. 16  Marin Mersenne: Harmonie universelle, Paris 1636–1637, Bd. 3, Livre sixieme des orgues, S. 397: „[E]t mille autres choses que ie trouve tres-difficiles dans la speculation des atomes, aussi bien que dans les autres manieres de philosopher.“ („[U]nd tausend andere Dinge, die ich in der Spekulation über die Atome sehr schwierig finde, ebenso wie in den anderen Arten des Philosophierens.“)

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der den Pater ausdrücklich als einen seiner besten Freunde bezeichnete,17 oder gar der einflussreiche Skeptiker François de La Mothe le Vayer.18 Während der Ursprung der Schöpfung im wissenschaftlichen Diskurs gar nicht erst zur Debatte stand, liegt der entscheidende Unterschied zu den allermeisten seiner Korrespondenten in Mersennes Erkenntnisziel. Der Minimenpater suchte nach den physikalischen Gesetzen, um in deren Perfektion die Größe Gottes zu erfahren – eine theologische Stoßrichtung, die sich nicht zuletzt in der expliziten Zuordnung seiner Hauptschrift zur Universalharmonik widerspiegelt. Die im Kontext der zeitgenössischen französischen Wissenschaftstraktate singuläre Bezeichnung als Harmonie universelle verweist nicht nur auf die theologische Sonderstellung Mersennes in der modernen Physik, sondern zeitigt auch erhebliche Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Theorie und musikalischer Praxis. Analog dazu, wie das Erkennen mechanischer Gesetze die Vollkommenheit des Schöpfers erahnen lässt, besteht die Legitimität musikalischer Praxis in der intellektuellen Durchdringung der physiologischen Wirkung. Mit anderen Worten: Die musikalische Sinnlichkeit ist dann zulässig, wenn sie zur Reflexion über die gottgegebenen Gesetzmäßigkeiten anregt. Was Mersenne bereits 1627 als „Musique Intellectuelle“ – als geistige Durchdringung musikalischer Wirkungen – propagierte und mit einer dezidierten Ablehnung einer animalischen „Musique Sensuelle“ verband, erscheint vor diesem Hintergrund als logische Konsequenz der theologischen Zielsetzung.19 Der springende Punkt liegt in der Materialität aller physikalischen Erscheinungen, die in einem unüberwindbaren Gegensatz zur Immaterialität Gottes steht. Aufgrund der Immaterialität der göttlichen Sphäre kann der materielle Klang nie mit ihr verschmelzen, bleibt ihr jedoch dahingehend aufs Engste verbunden, dass Gott als Ursprung der mechanischen Bewegung wirkt. Gott ist der Urheber der Kraft, ohne sich selbst im akustischen Phänomen zu materialisieren: als immaterielle Kraft, die das materielle Kraftphänomen auslöst. 17  Descartes bezeichnete Mersenne neben Henricus Reneri explizit als einen seiner besten Freunde („deux de mes meilleurs amis“), wohingegen von Mersenne eine vergleichbare Äußerung nicht überliefert ist. Brief von René Descartes an Christiaan Huygens vom 27. Februar 1637, in: Œuvres de Descartes, hg. von Charles Adam und Paul Tannery, Bd. 1, Paris 1996, S. 34. Vgl. dazu Armand Beaulieu: La Correspondance de Mersenne, in: Jean-Marie Constant und Anne Fillon (Hg.): Actes du colloque. 1588–1988. Quatrième Centenaire de la naissance de Marin Mersenne, Le Mans 1994, S. 57–68, hier S. 61; Beaulieu 1995 (wie Anm. 6), S. 83–93. 18  Mersenne hatte La Mothe le Vayer gar um einen „Discours sceptique sur la musique“ gebeten, den er ohne namentliche Nennung, aber unter Verweis auf einen geschätzten Skeptiker als Autor vollständig in die Questions harmoniques integrierte; Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 84–169. 1637 veröffentlichte La Mothe le Vayer seinen leicht überarbeiteten mit einer Widmung an „R[évérend]. P[ère]. Mersenne“ unter eigenem Namen; François de La Mothe le Vayer: Discours sceptique sur la musique, Paris 1637. 19  Siehe u. a. Mersenne 2003 (wie Anm. 1), S. 13; Mersenne 1636 (wie Anm. 11), Preface generale au lecteur, unpag.

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Vor diesem Hintergrund können physikalische Gesetze nur mittelbar, durch die Reflexion über deren Perfektion, zum wahren Ziel führen. Da auch der Klang allein als mechanische, durch Kraft ausgelöste Bewegung von Luftmasse und Körper überhaupt existiert und somit immer materiell ist, kann selbst die vollkommenste Musik bloß über die Ratio zu Gott führen.20 Auf dieser Grundlage setzte Mersenne zwar die rationale Theorie an erste Stelle, plädierte nachgeordnet jedoch ausdrücklich für die Notwendigkeit einer musikalischen Praxis. 1634 legte er denn auch mit den Questions harmo­ niques eine regelrechte Apologie der Musikpraxis vor, die neben mehreren anderen Veröffentlichungen aus demselben Jahr gezielt den Boden für die Har­ monie universelle bereiten sollte. In keiner Schrift davor näherte sich Mersenne so weit an das zeitgenössische Musikleben an. „[Q]ue l’harmonie a une grande puissance sur les auditeurs, qu’elle fait quelquefois pleurer et souspirer: mais si l’on suit la fin de ces soupirs, ils ne tendent ailleurs qu’à la possession du souverain bien, car l’harmonie nous donne comme un avant-goust des plaisirs divins, qui sont dans le Ciel, pour nous faire desirer cet heureux sejour, auquel nous devons entendre la parfaite harmonie, qui mettra nos esprits dans un eternel ravissement. Et puis ce n’est pas une mollesse d’esprit, que de soûpirer pour une chose si belle et si ravissante comme est l’harmonie, et ces pleurs ne derogent point à la grandeur du courage, pourveu que le sujet le merite; de là vient que Virgile parle d’Enée en ces termes, Sic fatur lachrimans [sic].“21

„[D]ass die Harmonie eine große Macht auf die Zuhörer hat, die sie manchmal weinen und seufzen lässt: aber, wenn man das Ziel dieser Seufzer verfolgt, führen sie an keine andere Stelle als zum Souverän selbst, denn die Harmonie gibt uns einen Vorgeschmack auf die göttlichen Freuden, die im Himmel sind, damit wir uns den glücklichen Aufenthalt herbeiwünschen, bei dem wir die perfekte Harmonie hören werden, die unseren Geist in ein ewiges Entzücken versetzen wird. Und folglich ist es keine Weichheit des Geistes, bei einer so schönen und erhebenden Sache wie der Harmonie zu seufzen, und dieses Weinen tut der Größe der Geistesverfassung keinen Abbruch, vorausgesetzt, dass der Gegenstand verdienstvoll ist; daher kommt, dass Vergil von Aeneas in diesen Worten spricht, Sic fatur lacri­ mans [so spricht er weinend].“ 20  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 2, Traitez des consonances, des dissonances, des genres, des modes, et de la composition, Livre premier des consonances, S. 5: „[L]e son est materiel, et l’unité est immaterielle“ („[D]er Klang ist materiell, die Unität immateriell“). 21  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 61f.

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Die von Mersenne propagierte Musikpraxis zielte darauf, die weltlichen Gepflogenheiten mit den Prämissen der „Musique Intellectuelle“ zu versöhnen, was etwa in der Harmonie universelle zu der Empfehlung führte, die üblicherweise mehrstündigen Konzerte zu verkürzen, um Zeit für die Diskussion über die gehörten harmonischen und satztechnischen Wirkungen zu gewinnen.22 Obwohl Mersennes theologisch motivierter Vorschlag folgenlos verhallte, traf er mit der Kanalisierung des „brutalen Vergnügens“ ein empfindliches Moment der zeitgenössischen Musikpraxis.23 Das entscheidende Moment bestand nämlich nicht nur aus theologischer, sondern auch aus gesellschaftlicher Perspektive in der unmittelbaren Wirkmacht der Klänge auf den Körper und über diesen auf den Geist – ein auf die Antike zurückgehender Gemeinplatz, der auch um 1600 nichts an seiner Tragweite eingebüßt hatte. Entsprechend zählte die Medizin zum Bereich der musica humana, die wiederum – als Schöpfung des sechsten Tages – selbstverständlicher Bestandteil der Universalharmonik war. Indem aber Mersenne die Universalharmonik auf den aktuellsten Stand der Wissenschaft stellte und sie aufs Engste mit der modernen Physik verknüpfte, avancierte die Medizin zum Teilgebiet der Physik („la Medecine, qui est une partie de la Physique“).24 Daraus leitet sich der Schluss ab, dass sämtliche physiologischen Phänomene denselben mechanischen Gesetzen gehorchen, wie alle anderen materiellen Erscheinungen auch. Auf die praktische Musik bezogen bedeutet dies, dass durch Schläge auf einen Klangkörper Bewegungen ausgelöst werden, die sich durch die Luft fortpflanzen, auf den menschlichen Körper treffen und diesen erschüttern. Die bereits von Mersenne evozierte Idee vom menschlichen Körper als Instrument ist folglich alles andere als eine Metapher, sondern entspricht dem wissenschaftlichen Standard.25 Das moralische Problem der praktischen Musik gründet nicht in dem mechanischen Phänomen an sich, sondern in den Konsequenzen der physio22  Mersenne 1636 (wie Anm. 11), Premiere Preface generale au lecteur, unpag.: „[T]outes les assemblees des concerts se font seulement pour chanter, au lieu que de 2 ou 3 heures que l’on employe à cet exercice, plusieurs honnestes hommes desireroient qu’on print la moitié de ce temps pour discourir des causes qui rendent les pieces de la composition agreables, et qui font que de certaines transitions d’une consonance à l’autre, et de certains meslanges de dissonances sont meilleurs les uns que les autres“. („[A]lle Konzertanlässe macht man nur um zu singen, dabei wünschten mehrere honnêtes hommes, dass man die Hälfte der zwei oder drei Stunden, die man dieser Übung widmet, nutzen würde, um die Gründe zu diskutieren, die die Stücke der Komposition angenehm machen und die bewirken, dass einige Übergänge von einer Konsonanz zur anderen und bestimmte Mischungen von Dissonanzen besser sind als andere“). 23  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 53: „bien que ce plaisir soit brutal“ („obwohl dieses Vergnügen roh ist“). 24  Mersenne 2003 (wie Anm. 1), S. 77. 25  Siehe u. a. Mersenne 2003 (wie Anm. 1), S. 66.

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logisch wirksamen Kraft auf den Geist. Selbst in den experimentell gestützten Ausführungen zu mechanischen Bewegungen in Mersennes Harmonie univer­ selle ist das Wissen um die Interdependenz von Körper und Seele immer mitzudenken. Dass Mersenne trotzdem darauf verzichtete, die Übertragung von den physiologischen Bewegungen auf die immaterielle Seele im Detail zu beschreiben, lag an seinem methodischen Zugriff: Da er eine experimentelle Überprüfung wissenschaftlicher Befunde voraussetzte und diese Experimente zwangsläufig nur in der materiellen Welt erfolgen konnten, stellte der Schritt in die Immaterialität eine unüberwindbare Grenze dar. Während die Erschütterungen des Körpers in den Bereich der Mechanik fielen, begann mit den Auswirkungen ebendieser physischen Bewegungen auf die Seele die Theologie. Mersennes Überzeugung, dass Körper und Seele aufs engste zusammenhängen, ist ebenso offenkundig wie die nur sehr vagen Vorstellungen der Wirkweise. So erwog er etwa, dass der Körper groß genug sein müsse, um der vernünftigen Seele als Organ und Instrument zu dienen, nur um sogleich nachzuschieben, dass wir gar nicht wissen können, ob die Größe überhaupt eine Rolle spiele.26 Während die Wirkmacht von Klängen auf den Geist grundsätzlich außer Frage stand, blieb infolge der unüberwindbaren Grenze zwischen materieller Welt und immaterieller Seele die Art der Einflussnahme grundsätzlich unbeweisbar – eine Unbeweisbarkeit, die Mersenne mehrfach in aller Schärfe auch gegen die antiken Autoritäten ins Feld führte.27 Wenngleich die Interdependenz undurchschaubar bleiben musste, ging mit dieser Überzeugung ein singuläres moralisches Potential einher. „[D]e tous les obiects des sens il n’y a que le son qui soit propre pour former les mœurs, à raison qu’il consiste dans un mouvement, qui ne se remarque pas dans les couleurs, dans les odeurs, ou dans les saveurs, et que les 26  Mersenne 2003 (wie Anm. 1): „[C]ar il faut que le corps soit assez grand pour recevoir l’ame raisonnable, et pour servir d’organe et d’instrument à ses facultez; neantmoins nous ne pouvons sçavoir quand les parties sont si petites ou si grandes que la nature de chaque chose ne puisse naturellement estre conservée.“ („[D]enn der Körper muss genügend groß sein, um eine vernünftige Seele zu erhalten und als Organ und Instrument ihrer Fähigkeiten zu dienen; dennoch können wir nicht wissen, wann die Teile so klein oder so groß sind, dass die Natur aller Dinge natürlich überdauern kann.“) 27  Marin Mersenne: Les Preludes de l’harmonie universelle, Paris 1634, S. 221: „[N]ous ne voyons nul vestige dans ces Philosophes qui puisse tant soit peu persuader qu’ils ayent connu les passions, et leurs mouvemens iusques a un tel point, qu’ils ayent peu establir des sons, ou des chants pour émouvoir, et pour appaiser chaque passion.“ („[W]ir sehen keine Spur bei diesen [antiken] Philosophen, die zumindest ein bisschen davon überzeugen könnte, dass sie die Leidenschaften und ihre Bewegungen bis zu einem Punkt gekannt hätten, an dem sie Klänge oder Gesänge bestimmen konnten, um [gezielt] jede Leidenschaft zu erregen oder zu besänftigen.“)

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actions ont un semblable mouuvement, de sorte qu’il prend l’imitation pour fondement de sa solution, qui doit, ce me semble, s’expliquer en cette maniere. Le mouvement des sons est semblable aux actions, par le moyen desquelles on acquiert les habitudes de la vertu, et par lesquelles on est conduit à la Morale; et consequemment ils sont propres pour exprimer, et pour former, et conserver les mœurs, puisque chaque chose est engendrée, et conservee par son semblable.“28 „[V]on allen sinnlichen Dingen ist es nur der Ton, der für die Formung der Sitten geeignet ist, weil er aus einer Bewegung besteht, die nicht in Farben, in den Gerüchen oder Geschmäckern zu finden ist, und dass die Handlungen eine vergleichbare Bewegung aufweisen, in der Art, dass er die Imitation als Grundlage der Lösung nimmt, was meiner Ansicht nach in dieser Weise erklärt werden kann. Die Bewegung der Töne gleicht den Handlungen, durch die man die Gewohnheiten der Tugend erwirbt, und durch die man zur Moral geführt wird; folglich sind sie angemessen, um die Sitten auszudrücken, zu formen und zu erhalten, denn jede Sache wird durch Gleiches erzeugt und erhalten.“ Der von Mersenne wissenschaftlich begründete Standpunkt, dass Töne unmittelbar Körper und Geist beeinflussten, die Wirkweise jedoch unmöglich im Detail erfasst werden könne, entsprach weitgehend dem frühneuzeitlichen Musikverständnis. Obwohl die mentale Tragweite von Musik nicht gezielt beschrieben werden konnte, bot sich als Bezugspunkt für die praktische Anwendung das geltend gemachte Ähnlichkeitsprinzip an. Dies bedeutete für das zulässige Repertoire, dass sich die Moral in der kompositorischen Anlage widerspiegeln musste. Schließlich eignete der überwältigenden und in der Rezeption kaum zu beeinflussenden Wirkung die bereits von Platon warnend beschriebene Kehrseite, dass sich mit falschen Klängen die Sitten nachhaltig ruinieren ließen.29 Übertragen auf das Verhaltensideal im frühneuzeitlichen Frankreich galt es daher, die musikalische Bewegungskraft zu kanalisieren und in eine honette Form zu gießen. Obwohl mit der Verortung musikalischer Praxis in weltlichen Kontexten eine theologisch fokussierte „Musique Intellectuelle“ keinen Platz finden konnte, erscheint es für die Rolle der Musik im Selbstverständnis des honnête homme bezeichnend, dass auch dort die sinnliche Wirkmacht an einem außermusikalischen Zweck ausgerichtet werden sollte: der passgenauen Einordnung in die höfisch geprägte Gesellschaft. Unter dieser unbedingten Voraussetzung für das vornehme Musikleben war ein sinnlicher Klangrausch, wie er aufgrund der überwältigenden Bewegungskraft 28  Mersenne 1634 (wie Anm. 27), S. 213. 29  Vgl. Platon: Der Staat, übers. von Rudolf Rufener, München 1998, S. 129–130.

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von Musik ja möglich wäre, in weltlichen Kontexten genauso undenkbar wie in geistlichen. Das noble Verhaltensideal gehorchte unter der geistreichen Oberfläche äußerst rigiden Prinzipien – ein durchorganisiertes, moralisches Menschenbild, das erklärt, weshalb sogar Mersenne, der immerhin einem strengen paulinischen Orden angehörte, den wahren honnête homme etwa in den Questions harmoniques und auch in der Harmonie universelle ausnahmslos positiv auffasste. Ob theologisch oder gesellschaftlich motiviert: Die „brutale“ Kraft der Musik musste gezähmt werden. Dass auf der Grundlage des Ähnlichkeitsprinzips auch Musik die Prämissen des Verhaltensideals zu befolgen hatte, um die Sittlichkeit nicht zu gefährden, war unumstritten. Damit avancierte die kompositorische Form zu einer moralischen Frage.

III. Die Moral der Form Parallel zu Mersennes Erforschung der universalharmonischen Mechanik veröffentlichte Nicolas Faret seine wirkmächtige Verhaltenslehre L’Honnestehomme mit dem vielsagenden Untertitel L’Art de plaire a la court (die Kunst am Hof zu gefallen). In dem 1630 erschienenen und dem Bruder des französischen Königs, Gaston d’Orléans, gewidmeten Traktat erläuterte Faret detailliert, wie man sich am Hof Ludwigs XIII zu verhalten habe. Das erklärte Ziel des höfischen Auftretens bestand darin, bei den Mächtigen Gefallen zu erregen, um Karriere machen oder zumindest den sozialen Status quo sichern zu können.30 Indem die angenehme Wirkung auf andere zum Maß aller Dinge avancierte, offenbarte das gesamte ästhetische Begriffsfeld von agréable und plaisir eine fundamentale gesellschaftspolitische Dimension. Da nur allen gefallen konnte, wer keinen Anstoß erregte, galt für sämtliche Lebenslagen die sprichwörtliche goldene Mitte der mediocrité – des ausschließlich positiv verstandenen Mittelmaßes – als unabdingbare Richtschnur. Dass mit diesem Verhaltensideal den „Honnestes-gens“ eine erhebliche Kraftanstrengung abverlangt wurde, stand bereits für Faret außer Frage. „[C]ette sorte d’hommes, que par un mot d’excellence on nomme auiourd’huy Honnestes-gens […]. Leur conduitte est accompagnée de tant de prudence […]. Leur iugement la fait tousiours demeurer dans la raison, et sçait retenir la rapidité de son mouvement, avec plus de force qu’une

30  Nicolas Faret: L’Honneste-homme ou L’Art de plaire a la cour, Paris 1630, S. 152. Zur Kategorie des honnête homme und der Galanterie siehe u. a. Alain Viala: La France galante. Essai historique sur une catégorie culturelle, de ses origines jusqu’à la Révolution, Paris 2008; Alain Montandon: Zur Galanterie im Frankreich des 17. Jahrhunderts, in: Ruth Florack und Rüdiger Singer (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin u. a. 2012, S. 19–48.

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digue bien ferme et bien appuyée ne peut arrester l’impetuosité d’une riviere, ou les ravages d’un torrent.“31 „[D]iese Art Mensch, die man mit einem Wort der Exzellenz heute honnête gens nennt […]. Ihr Verhalten ist von soviel Umsicht begleitet […]. Ihr Urteil lässt es [das Verhalten] immer im Rahmen der Vernunft bleiben und weiß die Geschwindigkeit der Bewegung mit mehr Kraft zurückzuhalten als ein gut befestigtes und gut abgestütztes Bollwerk die Wildheit eines Flusses oder die Verwüstungen eines Sturzbachs aufhalten kann.“ Der eigentliche Ausweis des Honetten besteht folglich darin, die impulsiven Bewegungen von Körper und Geist rational zu beherrschen und die eigenen Kräfte im Rahmen der mediocrité zu erhalten.32 Dass diese Kanalisierung gleichsam natürlich und im Sinne des berühmten je ne sais quoi erfolgen musste, war dem Imperativ des Gefallens geschuldet. Unter dem angenehmen Oberflächenphänomen manifestierte sich jedoch als einzig wahres Prinzip die universale Ordnung – „tout l’ordre que la raison et la verité ont estably dans le monde“.33 Wegen der unmittelbaren Wirkmacht akustischer Phänomene musste die Kontrolle von Bewegungskräften in der Musik besonders dringlich erscheinen. Obwohl in theoretischer Hinsicht unergründlich war, mit welchen materiellen Klängen welche immateriellen seelischen Effekte genau erzielt werden konnten, stand selbstredend außer Frage, dass das universale Ordnungsprinzip auch in der Musikpraxis nichts von seiner Gültigkeit einbüßte: Ebenso wie die honnêtes gens dadurch definiert wurden, dass sie ihre Impulse zu zügeln wussten, musste die sinnlich überwältigende Bewegungskraft der Klänge mit rationalen Mitteln gebändigt werden.34 Wenngleich unterschiedlich hergeleitet, stand die Notwendigkeit, das animalische Phänomen in rationale Formen einzupassen, in geistlichen wie in weltlichen Kontexten grundsätzlich außer Frage. Da die honette Gesellschaft eine dezidiert moralische sein sollte und folglich nur Gefallen erregen konnte, was moralisch integer war, stieß das höfische Musikleben durchaus auf Mersennes Zustimmung. Mehr noch: Mersenne führte das Geschmacksurteil der honnêtes gens gar als Argument für die 31  Faret 1630 (wie Anm. 30), S. 188 und S. 190f. 32  Faret 1630 (wie Anm. 30), S. 101: „Elle [la prudence] doit cognoistre ses forces, et se contenir dans une mediocrité si pure que ny l’Avarice, ny la Prodigalité la soüillent iamais.“ („Sie muss ihre Kräfte kennen und sie in einem so reinen Mittelmaß bewahren, dass weder der Geiz noch die Verschwendungssucht sie jemals besudeln kann.“) 33  Faret 1630 (wie Anm. 30), S. 145. 34  Zum galanten Musikideal und den Konsequenzen für die frühneuzeitliche Musiktheorie und Praxis siehe Ivana Rentsch: Die Höflichkeit musikalischer Form. Tänzerische und anthropologische Grundlagen der frühen Instrumentalmusik, Kassel u. a. 2012, S. 157–210.

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von ihm verfochtenen Ordnungsprinzipien an.35 Wenn aber diese Kriterien nicht berücksichtigt würden, wäre laut Mersenne die Musik niemals perfekt und stünde nicht in der Gunst der honnêtes gens, die wüssten, dass die Melodie barbarisch ist, wenn sie nicht durch Diskurs, Harmonie und Zahl begleitet wird.36 Während der „discours“ die musikalische Bewegungskraft sprachlich denotierte und damit konkret reflektierbar machte, zielten die Parameter „harmonie“ und „nombre“ auf genuin klangliche Größen. Und weil es sich bei Harmonie und Zahl zugleich um Kernbegriffe der Universalharmonik handelte, kam den beiden nonverbalen Ordnungsprinzipien über ihre rein strukturelle Qualität hinaus eine gleichsam göttliche Wertigkeit zu. Es lag auf der Hand, daraus die entscheidenden Parameter für das Urteil über musikalische Praxis abzuleiten. „[O]r les bons chants ont leurs raisons, leurs differences, et leurs proportions plus faciles que les mauvais: et la perfection de l’ordre harmonique est observée aux bons concerts, qui ont seulement autant de perfection comme ils ont d’ordre, et de reglement. L’on peut voir le 38. Problesme de la section 19. où Aristote prouve que ce qui est bien ordonné, est plus agreable et plus conforme à la nature que ce qui est desordonné.“37 „[D]enn die guten Lieder weisen ungezwungenere Grundlagen, Unterschiede und Proportionen auf als die schlechten: und die Perfektion der harmonischen Ordnung wird in den guten Konzerten berücksichtigt, die nur soviel Perfektion aufweisen, wie sie Ordnung haben. Man kann das 38.  Problem der 19. Sektion sehen, in dem Aristoteles beweist, dass das, was gut geordnet ist, angenehmer und der Natur entsprechender ist als das, was ungeordnet ist.“ Trotz der unübersehbaren Apotheose der Ordnung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese zwar den abstrakten Kern des kompositorischen Satzes betraf, nicht aber die konkrete Ausführung. Daraus folgt, dass zwar eine regelhafte Form unabdingbar war, diese Regelhaftigkeit jedoch mit erheblichem künstlerischem Impuls bestimmt und umgesetzt werden musste. 35  Dass Mersenne allerdings eine strikte Vorstellung von den wahren, d. h. vernünftig agierenden honnête gens hatte und keineswegs die höfische Gesellschaft als Ganze dazu zählte, zeigt sich u. a. in ders. 1634 (wie Anm. 3), S. 9f. und S. 32ff. 36  Mersenne 2003 (wie Anm. 1), S. 188: „la Musique ne sera jamais parfaite, ny en credit parmy les honnestes gens, qui sçavent que la melodie est barbare, si elle n’est accompagnée du discours, de l’harmonie, et du nombre“ („die Musik wird niemals perfekt sein oder das Wohlwollen der honnêtes gens haben, die wissen, dass die Melodie barbarisch ist, wenn sie nicht durch Diskurs, Harmonie und Zahl begleitet wird“). 37  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 206f.

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Es waren insbesondere zwei Momente, die den ästhetischen Spielraum der Kompositionspraxis maßgeblich bestimmten: erstens die Zulässigkeit von Komplexität und zweitens die Rolle des je ne sais quoi. Ebenso wie das Primat der Ordnung könnte auch das unermüdlich genannte Attribut „simple“ zu der Annahme verleiten, dass die regelmäßige Form ungebrochen hörbar gemacht werden sollte. Eine allzu direkt hervortretende Struktur widerspräche jedoch den honetten Anforderungen ebenso wie Mersennes universalharmonisch verankertem Musikverständnis. Im Falle der höfischen Gesellschaft erklärt sich dies durch die hohen Anforderungen an die akribisch erarbeitete eigene Urteilsfähigkeit, die deswegen unabdingbar war, weil an allererster Stelle vermieden werden musste, durch eine falsche Einschätzung einen Dissens mit anderen honnêtes gens zu provozieren und damit das gesellschaftliche Ansehen zu beschädigen.38 Da den honnêtes gens in der vornehmen Gesellschaft permanent Urteile abverlangt wurden, hatte dies eine erhebliche Übung im Umgang mit künstlerischen Ausdrucksformen zur Folge. Im Unterschied dazu lässt sich bei Mersenne die ausschließliche Zuständigkeit der „maistres“ für musikalische Urteile damit erklären, dass das Prinzip der „Musique Intellectuelle“ zwingend voraussetzte, das Gehörte rational zu durchdringen. „Il faut donc conclure qu’il appartient aux maistres de Musique et à ceux qui sont doctes en ceste science, de iuger de la bonté des chants et des concerts, plustost qu’aux ignorans, et qu’il faut croire aux experts et aux maistres, en quelque art que ce soit, quand on desire avoir un iugement solide et équitable.“39 „Man muss also daraus schließen, dass es den Meistern der Musik und denen, die in dieser Wissenschaft gelehrt sind, gebührt, über die Qualität der Gesänge und Konzerte zu urteilen, mehr als den Unwissenden, und dass man den Experten und Meistern glauben muss, in welcher Kunst auch immer, wenn man ein sicheres und angemessenes Urteil zu haben wünscht.“

38  Siehe u. a. Faret 1630 (wie Anm. 30), S. 61f. Zur fundamentalen Bedeutung der galanten Urteilsfähigkeit vgl. auch Jean de La Bruyère: Les Caractères de Théophraste traduits du grec avec Les Caractères ou Les Mœurs de ce siècle, hg. von Robert Garapon, Paris 1962, S. 349–392; François de La Rochefoucauld: Maximes, in: ders.: Œuvres complètes, hg. von Jean Marchand, Paris 1986, S. 415: „Tout le monde se plaint de sa mémoire, et personne ne se plaint de son jugement.“ („Alle beklagen sich über ihr Gedächtnis, aber niemand beklagt sich über sein Urteilsvermögen.“) 39  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 218f.

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Da die „ignorans“ nur dem sinnlich determinierten, unreflektierten „sens commun“ folgten, spielten sie für die Beurteilung von Musik ebenso wenig eine Rolle wie die vielen unwissenden „ménestriers“ – die Fiedler und gemeinen Musiker.40 Die erheblichen Anforderungen an die Hörerschaft erklären denn auch die vielen stilistischen Spielarten, die der Minimenpater durchaus positiv beschrieb, von Gioseffo Zarlino als Gewährsmann des Kontrapunkts41 bis hin zu Luca Marenzio, Girolamo Frescobaldi und Claudio Monteverdi, mit einer besonderen Wertschätzung für Jacques Mauduit.42 Die von Mersenne betonte Relevanz der Praxis für die prioritäre Theorie spiegelt sich nachdrücklich darin, dass gegen Ende der Harmonie universelle – unmittelbar vor dem abschließenden Buch „De l’utilité de l’harmonie“ – eine ausführliche Würdigung des 1627 verstorbenen höfischen Musikers Mauduit steht.43 Die „Eloge de Iacques Mauduit“ dokumentiert geradezu idealtypisch Mersennes Musikverständnis, in dem der Praxis eine große Wertschätzung zukommt, allerdings unter der unbedingten Voraussetzung, von der prioritären Theorie abhängig zu sein. Diese klare Gewichtung bestimmt selbst die Eloge, die bezeichnenderweise den Reigen von Mauduits Qualitäten – nach dem Hinweis, von einer noblen Familie abzustammen – mit einem Lob auf die umfassende Bildung des Musikers eröffnet.44 Katholisch geprägt, in der Jugend mit den „lettres humaines“ und der Philosophie befasst, vielgereist und polyglott, habe Mauduit keine Wissenschaft unberücksichtigt gelassen, auch nicht die der – aus Mersennes Sicht besonders wichtigen – „Mechaniques“.45 Nachdem die Wissenschaftlichkeit des Musikers solcherart unter Beweis gestellt worden ist, folgt ein zweiter Themenbereich, bei dem es sich jedoch – nicht minder bezeichnend – noch immer nicht um die für Mauduit eigentlich zentrale 40  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 216f.: „Ie laisse mille autres choses, dont les ignorans iugent tres-mal, à cause qu’ils n’usent que du sens commun, ou des premieres notions qui leur viennent dans l’esprit, dont les sçavans ne sont pas dépourveus, mail ils corrigent ces premieres apprehensions par plusieurs experiences et par la raison, par lesquelles ils establissent les maximes et les regles de leurs sciences si puissamment, que l’on est contraint d’en avouër et d’en embrasser la verité.“ („Ich verzichte auf tausend andere Dinge, in denen die Unwissenden sehr schlecht urteilen, weil sie nur den sens commun nutzen oder die ersten Eindrücke, die ihnen in den Sinn kommen. Davor sind die Wissenden auch nicht gefeit, aber sie korrigieren die ersten Eindrücke anhand mehrerer Erfahrungen und mit Verstand. Damit etablieren sie die Maximen und Regeln ihrer Wissenschaft so kraftvoll, dass man in ihnen zwangsläufig die Wahrheit erkennen und sie ergreifen muss.“) 41  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 2, Traitez des consonances, des dissonances, des genres, des modes, et de la composition, S. 257ff. 42  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, Livre septiesme des instrumens de percussion, S. 65. 43  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 63–72. 44  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 63. 45  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 63.

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Kompositionspraxis handelt. Stattdessen wird ausführlich das moralische Wesen des Künstlers beschrieben, das nicht nur die katholischen Wertvorstellungen, sondern zugleich die entscheidenden Kriterien eines honnête homme erfüllte. Das Ergebnis erscheint nicht minder charakteristisch: Ungeachtet seiner edlen Zurückhaltung, habe er aufgrund der langen Reihe an „Tugenden“ nicht nur in Frankreich, sondern gar europaweit Ruhm erlangt.46 Nur unter der doppelten Voraussetzung einer wissenschaftlichen Fundierung und moralischen Integrität des Autors ist eine adäquate Musikpraxis überhaupt denkbar. Entsprechend erfolgt erst zum Schluss der Eloge die Hinwendung zu Mauduits Kompositionen, und zwar am Beispiel der Messe de Requiem, die zum Tod Pierre de Ronsards entstand, ein zweites Mal zum Tod von Henri IV gespielt wurde und ein drittes Mal bei den Trauerfeierlichkeiten für Mauduit selbst unter der Leitung seines Sohns Louis Mauduit erklungen ist.47 Mersenne zufolge tritt in der Requiem-Messe die „tiefe Wissenschaft ihrer Akkorde“ zutage48 – eine überaus vage Formulierung, die auf die Priorität der Theorie verweist und zugleich der Unmöglichkeit Rechnung trägt, die Wirkweise der materiellen Klänge auf den immateriellen Geist differenziert zu erfassen. Bezeichnenderweise beschränkt sich Mersenne denn auch auf übergreifende abstrakte Aspekte, wozu an erster Stelle zählt, dass es die Kompo­ sition ermögliche, „die Kraft einer sehr einfachen Musik, die mit Andacht gesungen“ wird, real erfahrbar zu machen.49 Ohne auch nur ein Wort über die kompositionstechnischen Eigenheiten des als modellhaft exponierten Satzes zu verlieren, leitet Mersenne sogleich dazu über, der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass Mauduits Sohn Louis eine Reihe an Kompositionen edieren werde, und zwar zusammen mit den „Traktaten über die Rhythmik und die Art, unterschiedliche Versmaße in unserer Sprache anzufertigen, um der Melodie eine besondere Tugendhaftigkeit und Energie zu verleihen“.50 „Tugendhaftigkeit und Energie“ – diese musikalischen Kernbegriffe verknüpft Mersenne mit Mauduits langjährigem Streben nach einer genuin französischen Verslehre im Kontext der Académie de Poésie et de Musique von Jean-Antoine de

46  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 64: „Enfin une longue suite de vertus l’a recommandé dans sa Patrie, et a porté sa reputation au delà mesme de l’Europe.“ 47  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 63f. 48  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 63 (Hervorh. im Original): „La premiere piece qui fit paroistre la profonde science de ses accords, fut la Messe de Requiem“. 49  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 65: „[Q]ue l’on experimente […] la force d’une Musique tres-simple, chantee avec devotion“. 50  Mersenne 1636–1637 (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 65: „les Traitez de la Rythmique, et de la maniere de faire des vers mesurez de toutes sortes d’especes en nostre langue, pour donner une particuliere vertu et energie à la melodie“.

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Baïf, die den prosodischen Eigenheiten gerecht werden und zugleich die rhythmische Kraft der vokalen Melodie in den Bahnen der moralisch integren Texte entladen sollte.51 Mersennes ausführlichen Erläuterungen in der Harmonie universelle zufolge, setze sich eine „perfekte Melodie“ aus den Parametern „Harmonie“, „Bewegung“ und „Worte“ zusammen, wobei entscheidend sei, für die angestrebte und vom Textinhalt vorgegebene Wirkung die dafür notwendigen Versfüße und Rhythmen zu finden.52 Im Falle von Mauduits fünfstimmigem Requiem-Satz wären dies folglich der trochäische Fortgang sowie die äußerst zurückhaltende und immer wieder in Tonrepetitionen mündende Stimmführung, die gleich zu Beginn auf „requiem aeternam“ in einer reinen C-DurKlanglichkeit exponiert wird (Abb. 1). Das göttliche Reich findet in dem sauber trochäisch deklamierten, statischen Konsonanzklang c–g‘–c‘‘–e‘‘ seine kompositorische Realisierung: Die Ruhe im ewigen Paradies ist ebenso perfekt wie unveränderlich, weshalb bei ihrer klanglichen Evokation nicht der Hauch einer Dissonanz, die zwangsläufig eine Auflösung in die Konsonanz und damit eine Dynamisierung erforderlich machen würde, Platz findet. Dass Mersenne auf jegliche musikanalytische Bemerkung zu dem gelobten Requiem-Satz verzichtet, kann in Anbetracht der vorangegangenen hunderten von Seiten über Harmonik, Rhythmik, Melodiebildung und Bewegung musikalischer Klänge kaum überraschen. Für eine Leserschaft, die die Harmo­ nie universelle bis zu diesem Punkt durchgearbeitet hat, erschließen sich solch basale Aspekte von selbst. Hingegen liegt es in der Natur der Sache, dass sich die eigentliche klangliche Kraftentfaltung nicht mit Worten beschreiben lässt und die wissenschaftlich ungreifbare Wirkung nur durch das (reale oder imaginierte) Hörerlebnis erfahrbar ist. Daher erscheint es folgerichtig, dass Mersennes Eloge in einen unkommentierten Notenausschnitt als gleichsam letztes Argument mündet.

51  Zum Streben nach einer französischen Metrik im Umkreis von Pierre de Ronsard (auf dessen Tod Mauduit sein Requiem komponierte) und der Académie de Baïf, der auch Jacques Mauduit angehörte, siehe u. a. Jacques Chailley: La scansion des vers français dans la musique „mesurée à l’antique“, in: Pierre Guillot u. a. (Hg.): Histoire, humanisme et hymnologie. Mélanges offerts au professeur Édith Weber, Paris 1997, S. 233–239; Herbert Schneider: Die „Lettres patentes“ und die „Statuts“ der „Académie de Poésie et de Musique“ von Baïf und Thubault de Courville als musikhistorische Quelle, in: Wolf Frobenius u. a. (Hg.): Akademie und Musik. Erscheinungsweise und Wirkungen des Akademiegedankens in Kultur- und Musikgeschichte – Institutionen, Veranstaltungen, Schriften. Festschrift für Werner Braun zum 65. Geburtstag, Saarbrücken 1993, S. 122–134. 52  Mersenne 1637–1637 (wie Anm. 16), Bd. 2, Seconde partie de l’art d’embellir la voix, les recits, les airs, ou les chants, S. 401: „la parfaite melodie doit estre composée d’harmonie, de mouvement, et de paroles“.

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1|  Jacques Mauduit: Messe de Requiem, Auszug, in: Marin Mersenne: Harmonie universelle, 1636–1637„Requiem aeternam“ (Beginn)53.

Trotz aller wissenschaftlichen Fundierung bleibt der eigentliche Schritt von der klanglichen Mechanik zur moralisch angemessenen, honetten Kunst im Nebel. Wie jedes andere Phänomen aus dem Umkreis der honnêtes gens durfte sich auch Musik nicht in einem reinen Ordnungsprinzip erschöpfen. Entsprechend reichte selbst die professionellste Anwendung satztechnischer Regeln, wie sie von Zarlino, Eustache du Caurroy oder anderen zeitgenössischen Komponisten formuliert wurden, nicht aus.54 Erfolgreich komponieren konnte nur, wer die Kraft der musikalischen Phänomene („la force des mouvemens rithmiques, et des intervalles des voix“) kannte und damit gute Wirkungen zu erzielen wusste („pour faire de bons effets“).55 Für die Relation von Bewegung und Form bedeutete dies, dass die mechanischen Kräfte einerseits nach rationalen Ordnungsprinzipien kanalisiert werden mussten, sie andererseits aber nicht in reiner Regelhaftigkeit erstarren durften. Dabei handelte es sich letztlich um nichts anderes als um den in allen honetten Lebenslagen erforderlichen geistreichen Ausdruck, der im frühen 16.  Jahrhundert bereits 53  Mersenne 1636–1637, Bd. 3, Livre septiesme des instrumens de percussion, S. 66f. 54  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 224f. 55  Mersenne 1634 (wie Anm. 3), S. 224f.

Die Form musikalischer Bewegungskraft nach 1600

von Baldassare Castiglione zum Maß aller Dinge erkoren worden war und in der französischen Rezeption von Dominique Bouhours 1671 in die berühmte Formel des „je ne sçai quoy“ gefasst werden sollte.56 Das gesellschaftlich reklamierte „gewisse Etwas“ bildete mit seiner unerklärlichen Wirkweise gleichsam das weltliche Gegenstück zu der wissenschaftlichen Unmöglichkeit, den Einfluss materieller Klänge auf die immaterielle Seele zu erfassen. Während die mechanischen Bewegungen von Universalharmonik und Verhaltensideal in regulierte Formen gebannt wurden, avancierte die Musik auf dem schmalen Grat des je ne sais quoi zum Refugium der Kraft.

56  Dominique Bouhours: Les Entretiens d’Aristide et d’Eugène, Paris 1671, Cinquième entretien: Le „Je ne sçai quoy“, S. 237–257; Montandon 2012 (wie Anm. 30), S. 43–47; Wolfgang E. Thormann: Again the „Je Ne Sais Quoi“, in: Modern Language Notes 73 (1958), S. 351–355. Vgl. Paolo D’Angelo und Stefano Velotti (Hg.), Il ‚non so che‘. Storia di una idea estetica, Palermo 1997.

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Elevation – Erhebung – Schweben Bewegungskräfte im Mausoleum der Grafen von Holstein-Schaumburg und in der Auferstehungsgruppe des Adriaen de Vries

Der Reformator Martin Luther (1483–1546) hatte sich 1545, kurz vor seinem eigenen Tod, zur Errichtung von Grabmonumenten geäußert. Er ordnete sie den Adiaphora und damit den als neutral geltenden Objekten zu, „die nicht heilsnotwendig und für den Kult entbehrlich sind, deren Abschaffung jedoch nicht zu einem Gesetz gemacht werden kann“1. Während Luther unter „guten Epitaphia“2 an der Kirchenwand angebrachte Kunstwerke verstand, die mit Bibelversen versehen wurden, favorisierte der zum Protestantismus konvertierte deutsche Hochadel weiterhin großformatige Monumente mit figürlicher und heraldischer Ausschmückung im Kircheninneren.3 Die Gründe hierfür sind nicht abschließend geklärt, doch konnte durch die Monumente in den Meine Überlegungen zum Schweben in der Skulptur im Allgemeinen und in Bezug auf den auferstandenen Christus in Stadthagen im Besonderen gehen auf die Beschäftigung mit dem Mausoleum in Stadthagen im Rahmen meiner Masterarbeit zurück. Ich möchte an dieser ­Stelle daher meinem damaligen Betreuer und späteren Zweitgutachter meiner Dissertation, Prof. Dr. Philipp Zitzlsperger, danken, der mich bei der Entwicklung dieses Forschungsvorhabens mit vielen wichtigen Anregungen unterstützt und gefördert hat. 1  Karin Tebbe: Epitaphien im Weserraum, in: Ulrike Hanschke, Monika Meine-Schawe und Karin Tebbe (Hg.): „…uns und unseren Nachkommen zu Ruhm und Ehre…“. Kunstwerke im Weserraum und ihre Auftraggeber, Marburg 1992, S. 9–67, hier S. 11. 2  Martin Luther: Die Vorrede zu der Sammlung der Begräbnislieder (1542), in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 35, Weimar 1964, S. 479, digitale Ausgabe: https://www.glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:l:luther:b:luther-begraebnis (02. 03. 2021): „Wenn man auch sonst die Greber wolt ehren, were es fein, an die Wende, wo sie da sind, gute Epitaphia oder Sprüche aus der Schrifft drüber zu malen oder zu schreiben, das sie fur augen weren denen, so zur Leiche oder auff den Kirchoff giengen, nemlich also, oder dergleichen.“ 3  Siehe zu den Grabmonumenten des protestantischen Adels im deutschsprachigen Raum umfassend Oliver Meys: Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009. Auf katholische wie protestantische Beispiele geht Andrea Baresel-Brand in ihrer Studie ein, siehe Andrea Baresel-Brand: Grabdenkmäler nordeuropäischer europäischer Fürstenhäuser im Zeitalter der Renaissance, Kiel 2007.

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Kirchen weiterhin höfische Macht, Reichtum und dynastische Kontinuität erfolgreich inszeniert werden. Bewegung spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle, da die Monumente die Betrachtenden zu inneren Bewegungen der Anteilnahme (pietas) und der Erinnerung (memoria) anregen sollten. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts kam jedoch zunehmend noch eine weitere Bewegung hinzu: Die dargestellten Figuren im Grabmonument wurden von den Künstlern in diese versetzt. So richteten sich die Toten in der Form des ‚demi-gisant‘ auf, beteten verlebendigt als sogenannte ‚priants‘ für ihr eigenes Seelenheil oder wurden thronend als Sitzfiguren präsentiert.4 Das Grabmonument im Innern des Mausoleums der Grafen von HolsteinSchaumburg im niedersächsischen Stadthagen zählt zu diesen aufwendigen Memorialbauten der protestantischen Landesfürsten im Norden des Heiligen Römischen Reiches. Es wurde von Graf Ernst (1569–1622) in Auftrag gegeben und vom kaiserlichen Bildhauer Adriaen de Vries (um 1545/1556–1626) als ­freistehendes Ensemble ausgeführt, das die Auferstehung Christi präsentiert (Abb. 1). Stadthagen zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sich dort die Zurschaustellung dynastischer Memoria vom öffentlichen Kirchenraum „in eigene, abgeschlossene Räume zurückzog, in ‚dynastische Sakralräume‘, die allein durch ihre Existenz wirken“5. Dies ermöglichte es dem Auftraggeber, die Inszenierung der eigenen memoria und fama deutlich zu steigern, da die Skulpturengruppe des de Vries so noch an Dramatik gewinnen konnte. In diesem Kontext werden die in der Skulptur des Messias vorgeführten Bewegungskräfte wichtig, die durch eine Darstellung des Schwebens zu einer Verlebendigung der Figur führen und so nicht nur auf göttliche Kräfte verweisen, sondern, so die These, ebenfalls auf die Erhebung des Grafen Ernst im Sinne einer Standeserhöhung, da dieser eine Erhebung in den Rang eines Fürsten aktiv verfolgte. Graf Ernst war der fünfte Sohn Graf Ottos IV. (1517–1576) und der einzige Sohn aus der zweiten Ehe mit Elisabeth Ursula von Braunschweig-Lüneburg (1539– 1586), die zur Konvertierung der Grafschaft zum Protestantismus geführt hatte.6 Ernst war als Spätgeborener folglich nicht zur Übernahme der Regentschaft

4  Als Beispiele für die ‚demi-gisants‘, die Halbaufgerichteten, kann auf die Monumente des Andrea Sansovino in Santa Maria del Popolo in Rom (1502–1512) verwiesen werden, für die Betenden auf das Monument für Heinrich II. von Frankreich und Maria de’ Medici in St. Denis (1583) und für die Thronenden auf das Erinnerungswerk für Papst Paul III. Farnese in St. Peter (1549–1577). Siehe zur Erscheinung des ‚demi-gisant‘ an römischen Grabmonumenten Philipp Zitzlsperger: Die Ursachen der Sansovinograbmäler in S. Maria del Popolo (Rom), in: Arne ­Karsten und Philipp Zitzlsperger (Hg): Tod und Verklärung. Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, Köln 2004, S. 91–113. 5  Meys 2009 (wie Anm. 3), S. 733. 6  Die Konvertierung war Teil des Ehevertrags. Die Forschung diskutiert, ob sich Graf Otto lediglich nominell zum reformierten Glaubensbekenntnis bekannt hatte, um die dynastisch vielversprechende Ehe einzugehen, da seine Biografie von wechselnden Allianzen geprägt

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1|  Adriaen de Vries: Grabmonument für die Grafen von Holstein-Schaumburg mit der Auferstehung Christi, 1618–1620, Bronze und Marmor, Höhe ca. 6 Meter, Stadthagen, St. Martinikirche.

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erzogen worden, doch konnte er durch Vermittlung seines Vormunds und Schwagers, Graf Simons VI. zur Lippe (1554–1613), von mehreren Bildungsreisen nach Italien sowie an den Kaiserhof Rudolfs II. (1552–1612) nach Prag in den Jahren 1593 bis 1594 profitieren.7 Dort mag Ernst ebenfalls einen ersten Eindruck von den ‚schwebenden‘ und sich der Schwerkraft scheinbar entziehenden Kunstwerken des Adriaen de Vries erhalten haben, da der Bildhauer, der seit 1589 in Prag lebte, dort 1593 die Skulpturengruppen Psyche getragen von Putti und Merkur und Psyche für den Kaiser ausgeführt hatte. 1601 wurde de Vries in Prag zum Hofbildhauer erhoben und Ernst zeitgleich in Schaumburg zum Nachfolger seines verstorbenen Bruders, Graf Adolfs XI. (1547–1601), ernannt; alle weiteren Prätendenten des Titels waren bereits verstorben. Graf Ernsts Übernahme der Regierung war unvorhergesehen und seine Regentschaft geprägt von einer erfolgreichen finanzwirtschaftlichen Restrukturierung seiner Hoheitsgebiete und dem Ausbau lokaler und überregionaler politischer Beziehungen.8 Dies ermöglichte große und öffentlichkeitswirksame Bauprojekte, zu denen in Bückeburg das Schloss und der Schlossgarten sowie Verwaltungsgebäude und die Stadtkirche zählten und in Stadthagen die Errichtung des Mausoleumsbaus als Erweiterung der gotischen St. Martinikirche.9 Der Graf schuf sich selbst an den Fassaden dieser Gebäude eine Bühne für die Inszenierung seines Reichtums und seiner dynastischen Ambitionen. Im Inneren des Mausoleums, und damit größtenteils unsichtbar, sollte das Selbstverständnis der Dynastie der Holstein-Schaumburger nachhaltig festgeschrieben werden. Im Folgenden werden daher die reichspoliti-

war, siehe Karin Tebbe: Epitaphien in der Grafschaft Schaumburg. Die Visualisierung der politischen Ordnung im Kirchenraum, Marburg 1996, S. 79f. 7  Zur Biographie des Grafen Ernst von Holstein-Schaumburg siehe Helge Bei der Wieden: Ein norddeutscher Renaissancefürst. Ernst zu Holstein-Schaumburg 1569–1622, Bielefeld 1994 sowie in Kürze zusammengefasst bei Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 134ff. 8  Siehe Monika Meine-Schawe: Neue Forschung zum Mausoleum in Stadthagen, in: Ulrike Hanschke, Monika Meine-Schawe und Karin Tebbe (Hg.): „…uns und unseren Nachkommen zu Ruhm und Ehre…“. Kunstwerke im Weserraum und ihre Auftraggeber, Marburg 1992, S. 69–132, hier S. 73f.; Heiner Borggrefe: Schloss Bückeburg. Höfischer Glanz – fürstliche Repräsentation, Hannover 2008, S. 9–11. 9  Zum Schloss Bückeburg siehe Heiner Borggrefe: Die Residenz Bückeburg. Architektur­ gestaltung im frühneuzeitlichen Fürstenstaat, Marburg 1994 sowie Borggrefe 2008 (wie Anm. 8). Zum Neubau der Stadtkirche siehe Dorothea Diemer: Nosseni. Entwerfer der Stadtkirche Bückeburg, in: Schaumburger Landschaft (Hg.): Neue Beiträge zu Adriaen de Vries. Vorträge des Adriaen de Vries Symposiums vom 16. bis 18. April 2008 in Stadthagen und Bückeburg, Bielefeld 2008, S. 117–121. Möglich geworden waren diese ambitionierten und kostspieligen Projekte durch die wirtschaftlichen Erfolge des Grafen, denen damit ebenfalls ein dauerhaftes Monument gesetzt werden sollte, siehe: Helge Bei der Wieden: Fürst Ernst Graf von Holstein-Schaumburg und seine Wirtschaftspolitik, Bückeburg 1961.

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schen wie dynastischen Ambitionen in der Gestaltung des Mausoleums und seiner skulpturalen Ausstattung analysiert und die Annahme verfolgt, dass den künstlerisch virtuos wiedergegebenen Bewegungskräften eine wichtige Rolle in diesem Prozess der Versinnbildlichung der Ambitionen des Grafen zukam.

„ruhestett nach vieler dahero geruhmbter leute exempel“: Kunstpolitische Ambitionen Als ein „ruhestett nach vieler dahero geruhmbter leute exempel“10 beschrieb Graf Ernst in einem Brief vom 18. 06. 1619 an den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (1585–1656) die Pläne für den neu zu errichtenden Memorialbau.11 Graf Ernst pflegte, wie der zitierte Brief unterstreicht, eine enge Verbindung nach Dresden, einem der wichtigsten protestantischen Höfe auf deutschem Gebiet, und es gelang ihm so, den sächsischen Hofarchitekten Giovanni Maria Nosseni (1544–1620) in seine Dienste nehmen zu können.12 Nosseni hatte zuvor, in den Jahren von 1591 bis 1593, die Grablege der Wettiner im Chor des Freiberger Doms neu gestaltet und damit an einem der bedeutendsten

10  Zit. nach Marie-Theres Suermann: Das Mausoleum des Fürsten Ernst zu HolsteinSchaumburg in Stadthagen, Berlin 1984, S. 138. 11  Die Literatur zum Mausoleum in Stadthagen umfasst neben Suermann 1984 (wie Anm. 10) auch Lars Olof Larsson: Adrian de Vries in Schaumburg. Die Werke für Fürst Ernst zu Holstein- Schaumburg 1613–1621, Ostfildern-Ruit 1998; Monika Meine: Das Stadthagener Mausoleum der Grafen zu Holstein-Schaumburg, in: Georg Ulrich Großmann (Hg.): Renaissance im Weserraum, München 1989, S. 145–157; Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8); Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 134–152; Baresel-Brand 2007 (wie Anm. 3), S. 230–240; Schaumburger Landschaft (Hg.): Neue Beiträge zu Adriaen de Vries. Vorträge des Adriaen de Vries Symposiums vom 16. bis 18. April 2008 in Stadthagen und Bückeburg, Bielefeld 2008 und darin im Besonderen die Beiträge von Lars Olof Larsson: Das Mausoleum in Stadthagen. Ein einzigartiges Denkmal frühneuzeitlicher Grabkultur, in: ebd., S. 27–40, Dorothea Diemer: Fragen der künstlerischen Planung und Realisierung des Mausoleums, in: ebd., S. 41–70 und Frits Scholten: Adriaen de Vries’s Resurrection Group at Stadthagen. The Iconography and Meaning of the Monumental, Freestanding Risen Christ, in: ebd., S. 71–88; und zuletzt Meys 2009 (wie Anm. 3), S. 720–738. 12  Siehe zu Nosseni u. a. Monika Meine-Schawe: Giovanni Maria Nosseni. Ein Hofkünstler in Sachsen, in: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 5/6 (1989/1990), S. 283–325; Jürgen Müller: Giovanni Maria Nosseni und die Dresdner Kunst zwischen 1580 und 1620, in: Dirk Syndram und Antje Scherner (Hg.): In fürstlichem Glanz. Der Dresdner Hof um 1600, Ausst.-Kat. (Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg; The Metropolitan Museum of Art, New York; Fondazione Memmo, Palazzo Ruspoli Rom), Mailand 2004, S. 34–45; wie auch ­Barbara Marx: Wandering Objects, Migrating Artists. The Appropriation of Italian Renaissance Art by German Courts in the Sixteenth Century, in: Herman Rodenburg (Hg.): Forging European Identities, 1400–1700, Cambridge 2007, S. 178–226.

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­ auprojekte protestantischer Memorialkultur entscheidend mitgewirkt.13 In B einem Brief vom März 1608 teilte der Graf dem Architekten detailliert mit, wie er sich seinen eigenen Erinnerungsbau, den Nosseni entwerfen sollte, vorstellte.14 Der Graf gab vor, dass es sich um einen freistehenden Neubau handeln sollte, definierte die Farbe des Marmorfußbodens und wünschte sich auf dem Hauptgesims Engel mit den Passionswerkzeugen sowie im Inneren „ein Vierkant die Auferstehung christi nebens den umbliggenden wechtern, von Metallen gegossen und im fewr uberguldet“15. Mit diesen ambitionierten Vorgaben waren die Wünsche des Auftraggebers noch nicht vollständig erfüllt. Als Bildhauer für das Monument wollte Graf Ernst niemand anderen als den kaiser­ lichen Hofbildhauer Adriaen de Vries gewinnen. Er teilte daher Nosseni im gleichen Brief mit, dass er sich diesen als Künstler der Auferstehungsgruppe wünsche. Durch die Vermittlungen Nossenis wurde der Kontakt zwischen dem Grafen und Adriaen de Vries hergestellt, der den Auftrag für die Auferstehungsgruppe tatsächlich annahm.16 Bevor jedoch die Arbeiten für das Mausoleum begannen, schuf de Vries im Auftrag des Grafen ein bronzenes Taufbecken für die neu errichtete Stadt­ kirche in Bückeburg (Abb. 2).17 Dieses wurde 1615 eingerichtet und zeugt vom Interesse des Bildhauers – und des Auftraggebers – an Überlegungen zu Bewegungen des Körpers im Moment der Erhebung. Zwei geflügelte Putti bilden die Basis des Beckens und scheinen mit großer Anstrengung das Gewicht der Schale auf ihren Schultern zu balancieren. Ihre rechten Füße sind zur besseren Kraftaufbringung aufgesetzt und einer der Engel zerdrückt dabei zusätzlich eine Schlange unter seinem Fuß. Mit den linken Händen fassen sie einander an, um sich so gemeinsam dem Gewicht, das auf ihnen lastet, entgegen zu stemmen. Auf dem Deckel der Wasserschale, der für den Vorgang des Tauf­

13  Siehe Monika Meine-Schawe: Die Grablege der Wettiner im Dom zu Freiberg. Die Umgestaltung des Domchores durch Giovanni Maria Nosseni, 1585–1594, München 1992; BareselBrand 2007 (wie Anm. 3), S. 270–283; Meys 2009 (wie Anm. 3), S. 432–442. 14  Des L 1 Nr. 2846 (ehemals Des L 1 I Ee 400), fol. 3–5 (Niedersächsisches Staatsarchiv Bücke­burg), zitiert und umfangreich diskutiert in Suermann 1984 (wie Anm. 10) und Diemer 2008 (wie Anm. 9) (Fragen der Planung). 15  Des L 1 Nr. 2846 (ehemals Des L 1 I Ee 400), fol. 3–5 (Niedersächsisches Staatsarchiv ­Bückeburg). 16  Siehe Diemer 2008 (wie Anm. 9), S. 53ff. 17  Parallel schuf de Vries ebenfalls zwei Skulpturengruppen, Venus und Adonis sowie den Raub der Proserpina, für den Bückeburger Schlossgarten, die sich heute im Bode-Museum in Berlin befinden, siehe Volker Krahn: Die Erwerbung der Venus-Adonis-Gruppe und des Raubes der Proserpina für das Deutsche Museum in Berlin, in: Schaumburger Landschaft (Hg.): Neue Beiträge zu Adriaen de Vries. Vorträge des Adriaen de Vries Symposiums vom 16. bis 18. April 2008 in Stadthagen und Bückeburg, Bielefeld 2008, S. 123–147. Zum Taufbecken siehe Lars Olof Larsson: Das Taufbecken in der Stadtkirche in Bückeburg, in: ebd., S. 101–115.

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2|  Adriaen de Vries: Taufbecken, 1615, Bronze, Höhe 212 cm, Bückeburg, Stadtkirche.

sakraments durch angebrachte Drahtseile in die Höhe gezogen werden konnte, finden sich Johannes und Jesus auf einer engen Standfläche dicht beieinander gedrängt im Moment des Taufvorgangs. Gerade diese Gegenüberstellung der Last des Beckens, das die Putti tragen, und der Leichtigkeit, mit der dann der Deckel emporgehoben werden konnte, unterstreicht das Interesse an Erhebung im Sinne einer Überwindung tatsächlicher irdischer gravitas. Dies sollte sich dann in den Ausführungen des Mausoleumsbaus in noch dramatischerer Weise wiederholen. Die Bau- und Planungsgeschichte des Mausoleums ist in der Forschung um­­ ­fangreich wiedergegeben worden, wobei ein besonderer Fokus auf dem Grundriss lag, der dem Gebäude die außergewöhnliche Form eines siebeneckigen

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Zentralbaus vorgegeben hat.18 Nähert man sich heute der St. Martinikirche in Stadthagen, fällt der Bau sofort ins Auge, da der an den Chor angrenzende Anbau im Stil der italienischen Hochrenaissance ausgeführt wurde und sich damit deutlich von der gotischen Kirche unterscheidet. Ein Schriftband aus goldenen Lettern in der Architravzone weist den Bau nach außen hin als letzte Ruhestätte des Grafen Ernst aus.19 Das Mausoleum besitzt keinen eigenen Eingang, so dass man die Kirche betreten muss, in deren Innenraum der Zugang zum Anbau weiterhin nicht unmittelbar sichtbar wird, da der Altar den schmalen Gang zu diesem verdeckt.20 Wird dieser durchschritten, findet man sich vor einem schmiedeeisernen Gitter wieder, das Personen davon abhält, das Mausoleum ohne Einladung zu betreten. An den dem Eingang gegenüberliegenden Wänden sind zwischen gebrochenen Pilastern vier identische Ädikulä mit Inschriften platziert, die von Wappen haltenden Putti bekrönt werden.21 Auf dem Hauptgesims finden sich weitere Putti mit verschiedenen und erstaunlicherweise echten Musikinstrumenten.22 Im Zentrum des schwarz-weiß-roten Marmorfußbodens mit geometrischem Muster erhebt sich das monumentale Kunstwerk Adriaen de Vries’ (siehe Abb. 1). Zu sehen ist in der Mitte des Raumes eine freistehende Auferstehungsszene, die von allen Seiten mit Skulpturen und Reliefs ausgestattet wurde, so dass eine vollständige Betrachtung nur denjenigen Gästen zuteilwurde, die das Mausoleum auch betreten durften. Im Sockel des Monuments ist an der Vorderseite das Wappen Ernsts von Holstein-Schaumburg zu sehen und es folgen im Uhrzeigersinn szenische Reliefs mit den allegorischen Figuren der Victoria,

18  Zum siebeneckigen Grundriss äußerte sich zuerst Marie-Theres Suermann, siehe Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 37–44. Oliver Meys diskutiert die Thesen Suermanns sowie der ihr folgenden Publikationen, siehe Meys 2009 (wie Anm. 3), S. 736 f. 19  Die Inschrift lautet: MONUMENTUM PRIN[CIPIS] ERNESTI COMIT[IS] H[OLSTEIN-] S[CHAUMURGENSIS] QUOD A[NN]O M.DC.XX. À VIVO CŒPTUM, TERTIO POST ILLU­STRISS[IMI] ABSOLVIT VIDUA HEIDEWIGIS („Denkmal des Fürsten Ernst, Grafen von Holstein-Schaumburg, das von dem Lebenden im Jahr 1620 begonnen, drei Jahre nach seinem Tode von seiner Witwe Hedwig, vollendet wurde“, Übersetzung nach Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 136–137). Graf Ernst hatte die Fertigstellung im Jahr 1627 nicht mehr erlebt und seine Witwe, Gräfin Hedwig von Hessen-Kassel (1569–1644) hatte das Projekt zu einem Abschluss gebracht. 20  Siehe zu Sichtbarkeit und Zugänglichkeit ebenfalls Meys 2009 (wie Anm. 3), S. 733. 21  Von links nach rechts handelt es sich hier um die vier mit Inschriften versehenen Epitaphien für Graf Ernst, seinen Vater Otto IV., seine Mutter Elisabeth Ursula und zuletzt seine Ehefrau Hedwig. Die Wappenschilder, die von geflügelten Putti gehalten werden, identifizieren die vier Personen auch heraldisch. Ausführlich werden diese diskutiert bei Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 136–143. 22  Siehe zu diesen Putti Dorothea Schröder: Das „Engelskonzert“ im Mausoleum von Stadthagen, in: Heiner Borggrefe und Barbara Uppenkamp (Hg.): Kunst und Repräsentation. Studien zur europäischen Hofkultur im 16. Jahrhundert, Brake 2002, S. 151–180.

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Abundantia und Fama.23 Auf dem auskragenden Gesims des Sockels wurden Skulpturen der Grabeswächter positioniert.24 Sie tragen römisch-antikisierende Waffenröcke, Sandalen und Helme und unterschiedliche Waffen als Attribute: einen Stab mit Ziegenkopf, einen Bogen, ein Schwert sowie eine Lanze, die den Wächter auf der rechten Seite als Longinus identifizierbar werden lässt.25 Die Figuren sind in verschieden Bewegungen wiedergegeben und zeigen, vom linken Wächter aus beginnend, vier unterschiedliche Stadien des Schlafens und Erwachens, die im Wächter der Vorderseite kulminieren.26 Dieser ist bereits erwacht, dreht seinen Oberkörper und Kopf nach oben, schützt seine Augen vor einem imaginierten Leuchten und nimmt so Anteil an der zentral über ihm inszenierten Auferstehung Christi.27 Zwischen den Wächtern befindet sich ein niedriger Sockel aus Bronze, auf dem vier zum Sprung ansetzende Bronzelöwen ein Kenotaph tragen, der sich nach oben hin verbreitert. An seiner Vorderseite wurde ein bronzenes Porträtrelief des Grafen eingelassen, ein weiteres Relief findet sich als Pendant auf der rückwärtigen Seite, welches den Gott Kronos zeigt.28 An den Ecken des Kenotaphdeckels sitzen vier geflügelte Putti, die jeweils eine Hand zum Himmel ausstrecken und in der anderen eine Schreibfeder als Verweis auf die vier

23  Das Victoria-Relief wurde ebenfalls als Industria gedeutet und das Abundantia-Relief als Fortuna-Abundantia, siehe Erich B. Cahn: Adrian de Vries und seine kirchlichen Bronzekunstwerke in Schaumburg, Rinteln 1971, S. 74. 24  Die Skulpturen wurden mit denjenigen des Michelangelo in der Neuen Sakristei in Florenz verglichen, siehe Cahn 1971 (wie Anm. 23), S. 98; dies wird diskutiert in Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 111. 25  De Vries hat die Wächterfiguren mit vielen Details ausgeführt, die nur in einer sehr nahen Betrachtung sichtbar werden, dazu gehören zum Beispiel flache Reliefs auf den Sockeln der seitlichen Wächter. 26  Siehe speziell zum erwachenden Wächter Monika Meine-Schawe: Erwachender Wächter (Nr. 724), in: Georg Ulrich Großmann (Hg.): Renaissance im Weserraum, München 1989, S. 426f. 27  Das Motiv der gehobenen Hand, die die Augen vor dem Strahlen des Messias schützen soll, findet sich als Detail in einer Vielzahl von gemalten Darstellungen der Auferstehung, siehe Pia Wilhelm: Auferstehung Christi, in: Lexikon der christlichen Ikonographie Online, hg. von Hans Brandhorst, o.J., https://dh.brill.com/lcio (20.04.2021), Sp. 200–218, hier Sp. 217. 28  Kronos, der Gott der Zeit, sitzt auf einem Zodiakus, der die nicht chronologisch aufeinander folgenden Tierkreiszeichen Krebs, Steinbock, Waage, Fische und Stier zeigt. Suermann erkannte hier einen versteckten astrologischen Hinweis. Sie interpretiert die Waage als Zeichen des Zeus und geht weiter davon aus, dass das erste Tierkreiszeichen keinen Krebs, sondern einen Skorpion darstellt, siehe Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 63. Interessant ist, dass Graf Ernst am 24.09.1569 geboren wurde, dem ersten Tag des Waage-Zeitraums, seine Frau im Zeichen des Krebses am 01.07.1569. Der Vater, Graf Otto IV., starb am 22.12.1576 im Zeichen des Steinbocks. Durch diese bisher übersehene Zuordnung von drei der fünf Tierkreiszeichen scheint eine Deutung des Reliefs als dynastisches Symbol möglich.

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3|  Detail von Abb. 1 mit dem auferstandenen Christus.

Evangelien halten.29 Zwischen ihnen, auf einem weiteren niedrigen Bronze­ sockel, erscheint dann die überlebensgroße Skulptur des auferstandenen Christus (Abb. 3). Er präsentiert sich als geheilter bzw. „schöne[r] Gott“30 ohne Stigmata und Seitenwunde. Christus ist unbekleidet und seine Scham wird von einem um seine Hüften geschlungenen Tuch bedeckt. Mit der rechten Hand führt er einen Segensgestus aus, seine Linke hält den Kreuzstab mit wehender Siegesfahne. Sein schlanker, aber muskulöser Körper ist im starken Kontrapost positioniert. Die Hüfte ist deutlich nach vorne links ausgestellt, die linke Schulter senkt sich nach hinten ab und das rechte Bein ist gebeugt. Es bleibt unklar, ob sich seine Standposition aus dem Kontrapost entwickelt oder ob er, da seine rechte Ferse angehoben ist, im Schreiten dargestellt wird. Diese 29  In der Forschungsliteratur wurden die von den Putti gehaltenen Objekte umfangreich diskutiert und unterschiedlich gedeutet, siehe Cahn 1971 (wie Anm. 23), S. 108; Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 54; Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 72. 30  Cahn 1971 (wie Anm. 23), S. 112.

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gegen gerichteten Bewegungsrichtungen können als zwei Pole verstanden werden, zwischen denen sich die Skulptur aufspannt und sich damit zeitgleich zu bewegen scheint und stillsteht.31 Ein Detail der Skulptur – und vor allem ihrer Standfläche – lässt weitergehende Überlegungen zu dieser Darstellung des Körpers des Auferstandenen zu, denn es finden sich auf der Bronzeplatte modellierte Wolken (Abb. 4).32 Diese bleiben für die Betrachter*innen unsichtbar und dienten wohl vielmehr dem Künstler dazu, die Instabilität und die damit verbundene „sehr labile“33

4|  Adriaen de Vries: Auferstehender Christus, Detail der Standfläche mit modellierten Wolken und Künstlersignatur, 1618–1620, Bronze, Stadthagen, St. Martinikirche.

Körperhaltung des Auferstandenen zu erklären: De Vries konzipierte seinen Christus nicht auf dem Kenotaph, dem Heiligen Grab, positioniert, sondern darüber schwebend. Die gegeneinander wirkenden Körperbewegungen von Voranschreiten und Stillstand lassen sich somit dahingehend deuten, dass diese durch das Fehlen eines festen Untergrunds bedingt sind.34 Präsentiert wird hier somit die Darstellung der Bewegung des Schwebens, also eines Körpers,

31  Michael Cole bespricht diese gegen gerichteten Bewegungskräfte ebenfalls an Giam­ bolognas Bacchus; Michael Cole: Ambitious Form. Giambologna, Ammanati, and Danti in Florence, Princeton 2011, S. 129f. 32  Monika Meine-Schawe spricht von einer „Wolkenbank“, Meine 1989 (wie Anm. 11), S. 148. 33  Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 70. 34  Eine eigene Arbeit des Autors zum Thema des Fliegens und Schwebens in der Skulptur der frühen Neuzeit befindet sich in Vorbereitung.

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der sich durch innere Kräfte der Schwerkraft entgegensetzt.35 Der Bildhauer bediente sich dabei Darstellungen dieser Szene in der Malerei wie auch frühesten Versuchen der Wiedergabe des Schwebens und Fliegens in der Skulptur der italienischen Kunst des 16. Jahrhunderts, wie im Folgenden gezeigt wird.36

Göttliche Erhebung: Der auferstandene Christus als ‚schwebende Skulptur‘ Adriaen de Vries hat sich bereits vor dem Auftrag für das Grabmonument in Stadthagen mit dem Motiv der Erhebung des Körpers auseinandergesetzt. Seine Psyche von Putti in den Himmel getragen wie auch die Skulpturengruppe Merkur und Psyche stehen exemplarisch für das Interesse des Bildhauers am Schweben und Fliegen, welches zur besonderen Verlebendigung (vivacità) der Skulptur durch die Darstellung einer solch übernatürlichen Bewegungskraft führen konnte.37 Die Erhebung des skulpturalen Körpers und seine zukünftige oder bereits imaginierte Loslösung von der Standfläche in der Skulptur darzustellen, scheint vor allem ein Ausdruck des Anspruchs zu sein, das Verständnis des Kunstwerks als ‚Standfigur‘ (statua) zu überwinden. Während de Vries in seinen beiden früheren Werken seine Betrachter*innen direkt an Psyches ­Aufnahme in den Olymp erinnert, gibt er virtuos wieder, wie sich der Körper 35  David Summers hat in seiner Diskussion des Malereitraktats des Giovanni Paolo Lomazzo darauf hingewiesen, dass sich aus dem Kontrapost alle weiteren Bewegungsformen der Skulptur ergeben und zählt bei diesen ebenfalls das Fliegen, das als Oberbegriff für Flug- und Schwebemomente verstanden werden kann, auf. Dass das Leben ein Kampf gegen die Schwerkraft („life was a struggle against gravity“) sei, den Michelangelo künstlerisch zu einem Hauptthema gemacht habe, erlaubte es, in der Skulptur natürliche Bewegungen („natural movement“) zu überwinden. Adriaen de Vries scheint mit seiner Christusfigur auf genau diesen kunsttheoretischen Diskurs des 16. Jahrhunderts zu reagieren und in der Darstellung einer übernatürlichen Kraft, der des göttlichen Schwebens, kulminieren zu lassen. Siehe David Summers: Maniera and Movement. The „figura serpentinata“, in: The Art Quarterly 35 (1972), S. 265–301, S. 272f., S. 283. 36  Vgl. Daniel Arasse und Andreas Tönnesmann: Der europäische Manierismus 1520–1610, übers. von Claudia Schinkievicz, München 1997, S. 232ff. 37  Die Skulpturengruppe Psyche getragen von Putti (Stockholm, Nationalmuseum) ist dabei besonders hervorzuheben, da Psyche den Sockel nicht mehr berührt. Ihr Gewicht wird „versteckt“ von dem zum Boden fallenden Tuch getragen. Die „Leichtigkeit“ der Skulptur wird zudem durch die drei Putti unterstrichen, die den Körper der jungen Frau emporheben. Bei der zweiten Skulpturengruppe Merkur und Psyche (Paris, Louvre) ist der Fokus auf den unmittelbaren Beginn des Schwebens gelegt, angedeutet durch Merkur, dessen linke Zehenspitzen gerade noch den Sockel berühren. Wiederum ist es ein Tuch, das als Stütze der ganzen Skulptur dient. Die besondere Wirkung der Merkur und Psyche-Figurengruppe zeigt sich auch darin, dass Jan Muller (1571–1628) um 1621 drei Kupferstiche mit verschiedenen Ansichten nach ihr anfertigte; siehe Szilvia Bodnár: Sturz in die Welt. Die Kunst des Manierismus in Europa, München 2008, S. 220f.

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den Kräften der gravitas, der Erdenschwere, widersetzt. In Stadthagen ist solch eine direkte Assoziation, wie sie durch die Mythologie der Psyche in Erinnerung gerufen werden konnte, nicht gegeben, da die biblische Erzählung der Auferstehung im Rahmen der Passionsgeschichte keinen Schwebemoment beschreibt.38 So zeigen beispielsweise, dem biblischen Text folgend, Piero della Francesca (um 1410/1420–1492) oder Andrea Mantegna (1431–1506) Christus aus dem Grab heraustretend bzw. in siegreicher Position in oder vor seinem Grab stehend.39 In der Kunst nördlich der Alpen wurde dieses mitunter noch drastischer dargestellt, etwa wenn Christus im Moment des ‚Herauskletterns‘ aus dem eigenen Grab gezeigt wurde.40 Das Emporsteigen Christi ist jedoch für die Beschreibung der Himmelfahrt biblisch belegt, sodass das Schweben und damit das Entsagen der Schwerkraft innerhalb der Darstellung der Auferstehung zu einer Vorausdeutung der göttlichen Kraft werden konnte, die dem Messias innewohnt.41 Adriaen de Vries reagiert in seiner Skulptur des schwebenden Auferstandenen allerdings auf eine Entwicklung der italienischen Malerei, in der sich ab dem 14. Jahrhundert parallel die Darstellung des über dem Grab aufschwebenden Messias etablierte.42 Als eines der prominentesten Beispiele kann auf ein Berliner Altarbild des venezianischen Malers Giovanni Bellini (um 1437–1516) verwiesen werden. Seine Bilderfindung zeigt den Auferstandenen in einer ­weiten, düsteren Landschaft über dem geöffneten Grab schwebend (Abb. 5).43 Die schlafenden und teilweise erwachenden Grabeswächter sind unterhalb 38  Die Frauen finden lediglich das leere Grab vor; der Prozess der Auferstehung wird nicht beschrieben und oblag damit künstlerischer Interpretation, siehe Markusevangelium 16,6. 39  Piero della Francescas Fresko der Auferstehung (1450–1463) befindet sich heute im Museo Civico in Sansepolcro; Andrea Mantegnas Auferstehung ist Teil der Predella des San Zeno-Altars (1457–1460) in San Zeno Maggiore in Verona. 40  Die früheste Darstellung eines schwebenden Christus in einer Auferstehungsszene hat Andrea di Bonaiuto (gest. 1379) in der Spanischen Kapelle von Santa Maria Novella in der Kuppel dargestellt. Dort schwebt der Messias in der Luft stehend in einer mit Strahlen verzierten Mandorla über seinem Sarkophag; siehe Wilhelm o.J. (wie Anm. 27), Sp. 213–215 zum aus dem Grab schreitenden Christus und zum schwebenden Christus Sp. 215–216. 41  Die Himmelfahrt wird im Lukasevangelium (Lk 24,50–51) sowie in der Apostelgeschichte (Apg 1,9–11) beschrieben. Wichtig zu betonen, ist hier der Unterschied in den Kräften Christi vor und nach dem Kreuzestod. Die ihm inhärente Kraft, aufzuschweben, existiert erst nach der Auferstehung und damit der Wandlung des Körpers Christi. 42  Siehe Anm. 38. 43  Siehe zu diesem Bild Gustav Ludwig und Wilhelm Bode: Die Altarbilder der Kirche S. Michele di Murano und das Auferstehungsbild des Giovanni Bellini in der Berliner Galerie, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 24 (1903), Heft 2, S. 131–146. Das Bild wurde zuletzt besonders hinsichtlich seiner Landschaftsdarstellung diskutiert, siehe Caroline Campbell und Dagmar Korbacher: Landschaft, in: Caroline Campbell u. a.: Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance, Ausst.-Kat. (Gemäldegalerie, Berlin), München 2018, S. 218–230, hier S. 223ff.

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5|  Giovanni Bellini: Auferstehung Christi, 1475–1479, Öl auf Leinwand, 148 × 128 cm, Berlin, Gemäldegalerie.

dargestellt; im rechten Bildmittelgrund erscheinen die drei Frauen, die nachfolgend das leere Grab vorfinden werden. Bellini zeigt Christus in ein weißes Lendentuch gehüllt, das sich zur rechten Bildseite hin im Wind bewegt und bläht, was den Eindruck der Präsenz eines (realen oder göttlichen) Windes hervorruft. Auch die mit der im Lendentuch verborgenen linken Hand umgriffene Siegesfahne wird von diesem Windstoß bewegt. Die Figur erscheint währenddessen in der Luft zu stehen, da die Füße wie auf einem festen Untergrund positioniert sind und Bellini eine leichte Untersicht auf die Fußsohlen erahnen lässt, um das Schweben zu unterstreichen.44 Der Maler hat hinter dem Messias eine Wolkenbank positioniert, die sich unter den Füßen Christi zu 44  Siehe hierzu ebenfalls den Verweis auf eine Zeichnung des Jacopo Bellini in Ludwig und Bode 1903 (wie Anm. 43), S. 137.

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6|  Raffael Sanzio da Urbino: Auferstehung Christi, 1499–1502, Öl auf Holz, 52 × 44 cm, São Paulo, Museu de Arte de São Paulo.

­ ilden scheint und zwischen seinen Waden auftürmt und verdunkelt. Auch b wenn Christus hier explizit nicht auf einer Wolke stehend gezeigt wird, kann diese Überlagerung von Bildvorder- und -hintergrund sehr wohl die Assoziation erzeugen, dass es unsichtbare Luft- oder Wolkenmassen sind, die sich um den Körper legen und diesem eine Standfläche bieten. Präzise angezeigt wird dieses ‚Stehen-auf-Luft‘ dann um 1500 von Raffael (1483–1520) in seiner Darstellung der Auferstehung in der Predella des BaronciniAltars (Abb. 6).45 Gezielt fügt der Maler einen dunstigen Schleier unterhalb der Füße des Messias ein, der sich parallel zur Horizontlinie ausbildet und sich in 45  Dieses Detail findet sich ebenfalls in der kurz zuvor ausgeführten Tafel gleichen Themas von Perugino (um 1445–1523) von um 1499 in den Vatikanischen Museen. Auch Filippo Mazzola (1460–1505) fügte eine solche dunstige Standfläche in seiner Kopie der Auferstehung

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7|  Raffael Sanzio da Urbino: Detail der oberen Hälfte der Transfiguration Christi, 1516–1520, Öltempera auf Holz, 405 × 278 cm, Rom, Vatikanische Museen.

seinen Rändern rauchig auflöst. Rund 20 Jahre später, in seiner Transfiguration Christi wiederholt Raffael diese Bilderfindung nicht, sondern positioniert Christus sowie die ihm erscheinenden Propheten ohne dunstige Standfläche und in einer veränderten Beinstellung (Abb. 7).46 Ein Bein ist lang gestreckt, der Fuß nach vorne abgekippt, so dass sich der Spann gerade unter dem Körper aufrichtet und die Zehenspitzen nach unten weisen. Das andere Bein ist nach oben leicht angewinkelt und mag als körperliche Reaktion auf den spontanen Verlust des Bodens unter den Füßen zu lesen sein oder als eine Austarierung, gleich der, die Schwanzfedern von Vögeln leisten, um so den Körper zu stabilisieren. Diese angedeutete Schrittstellung des gestreckten und des angewinkelten Beines sollte im Verlauf des 16. Jahrhunderts zu einem der zentralen Gestaltungselemente des Schwebens in der Skulptur avancieren.47

nach Bellini von 1497 ein; das Bild befindet sich heute in der Städtischen Galerie in Straßburg, siehe Ludwig und Bode 1903 (wie Anm. 43), S. 140. 46  Siehe zum Schweben als Darstellung der „Gottesnatur Christi“ in der Transfiguration des Raffael Ulrich Pfisterer: Raffael. Glaube, Liebe, Ruhm, München 2019, S. 300ff. 47  Bereits um 1517/1518 schuf Giulio Romano nach Entwürfen Raffaels ein Fresko mit dem Götterboten Merkur, der diese Bein- und Fußstellung aufweist, die Paolo Giovio (1483–1552) folgend auf eine antike Merkurskulptur zurückging, siehe Jens Ludwig Burk: „Qvo me fata vocant“ – Wohin mich das Schicksal ruft. Merkur in der Bronzekunst der Spätrenaissance, in: Renate Eikelmann (Hg.): Bella Figura. Europäische Bronzekunst in Süddeutschland um 1600,

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8|  Jean de Boulogne gen. Giambologna: Fliegender Merkur, 1578–1580, Bronze, Höhe 180 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

Der süd-niederländische Bildhauer Jean de Boulogne, in Italien bekannt als Giovanni da Bologna beziehungsweise Giambologna (1529–1608), widmete sich dezidiert der Darstellung des Flugs bzw. des Schwebens in seinen skulpturalen Konfigurationen des Götterboten Merkur (Abb. 8).48 Giambologna entwickelte ab 1560/1562 kleinformatige Tischbronzen des olympischen Gottes, der sich zwischen irdischer und himmlischer Sphäre bewegt. Auffallend ist die bereits in Raffaels „Transfiguration“ gewählte Beinhaltung, die sich hier wiederholt: Ein Bein ist langgestreckt und endet in aufgestellten Zehenspitzen, das andere Bein ist angewinkelt.49 Der unbekleidete Oberkörper des Gottes ist gestreckt, sein Blick ist auf ein Ziel in der Ferne gerichtet und ein Arm streckt

Ausst.-Kat. (Bayerisches Nationalmuseum, München), München 2015, S. 51–87, hier S. 54, Abb. S. 56. 48  Siehe Cole 2011 (wie Anm. 31), S. 113; Burk 2015 (wie Anm. 47), S. 55ff. 49  Auf kompositorische Vorbilder geht Jens Ludwig Burk ein und verweist auf die Skulpturen Donatellos (um 1386–1466), Andrea del Verrocchios (1435–1488) und Giovanni Francesco Rusticis (1474–1554), siehe Burk 2015 (wie Anm. 47), S. 53–55.

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sich empor, um die Bewegungsrichtung ‚nach oben‘ deutlich zu markieren. Neben den kleinen Merkuren schuf der Bildhauer zwei großformatige Skulpturen dieses Themas. Dasjenige Exemplar, welches sich heute in Florenz im ­Bargello befindet, war ur­­sprünglich für die römische Villa des ­Ferdinando I. de’ Medici als Brunnenfigur konzipiert worden. Michael Cole hat darauf verwiesen, dass der Standfuß der Skulptur oberhalb der Brunnenschale von einer Wasserfontäne umspielt wurde.50 Dies führe, so Cole, zu der Überlegung, dass der Merkur nicht nur als in der Luft fliegend verstanden wurde, sondern auch als eine Figur, die mit Wasserdruck aus dem Erdinnern herausgesprudelt und in die Lüfte katapultiert worden sei.51 Adriaen de Vries war ab den frühen 1580er Jahren in der Werkstatt Giambolognas anwesend, wo er unter anderem dessen Arbeiten an den Merkurskulpturen begleitete und seine eigene Arbeit an einem landenden Merkur, sozusagen als Oppositionsfigur zum aufsteigenden Merkur, inspiriert worden sein mochte.52 Deutlich wird hier de Vries’ tiefes Interesse an skulpturalen Bewegungen im Raum sowie an der Visualisierung des Prozesses des Ablösens von der bzw. Auftretens auf die Standfläche. Die so in den Skulpturen des de Vries vorzufindenden Konzepte der Dynamisierungen der Körper, die als „manieristisch“ oder „barock“ beschrieben wurden, lassen sich ebenfalls für die Christusskulptur in Stadthagen feststellen.53 Bevor auf das Mausoleum der Grafen von Holstein-Schaumburg zurückgekommen wird, ist der Blick abschließend exemplarisch auf eine andere freistehende Christusfigur eines Grabmalensembles zu lenken, wie dies von Frits Scholten vorgeschlagen wurde.54 Betrachtet man das Grabmonument für Baldassare Castiglione (1478–1529) in Mantua, das von Giulio Romano (1499– 1546) entworfen wurde, zeigt sich ein mögliches Vergleichsmoment für die

50  Siehe Cole 2011 (wie Anm. 31), S. 114f.; Burk 2015 (wie Anm. 47), S. 63f. 51  Siehe Cole 2011 (wie Anm. 31), S. 115ff. Hierdurch lassen sich wiederum Bezüge zum nach dem Gott Merkur benannten Metall, dem mercurius bzw. argentum vivum (lebendiges Silber), dem Quecksilber, herstellen, welches ebenfalls als aus der Erde heraussprudelnd und dann volatil beschrieben wurde, siehe https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Quecksilber (02. 03. 2021). 52  Siehe Burk 2015 (wie Anm. 47), S. 57, Abb. S. 59 sowie den Katalogeintrag 11 in diesem Ausst.-Kat. 53  Siehe Scholten 2008 (wie Anm. 11), S. 79. 54  Scholten verweist auf die mögliche Herkunft der freistehenden Christusskulptur am Grabmal aus Venedig und nennt hierfür das Monument für den Dogen Pietro Mocenigo, das 1461 in Santi Giovanni e Paolo aufgestellt wurde, siehe Scholten 2008 (wie Anm. 11), S. 75. In Venedig ist die Christusfigur als Bekrönung eines hoch aufragenden Wandgrabmals konzipiert. Dass es sich hierbei tatsächlich um den Auferstandenen handelt, verdeutlicht das Relief unterhalb der Figur, auf dem die Frauen und der Engel am leeren Grab zu sehen sind.

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9|  Giulio Romano und Antonio Begarelli (?): Grabmonument des Baldassare Castiglione mit der Auferstehung Christi, Marmor, Mantua, S. Maria delle Grazie.

Arbeit de Vries’ in Stadthagen (Abb. 9).55 In Mantua ist ein Sarkophag von drei Seiten umschlossen, darüber verjüngt sich nach oben in acht Stufen ein pyramidaler Aufbau. Zuoberst erscheint eine Marmorskulptur, die den stehenden Christus präsentiert und die vermutlich von Antonio Begarelli (1499–1565) nach Entwürfen Giulios angefertigt wurde.56 Christus wird durch sein Leichentuch,

55  Siehe zu diesem Monument sowie zum Verhältnis von Giulio Romano und Castiglione Myron Laskin, Jr.: Giulio Romano and Baldassare Castiglione, in: The Burlington Magazine 109 (1967), Heft 770, S. 300–303. 56  Frits Scholten diskutierte die Skulptur als formale Vorlage der Auferstehungsskulptur in Stadthagen, siehe Scholten 2008 (wie Anm. 11), S. 75.

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das als Umhang in einem flachen Relief mit der Wand verschmilzt, im Moment der Auferstehung gezeigt. Neben dem geschwungenen Umhang unterstreicht der ausgestreckte und nach oben weisende rechte Arm die Bewegungsrichtung. Neben dieser Bewegung nach oben lässt sich eine zweite nach vorne feststellten, die durch das vorgestellte rechte Bein angedeutet wird. Deutlich in der Untersicht zu erkennen ist der rechte Fuß, der sich über die Sockelplatte nach vorne gestellt präsentiert. Beide Motive, das des Schwebens und des Schreitens, wiederholen sich im Christus des de Vries. Die Christusskulpturen in Mantua und in Stadthagen sind nicht die einzigen Bilderfindungen dieses Themas. So können, wenn auch nur kursorisch, weitere zeitgleich entstandene Grabmonumente für adlige Auftraggeber genannt werden, die eine freistehende Christusfigur im Moment der Auferstehung zeigen. Zu diesen zählen das Ganucci-Monument in San Marco in Florenz mit einer Skulptur des Auferstandenen von Andrea Sansovino (um 1460–1529) genauso wie der Triumphbogen-Grabaltar für Christoph von Rheineck (gest. 1535) in Trier, der von dem Auferstandenen und Grabwächtern bekrönt wird, oder das unvollendete Grabmalsprojekt des Germain Pilon (um 1537–1590) in St. Denis für Heinrich II. von Frankreich (1519–1559) und Katharina de Medici (1519–1589) mit einer schreitenden Christusskulptur.57 Es muss allerdings festgehalten werden, dass keines der Monumente in seiner Gestaltung und Ausführung als Vorlage für das Monument des Mausoleums in Stadthagen herangezogen werden kann und dass sich vor allem keine ‚schwebenden‘ Christusfiguren an diesen Monumenten finden lassen.58 Das Ansinnen, diese besondere Bewegung des Emporsteigens und Schwebens und die damit verbundenen übernatürlichen Kräfte in einer Skulptur ­darzustellen, führte letztlich mit dem Christus in Stadthagen zu einer Figuren­ komposition, die in der europäischen Kunstgeschichte einzigartig blieb. Der Wunsch, eine (auferstehende) Christusfigur im Innern des Mausoleums zu platzieren, geht allerdings nicht auf eine Idee des de Vries’, sondern auf Ernst von Holstein-Schaumburg zurück. Das Mausoleum sollte durch diese Skulptur als Memorialort der Auferstehung Christi dienen und zugleich auf die zukünftige Auferstehung des Grafen selbst verweisen. Dass sich die Inszenierung der

57  Diese und weitere wichtige Beispiele werden ausführlich besprochen in Scholten 2008 (wie Anm. 11). 58  Als eine mögliche Übernahme aus der Malerei kann auf das Jüngste Gericht (ca. 1335) des Grabmonuments für Bettino de’ Bardi, dessen Fresko Maso di Banco (gest. 1348) zugeschrieben wird, in der Cappella di Bardi di Venio in S. Croce in Florenz verwiesen werden. Dort wird Christus oberhalb des Verstorbenen, der auf seinem realen Grab zu knien scheint, in einer Mandorla schwebend gezeigt. De Vries’ Kenntnis über dieses Fresko kann angenommen werden, da sich der Künstler mehrere Jahre in der Stadt aufhielt. Für diesen wichtigen Hinweis danke ich Frank Fehrenbach.

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Erhebung und Erhöhung aber nicht nur auf die in der Zukunft liegende Zeit des Jüngsten Gerichts beziehen lässt, sondern unmittelbar auf die politischen Bestrebungen des Grafen Ernst, soll abschließend in den Blick genommen und das Schweben um eine politisch-dynastische Dimension erweitert werden.

Fürstliche Erhebung: Das ‚Schweben‘ des Ernst von Holstein-Schaumburg Das in der Forschung immer wieder diskutierte und wohl außergewöhnlichste Detail des Mausoleumsprojekts Ernst von Holstein-Schaumburgs stellt der siebeneckige Grundriss dar.59 Bereits der Brief des Grafen an Nosseni vom März 1608 enthält den Passus „uff ein besondere Figur“60 und hat zu der Annahme geführt, dass schon zum Beginn der Planungen für den Bau ein solch ungewöhnlicher Grundriss angedacht war.61 Einer der Hauptgründe für diese Entscheidung wird in der engen Verbindung des Grafen zu den Rosenkreuzern vermutet, und Marie-Theres Suermann verweist in diesem Kontext insbesondere auf die 1615 veröffentlichte programmatische Schrift Fama Fraternitatis, die bereits in den Jahren zuvor zu zirkulieren schien und dem Grafen bekannt gewesen sein mag.62 Dort wird das mythische Grabmal des Ordensgründers Christian Rosencreutz (1378–1484) beschrieben: „[D]es morgens öffneten wir die Thür, vnd befand sich ein Gewölb, von sieben seyten vnd ecken […] vnd stund zu oberst in dem Centro der Bühnen, in der mitten war an statt eines Grabsteins ein runter Altar überlegt, mit einem mässingen Blätlein, darauf diese Schrifft: A.C.R.C. Hoc univeris compendium vivus mihi sepulchrum feci, Vmb den ersten Reiff […] herumb stund: Jesus mihi omnia“63.

59  Sebastiano Serlio (1475–ca. 1554) verzichtete beispielsweise in seinem Architektur­ traktat bewusst auf Überlegungen zu fünf- und siebeneckigen Grundrissen, siehe Meys 2009 (wie Anm. 3), S. 735, Fußnote 1870. 60  Des L 1 Nr. 2846 (ehemals Des L 1 I Ee 400) fol. 3 (Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg), zitiert und diskutiert in Diemer 2008 (wie Anm. 9) und Suermann 1984 (wie Anm. 10). 61  Die Forschung diskutiert, ob es sich bei der anfänglichen Planung erst um einen acht­ eckigen Grundriss handelte, da sich Nossenis Planungen in beide Richtungen interpretieren lassen. Ich folge Monika Meine-Schawe und gehe ebenfalls davon aus, dass bereits 1608 ein siebeneckiger Grundriss vorgesehen war, siehe Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 80–82. 62  Vgl. Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 71ff. 63  Zit. aus der Fama Fraternitatis, erschienen in Anonym: Allgemeine und General Reformation, der gantzen weiten Welt. Beneben der Fama Fraternitatis, deß Löblichen Ordens des Rosenkreutzes, an alle gelehrte und Häupter Europae geschrieben […], Kassel 1614, S. 114, zit. nach Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 67.

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Die Schilderung des Rosencreutz’schen Grabbaus als Siebeneck mit einem Jesus geweihten Altar in der Mitte stellt eine fast exakte Vorlage dessen dar, was in Stadthagen in Auftrag gegeben und errichtet wurde.64 Diese augenscheinliche Verbindung zu den Rosenkreuzern kann durch die reichspolitischen Ambitionen, die Graf Ernst mit „konkreten politischen Zielen“65 verfolgte, erweitert und gestützt werden. Graf Ernst, wie auch weitere protestantische Landesfürsten, die großes Interesse an den Rosenkreuzern, ihren Schriften und ihrem Gedankengut hatten, bemühten sich, dass Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1596–1632), der ‚Winterkönig‘, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches werden sollte. Graf Ernsts Unterstützung dieses Vorhabens war zusätzlich mit dem Wunsch verbunden, für sich selbst als Gegenleistung eine Erhebung zum Reichsfürsten durch­ zusetzen.66 Nach dem Scheitern dieses Aufbegehrens der protestantischen Allianz hielt Graf Ernst sein Ziel dennoch fest im Blick und bat erfolglos bei Kaiser Matthias (1557–1619) um die Erneuerung des Titels des Reichsfürsten, welcher (angeblich) zu einem früheren Zeitpunkt existiert hatte und unter diffusen Umständen ‚verloren‘ gegangen war. Dies zu belegen, sollte die Aufgabe der 1604 beim Straßburger Chronisten Cyriakus Spangenberg (1528–1604) in Auftrag gegebenen Familienchronik der Holstein-Schaumburger sein, die 1614 in Stadthagen gedruckt wurde.67 Eine weitere Chronik wurde bei Melchior Goldast (1578–1635) bestellt, welche eben diese Ausführungen zur Existenz und zum ‚Vergessen‘ des Fürstentitels der Holstein-Schaumburger im 13. Jahrhundert enthielt.68 Nach dem Tod Kaiser Matthias’ schien sich dann für den Grafen eine weitere günstige Situation zu ergeben. Graf Ernst versprach dem neuen Kaiser, Ferdinand II. (1578–1637), ein stattliches Darlehen von 100.000 Talern unter anderem zur Unterstützung im Kampf gegen die Protestanten in Böhmen. Dass sich Graf Ernst damit gegen die vorherige Allianz mit dem Winterkönig und Personen seiner eigenen Konfession stellte, ist im Kontext des sozialen wie politischen Emporstrebens nicht überraschend. Das dem Kaiser in Aussicht

64  Marie-Theres Suermann konnte als Erste aufzeigen, dass die Verwandten des Grafen Ernst, wie beispielsweise sein Schwager Moritz von Hessen-Kassel (1572–1632), engen Kontakt zu Gelehrten hatten, die in Verbindung mit den Rosenkreuzern standen. Zudem wurde Graf Ernst 1617 das Buch Symbola aureae mensae von Michael Maier (1568–1622) gewidmet, welcher sich mit den alchemistischen Künsten auseinandersetzte und Arzt in Kassel war. Suermann gibt eine genaue Abhandlung über das Wesen und die Entwicklung der Rosen­ kreuzer-Bewegung wieder, siehe Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 69ff. 65  Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 152. 66  Vgl. Meine 1989 (wie Anm. 11), S. 156; Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 152. 67  Chyriacus Spangenberg: Chronicon der Hochgeborenen Uhralten Graffen zu Holstein Schaumburgk, Stadthagen 1614. Siehe Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 74. 68  Siehe Tebbe 1996 (wie Anm. 6), S. 146ff.

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gestellte Geld schien seine Wirkung erzielt zu haben, so dass tatsächlich im September 1619 die Erhebung in den Fürstenstand erfolgte.69 Mit der Verleihung des Fürstentitels ad personam eng verbunden war im Reich das Privileg der Gründung einer Universität und auch hierzu lassen sich enge Bezüge zum siebeneckigen Mausoleumsbau in Stadthagen herstellen. Im christologischen Kontext steht die Zahl Sieben für die Weisheit Gottes und in den Sprüchen Salomos ist ein besonderer biblischer Verweis auf diese Zahl zu finden. Dort ist zu lesen: „Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen“ (Spr 9,1). Bernd Evers verortet den heptagonalen Grundriss daher in diesem Kontext und verweist auf die Sapientia in einer Illustration der Psychomachia des Prudentius, welche die allegorische Frauengestalt auf einem Thron in einer Arkadenarchitektur zeigt, die von sieben Säulen gebildet wird.70 Evers bekräftigt daher den thematischen Zusammenhang zwischen den sieben Säulen, genauer den sieben Stützen des gräflichen Mausoleums, mit dem Symbol der Weisheit und der Institution der Universität, die ihr zugeordnet ist. Tatsächlich hat Graf Ernst 1610 eine Hohe Schule, die Academia Ernestina, im alten Franziskanerkloster in Stadthagen gegründet, die auf eine seit 1330 existierende Stadtschule zurückging und mit vier Fakultäten überaus gut aufgestellt war.71 Neben dem siebeneckigen Grundriss und den sieben Säulen lässt sich ebenso die Skulptur des Christus von de Vries in diese Überlegungen miteinbeziehen, wobei insbesondere auf die in der Bewegung der Skulptur dargestellte übernatürliche innere Kraft des Schwebens des Auferstandenen zu verweisen ist. Für die erste Merkur-Skulptur Giambolognas war nicht allein die Darstellung des Vorgangs des Herabschwebens in der Skulptur relevant, sondern ebenfalls, dass diese im Innenhof der Universität Bolognas hätte aufgestellt werden sollen.72 Dort wäre der Götterbote als Bringer himmlischen Wissens präsentiert und verstanden worden. In Stadthagen kann diese Rolle dem Christus zugeschrieben werden, der zugleich als Symbol des himmlischen Wissens und des menschlichen Begreifens der göttlichen Kräfte der Natur verstanden werden kann. Es ist die Darstellung der Auferstehung Christi im Mausoleum, die dies zusätzlich unterstreicht, da die Auferstehung in der frühneuzeitlichen Alchemie 69  Siehe Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 74ff. 70  Siehe Bernd Evers: Mausoleen des 17.–19. Jahrhunderts. Typologische Studien zum Grabund Memorialbau, Tübingen 1983, S. 37ff. 71  Siehe zur Universität in Rinteln umfassend Gerhard Schormann: Academia Ernestina. Die schaumburgische Universität zu Rinteln an der Weser, 1610/21–1810, Marburg 1982. 72  Den ersten Auftrag für eine Merkur-Skulptur hatte der Bildhauer von der Universität in Bologna erhalten, die einen landenden Merkur als Symbol des Wissens und der Wissenschaft aufstellen wollte; es wird davon ausgegangen, dass diese Skulptur später in den Besitz Kaiser Maximilians II. (1527–1576) gelangte, siehe Cole 2011 (wie Anm. 31), S. 113; Burk 2015 (wie Anm. 47), S. 55ff.

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als Sinnbild für die Wandlung von unedlen Metallen in Gold genutzt wurde und einen zentralen Aspekt in der Herstellung des Steins der Weisen bezeichnete.73 Bau und Ausstattung des Mausoleums scheinen neben der Nähe zu den Rosenkreuzern auch im Kontext des universitären Wissens und der diesbezüglichen Ambitionen des Grafen verortet werden zu müssen, denn ab 1611, parallel zur Errichtung des Mausoleums, wurden Verhandlungen geführt, um der Hohen Schule den Status einer Universität zu verleihen.74 1619, unmittelbar nach der Verleihung des Fürstentitels an Graf Ernst, erfolgte die Erhebung der Hohen Schule in eine Universität, die ab 1621 in Rinteln eingerichtet wurde. Die erfolgreiche Erwerbung des Fürstentitels und seine positiven Auswirkungen stießen in Holstein jedoch auf Widerstand, da sich die Könige von Dänemark-Norwegen ebenfalls als legitime Herrscher und Herzoge von Holstein proklamierten. Als Fürst Ernst von Holstein-Schaumburg 1622 verstarb, bemühte sich sein Nachfolger nicht um eine Übernahme des neuen Titels; Regenten und Territorium blieben fortan Grafen und Grafschaft.75 Der Mausoleumsbau, der kurze Zeit später fertiggestellt werden sollte, zeugte jedoch weiterhin beständig von den Erhöhungsbestrebungen des Ernst von HolsteinSchaumburg.76

Fazit Es hat sich gezeigt, wie eng die Planungen des Mausoleums, seines Grundrisses und seiner Ausstattung mit dem Gedanken der Erhebung verflochten sind. Dies wird durch das dargestellte Schweben, das zeitgleiche Vor- und Zurückschreiten der Figur und die dadurch entstehenden und in unterschiedliche Richtungen wirkenden Bewegungskräfte des Christus unterstützt. Wenn in diesem „Stillstand“ der Skulptur und der Negation einer horizontalen Bewegungsrichtung eine vertikale in der Form der Levitation sichtbar wird, erscheint die Skulptur selbst wie von einer übernatürlichen Kraft verlebendigt. Dies kann als direkter Verweis auf die Himmelfahrt Christi und damit den künftigen Eingang aller dort kommemorierten Verstorbenen in das himmlische Jerusalem interpretiert werden. Auch wenn für Graf Ernst in keinem anderen 73  Siehe Scholten 2008 (wie Anm. 11), S. 80–84; Sven Dupré, Beat Wismer und Dedo von Kerssenbrock-Krosigk (Hg.): Kunst und Alchemie. Das Geheimnis der Verwandlung, Auss.Kat. (Museum Kunstpalast, Düsseldorf), München 2014, S 126. 74  Siehe Suermann 1984 (wie Anm. 10), S. 19. 75  Siehe Meine-Schawe 1992 (wie Anm. 8), S. 76. 76  Dies zeigt sich auch daran, dass alle Regent*innen der Grafschaft unterhalb des Mausoleums beigesetzt und keinerlei Veränderungen an der Innenausstattung vorgenommen wurden. Erst 1911 bis 1915 errichtete man im Schlossgarten in Bückeburg ein Pantheon als neuen Erinnerungs- und Begräbnisbau; siehe zu diesem Wilhelm Gerntrup: Das Mausoleum im Schloss­ park, Gifkendorf 2010.

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in Auftrag gegebenen Kunstwerk eine dezidierte Herrscherapotheose dargestellt wurde, sollte diese bei der Betrachtung des Grabmonuments mitgedacht werden: Analog zur Figur des schwebenden und sich damit der Erde enthebenden Christus verstand sich auch Graf Ernst als Herrscher, dem eine Aufnahme in den Himmel zuteilwerden sollte. Zugleich waren das Mausoleum und die Figurengruppe mit der Hoffnung in Auftrag gegeben worden, in jeder Weise ‚nach oben‘ zu gelangen.

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Wandern, winden, sprossen, steigen Pflanzliche Bewegungskräfte und romantische Phytopoesie (Sophie Mereau/Henriette Schubart)

Menschliche Vorstellungen pflanzlicher Vermögen sind in westlichen Kulturen seit der Antike von einer Doppelperspektive gekennzeichnet, die sich um 1800 begrifflich verstärkt: Die Behauptung, dass pflanzliche Kräfte diverse Wirkungen auf das Wohlbefinden anderer Lebewesen ausüben, steht dabei der Annahme gegenüber, das Hauptcharakteristikum von Pflanzen ließe sich mit den Begriffen ‚Passivität‘ und ‚Sessilität‘ beschreiben. Entsprechend gelten Pflanzen einerseits in ihrer Entwicklungs-, Wiederherstellungs- und Formvielfalt als positiv besetzter Inbegriff der ‚Natur‘, die als unerschöpflich wirkend und sich permanent regenerierend konzeptualisiert wird.1 Andererseits werden Pflanzen in der ‚Kette der Wesen‘ im Rahmen einer vornehmlich aristotelisch verpflichteten Traditionslinie zwischen dem Tier- und Mineralreich eingeordnet, weil man sie als organisch belebt, aber nicht als empfindungsfähig begreift – ihre seelischen Vermögen seien auf Nutrition und Reproduktion beschränkt.2 Im Gegensatz zu Tieren könne man Pflanzen zudem auch nicht die Fähigkeit zugestehen, sich selbstständig zu bewegen und Nahrung aufzu­­ suchen.3 1  Vgl. z.B. Georg Toepfer: Pflanze, in: ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie, Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 3: Parasitismus – Zweckmäßigkeit, Stuttgart 2011, S. 11–33, hier S. 11. 2  Vgl. Michael Marder: Plant-Thinking. A Philosophy of Vegetal Life, New York u. a. 2013, S. 94: „[H]aving restricted vegetal being to the double dunamis of plant-soul – to receive nourishment and to procreate, animating and actualizing the vegetal body – he [Aristoteles; F. M.] does not take an additional step in the direction of temporalizing these capacities.“ Vgl. zum Thema Pflanzenseele die Arbeiten von Hans-Werner Ingensiep, zuletzt komprimiert: ders.: Pflanzenseele. Über Psyche, Maschinen, Gehirne und die Hierarchie der Lebewesen, in: Kathrin Meyer und Judith E. Weiss (Hg.): Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten, Göttingen 2019, S. 72–77. 3  Die Plant Studies, die sich derzeit analog zu den Animal Studies ausdifferenzieren (vgl. Urte Stobbe: Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4/1 (2019), S. 91–106), haben diesem Passivitätsparadigma mittlerweile sowohl in biologischer als auch kultur- und

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In den Anfängen der modernen Biologie im späten 18. Jahrhundert verstetigten sich diese Grundannahmen. Hier lässt sich erstmalig die negativ konnotierte Bezeichnung des ‚Vegetierens‘ für einen bloß lebenden, gleichzeitig aber vollkommen geistlosen, denkfaulen oder des Denkens unfähigen Menschen nachweisen.4 Botanik und Naturphilosophie um 1800 zehrten von diesem Leitbild, unabhängig von der Heterogenität botanischer Systematiken und der Vielfalt naturwissenschaftlicher Theorien und Prämissen. Als beispielhaft können hier Lorenz Okens Äußerungen zum „wesentliche[n] und einzige[n] Unterschied zwischen Thier und Pflanze“5 gelten. Während ‚das Tier‘ als der „von der Erde freie Organismus“ konturiert wird, firmieren die Pflanzen als erdverhaftete Organismen, die nur von außen bewegt werden: „Die Pflanze hat keine selbstständige Bewegung; denn gebunden an die Elemente wird sie von diesen determinirt. Sie hat nur Bewegung, wann und indem die Elemente auf sie wirken, oder sie dazu sollicitiren. […] Sie bewegt sich nur durch einen fremden Reiz. Ist kein fremder Reiz anwesend, so bewegt sie sich nicht. Eine Wurzel wächst, bewegt sich gegen eine Stelle, nicht weil sie dort Feuchtigkeit sucht, sondern weil sie von der sich dort befindenden Feuchtigkeit afficirt wird.“6 Dass Oken meint, mit derartig großem rhetorischem Aufwand argumentieren zu müssen, legt nahe, dass nicht alle seiner Zeitgenossen und -genossinnen von der pflanzlichen Unfähigkeit zur eigenmächtigen Bewegung im selben Maße überzeugt waren wie er selbst. In der Tat hat die literarische Romantik den unsichtbaren Vermögen, der sichtbaren Schönheit sowie der Geschlechtlichkeit der Pflanzen, die erst durch botanisch geschultes Wissen zugänglich und sichtbar wird, ebenso viel Interesse geschenkt wie den Analogien zwischen

l­ iteraturwissenschaftlicher Hinsicht Gegenakzente gesetzt, vgl. u. a. Matthew Hall: Plants as Persons: A Philosophical Botany, New York 2011; John Charles Ryan: Passive Flora? Reconsidering Nature’s Agency through Human-Plant Studies (HPS), in: Societies (2012), S. 101–121; Stefano Mancuso und Alessandra Viola: Die Intelligenz der Pflanzen [Verde brilliante. Sensibilità e intelligenza del mondo vegetale, 2015], übers. von Christine Ammann, München 2015. 4  Hans Werner Ingensiep: Leben zwischen ‚Vegetativ‘ und ‚Vegetieren‘. Zur historischen und ethischen Bedeutung der vegetativen Terminologie in der Wissenschafts- und Alltagssprache, in: N. T. M. 14 (2006), S. 65–76, https://rdcu.be/clFCy, (30.01.2021). Vgl. auch Stefano Mancuso: Pflanzenrevolution: Wie die Pflanzen unsere Zukunft erfinden [Plant revolution: Le piante hanno già inventato il nostra futuro, 2017], übers. von Christine Ammann, München 2018, S. 17. „Weil die Pflanzen kein Gehirn besitzen, hat man zur Erklärung der zahlreichen Aktivitäten, für die Tiere analog das Gehirn benutzen, […] die verschiedensten Fachbegriffe ausgedacht: Akklimatisierung, Abhärtung, Priming, Konditionierung…“. 5  Lorenz Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie. Bd. 2, 3. Teil, 1. u. 2. Stück, Jena 1810, S. 42. 6  Oken 1810 (wie Anm. 5), S. 41.

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Pflanzen, Tieren und Menschen und den liminalen Bereichen der um Eindeutigkeit und Einheitlichkeit bemühten Systematiken der Botanik.7 In meinem Beitrag möchte ich der Thematisierung und Inszenierung pflanzlicher Kräfte sowie ihrer Wirkungen an einem konkreten Beispiel nachgehen und dabei insbesondere das wissenspoetische Verhältnis zwischen Botanik und romantischer Lyrik befragen. Vorstellungen von Bewegungskräften, die Pflanzen zuoder abgesprochen werden, sowie Bewegung, die Pflanzen initiieren, stehen dabei im Zentrum des Interesses. Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist der mit großer Wahrscheinlichkeit kollaborativ von Sophie Mereau (1770–1806) und ihrer Schwester Henriette Schubart (1769–1832) verfasste Gedichtzyklus, den Mereau im Jahr 1801 im ersten Band ihres Literaturjournals Kalathiskos abdrucken ließ und mit dem Namenskürzel „H. Sophie Schubart“8 versah – mutmaßlich eine amalgamierte Bezeichnung für Henriette Schubart und Sophie Mereau, geb. Schubart. Der „botanical cycle“9 der Autorinnen10 zeichnet sich durch einen doppelt expliziten Bezug zur zeitgenössischen Botanik aus. Denn zum einen sind sieben

7  Vgl. zuletzt Cornelia Zumbusch: The Metamorphoses of Ottilie: Goethe’s Wahlver­ wandtschaften and the Botany of the Eighteenth Century, in: European Romantic Review 28 (2017), Heft 1, S. 7–20, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10509585.2016.127284 6, (01.02.2021); Mary Jacobus: Romantic Things: A Tree, a Rock, a Cloud, London u. a. 2012; Theresa M. Kelley: Clandestine Marriage. Botany and Romantic Culture. Baltimore 2012; ­Kelley argumentiert, dass insbesondere die um 1800 proliferierende ‚Entdeckung‘ neuer und fremder Pflanzen in der Romantik zu einer Attraktion für botanische Differenz führte: „As a material, literary, and cultural practice, romantic era botany foregrounds what Linnaeus and taxonomists put aside and Foucault cannot: that plant nature occupies the disputed middle kingdom of nature, neither fully mineral not fully animal but disturbingly in between“ (ebd. S. 4). 8  H. Sophie Schubart: Das neue Geschlecht […] Erklärungen, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos. Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 94–104. Zwar gibt Mereau an, dass außer „Ein Kranz“ alle Pflanzen-Gedichte von ihr stammen („Die mit keinem Namen unterzeichneten Aufsätze sind von der Herausgeberin“, heißt es im Inhaltsverzeichnis), die Texte und die daran anschließenden „Erklärungen“ sind jedoch so intrikat miteinander verzahnt, dass von einer kollaborativen Autorschaft bei allen Gedichten dieses Zyklus auszugehen ist. Zur Kollaboration zwischen den Schwestern in Kalathiskos s. Britta Hannemann: Weltliteratur für Bürgertöchter. Die Übersetzerin Sophie Mereau-Brentano, Göttingen 2005, S. 176–200. 9  Linda Dietrick: Vegetable Genius and the Loves of Plants: Botany in German Poetry around 1800, in: John L. Plews und Diana Spokiene (Hg.): Translation and Translating in German Studies. A Festschrift for Raleigh Whitinger, Waterloo 2016, S. 45–61, hier S. 55. Wie Hannemann erwähnt Dietrick die Pflanzengedichte nur en passant (hier: im Zusammenhang mit poetologischen und Gender-Fragen), analysiert und diskutiert sie aber nicht. 10  Im Folgenden als ‚Mereau/Schubart‘ referenziert.

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der elf Gedichte des Zyklus als „(Blumen-)Epigramme[]“11 mit Titeln versehen, die der binären Nomenklatur der Botanik folgen; und auch im letzten und umfangreichsten Gedicht „Ein Kranz“12 werden zahlreiche lateinische Pflanzennamen als konstitutiver Bestandteil in die gebundene Rede eingewoben. Zum anderen schließen Mereau/Schubart dem Gedichtzyklus eine Sektion mit „Erklärungen“13 an, in der nicht nur die populären deutschen Namen und eigentümlichen Merkmale der poetisierten Pflanzen aufgelistet werden. Vielmehr wird in den „Erklärungen“ auch die zentrale Quelle dieser Angaben referenziert: „Batsch. Geschichte der Pflanzen.“14 August Johann Georg Karl Batsch (1761–1802) war in Jena, wo Mereau/Schubart Kontakte pflegten,15 kein Unbekannter. Bis zu seinem Tod im September 1802 hatte er das Amt des Ordinarius für Naturgeschichte an der Universität Jena inne, 1793 begründete er die Naturforschende Gesellschaft zu Jena und richtete ein Jahr später gemeinsam mit Goethe den Botanischen Garten in Jena ein.16 Batsch verschrieb sich einem „natürliche[n] System“17 der Botanik, das Pflanzen aufgrund ihrer Ähnlichkeiten

11  Hannemann 2005 (wie Anm. 8), S. 200. Bislang sind diese phytopoetisch-botanisierenden Gedichte m.W. in der Forschung nur erwähnt, nicht jedoch eingehend analysiert worden. Auch Hannemann geht auf die Gedichte jenseits der Erwähnung ihres Vorhandenseins nicht ein. 12  Schubart 1801 (wie Anm. 8), S. 100–103. 13  Mereau/Schubart: Erklärungen, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 103f. 14  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 13), S. 103; s. auch ebd. S. 104. 15  Zum Leben und Werk von Schubart und Mereau s. komprimiert Katharina von Hammerstein: Sophie Friederike Mereau, geb. Schubart, verh. Brentano (1770–1806), in: Stefanie Freyer u. a. (Hg.): FrauenGestalten Weimar-Jena um 1800. Ein bio-bibliographisches Lexikon, Heidelberg 2009, S. 243–249 sowie Loreley French: Henriette (Jette) Sophie Schubart (1769–1831), in: Stefanie Freyer u. a. (Hg.): FrauenGestalten Weimar-Jena um 1800. Ein bio-bibliographisches Lexikon, Heidelberg 2009, S. 330–334; zu den kollaborativen Übersetzungen von Mereau und Schubart, vgl. Hannemann 2005 (wie Anm. 8), S. 176–200; zu den Übersetzungspraktiken von Schubart im Kontext der Romantik vgl. Frederike Middelhoff: Life/Lost in Translation. Schriftstellerinnen der Romantik übersetzen, in: Martina Wernli (Hg.): „jetzt kommen andere Zeiten angerückt“. Schriftstellerinnen der Romantik, Heidelberg (i. E.). Auch Schubarts eigene Gedichte in Kalathiskos 1 & 2 (und zahlreiche andere in Zeitschriften erschienenen Gedichte und Prosa-Texte) sind bislang nicht wissenschaftlich untersucht worden. 16  Dass Batsch von Goethe großzügig protegiert wurde, erwähnt Ersterer in seiner autobiographischen Skizze aus dem Jahr 1799 selbst, vgl. August Batsch: Batsch (August Johann Georg Karl), der Weltweisheit und Arzneiwissenschaft Doktor, und ordentlicher Professor zu Jena [Autobiographische Skizze und wichtigste Schriften], in: Johann Kaspar Philipp Elwert (Hg.): Nachrichten von dem Leben und den Schriften jetztlebender teutscher Aerzte, Wundärzte, Thierärzte, Apotheker und Naturforscher, Bd. 1, Hildesheim 1799, S. 8–22, hier S. 13f. 17  Vgl. u. a. August J. G. K. Batsch: Versuch einer Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen: für academische Vorlesungen entworfen und mit den nöthigsten Abbildungen versehen, Bd. 1, Halle 1787, S. 296.

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und Verwandtschaften klassifizierte und eine Abgrenzung von willkürlichen Aufteilungen sogenannter künstlicher Systeme vollziehen sollte.18 Gleichermaßen war Batsch an der Popularisierung dieser Systematik in Verbindung mit einem botanischen Wissen über das Leben, die Eigenheit und den Nutzen der verschiedenen Pflanzengattungen und -arten gelegen, das er in einigen Schriften speziell für Frauen und akademisch ungelehrte Freunde der Pflanzen ausformulierte.19 Wie die meisten seiner botanischen Kollegen war Batsch der Auffassung, dass pflanzliche Bewegungen in Abhängigkeit von Klima- und Bodenqualität, Sonneneinstrahlung und Witterung allein chemisch-mechanisch vonstattengehen und keine eigenen Anstrengungen der Pflanzen involvieren würden.20 Gleichwohl ist sein Werk, u. a. auch der zweibändige Versuch einer Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen (1787/88)21, auf den sich Mereau/Schubart in ihren botanischen „Erklärungen“ beziehen, von konzeptuellen und argumen­ tativen Ambivalenzen in Bezug auf pflanzliche Bewegungsvermögen durch­ zogen, die ich in einem ersten Schritt herausarbeiten möchte. Daran anschließend analysiere ich, wie Mereau/Schubart diese Ambivalenzen in ihrem Gedichtzyklus zugunsten eines alternativen, vitalistisch orientierten Modells pflanzlicher Kräfte und Wirkungen produktiv machen. Abschließend beleuchte ich die Inszenierung pflanzlicher Arznei- und Heilkräfte bei Batsch und Mereau/Schubart.

18  Vgl. zu dieser Unterscheidung Carl Fuhlrott: Jussieu’s und De Candolle’s natürliche Pflanzen-Systeme, nach ihren Grundsätzen entwickelt und mit den Pflanzen-Familien von Agardh, Batsch und Linné, so wie mit den Linné’schen Sexual-System verglichen. Für Vor­ lesungen und zum Selbstunterricht, Bonn 1829; s. zu Batschs wissenschaftlicher Stellung zwischen Phy­sikotheologie und Platonismus u. a. im Allgemeinen Igor J. Polianski: Die Kunst, die Natur vorzustellen. Die Ästhetisierung der Pflanzenkunde um 1800 und Goethes Gründung des botanischen Gartens zu Jena im Spannungsfeld kunsttheoretischer und botanischer Diskussionen der Zeit, Jena u. a. 2004, S. 222–227. 19  Siehe insbesondere August J. G. K. Batsch: Botanik für Frauenzimmer und Pflanzenliebhaber, welche keine Gelehrten sind. Weimar 1798; ders.: Botanische Unterhaltungen für Naturfreunde. Zu eigner Belehrung über die Verhältnisse der Pflanzenbildung entworfen, Jena 1793; s. in diesem Zusammenhang u. a. Sophie Ruppel: Botanophilie. Mensch und Pflanze in der aufklärerisch-bürgerlichen Gesellschaft um 1800, Wien u. a. 2019, S. 195f. 20  Alternative nicht-mechanistische Erklärungsmodelle lieferte dann besonders prominent Charles Darwin, s. dazu u. a. Frederike Middelhoff: Wachsen, Formen, Verwandeln, in: Joela Jacobs und Isabel Kranz (Hg.): Pflanzen. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Heidelberg (i.E.). 21  Vgl. Batsch 1787 (wie Anm. 17); ders.: Versuch einer Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen. Für academische Vorlesungen entworfen und mit den nöthigsten Abbildungen versehen, Bd. 2, Halle 1788.

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I. Pflanzliche Im/Mobilität „Wir wissen,“ schreibt Batsch im ersten Band seines Versuchs einer Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen (1787), „daß die Pflanzen keiner willkührlichen Bewegung fähig sind, und sich dadurch von den Thieren unterscheiden, deswegen werden alle Bewegungen der Pflanze, so wenig sie willkührlich sind, da sie selten vorkommen, und auf den ersten Blick sehr täuschend aussehen, zu den Besonderheiten im Gewächsreich gezählet.“22 Batsch sortiert die Rede über die tierartigen Bewegungen der Pflanze in den Bereich des Peripheren und Extraordinären aus. Erwähnte „Besonderheiten des Gewächsreichs“ behandelt er dementsprechend gleich nach den sogenannten „Ausartungen“23 des Pflanzenreichs, die als unregelmäßige Wachstums-, Entwicklungs- und Formprozesse diskutiert werden. Pflanzen sind, so Batsch, nicht selbsttätig, sondern „blos leidend und mechanisch“24. Sie besitzen keine eigenmächtige Bewegungskraft, sondern bewegen sich ausschließlich als Konsequenz einer äußeren Einwirkung (Berührung, Licht, Feuchtigkeit/Dürre). Batsch erklärt sowohl die äußeren Bewegungen der Pflanze, ihre Nahrungsaufnahme aus der Umgebung als auch die innere Bewegung der Säfte als Wechselspiel transformativer Wärme- und Luftverhältnisse;25 auch den sogenannten Pflanzen- oder „Blätterschlaf[]“26 – das Zusammenlegen der Blätter einiger Pflanzenarten bei Nacht und ihr erneutes Entwickeln bei Tagesanbruch – will Batsch rein mechanisch verstanden wissen. In seinem Umriß der gesammten Naturgeschichte (1796) spricht er daher auch von der „Reitzbarkeit und Federkraft der Gewächse“27 und erklärt, dass jenes Schließen und Öffnen der Blätter ebenso wie das Aufspringen von Früchten und das „[S]pritzen“ von Staubbeuteln allein von „mechanischen Reitz[en]“ und „ähnliche[n] Schütte­ rung[en]“28 in der Pflanze herrühre und die Gewächsteile daher nur bedingt

22  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 262. 23  Vgl. Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 246–261. 24  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 263. 25  Vgl. Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 270. 26  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 265. 27  August Batsch: Umriß der gesammten Naturgeschichte. Ein Auszug aus den frühern Handbüchern des Verfassers für seine Vorlesungen, Jena u. a. 1796, S. 52. 28  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 52.

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bzw. „uneigentlich“29 als „empfindlich“30 bezeichnet werden könnten.31 Pflanzen, so Batschs Überzeugung, sind passive, ihrer Umwelt und allen äußeren Einwirkungen uneingeschränkt ausgelieferte Organismen: „Einige, wenn wir sie unter gewaltsame Umstände bringen, verhalten sich vollkommen leidend, zeigen keine Veränderung, oder nähern sich nur nach und nach ihrem Untergange. Und, finden wir ja etwas, das einem plötzlichen Widerstreben, einer Bewegung ähnlich wäre, so bemerken wir bey genauer Untersuchung, daß nichts willkührlicheres, nichts, was unter veränderten Umständen einen neuen Entschluß verriethe, sondern bloß ein mechanischer Druck oder Reitz, wie bey Stahlfedern und trocknenden Saiten […]. Aller örtlichen Bewegung beraubt, suchen sie ihre Nahrung nicht, und die Forttreibung der Säfte in den Gefäßen hängt von den Kräften ab, welche sich ausser ihnen befinden.“32 Im Gegensatz dazu besitzen Tiere laut Batsch „eine unbekannte Kraft, die den Körper nur zum Mittel gebraucht, auf andere Körper zu wirken“33. Was im Volksmund als „Geist“ oder „Seele“ firmiert, sei genau diese Kraft, die „eine Ursache der körperlichen Thätigkeit“34. Zwar negiert Batsch eine „organische[] oder Lebenskraft“35 der Pflanzen nicht, die sich in der körperlichen Entwicklung, aber z. B. auch in der Ausscheidung von Säften, und in den Ausprägungen pflanzlicher Farb-, Geruchs- und Geschmacksvielfalt erkennen ließe. Allerdings stehe

29  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 33 (u. a.): „Nur uneigentlich kann man die Blätter mit den Muskeln und Bewegungsorganen vergleichen, da die letztern nur mit dem empfindenden Wesen verbunden sind; ob gleich die stärker bewegten Gewächse, auch dauerhafter seyn mögen. Eben so wenig leidet der Stamm mit den Knochen eine passende Vergleichung.“ Uneigentliches Sprechen ist gleichwohl Programm der Batsch’schen Analogisierung des Tier- und Pflanzenreichs im Bemühen um Anschaulichkeit und Verständlichkeit, wie ich im Weiteren zeigen werde. 30  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 53. 31  Vgl. in diesem Sinne auch Batschs Äußerungen zur „Kraft der Anhängung“ in Bezug auf das Leben der Pflanzen in ders.: Versuch einer Historischen Naturlehre oder einer allgemeinen und besondern Geschichte der cörperlichen Grundstoffe. Für Naturfreunde entworfen, Bd. 2, Halle 1791, S. 132. 32  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 25. 33  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 25f. 34  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 25. 35  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 35. Zum Lebenskraft-Diskurs in und jenseits der Biologie um 1800, vgl. u. a. Georg Toepfer: Leben, in: ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2: Gefühl – Organismus, Darmstadt 2011, S. 420–496, hier S. 434–438 sowie Maike Arz: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart 1996.

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sie ebenso mit „Reitzbarkeit“ und „Lichtbedürfniß“36 der Pflanze in Zusammenhang und sei von der „Geisteskraft“37 der Tiere klar zu trennen. Batschs Differenzierung entspricht der um 1800 gängigen Konstruktion eines kategorialen Unterschieds zwischen Pflanze und Tier (jeweils im Kollektivsingular): Beiden kann als entwicklungsfähigen Organismen weder eine diffus bleibende Lebenskraft noch ein gewisses eigendynamisches Bewegungspotential abgesprochen werden. Allein das Tier verfüge aber darüber hinaus auch noch über ein geistiges und, damit zusammenhängend, über ein Vermögen zur eigenwilligen Selbstbewegung. Während Pflanzen heteronom bewegt werden, seien Tiere einer autonomen Bewegung fähig. Batsch ist in seiner Beschreibung der Pflanzen als ‚bewegte Unbewegliche‘ allerdings nicht immer argumentativ konsistent, was bisweilen zu einer ungewollten Anim(alis)ierung und Mobilisierung seines pflanzlichen Gegenstands führt. Grund dafür ist nicht nur eine Tendenz zur Analogiebildung zwischen pflanzlichen und tierlichen Vermögen, sondern vor allem ein signifikantes Nicht-Wissen über die Ursachen pflanzlicher Lebens- und Bewegungsabläufe. Besonders deutlich werden Unkenntnis, Vergleichs- und Verlebendigungs­ rhetorik dort, wo von der sexuellen Fortpflanzung der Vegetabilen im Allgemeinen und von den Wasser- und Kletterpflanzen im Speziellen die Rede ist. Denn über „Rankende Gewächse (Hederaceae)“ weiß Batsch beispielsweise zu berichten, dass sie „die Bäume, an denen sie kletter[n], aussaug[en], und alsdenn erst blüh[en], wenn sie nicht mehr kletter[n], wobey sie die Form der Blätter ver­änder[n]“.38 Dass die Kletterbewegung, eine diesem Klettern nachfolgende Blattmetamorphose sowie das Aussaugen der Rankengewächse mechanisch bedingt sind, kommt an keiner Stelle zur Sprache. Auch die rätselhaften Kriechbewegungen der Pflanzenwurzeln sui generis bringen Batsch in Erklärungsnöte: „Schon bey der ersten Entwicklung der Pflanze geht die Wurzel nach einem uns unerklärlichen Gesetze nach unterwärts in die Erde; und selbst erwachsene Wurzeln kriechen zuweilen über andre Körper weg, um anderswo eine bequeme Nahrung zu finden.“39 Das Bewegungspotential der Pflanzen kann Batsch mittels Beobachtung und Erfahrung zwar in seiner Regelmäßigkeit als quasi-naturgesetzliches Faktum beschreiben, die Ursachen dieser Such- und Wachstumsbewegungen, die in

36  37  38  39 

Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 35. Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 34. Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 26. Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 60.

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den Plant Studies gegenwärtig u. a. als interpretatives und/oder intelligentes Verhalten diskutiert werden,40 bleiben indes ungeklärt. Pflanzliche Fortpflanzung wiederum versucht Batsch am Beispiel der Tiere zu erläutern, gleichzeitig ist er aber auch um eine Abgrenzung zur Tier-Analogie bemüht, was erneut zu Erklärungsproblemen führt: „Alles was bey der Liebe der Thiere willkührlich und zweckmäßig unternommen wird, fällt bey der Pflanzenliebe weg, wo alles mechanisch geht, und wo bey den mehresten die äussere Wärme nebst hinreichender Nahrung das ganze Geschäft bewirkt. Liebe der Pflanzen ist also ein uneigentlicher Ausdruck, der nichts weiter, als Empfängniß, bedeutet.“41 Batsch reflektiert an dieser Stelle seine Rede über die „Liebe“ (genauer: sexuelle Aktivität) der Pflanzen als eine ‚nur‘ metaphorische, insofern die aktive Suche nach Sexualpartner und -partnerinnen ebenso wie der Geschlechtsverkehr von Tieren seines Erachtens mit der maschinenmäßigen Befruchtung passiver weiblicher Stempel durch aktive männliche Staubfäden nur bedingt vergleichbar sei.42 An anderen Stellen distanziert sich Batsch von seinen mehr-alsmetaphorischen Äußerungen allerdings nur indirekt.43 Über die Fortpflanzung bestimmter Wasserpflanzen bemerkt Batsch beispielsweise, dass die unter Wasser befindlichen Blüten erstaunlicherweise „zur Zeit der Befruchtung die freye Luft [suchen], nachher senkt sich der befruchtete Stempel unter das Wasser, um dort zur Frucht zu erwachsen.“44 Männliche Blüten „reissen

40  Vgl. u. a. Anthony Trewavas: The Foundations of Plant Intelligence, in: Interface Focus 7 (2017). S. 1–18, http://dx.doi.org/10.1098/rsfs.2016.0098, (14. 02. 2021); Mancuso u. a. 2015 (wie Anm. 3); Marder 2013 (wie Anm. 2), S. 157. 41  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 156; vgl. auch ebd. S. 16. 42  Vgl. Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 16: „So werden in Vergleichung mit den Thieren die staubtragenden Theile die männlichen, die saamentragenden Theile die weiblichen […] genennt.“ Dass der männliche auf den weiblichen Part wirkt und damit – klassisch aristotelisch – als aktiv(er)e Instanz Kontur erhält, ist angesichts der um 1800 dominanten Vergeschlechtlichung der Natur nicht überraschend. Auch Batsch stellt „die männliche Kraft“ dem weiblichen „Samenbehälter“ (Batsch 1796, wie Anm. 27, S. 50) und die „ernährende[n], mütterliche[n], weibliche[n] Theile“ den männlichen „erweckende[n]“ (Batsch 1787, wie Anm. 17, S. 35) Staub-Teilen gegenüber. Gleichwohl erkennt er an, dass der „wesentliche Theil des Gewächses“ nichts Anderes als „der Stempel, oder das Weibchen“ (ebd., S. 15) sei. In diesem Sinne denkt Batsch auch über die „Gewalt“ nach, mit der die Blume „feinen elastischen Dunst“ – Blumenstaub – zur Befruchtungszeit verteilt und vermutet hinter diesem Dunst „die Kraft“ (ebd., S. 153), die zu der Befruchtung der weiblichen Teile führt. 43  Vgl. u. a. Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 132: „So wie die Empfängniß vor der Schwangerschaft und Geburth bey den Thieren vorhergeht, so geht bey den Pflanzen die Blüthe vor der Frucht und Aussäung [sic] voraus.“ 44  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 153.

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sich gar vom Grunde los, um die Begattung im Freien zu bewirken“45. Dass Batsch den Pflanzen ein Suchverhalten und eigenständiges Bewegungsvermögen abspricht, tritt hier in den Hintergrund, indes versucht er die Beobachtung, dass „Bewegungen der Pflanzen und ihrer Theile das Werk der Befruchtung [begünstigen]“46 dadurch abzuschwächen, dass er dieses Bewegungsvermögen relativiert: Nur in der Vertikalen, nur zur Zeit der ‚Begattung‘ und nur zugunsten der Fortpflanzung seien die Blüten der Wasserpflanzen selbstbeweglich. Nichtsdestotrotz scheinen die auf- und absteigenden Wasserpflanzen die in der Botanik weitgehend akzeptierte aristotelische Prämisse zu unterminieren, dass Pflanzen nur drei der vier Bewegungsformen zugestanden werden können:47 Denn Wasserpflanzen sind nicht nur (1) des Wachstums, (2) der Verwandlung und (3) des Verwelkens fähig. Bestimmte Teile ihres Körpers können vielmehr auch zu bestimmten Zeiten ihre Position verändern (4). Dennoch insistiert Batsch darauf, dass „[a]lle einer „scheinbaren freyen Bewegung fähige[n] Gewächse“48 nicht als Effekt von Seelenkräften,49 sondern allein me­­ chanisch und gemäß den Prinzipien physiologischer Reizbarkeit betrachtet werden müssen. Bewegungen von Pflanzen bei der Zeugung, im Schlaf, beim Kriechen, Klettern usw. seien mit den eigenständigen Bewegungen von Tieren nicht gleichbedeutend, demnach könne man auch „nur uneigentlich […] die Blätter mit den Muskeln und Bewegungsorganen vergleichen, da die letztern nur mit dem empfindenden Wesen verbunden sind“50. Für Batsch und die Botanik steht mit den scheinbar autonomen Bewegungspotentialen von Pflanzen demnach weit mehr auf dem Spiel als nur die Frage danach, ob Pflanzen ihre räumliche Position verlagern können: Denn wenn Pflanzen der autonomen Bewegung fähig sind, werden mit ihren bislang unerkannten bzw. falsch interpretierten Vermögen (und nicht nur mit den „Pflanzenthieren“51, z. B. Polypen) auch Konzepte wie Empfindungsfähigkeit, Sinnlichkeit, Autonomie und Freiheit preisgegeben. Den rhetorischen Aufwand, den Batsch betreibt, um das Bewegungsvermögen der Pflanzen und damit ein Verständnis pflanzlicher

45  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 56. 46  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 56. 47  Vgl. zu diesen Prämissen dieser Bewegungslehre Marder 2013 (wie Anm. 2), S. 20. 48  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 28. 49  Vgl. zum zeitgenössischen Diskurs einerseits über das Zusammenspiel von Seelen- und Bewegungskraft Charles Bonnet: Versuch über die Lebenskraft. Aus dem Französischen von M. Christian Gottfried Schütz, Bd. 1, Bremen u. a. 1770, S. 102f. sowie der Unterscheidung zwischen Lebens- und Bewegungskraft andererseits Johann Ludwig Gaultier: Physiologie und Pathologie der Reizbarkeit. Aus dem Lateinischen und mit einigen Anmerkungen begleitet, Leipzig 1796, S. 47f. 50  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 33. 51  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 116.

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Selbsttätigkeit im Sinne eines eigenmächtigen Verhaltens einzuhegen, entfaltet die Pflanzenpoesie von Mereau/Schubart im freien Spiel poetischer und personifizierender Rede.

II. Pflanzliche Poiesis Die elf von Mereau/Schubart verfassten Pflanzengedichte lassen sich thematisch und ästhetisch in drei Abteilungen untergliedern. In den ersten drei Gedichten werden Pflanzen einerseits ausgehend von ihren Eigenheiten und besonderen Lebensformen, andererseits bezüglich ihres Nutzens und ihrer Interaktionen mit anderen Lebewesen (Tier, Mensch) zur Darstellung gebracht. Das letzte Gedicht dieser ersten Abteilung nutzt ein für die folgende GedichtGruppe zentrales ästhetisches Mittel der Verlebendigung und Personifizierung: die rhetorische Figur der Prosopopöie. Die sieben folgenden Gedichte der zweiten Abteilung lassen sich als botanische Porträt-Gedichte beschreiben und orientieren sich an einer Darstellungspraxis der Botanik, die mithilfe der Prosopopöie jedoch zur pflanzlichen ‚Selbstdarstellung‘ wird: Auf die lateinische und deutsche Gattungsbezeichnung folgt die Merkmalsbeschreibung der Pflanzen, die – analog zur botanischen Darstellung – Hintergründe der Artbezeichnung, Aussehen und Anwendung ihrer selbst ausbuchstabieren. Der Pflanzengedicht-Zyklus schließt mit einem Langgedicht, das performativ-selbstreflexiv das Zusammenflechten einer Vielzahl unterschiedlicher Pflanzen zum titelgebenden „Kranz“ vollführt und die Auswahl der pflanzlichen Komponenten ausgehend von ästhetischen und funktionalen Kriterien reflektiert.52 Im Anschluss an die drei genannten Abteilungen werden pointierte „Erklärungen“53 zu den in Abteilung zwei und drei erwähnten Pflanzen bereitgestellt, die der Botanik im Allgemeinen, einigen botanischen Ausführungen von August Batsch im Speziellen verpflichtet sind. Im Folgenden möchte ich die Gedichte hinsichtlich ihrer Verlebendigungsstrategien, ihrer expliziten und Kraft- und Bewegungskraftkonzepte und den damit zusammenhängenden Verbindungslinien zur Botanik beleuchten. Mereau/Schubarts phytographischer54 Lyrikzyklus setzt mit einem aus vier Versen bestehenden Gedicht ein, das den programmatischen Titel „Das 52  Dass der Zyklus formal – und in mancherlei Hinsicht auch inhaltlich – an Goethes Elegie Die Metamorphose der Pflanzen (1798) anschließt, lasse ich im Folgenden aus sachlichen und umfangsökonomischen Gesichtspunkten unberücksichtigt. Dies wäre Gegenstand eines separaten Aufsatzes. 53  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 13), S. 103f.; Batsch ist nicht immer Gewährsmann für die jeweiligen Pflanzen-Informationen, ich werde darauf im Folgenden noch eingehen. 54  Konzepte wie ‚Phytographie‘ und ‚Phytopoetik‘ sind derzeit in den Plant Studies in Erprobung, vgl. Joela Jacobs: Phytopoetics: Upending the Passive Paradigm with Vegetal Violence and Eroticism, in: Catalyst 5 (2019), Heft 2, S. 1–18. Ich lehne mich hier an John Charles Ryans

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neue Geschlecht“55 trägt. Drei Grundlinien werden mit diesem Anfangsgedicht für die folgenden poetischen Texte etabliert, die sich auf einer epistemologischen und einer poetologischen Ebene verorten lassen. Erstens erhalten Pflanzen einen erkenntnistheoretisch-vermittelnden (Nutz-)Wert: Pflanzliches Werden und Wachsen in den Blick zu nehmen, bedeutet, nicht nur etwas über das menschliche Leben zu lernen, sondern auch die Formen des Lebendigen und die Kräfte der Regeneration zu erkennen, die sich dem oberflächlichen Blick entziehen; zweitens reflektiert und inszeniert das Gedicht mit der Rede über das pflanzliche Vermögen zur Regeneration das Potential poetischer Verlebendigung qua Sprache; drittens wird mit der Rede vom neuen Geschlecht, das aus der Pflanzenwelt erwächst, subtil auf alternative, non-binäre Geschlechtermodelle angespielt. „Das neue Geschlecht“ formuliert den Auftrag zur Fokussierung auf und Vorbildfunktion von Pflanzen: Wer ‚Natur‘ zeitweilig als „todte[] Natur“ verkennt und „das Lebend’ge“ als „todt“ und „verödet“ missdeutet, kann anhand des Blicks in die „Pflanzenwelt“56 erkennen (lernen), dass dieser Schein trügt. Augenscheinlich tote Materie ist nicht leblos und auch nur zeitweise bewegungslos, wie der Blick in das Reich der Pflanzen verrät. Pflanzen aktualisieren und artikulieren ihr Vermögen, sich zu verlebendigen („Steig’ aus der todten Natur fröhlich ein Leben empor“), zu wachsen und zu gedeihen („Aus der Pflanzenwelt steige mit reinem schuldlosen Streben“57). Batsch hatte in seiner Botanik für Frauenzimmer den Tod der Pflanzen (erneut im Vergleich zum Tierreich) ebenfalls als Moment der Täuschung hervorgehoben: „Aber der Tod der Pflanzen ist zuweilen eben so täuschend, wie bey den Thieren. So wie man Schnecken den Kopf abschneiden kann, so können manche Gewächse, äusserst gemisshandelt, sich wieder erholen; es giebt wie im Thierreiche, und bey den Gewächsen noch häufiger, Arten, die ganz austrocknen, und bey jedem Regen bis zu einem neuen Tode wieder etwas

Theorie der Phytographie als mehr-als-menschliches Schreiben nicht nur über, sondern mit Pflanzen an: „As we envision plants as autobiographical subjects, so they imagine us back in an interplay of imaginings; as we write the lives of plants, so they write their own lives – and ours. Plants write-back into auto|phytographical accounts as their unique articulations weave into the fabric of diverse shared narratives.“ (John Charles Ryan: Writing the Lives of Plants: Phytography and the Botanical Imagination, in: a/b: Auto/Biography Studies 35 (2020), Heft 1, S. 97–122, hier S. 100, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/08989575.2020.172018, (20. 12. 2020)). 55  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 8), S. 94. 56  Mereau/Schubart: Das neue Geschlecht, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 94. 57  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 56), S. 94.

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fortwachsen; Saamen behielten wohl auf ein Jahrhundert noch die Kraft, junge Pflanzen hervorzutreiben“58. Pflanzliche Lebens- und Regenerationskräfte sind dem menschlichen Blick aber nicht prinzipiell entzogen. Vielmehr lassen sich diese Verlebendigungskräfte, die über menschliche Lebenszeitspannen hinweg zu ruhen und hinter der Fassade toter Materie im Verbogenen zu bleiben vermögen, anhand ihrer Wirkungen – neue, unerwartet austreibende Pflanzen – erkennen. In „Das neue Geschlecht“ wird das Verhältnis von Tod und Leben, Schein und Sein, Erkenntnis und Pflanzenkenntnis konzeptuell und medial miteinander verkoppelt: Der Blick in die Pflanzenwelt eröffnet einerseits Erkenntnisse über unsichtbare Zusammenhänge des Lebens und organischer Bewegungspoten­ tiale und gemahnt im übertragenen Sinne andererseits an ein menschliches Erkenntnis- und Gesinnungsmodel, das dem Anschein von Ödnis und Tod ein Lebens- und Natur-Wissen entgegensetzt, welches erlaubt, hinter vermeintlich Totem ein Lebens-Potential zu sehen. Auf dieses versteckte Vermögen läuft jeder Vers des Gedichts jeweils zu: „Leben“; „Streben“; „Liebe“59. Gleichzeitig führt „Das neue Geschlecht“ vor, dass Verlebendigung ein nicht nur pflanzliches, sondern auch ein poetisches Prinzip ist. Denn der Text spricht nicht nur über pflanzliche Regeneration, sondern setzt sie auch sprachlich inmitten eines Spannungsbogens („Wenn […] Dann“60) in Szene. Pflanze und Poesie geraten damit jeweils als Medien der Verlebendigung in den Blick. Performativ gesteigert wird diese Inszenierung pflanzlicher und poetischer Lebenskraft noch durch die Verwendung des Imperativs („Steig’ […] empor“; „steige“), mit dem der Text gewissermaßen heraufbeschwört, was das Gedicht leisten soll: Das Hervorbringen einer lebendigen Schöpfung aus vermeintlich toten Buchstaben. Dieses Lebendige wird im Text dabei gleichzeitig als etwas Neues („ein neues Geschlecht“61) profiliert. Mereau/Schubart spielen an dieser Stelle mit der Mehrdeutigkeit des Geschlechtsbegriffs. Schon um 1800 reichte dessen Bedeutungsspektrum von abstrakten Gattungsklassen über menschliche Familienkonstellationen bis hin zu der Annahme spezifischer Geschlechtsunterschiede, die man von den unterschiedlichen Sexualorganen im Tier- und

58  Batsch 1798 (wie Anm. 19), S. 139; s. auch Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 278. 59  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 56), S. 94. Inwiefern Schubart/Mereau mit der pluralen Sprecherinstanz („uns […] erscheint“; „uns mit Liebe empfängt“) sich selbst thematisieren und gleichzeitig ihre weibliche Leserschaft miteinbeziehend adressieren, wäre in einem anderen Zusammenhang zu klären. 60  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 56), S. 94. 61  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 56), S. 94.

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Pflanzenreich ableitete.62 Auch in der Botanik war es üblich, mal klassifika­ torisch vom Geschlecht der Pflanzen (das Pflanzenreich), mal organologisch vom Geschlecht der Pflanzen (die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane) zu sprechen.63 Zumeist wurde dabei – wie auch bei Batsch –64 nur en pas­ sant und relativierend (und mit Blick auf eine weibliche Leserschaft eher verschämt) erwähnt, dass ein Gros der Pflanzen sich keineswegs entweder einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen lasse, sondern die Zwitter vielmehr als Norm betrachtet werden müssen. „Das neue Geschlecht“, das sich im und mit dem Gedicht aus dem Boden erhebt, dient hier als ontologisches, epistemologisches und poetologisches Ideal, das Geschlechterdifferenzen eint bzw. relativiert, schlummernde Kräfte aktiviert, vermeintlich Totes in Lebendiges transformiert und Bewegung, Wachstum und sittliches Handeln („schuld­ ­loses Streben“) initiiert. Dass Geschlechter- und Fortpflanzungsfragen in Mereau/Schubarts Pflanzengedichten eine zentrale Rolle spielen, verhehlt auch der nächste Gedichttext mit dem Titel „Die Bienen“ nicht: „Summend schweben nach Honig die ämsigen Bienen / Und die Blumen der Flur laden die Suchenden ein. / In die Kelche sich tauchend, der Blüth­en Gewinde durchirrend; Lohnet die Findenden bald süß die erquickende Kost; / So auch suche der Mensch den süßen Honig der Freude / Der oft verborgen ihm scheint, doch in der Nähe sich birgt.“65 Von den sexuellen und poetologischen Bedeutungsebenen abgesehen,66 er­­ scheint auch in diesem Gedicht ein dem bloßen Auge unzugängliches Charakteristikum der Pflanzenwelt (in diesem Fall konkreter: der Angiospermen-Welt) 62  Vgl. Johann Christoph Adelung: Geschlecht, in: ders.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Wien 1808, Sp. 610, http://www.woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=Adelung&lemid=DG01608 (02. 12. 2020). 63  vgl. z.B. bei Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 156: „§. 158. Geschlecht der Pflanzen […] sexus plantarum]“. 64  Batsch 1796 (wie Anm. 27), S. 55: „Die meisten Gewächse haben zwar Zwitterblumen (hermaphroditi flores); allein bey manchen kommt noch ausser diesen, das eine oder das andre Geschlecht in derselben Art in abgesonderten Blumen vor (planta polygama)“. Vgl. u. a. auch Batsch 1793 (wie Anm. 19), S. 250: „Vermuthlich giebt es in der Natur keine ursprünglich getrennten Geschlechtsblumen, sondern lauter Zwitterblumen mit beyden Geschlechtern“. 65  Mereau/Schubart: Die Bienen, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 94–95. 66  Vgl. Dietrick 2016 (wie Anm. 9), S. 54: „[I]t can be argued that around 1800, any female poet who identifies herself with flowers is probably alluding to her own creative power. For obvious reasons, women writers were more circumspect about allusions to (plant) sexuality or artistic genius as it might apply to them.“ Zudem ist die Honigsuche der Bienen seit der

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als Quelle regenerativer Effekte („erquickende Kost“). Mehr noch: Pflanzen werden hier nicht als passive Teilhaber am Bestäubungsgeschäft in Szene gesetzt, sondern als aktiv Involvierte, die die Bienen „[ein]laden“67. Zwar sind es die Tiere, die beweglich, beflissen („ämsig[]“; „die Suchenden“) und auch ein wenig betört („durchirrend“) dem süßen Nektar nachspüren, gleichzeitig wurde ihre Suche aber überhaupt erst durch den pflanzlichen Zucker und die damit zusammenhängenden Duftstoffe angestoßen. Zugespitzt formuliert: Nicht die Bienen entscheiden, dass sie auf Honigsuche gehen, sondern die Pflanzen mobilisieren die Bienen, indem sie ihre Bestäuber mithilfe eigener Säfteund Duftstoffproduktion anziehen. In Batschs Versuch einer Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen heißt es dazu: „Mehrentheils ist der erwähnte Saft in der Blume süß, ja zuweilen schießt er für sich wie ein Zucker zu Kristallen an. Wegen dieser Süßigkeit wird er von den Kolibris und vielen rüsseltragenden Insekten gesucht, und die Bienen, welche mit zu ihnen gehören, machen ihren Honig davon.“68 Es ist die Attraktionskraft zuckerhaltig-süßlicher Pflanzenstoffe, die Bienen in Bewegung versetzt, von einem Kelch zum nächsten navigiert und zur Befruchtung beitragen lässt.69 Zwar bleibt die Blume räumlich betrachtet bewegungslos, versetzt aber eine andere Spezies qua Eigensaftproduktion in Bewegung. Eine klare Zuordnung von Agens und Patiens, vom Vermögen zu bewegen, und vom Vermögen, Bewegung zu erleiden, wird in diesem lyrischen BlumenBienen-Ensemble geschickt unterlaufen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das anschließende Gedicht mit dem Titel „Die Wiesenblumen“ betrachten, mit dem die erste Abteilung des Gedichtzyklus beendet und die zweite Abteilung inhaltlich und ästhetisch vorbereitet wird. Hier ist nicht mehr von der abstrakten „Pflanzenwelt“ (Gedicht 1) oder von „Blumen“ (Gedicht 2) im Allgemeinen die Rede, sondern von „Wie­

Antike eine Metapher des Dichters, der Gesänge sammelt und sich zuweilen bei den Erzeugnissen Anderer bedient. 67  Es ist übrigens genau diese Art der Fortpflanzung, die Goethe in seinem Versuch die Meta­ morphose der Pflanzen zu erklären (1790) als „zufällig[e]“ Pflanzenmetamorphose in den Bereich der „monströsen […] Auswüchse[]“ verbannte und in seiner Abhandlung nicht zum Thema machte (J.W. Goethe: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 24,1, hg. von Dorothea Kuhn. Frankfurt/M. 1987, S. 109–151, hier S. 111). 68  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 133f. 69  Vgl. in diesem Sinne u. a. Michael Pollan: The Botany of Desire. A Plant’s-Eye View of the World, New York u. a. 2001, S. xiv: „The truth of the matter is that the flower has cleverly manipulated the bee into hauling its pollen from blossom to blossom.“

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senblumen“70, die einen passierenden Wanderer herbei „rufen“71. Dass die Blumen den Wanderer auffordern, sie zu pflücken und „in kunstlosem Strauß freundlich am Busen“72 zu tragen, scheint zunächst einen anthropozentrisch gerahmten Akt der Für-Sprache zu repräsentieren und lässt sich zudem recht offenkundig als sexuelle Anspielung lesen. Für die Frage nach pflanzlichen Bewegungskräften ist allerdings relevant, dass die Blumen ihr ästhetisches Potential keineswegs auf ein zeitlich befristetes Dasein als schlichtes SchmuckSträußchen in männlichen Brusttaschen beschränkt sehen, das durch die Lande getragen wird. Vielmehr setzten sie den Wanderer gleich doppelt in Bewegung: Denn zum einen wird er – ähnlich wie im Gedicht zuvor die Bienen – vom „lieblichen Duft“73, der eigens zum Anlocken produzierten Wiesenblumen­ säfte überhaupt erst zu einem Herantreten gereizt.74 Dass die Blumen den Wanderer duftend „rufen“, versprachlicht zudem die Annahme, dass Pflanzen mithilfe ihrer Düfte mit anderen Organismen kommunizieren, was mittlerweile als biochemische Interaktion wissenschaftlich bestätigt wurde.75 Zum anderen kennen die Wiesenblumen ihr ästhetisches Potential: Weil sie sich als Organismen begreifen, die „[f]ern von der Aufsicht des Gärtners, fern auch von kritischer Schule“ durch „Gefühl und Natur“ ins Leben traten, rücken sie sich als Naturschönes in den Blick, lassen aber gleichzeitig auch erkennen, dass sie sich als Lebewesen verstehen, die kraft ihrer körperlichen Eigenheiten Impulse für imaginative und künstlerische Prozesse geben können: „Möchte mit lieblichem Duft duften dir eines von uns; / Sorglos würden wir dann das nahe 70  Mereau/Schubart: Die Wiesenblumen, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 95–96. 71  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 70), S. 95. 72  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 70), S. 95. 73  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 70), S. 96. 74  Pollan 2001 (wie Anm. 69), S. xv: „All those plants care about is what every being cares about on the most basic genetic level: making more copies of itself. Through trial and error these plant species have found that the best way to do that is to induce animals – bees or people, it hardly matters – to spread their genes. How? By playing on the animals’ desires, conscious and otherwise. The flowers and spuds that manage to do this most effectively are the ones that get to be fruitful and multiply.“ 75  Vgl. u. a. Hirokazu Ueda, Yukio Kikuta und Kazuhiko Matsuda: Plant communication:  Mediated by individual or blended VOCs?, in: Plant Signal Behavior  7 (2012), Heft 2, S. 222–226, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22353877/, (21. 02. 2021) sowie allgemein in Bezug auf das Themenfeld ‚Phyto-Language‘: Monica Gagliano, John C. Ryan und Patrícia ­Vieira (Hg.): The Language of Plants. Science, Philosophy, Literature, Minneapolis 2017. Dass es hier immer auch um eine symbolische Kommunikationsebene geht, die Pflanzen als Me­dien weiterer Bedeutungsebenen im Sinne einer „Blumensprache“ (vgl. u. a. Isabel Kranz, Alexander Schwan und Eike Wittrock (Hg.): Floriographie. Die Sprachen der Blumen, Paderborn 2016) ins Spiel bringt, erwähne ich hier nur am Rande, in dieser Hinsicht ist neben den „Wiesenblumen“ auch das „Vergiß mein nicht“ als (durch die Blume) sprechende Instanz aufschlussreich.

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Welken erwarten, / Denn wir hauchten ja dir liebliche Bilder ins Herz.“76 Die Düfte der Wiesenblumen besitzen das Vermögen, auf die menschliche Vorstellungs- und Gefühlswelt einzuwirken und dort konkrete (erinnerte oder erwünschte) Impressionen zu hinterlassen. Das physische Verwelken der ­Wie­­senblumen stellt der Text somit einem ideellen Verwahren in anderen physischen Instanzen (Wanderer) und medialen Trägern (Bilder) gegenüber. Die zweite Abteilung des Gedichtzyklus, die den botanisch-poetischen Porträts gewidmet ist, erscheint, ebenso wie das abschließende längste Gedicht „Ein Kranz“, für Fragen der Bewegungskräfte in zweierlei Hinsicht zentral: Denn auf der einen Seite werden hier verschiedene Bewegungs- und Wachstumsformen ausgewählter Pflanzen zur Darstellung gebracht, andererseits geht es ganz konkret um die Wirkkräfte, die Pflanzen in phytomedizinischer Hinsicht zugeschrieben werden können. Auf Letztere gehe ich im letzten Teil dieses Beitrags näher ein. Wie „Die Wiesenblumen“ werden auch diese Gedichte – mit Ausnahme des „Augentrost[s]“77 – mittels der Prosopopöie von den Pflanzen quasi-autobiographisch vorgetragen. Dominierten in der ersten Abteilung des Pflanzen­ zyklus aber eher allgemeine und abstrakt insinuierte Vorstellungen von der Eigendynamik („Das neue Geschlecht“) sowie der Wirkkraft der Pflanzen auf die Bewegungen und Handlungen anderer Organismen („Die Bienen“; „Die Wiesenblumen“), so geraten in den botanischen Porträts artspezifische Bewegungsvermögen der Pflanzen in den Blick, die sich an Parametern des Wachstums und der asexuellen Fortpflanzung orientieren. „Viola adorata. Märzveilchen“ zeigt die Veilchen als Frühlingsboten, die im Zusammenspiel mit der Sonneneinstrahlung „sprossend“ den Frühling „begrüßen“78; in „Hedera Helix. Epheu“ werden materielle und semiotisch-symbolische Bewegungseigenheiten der Pflanze miteinander verschränkt: Denn zum „Sinnbild treuer unendlicher Liebe“ eignet sich Efeu schlichtweg nur deshalb, weil die Pflanze durch eigentümliche Wachstums- und Bewegungsmodi gekennzeichnet ist: „Sieh in mir das Sinnbild treuer unendlicher Liebe, / Ewig halte ich fest, was ich mir einmal erkohr! / Nicht die Strenge des Nords, noch des Mittags sengende Strahlen, / Ziehn den umarmenden Zweig von dem Gewählten zurück.“79 Was/wer vom Efeu einmal erklommen und umschlungen wurde, wird ihn so schnell nicht mehr los. Selbst elementare Kräfte (Nordwind/Sonneinstrahlung) können die

76  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 70), S. 96. 77  Mereau/Schubart: Euphrasia officinalia. Augentrost, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 99–100. 78  Mereau/Schubart: Viola adorata. Märzveilchen, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 97. 79  Mereau/Schubart: Hedera Helix. Epheu, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 97–98.

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Zweige des Klettergewächses nicht lösen. Die rankende Pflanze stellt das Objekt, das sie umfängt, zwar nicht still, birgt aber im Bild der „treue[n] unend­ liche[n] Liebe“ auch eine gewisse Ambivalenz. Denn Efeu wächst nicht nur mit, sondern auch durch andere Organismen. Bei August Batsch liest man dazu: „Die Bäume saugt er [der Efeu; F. M.] aus, aber die Mauern bedeckt er aufs schönste mit dichtem und immergrünen Laube.“80 Von den rankenden ‚Armen‘ des Efeus eingenommen zu werden, ist also keineswegs immer ein harmonisches Unterfangen und geht auch nicht immer mit dem Wohlbefinden aller beteiligten Akteure und Akteurinnen einher. Das mit Blick auf die Bewegungskräfte der Pflanzen wohl zentralste Porträt der zweiten Pflanzengedichtabteilung repräsentieren „Die Orchis-Arten“81. Theresa Kelley hat darauf hingewiesen, dass die Romantik den Orchideen nicht zuletzt aufgrund ihrer speziellen Formen besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat82 – eindeutig zweideutige (oder: „atypical salacious“83) Blumenund Wurzelgestalten empfand man daher auch in anderen Zirkeln für botanisierende Frauen als denkbar ungeeignet.84 Taxonomisch prekär und ästhetisch ambivalent waren nicht nur die hodenförmigen Knollen der Orchideen, die Anlass zur Namensgebung von ‚Orchis‘ / ‚Knabenkräuter‘ (Gr. Orchis für ‚Hoden‘) gaben, sondern auch die z. T. frappierende Ähnlichkeit der Pflanzen mit Insekten und Vögeln.85 In Batschs Botanik-Lehrbuch heißt es zu diesen pflanzlichen Sonderbarkeiten: „§4. Orchisarten (Orchideae). Mit dieser Familie fängt eine neue Abtheilung des Gewächsreiches an […]. Die Arzneykräfte mehrerer Arten sind ungewiß, die aphrodisische Kraft der hodenförmigen, und die glückbringende der handförmigen Knollen ist abergläubischen Ursprungs. Einige Blumen zeichnen sich durch üble, zum Theil thierische Gerüche […], durch Verwachsungen der Blumenblätter […], oder durch thierähnliche Formen […] aus.“86

80  Batsch 1788 (wie Anm. 21), S. 125f. 81  Mereau/Schubart: Die Orchis-Arten, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 99. 82  Vgl. Kelley 2012 (wie Anm. 7), u. a. S. 247–262. 83  Theresa M. Kelley: Botanical Figura, in: Studies in Romanticism 53 (2014), Heft 3, S. 343– 368, hier S. 362. 84  Vgl. dazu auch Kelley 2012 (wie Anm. 7). 85  Vgl. dazu auch Kelley 2014 (wie Anm. 83), S. 362. 86  Batsch 1787 (wie Anm. 17), S. 46f. In seiner Botanik für Frauenzimmer benennt Batsch die heimischen Arten auch entsprechend als „Fliegen- und Hummelorchis“ sowie „Frauenschuh“ (Batsch 1798, wie Anm. 19, S. 163).

Wandern, winden, sprossen, steigen

Die Orchisarten sind theriomorph, grotesk, „monstrous“87; durch ihre fantastischen Formen befeuern sie die menschliche Fantasie, beeinflussen die Art ihrer Nutzung (‚Aberglaube‘) und werden zu Medien transgressiver Geschlechtervorstellungen und Körperbilder. Mit den sich selbst porträtierenden „OrchisArten“ knüpfen Mereau/Schubart mit deutlich sexuell aufgeladenem Vokabular – „Steigen uns Stengel und Blatt, weichlich und fleischig empor“88 – an ihr Eingangsgedicht „Das neue Geschlecht“89 an. Die Orchis-Arten erscheinen hier aber nicht nur als Erfüllung des dort heraufbeschworenen und noch in Aussicht gestellten „neuen Geschlecht[s]“90, sondern insistieren auch darauf, dass sie weder im konkreten noch im übertragenen Sinne stillzustellen sind: „Aber die Schönheit der Blüthen, die reichlich das Haupt uns umgeben, / Findet nur der, der sie sucht; ihm nur enthüllt sich ihr Reiz. / Wandernde Blumen sind wir, zwar kömmen wir langsam nur weiter, / Aber wir kommen doch fort, sehen ein andres Geschlecht.“91 In ihren „Erklärungen“ ergänzen Mereau/Schubart, dass es sich bei den „OrchisArten“ um „[w]andernde Blumen“ handele: „Einige Gattungen derselben mit getheilten Wurzelknollen, wovon die eine Hälfte jährlich abfällt, und durch eine neue an der Seite ersetzt wird, verändern dadurch immer ihren Platz.“92 Von Batsch, der, wie bereits erwähnt, die Mobilität von Pflanzen als rein mechanische Angelegenheit begriff und jede pflanzliche Eigenbewegung auf chemische Wirkkreise von Luftdruck und Feuchtigkeit zurückführte, stammen diese Informationen nicht.93 Dass Orchis-Arten „als wandernde Gewächse zu betrachten sind“94, konnte man aber beispielsweise Karl Ludwig Willdenows Kräuterkunde entnehmen, die der Vertraute Alexander von Humboldts 1792

87  Kelley 2012 (wie Anm. 7), S. 260 et passim. 88  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 81). 89  Vgl. Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 56), S. 94: „Steig’ aus der todten Natur fröhlich ein Leben empor […] ein neues Geschlecht, das uns mit Liebe empfängt“. 90  Vgl. Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 56), S. 94. 91  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 81), S. 99. 92  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 13), S. 103f. 93  Zu ‚wandernden Blumen‘ äußert sich Batsch nicht; auch die Idee von historischen „Wanderungen der Gewächse“ (Batsch 1787, wie Anm. 17, S. 279), die er in der Sektion „Besonderheiten des Gewächsreichs“ mit Blick auf fossile Pflanzenfunde verhandelt, betrachtet er skeptisch. 94  Karl Ludwig Willdenow: Grundriß der Kräuterkunde. Zu Vorlesungen entworfen, Berlin 1792, S. 291: „Die Orchisarten […] verlieren alle Jahr eine Wurzel, und setzen auf der entgegengesetzten Seite eine neue an, dadurch verändern sie jährlich ihren Standort; so dass sie nach vielen Jahren auf einen ganz andern Fleck zu stehn kommen“.

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publiziert hatte.95 Bezeichnenderweise versammelt Willdenow, der 1801 zum Direktor des Botanischen Gartens in Berlin ernannt wurde und 1810 die Professur für Botanik an der frisch gegründeten Berliner Universität übernahm, auch die „kriechenden Wurzeln“ und „rankende[n] Gewächse“ unter dem Begriff der „wandernde[n] Gewächse“96 – Batsch hatte diesen Schritt ebenso wenig gewagt, wie Willdenows erstaunliches Zugeständnis an die „Blätter des Hedysarum“ (Süßklee), die sich laut Willdenow „freywillig auf und ab [bewegen]; dadurch ist dieses Gewächs sehr nahe mit dem Thierreiche verwandt.“97 Vor dem Hintergrund dieser Annahmen über das Bewegungsvermögen der Pflanzen sind dann auch die pflanzlichen Darstellungen in Mereau/Schubarts abschließendem Gedicht „Ein Kranz“ zu betrachten, in dem „Florens liebliche Kinder“98, von der Sprecherinstanz aufgerufen, versammelt und in die gebundene Rede eingewoben werden: „Wanket, wallet und strebet fröhlich zum Wählen heran“99, heißt es hier, kurz darauf ist die Rede von „spros­send[en]“100 Blüten, vom schwankenden und sich herabbeugenden Weidrich,101 vom hervordrängenden Farnkraut,102 „wankenden Blätter[n]“103 der Flachsseide und „Con­­volvolus Zweig“, der sich „freundlich [ranke]“104. Dass „Ein Kranz“ poeto­ logische und literaturkritische Fragen reflektiert, zeigt insbesondere das 95  Zum Verhältnis Humboldt – Willdenow s. Staffan Müller-Wille und Katrin Böhme: „Jederzeit zu Diensten“. Karl Ludwig Willdenows und Carl Sigismund Kunths Beiträge zur Pflan­ zengeographie Alexander von Humboldts, in:  Alexander von Humboldt: Geographie der Pflanzen. Unveröffentlichte Schriften aus dem Nachlass, hg. von Ulrich Päßler und Ottmar Ette, Bd. 1, Berlin 2020, S. 75–108, online seit 2019: https://edition-humboldt.de/themen/text. xql?id=H0017685&l=de (02. 01. 2021). 96  Willdenow 1792 (wie Anm. 94), S. 291. 97  Willdenow 1792 (wie Anm. 94), S. 291. 98  Mereau/Schubart: Ein Kranz, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 100–103, hier S. 100. In diesem Gedicht ist vom Geschlecht in Bezug auf „ander[e] Geschlechter“ die Rede, sodass der Kontext zwar hier das Synonym ‚Gattung‘ suggeriert, dennoch bleibt der Bedeutungsgehalt mit Blick darauf, dass gleichzeitig davon die Rede ist, dass diese „Geschlechter“ angesichts des Frühlings freudig „sprossen[]“, ambivalent. 99  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 98), S. 100. 100  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 98), S. 101. 101  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 98), S. 101. 102  Inwiefern das hier genannte Blatt von „Drioptris“ (S. 102) bzw. „Farrnkraut“ (S. 104), das den um 1800 vieldiskutierten und für die Romantik ungemein interessanten ‚Kryptogamen‘ zugeordnet ist (vgl. Kelley 2012, wie Anm. 7), mit dem für den Zyklus bedeutsamen ‚neuen Geschlecht‘ zusammenhängt, müsste in einer eigenen Untersuchung genauer ausgeführt werden und kann hier nur angedeutet werden. Linné befand die Kryptogamen gemäß ihrer Anzahl und Stellung weiblicher und männlicher Geschlechtsorgane als nicht-identifizierbar und fasste sie daher in eine eigene Klasse zusammen. 103  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 98), S. 102. 104  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 98), S. 102.

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Gedichtende. Hier wird der geflochtene Kranz auf das Haupt eines „Freundes“ gesetzt, gleichzeitig wird betont, dass der Kranz womöglich nicht nur Wohlwollen von Freunden, sondern auch „Kälte, […] Spott und Gleichmuth“ ernten und dem „fremden Geschmack“105 nicht genügen könne. Mit dem performativen Winden des Pflanzenkranzes verhandelt der Text die Schnittstelle von Natur und Kunst, Poesie und Botanik und überblendet die Zusammenhänge zwischen pflanzlichen Formen, Figuren, Bewegungen und Effekten mit der Gestaltung und Dynamik der Textproduktion. Kein Sonett-Kranz, sondern ein elegischer Pflanzen-Kranz wird hier gewoben und gewunden. In diesem künstlerischen Arrangement erscheinen Pflanzen nicht als passive Objekte oder ornamentales Beiwerk, sondern als eigendynamisches Fundament einer lyrischen Dichtung des Lebendigen. Das Bewegungsvermögen der Pflanzen ist dabei nichts weniger als entscheidend: Weil sie biegsam und selbstbeweglich, hybrid und polymorph, wohlgefällig und wohlbekömmlich sein können, sind die Kräfte der Pflanzen der Dreh- und Angelpunkt in Mereau/Schubarts Lyrikzyklus.

III. Phyto-Pharmakon Eine weitere prominente Ästhetisierung pflanzlicher Kräfte umkreist bei Mereau/Schubart das Themenfeld der Phytomedizin. Pflanzen werden seit der Antike aufgrund ihrer heilenden Wirkungen gesammelt, gezüchtet, verarbeitet und verabreicht;106 ‚Heilkraft‘ und ‚Heilkraut‘ waren um 1800 wiederum nicht nur innerhalb des Lexikons eng miteinander verbunden.107 Insbesondere in populärwissenschaftlichen Kontexten galt die Beschreibung phytomedizinischer Einsatzmöglichkeiten der unterschiedlichen Pflanzenarten als integraler Bestandteil botanischer Darstellungen. Die Anordnung, die Batsch im zweiten Band seines Versuchs einer Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen bei der Beschreibung der Pflanzenfamilien und ‑gattungen vornimmt (Name; Aussehen; Eigenheiten bzgl. Farbe, Frucht etc.; Nutzen; Herkunft), kann dafür als beispielhaft gelten. Mereau/Schubart beziehen sich auf Batsch explizit dort, wo es um die Heilkräfte bestimmter Pflanzen geht. Zum „Augentrost“ heißt es mit Verweis auf „Batsch. G. d. P. S. 457“: „Von den Alten wurde dieses 105  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 98), S. 103. 106  Vgl. u. a. Michael Heinrich, Andrea Pieroni und Paul Bremner: Plants as Medicines, in: Ghillean Prance und Mark Nesbitt (Hg.): The Cultural History of Plants, New York u. a. 2004, S. 205–238. 107  Vgl. die aufeinander folgenden Einträge bei Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (wie Anm. 62), Sp. 1074: „Die Heilkraft, plur. die -kräfte, die heilende, d. i. die Genesung befördernde Kraft Einer Arzeney“; „Das Heilkraut, des -es, plur. die -kräuter, ein Kraut. welches seiner heilsamen Kräfte wegen, in der Arzeneykunst gebraucht wird“.

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Kraut gegen die Schwäche des Gesichts gerühmt.“108 Die Ästhetisierung der pflanzlichen Substanzen, die für die Stärkung der Sehkraft verwendet werden, geht im Gedicht über „Euphrasia officinalia. / Augentrost“ mit der Verhandlung unsichtbarer Kräfte angesichts optischer Attraktionslosigkeit einher: „Tröstlich bist du fürwahr dem Auge, du zierliches Blümchen, / Du der Bescheidenheit Bild, lohnend den Forscher wie sie; / Wenn durch innre Kraft du leidende Augen erhellest, / Tröste dein äußrer Reiz meinen gesündern Blick.“109 Die verborgene Kraft der namensgebenden ‚Augentröster’ wirkt auf Augenleiden, wenngleich diese Heilkräfte auch dem gesunden Auge unsichtbar bleiben müssen. Batsch hält „dieses etwas zusammenziehende und bittre Kraut“ allerdings nicht erwiesenermaßen für heilkräftig: „Noch jetzt wird es in manchen Gegenden sehr geschätzt, aber seine Kräfte bleiben sehr zweifelhaft.“110 Batschs Skepsis findet allerdings weder im Gedicht von Mereau/Schubart Erwähnung noch in ihren „Erklärungen“. Auch in „Myosotis Scorpioides. / Vergiß mein nicht“111 poetisieren Mereau/ Schubart ein tradiertes, wenngleich arkanes Wissen über die heilsamen Kräfte der Myosotis und verzahnen diese phytomedizinische mit einer kulturgeschichtlichen Perspektive, in der das Vergissmeinnicht vornehmlich als symbolträchtiges Liebes- und Erinnerungsgut firmiert:112 „Und dem scheidenden Freund, ruf’ ich Vergiß mein nicht! zu. / Röthet die Thräne der Sehnsucht nach dem Geliebten dein Auge, / Still’ der Entzündung Gluth mild dir mein lindernder Saft.“113 Auch diese Pflanze buchstabiert ihre Bedeutsamkeit prosopopoietisch aus. Dabei bezeichnet sie sich nicht nur als Bezeichnete, der im Rahmen einer Blumensprache die Bedeutung „Vergiß mein nicht!“ zugesprochen wird, sondern rekurriert auch auf das heilsame Vermögen ihrer körperlichen Bestandteile auf andere Körper. Batschs erneut eher verhalten optimistisches Urteil über die Wirkmacht des Vergissmeinnichts auf entzündete Augen zitieren Mereau/Schubart in ihren „Erklärungen“114 wortwörtlich. Aus den Inhalten bislang unveröffentlichter Briefe, die Henriette Schubart an ihre Schwester sandte, kann allerdings geschlussfolgert werden, dass zumindest Schubart 108  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 13), S. 104. 109  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 77), S. 99. 110  Batsch 1788 (wie Anm. 21), S. 457. 111  Mereau/Schubart: Myosotis Scorpiodes, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 98. 112  Vgl. u. a. Isabel Kranz: Forget-me-not, in: dies.: Sprechende Blumen. Ein ABC der Pflanzensprache, Berlin 2014, S. 70–72. 113  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 111), S. 98. 114  Vgl. Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 13), S. 103 sowie Batsch 1788 (wie Anm. 21), S. 417.

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großes Vertrauen in die Wirkmacht pflanzlicher Säfte auf leidgeplagte Augen setzte. Ihren Briefen legte Schubart u. a. „heilsame[] Augenbäuschen“115 für Mereau und ihre Tochter Hulda bei, die entzündete Augen lindern sollten. Dass dieser „Balsam“116 bei Hulda keine Wirkung zeigte, schien Schubart verwundert zu haben. Von welcher Pflanze der postalisch verschickte Balsam stammte, ist indes nicht überliefert. Neben den entzündungshemmenden und die Sehkraft stärkenden Kräften der Pflanzen, binden Mereau/Schubart zwei weitere Erscheinungen pflanzlicher (Heil-)Kraft in den mittleren Teil des botanischen Lyrikzyklus ein, die einen Nexus zu den sexuell konnotierten Thematisierungen pflanzlicher Vermögen sowie den erwähnten Duftstoffen bilden, mit denen pflanzliche Blumen andere Organismen in Bewegung versetzen. Wie beim „Augentrost“ muss auch bei „Eringium campestre. / Mannstreu“ die innere Kraft hinter einer äußerlich unscheinbaren Gestalt gesucht werden: „Mannstreu werd’ ich genannt, mein Aeußres ist stachelnd und scheinlos – / So umhüllet die Treu oft auch ein rauhes Gewand; / Aber mein Innres ist süß, von starken heilsamen Kräften – So auch lohnet die Treu jeglichen, der sich ihr weiht.“117 Wirft man einen Blick auf Batschs Ausführungen zu den Kräften der „Feld-Raddiestel“ oder „Manns­ treu“, die bei Mereau/Schubart nicht eigens in den „Erklärungen“ referenziert werden, kann der ironische Gehalt der poetischen Rede von der süßen Treue im stacheligen Gewand kaum von der Hand gewiesen werden. Denn wenngleich der Saft von Eryngium campestre gegen Skorbut nützlich sei, beschränkten sich ihre sonstigen Wirkungen laut Batsch auf „auflösende vorzüglich harntreibende, aber keine aphrodistische [sic] Kräfte“118. ‚Mannstreu‘ befördert die Urinausscheidung, fungiert aber mutmaßlich auch als Aphrodisiakum – wiewohl Batsch die geschlechtstriebsteigernden Kräfte, ähnlich wie bei den Orchis-Arten, zu negieren bestrebt ist. Auch hier wird die Rede von den pflanzlichen Vermögen offenkundig zum Möglichkeitsraum, um über sozial konstruierte Geschlechtszuschreibungen sowie geschlechtsspezifische Erwartungs­ normen zu sprechen. Der sich selbst darstellende Mannstreu verhandelt somit auch den sozialen Wert und die Bedeutungsspielräume von ‚Treue‘ sui generis. 115  Ich danke Nicole Kabisius aus Erfurt für die sorgfältige Transkription des in Krakau befindlichen Briefkonvoluts von Henriette Schubart; Henriette Schubart: Brief an [Sophie Mereau o.D.], Autografy H. Schubart i inne materiały z nia ̧ zwia z̧ ane, in: Varnhagen Sammlung, Bibliotheka Jagiellońska Krakow, S. 121–124, hier S. 122, https://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/publication/171171/edition/162803 (12. 12. 2020). 116  Henriette Schubart: Brief an Sophie Mereau vom 19.9.1806, Autografy H. Schubart i inne materiały z nia ̧ zwiaz̧ ane, in: Varnhagen Sammlung, Bibliotheka Jagiellonska ´ Krakow, S. 27–30, hier S. 30, https://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/publication/171171/edition/162803 (12. 12. 2020). 117  Mereau/Schubart: Eringium campestre / Mannstreu, in: Sophie Mereau (Hg.): Kalathiskos, Bd. 1, Berlin 1801, Faksimiledruck hg. von Arthur Henkel, Heidelberg 1968, S. 98. 118  Batsch 1788 (wie Anm. 21), S. 55.

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Dass pflanzliche Kräfte dem menschlichen Organismus nicht nur heilsam, sondern in bestimmten Dosen und Zusammensetzungen auch unzuträglich und gefährlich werden können, ist ein Gemeinplatz der Phytomedizin, der auch in August Batschs 1790 erschienener Arzneymittellehre zum Gegenstand wird.119 Batsch beschreibt hier zahlreiche „arzneyische[] Kräfte“120 der „Natur­ cörper“121, die er vordergründig auf physiologische Wirkungszusammenhänge zurückführt: Arzneimittel wirken laut Batsch „gegen Muskeln als reitzend oder zusammenziehend, gegen die Nerven als erhitzend, besänftigend oder betäubend, gegen die Säfte als fäulniswidrig und verbessernd, nährend, verdünnend, und einhüllend, gegen die festen Theile anfressend, gegen parasitische Thiere tödtend, und gegen die zu starke Wärme als kühlend“122. Diese in erster Linie im Reich der Pflanzen zu suchenden Kräfte beschreibt Batsch dann wiederum von ihren Wirkungen her: Es gebe, um hier nur eine kleine Auswahl zu nennen, „laxirende Kraft“, „antiseptische Kraft“, „berauschende und betäubende Kraft“, „ernährende Kraft“, „einhüllende[], schlüpfrigmachende[] und erschlaffende[] Kraft“, „purgirende Kraft“, „erhitzende und eindringende Kraft“ sowie „fiebervertreibende[] Kräfte“ und „magenstärkende, treibende, krampfstillende Kräfte“.123 Wenngleich alle dieser genannten Kräfte bei bestimmten Krankheiten nützlich sein und heilsam wirken können, bestehe die Möglichkeit, dass sie in anderen Fällen einen der Gesundheit durchaus nachteiligen, sogar tödlichen Effekt hervorbringen. In „Viola adorata. / Märzveilchen“ geben Mereau/Schubart diese Kippfigur des vegetabilen Pharmakons als Heilmittel/Gift zu bedenken:124 „Sanft und balsamisch enthauchen wir liebliche Düfte dem Aether; / Aber narkotisch sind sie, wenn sie zu häufig dir nahn.“125 Batsch hält hierzu in seinem Versuch einer

119  Vgl. August Batsch: Versuch einer Arzneymittellehre nach den Verwandtschaften der wirkenden Bestandtheile, Jena 1790. 120  Batsch 1790 (wie Anm. 119), S. 15. 121  Batsch 1790 (wie Anm. 119), S. iv et passim. 122  Batsch 1790 (wie Anm. 119), S. vi. 123  In der Reihenfolge der obigen Zitate: Batsch 1790 (wie Anm. 199), S. 193, S. 275, S. 285, S. 291, S. 293, S. 309, S. 225 und S. 324. 124  Zu Derridas von Pharmakon-Interpretation als Grundfigur einer binären logozentrischen Tradition des Abendlands vgl. Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: ders.: Dissemination [1972], übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien 1995, S. 69–190. 125  Mereau/Schubart 1801 (wie Anm. 78), S. 97. Vgl. mit Blick auf den balsamischen Duft, der sogar entzündlich ist: „Dictamnus albus. Weißer Diptam. Diese schön blühende Pflanze haucht einen balsamischen Duft aus, der sich bei stillem und warmem Wetter so um dieselbe anhäuft, daß man ihn anzünden kann. Batsch. G. d. P. S. 146“ (Mereau/Schubart 1801 (wie

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Anleitung zur Kenntniß und Geschichte der Pflanzen fest: „Die frühe angenehme und wohlriechende Blume wird durch die Cultur in den Gärten vergrößert. Ihr Duft wird gefährlich, wenn er in Menge eingeschlossen ist.“126 Die Wirkmächtigkeit der Märzveilchen (und seines Duftes) erschöpft sich allerdings nicht in der Inversionsfigur von ‚balsamisch‘ und ‚narkotisch‘. Batsch schreibt der Blume auch „purgirend[e]“127, „äusserlich erweichend[e], innerlich abführend[e]“128 Wirkungen zu; die Wurzel mache „Erbrechen und Stuhlgänge“129. Der Duft der Märzveilchen, den Mereau/Schubart porträtieren, ist demnach bewegend und ambivalent zugleich. Einerseits vermögen die Wohlgerüche von Viola adorata, für den Menschen angenehme und der Beruhigung dienliche („balsamische“) Zustände zu erzeugen, andererseits kann diese Beruhigung einer (tödlichen) Schläfrigkeit und Betäubung der Sinne weichen. Pflanzliche Stoffe und Säfte verändern und bewegen menschliche Körper(-Säfte): Sie wirken entleerend, abführend, erweichend, betäubend usw. und sind bisweilen für menschliche Organismen nur in Dosen körperlich und sinnlich genießbar, bevor sie im Übermaß ihr Gefahrenpotential entfalten.

IV. Fazit Der phytographische Gedichtzyklus von Mereau/Schubart reflektiert das Bewegungsvermögen von Pflanzen und partizipiert an einem botanischen Wissen, das die Texte sowohl poetisieren als auch in einigen Teilen unterminieren. Während Batsch, den Mereau/Schubart als botanische Referenz anführen, die Vorstellung einer freien Bewegung der Pflanzen negiert, nur implizit repräsentiert oder in den Bereich des Randständigen und uneigentlichen Sprechens aussondert, stellen Mereau/Schubart pflanzlichen Bewegungs- und Wirkungspotentiale ins Zentrum ihrer poetischen Darstellung. Mittels poetischer Beschreibung und rhetorischer Verlebendigung veranschaulichen und reflektieren die Texte unsichtbare Kräfte und sinnlich wahrnehmbare Effekte pflanzlicher Körper, Düfte und Säfte und verquicken dabei spielerisch die eigentliche Rede über das Leben, die Potenz und die Fortpflanzung der Vegetabilen mit der übertragenen Rede von den Regenerations- und (Re-)Produk­ tionsformen der Tiere und Menschen.

Anm. 13), S. 104). Im Gedicht ist vom „balsamischen Duft“ die Rede, die der „weiße Dictamnus [[h]auche]“ (Mereau/Schubart 1801, wie Anm. 98, S. 101). 126  Batsch 1788 (wie Anm. 21), S. 218. 127  Batsch 1790 (wie Anm. 119), S. 160. 128  Batsch 1790 (wie Anm. 119), 160. 129  Batsch 1790 (wie Anm. 119), S. 160. Eine „narcotische[] Kraft“ (ebd. S. 360) erwähnt Batsch bei den Märzveilchen wiederum nicht.

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Die Gedichte thematisieren indes nicht nur, in welchen Formen pflanzliches Leben als Bewegung sichtbar wird, sondern auch, welche Effekte die unsichtbaren Kräfte der Pflanzen auf andere Körper und Organismen ausüben: Bienen und Menschen werden von den duftenden Säften der Pflanzen angezogen und in Bewegung versetzt, aus diesen Begegnungen können wiederum neue geistige Produkte (Honig, Bilder, Gedichte) hervorgehen. Pflanzen wirken somit nicht nur direkt (anziehend, aber auch arzneilich), sondern auch indirekt auf andere Lebewesen und ihre Handlungen. Passive, bewegungslose Pflanzen tauchen in der Phytopoetik von Mereau/ Schubart nicht auf. Dynamisierung und Mobilisierung finden dabei auf drei Ebenen statt: Erstens werden Pflanzen als selbstbewegliche (u. a. „Epheu“; „Orchis-Arten“) Akteur*innen in den Blick genommen; Zweitens erscheinen Pflanzen als Bewegung initiierende Instanzen (u. a. „Die Bienen“; „Die Wiesenblumen“; „Myosotis Scorpioides“); Drittens erhalten die Pflanzen mit der Prosopopöie ein Gesicht, durch das sie ihre z. T. unsichtbaren Bewegungs- und Lebenskräfte, ihre Eigendynamik und Lebendigkeit artikulieren können. Pflanzliche Vermögen, Pflanzenkörper und Wachstumsformen fungieren dabei gleichzeitig als Vorbild und Vergleichsfolie für ästhetische Modelle einer lebendigen Schöpfung sowie ontologische und geschlechtsspezifische Fragestellungen („Das neue Geschlecht“; „Orchis-Arten“). Die Kräfte der Pflanzen zu kennen, eröffnet die Möglichkeit, von ihnen zu lernen (wie ‚Natur‘, Leben und Fortpflanzung funktioniert), mit ihnen zu arbeiten (wie performativ in „Ein Kranz“ vorgeführt, der selbstredend auch mit den Bedeutungsebenen und Praktiken von Florilegien/Anthologien spielt) und mit ihrer Hilfe – im buchstäblichen und übertragenen Sinne – zu florieren. Einen zentralen Stellenwert besitzt daher in den Gedichten auch die Poetisierung pflanzlicher Heilkräfte. Auch hier partizipieren die Gedichte an einem Wissen über ein Regenerationsvermögen der Pflanzen, das sich zwischen den Polen von Belebung und Be­­ täubung, Erquickung und Ermattung aufspannt und aufgrund dieser Ambivalenzen, Inversionen und Potenzen der romantischen Literatur eine Fülle poetischer Spielräume eröffnet.

Caroline Torra-Mattenklott

Plötzliches Italien Bewegungskräfte und literarische Form in Kafkas frühen Reisetexten

Kafkas frühe Tagebucheinträge kreisen um das Thema der Kraft. Sie handeln vor allem von den eigenen Kräften: von der Kraft des Kindes, den ihr entgegengesetzten Widerständen und ihren Überresten im Erwachsenenalter, von der bald als passabel, bald als schwächlich eingeschätzten körperlichen Konstitution, von der Entkräftung durch die Arbeit im Büro und in der Asbestfabrik der Familie, von der nötigen Konzentration der Kräfte auf die schriftstellerische Arbeit und, umgekehrt, den aus ihr bezogenen Kräften, von der eigenen Schaffenskraft und ihrem Mangel.1 Kafka reflektiert seine immer wieder gehemmte literarische Produktivität als ein Problem des Kräftehaushalts und der physischen Schwäche, und er fasst sein Gefühl des Ungenügens in Bilder prekärer körperlicher Zustände und Haltungen. In grotesker Übersteigerung führt etwa ein Tagebucheintrag von November 1911 die Unmöglichkeit vor Augen, unter den gegebenen anatomischen Bedingungen die selbstgesteckten Ziele zu erreichen: „Sicher ist, daß ein Haupthindernis meines Fortschritts mein körperlicher Zustand bildet. Mit einem solchen Körper läßt sich nichts erreichen. Ich werde mich an sein fortwährendes Versagen gewöhnen müssen. Von den letzten wild durchträumten, aber kaum weilchenweise durchschlafenen Nächten bin ich heute früh so ohne Zusammenhang gewesen, fühlte nichts anderes als meine Stirn, sah einen halbwegs erträglichen Zustand erst weit über dem gegenwärtigen und hätte mich einmal gerne vor lauter 1  Vgl. Franz Kafka: Tagebücher, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Tagebücher, Textband, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt/M. 1990; zu den verlorenen Kräften des Kindes ebd. S. 24f.; zur körperlichen Konstitution ebd. S. 23f., S. 266; zur Verschwendung der eigenen Kräfte ebd. S. 250, zu den als sinnlos empfundenen Anstrengungen in der Fabrik ebd. S. 327; zum Kräfteverschleiß im Büro und zur nötigen Konzentration der Kräfte auf das Schreiben ebd. S. 29, S. 341; zur Kräftigung durch das Schreiben ebd. S. 93, S. 219; zur mangelnden Schaffenskraft und Müdigkeit ebd. S. 352, S. 289.

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Todesbereitschaft mit den Akten in der Hand auf den Cementplatten des Korridors zusammengerollt. Mein Körper ist zu lang für seine Schwäche, er hat nicht das geringste Fett zur Erzeugung einer segensreichen Wärme, zur Bewahrung inneren Feuers, kein Fett von dem sich einmal der Geist über seine Tagesnotdurft hinaus ohne Schädigung des Ganzen nähren könnte. Wie soll das schwache Herz, das mich in der letzten Zeit öfters gestochen hat, das Blut über die ganze Länge dieser Beine hin stoßen können. Bis zum Knie wäre genug Arbeit, dann aber wird es nur noch mit Greisenkraft in die kalten Unterschenkel gespült. Nun ist es aber schon wieder oben nötig, man wartet darauf, während es sich unten verzettelt. Durch die Länge des Körpers ist alles auseinandergezogen. Was kann er da leisten, da er doch vielleicht, selbst wenn er zusammengedrängt wäre, zuwenig Kraft hätte für das, was ich erreichen will.“2 Der Kräftemangel wird hier als Durchblutungsstörung, bewirkt durch ein greisenhaft schwaches Herz in einem bizarr in die Länge gezogenen Körper, imaginiert. Die Distanz zwischen Stirn und Beinen erscheint unüberbrückbar, der eigene Körper „ohne Zusammenhang“ – ein Bild der inneren Fehlorganisation und Selbstdissoziation, das die elementare Funktion des Blutkreislaufs als kaum zu leistende logistische und kräftemechanische Anstrengung darstellt. Das Fehlen von Energiereserven wird dafür verantwortlich gemacht, dass sich kein anhaltendes inneres Feuer, das heißt wohl: kein kontinuierlicher Zustand inspirierten Arbeitens, aufrechterhalten lässt. Geistige Arbeit über die „Tagesnotdurft“ hinaus bedeutet unter diesen Umständen zwangsläufig Raubbau am Gesamtorganismus. Statt organisch zusammenzuwirken, sind Geist und Körper in ihren Funktionen entfremdet und machen einander die Ressourcen streitig, ohne die an „Fortschritt“ nicht zu denken ist. Das in diesen Zeilen entworfene hypochondrische Körperbild steht in unmittelbarer Beziehung zur modernen Arbeitswelt, an der Kafka durch seine Beteiligung am Familienunternehmen und durch seine tägliche, mit der schriftstellerischen Tätigkeit konkurrierende Büroarbeit selbst partizipierte und deren Gefahrenpotentiale er als Angestellter der Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt im Detail zu begutachten hatte. Die Fantasie, sich „mit den Akten in der Hand auf den Cementplatten des Korridors“ zusammenzurollen, verweist ebenso auf den Büroalltag wie die Verzweiflung über das Blut, das sich „unten verzettelt“, während es oben dringlich erwartet wird: Hier überlagert sich das Phantasma des dysfunktionalen Körpers mit dem Bild schlecht koordinierter Arbeitsabläufe in einem mehrstöckigen Büro- oder Fabrikgebäude; die Probleme des Stoffwechsels und des Blutkreislaufs werden nach dem Modell der Unternehmensführung interpretiert. Auf Kafkas Lebenswelt bezogen, spiegelt 2  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 263f.

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die Dissoziation der Körperteile und ‑funktionen die Unmöglichkeit wider, Broterwerb, kreative Arbeit und Schlaf in ein Gleichgewicht zu bringen, das die eigenen Kräfte weder überstrapaziert noch ungenutzt verpuffen lässt. Der Versuch, sich die Freiheit zum Schreiben mit einer streng geregelten, aber zeitlich begrenzten Angestelltentätigkeit zu erkaufen, das eigene Leben also arbeitsteilig zu organisieren, führt zu einer permanenten Überforderung, die dem eigenen, als defizitär empfundenen Körper zur Last gelegt wird. Umgekehrt beschreibt Kafka die positive Wahrnehmung seiner dichterischen Fähigkeiten – wiederum im Zusammenhang mit seiner intensiven Traumtätigkeit – als Zustände energetischer Strahlung und körperlicher Durchlässigkeit. Da sich diese energetischen Zustände zur Unzeit einstellen und ihn abends am Schlafen hindern, kann er sie gleichwohl nicht in schriftstellerische Arbeit umsetzen; die ungenutzten Kräfte müssen „im Rückstoß sich selbst vernichten“ wie sexuelle „Ergießungen, die nicht entlassen werden“. Eine weitere Facette des Missempfindens, das Kafka räumlich im Bild des zerdehnten Körpers reflektiert, ist also die zeitliche Gegenläufigkeit von Energieschüben, Schlaf- und Arbeitszeiten. Kafka notiert am 3. Oktober 1911: „Wieder war es die Kraft meiner Träume die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ. Das Bewußtsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar. Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben was ich nur will. Dieses Hervorlocken solcher Kräfte, die man dann nicht arbeiten läßt, erinnern mich an mein Verhältnis zur B. Auch hier sind Ergießungen, die nicht entlassen werden, sondern im Rückstoß sich selbst vernichten müssen, nur daß es sich hier – das ist der Unterschied – um geheimnisvollere Kräfte und um mein Letztes handelt.“3 Als Reflexionen über die Wechselwirkungen zwischen Energiestoffwechsel, Arbeitsbelastung und Entkräftung lassen sich diese Textpassagen unschwer im Kontext der zeitgenössischen Diskurse über Arbeitskraft und Ermüdung situieren, die Anson Rabinbach mit der Entwicklung der Thermodynamik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht und unter der Leitmetapher des „human motor“ zusammengefasst hat.4 Gewissermaßen 3  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 53. Nach dem Stellenkommentar der Kritischen Aus­ gabe handelt es sich bei der „B.“ um die ehemalige belgische Gouvernante Louise Bailly der Familie Kafka. Vgl. den editorischen Nachtrag zur gedruckten Ausgabe in der elektronischen Ausgabe: Kafkas Werke im WWW. Kritische Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlages bei Chadwyck-Healey. Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt/M. 1990, Cambridge 1999. 4  Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990. Im Kafka-Kapitel ihrer Dissertation The Forces of Form in German Modernism

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komplementär zu Rabinbachs wissensgeschichtlicher Untersuchung hat ­Wolfgang Martynkewicz in seiner Studie zur Erschöpfung als Begleiterscheinung der Moderne ein Panorama der Therapien, Diäten und Trainingsprogramme entfaltet, mit denen die Lebensreform-Bewegung um 1900 dem überarbeiteten Bürgertum nicht nur individuelle Heilung und Kräftigung, sondern auch eine umfassende kulturelle Erneuerung in Aussicht stellte.5 Das vergleichsweise knappe Kapitel zu Kafka, den Martynkewicz ausgehend von Textpassagen aus den Tagebüchern als „Erschöpfungskünstler“ portraitiert, listet die Ernährungsregeln, Hygienemaßnahmen und Ertüchtigungskuren auf, denen Kafka sich unter anderem während seiner Aufenthalte in verschiedenen Sanatorien unterzog.6 Diese kulturgeschichtliche Kontextualisierung, zu der die akribische Kafka-Biographik umfassend beigetragen hat,7 soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Die folgenden Ausführungen sind vielmehr dem spezifisch literarischen Potential der von Kafka mit großer Sensibilität registrierten Körper- und Bewegungskräfte gewidmet. Kafkas Tagebucheinträge über Mangel und Übermaß kreativer Energien lassen sich nicht nur als Metareflexionen lesen, die den literarischen Schaffensprozess begleiten bzw. an seine Stelle treten, sondern als literarische Miniaturen eigenen Rechts: In ihnen formiert sich eine poetische Bildersprache, die sich passagenweise zu eigenständigen, aus dem Fluss der Aufzeichnungen herausgehobenen literarischen Kompositionen verdichtet. Dabei rücken die Bewegungskräfte, die prima facie zu den Rahmenbedingungen des künstlerischen Schaffens gehören, ins Zentrum nicht nur der selbstreflexiven und zuweilen hypochondrischen, sondern auch der künstlerischen Aufmerksamkeit. Gerhard Neumann hat die aus den Tagebuchaufzeichnungen hervorgegangenen, 1912 unter dem Titel Betrachtung publizierten Prosastücke in diesem Sinne treffend als „Bewegungsstudien“ bezeichnet.8 Im Folgenden werde ich jedoch nicht auf die Betrachtung eingehen, sondern mich auf Kafkas Reisebeschreibt Malika Maskarinec Tagebucheinträge Kafkas zu seinen Körperkräften mit dem Vokabular der Thermodynamik (vgl. Malika Maskarinec: The Forces of Form in German Modernism, Evanston/IL 2018, S. 109–127, bes. S. 114, S. 116 und S. 120). 5  Vgl. Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne, Berlin 2013. 6  Vgl. Martynkewicz 2013 (wie Anm. 5), S. 276–285, hier S. 280. 7  Zu Kafkas frühen Berufsjahren, seinen Erholungsreisen und seinen Bemühungen um körperliche Kräftigung vgl. Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. 1883– 1912, Bern 1958, S. 141–185; Hartmut Binder (Hg.): Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Bd. 1: Der Mensch und seine Zeit, Stuttgart 1979, S. 332–397; Rainer Stach: Kafka. Die frühen Jahre, Frankfurt/M. 2014, S. 292–308, S. 79–399, S. 423–452 und S. 471–496; Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2018, S. 170–180 und S. 194–214. 8  Gerhard Neumann: Der Beobachter auf der Schaukel. Betrachtung: Zu Franz Kafkas frühen Bewegungsstudien, in: Carolin Duttlinger (Hg): Kafkas Betrachtung. Neue Lektüren, Freiburg/ Br. 2014, S. 165–178.

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schriften aus den Sommermonaten der Jahre 1909 und 1911 konzentrieren: auf die Reportage Die Aeroplane von Brescia, die in einer gekürzten Fassung am 29. September 1909 in der Prager Tageszeitung Bohemia erschien, und auf die Reisenotizen, die Kafka im August und September 1911 auf seiner zweiten Italienreise mit Max Brod anfertigte. Kafkas Prager Tagebuchaufzeichnungen nehmen erst im Laufe des Jahres 1911 eine gewisse Regelmäßigkeit an; die oben zitierten Passagen stammen aus den Monaten unmittelbar nach der zweiten Italienreise. Gleichwohl können die Reisetexte von 1909 und 1911 in Anbetracht ihrer Entstehungsbedingungen bereits als eine Reaktion auf die später in den Tagebüchern dokumentierten Kräfteblockaden und Erschöpfungs­ zustände gelesen werden.

Die Aeroplane in Brescia (1909) Kafka hatte im Juli 1908 die Assicurazioni Generali verlassen und seine Stelle bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt angetreten. Um mit Max und Otto Brod nach Oberitalien reisen zu können, reichte er im darauffolgenden Sommer beim Verwaltungsausschuss der Unfallversicherung ein Urlaubsgesuch mit einem ärztlichen Zeugnis ein, das ihm Nervosität, Abgespanntheit und Kopfschmerzen „infolge unausgesetzter fast zweijähriger, ohne Urlaub fortgesetzter Arbeit“ attestierte.9 Das Gesuch wurde bewilligt. Glaubt man der Erzählung Max Brods, dann war er es, der Kafka bei der Abreise aus Prag zum Anfertigen von Reisenotizen anregte und damit zugleich den Anstoß zum Tagebuchschreiben gab. In seinem Buch Der Prager Kreis (1966) schreibt Brod: „Auf dem Bahnhof vor der ersten Reise überraschte ich Franz, indem ich ihm ein kleines braungebundenes Notizbuch überreichte und für mich ein ganz ähnliches hervorzog. ‚Wir werden parallele Reisetagebücher ­führen‘, erklärte ich mit Entschiedenheit. Und tatsächlich erlebte ich die Freude, daß Franz meinen Gedanken begeistert aufgriff. Aus den Notizen, von denen sich ein Teil erhalten hat, entstand unsere erste Gemeinschaftsarbeit, die Beschreibung des ersten Flugmeetings, das wir in Brescia (ge­­ meinsam mit meinem Bruder Otto) in herrlicher Ferienfreude erlebten. […] Ich hatte die Genugtuung, daß Kafka von da ab dem Tagebuchschreiben treu blieb; seine ersten Tagebuchaufzeichnungen schließen zeitlich 1910 an unsere erste Reise an. Und es ist bekannt, wie sich aus Franzens Tagebüchern zuerst die kleinen Stücke der Betrachtung entwickelten; dann folgte Das Urteil. Die Stagnation seines dichterischen Schaffens war durch

9  Zit. nach Binder 1979 (wie Anm. 7), S. 346f.; vgl. auch ders.: Mit Kafka in den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen, Prag 2007, S. 12f.

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die kleinen braunen Notizbücher, die Vorläufer der inhaltsreichen Quarthefte, entscheidend durchbrochen.“10 Max Brod versteht seinen Vorschlag, parallele Reisetagebücher zu führen, als einen Versuch, den Freund aus einer Schaffenskrise zu befreien, seine stag­ nierenden kreativen Energien also durch den gezielten Einsatz eines Aufzeichnungsdispositivs in Schwung zu bringen. Im Rückblick erweist sich diese ­Strategie als erfolgreich: Der informelle, protokollarische und kleinteilige Charakter des Notierens senkt die Hemmschwelle des leeren Blatts, die kontinuierliche Schreibpraxis hält die literarische Aktivität im Fluss, und die spiele­ rische Form des Wettbewerbs wirkt als freundschaftlicher Ansporn, ohne das Schreiben mit den absoluten Ansprüchen zu belasten, mit denen sich der Einsame beim Gedanken an sein künftiges Werk konfrontiert sieht. Unter diesen Bedingungen erfüllt die Urlaubsreise für Kafka in mehrfacher Hinsicht eine therapeutische und kreativitätsfördernde Funktion: Sie hebt für eine begrenzte Zeit die kräftezehrende Doppelbelastung durch Büroarbeit und schriftstellerische Tätigkeit auf, unterbricht dadurch den melancholischen Zirkel aus Schreibhemmung, Selbstbestrafung und Erschöpfung, verspricht Erholung durch körperliche Aktivität und bereichert die Einbildungskraft mit neuen Eindrücken. Hinzu kommt eine dem Reisen eigentümliche Dynamisierung der Raumerfahrung, die sich auf die Reisenotizen und die aus ihnen hervorgehenden Texte unmittelbar auswirkt. Während die Prager Tagebücher und die Bewegungsminiaturen der Betrachtung mit Ausnahme einzelner Ausbruchsfantasien die alltäglichen Bewegungsroutinen des Büroangestellten kartographieren, für den einzig das Junggesellenzimmer bisweilen zur Rennbahn werden kann,11 zeugen Kafkas Reisetexte von der Faszination, die Automobile und Aeroplane auf ihn ausübten, und sie entwickeln sprachliche Äquivalente für die spezifischen Wahrnehmungsmodi, die das beschleunigte Reisen mit der Eisenbahn oder dem Automobil hervorbringt. Der Kafka-Editor Hans-Gerd Koch hat in einer Nachbemerkung zur Taschenbuchausgabe von Kafkas Reisetagebüchern den Unterschied zwischen den in Prag verfassten Tagebüchern und den Reisenotizen treffend als eine Umkehr der Blickrichtung beschrieben: Im Tagebuch herrsche „die Innenschau des Schreibenden“ vor, in den Reise­ tagebüchern richte sich der Blick stattdessen „auf die jenseits des Gewohnten

10  Max Brod: Der Prager Kreis, Stuttgart u. a. 1966, S. 110. 11  So in Unglücklichsein, vgl. Franz Kafka: Betrachtung, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Drucke zu Lebzeiten, Textband, hg. von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und ­Gerhard Neumann, Frankfurt/M. 1994, S. 7–40, hier S. 33.

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liegende Außenwelt“.12 Dieser Perspektivwechsel betrifft auch das Thema der Kraft: Anstelle der in den Tagebüchern omnipräsenten Reflexion über die eigenen Körper- und Schaffenskräfte überwiegen in den Reisenotizen Beobachtungen zur sichtbaren Wirkung von Bewegungsenergien. Deren kreativitätsfördernde Effekte manifestieren sich unmittelbar in der Schreibbewegung, zu der sie anregen und die sich dem Rhythmus des Reisens auf ihre Weise anpasst. Anders als Max Brod insinuiert, sind von der Urlaubsreise im Sommer 1909 keine Notizen Kafkas überliefert.13 Erhalten sind dagegen die beiden Reportagen, die Kafka und Max Brod – wiederum im spielerischen Wettbewerb – über die gemeinsam mit Otto Brod besuchte Flugschau in Brescia anfertigten.14 Die literaturwissenschaftlichen Studien zu Kafkas Text haben sich darauf konzentriert, ihn in der europäischen Literatur zur frühen Aviatik zu situieren,15 die darin geschilderten Ereignisse in ihren biographischen und kulturhisto­ rischen Kontexten zu rekonstruieren16 und die von Kafka inszenierte Wahrnehmung des Geschehens auf den Zuschauertribünen, vor den Hangars und in der Luft in Analogie zu filmischen Darstellungsverfahren zu analysieren.17

12  Hans-Gerd Koch: Nachbemerkung, in: Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch, Bd. 12: Reisetagebücher in der Fassung der Handschrift. Mit parallel geführten Aufzeichnungen von Max Brod im Anhang, Frank­ furt/M. 2008, S. 254–258, hier S. 257. 13  Vgl. Koch 2008 (wie Anm. 12), S. 254. 14  Die Reportage Max Brods und der ungekürzte Text von Kafkas Die Aeroplane in Brescia sind abgedruckt in: Max Brod und Franz Kafka: Eine Freundschaft. Reiseaufzeichnungen, hg. von Malcolm Pasley, Frankfurt/M. 1987, S. 9–16 und S. 17–26. Die Kritische Ausgabe präsentiert im Textband der Drucke zu Lebzeiten den in der Bohemia publizierten Text Kafkas und gibt die in dieser Version gestrichenen Passagen als Varianten im Apparatband wieder (Franz Kafka: Die Aeroplane in Brescia, in: Kafka 1994, Textband, S. 401–412; ders.: Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, hg. von Wolf Kittler, Gerhard Neumann und Jürgen Born, Frankfurt/M. 1996, S. 513–521. Meine Analyse bezieht sich auf die ungekürzte Fassung. Ich zitiere den Text der Kritischen Ausgabe und gebe zusätzlich die Seitenzahlen der erstgenannten Ausgabe (vgl. Kafka u. a. 1987, wie Anm. 14) an. 15  Vgl. Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909–1927. Mit einem Exkurs über die Flugidee in der modernen Malerei und Architektur, Basel u. a. 1978, S. 19–27 und Binder 2007 (wie Anm. 9), S. 39–84. 16  Vgl. Bodo Plachta: „Himmel abgeschafft“. Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in Franz Kafkas Die Aeroplane in Brescia und in Bertolt Brechts Der Flug der Lindberghs, in: Walter Delabar und Jörg Döring (Hg.): Bertolt Brecht (1898–1956), Berlin 1998, S. 163–188; Peter Demetz: Die Flugschau von Brescia. Kafka, D’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen, übers. von Andrea Marenzeller, Wien 2002. 17  Vgl. Plachta 1998 (wie Anm. 16), S. 169; Peter-André Alt: Kafka und der Film. Über kinematographisches Erzählen, München 2009, S. 72–74; Jason Baumer: Air Kafka. On Flying Machines and the Anti-Heroes of Early Modern Flight, in: Germanistik.ch. Verlag für Literatur und Kulturwissenschaft, gepostet im Mai 2011, http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Air_Kafka, S. 1–22 (02. 01. 2021); Annika Klanke: „Zwei Augen genügen nicht“. Verteilte Wahrnehmung in

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Weniger Beachtung erfuhr die eigentümliche Dramaturgie des Textes, die auf verschiedenen Ebenen, besonders aber hinsichtlich der Zeitstruktur und Kräftedynamik, durch eine Asymmetrie zwischen Erwartung und Erfüllung gekennzeichnet ist. Dass darin ein gezielt eingesetztes Kompositionsprinzip zu sehen ist, das sich mit dem realistischen Anspruch der Reportage überlagert, deutet Kafka gleich im einleitenden, für die Publikation in der Bohemia gestrichenen Abschnitt an: „Alle Erwartungen sind falsch, alle italienischen Erinnerungen mischen sich gleich zu Hause irgendwie, trüben sich, man kann sich auf sie nicht verlassen.“18 ‚Realismus‘ kann hier also nur im Sinne eines Realismus der subjektiven Wahrnehmung und Erinnerung verstanden werden, keinesfalls im Sinne einer exakten Wiedergabe technischer Details und historischer Ereignisse. Damit steht Kafkas erster publizierter Italien-Text in der Tradition des enthusiastischen Italien-Reisenden Stendhal, dessen hochgespannte Erwartungen konsequent dazu führen, dass er das Entscheidende verpasst, und für den die Momente höchster Erfahrungsintensität im Nachhinein nicht zugänglich, infolgedessen auch nicht erzählbar sind.19 Kafkas Beschreibung des Flugfeldes und der Aeroplane wird von einem Panorama weniger spektakulärer Verkehrsmittel gerahmt, die ihre Funktion trotz gegenteiliger Befürchtungen recht zuverlässig erfüllen. Nach der Einfahrt ihres Zuges in das „schwarze Loch des Bahnhofs in Brescia“20 steigen die drei Freunde in einen „Wagen, der sich kaum auf den Rädern hält“, sie aber wie ge­­ wünscht vor einer Herberge absetzt.21 Der Weg zum Aerodrom bei Montichiari wird dann mit einer Lokalbahn zurückgelegt, die in ihrer Gemächlichkeit Gelegenheit bietet, den gesamten Verkehr auf der Strecke zu überblicken, von den Radfahrern über die „vollständig unbrauchbaren“ Pferdewagen und die sich in der Schnelligkeit förmlich überschlagenden Automobile bis hin zu einer aufgeregten Rinderherde, die den Zug am Weiterfahren hindert: „Diese Lokalbahn hat sich auf der allgemeinen Landstraße einen Schienenstrang vorbehalten, auf dem sie ihre Züge nicht höher, nicht tiefer als der übrige Verkehr bescheiden hinfahren lässt zwischen den Radfahrern, Franz Kafkas Die Aeroplane in Brescia, in: Jan Röhnert (Hg.): Die Phänomenologie der Flugreise. Wahrnehmung und Darstellung des Fliegens in Literatur, Film, Philosophie und Populärkultur, Wien u. a. 2020, S. 168–181. 18  Kafka 1996 (wie Anm. 14), S. 516; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 17. In der Fassung der Bohemia fehlt der gesamte Anfang bis zur Ankunft vor dem Aerodrom. 19  Besonders ausgeprägt ist diese Wahrnehmungsstruktur in Stendhals La chartreuse de Parme und in seinem autobiographischen Roman Vie de Henri Brulard. Kafka hatte sich 1907 mit Stendhals frühen Tagebüchern befasst (vgl. Binder 1979, wie Anm. 7, S. 310); dass er zu diesem Zeitpunkt weitere Werke Stendhals gekannt hätte, ist nicht belegt. 20  Kafka 1996 (wie Anm. 14), S. 516; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 17. 21  Kafka 1996 (wie Anm. 14), S. 516; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 18.

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die mit fast geschlossenen Augen in den Staub hineinfahren, zwischen den vollständig unbrauchbaren Wagen der ganzen Provinz – die Passagiere aufnehmen, wie viele man will, und die überdies noch rasch sind, man kann es nicht begreifen – und zwischen den oft ungeheuren Automobilen, die losgelassen sich förmlich augenblicklich überschlagen wollen mit ihren in der Schnelligkeit einfältig gewordenen vielfachen Signalen. Bisweilen verläßt einen die Hoffnung, mit diesem jämmerlichen Zug bis zum circuito zu kommen, ganz und gar. […] Zweimal bleibt der Zug stehen, um auf einen Gegenzug zu warten, so geduldig und lange, als warte er auf eine nur zufällige Begegnung. Einige Dörfer ziehen langsam vorüber, wilde Plakate vom letzten Automobilmeeting erscheinen auf den Mauern hie und da […]. Weil er nicht mehr weiter kann, macht der Zug endlich halt. Eine Gruppe Automobile bremst gleichzeitig, durch den auffliegenden Staub sehn wir nicht weit viele kleine Fahnen wehn, noch hält uns eine Rinderherde auf, die ausser Rand und Band, einknickend auf dem hügeligen Boden, förmlich in die Automobile läuft.“22 Die Umständlichkeit der Anreise, deren Beschreibung nicht ohne Grund von der Redaktion der Bohemia gestrichen wurde, und die technische Rückständigkeit der öffentlichen Verkehrsmittel steht hier in bestürzendem Kontrast zu dem erwarteten avantgardistischen Flugspektakel, ja selbst zu den Automobilrennen, die seit 1904 in Montichiari stattfanden und von denen am Rande der Bahnstrecke noch einige übriggebliebene „wilde Plakate“ zeugen. Auf dem Vorplatz des Aerodroms setzt sich die Schwerfälligkeit des Lokalzugs in einer Gruppe fettleibiger Bettler fort. Ihr setzt Kafka die ungebremste Energie der Reisenden entgegen, deren Ungeduld sich, die erwarteten Flüge antizipierend, in Luftsprüngen entlädt: „Wir sind angekommen. […] Ungeheure in ihren Wägelchen fettgewordene Bettler strecken uns ihre Arme in den Weg, man ist in der Eile versucht, über sie zu springen. Wir überholen viele Leute und werden von vielen überholt. Wir schauen in die Luft, um die es sich hier ja handelt. Gott sei Dank, noch fliegt keiner! Wir weichen nicht aus und werden doch nicht überfahren. Zwischen und hinter den Tausend Fuhrwerken und ihnen entgegen hüpft italienische Kavallerie. Ordnung und Unglücksfälle scheinen gleich unmöglich […] [W]ir springen ins Aerodrom mehr als wir gehen in dieser Begeisterung aller Gelenke, die uns, einen nach dem andern, unter dieser Sonne hier plötzlich manchmal erfaßt.“23 22  Kafka 1996 (wie Anm. 14), S. 517f.; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 19. 23  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 401–403; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 19f.

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Eingeschoben in diesen Abschnitt über die Ankunft in Montichiari, mit dem der Text in der gekürzten Fassung des Erstdrucks beginnt, ist eine – im Zitat ausgesparte – Anekdote, die das Flugspektakel auf der Ebene des Erzählens weiter hinauszögert, in ihrer Zeitstruktur und Dynamik jedoch auf das Kommende vorausweist: Der Ich-Erzähler berichtet von einer abendlichen Droschkenfahrt in Brescia, die erst nach langwierigen Verhandlungen über den Fahrpreis zustande kommt. Die Reisenden möchten in eine, wie sie annehmen, weit entfernte Gasse gelangen, sind aber nicht bereit, den vom Kutscher verlangten Preis zu zahlen. Als sie die Fahrt bereits abgelehnt haben, überzeugt sie der Kutscher schließlich doch noch von seinem Angebot, indem er ihnen, „nur aus Freundschaft […] die geradezu entsetzliche Entfernung dieser Gasse“ vor Augen führt24 – eine Beschreibung, die sich wenig später als maßlos übertrieben herausstellt: „Wir steigen ein, drei Drehungen des Wagens durch kurze Gassen, wir sind dort, wohin wir wollten.“25 Die Erwartung der Reisenden und die rhetorische Energie des Kutschers stehen in einem eklatanten Missverhältnis zur Dauer der Fahrt. Wie der Vorortzug, so erreicht jedoch auch die Droschke zuverlässig das gewünschte Ziel. Während Otto, „energischer“ als die anderen beiden, sich angesichts des unangemessenen Fahrpreises auf einen Streit mit dem Kutscher einlässt, deutet der Ich-Erzähler den Konflikt selbstkritisch als ein durch Übereilung verursachtes Problem der kulturellen Differenz: „[U]nser Benehmen ist leider nicht das Richtige gewesen; so darf man in Italien nicht auftreten, anderswo mag das recht sein, hier nicht. Nur wer überlegt das in der Eile! Da ist nichts zu beklagen, man kann eben in einer kleinen Flugwoche nicht Italiener werden.“26 Der Hauptteil der Erzählung handelt vom Flugfeld bei Montichiari und den Flügen der Piloten Blériot, Curtiss und Rougier. Allerdings nimmt die Beschreibung der Flugversuche selbst, die aufgrund ungünstiger Wetterverhältnisse erst nach mehreren Stunden Wartezeit unternommen werden, nur knapp ein Fünftel der gesamten Erzählung ein. Rund die doppelte Textmenge ist dagegen der Beschreibung der Hangars, der untätigen Piloten, der Flugvorbereitungen und des Publikums gewidmet, das sich je nach sozialem Status auf den Holztribünen oder in der ansonsten leeren und staubigen Einöde drängt. Die ­Hangars, die mit Vorhängen versehen sind und mit „geschlossene[n] Bühnen wandernder Komödianten“ verglichen werden,27 bieten den wartenden Zuschauern ein minimalistisches Schauspiel, das die allgemeine Spannung aufrechterhält 24  25  26  27 

Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 401; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 20. Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 401f.; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 20. Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 402; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 20. Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 403; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 20.

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und hier und da für Menschenansammlungen sorgt. Kafkas Erzählkunst entfaltet sich in diesem Abschnitt als narrative Gestaltung von Ereignislosigkeit – so etwa, wenn die Wartezeit an der infinitesimalen Geschwindigkeit gemessen wird, mit der ein Pilot die Zeitung liest: „Vor dem benachbarten Hangar sitzt Curtiss ganz allein. Durch die ein wenig gelüfteten Vorhänge ist sein Apparat zu sehen; er ist größer, als man erzählt. Als wir vorüberkommen, hält Curtiss den Newyork Herald in der Höhe vor sich und liest eine Zeile oben auf einer Seite; nach einer halben Stunde kommen wir wieder vorbei, er hält schon in der Mitte dieser Seite; wieder nach einer halben Stunde ist er mit der Seite fertig und fängt eine neue an. Fliegen will er heute offenbar nicht.“28 In einer anderen Textpassage – auch sie wurde für die Publikation in der ­Bohemia gekürzt – versuchen Blériots Mechaniker vergeblich, das Fluggerät in Gang zu bringen, in dem der berühmte Pilot bereits Platz genommen hat. Trotz vielfacher Bemühungen gibt die Maschine nur ein Geräusch von sich, das an den „Atemzug eines starken Mannes im Schlaf“ erinnert. Die Langsamkeit und Wiederholung von Blicken und Gesten bewirkt eine schier endlose Dehnung der Zeit; die Schläfrigkeit der Maschine überträgt sich auf die zunehmend ermüdeten Zuschauer. Statt mit dem sehnlich erwarteten Abheben des Aeroplans endet die Szene mit einem Tableau: Das Flugzeug rührt sich nicht; Blériot und seine um ihn versammelten Mitarbeiter halten wie träumend inne – eine Dramaturgie, die dem futuristischen, mit der Aviatik des frühen 20. Jahrhunderts assoziierten Geschwindigkeitskult diametral entgegengesetzt ist: „Schon sitzt Blériot auf seinem Sitz, hält die Hand auf irgendeinem Hebel, lässt aber noch die Mechaniker gewähren, als seien sie überfleissige Kinder. Er schaut langsam zu uns her, schaut von uns weg und wieder anderswohin, behält aber den Blick immer bei sich.29 […] Ein Arbeiter faßt den einen Flügel der Schraube um sie anzudrehn, er reißt an ihr, es gibt auch einen Ruck, man hört etwas wie den Atemzug eines starken Mannes im Schlaf; aber die Schraube rührt sich nicht weiter. Noch einmal wird es versucht, zehnmal wird es versucht, manchmal bleibt die Schraube gleich stehn, manchmal gibt sie sich für ein paar Wendungen her. Es liegt am Motor. Neue Arbeiten fangen an, die Zuschauer ermüden mehr als die nahe Beteiligten. Der Motor wird von allen Seiten geölt; verborgene Schrauben werden gelockert und zugeschnürt; ein Mann läuft ins Hangar, holt ein Ersatzstück; da paßt es wieder nicht; er eilt zurück […]. Bald reißt dieser 28  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 404; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 21. 29  Kafka 1996 (wie Anm. 14), S. 520; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 22.

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Mann an der Schraube, bald jener. Aber der Motor ist unbarmherzig, wie ein Schüler, dem man immer hilft, die ganze Klasse sagt ihm ein, nein, er kann es nicht, immer wieder bleibt er stecken, immer wieder bei der gleichen Stelle bleibt er stecken, versagt. Ein Weilchen lang sitzt Blériot ganz still in seinem Sitz; seine sechs Mitarbeiter stehn um ihn herum, ohne sich zu rühren; alle scheinen zu träumen.“30 Als gegen Abend tatsächlich die ersten Aeroplane starten, ist die Geduld des Publikums bereits erschöpft. Die allgemeine Aufregung angesichts der endlich aufsteigenden und am Himmel kreisenden Flugapparate vermischt sich mit der Hektik des Aufbruchs; wer noch eine der am Ausgang wartenden Droschken erwischen möchte, hat keine Zeit zu verlieren. Gleichwohl wird das Publikum für wenige Augenblicke vom Flugspektakel mitgerissen. In Kafkas Be­­ schreibung vollzieht es dabei die Überwindung der Schwerkraft im wörtlichen Sinne körperlich mit. Als Leblanc sich vergeblich darum bemüht, mit seiner Maschine vom Boden abzuheben, antizipieren die Zuschauer das Schweben des Flugzeugs, indem sie sich auf ihren Sitzen erheben und ihre Arme wie Flügel in die Luft strecken: „Man hört kein Wort, […] acht Hände entlassen den Apparat, der lange über die Erdschollen hinläuft, wie ein Ungeschickter auf Parkett. Viele solche Versuche werden gemacht und alle enden unabsichtlich. Jeder treibt das Publikum in die Höhe, auf die Strohsessel hinauf, auf denen man mit ausgestreckten Armen zugleich sich in Balance erhält, zugleich auch Hoffnung, Angst und Freude zeigen kann.“31 Während Curtiss schließlich mit großer Souveränität den Blicken der Beobachter Richtung Himmel entschwindet und Rougier, „an seinen Hebeln wie ein Herr an einem Schreibtisch“ sitzend,32 in kleinen Runden aufsteigt, zeigt sich am Verhalten des Publikums, wie prekär es in aller Regel um das Gleichgewicht des Menschen bestellt ist, sobald er sich auch nur geringfügig aus seiner Ruheposition herausbewegt: „Noch hat Curtiss seinen Flug nicht beendet, und schon fangen wie vor Begeisterung in drei Hangars die Motors zu arbeiten an. Wind und Staub schlägt aus entgegengesetzten Richtungen zusammen. Zwei Augen genügen nicht. Man dreht sich auf seinem Sessel, schwankt, hält sich an irgend-

30  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 405f.; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 22f. 31  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 407; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 23. 32  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 411; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 25f.

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jemandem fest, bittet um Verzeihung, irgend jemand schwankt, reißt einen mit, man bekommt Dank.“33 Zwischen dem Tumult des allgemeinen Aufbruchs und der Rückfahrt der drei Freunde Richtung Brescia, mit der die Erzählung endet, schließt sich mit einem retardierenden Moment der narrative Rahmen, den das Panorama der Fahrzeuge am Boden bildet. Anders als die zugelassenen Gäste des Spektakels, die zum Ausgang drängen und die Aeroplane bereits aus den Augen verloren haben, stehen die Kutscher und Chauffeure im Bann des zuletzt gestarteten, sich immer höher in die Luft schraubenden Flugapparats auf den Sitzen ihrer Fahrzeuge und bringen die Bewegung auf der Erde ins Stocken: „Wenn wir noch einen Wagen bekommen wollen, ist es höchste Zeit wegzugehen; viele Leute drängen schon an uns vorüber. […] In dem Vorhof des Aerodroms stehen die Chauffeure und Diener auf ihren Sitzen und zeigen auf Rougier; vor dem Aerodrom stehen die Kutscher auf den verstreuten vielen Wagen und zeigen auf Rougier; drei Züge voll bis zum letzten Puffer rühren sich nicht wegen Rougiers. Wir bekommen glücklich einen Wagen, der Kutscher hockt sich vor uns nieder (einen Kutschbock gibt es nicht), und endlich wieder selbständige Existenzen geworden fahren wir los.“34 Die Form dieser Erzählung lässt sich angemessen nur als eine dynamische beschreiben: Sie entsteht aus dem Rhythmus kontrastierender Geschwindigkeiten und energetischer Zustände, die sich in den Gesten, Haltungen und Sprüngen des menschlichen Körpers ebenso materialisieren wie in den unterschiedlichen Bewegungsmodalitäten der Fortbewegungsmittel, vom niedrigen Wägelchen des Bettlers über die Droschken, Bummelzüge und Automobile bis hin zu den einsam entschwebenden Piloten, deren vollkommene Leistungen, so der Ich-Erzähler, aufgrund ihrer scheinbaren Leichtigkeit vom Publikum nicht gewürdigt werden können. Das hervorstechende Kompositionsprinzip des Textes besteht in den unverhältnismäßigen Relationen zwischen der stundenlangen angespannten Wartezeit und den sich überstürzenden, in ihrer technischen und ästhetischen Qualität kaum mehr erfassbaren Ereignissen, zwischen der Langsamkeit und Umständlichkeit der Vorbereitungen und der scheinbaren Schlichtheit des gelungenen Flugs, zwischen der souveränen Körperhaltung der Piloten und dem prekären Gleichgewicht der Zuschauer. Die rahmenden Erzählungen von der An- und Abreise reflektieren diese Missverhältnisse im Kleinen: Am Anfang wie am Ende sind es die Droschkenkutscher, die mit ihrem rhetorischen und gestischen Pathos auf die Schönheit der Bewe33  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 410; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 25. 34  Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 411; Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 26.

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gung als solcher hinweisen, während die bürgerlichen Reisenden, nur auf ihr billiges Fortkommen bedacht, in der Eile das Entscheidende verpassen.

Reisenotizen (1911) Eine durchaus vergleichbare Aufmerksamkeit für Bewegungskräfte und ihre ästhetischen Qualitäten zeigt sich in den Notizen, die Kafka auf seiner zweiten, wiederum zusammen mit Max Brod unternommenen Italienreise im August und September 1911 angefertigt hat. Diese Reise begann am 26. August in Prag und führte zunächst über die Schweiz bis nach Mailand. Aus Angst vor der Cholera – es handelt sich um dieselbe Cholera-Epidemie, die den Stoff zu Thomas Manns Tod in Venedig bildete – brachen Kafka und Brod ihren Aufenthalt in Mailand jedoch vorzeitig ab und fuhren nach einem Zwischenhalt in Stresa mit dem Nachtzug nach Paris, wo sie am 8. September morgens eintrafen. Von dort aus kehrte Max Brod am 13. September nach Prag zurück, während Kafka noch eine Woche im Sanatorium Erlenbach am Zürichsee verbrachte.35 Wie auf der ersten gemeinsamen Reise führten Kafka und Brod auch diesmal parallele Tagebücher, die mit Publikationsprojekten verbunden waren: Zum einen planten sie einen gemeinsamen Roman, der die Reise zweier Freunde und ihre „innerliche[] Stellungnahme zu einander die Reise betreffend“36 zum Gegenstand haben sollte, zum anderen sammelten sie Material für einen Low-Budget-Reiseführer mit dem Titel Billig. Keines der beiden Projekte wurde realisiert, aber immerhin erschien 1912 unter dem Titel Richard und Samuel ein erstes Kapitel des Romans in der Zeitschrift Herderblätter. Anders als das Tagebuch der ersten Italienreise sind Kafkas Reisenotizen von 1911 erhalten geblieben, und zwar in Form handschriftlicher, zum Teil stenographischer Aufzeichnungen in drei Notizblöcken mit heraustrennbaren Blättern.37 Teile dieser Notizen haben Kafka und Brod für ihr Romanfragment verwendet und entsprechend aus- und umformuliert.38 Die von Kafka unterwegs angefertigten Aufzeichnungen selbst tragen in ihrem Duktus der Dynamik des Reisens Rechnung: Obgleich sie wohl großenteils nicht in der Bahn oder zwischendurch am Cafétisch, sondern nachträglich im Hotel entstanden,39 sind sie 35  Vgl. hierzu das Itinerarium zur Reise 1911 in Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 303–305. 36  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 943. 37  Vgl. Franz Kafka: Tagebücher, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Tagebücher, Apparatband, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt/M. 1990, S. 49. 38  Vgl. Kafka 1994 (wie Anm. 14), S. 419–440 mit der entsprechenden Dokumentation im Apparatband (Kafka 1996, wie Anm. 14) sowie Kafka u. a. 1987 (wie Anm. 14), S. 193–208. 39  Vgl. Kafka 1990, Apparatband (wie Anm. 37), S. 119f.

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sprachlich erheblich weniger ausgearbeitet als die Einträge in den Prager Tagebüchern. Ich möchte exemplarisch auf einige wenige Notizen eingehen, in denen sich Kafkas Aufmerksamkeit für die Dynamik der Fortbewegung manifestiert und zu Bewegungsskizzen verdichtet. Die erste dieser Bewegungsskizzen ist Teil eines Eintrags zum 29. August 1911. Sie wurde offensichtlich in Lugano im Hotelzimmer niedergeschrieben und hält Eindrücke fest, die Kafka auf der Fahrt mit der Gotthardbahn im Zug sowie beim Blick aus dem Abteilfenster gesammelt hat: „Einsteigen in die Gotthardbahn. Reuß. Milchgemischtes Wasser unserer Flüsse. Die ungarische Blume. Die dicken Lippen. Exotische Linie vom Rücken zum Hintern. Der schöne Mann dort bei den Ungarn. Bespuckt in Italien den Boden mit Weintraubenschalen, die aber dem Süden zu verschwinden. Jesuitengeneral auf dem Bahnhof in Göschenen. Plötzliches Italien, hingeworfene Tische vor den Osterien, ein junger Mann in allen Farben, der sich nicht halten konnte, Handbewegungen der Abschied nehmenden Frauen (Nachahmung einer Art Zwickens), schwarze hochgekämmte zur Seite eines Bahnhofes, hellrosa Häuser, verwischte Aufschriften. Später verschwindet das Italienische oder der Schweizer Kern tritt vor. Frauen in den Bahnwächterhäuschen, erinnert an Kampf. Tessinfälle, ruckweise Fälle überall. Deutsches Lugano. Lärmende Palästra. Post neu gebaut. Hotel Belvedere. Koncert im Kurhaus. Kein Obst.“40 Der besondere dynamische Charakter dieser Textpassage hängt zum einen mit der Verdichtung heterogener kultureller Markierungen zusammen, in denen Italienisches mit Deutsch-Schweizerischem abwechselt und neben der eigenen Reiseroute auch die der ungarischen Mitreisenden angedeutet wird, zum anderen mit den beschriebenen Bewegungen der Personen und Gegenstände, deren Logik sich nur erschließt, wenn man sie in Relation zur Bewegung des wahrnehmenden Subjekts versteht. Komplementär zu den Zuschauenden auf dem Flugfeld von Montichiari, die ihre Arme wie Flügel ausstrecken oder anstelle der Piloten ins Schwanken geraten, wird hier die Bewegung des Betrachters im Zug auf die Gegenstände vor dem Zugfenster übertragen – so etwa, wenn die von dem Ungarn ausgespuckten Weintraubenschalen „dem Süden zu verschwinden“, wenn sich Italien „plötzlich“ einstellt, die Tische vor den Osterien „hingeworfen[]“ erscheinen und „ein junger Mann […] sich nicht halten konnte“ („konnte“ im Präteritum, weil seine flüchtige Gestalt im Moment des Vorbeifahrens schon der Vergangenheit angehört). Dasselbe gilt für die „verwischte[n]“ Aufschriften, die im Vorbeiziehen nicht lesbar sind, und für

40  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 955f.

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die „ruckweise[n]“ Wasserfälle im Tessin, die wegen der Geschwindigkeit des Vorbeifahrens und Aufschreibens zu „Tessinfälle[n]“ zusammenrücken. In Kafkas Prager Tagebuch findet sich ein auf den 29. September 1911, also genau einen Monat später datierter Eintrag über Goethes Reisetagebücher, der sich als nachträglicher Kommentar zu dieser Stelle lesen lässt: „29.  IX 11  Goethes Tagebücher: […] Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehn wie die Flüsse zu Kanälen, so braucht es auch beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne große Mühe systematisch sehn. Augenblicksbeobachtungen gibt es daher wenige […].“41 Während Kafka die Landschaft aus dem Fenster der Postkutsche als naturbelassen wahrnimmt (sie biete sich „in ihrem eingeborenen Charakter“ dar), erscheint sie ihm aus dem Zugfenster gesehen als eine gewaltsam manipulierte Landschaft, aus der „Augenblicksbeobachtungen“ wie Momentaufnahmen herausgeschnitten sind. Die „Gewalttätigkeiten“ des Beschauers und die Beschädigungen der Landschaft, die er hier mit der Eisenbahnreise assoziiert, lassen

41  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 42f. Im Kommentar der Kritischen Ausgabe wird vermutet, dass Kafkas Beobachtung auf die Lektüre des Bandes 14 der Tempel-Klassikerausgabe zurückgeht: Franz Deibel (Hg.): Goethes Sämtliche Werke, Bd. 14: Campagne in Frankreich. Belagerung von Mainz. Reise in die Schweiz. Am Rhein, Main und Neckar, Leipzig 1910; vgl. Franz Kafka: Tagebücher, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Tagebücher, Kommentarband, hg. von Hans-Gerd Koch, Jürgen Born und Gerhard Neumann, Frankfurt/M. 1990, S. 22. Goethes Tagebuch zu seiner dritten Reise in die Schweiz von 1797, aus dem Kafka im Anschluss an die oben wiedergegebene Textstelle „nach dem Gedächtnis citiert“ (Kafka 1990, wie Anm. 1, S. 43), enthält diverse Landschaftsbeschreibungen, die den Blick aus dem Kutschenfenster wiedergeben. Über die „langsamen Veränderungen des Geländes“ heißt es z. B. im Eintrag vom 08.08.1797: „Zum ersten Mal habe ich die Reise aus Thüringen mit Ruhe und Bewußtsein gemacht, und das deutliche Bild der verschiedenen Gegenden, ihre Charaktere und Übergänge, war mir sehr lebhaft und angenehm.“ Johann Wolfgang Goethe: Aus einer Reise in die Schweiz über Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart und Tübingen im Jahre 1797, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter, Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Bd. 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797, hg. von Klaus H. Kiefer u. a., München 2006, S. 605– 764, hier S. 615.

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sich unschwer mit den hingeworfenen Tischen, dem Mann, der sich nicht ­halten konnte, den verwischten Aufschriften und den ruckweisen Tessinfällen in Verbindung bringen, die er aus dem Coupéfenster der Gotthardbahn beobachtet hat. Damit wird der Geschwindigkeit des Reisens, wenn auch in negativen Termini, eine eigene Gestaltungsenergie attestiert, die unsystematisch und im Modus des Plötzlichen wirkt, aber zugleich, auf künstlichem Wege, Beobachtungen eigener Art hervorbringt. Das Fortbewegungsmittel wird zu einem Wahrnehmungsmedium, das einen eigenen Wahrnehmungsstil, und, wie Kafka schreibt, eine eigene Denkform hervorbringt. In den Reisenotizen selbst wird diese mediale Eigenschaft der Verkehrsmittel in einem vielzitierten Eintrag vom 26. August 1911 thematisiert, die eine Analogie zwischen Automobil und Kinematograph herstellt: „Automobil in München. Regen, rasche Fahrt (20 Min.) Kellerwohnungperspektive, Führer ruft die Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus, die Pneumatiks rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinematographen, das deutlichste: die unverhängten Fenster ‚der vier Jahreszeiten‘, die Spiegelung der Lampen im Asphalt wie im Fluß“42 Zur Geschwindigkeit der Fahrt und zur Rahmung des Blicks durch das Fenster des Fahrzeugs tritt hier die ungewöhnliche Souterrain-Perspektive hinzu, die durch die Straßenschluchten der Großstadt – im Gegensatz zur offenen Landschaft – noch verstärkt wird. Die Reisenotiz als flüchtige, die Geschwindigkeit und Ausschnitthaftigkeit der Wahrnehmung in ihrer sprachlichen Form reflektierende Miniatur ist die adäquate literarische Form solcher Beobachtungen. Die zweite Reisenotiz, auf die ich eingehen möchte, ist auf den 4. September 1911 datiert und vermutlich in Mailand im Hotelzimmer entstanden. Meine Wahl fällt auf sie, weil sie es erlaubt, einen Bogen zurück zum Thema der kreativen Energien zu schlagen, die in der folgenden Textpassage unmittelbar mit dem Thema des Straßenverkehrs verknüpft und in Analogie zu ihm modelliert werden: „wachsende Billigung des sich ins Innere der Stadt hin steigernden Verkehrs bis man auf dem Domplatz nichts sieht als langsam das Denkmal Vittorio Emanuels umfahrende Elektrische, sich abwendet und ein Hotel sucht – Freude über die Verbindung zwischen den 2 Zimmern, die durch eine Doppeltür hergestellt ist. Jeder kann eine Tür öffnen. Max hält dies auch für Ehepaare passend. – Zuerst einen Gedanken niederschreiben,

42  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 944.

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dann vorlesen, nicht vorlesend schreiben, da dann nur der im Innern vollzogene Anlauf gelingt, während das weiter noch zu schreibende sich losmacht.“43 Die Notiz (die ich, wie die vorangehende, aus einem längeren fortlaufenden Eintrag herauslöse, ohne dabei einer vorgegebenen Gliederung in Absätze zu folgen) beginnt mit dem Mailänder Straßenverkehr, der sich zur Innenstadt hin steigert, geht dann zum Verkehr zwischen den benachbarten Hotelzimmern Brods und Kafkas über, der sich durch eine Doppeltür von beiden Seiten regulieren lässt, und endet mit Kafkas Schreibbewegung, die mit einem Anlauf „im Innern“ ansetzt.44 Die gedankliche Bewegung führt also in drei Etappen von außen nach innen und wiederholt dabei in drei Variationen dasselbe Muster: Auf einen positiv bewerteten, zu Annäherung führenden Verkehr („wachsende Billigung des sich ins Innere der Stadt hin steigernden Verkehrs“, „Freude über die Verbindung zwischen den 2 Zimmern“, „der im Innern vollzogene Anlauf gelingt“) folgt ein Impuls der Abwendung oder möglichen Trennung („bis man […] sich abwendet und ein Hotel sucht“, „Jeder kann eine Tür öffnen. Max hält dies auch für Ehepaare passend“, „nicht vorlesend schreiben, da dann nur der im Innern vollzogene Anlauf gelingt, während das weiter noch zu schreibende sich losmacht“). Das diffizile Gleichgewicht zwischen Schreiben und Vorlesen, zwischen anregender Geselligkeit und einsamer, konzentrierter Schreibarbeit spiegelt sich in der ambivalenten Bewertung der Verkehrsdichte im Stadtzentrum, die zunächst gebilligt, später aber als störend wahrgenommen wird, so wie der kommunikative Austausch mit dem Freund das Weiterschreiben nach dem ersten Anlauf behindert. Dabei findet die sich erst steigernde, dann in ein langsames Kreiseln übergehende Dynamik des Verkehrs ihr Pendant in der Energiekurve eines Schreibakts, dessen Impuls ins Leere läuft. Die Beobachtung einer äußeren und die Reflexion einer inneren Dyna-

43  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 966 (Herv. im Orig.). 44  Die Bedeutung und Polyvalenz des Verkehrs bei Kafka ist verschiedentlich hervorgehoben worden, vgl. u. a. Mark M. Andersen: Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, Oxford u. a. 2002, S. 19–49 und Sandra Kluwe: Ein „geradezu unendlicher Verkehr“. Warenverkehr, Briefverkehr, gesellschaftlicher Verkehr, Straßenverkehr und Geschlechtsverkehr als semantischer Holismus in Kafkas Novelle Das Urteil, in: Weimarer Beiträge 59 (2013), Heft 3, S. 431–446. Andersens These, dass das Wort ‚Verkehr‘ in Kafkas Werk als eine Art Codewort für die mit Handel, Macht und Sexualität assoziierte Sphäre des Vaters fungiere (S. 23), scheint mir so pauschal auf die frühen Reisetexte nicht zuzutreffen. In diesem Punkt ist m.E. eher der von Sandra Kluwe an der Erzählung Das Urteil (1912) gewonnenen Einsicht zu folgen, dass die jeweils aktualisierten Facetten der Wortsemantik am individu­ellen Text zu erarbeiten und nicht ohne weiteres auf andere Texte zu übertragen sind (vgl. ­Kluwe 2013, wie Anm. 44, S. 431).

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mik verdichten sich hier zu einer Bewegungskomposition, deren Formprinzip in der von ihr beschriebenen energetischen Figur besteht. Im Eintrag zum 5.  September wird das Bild des kreiselnden, sein Ziel verfehlenden Verkehrs noch einmal aufgegriffen und im Kleinformat einer Schaufensterauslage repli­ ziert: „Max: Bahnhof in der Auslage eines Spielzeuggeschäftes, Schienen, die sich zum Kreis schließen und nirgends hinführen, ist und bleibt der stärkste Eindruck von Mailand. In der Auslage wäre die Zusammenstellung des Bahnhofs mit dem Dom durch das Streben die Mannigfaltigkeit des Lagers zu zeigen, erklärlich.“45 In diesem letzten, zusammenfassenden Blick unmittelbar vor der Abreise spiegelt sich die Erfahrung der Reisenden, die, kaum eingetroffen, die Stadt nach wenigen Rundgängen schon wieder fluchtartig Richtung Norden verlassen. Die am Domplatz getroffene Beobachtung des kreiselnden Schienenverkehrs, die bereits die Erfahrung des abgebrochenen Schreibakts in sich aufgenommen hat, verschmilzt hier mit der unmittelbar bevorstehenden vorzeitigen Umkehr zu einem Städtebild en miniature. Kafkas Reiseansichten sind stets maßgeblich bestimmt von der Perspektive, dem Bewegungsrhythmus und den inneren Zuständen des reisenden Subjekts; der „stärkste Eindruck von Mailand“ ist ein Spiegelbild der eigenen, von der Furcht vor der Cholera diktierten Reiseroute. Besonders ausgeprägt ist diese Verschränkung von Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung der Außenwelt in den Notizen zu Paris, mit denen das Reisetagebuch in der Fassung der Kriti­ schen Ausgabe endet.46 Nach der im Zug verbrachten Nacht trifft Kafka übermüdet im Hotel ein, und die Müdigkeit wird zum beherrschenden Motiv des gesamten Paris-Aufenthalts. Schon beim ersten Blick vom Balkon des Hotelzimmers am Morgen der Ankunft gilt die Aufmerksamkeit des Reisenden weniger der Pariser Straße zu seinen Füßen als dem eigenen, an seinen Kräften zweifelnden Ich:

45  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 971. 46  Ein großer Teil der Einträge zu Paris wurde erst nach Kafkas Rückkehr in Prag zu Papier gebracht. Da die Edition der Kritischen Ausgabe sich an der Textanordnung in Kafkas Notizblöcken orientiert, folgen auf die ersten, offensichtlich vor Ort entstandenen Pariser Einträge (Kafka 1990, wie Anm. 1, S. 972–978) zunächst Kafkas Aufzeichnungen aus Erlenbach (S. 978– 988), dann ein paar Notizen zur Bahnfahrt von Mailand nach Stresa. Den Abschluss bilden die nachträglich angefertigten Aufzeichnungen zum Parisaufenthalt (S. 990–1017).

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„Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick wie wenn ich jetzt in diesem Zimmer erwacht wäre, während ich doch von der Nachtfahrt so müde bin, daß ich nicht weiß, ob ich es imstande sein werde für den ganzen Tag in diese Gassen hinauszulaufen, besonders wie ich sie jetzt von oben aus, noch ohne mich sehe.“47 Als Aussichtsplattform an der Grenze zwischen privatem Innen- und städtischem Außenraum ist der Balkon ein emblematischer Ort für die Verschränkung dieser beiden Räume – sie manifestiert sich hier in der kuriosen Feststellung Kafkas, er sehe die Gassen von oben „noch ohne [s]ich“. Die Fixierung auf die eigene Müdigkeit setzt sich fort in der Interaktion mit Max Brod, der das „Pariserische“ der Aussicht zu würdigen vermag, seinen müden Reisegenossen aber vor allem mit seiner Frische beeindruckt. Nach derselben Projektions­ logik, nach der Brod das ziellose Kreiseln des Schienenverkehrs zur hervorstechenden Eigenschaft Mailands erklärt hatte, bezeichnet Kafka die Müdigkeit am Ende als „eine Eigentümlichkeit von Paris“, die „nicht durch Ausschlafen sondern nur durch Wegfahren beseitigt werden“ könne: „Ich dagegen verstehe es – so war es auch in Paris – so vor Müdigkeit in mich zurückgefallen zu sein, daß mich der Einfluß solcher Gesichter überhaupt nicht erreicht [gemeint ist das vorwurfsvolle Gesicht Max Brods, der es eilig hat aufzubrechen, T.-M.], weshalb ich dann in meinem Jammer so mächtig sein kann, geradewegs aus der vollkommensten Gleichgiltigkeit und ohne jedes Schuldgefühl mich ihm gegenüber entschuldigen zu können. Das beruhigte ihn damals in Paris wenigstens scheinbar so, daß er mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor allem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur wie frisch er war, wie er sicher zu irgendeinem Paris paßte das ich gar nicht bemerkte, wie er jetzt aus seinem dunklen Hinterzimmer kommend zum erstenmal seit einem Jahr in der Sonne auf einen Pariser Balkon trat und sich dessen würdig bewußt war, während ich leider deutlich müder war, als bei meinem ersten Hinaustreten auf den Balkon ein Weilchen vor Maxens Kommen. Und meine Müdigkeit in Paris kann nicht durch Ausschlafen sondern nur durch Wegfahren beseitigt werden. Manchmal halte ich das sogar für eine Eigentümlichkeit von Paris.“48 Verglichen mit den oft stichwortartig verkürzten Notizen zum ersten Abschnitt der Reise sind diese nachträglich in Prag formulierten Aufzeichnungen prolix; Kafkas Energiemangel und die Umständlichkeit, mit der er zu Brods Missver47  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 991. 48  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 992f.

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gnügen seine Morgentoilette verrichtet, scheinen sich unmittelbar im Schreibstil niederzuschlagen. Abgesehen von der in sich geschlossenen, in mancher Hinsicht an Die Aeroplane in Brescia erinnernden Erzählung vom Zusammenstoß eines Tricycles mit einem Automobil ganz am Ende des Reisetagebuchs sind auch die übrigen Notizen zum Parisaufenthalt von der Selbstwahrnehmung und den Bedürfnissen des entkräfteten Touristen bestimmt: Brod und Kafka frühstücken im Café Biard, pausieren auf „zwei einander zugewendeten Sesselchen in den Champs Elysées“, verlassen eine Carmen-Aufführung in der Opéra-Comique aus Müdigkeit vor dem letzten Akt, setzen sich in eine Bar, wo Brod Kafka aus Müdigkeit mit Sodawasser bespritzt und Kafka sich aus Müdigkeit „vor Lachen […] nicht halten kann“, und essen – müde natürlich – in verschiedenen Restaurants.49 Im Louvre schleppt Kafka sich „von einer Bank zur andern“ („Schmerz, wenn eine ausgelassen wird“), erfreut sich an den „Querstangen vor den Bildern, an denen man lehnen kann“, sieht sich unter dem „Zwang mit Max seine Lieblingsbilder anzusehen“, da er „zu müde [ist], selbst herumzuschauen“, und bewundert die „Kraft einer großen jungen Engländerin, die mit ihrem Begleiter im längsten Saal von einem Ende aus zum andern geht“.50 Hatte Kafka auf der Reise selbst noch die Titel einiger im Louvre betrachteter Bilder notiert,51 so konzentrieren sich die in Prag ergänzten Notizen auf die Wege und Ruhepunkte zwischen den Bildern.52 Die perfekte Kombination von Bewegung und Komfort bietet unter diesen Umständen die Metro: Sie vermittelt „das angenehme ruhige Gefühl der Schnelligkeit“ und ist „für einen erwartungsvollen und schwächlichen Fremden die beste Gelegenheit, sich den Glauben zu verschaffen, richtig und rasch im ersten Anlauf in das Wesen von Paris eingedrungen zu sein“.53 Beim Aussteigen teilt sie selbst dem müden Passagier (und zugleich seinem – hier wieder dynamisch verknappten – sprachlichen Ausdruck) etwas von ihrer Bewegungskraft mit: „Das Zurückspringen beim Aussteigen, mit dem dann folgenden verstärkten Vorgehn.“54 Die Ausrichtung auf die chronische Erschöpfung der Reisenden und die Möglichkeiten der Regeneration unterwegs hängt zweifellos mit dem Projekt des Reiseführers Billig zusammen, und sie reflektiert – genau wie Kafkas Erschöpfungszustände außerhalb der Urlaubszeiten – einen für die Epoche typischen Zustand, der sich in diesem Fall aus der technischen Beschleunigung

49  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 993–995, S. 999 und S. 1000–1002. 50  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 1002f. 51  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 972f. 52  Hinzu kommen Beobachtungen zur Venus von Milo und zum Borghesischen Fechter, vgl. Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 1007f. 53  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 1009. 54  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 1009.

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des Reisens und den begrenzten Mitteln und Urlaubszeiten der bürgerlichen Touristen ergibt.55 Zugleich sind sie aber auch als Resultat eines künstlerischen Abstraktionsvorgangs zu lesen. Im ersten Teil der Paris-Notizen finden sich zwei kleine Studien, in denen Elemente der Stadtlandschaft nach geometrischen Eigenschaften beschrieben und zusammengestellt werden. Ihre Kompositionsprinzipien gibt Kafka jeweils selbst an: „die charakteristische Flächenlage“ – es folgen Objekte mit flächigen Formen wie Hemden, Servietten, Seine-Dampfer, flache Kamine und zusammengelegte Zeitungen – und „das gestrichelte Paris“; hohe, dünne Kamine, Gaskandelaber, „die Querstriche der Jalousien“, Balkongitter, „der aus Strichen sich bildende Eiffelturm“.56 Analog hierzu lassen sich die nachträglich angefertigten Notizen als Studien zu einem Paris der Ermüdeten verstehen. Möglich, dass die Rückkehr in den Prager Arbeitsalltag die Aufmerksamkeit für diesen Aspekt des Reisens geschärft hat.

55  Auf die Bedeutung der Ruhebänke im Louvre hatte kurz zuvor auch schon Rilke in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hingewiesen: Dort sind es die „Fortgeworfenen“, d. h. die Randständigen der Gesellschaft, die auf den Samtbänken sitzen und sich wärmen. Der verarmte und psychisch labile Malte möchte sich mit ihnen nicht gemein machen und meidet deshalb die Bänke. Vgl. Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, hg. von Manfred Engel, Stuttgart 1997, S. 40f. 56  Kafka 1990, Textband (wie Anm. 1), S. 976f.

Isa Wortelkamp

Transformationen Der Serpentinentanz Loïe Fullers in Bewegung und als Bild

Der vorliegende Beitrag untersucht die durch den Serpentinentanz aufgerufene Imaginationsvielfalt hinsichtlich ihrer Transformationen in Bewegung und Bild. Sie findet ihren Widerhall in zahlreichen tanzhistorischen Dokumenten und wurde immer wieder Anlass für künstlerische Auseinandersetzungen. Im Zentrum stehen die Fotografien, die um 1900 zu Loïe Fuller entstanden sind und die choreografische Ästhetik des Serpentinentanzes in unterschiedliche, scheinbar entgegengesetzte fotografische Konzepte umsetzen. Ausgangspunkt bilden die tanz- und fotohistorischen Bedingungen sowie der choreografische (Selbst-) Entwurf der Tänzerin hinsichtlich künstlerischer Gestaltung und ästhetischer Wirksamkeit, den Fuller in ihrer Autobiografie entfaltet.

I. Szenen einer Entdeckung „‚It’s a butterfly! A butterfly!’”1. Dieser Ausruf wird jenem Publikum zugeschrieben, das am 5. Oktober 1891 am Grand Opera House in Boston den Bewegungen der Tänzerin Loïe Fuller folgt. An diesem Tag tritt diese – damals noch als Schauspielerin engagiert – in der Inszenierung Quack Medical Doctor2 von Louis DeLange als junge Witwe auf, die sich in die Hände des Hypnotiseurs „Dr. Quack“ begibt. Die Hypnoseszene ist von Fuller selbst in ihrer Autobiografie Fifteen Years of a Dancer’s Life als Entdeckungsszene ihres Serpentinentanzes beschrieben worden, mit dem sie kurze Zeit später bekannt wurde.3 Die in den Erzählungen immer wieder neu entfaltete Entdeckung des Serpentinentanzes wird dabei zu einem Mythos stilisiert, in dem sich die Künstlerin zwischen Zufall und Kalkül selbst entwirft. „A great discovery“ lautet die Überschrift, unter der sich die Schilderungen über die besagte Hypnoseszene finden. In ihr bewegt sich die Tänzerin in 1  Loïe Fuller: Fifteen Years of a Dancer’s Life, London 1913, S. 31. 2  Autor des bislang unveröffentlichten Stückes ist der am 18.5.1888 verstorbene Fred Marsden. 3  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 39f.

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Trance versetzt Kreise ziehend über die grün beleuchtete Bühne. Sie ist in ein wallendes Gewand gehüllt, in dem sich das Licht der Scheinwerfer reflektiert. Bei dem Kostüm handelt es sich, der Erzählung nach, um einen langen Seidenstoff, den sie in Ermangelung eines passenden Kleids um ihren Körper drapiert. Das Gewand, das sie später mit in den Stoff eingenähten Bambusstäben ausstattet, wird dabei zum bewegten und dynamisierenden Medium der Übertragung für die Bilder, die durch den Tanz im Publikum freigesetzt werden. Die Bewegungen der Tänzerin folgen dabei zunächst denen des Hypnotiseurs. ­Fuller beschreibt dies wie folgt: „He raised his arms. I raised mine. Under influence of suggestion, entranced – so, at least, it looked, – with my gaze held by this, I followed his every motion. My robe was so long, that I was continually stepping upon it, and mechanically I held it up with both hands and raised my arms a loft, all the while that I continued to flit around the stage like a winged spirit. There was a sudden exclamation from the house: ‚It’s a butterfly! A butterfly!’ I turned on my steps, running from one end of the stage to the other, and a second exclamation followed: ‚It’s an orchid!‘“4 Ein Schmetterling. Eine Orchidee. Im wallenden Gewand der wie in Trance über die Bühne sich bewegenden Fuller vermag das Publikum, Bilder (wieder-) zu erkennen und ihnen wie zufällig Bedeutung zu verleihen. Sie stehen in keinem Plot und folgen weder der Absicht, einen Schmetterling noch eine Orchidee darzustellen. Nicht nur der Effekt, sondern auch die Entstehung der Bewegung folgen in der Erzählung dem Konzept des Zufalls: Die erhobenen Arme, die in der weiteren Entwicklung des Serpentinentanzes zu einem wesentlichen Gestaltungsprinzip werden, stellt Fuller nicht als Ausdruck einer choreografischen Entscheidung dar, sondern als eine aus der Not geborene Lösung im Umgang mit dem überlangen Gewand. Was Fuller in ihren Erzählungen immer wieder als Zufall – der Bewegungsfindung und -wirkung – beschreibt, wird in der weiteren Entwicklung der Choreografie zum ästhetischen Verfahren: die auf ein Spektrum an Imaginationen hin kalkulierte Inszenierung von Stoff, Licht, Farbe und Bewegung. Die von Fuller beschriebene Entdeckungsszene des Serpentinentanzes ist dabei bezeichnend für die Bedeutung, die der Imagination im Kontext spiritistischer und okkultistischer Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zukommt. Wie viele andere Künstlerinnen und Künstler dieser Zeit verkehrt auch Fuller in okkulten Kreisen. Sie nutzt für ihre Inszenierungen von Licht und Stoff Erkenntnisse der Strahlenforschung, die dort als Bestätigung eines traditionellen Verständnisses spiritistischer Physiologie angesehen wird, nach 4  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 31.

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dem der menschliche Körper von einer Aura umgeben ist, die unter bestimmten Umständen leuchtend wahrgenommen werden kann. Die Forschungen von Marie und Pierre Curie, die zum Freundeskreis Fullers zählen, sind der Tänzerin bekannt und werden zur Grundlage für ihre Tänze Danse fluorescente (1901) und Radium Dance (1904). Die Wirkung dieses in strahlendes Licht gefärbten Gewandes – die weniger einer tatsächlichen Behandlung mit radioaktiven Substanzen als einer geschickten Lichttechnik zuzuschreiben ist5 – wurde in der Mai-Ausgabe des Los Angeles Herald wie folgt beschrieben: „The tissue of twinkling stars floats about, circles, sweeps along the floor, or is wafted up until it assumes the shape of a great luminous vase. The dancer’s face is never seen, her form being vaguely outlined by the glowing lights“6. Die Bezüge zu spiritistischen Kontexten werden von Fuller auch in Titeln ihrer Tänze wie XXXX oder La Danse fantôme (Paris 1892) bedient und sind in der bereits beschriebenen Hypnoseszene in Quack Medical Doctor, in der Grundzüge des Serpentinentanz enthalten sind, angelegt. Dabei versinnbildlichen die Bewegungsfiguren des Tanzes die Erscheinungen des hypnotisierten Subjekts, die sich wiederum auf das Publikum übertragen. Die Evokationen des Tanzes materialisieren sich in Zurufen wie Schmetterling, Lilie oder anderen Phänomenen und können in Analogie zu den durch Hypnose hervorgerufenen optischen Illusionen gesehen werden.7 Entscheidend für diese Wirkung ist die Idee der Strahlung und Ausstrahlung, die von dem (tanzenden) Objekt ausgehen. Immer wieder wurde die Serpentinentänzerin von Kritikern hinsichtlich ihrer geheimnisvollen und geisterhaften Ausstrahlung beschrieben, wie etwa in den Zeilen Jean Lorrains deutlich wird: „War es eine gekreuzigte Tote, die über ein Beinhaus flog, die Arme unter dem Leichentuch noch gestreckt? War es ein riesiger blasser Vogel der Polarmeere, Albatros oder Silbermöwe? Oder war es ein Geist auf dem Weg zum Sabbat, Märtyrer antiker Zeiten oder Friedhofsvolk? Es ist auf jeden Fall ergreifend, wunderbar, beklemmend und furchterregend zugleich, wie ein Alptraum nach einer Dosis Morphium oder Äther.“8

5  Vgl. Ann Cooper Albright: Traces of Light. Absence and Presence in the Work of Loïe Fuller, Middletown u. a. 2007, S. 193. 6  (Ohne Angaben zum Autor): Loie Fuller Introduces New Radium Dance, in: Los Angeles Herald Sunday Supplement 31 (1. Mai 1904), Heft 215, S. 10. 7  Vgl. Giovanni Lista: Loïe Fuller. Danseuse de la Belle Époque, Paris 2007, S. 65; Aurora Herrera Gómez: Loïe Fuller: Art in Movement, in: dies. (Hg.): Body Stages. The Metamorphosis of Loïe Fuller, Ausst.-Kat. (La Casa Encendida, Madrid), Mailand 2014, S. 11–19, hier S. 14. 8  Jean Lorrain: La Loïe, in: Le Journal (29.10.1897), Heft 1858, S. 1.

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Anlass dazu bietet die Leuchtkraft der aus dem Dunkel heraustretenden und nur in vagen Umrissen erkennbaren Figur. Neben den Geistern sind in der Rezeption Bilder von verschiedenen Blumen- und Vogelarten beschrieben sowie die des Schmetterlings, des Feuers, der Welle, der Wolke und der Schlange.9 Letztere inspiriert zum Titel des Tanzes und zum Programm der Choreografie: schlangenartige Windungen, die sich in das Gewand übertragen und es zu einer bewegten Lichtskulptur formen, die in ihrer Abstraktion den Raum für Assoziationen offenhält.

II. Zum choreografischen Konzept des Serpentinentanzes a. Schmetterlinge, Vögel und Schlangen – zur Bewegtheit der Natur In seinem Buch Aisthesis. Vierzehn Szenen (2013) beschreibt Jacques Rancière die Besonderheit des Serpentinentanzes als eine „reine Entfaltung eines Formen­ spiels“10, dessen Wirksamkeit sich jenseits der Wiedergabe einer vorgegebenen Wirklichkeit vollzieht. Unter der Überschrift Lichttanz. Paris Folies-Bergère, 1893 vollzieht Rancière entlang der Texte von Stéphane Mallarmé (1893), Roger Marx (1893) und George Rodenbach (1896) die Blicke der Zeitzeugen auf den Serpentinentanz nach.11 Die Autoren beschreiben ihn als eine Ausdruckssprache, die sich zwar an konkreten Dingen der Natur wie der Schlange, der Lilie oder dem Feuer orientiert, diese aber in ausgewählte Formen überträgt. Die Ästhetik, die Rancière im Tanz Fullers formuliert sieht, folgt einem anderen Konzept als der Narration oder der Repräsentation einer angenommenen Realität: „Der Körper abstrahiert von sich selbst, er versteckt seine eigene Form in der Entfaltung der Schleier, die eher das Auffliegen als den Vogel, eher das Wirbeln als die Welle, eher das Erblühen als die Blume nachzeichnen. Was von jedem Ding nachgeahmt wird, ist das Ereignis seines Erscheinens.“12 Nicht die dem Schmetterling zugeschriebene Eigenschaft der Leichtigkeit, sondern die Fähigkeit der Entfaltung und des Auffliegens prägt (prägen) den Serpentinentanz. Der Tanz dient weder der Nachahmung einer Fähigkeit wie 9  Adolphe Aderer: A Travers la Danse, in: Le Théâtre 12 (1898), S. 18; Stéphane Mallarmé: Considérations sur l’art du ballet et la Loïe Fuller, National Observer 13. März 1893, in: Henri Mondor und Georges Jean-Aubry (Hg.): Œuvres completes, Bd. 2, Paris 1945, S. 313–314. 10  Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen, Wien 2013, S. 137. 11  Mallarmé 1945 (wie Anm. 9), S. 313–314; Roger Marx: Choréographie. Loïe Fuller, in: La Revue encyclopédique (10. Februar 1893), Heft 52, S. 106–108, hier S. 107; Georges Rodenbach: „Danseuses”, in: Le Figaro 42 (5. Mai 1896), Heft 126, S. 1. 12  Rancière 2013 (wie Anm. 10), S. 137.

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etwa dem Schlagen von Schmetterlingsflügeln noch der Darstellung von Motiven wie dem Schmetterling, sondern der Übertragung von Bildern im Sinne frei sich entwickelnder Imaginationen. Sinnbild der Übertragung ist das Licht, dessen immaterielle Erscheinung sich in den tänzerischen Bewegungen des Gewandes transformiert. Die Bewegungen des Stoffes werden zu einer sich unentwegt wandelnden Figur, die sich im Raum entfaltet. Emergierende Figuren des in Bewegung begriffenen und von Stoffen umhüllten Körpers werden zum Motiv zahlreicher Gedichte, Lithografien, Fotografien, Skulpturen, Lampen oder Keramiken des Jugendstils und zum Symbol eines in die Moderne des 20. Jahrhunderts weisenden Kunstbegriffs.13 b. Das Bild im modernen Tanz Tanzhistorisch ist der Serpentinentanz vor dem Hintergrund umfassender tänzerischer und choreografischer Veränderungen zu verstehen, welche die Entwicklung des modernen Tanzes prägen. „Modern“ bezieht sich hier terminologisch auf die Bewegungen des ‚neuen‘ und ‚freien Tanzes‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts und bis zum Ende der 1920er Jahre. In Abkehr von den ästhetischen Prinzipien, kodifizierten Techniken und choreografischen Ordnungen des klassischen Balletts vollzieht sich eine ‚Bewegung hin zur Bewegung‘. Der Körper, von Korsett und Spitzenschuh entledigt, präsentiert sich in weite Gewänder gehüllt, spärlich bekleidet oder entblößt – frei tanzend. Diese befreite Natürlichkeit zeigt sich in der Verkörperung von Gefühls- und Erfahrungswelten, durch die innere Bewegungen in äußere übertragen werden. Im Streben nach der Verkörperung von Bewegungsfreiheit sucht Tanz seinen Ausdruck in anderen und veränderten Darstellungsformen, in denen das Bild eine zentrale Rolle einnimmt. Museen und Galerien werden zu Bilder-Archiven für den modernen Tanz. Wie Gabriele Brandstetter in Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde (2013) umfassend darstellt, liegt die Bedeutung von Werken der bildenden Kunst und der Malerei für den modernen Tanz nicht in der Rekonstruktion, sondern in einer Reaktivierung von Bildmustern, „die dem Tanz der Jahrhundertwende gewissermaßen als Tiefenstruktur zugrundeliegen […]“14. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Konzepte im Umgang mit den Bildmustern verfolgen:

13  Vgl. hierzu Gabriele Brandstetter und Brigida Ochaim: Loïe Fuller, Tanz. Licht-Spiel, Art Nouveau, Freiburg/Br. 1989. 14  Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Freiburg/Br. 2013, S. 31f.

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Erstens eine am Motiv orientierte Auseinandersetzung mit Werken der Antike, der altägyptischen und der indischen Kunst, mit Gemälden der italienischen Renaissance von Tänzerinnen und Tänzern wie Isadora Duncan und Maud Allan, von Ruth St. Denis, Mary Wigman oder Alexander Sacharoff. Durch die Übertragung aus der Malerei und der Skulptur entstehen Körperbilder, die mit dem Warburgschen Konzept der Pathosformel als wiederkehrende Ausdrucksgebärden eines körperlichen Gedächtnisses gelesen werden können.15 Das zweite Konzept ist weniger auf den Ausdruck als auf zeitliche und räumliche Formen der Abstraktion gerichtet und wird von Brandstetter mit dem Begriff der Toposformel beschrieben.16 Der Serpentinentanz Fullers kann als paradigmatisch für diese Entwicklung des modernen Tanzes angesehen werden, wird in ihm doch die Spiral-Linie als Bewegungsgestalt der Abstraktion zum choreografischen Prinzip. Das in Licht gesetzte Gewand wird dabei zum Medium der Transformation des Körpers in eine spiralförmig sich in Raum und Zeit fortschreibende Figur des Tanzes. Jenseits eines motivischen Interesses an einer bildnerisch dargestellten Figur oder Szene steht die bewegte Form im Zentrum des Tanzes. Dieses Zentrum ist ein leeres Zentrum – eine weiße Fläche, die, im Wechsel des farbigen Lichts changierend, den Raum für Imaginationen offenhält. c. Transformationen von Bewegung Die Transformation geschieht kraft eines Körpers, der selbst jedoch verhüllt bleibt, ja dessen Kraftanstrengung die Voraussetzung dieser Verhüllung ist. Erst die anhaltende Wiederholung spiralförmiger Kreisbewegungen und die in die Höhe gehaltenen Bambusstäbe ermöglichen die plastische Formung des Gewandes. Die Bewegungen der Tänzerin sind dabei auf die spezifischen Effekte des bewegten Stoffes abgestimmt und erfordern einen unterschiedlichen muskulären Aufwand in den Übergängen der sich wiederholenden Spiral- und Schlangenbewegungen. Fuller selbst schreibt zu der erforderlichen Präzision ihres Bewegungsmusters in der Entwicklung des Serpentinentanzes: „Finally, I reached a point where each movement of the body was expressed in the folds of silk, in a play of colours in the draperies that could be mathematically and systematically calculated. The length and size of my silk skirt would constrain me to repeat the same motion several times as a means of giving this motion its special and distinctive aim. I obtained a spiral effect by holding my arms aloft while I kept whirling, to right and 15  Vgl. Brandstetter 2013 (wie Anm. 14), S. 52. 16  Vgl. Brandstetter 2013 (wie Anm. 14), S. 356f.

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then to left, and I continued this movement until the spiral design was established. Head, hands and feet followed the evolutions of the body and the robe.”17 Die Bewegungen, die auf diese Weise sichtbar werden, gehen zwar vom Körper der Tänzerin aus, weisen aber zugleich über diesen hinaus und entfalten sich an den Grenzen der im Spiel von Gewand und Licht entstehenden Form. Die Tänzerin choreografiert ihre Bewegungen im Hinblick auf diese transformativen Prozesse in das Gewand. Die Eindrücke und Bilder, die auf diese Weise im Hier und Jetzt entstehen können, bewegen sich in der Betrachtung fort und weisen dabei über die Idee eines Abbildes hinaus. Der Begriff des Bildes bezieht sich dabei auf die assoziativen Imaginationen, die durch die skulpturalen Transformationen des Serpentinentanzes bei der Betrachtung entstehen und immer wieder mit den bereits benannten Phänomenen aus der Natur wie Schmetterling, Lilie, Wellen oder Wolken beschrieben wurden, die sich jedoch in der Vielzahl der Beschreibungen selbst einer eindeutigen Zuordnung entziehen.18 Die permanente Bildwerdung vollzieht sich dabei im unentwegten Übergang des Gewandes, sie passiert. Gerade das Zurücktreten des individuellen Ausdrucks gegenüber den ab­strakten und sich transformierenden Bewegungsprinzipien der Serpentine machen die auf diese Weise entstehenden Formen des Gewandes gewissermaßen zur ‚carte blanche’ für mögliche Übertragungen. In einem Zitat aus dem 1893 im National Observer erschienenen Artikel Considérations sur l’art du ballet et la Loïe Fuller von Mallarmé wird das Schwanken in den Zuschreibungen angesichts der abstrakten Figur des Tanzes deutlich: „Im gewaltigen Bad der Stoffe schwindet die Tänzerin, strahlend und kalt, die manches wirbelnde Thema ins Licht setzt, aus dem sie ein weitgespanntes Gewebe blühen läßt: Blütenblatt und Schmetterling, beide riesen­ haft, eine Brandung, die doch durch und durch klare und erkennbare Ordnung ist.“19 Für Mallarmé treten die sich im Serpentinentanz entwickelnden Bilder durch ihre Überlagerung und Übergange hervor, sie sind Blütenblatt und Schmetterling, nicht entweder oder, sondern: sowohl als auch.

17  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 33f. 18  Vgl. Aderer 1898 (wie Anm. 9), S. 18; Ethel L. Urlin: Dancing, ancient and modern, London 1910, S. 155; Mallarmé 1945 (wie Anm. 9), S. 313–314. 19  Mallarmé 1945 (wie Anm. 9), S. 313–314.

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III. Fotografische Reflexionen: Schmetterlinge zwischen Stillstand und Bewegung a. Bewegung im Vollzug Die Offenheit der (weißen) Form reflektiert sich in zahlreichen Fotografien, die im Kontext des Serpentinentanzes entstehen: Das weiße Gewand, das in den Fotografien in immer wieder anderen Formen er- und aufscheint, hält wie der Tanz die Wahrnehmung des Betrachters offen. Viele der Aufnahmen geben der weißen Fläche Raum, lassen den Entfaltungen des Stoffes und damit der Imagination des Betrachters freies Spiel (Abb. 1).

1|  Samuel Joshua Beckett: Loïe Fuller, um 1900, Silbergelatine, 10,1 × 12,5 cm, Paris, Gilman Collection, Metropolitan Museum of Modern Art, New York.

Die Aufnahme Becketts steht exemplarisch für die fotografische Reflexion der sich transformierenden Bewegung Fullers und prägt die Ästhetik zahlreicher Fotografien, die zum Serpentinentanz entstanden und in zahlreichen Publikationen zum Modernen Tanz abgebildet sind.20 Die Aufnahme der tänzerischen Bewegung im Vollzug, wie sie neben Beckett auch Fotografen wie

20  Vgl. Birgit Jooss: Tanz der Statuen – Die Attitüden des 18. Jahrhunderts, in: Jo-Anne Birnie Danzker (Hg.): Loïe Fuller. Getanzter Jugendstil, Ausst.-Kat. (Museum Villa Stuck, München), München u. a. 1995, S. 81–90, hier S. 90; Brandstetter u. a. 1989 (wie Anm. 13), Bildanhang, Abb. 44; Richard Nelson Current und Marcia Ewing Current: Loie Fuller. Goddess of Light, Boston 1997, S. 127; Sabine Huschka: Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Hamburg 2002, S. 104.

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Eugène Druet, Harry C. Ellis, Louis Saul Langfier, Henri Mairet, Théodore Rivière und Isaiah West Taber von Fuller erzeugten, stellt dabei eine Neuerung dar in den Motiven der Tanzfotografie, die maßgeblich auf die fototechnischen und -ästhetischen Entwicklungen der Momentfotografie Ende der 1870er Jahre zurückzuführen sind. Bei der hier abgebildeten Fotografie von Beckett handelt es sich um einen auf circa 1900 datierten Silbergelatineabzug, der in der Gilman Collection des Metropolitan Museum of Modern Art in New York aufbewahrt wird. Sie ist Teil einer insgesamt 13 Einzelbilder umfassenden Serie.21 Die Fotografien zeigen die Tänzerin in einer parkähnlichen Situation, die durch den gepflegten Rasen, einige Baumgruppen und einen Weg markiert ist. Sie zählen damit zu einer ganzen Reihe an Außenaufnahmen, die zu Fuller entstanden sind. Ihr Vorzug gegenüber der ebenso verbreiteten Studioaufnahme liegt dabei in der Helligkeit des Sonnenlichtes, das um 1900 noch wesentliche Voraussetzung für die in der Bewegungsfotografie erforderliche kurze Belichtungszeit ist. Die Vergleichbarkeit der Motive und die gleichbleibende Einstellung der Kamera lassen vermuten, dass die Aufnahmen in zeitlich naheliegender Abfolge als eine Serie entstanden sind. Die verschiedenen Bewegungsfiguren, in denen sich das Gewand zu immer wieder anderen Formen entfaltet, wirken dabei wie Demonstrationen des choreografischen Spektrums der Bewegungen von Körper und Stoff. Die ästhetische Wirksamkeit des sich transformierenden Gewandes reflektiert sich dabei im Schwarzweiß des Me­diums, das die tanzende Figur und damit die Möglichkeit zur Imagination hell hervortreten lässt. Die Offenheit der weißen Form resoniert in variierenden Bildtiteln, die für ein und dieselbe Fotografie oder für verwandte Bewegungsmotive in unterschiedlichen Publikationskontexten verwendet werden. Dies lässt sich auch in der bereits zitierten Autobiografie Fifteen Years of a Dancer’s Life Fullers verfolgen, die vier Abbildungen aus der Serie Becketts enthält, die wie folgt betitelt sind: 1) The Dance of Flame, 2) The Dance of the Lily, 3) The Dance of Fire, 4) The Dance of The Butterfly. (Die oben abgebildete Fotografie ist nicht enthalten.) Die Titel sind dabei mittig am unteren Bildrand angegeben und finden sich außerdem im Verzeichnis der Illustrationen zu Beginn des Buches aufgelistet. Sie muten dabei wie die der Aufführungen an, auf die im Text jedoch nicht weiter hingewiesen wird und die doch den Titeln der Tänze Fullers zuzuordnen sind. 21  Neben Samuel Joshua Beckett, der in der Gilman Collection als Autor der Fotografie geführt wird, wird die Reihe auch den Fotografen Théodore Rivière und Harry C. Ellis zugeschrieben, vgl. Angaben der Sammlung des Musée d’Orsay, Paris: https://www.musee-orsay.fr/fr/collections/catalogue-des-oeuvres/notice.html (10. 10. 2020) und L’agence de Photo der Réunion des Musées Nationaux-Grand Palais, Paris: https://magazine-photo.rmngp.fr/en/about-collections/serpentine-dance (10. 09. 2020), sowie zeitgenössische Publikationen zu Fuller: Brandstetter u. a. 1989 (wie Anm. 13), Bildanhang Abb. 39; Lista 2007 (wie Anm. 7), S. 217.

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Angesichts des Buches findet der Tanz im Kopf der Betrachtenden und Lesenden statt, die sich mit Fuller auf eine Reise durch ihre Erlebnisse begeben, in denen Bild und Text in eine mehr oder minder lose Verbindung geraten. Lose scheinen dabei teils auch die Zuordnungen der Titel, die eine begriffliche Nähe aufweisen wie „Feuer“ und „Flamme“, zu Motiven etwa, die gleichermaßen ‚unscharf‘ voneinander zu trennen sind. Ein wiederkehrendes Bild- und Bewegungsmotiv in Fifteen Years of a Dancer’s Life ist der Schmetterling, der auf dem Umschlag und Frontispiz sowie mit zwei Abbildungen (die erste von Beckett, die zweite von Louis Saul Langfier) vertreten ist.22 (Abb. 2)

2|  Samuel Joshua Beckett: The Dance of The Butterfly, 1913, Fotografie, London. Fotografie: Tivadar Nemesi.

Die Fotografie von Beckett zeigt Fuller von hinten mit zu beiden Seiten sich aufbauschendem hellem Gewand vor dunklem Hintergrund. Die Bewegung vollzieht sich dabei von der Kamera abgewandt, während Fuller, den Kopf drehend, ihr Gesicht dem Fotografen zuwendet (Abb. 2).23 Die Fotografie ist mit The Dance of The Butterfly betitelt und spricht damit auf die Figur des Schmetterlings, die hier durch die flügelgleiche Form motivisch angezeigt ist, an. Auch in der Erzählung Fullers wird auf die durch die Bewegungsfiguren evozierten variablen Imaginationen Bezug genommen: Wie im Nachklang zu der Abbildung ist auf der folgenden Textseite der Ausruf „Oh! It’s a butterfly“24, den 22  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 143 und S. 182. 23  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 143. 24  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 145.

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Fuller als Resonanz auf eine ihrer Aufführungen widergibt, zu lesen. Das Bild des Schmetterlings, das hier als Assoziation einem Kind aus dem Publikum zugeschrieben wird, wird gleich darauf von einem anderen mit den Worten revidiert: „You don’t know what you are talking about. It’s an angel“25. Schmetterling oder Engel – die Offenheit der Form ist von Fuller im Text selbst durch die variierenden Beschreibungen der durch ihren Tanz evozierten Imaginationen (re-)inszeniert worden und (re-)flektiert sich nicht zuletzt auch in den variierenden Bildtiteln. Die Tatsache, dass diese nicht ohne weiteres auf die Tänze zurückzuführen sind, löst die Fotografie auf der einen Seite von der Idee einer abbildend-referenziellen Beziehung zu einer (vergangenen) ‚Wirklichkeit‘ des Tanzes und ruft zugleich ein wesentliches Prinzip seiner Ästhetik auf. Das Spektrum an Betitelungen der Fotografien kann dabei in Analogie zu der Vielfalt an möglichen Vorstellungsbildern, die der Serpentinentanz im Publikum hervorgerufen haben soll, gesehen werden. Die Figur des Schmetterlings bildet ein wiederkehrendes Motiv in den Fotografien, das sich im Sinne Brandstetters mit dem raum-zeitlichen Bewegungsmuster der Toposformel26 beschreiben ließe: Das sich aufbauschende Kleid entfaltet sich in etwa gleichförmigen Flächen rechts und links – den ausgebreiteten Flügeln eines Schmetterlings gleich – vom Körper der Tänzerin. Diese steht meist in der Bildmitte zentriert, die zugleich die des symmetrisch sich entfaltenden Gewandes ist. b. Vollzogene Bewegung Während diese Fotografien zur Bewegungsfigur des Schmetterlings die Tanzende im weißen Gewand zeigen, existieren zahlreiche Aufnahmen Fullers in einem mit Motiven des Insekts bedruckten Kostüm.27 Anders als die beschriebenen Bewegungsaufnahmen stammen sie von Fotografen wie Napoléon Sarony, Charles Reutlinger oder Paul Boyer, die der Tradition der Posen- und Ballett­ fotografie verbunden sind und die Tänzerin meist unbewegt und umrahmt von ihrem entfalteten oder aufgespannten Gewand darstellen. Weniger die Bewegung der Tänzerin als ‚ihr‘ Bild des Schmetterlings steht hier im Zentrum. Darin mag ein Grund liegen, weshalb diese eher statuarischen Fotografien im tanztheoretischen Diskurs weitaus weniger präsent sind als die Aufnahmen

25  Fuller 1913 (wie Anm. 1), S. 146. 26  Brandstetter 2013 (wie Anm. 14), S. 356. 27  Inwiefern diese in Fotografien und Zeichnungen dokumentierten Kostüme auch in Aufführungen zum Einsatz kommen, ist mir nicht bekannt. Die Datierungen lassen teils auf ein zeitgleiches Bestehen zu Aufnahmen in weißen Gewändern zu Beginn der Karriere der Tänzerin schließen. Jedoch scheinen keine Aufnahmen mit motivbedruckten Kostümen nach 1900 zu existieren, was wiederum darauf schließen lässt, dass sich Fuller später von dieser Darstellungsform im Tanz und/oder der Fotografie verabschiedet hat.

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der in Bewegung begriffenen Tänzerin.28 Dabei sind die Fotogra­fien keineswegs ohne Bewegung, sondern setzen die wechselseitige Spannung von stasis und kinesis selbstreflexiv in Szene. Dies soll im Folgenden am Beispiel zweier Fotografien von Charles Reutlinger deutlich werden. (Abb. 3)

3|  Charles Reutlinger, Loïe Fuller, um 1895, 16,5 cm × 11,4 cm, Paris, Collection of Maryhill Museum of Art, Washington.

Bei der hier abgebildeten Fotografie handelt sich um einen Papierabzug auf Karton im Kabinettformat. Sie zeigt Fuller, mittig im Bild platziert, den Oberkörper und das Gesicht der Kamera zugewandt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, in einer seitlich ausgerichteten Schrittposition. Der Rock des Kleides ist, vermutlich mit Nadeln auf dem Prospekt im Hintergrund befestigt, ausgehend von der Körpermitte kreisrund um die Tänzerin aufgespannt.29 Die Schmetterlinge umkreisen die Tänzerin, deren Zentrierung dadurch betont wird. Die Stillstellung wiederholt sich hier in mehrfacher Hinsicht: 1) in 28  Vgl. Françoise Le Coz: Erstarrte Pose? Photographie des Tanzes, in: Birnie Danzker 1995 (wie Anm. 20), S. 39–44, hier S. 39f; Brandstetter u. a. 1989 (wie Anm. 13), S. 129; Chistopher Balme: Danced Encounters/Encounters with Dance, in: Nicole Haitzinger und Karin Fenböck (Hg.): Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München 2010, S. 14–27, hier S. 21. 29  Die Arretierung des Kostüms lässt sich auch in weiteren Beispielen der Fuller-Fotografie verfolgen und ist eine verbreitete Technik in der fotografischen Bewegungsdarstellung. Dabei wird das Kleid meist mittels in der Aufnahme unsichtbaren Fäden so drapiert, dass der Eindruck eines durch den tanzenden Körper in Bewegung versetzen Gewandes entsteht.

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dem Verharren der Tänzerin in der Pose; 2) in der Fixierung der Pose durch das fotografische Medium; 3) in der Arretierung des Gewandes und damit der Bewegung des Körpers; 4) in dem Motiv des Schmetterlings. Durch die an eine Flugbahn erinnernde Reihung der Schmetterlinge auf dem aufgespannten Rock wird sowohl motivisch als auch formal ein Eindruck von Bewegung erzeugt. Gleichzeitig aber verstärkt die konzentrische Anordnung die Stillstellung und lässt die Zentrierung wie eine Fixierung des Körpers erscheinen. Kinesis wird hier zu einem Effekt von Stasis und vice versa. Der fotografische Akt ist auch in der räumlichen Anordnung präsent: Der zur Kamera hin ausgerichtete Blick, der Prospekt im Hintergrund, die Befestigung des Gewandes. Mit in der Fotografie aufgerufen sind damit die Vorkehrungen, die ein Fotograf im Studio trifft, um das gewünschte Bild zu erhalten, was hier bedeutet, jegliche Bewegung stillzustellen. Die Fixierung der Tänzerin durch den Fotografen kommt dabei einer Fixierung von Insekten durch den Entomologen gleich. Wie ein mit der Nadel fixierter Schmetterling, der auf Dauer als Bild ‚hinter Glas’ still- und ausgestellt wird, ist der Körper der Tänzerin im Zentrum optisch fixiert und mortifiziert. Auf diese Weise geschieht ein intermedialer Shift zwischen Stasis und Kinesis. Gerade das so stillgestellte Motiv lässt die Bewegung der die Fotografie abtastenden Blicke der Betrachter noch spannungsreicher erfahrbar werden. Eine andere auf 1893 datierte Fotografie Reutlingers zum Motiv des Schmetterlings, die ebenfalls als Kabinettkarte kursierte, kommt der entomologischen Ikonografie des still- und ausgestellten Insekts noch näher: (Abb. 4).

4|  Charles Reutlinger: Loïe Fuller, um 1893, Cabinet Fotografie, 16,5 cm × 11,4 cm, Paris, Collection of Maryhill Museum of Art, Washington.

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Wie der Blick in einen Schaukasten mutet die Sicht auf die mit ausgebreiteten Flügeln stehende Schmetterlingsfigur an. Fuller steht frontal zur Kamera, das bemalte Gewand zu beiden Seiten aufgespannt haltend. Das Schmetterlingsmotiv zieht sich über die gesamte Stofffläche, die wiederum große Teile der Bildfläche einnimmt. Die Flügel entfalten sich rechts und links vom mittig platzierten Rumpf des Insekts, dessen Mittelachse mit dem Körper der Tänzerin übereinstimmt. Das Motiv der Entfaltung ist hier dreifach vertreten: 1) in den ausgebreiteten Armen der Tänzerin; 2) im aufgespannten Stoff des Gewandes; 3) in den Flügeln des Schmetterlings. Fuller präsentiert sich. Den Rahmen dazu bildet eine Carte Cabinet, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bevorzugt in Theaterkreisen zu Werbezwecken verwendet wird. Wie die Carte de Visite erlaubt sie aufgrund der vereinfachten Reproduktionstechnik eine schnelle und einfache Vervielfältigung und Verbreitung. Neben den (Bühnen-) Künstlerinnen und Künstlern profitieren auch die Ateliers von den Aufnahmen bekannter (Künstler-) Persönlichkeiten, die – meist in Form von Rollenportraits – als Aushängeschild der Fotografen dienen. 30 Der Karton ist hell und am oberen und unteren Rand mit dem Namen des Fotografen Reutlinger versehen. Kein Titel, kein Name verweisen im Blick auf die Fotografie auf die Tänzerin und den Schmetterling, der bereits selbst zum Emblem des Serpentinentanzes geworden ist. Fuller ist der Schmetterling. c. Bilder von Bewegung „It’s a Butterfly. It’s a Butterfly“ – der Zuruf des Publikums findet sein Echo in zahlreichen Fotografien, die Loïe Fuller in ihrem zu beiden Seiten ausgebreiteten Gewand zeigen. Dabei variieren die Bilder hinsichtlich der kraft der im Bild oder dessen Betrachtung liegenden Bewegung erwirkten Form. Ausgehend von den hier vorgestellten Beispielen lassen sich zwei unterschiedliche Konzepte in der fotografischen Übertragung der Form- und Bewegungskräfte, von der Spannung zwischen Stasis und Kinesis des Serpentinentanzes festhalten: 1 In der am Moment orientierten Fotografie, welche die Tänzerin in Bewegung zeigt, stehen die Formen der Entfaltung, das Auffliegen und Schlagen der Flügel im Vordergrund der Bildgestaltung. In den Fotografien transformieren sich die an der Natur orientierten Bewegungen in Bilder, die selbst bewegt erscheinen. In ihnen ist der Schlag der Flügel auf Dauer aufgehoben: ein nicht enden wollender Schwung, ein anhaltendes Aufschlagen des Gewandes. Das Auge schwankt zwischen Tanz und Fotografie, zwischen Bild und Bewegung. In diesem Schwanken zeigt und zeitigt sich die 30  Vgl. Timm Starl: Bildbestimmung. Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839 bis 1945, Marburg 2009, S. 20.

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Wahrnehmung der Bewegung im und als Bild als ein performativer Prozess, der sich in weiteren Bildern frei- und fortsetzt und darin seine eigene Kraft entfaltet: it’s a butterfly, it’s an orchid, it’s a flame, it’s a cloud, it’s a bird, it’s a lily, it‘s a snake … Die an der Pose orientierte Fotografie, in der sich die Tänzerin in der Figur des Schmetterlings in der Pracht des entfalteten und ausgebreiteten Gewan­ des präsentiert und die Motive des Kostüms sowie die flügelhafte Gestaltung des Gewandes als Attribute des Serpentinentanzes inszeniert werden. Nicht die Bewegung im Vollzug, sondern die vollzogene Bewegung bestimmt hier die Gestaltung des Bildes.

Die Idee der Übertragung von Bewegung im und als Bild reflektiert sich in den verschiedenen fotografischen Darstellungen des Serpentinentanzes. Das gilt nicht nur für die Aufnahmen der bewegten, sondern auch der unbewegten Tänzerin – vielmehr bieten die verschiedenen und scheinbar entgegengesetzten Konzepte von momentaner und statuarischer Fotografie Anlass, die Pole von bewegt und unbewegt hinsichtlich der Fotografie des Tanzes zu überdenken und in verschiedene Ebenen der Bewegungsdarstellung zu differenzieren. Das Potential liegt jeweils in der Transformation, die sich zwischen Tanz und Fotografie vollzieht und in der Wahrnehmung der wechselseitigen Beziehung beider Künste und ihrer Medien fortsetzt. Mit jedem Nachvollzug des Bild- und Bewegungsgeschehens re-aktualisiert sich die Interferenz von Tanz und Fotografie, zeigt sich das Zwischen als ein unabschließbarer Prozess. Als Sinnbild für diese durch die Übertragung im Zwischen frei- und fortgesetzten Effekte kann die Tanzfotografie zu Loïe Fuller gelten. Sie ist als ein fotografisch wie choreografisch gestaltetes Bild zu betrachten, in dem sich Bewegung als Effekt der Interferenzen beider Künste und ihrer medialen Ausdrucksformen zeigt. Der Idee des Effektes folgend, weisen die Fotografien über die Vorstellung von Repräsentation hinaus, nach der Fotografie etwas wiedergibt, re-präsentiert, das außerhalb ihrer selbst als imaginierte (eindeutig fixierbare) Präsenz liegt. Vor diesem Hintergrund leitet sich das Verständnis von Tanzfotografien als Bilder von Bewegung ab. Ob im Prozess oder als Pose – die Fotografien Fullers sind Bilder von Bewegung, insofern sie von ihr durchdrungen, durch sie getragen sind und im Rahmen ihrer Möglichkeitsbedingungen als Bild Bewegung nicht nur sichtbar werden lassen, sondern auch perpetuieren.

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Liquid Matters Ortsbezogene Interventionen mit Lederfett

I. Das Gebäude des Münchner Zentralinstituts für Kunstgeschichte wurde ursprünglich als Verwaltungsbau der NSDAP erbaut. 1947 nahm in ihm das Zentralinstitut für Kunstgeschichte (Central Institute for Art History) seine Arbeit auf, das aus dem im Juni 1945 eingerichteten Central Art Collecting Point der US-amerikanischen Militärregierung hervorgegangen war und der Rückführung der von den Nationalsozialisten erbeuteten Raubkunst gedient hatte. Die unmittelbar mit dem NS-Staat und seiner Abwicklung verbundene Geschichte des Hauses bildete eine der Grundlagen für meine dauerhafte Intervention Lets Slip Into Her Shoes (V) von 2017 (Abb. 1).1 Für die Realisierung wählte ich eines der beiden Wendeltreppenhäuser im Bereich der Bibliothek aus, das vom Lesesaal ausgehend zu einer Empore hinauf und zu den Bestandsmagazinen im Keller hinab führt. Mit seinen gerundeten Wänden prägt dieses Treppenhaus eine eigene, der Wendeltreppe angepasste, turmartige Raumsituation und lässt sie innerhalb der repräsentativen Anlage wie einen intimen, zurückgezogenen Ort wirken. Die Beleuchtung erscheint eher improvisiert, an einigen Wandstellen blättert der Verputz ab. Für die Platzierung einer künst­ lerischen Arbeit könnte kaum ein Bereich des Gebäudes weniger geeignet erscheinen. Erst der zweite Blick offenbart die besondere Qualität dieses Ortes: Das durch eine Deckenöffnung einfallende Tageslicht lässt die gewölbte Kuppeldecke hell erstrahlen. Wer die Stufen emporsteigt, erreicht einen Treppenbalkon vor einer geschlossenen Feuertür und befindet sich unvermutet in einer hellen Sphäre, aus der der Blick nach unten auf den verschatteten Grund hinabfällt. 1  Die künstlerische Arbeit entstand auf Einladung von Prof. Dr. Christine Tauber und Prof. Dr. Ulrich Pfisterer anlässlich der Tagung Quelle, Einfluss, Strömung: Aquatische Metaphern der Kunstgeschichte am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München.

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Für meine Intervention trug ich in diesem Treppenhaus, dem spiralför­ migen Treppenlauf folgend, eine Anordnung mittelgroßer, rechteckiger DINFormate aus bläulich-schwarzem Lederfett auf die Wände auf. Das Fett zog augenblicklich in die Oberfläche der Wand ein und bildete alsbald deutlich erkennbare Höfe rund um die Fettflächen aus. An manchen Stellen kratzte ich das Fett wieder ab. Je länger es auf den übrigen Wandstellen verblieb, desto intensiver wurde der Farbton, der von hellem Blau über Graublau zu Schwarz zu changieren begann. Am Ende zeigten sich unterschiedliche Verläufe und Intensitäten an den einzelnen Auftragsstellen und ließen zugleich Spuren von Unregelmäßigkeiten oder früheren Eingriffen in die Wandoberflächen erscheinen. Der Geruch des Materials war im gesamten Treppenhausbereich wahrzunehmen. Durch die Spiralform der Treppe erscheinen die Felder beim Hinaufgehen bisweilen als ein Gegenüber, ohne in Berührungsnähe zu liegen; im oberen Bereich des Treppenhauses lassen sich bei Tageslicht mehrere der Fettfelder mit einem Blick erfassen. So zart sie optisch wirken, so nachhaltig und hartnäckig ist die Einwirkung des ohne Unterlack aufgetragenen Fettes in das Innere der Wände. Dem transitorischen Ort wird durch diese kontinuierliche und unumkehrbare Einwirkung des Fettes in die Bausubstanz eine weitere Zeitebene hinzugefügt.

II. Das verwendete, industriell hergestellte Material, das üblicherweise für die Pflege von Lederstiefeln und Reitsätteln eingesetzt wird und dicht aufgetragen an flüssigen Asphalt erinnert, habe ich aufgrund seiner physikalischen und ästhetischen Eigenschaften als besonders gut geeignet für situative, zeit-räumliche Markierungen erlebt und vor der Münchner Intervention bereits in anderen orts- und raumbezogenen Kontexten erprobt. Die Markierungen bilden gesteigerte Anlässe für ästhetische Erfahrung, die durch ihre faktische Materialität und ihre optische Anmutung in das Wahrnehmungsfeld eines Ortes hineinwirken und zugleich über das Prinzip der Ortsspezifität hinausführen. Denn das nach dem Ende von temporären Ausstellungen wieder abgenommene Lederfett, das ich in großen Laborgläsern lagere, reichert sich im Verlauf der Zeit mit Partikeln von Staub und Pollen, mit Insekten und abgeplatzter Wandfarbe an. Auf diese Weise stellt das Material ein unsichtbares, doch physisch konkretes Netzwerk zwischen den Orten her, an denen die Arbeiten realisiert wurden. Erstmalig habe ich 2011 mit Lederfett gearbeitet, als ich auf die Schaufensterscheibe eines Projektraumes in Basel von außen ein schwarzes und von innen als Gegenstück ein farbloses Fettfeld auftrug (Polish, 2011, Abb. 2 und 3). Die Fensterfront markierte ich so als Verbindung zwischen dem Innenraum

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des Ausstellungsortes und seiner städtischen Umgebung, die zu dieser Zeit von Asphaltbaustellen und Handwerksbetrieben geprägt war. Im Gegensatz zu anderen Malmitteln bindet Lederfett nach dem Auftragen nicht ab, es verändert seine Erscheinungsweise und arbeitet weiter. Während der zweiwöchigen Laufzeit des Basler Projekts sammelten sich auf dem Fettfeld Staubpartikel, und es durchlief auf seiner glatten Oberfläche witterungsbedingte Verwandlungen, als Materialschollen abrutschten. Auch hinterließen Passanten mit ihren Händen Einträge an der Oberfläche. 2013 realisierte ich für She Came In Through The Bathroom Window im Kölner Kunstraum Fuhrwerkswaage ein großes, auf den Boden aufgetragenes Feld aus schwarzem Lederfett, das die Proportionen der Architektur und die klimatischen Bedingungen in den Räumen des ehemaligen Umspannwerks aufnahm (Abb. 4). Während die Deckenheizanlage warme Luft in die Raummitte abgab und ein Erstarren des Materials verhinderte, blieben die Außenwände des Raumes kalt und stabilisierten dadurch die Form an ihren Rändern. Für die Besucher*innen wurde kein Hinweis auf den Umgang mit der Arbeit gegeben, gleichwohl blieb die Bodenfläche im Gegensatz zu der Basler Fensterfront bis auf eine Stelle am Rand unversehrt. Bei der Entfernung der Arbeit zeigte sich, dass über die Dauer des Projekts nicht nur Fett in den Hallenboden eingezogen war; auch ein Teil des Farbstoffes aus dem Material hatte sich gelöst und bläuliche Spuren hinterlassen. Die folgende Untersuchung des Materials ergab, dass die Tönungen dieser Farbeinwirkungen von hellem Blau über Graublau zu Schwarz reichen, je nach Menge und Dauer der Fetteinwirkung sowie abhängig von Material und Temperatur des Trägers, auf den das Fett aufgebracht wird. Diese Beobachtung der Farbverläufe hat meine nachfolgenden Lederfett­ arbeiten der Werkserie Lets Slip Into Her Shoes I–VII (2014–2021) stark beeinflusst. Kontinuierlich in eine Wandoberfläche einziehendes Lederfett machte im Kunstmuseum Stuttgart (2014) nicht nur die bisherigen Nutzungsspuren der Museumswände erkennbar; durch seine Wandelbarkeit und farblichen Veränderungen konnte die Intervention gleichzeitig auf die konservatorischen Bedingungen am Ort, die museale Produktion von Dauer und Überzeitlichkeit reagieren. Im selben Raum befand sich Dieter Roths Gartenzwerg aus Schokolade von 1972, der in einer eigens temperierten Vitrine vor seinem natürlichen (und eigentlich vom Künstler intendierten) Zerfall bewahrt wird und dessen werkimmanente Temporalität konservatorisch aufgehalten wird (Abb. 5). Eine Wandinstallation von Fettflächen in einer Gruppenausstellung der Berliner Galerie Jochen Hempel, die nach dem Ausstellungsende wieder entfernt wurde, thematisierte direkt die Frage nach der ideellen und kommerziellen Vermittlung von temporären Werken (Abb. 6). Das Werkkonzept dieser Arbeit wurde anschließend durch das Kunstmuseum Stuttgart für eine dauerhafte Implementierung erworben. Als Ort für die Realisierung (2018) wurden im Dialog mit dem Museum die hohen Wände eines Treppenhauses bestimmt,

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das verschiedene Bereiche der Sammlung verbindet. Von der Stirnseite des Treppenhauses ausgehend, brachte ich entlang der Raumflucht eine Komposition dicht übereinander gestaffelter großer Lederfettfelder auf die Wände auf. Die sich in diesem Bereich stauende Wärme, die vor allem durch die Ausstellungsbeleuchtung entsteht, erzeugt an einigen Stellen eine chromatographische Trennung des Stoffgemisches: Während der Farbstoff des Materials innerhalb der ursprünglich gesetzten Felder bleibt, löst sich nahezu farbloses Fett aus diesen heraus und gelangt in darunter liegende Felder, so dass sich die FettAusblühungen der Einzelsetzungen allmählich zu einem großen Fettfeld verbinden. Der Vorgang geschieht langsam, so dass er sich nur über längere Zeiträume als Spur eines Prozesses beobachten lässt, der das latente Vermögen der Zustandsveränderung und die tatsächliche Manifestation einer solchen Veränderung vergegenwärtigt (Abb. 7). Die Arbeit bietet in der Bewegung durch das Treppenhaus unterschiedliche Lesarten, die einander möglicherweise ausschließen. In der direkten Betrachtung scheinen die opak schwarzblauen Felder plastisch aus der fettgetränkten Wand hervorzutreten. Direkt vor den Wand­ arbeiten entsteht eine starke Untersicht, aus der die Komposition der Einzelsetzungen visuell in einem allover des dünnen, fließenden Fettfilms auf der Wand aufzugehen scheint (Abb. 8). Die spezifischen situativen Bedingungen (institutioneller Rahmen, Routinen, Handlungen der Besucher*innen, Raumsituation, klimatische Bedingungen) werden ebenso zu Agenten der Arbeit wie die Eigenschaften der beteiligten Materialien und die Handlungen der Bearbeitung. Wie die Arbeit im Kunst­ museum Stuttgart in einigen Jahren aussehen und wie das eingebrachte Material sich mit den Museumswänden verbunden haben wird, ist nicht genau vorherzusagen. Da die Dauer ihrer Präsentation in der Sammlung nicht definiert ist, gehört die weitere Handhabung zur Offenheit der Arbeit und ist damit ebenso Verhandlungssache, wie es die Ermittlung ihrer Positionierung war. Eine weitere Fettintervention, in der Galeria Mario Iannelli in Rom, besteht aus einer einzigen, tiefschwarzen Setzung (Labor II, 2019), die sich langsam mit der Wand verbindet (Abb. 9). Die Eigenlogik der Arbeit, zu der ein expliziter Umgang mit ihrer Dauer gehört, wird hier noch einmal auf andere Weise als im musealen Sammlungskontext herausgestellt: Sie wurde nach dem Ende der Ausstellung, für die sie realisiert worden ist, nicht entfernt, sondern nahm bis dato in ihrer sich ständig transformierenden Form in verschiedenen nachfolgenden Ausstellungskonstellationen ihren Platz ein (Abb. 10). Nach ihrer (mehrfachen) Ausstellung wird sich das Material so unumkehrbar mit dem Wandstück verbunden haben, dass dieses aus der Architektur herausgeschlagen und als Fragment der Arbeit erhalten werden wird.

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Im gleichen Jahr wurde eine kleine Dose mit Lederfett im Rahmen des konzeptuellen Ausstellungsprojekts On the Quiet2 in einem Postpaket auf Reisen geschickt. Aus diesem begrenzten Volumen soll in verschiedenen Ortskontexten eine Lederfettarbeit realisiert werden (Abb. 11). Das Material, das nach Ablauf einer Ausstellung von den Wänden abgenommen wird, wandert zum nächsten Ausstellungsort – abzüglich dessen, was sich mit den Wänden des Ausstellungsraumes irreversibel verbunden und zuzüglich der Partikel, mit denen es sich während des mechanischen Abtragens jeweils angereichert hat. Auf diese Weise ist das Material mit jeder Ausstellung einer qualitativen und quantitativen Transformation unterworfen, die auf die ästhetischen Möglichkeiten der Arbeit einwirkt. Für die Intervention Labor I (2018) im Projektraum 45cbm der Kunsthalle Baden-Baden blieben die Ausstellungswände frei (Abb. 12). Hingegen wurde die Raumdecke allover mit dem schwarzglänzenden Material bestrichen, das großen Laborgläsern entnommen worden war, die für die Dauer der Intervention auf dem Boden stehen blieben (Abb. 13). Neonröhren und der Feuermelder an der Decke blieben dabei ausgespart und traten in dem glänzend schwarzen Feld an der Decke als eigenständige Objekte hervor (Abb. 14). Der Geruch des Lederfettes verbreitete sich auch in den Vorraum und drang von dort über die Klimaanlage aus dem Gebäude, so dass er auch auf dem Parkplatz wahrzunehmen war. Für die im Februar 2019 stattfindende Intervention Paste in einem Ulmer Projektraum wurden beide Seiten der großen Schaufensterscheibe allover mit Lederfett bearbeitet. Im beheizten Innenraum zersetzte sich die Oberfläche und rutschte kontinuierlich in Materialschollen ab – so langsam, dass dieser Prozess während eines Ausstellungsbesuchs nicht wahrnehmbar war. Im Außenraum reagierte das Material durch die niedrigen Temperaturen ausschließlich in der Stunde der direkten Sonneneinstrahlung, verflüssigte sich und rann wie eine ölige Schmiere die Scheibe herab. Sobald die Sonne nicht mehr direkt auf die Fläche schien, stabilisierte sich der jeweilige Zustand bis zum nächsten Tag.  Die beständige Transformation des Materials bewirkte, 2  On The Quiet ist ein 2019 entwickeltes Ausstellungskonzept der Künstler*innen Carolina Peréz Pallares und Benjamin Appel. Ausgehend von der Idee, eine ganze Ausstellung aus dem Koffer zu bestreiten, entstand die Idee, ein 31,5 kg schweres Paket mit Kunstwerken und Konzepten ortsspezifischer Installationen zu befüllen und in ausgewählten Museen zu präsentieren. Die Wahl des Formats Paket nimmt Bezug auf den globalen Warenaustausch, die verstärkte Nutzung von Lieferdiensten und das ständige Risiko des Verlusts auf dem gewöhnlichen Versandweg. Die erste Ausstellung des Projekts fand 2019 in der Galerie der Stadt Sindelfingen statt und wurde 2020 von der Kunsthalle Mannheim übernommen. Weitere Stationen 2021 sind das Museo de Arte Contemporáneo MAC in Santiago de Chile, der Projektraum Ortloff in Leipzig sowie die Städtische Galerie in Rastatt.

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dass sich seine optischen Wirkungen und damit auch die möglichen Deutungen dynamisch-performativ veränderten. Während sich die Oberfläche im Innenraum zu einem hochästhetischen Bild entwickelte, das an japanische Tuschmalerei erinnerte, wirkte die Paste im Außenraum wie eine unansehnliche Verunreinigung, die für Passant*innen möglicherweise Fragen danach provozierte, ob der augenscheinlich geschlossene Raum als Kunstort gänzlich aufgegeben sei (Abb. 15 und 16). 

III. Im Gegensatz zu den Versionen der Arbeiten in Ausstellungsräumen ist die Intervention mit Lederfett im Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte kein Ausstellungsobjekt mehr. Sie ist allerdings auch kein im weiteren Sinn funktionales Objekt zur ästhetischen Bestimmung des Ortes. Die Münchner Arbeit reagiert nicht auf die typische Rahmensetzung, wie man sie an Ausstellungsorten findet, auf die Zeitschichten eines Ausstellungsdisplays oder die beständige Verhandlung temporärer versus auf Dauer angelegter Strategien visueller Repräsentation. In München findet eine Bedeutungsverschiebung statt, eine gleichsam indexikalische Anverwandlung der Arbeit an den historischen Rückraum des Gebäudes, ja ihr Verwachsen mit diesem, ohne doch zugleich spezifisch nur diesem Ort zu gehören. Von vornherein und ausdrücklich gelten meine Materialrecherchen und Bildstrategien nicht allein der Anwendung auf Kunstorte, sondern sind kontextoffen konzipiert und beabsichtigen auch die implizite Entgrenzung von Ortsbezogenheit, wie sie die NSRepräsentationsarchitektur des Münchner Zentralinstituts und ihre Nachkriegsnutzung einfordert. Meine künstlerische Arbeit  bezieht sich auf Räume als Nutzungs- und Handlungsgefüge und ermöglicht die multiperspektivische synästhetische Erfahrung dieses Raumverständnisses, das jegliche Architektur materiell, sozial und imaginär bestimmt. Meine Interventionen verstehen sich dabei jedoch nicht allein über das traditionelle Prinzip von Ortsbezogenheit, sondern ent­ grenzen dieses, indem sie dieses Gefüge über die Rhetorik einer einzelnen Architektur oder eines einzelnen Ortes hinaus als Bestandteile eines Netzwerkes von imaginären Räumen versteht, in denen sich soziales, politisches, kulturelles Handeln organisiert und in diesen als ein solches erst identifiziert wird. Das Thema meiner Arbeiten sind nicht Markierungen eines Ortes oder die Sichtbarmachung von Spuren oder Zeitschichten im Sinn einer Ästhetik des Archäologischen.  Stattdessen ist der Ort nur eine mögliche Materialisierung jenes Handlungsgefüges (unter vielen denkbaren), das sich nicht mit dem Gebäude oder mit dem Verweis auf seine Entstehung während des National­ sozialismus erschöpft, sondern einerseits als historische Erstreckung, andererseits in der Gegenwart und nicht zuletzt durch die Intervention selbst sich

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fortlaufend aktualisiert. Die Münchner Intervention setzt an dieser  dynamischen Gegenwart an, indem sie in die Raumgrenzen einwirkt und indem dieser Prozess erst durch Zerstörung dieser Raumgrenze gestoppt werden kann. Die Programme und Nutzungsabsichten dieser Architektur verstehe ich also nicht als ein an einem (historischen) Zeit-Ort isoliertes Denk-Mal, sondern als jenes über den Ort und die Zeit hinausgehendes Handlungsgefüge, zu dem auch der*die je gegenwärtige Betrachter*in beiträgt. Gerade diese Architektur in ihrer diskursiven Präsenz scheint eine solche Entgrenzung des traditionellen Verständnisses von Ortsbezogenheit einzufordern. 

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1|  Schirin Kretschmann: Lets Slip Into Her Shoes (V), 2017, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München. Foto: Schirin Kretschmann. 2|  Schirin Kretschmann: Lets Slip Into Her Shoes (V), 2017, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München. Foto: Schirin Kretschmann.

3|  Schirin Kretschmann: „Polish“, 2011, Dokustelle, Basel. Foto: Schirin Kretschmann und Irene Müller. 4|  Schirin Kretschmann: „Polish“, 2011, Dokustelle, Basel. Foto: Schirin Kretschmann und Irene Müller. 5|  Schirin Kretschmann: „She Came In Through The Bathroom Window“, 2013, Fuhrwerkswaage Kunstraum e.V., Köln. Foto: Schirin Kretschmann.

6|  Schirin Kretschmann: „Lets Slip Into Her Shoes (I)“, 2014, Kunstmuseum Stuttgart. Foto: Frank Kleinbach. 7|  Schirin Kretschmann: „Lets Slip Into Her Shoes (III)“, 2015, Galerie Jochen Hempel, Berlin. Foto: Bernd Borchardt.

8|  Schirin Kretschmann: „Lets Slip Into Her Shoes (IV)“, 2018, Kunstmuseum Stuttgart. Foto: Frank Kleinbach. 9|  Schirin Kretschmann: „Labor (II)“, 2019, Galeria Mario Iannelli, Rom. Foto: Roberto Apa.

10|  Schirin Kretschmann: „Lets Slip Into Her Shoes (VII)“, 2021, Städtische Galerie Fruchthalle Rastatt. Foto: Karolina Sobel. 11|  Schirin Kretschmann: „Labor (I)“, 2018, Kunsthalle Baden-Baden. Foto: Karolina Sobel. 12|  Schirin Kretschmann: „Labor (I)“, 2018, Kunsthalle Baden-Baden. Foto: Karolina Sobel. 13|  Schirin Kretschmann: „Labor (I)“, 2018, Kunsthalle Baden-Baden. Foto: Karolina Sobel.

14|  Schirin Kretschmann: „Paste“, 2019, Projektraum Putte, Neu-Ulm. Foto: Schirin Kretschmann. 15|  Schirin Kretschmann: „Paste“, 2019, Projektraum Putte, Neu-Ulm. Foto: Schirin Kretschmann.

Formkräfte: Ökonomien, Organismen, Techniken

Matthew Vollgraff

Die Pflanze als Erfinder Raoul Francé, die Biotechnik und die Avantgarde der Zwischenkriegszeit

I. Die neue Einheit April 1919, nur wenige Monate nach der Niederschlagung des Spartakusaufstandes erschienen, war das erste Bauhaus-Manifest von einer widersprüchlichen Nachkriegsstimmung geprägt, die zwischen Verzweiflung über die kulturelle Verfassung Deutschlands einerseits und einer fast nervös optimistischen Aufbruchshoffnung andererseits pendelte. „Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“1 Dieser expressionistische Utopismus bestand auch nach der Hinwendung des Bauhauses zum Programm einer „neuen Einheit“ von Kunst und Technik im Jahr 1923 fort: „Das alte dualistische Weltbild, das Ich – im Gegensatz zum All – ist im Verblassen,“ proklamierte Gropius nun: „Die Gedanken an eine neue Welteinheit, die den absoluten Ausgleich aller gegensätzlichen Spannungen in sich birgt, taucht an seiner Statt auf. Diese neuaufdämmernde Erkenntnis der Einheit aller Dinge und Erscheinungen bringt aller menschlichen Gestaltungsarbeit einen gemeinsamen, tief in uns selbst beruhenden Sinn.“2 1  Walter Gropius: Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar, Weimar 1919, unpag. Ich danke Joshua Bauchner, Oliver Botar, Teresa Castro, Maximillian Gilleßen, Steffen Haug, ­Frederika Tevebring, John Tresch und Beny Wagner sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern für ihre hilfreichen Kommentare zu den früheren Versionen dieses Essays. Alle Übersetzungen aus dem Englischen bzw. Französischen sind meine eigenen, sofern nicht anders vermerkt. 2  Walter Gropius: Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses Weimar, München 1923, S. 1. Der Übergang vom Expressionismus zum Funktionalismus wird behandelt in Göran Lindahl: Von der Zukunftskathedrale bis zur Wohnmaschine. Deutsche Architektur und Architekturdebatte nach dem ersten Weltkriege, in: Figura, New Series, Heft 1 (1959), S. 226–282, hier S. 260–267.

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Das rationalistische Programm des schlichten, stromlinienförmigen Designs, für welches das Bauhaus heute zumeist bekannt ist, war nicht nur von dem Impuls getrieben, die Grenzen zwischen den Künsten aufzubrechen, sondern auch die Gesellschaft selbst als Gesamtkunstwerk wiederaufzubauen.3 In den Augen der deutschen Avantgarden der Zwischenkriegszeit lagen das Potential und die Verantwortung für die gesellschaftliche Erneuerung in der Gestaltung, der allein man zutraute, die „Antinomie zwischen Kultur und Zivilisation, Geist und Natur, Kunst und Technik, Kunst und Gesellschaft, Kunstgriff und Natur“4 aufzulösen. Durch die Umgestaltung der gebauten Umwelt strebten die Künstler und Architekten der Moderne danach, eine neue Kunst, eine neue Gesellschaft und schließlich einen Neuen Menschen zu schaffen.5 „Bauen,“ schrieb Gropius, „bedeutet Gestaltung von Lebensvor­gän­ gen“.6 Für viele dieser Künstler konnte die Entwicklung der technischen Mittel zur Umgestaltung des menschlichen Lebens allerdings nur dann gelingen, wenn sie sich nicht-menschliches Leben zum Beispiel nahmen. Mit ihrem latenten Versprechen einer transzendenten, harmonischen Ordnung bildete die Natur einen vielversprechenden Gegenpol zur politischen Instabilität und sozialen Fragmentierung, die die Weimarer Republik erschütterten. Doch wenn die Avantgarden der Zwischenkriegszeit oft von einer „Rückkehr zur Natur“ sprachen, war damit gerade nicht eine rückwärtsgewandte Restauration vorindustrieller Zeiten gemeint. Der Konstruktivist El Lissitzky erklärte 1924, am Ende eines längeren Aufenthalts in Berlin, dass „die Maschine […] uns nicht von der Natur getrennt hat. Durch sie haben wir eine neue, vorher nicht geahnte Natur entdeckt.“7 Nachdem er „genug von der Maschine“ gehabt habe, so Lissitzky, sei ihm klar geworden, dass das Kunstwerk selbst bereits als ein „Glied der Natur“ verstanden werden muss.8 Die zerstörerischen Kräfte, die durch die neuen Technologien im Ersten Weltkrieg entfesselt worden waren, hofften die Modernisten zu zähmen, indem sie die Technik selbst an eine 3  Zur Rolle des Gesamtkunstwerks für das Bauhaus, siehe Éric Michaud: The Total Work of Art and Totalitarianism, in: Thesis Eleven 152 (2019), Heft 1, S. 3–18. 4  Detlef Mertins: Mies, London 2014, S. 87. 5  Siehe Jean Clair und Pierre Théberge (Hg.): The 1930s. The Making of ‚The New Man‘, Ausst.-Kat. (National Gallery of Canada, Ottawa), Ottawa 2008. 6  Walter Gropius: systematische vorarbeit für rationellen wohnungsbau, in: bauhaus 1 (1927) Heft 2, S. 1. Dieser gewöhnlich mit Hannes Meyer assoziierte Begriff wurde erstmals von Gropius geprägt; vgl. Ute Poerschke: Funktionen und Formen. Architekturtheorie der Moderne, Bielefeld 2014, S. 138–139. 7  El Lissitzky: Genug, in: Merz 2: „Nasci“ (1924), Heft 8 und 9, Umschlaginnenseite, unpag. 8  Lissitzky 1924 (wie Anm. 7), unpag. Wie die romantischen Dichter und Wissenschaftler des vorangegangenen Jahrhunderts stellten sich die Weimarer Avantgarden technische Instrumente als Keime neuer Organe vor und „die menschliche Industrie als einen natürlichen Ausdruck der Entwicklung der Erde selbst“ (John Tresch: The Romantic Machine. Utopian Science and Technology after Napoleon, Chicago 2012, S. 5).

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natürliche, organische Ordnung zu binden versuchten.9 Auf eine ähnliche Weise wie El Lissitzky argumentierte der Kunstkritiker Walter Riezler 1927, dass „die ‚Technik‘ eine neue Phase der Naturentwicklung bedeutet, nicht etwa eine Entzweiung des Menschen mit der Natur.“10 Als Vertreter des Werkbundes – der im Interesse der Verbindung bzw. Versöhnung von Kunst und Industrie gegründet wurde –  suchte Riezler nach einem neuen Formbegriff, der die Sphäre der Kunst zu überschreiten vermochte, sowie nach einem Funktionsbegriff, der nicht auf die Domänen von Technik und Industrie beschränkt war. Beides lieferte ihm die Natur, wie Gert Mattenklott feststellt, in der Gestalt der lebenden Pflanze.11 In einem Artikel in der Werkbund-Zeitschrift Die Form, der den bezeichnenden Titel „Die Einheit der Welt“ trägt, behauptete Riezler, dass Natur und Industrie denselben funktionalistischen Gesetzen gehorchen und dieselben Möglichkeiten haben. Auf einer prägnanten Seite seines dicht bebilderten Textes wird die von Alfred Renger-Patzsch aufgenommene Fotografie eines EuphorbiaKaktus der Ansicht eines AEG-Kesselhauses gegenübergestellt (Abb. 1). Die „natürlichen“ und „künstlichen“ Strukturen gehorchen jeweils dem, was Riezler das „Prinzip geringsten Materialaufwands zur Ausübung einer Funktion“12 nennt. Aus nahezu identischen Blickwinkeln dargestellt, reagieren sowohl die Pflanze als auch das Kesselhausgerüst nur auf „kalkulierte Kräfte“, während „alles Zufällige und Unerwünschte so weit wie möglich ausgeschlossen wird.“13 Ein solcher Vergleich zwischen Pflanzenformen und Industriearchitektur sollte dazu dienen, das spätere Werkbundprogramm der stromlinienförmigen, normierten, rationalen Gestaltung zu legitimieren bzw. zu naturalisieren. Und nicht zuletzt suggeriert Riezlers funktionalistische Analogie zwischen Pflanzen und technischen Konstruktionen, dass die Gestaltung selbst eine Naturgewalt ist.

9  Vor 1919 konnten manche noch glauben, dass die negativen Auswirkungen der Mechanisierung und Industrialisierung durch eine neue Moral gemildert würden. Nach dem Krieg gehörte auch diese Vorstellung zu den Trümmern der alten Welt; siehe Thomas Rohrkramer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999, bes. S. 230ff. „Der entfesselten Kräfte müssen wir Herr werden und sie in eine neue Ordnung bauen, und zwar in eine Ordnung, die dem Leben freien Spielraum zu seiner Entfaltung läßt,“ argumentierte Ludwig Mies van der Rohe 1928: „Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Technik.“ (Ludwig Mies van der Rohe: Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens (1928), in: Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, Berlin 1986, S. 365). 10  Walter Riezler: Einheit der Welt (Ein Gespräch), in: Die Form 2 (1926/1927), Heft 8, S. 248. 11  Gerd Mattenklott: Karl Bloßfeldt — Fotografischer Naturalismus um 1900 und 1930, in: ders. und Harald Kilias (Hg.): Karl Blossfeldt. Das fotografische Werk, München 1981, S. 34 12  Riezler 1926/1927 (wie Anm. 10), S. 243. 13  Riezler 1926/1927 (wie Anm. 10), S. 243.

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1|  O. T., in: Walter Riezler: Einheit der Welt (Ein Gespräch), 1926/1927.

II. Der dialektische Gegensatz zur Erfindung Die neue Einheit von Natur, Kunst und Technik, die das Bauhaus, der Werkbund und die konstruktivistische Avantgarde alle auf jeweils andere Weise ankündigten, wäre nur schwer vorstellbar ohne die Werke eines Mannes: des österreichisch-ungarischen Botanikers, Mikrobiologen und Schriftstellers Raoul Heinrich Francé (1874–1943). Nachdem er eine akademische Karriere ausgeschlagen hatte, erlangte Francé als Populärwissenschaftler große Erfolge,

Die Pflanze als Erfinder

unter anderem durch die von ihm 1904 gemeinsam mit Wilhelm Bölsche gegründete Kosmos-Schriftenreihe. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Francé zunehmend einer eigenen, bodenständigen Naturphilosophie zu, die die ‚organischen‘ Werte von Harmonie, Integration und Gleichgewicht in Natur und Gesellschaft zum Programm erhob. Seine Bücher mit Titeln wie Das Lie­ besleben der Pflanzen (1906) und Die Gesetze des Lebens (1920) zeugen von jenem Sammelsurium an monistischem, vitalistischem, holistischem und organistischem Gedankengut des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, das als ‚Biozentrik‘ gilt.14 Indem sie versuchten, die humanistische Kultur auf der Grundlage eines wissenschaftliches Verständnisses des Lebens neu zu errichten, zielten die Biozentriker darauf ab, einer scheinbar seelenlosen und ‚mechanistisch‘ gewordenen modernen Gesellschaft Stabilität und transzendentale Werte zurückzugeben.15 In dieser Hinsicht ist es nicht überraschend, dass Francés Schriften den vielleicht wichtigsten biowissenschaftlichen Einfluss auf die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts ausübten.16 Aus heutiger Sicht mag seine eigenwillige biozentrische Verschmelzung von Esoterik und Positivismus, Materialismus und Pantheismus, Technokratie und romantischem Antikapitalismus von unüberbrückbaren Widersprüchen geprägt erscheinen. Doch für diejenigen, die die deutsche Kunst und Gesellschaft von 14  Wenn die Geschichte der Biozentrik bzw. des Biozentrismus heute bekannt ist, so ist dies vor allem den Bemühungen von Oliver Botar zu verdanken. Siehe ders.: Defining Biocentrism, in: Oliver Botar und Isabel Wünsche (Hg.), Biocentrism and Modernism, Farnham 2011, S.  15–45; ders.: The Biocentric Bauhaus, in: Charissa N. Terranova und Meredith Tromble (Hg.), The Routledge Companion to Biology in Art and Architecture, London 2017, S. 17–51; sowie ders.: Prolegomena to the Study of Biomorphic Modernism. Biocentrism, László Moholy-Nagy’s ‚New Vision‘ and Ernó Kállai’s Bioromantik, Diss., University of Toronto 1998. Der Begriff „biozentrisch“ war bereits in den 1880er Jahren synonym mit dem, was Lynn Nyhart die „biologische Perspektive“ genannt hat: eine ökologische Sichtweise, die die funktionale Integration des lebenden Organismus in seine Umwelt betonte; Lynn Nyhart: Modern Nature. The Rise of the Biological Perspective in Germany, Chicago 2009, S. 23. 15  Wie Anne Harrington gezeigt hat, hingen viele deutsche Intellektuelle in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dem Glauben an, die „Ausbreitung des mechanistischen, instrumentalistischen Denkens in allen Bereichen des beruflichen und kulturellen Lebens habe zu einer zynischen, diesseitigen Haltung und einem Verfall von Moral und Idealismus geführt. [...] Die nihilistische Botschaft der Wissenschaftler, die offenbar die Technik über Seele und Integrität stellten, wurde sogar für die Verwüstungen des verlorenen Krieges verantwortlich gemacht.“ (Anne Harrington: Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm  II to ­Hitler, Princeton 1996, S. xiii.) 16  Diesen Einfluss haben vor allem die Arbeiten von Botar und Detlef Mertins aufgezeigt; Stansilaus von Moos nennt Francé „die wohl wichtigste Inspiration für die meisten Künstler und Architekten der europäischen Avantgarde, die von den Analogien zwischen natürlicher und technischer Form fasziniert waren.“ (Stanislaus von Moos: The Visualized Machine Age, in: Thomas P. Hughes und Agatha C. Hughes (Hg.), Lewis Mumford. Public Intellectual, London 1990, S. 407, zit. in Botar 1998 (wie Anm. 14), S. 238).

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den aus ihrer Sicht zerstörerischen Pfaden der Vergangenheit retten wollten, bedeutete sein Werk nichts weniger als eine Offenbarung. In „Einheit der Welt“ verweist Riezler auf Francés „reizende[s] kleine[s] Büchlein“ mit dem Titel Pflanzen als Erfinder (1920).17 In diesem Werk sowie in seinem unmittelbaren Vorgänger, Die technischen Leistungen der Pflanzen (1919), skizziert Francé die Theorie der von ihm sogenannten „Biotechnik“ – ein Programm zur bewussten Nachahmung der „technischen Formen“ der Natur.18 Lange bevor der Mensch die Erde betrat, so seine These, hatten die Pflanzen bereits zahlreiche menschlichen Maschine- und Bauformen vorweggenommen. Francé zufolge habe die Menschheit mit ihren Konstruktionen, ohne es zu ahnen, lediglich jene Formen nachgeahmt, die bereits die Pflanzen entwickelt hatten – deren Lösungen zudem rationaler, beständiger und ästhetisch ansprechender seien. Für Francé sind alle natürlichen Formen in dem Maße technisch, wie sie eine Funktion erfüllen: „Es gibt keine Form der Technik, welche nicht aus den Formen der Natur ableitbar wäre.“19 In seinen Büchern vergleicht er daher Süßwasseralgen mit Torpedos, Kiefernpollen mit Heißluftballons, Baumwurzeln mit Saugpumpen und Lebermoos mit einer tayloristischen Fabrik. „Die Pflanze [enthüllt sich dem studierenden Auge] als eine wahre Industriestadt, in der da Hebewerke, dort Röhrenkühler tätig sind, Kondensatoren und Stofftreiber arbeiten, Filterpressen und hydraulische Werke, elektrolytische Apparate und Evakuationspumpen das Auge verblüffen. Je mehr man Fachmann ist, auf desto mehr technische Begriffe stößt man in diesem Betrieb.“20 Durch die semantische Annäherung von Natur und industrieller Technik naturalisiert Francé zugleich die moderne Industrie, deren Produkte er „nur als eine Sonderanwendung eines allgemeinen biologischen Gesetzes, […] den

17  Riezler 1926/1927, S. 248. Raoul H. Francé: Die Pflanze als Erfinder, Stuttgart 1920. 18  Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919. Zur biotechnischen Idee von Francé siehe Philip Steadman: The Evolution of Designs. Biological Analogy in Architecture and the Applied Arts [1979], London 2008, Kapitel 11: ‚Biotechnics‘: Plants and Animals as Inventors, S. 153–162 und Robert Bud: Wie wir das Leben nutzbar machten. Ursprung und Entwicklung der Biotechnologie, übers. von Heike Mönkemann, Braunschweig u.a. 1995, Kapitel 3: Die Technisierung der Natur, S. 66–102. 19  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 20. So ist „die Wolke die technische Form des Prozesses der Wolkenbildung.“ Raoul Francé: Bios. Die Gesetze der Welt [1921], Bd. 1, Stuttgart 1923, S. 88. Auch der bescheidene Stein hat den Anspruch, ein „Erfinder“ zu sein; siehe Raoul Francé: So musst du leben! Eine Anleitung zum richtigen Leben, Dresden 1930, S. 40ff. 20  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 51.

Die Pflanze als Erfinder

Spezialfall einer Biotechnik“21 betrachtet. Anstatt die vermeintliche Allmacht der Maschine zurückzuweisen, wie es in der Kulturkritik der Zeit üblich war, verklärt Francés halluzinatorisches Panorama die Natur also zu einem Abbild der Industrie. Doch obwohl ihre begriffliche Unterscheidung für sein biotechnisches Projekt grundlegend bleibt, mag seine Verschmelzung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ im Zeichen des Funktionalismus auch als Vorwegnahme späterer Konzepte einer ontologischen Hybridität gelten, die das zeitgenössische Denken über „natureculture“22 ebenso prägen wie synthetische Biologie, Gentechnik und Erdsystemwissenschaft. Ebenso können Francés Bücher als frühe Vorläufer einer Art Posthumanismus gesehen werden, insofern sie darauf bestehen, dass die Menschheit ihre Einzigartigkeit und Intelligenz auf fatale Weise überschätzt hat. Im selben Maße, wie er das anthropozentrische Weltbild infrage stellt, verleiht er den Maschinen ein neues Leben, indem er sie auf eine Ebene mit den natürlichen Organismen stellt. Der Kern von Francés Theorie der Erfindungskraft der Pflanze mit ihrer ambivalenten Dialektik von Antizipation und Imitation basiert auf der Theorie der „Organprojektion“, die der hegelianische Technikphilosoph Ernst Kapp 1877 skizziert hat. Kapp zufolge bringt der Mensch Werkzeuge und Maschinen „organisch“ nach dem Vorbild bestimmter Körperorgane hervor (so sei der Hammer, um sein Paradebeispiel anzuführen, eine Projektion der Faust). Die Maschinen, die wir erfinden, ermöglichen uns also umgekehrt, unseren eigenen Körper ebenso wie die natürliche Umwelt zu verstehen.23 Wie Jeffrey Herf treffend bemerkt, ging es Kapp gerade darum, den „Dualismus zu überwinden, der die Technik in den Bereich des Geistes und die Rationalität gegen die organische Natur stellte“24. Es ist vor allem sein Konzept des Unbewussten – das Eduard von Hartmann viel näher steht als Freud –, das diese vermeintliche Einheit von Technik und Leben gewährleistet und den Prozess der Organpro-

21  Raoul Francé: Das biologische Experiment und seine Bedeutung für die Versuchstechnik, in: Mitteilungen des K. K. Technischen Versuchsamtes 7 (1918), Heft 2, S. 18. 22  Der Begriff geht zurück auf Donna Haraway: Das Manifest für Gefährten: Wenn Spezies sich begegnen – Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit [The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness, 2003], übers. von Jennifer Sofia Theodor, Berlin 2016; siehe einschlägig dazu auch dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen [[Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, 1991], übers. von Carmen Hammer, Frankfurt/M. 1995, sowie Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer Symmetrischen Anthropologie [Nous n’avons jamais été modernes: Essais d’anthropologie symétrique, 1991], übers. von Gustav Roßler, Berlin 1995. 23  Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877. 24  Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984, S. 158.

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jektion außerhalb der Kontrolle eines autonomen, rationalen menschlichen Subjekts verortet. Es ist mithin eine Ironie des Schicksals, dass Francé die Theorie der Organprojektion übernommen hat, die nach Grégoire Chamayou „eine Theorie eines einzigen Modells, ein radikaler Anthropozentrismus ist.“25 Wenn die Organprojektion Francé dennoch „als allgemeines Erklärungsprinzip der Organgestaltung“ dienen konnte, dann deshalb, weil er die Pflanze anstatt des menschlichen Körpers zu seinem idealen mechanischen System und mimetischen Reservoir macht.26 So kann er vom Menschen hergestellte Torpedos als „unbewusste Imitationen“ von Geißelalgen deuten oder eine Zuckerfilterpresse als „Projektion“ einer mikroskopischen Pflanzenfaser (Abb. 2a–2b).27 Diese unbewussten Nachahmungen und Projektionen entfalten sich nicht nach dem Diktat der Vernunft, sondern nach dem des Lebens selbst. Darin entsprechen sie genau dem, was Walter Benjamin einmal den „dialektische[n] Gegensatz zur Erfindung“28 nannte: dem vegetativen Prinzip des Lebens.

25  Ernst Kapp: Principes d’une philosophie de la technique [1877], hg. und übers. von ­Grégoire Chamayou, Paris 2007, S. 27. Chamayou führt aus: „Auf den Einwand, dass manche Formen von Artefakten von pflanzlichen oder tierischen Formen inspiriert sind, antwortet Kapp mit Haeckels biogenetischem Grundgesetz: So wie die Ontogenese die Phylogenese rekapituliert [...], so enthält der Mensch alle Stufen der tierischen [und pflanzlichen, MV] Evolution in sich. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, eine Welt innerhalb einer Welt. Wenn alle Formen des Lebens auf die eine oder andere Weise in die Entwicklung des menschlichen Organismus einbezogen sind, dann ist jede Nachahmung des Lebens erst recht auch eine Nachahmung des Menschen“ (ebd.). 26  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 267. 27  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 256 und S. 207–208. In einem kürzlich erschienenen Artikel geht Marco Tamborini auf die Beziehung zwischen Kapp und Francé ein und schreibt, dass letzterer „Kapps Philosophie, insbesondere den Begriff der Organprojektion, als metaphysisches Vermächtnis [definiert], das für die Gründung einer ernsthaften technischen Untersuchung der organischen Formen schädlich sei.“ (Marco Tamborini: Technische Form und Konstruktion, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 68 (2020), Heft 5, S. 721). Diese Behauptung stützt sich auf eine Endnote in seinem Werk Bios von 1921, in der Francé Kapp dafür tadelt, dass er „die Biotechnik auf den Abweg des metaphysischen Begriffes der ,Organprojektion‘ führte.“ (Raoul Francé: Bios. Die Gesetze der Welt [1921], Bd. 2, Stuttgart 1923, S. 128, n. 34). Doch sollte man den Wissenschaftler hier nicht beim Wort nehmen, besonders wenn man bedenkt, dass er im selben Band Kapps Schema mehrmals reproduziert. So beschreibt er z. B. Saiteninstrumente als „unbewußte biotechnische Kopien des Ohres“, in denen „der menschliche Erfindungsgeist [den Menschenleib] wiederholte“ (ebd., S. 33). In Die technischen Errun­ genschaften der Pflanzen vertritt Francé konsequent das „Gesetz der Organprojektion“ als ein „Universalgesetz“ (Francé 1919, wie Anm. 18, S. 215. Auch das Postskriptum zu Francés Pflanze als Erfinder (Francé 1920, wie Anm. 17, S. 74) führt Kapps Philosophie der Technik unter seinen Schlüsselreferenzen auf. 28  Walter Benjamin: Neues von Blumen (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. Von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1972, S. 153.

Die Pflanze als Erfinder

2a–2b|  O. T., in: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der ­Pflanze, Leipzig 1919.

Obwohl Francé einen unbekannten, unbewussten Instinkt als Ausgangspunkt technischer Innovation postulierte, verfolgte seine biotechnische Lehre das Ziel, diesen instinktiven Prozess bewusst zu machen. Dieses Motiv verlieh seinen Schriften ihren prophetischen Klang. Doch abgesehen von einem persönlich patentierten Entwurf für einen Salzstreuer – dessen „bio­genetische“ Inspiration bestenfalls oberflächlich erscheint – verwendet der Wissenschaftler natürliche Vorbilder nicht, um neue technische Formen zu skizzieren, sondern nur, um rückwirkend zu bestätigen, dass die Natur den bereits existierenden

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3| O. T., in: Raoul H. Francé: Die Pflanze als Erfinder, Stuttgart 1920.

menschlichen Konstruktionen zuvorgekommen ist (Abb. 3). Für Francé, der hierin Kapp folgt, werden technische Formen nicht so sehr „geschaffen“ als vielmehr „entdeckt“29. Wenn Pflanzen in der Theorie ‚erfinden‘, so sind es in der Praxis die Maschinen, die diktieren, welche technischen Formen in der Natur überhaupt wahrgenommen werden können.

III. Die Ökonomie der Natur „[J]ede Form“, sagt Francé, „ist nur das erstarrte Momentbild eines Prozesses!“30 Die technischen Leistungen der Pflanzen ist eine Sammlung von solchen erstarrten Momentbildern: Immer wieder werden Fotografien von Maschinen und Gebäuden mit mikroskopischen Aufnahmen von Pflanzenzellen, Bildern von Bäumen, Lianen und Blütenpflanzen verglichen. Doch obwohl Francé vorgibt, eine dynamische Natur, eine „Natur im Werden“ zu zeigen, musealisiert er die Natur und präsentiert sie als Kuriositätenkabinett dekontextualisierter, ästhetisierter Objekte.31 In Die Pflanze als Erfinder wird das Pflanzenreich sogar als „Freilichtmuseum und Modellsammlung der technischen Wunder“32 beschrieben, in denen Schätze der Vergangenheit ausgestellt werden, um künftige Generationen zu inspirieren. Auch dies war nicht nur eine Metapher. Francé nahm sich für sein biotechnisches musée imaginaire ein reales technikgeschichtliches Museum zum Vorbild: Das Deutsche Museum in München, dessen

29 Vgl. Chamayous Einleitung zu Kapp 2007 (wie Anm. 25), S. 26–27n. 30 Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 68. Lissitzsky zitiert genau diesen Satz in der „Nasci“ MerzAusgabe, Lissitzky 1924 (wie Anm. 7), unpag. 31 Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 4. 32 Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 25.

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4a–4b|  O. T., in: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919.

Fotografien etwa ein Siebtel der Bilder in Die technischen Leistungen der Pflan­ zen ausmachen. Sogar die Architektur des Deutschen Museums dient als ­Beispiel: Das Eisengerüst einer seiner Ausstellungshallen wird mit einer Kieselalgenschale verglichen, die „ein Skelett der unumgänglich notwendigen Druckpunkte und ihrer Verspannungen“ bildet und „alle irgendwie entbehr­lichen ­Füllungen und Wandteile weg[läßt]“ (Abb. 4a–4b).33 In einer Bildun­terschrift geht Francé so weit, die Schale einer Kieselalge als deren „Eisenfachwerk und 33  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 40.

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Füllungen“ zu bezeichnen, wodurch die Grenze zwischen menschlicher und pflanz­licher Technik bewusst verwischt wird (Abb. 4a).34 Die sparsame Gestaltung der Eisenstruktur und der Kieselalgenhülle bewies für Francé die Wirkung eines einzigen universellen Gesetzes, des „Gesetzes des kleinsten Kraftmasses“35. Dieses Gesetz, das Riezler als das „Prinzip geringsten Materialaufwands zur Ausübung einer Funktion“36 bezeichnen sollte, bildete den Grundstein von Francés biotechnischer Lehre. „Auch die Technik des Menschen [muß], will sie zu wirklich haltbaren Gebilden fortschreiten, das Gesetz des kleinsten Kraftmaßes an die Spitze ihrer Bestrebungen stellen.“37 Die Arterien eines einfachen Blattes – so argumentiert der Wissenschaftler in seiner philosophischen Summa Bios: Die Gesetze der Welt (1921) – gelten als Modell für ein möglichst effizientes Verkehrssystem, das es erlaubt, ein beliebiges Gebiet auf dem kürzesten Weg zu durchqueren (Abb. 5). In einer Passage, die Mies van der Rohe in seinem persönlichen Exemplar von Bios markiert hat, behauptet Francé, dass „ein Städtebaumeister oder ein Landwirt, der sich ein optimales Bild machen will, wie man eine bestimmte Fläche kanalisiert oder gleichmäßig entwässert, […] dieses Bild mit größtem Nutzen studieren [wird].“38 Im selben Buch zeichnet er die theoretische Entwicklungslinie des von ihm postulierten Gesetzes nach und benennt dabei eine Reihe von Vorläufern, darunter Leibniz’ Prinzip der geringsten Wirkung, Maupertuis’ physikotheologische Doktrin der lex parsimonae, Helmholtz’ Formulierung des Krafterhaltungssatzes und sogar Einsteins Relativitätstheorie.39 Man darf D’Arcy Wentworth Thompsons Beobachtung beipflichten, dass alle diese Konzepte im Grunde „die unendliche Vollkommenheit der Natur“ ausdrücken und dass „Aristoteles’ großer Aphorismus, ‚die Natur tut nichts vergeblich‘, ihnen allen zugrunde liegt.“40 Ausgehend vom Gesetz des kleinsten Kraftmaßes 34  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 38. In Die Pflanze als Erfinder erklärt Francé, dass „das Maison du Roi zu Brüssel oder der Dogenpalast oder das Ca Doro zu Venedig und eine der nicht weniger entzückenden Kunstformen der Kieselalgenwelt gleichwertige Gegenstücke für das Walten derselben formbestimmenden Gesetzlichkeit“ sind. (Francé 1920, wie Anm. 17, S. 41). 35  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 231–254; vgl. Steadman 2008 (wie Anm. 18), S. 157 und Tamborini 2020 (wie Anm. 27), S. 724. 36  Riezler 1926/1927 (wie Anm. 10), S. 243. 37  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 244. 38  Raoul Francé: Bios. Die Gesetze der Welt, Taschenausgabe, Stuttgart 1925, S. 211. Ludwig Mies van der Rohe Library, Special Collections and University Archives, University of Illinois Chicago. 39  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 32 und S. 253. Wie er weiter feststellt, hätten Ernst Mach und Richard Avenarius sogar versucht, das „kleinste Kraftmaß“ zu einem philosophischen Prinzip zu erheben, das aller Erkenntnis zugrunde liegt (ebd. S. 232f.). 40  D’Arcy Wentworth Thompson: On Growth and Form. A New Edition, Cambridge 1942, S. 357. Siehe auch Gustav Portig: Das Weltgesetz des geringsten Kraftaufwandes in den Reichen der Natur und des Geistes, Stuttgart 1904. Aristoteles hatte die Natur mit einer „guten

Die Pflanze als Erfinder

5|  O. T., in: Raoul Francé: Bios. Die Gesetze der Welt, Stuttgart 1923.

erhob Francé Genügsamkeit und Sparsamkeit zu ebenso ethischen wie ästhetischen Werten: Sparen sei nicht nur gut, sondern auch schön. Selbstverständlich waren Ideen über die Sparsamkeit und Effizienz des Pflanzenaufbaus in der Botanik alles andere als neu. In den 1880er Jahren hatte sich eine entschieden funktionalistische, darwinistische Herangehensweise Haushälterin“ verglichen, die „nicht gewohnt ist, etwas wegzuwerfen, wenn etwas Nützliches daraus gemacht werden könnte.“ (Aristoteles, Generation of Animals, übers. von A. L. Peck, Cambridge/MA 1942, S. 230-31).

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6a–6b| O. T., in: Simon Schwendener: Das mechanische Princip im anatomischen Bau der Monocotylen, Leipzig 1874.

an die Erfassung der Pflanzenstruktur herausgebildet, die in direktem Gegensatz zu dem vorwiegend taxonomischen Ansatz stand, der den größten Teil der Botanik des neunzehnten Jahrhunderts dominiert hatte. Der Schweizer Simon Schwendener schrieb bereits 1874 über das „mechanische System“ im anatomischen Aufbau von Gräsern und untersuchte ihre Druckfestigkeit mit denselben analytischen Methoden, die im Brückenbau angewandt wurden (Abb. 6a–6b).41 Schwendeners Schüler Gottlieb Haberlandt ging in seiner Phy­ siologischen Pflanzenanatomie (1884) noch weiter, indem er sich auf die natürliche Selektion berief, um die Pflanzenmorphologie nicht nur zu beschreiben, sondern durch adaptive Funktionen zu erklären.42 Er stützte sich dabei konzeptionell auf den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, der das Verständnis von

41 Simon Schwendener: Das mechanische Princip im anatomischen Bau der Monocotylen, mit vergleichenden Ausblicken auf die übrigen Pflanzenklassen, Leipzig 1874. Allerdings geht Schwendener in seiner Studie nicht auf die Pflanzenentwicklung oder -evolution ein. 42 Gottlieb Haberlandt: Physiologische Pflanzenanatomie im Grundriss dargestellt, Leipzig 1884. Siehe auch ders.: Die Entwickelungsgeschichte des mechanischen Gewebesystems der Pflanzen, Leipzig 1879.

Die Pflanze als Erfinder

Natur und Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert grundlegend verändert hatte.43 Eugene Cittadino hat gezeigt, dass für Haberlandt, „wie für viele Darwinisten, das Prinzip der Krafterhaltung in Verbindung mit dem Konzept der natürlichen Selektion zu der unvermeidlichen Schlussfolgerung führte, dass Organismen, die einen Teil ihres begrenzten Energievorrats für die Produktion nutzloser Strukturen aufwenden, nicht über einen langen Zeitraum hinweg erfolgreich gegen effizientere Rivalen konkurrieren können.“44 Indem er den Darwinismus mit der Energiephysik synthetisierte, untersuchte Haberlandt die Evolution der Pflanzen anhand von Prinzipien wie dem „Princip des möglichst geringen Materialaufwandes (bzw. der Materialersparung)“, dem „Princip des größten Nutzeffektes“ und dem „Princip der Arbeitstheilung“ – allesamt ‚Principien‘, die Francé unter dem Begriff „Gesetz des kleinsten Kraftmaßes“ zusammenfasste.45 Während er Haberlandts Physiologische Pflan­ zenanatomie in keinem seiner biotechnischen Bücher erwähnt, würdigt er in Bios sowohl Schwendener als auch Haberlandt als die „erste[n] Biologen, die dem Ökonomieprinzip des Lebens zielbewußt nachforschten,“ und lobt letzteren ausdrücklich dafür, gezeigt zu haben, wie die Pflanzen „zunächst in mechanischer Hinsicht die Anforderungen größtmöglichster Festigkeit mit der einer möglichsten Sparsamkeit in der Verwendung von Mitteln zu vereinigen wis­ sen.“46 Aber Francé war kein Botaniker im Sinne von Schwendener oder Haberlandt. Bei ihm stand die anscheinend „mechanistische“ Auffassung der Pflanzenwelt in seinen biotechnischen Schriften ganz im Dienst eines überzeugten Vitalismus. Als führender Vertreter einer obskuren biologischen Lehre namens „Psychovitalismus“ bzw. „Psycholamarckismus“, behauptete Francé, dass alle Lebewesen, bis hinunter zur kleinsten Zelle, die selbstbewussten Konstrukteure ihrer eigenen evolutionären Anpassung seien – und nicht der ‚blinde Mechanismus‘ der natürlichen Auslese.47 Anstelle von Darwins umstrittener 43  Vgl. Harrington 1996 (wie Anm. 15), S. 8-9 und Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1992, S. 87. 44  Eugene Cittadino: Nature as the Laboratory. Darwinian Plant Ecology in the German Empire, 1880–1900, Cambridge 1990, S. 125. 45  Siehe Cittadino 1990 (wie Anm. 44), S. 37. 46  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 238–239; siehe auch Francé 1918 (wie Anm. 21), S. 17. 47  Wie Francé in einem früheren Text schrieb, ist „die bedürfnisgemäße Handlung […] zugleich ein Denkvorgang“ und kann daher nur durch den Rückgriff auf „seelische Kräfte“ erklärt werden (Raoul H. Francé: Das Leben der Pflanze, Bd. 2: Das Pflanzenleben Deutschlands und seiner Nachbarländer, Stuttgart 1907, S. 409). Es ist bemerkenswert, dass Francé Darwins botanisches Werk völlig ignoriert, das in der Tat der Pflanze nahezu eine psychische

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Theorie berief er sich auf Jean-Baptiste Lamarcks Idee einer „inneren Lebenskraft“, die Organismen dazu antreibe, ihre Gewohnheiten an die Anforderungen ihrer Umwelt anzupassen, Veränderungen, die dann über die Vererbung erworbener Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben würden.48 In diesem Sinne war die Pflanze in Francés Augen bereits das ideale Modell des induktiven Wissenschaftler-Ingenieurs: Wie er in Technische Leistungen behauptet, „weiß [die Pflanze] die physikalischen Gesetze bedürfnisgemäß zu kom­ binieren.“49 Aufgrund dieser „Idee von der zielgerichteten Gestaltung“, wie Robert Bud anmerkt, konnte die Biotechnik als praktische Anwendung von Francés Panpsychismus verstanden werden.50 Diese psychovitalistische Sichtweise durchzieht bereits Francés ersten großen Erfolg, das mehrbändige Das Leben der Pflanze (1906–1913), das in Anlehnung an Alfred Brehms populäres Thierleben als „Pflanzenbrehm“ bekannt wurde. Und genau wie in seinem berühmten Vorgänger waren Francés Beschreibungen des Pflanzenreichs unverblümt anthropomorph – eine Tat­sache, die wahrscheinlich zum Erfolg des Buches beitrug. Der Industrielle und Philosoph Walther Rathenau verkündete 1912, dass ihn „seit Jahren kein neueres Buch so bewegt und erfüllt“ habe wie Francés Leben der Pflanzen: „Die Pflanzen hatten Leben gewonnen; und nicht dies allein: sie gaben sich selbst ihre Formen und Gesetze, sie paßten sich an, schützten und verteidigten sich, wanderten, kämpften mit Verfolgern und Konkurrenten, schlossen Bündnisse mit Freunden und Feinden, luden sich Gäste und Hausfreunde, traten in Tausch- und Geschäftsbeziehungen. Aber noch mehr: die ganze organische Welt schloß sich mit ihren Arten und Formationen Handlungsfähigkeit zuschreibt. Zu Darwin und den ‚Psychovitalisten‘ siehe Matthew Vollgraff: Vegetal Gestures. Cinema and the Knowledge of Life in Weimar Germany, in: Grey Room 72 (2018), S. 70–72; sowie Sander Gliboff: Monism and Morphology around the Turn of the Century, in: Todd H. Weir (Hg.), Monism: Science, Philosophy, Religion, and the History of a Worldview, New York 2012, S. 135–158. 48  Der Embryologe Wilhelm Roux, ein starker Anhänger des Mechanizismus, kritisierte Francé 1908 dafür, dass er die psychische Aktivität als unmittelbar bestimmenden Faktor auf die organische Gestaltbildung ausdehnte, und taufte ihn einen „Psychomorphologen“: ein Etikett, das der Botaniker stolz übernahm (vgl. Wilhelm Roux: Weitere Bemerkungen über Psychomorphologie und Entwicklungsmechanik, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen 25 (1908), S. 723). In seiner Antwort erwiderte Francé, dass Roux‘ „Entwicklungsmechanik“ (oder wie er sie nennt, „Biomechanik“) ebenso eine Arbeitshypothese sei wie seine eigene „Biopsychik“. Mechanisten wie er machten sich nicht weniger als die Vitalisten schuldig, ungelöste Fragen mit „hypothetische[n] ‚Kräften‘ und ‚Energien‘“ zu beantworten, „deren Wirkungsweise völlig unbekannt ist.“ (Raoul Francé: Funktionelle Selbstgestaltung und Psychomorphologie, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen 25 (1908), S. 717). 49  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 62. 50  Bud 1995 (wie Anm. 18), S. 79.

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zu einer Einheit zusammen, die aus äußeren und inneren Gesetzen ein höchstes, alles beherrschendes Gleichgewicht normierte.“51 Nicht nur die anthropomorphe Charakterisierung der Pflanzenwelt fesselte die Phantasie von Francés Lesern, sondern auch – und wohl vor allem – das biozentrische Bild einer „allmächtigen Balance“, deren Gesetz Natur und Kultur vereint.

IV. Bauhausgeist Seine größte und dauerhafteste Wirkung übte diese Vorstellung eines Gleichgewichts auf die Künstler und Architekten der frühen Weimarer Republik aus. Wenn man sich heute überhaupt noch an Francé erinnert, dann aufgrund seines Einflusses auf die Avantgarden der Zwischenkriegszeit. 1924, ein Jahr nach der Veröffentlichung eines Auszuges aus Die Pflanze als Erfinder in Paul Westheims Zeitschrift Das Kunstblatt, widmeten El Lissitzky und Kurt Schwitters eine Doppelseite ihrer Zeitschrift Merz den „sieben technischen Grundformen der Natur“: Kristall, Kugel, Ebene, Stab, Band, Schraube und Kegel.52 „Die Natur hat nichts anderes hervorgebracht,“ schreibt Francé, „und der Menschengeist mag schaffen, was er will, er kommt immer nur zu Kombinationen und Varianten dieser sieben Grundformen.“53 Lissitzky sah die gleiche Reduzierung und Klärung der Form in Werken von ihm selbst sowie von Malewitsch, Mondrian, Archipenko, Arp, Oud, Mies, Léger, Tatline, Braque oder Man Ray, deren Reproduktionen den Rest der Merz-Ausgabe füllen. Peter Nisbet hat vermutet, dass Lissitzkys Lektüre von Francé seinen Übergang von der Malerei zu Design und Architektur auslöste.54 So wurden in einer Ausgabe der Schweizer konstruktivistischen Architekturzeitschrift ABC von 1924 – an deren Herausgabe Lissitzky ebenfalls beteiligt war – Pflanzen als „Erfinder“ im produktivistischen Geist der modernen Baukunst präsentiert. Links das Bild einer bescheidenen Pusteblume, rechts das Bild der Betonanlage des Kraftwerks Waggital (Abb. 7a–7b): Wie der Text der Bildunterschrift lapidar erklärt, ist die

51  Walter Rathenau: Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, S. 256. 52  Wie er erklärt, wird das Ziehen am besten durch bandförmige Formen erreicht, während Spiralen sich beim Schrauben auszeichnen und Stäbe für das Anlehnen und Lagern optimiert sind (usw.). 53  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 18. 54  Peter Nisbet: El Lissitzky in the Proun Years. A Study of His Work and Thought, 1919– 1927, Diss., Yale University 1995, S. 188. In einem Brief vom 23. März 1924 äußerte Lissitzky seine Absicht, Francé ein Widmungsexemplar von Nasci zu schicken, wobei ungewiss ist, ob er dies tat. Sophie Lissitzky-Küppers: El Lissitzky. Life, Letters, Texts [1967], London 1980, S. 47.

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Form, ob sie nun dem „gestaltende[n] Wille einer Pflanze“ oder der Menschenhand entspringt, immer „nur Stufe: pietätlos, grausam preisgegeben dem ­Zerfall, der Umwandlung nach erfüllter Aufgabe.“55 Ob durch Pollenflug oder Mineralgewinnung, der Löwenzahn und die Betonanlage sollen die von Francé propagierte Unterwerfung der Form unter den Prozess der Transformation in ihrer ganzen erbarmungslosen Universalität sichtbar machen. 55  El Lissitzky: Gestalten=Form, in: ABC. Beiträge zum Bauen 2 (1924), unpag. Lissitzky scheint den holländischen Architekten Mart Stam, einen der Herausgeber der Schweizer konstruktivistischen Zeitschrift ABC, mit seiner Begeisterung für Francé angesteckt zu haben. Siehe Mart Stam: Modernes Bauen 3, in: ABC. Beiträge zum Bauen 3–4 (1925), unpag.

Die Pflanze als Erfinder

7a–7b|  O. T., in: El Lissitzky: Gestalten=Form, 1924.

Francés biotechnischer Elementarismus inspirierte auch prominente Mitglieder des Bauhauses. László Moholy-Nagy soll Francés sieben Grundformen im Vorkurs des Bauhauses gelehrt haben und zitiert sie in seiner Darstellung des Bauhaus-Programms, Von Material zu Architektur (1929), immer wieder.56 Tatsächlich wurden alle drei Bauhaus-Direktoren – Martin Gropius, Hannes

56  Zu Moholy-Nagy siehe Oliver Botar: László Moholy-Nagy and Biocentrism, in: Toshino Iguchi (Hg.): Moholy-Nagy in Motion, Ausst.-Kat. (Museum of Modern Art, Hayama) Tokio 2011, S. 259–264; und Alan Findeli: Moholy-Nagy’s Design Pedagogy in Chicago (1937–46), in: Design Issues 7 (1990), Heft 1, S. 4–19. Über Spuren von Francés Ideen in der Bauhaus-Pädagogik von Paul Klee und Wassily Kandinsky siehe Peter Bernhard: Der Philosoph des Funktionalismus

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Meyer und Ludwig Mies van der Rohe – in unterschiedlichem Maße von seinen Schriften beeinflusst.57 Vor allem Mies war ein besessener Sammler von Francés Büchern, von denen er vierundvierzig mitnahm, als er 1937 in die Vereinigten Staaten emigrierte.58 Er scheint Francés Schriften auch in den letzten Jahren des Bauhauses in Berlin verbreitet zu haben: Nach der Auflösung der Schule unter dem Druck des Nazi-Regimes im Jahr 1933 schrieb einer der letzten Schüler von Mies in einem Brief, dass „das bauhaus tot [ist,] aber der bauhausgeist lebt,“ bevor er hinzufügte: “und daß die richtung unserer lösungen gut ist, wurde mir wieder beim lesen des buches ‚bios‘ von raoul francé klar. was dieser biologe über die technik sagt, die in einklang mit den weltgesetzen stehen muß, wie mit dem gesetz des kleinsten kraftmaßes oder dem gesetz der harmonie, das ist bauhausgut, das ist bauhausgeist.“59 In seinen Ausführungen schien Francé mit dem funktionalistischen und nationalistischen Ethos des Werkbundes (oder der „Werkkunstbewegung“, wie er sie zu nennen pflegte) zu sympathisieren.60 In einer Passage, die Mies in seinem persönlichen Exemplar von Bios markierte, schrieb der Botaniker: „Wohl ist endlich namhaften Führern des Kunstgewerbes, namentlich der Werkkunstbewegung, das Gesetz des Sinngemäßen und Zweckgerechten in der Formgestaltung aufgegangen, das auch das des kleinsten Kraftmaßes in sich schließt, auch ist nach langem Suchen und Ringen die Architektur

im Widerstreit mit der modernen Kunst. Raoul Francé und das Bauhaus, in: Ute Ackermann, Kai Uwe Schierz und Justus H. Ulbricht (Hg.): Streit ums Bauhaus, Jena 2009, S. 145–146. 57  Meyers berühmtes Diktum „bauen ist ein biologischer vorgang. bauen ist kein ästhetischer vorgang“, ist sicherlich von Francé inspiriert. Siehe Poerschke 2014 (wie Anm. 6), S. 158; zu Francés Einfluss auf den architektonischen Funktionalismus der ‚Hochmoderne‘ siehe ebd. S. 153–159. Zu Francé und Gropius, siehe Bernhard 2009 (wie Anm. 56), S. 147. 58  Zu Mies’ Bibliothek siehe Neumeyer 1986 (wie Anm. 9); Mertins 2014 (wie Anm. 4); Botar 1998 (wie Anm. 14), S. 227–230; Spyros Papapetros: In Tangent with the Structure of Plant Growth. The Resilient Margins of the Barcelona Pavilion, in: Mies van der Rohe: Barcelona 1929, Barcelona 2018, S. 125–159; und Matthew Vollgraff: Die Bibliothek des Lebens. Mies’ Werk und die Biologie, in: Lehmbruck – Kolbe – Mies van der Rohe. Künstliche Biotope / Artificial Biotopes, Hg. Sylvia Martin und Julia Wallner, Ausst.-Kat. (Kunstmuseen Krefeld), 2021, S. 195–206. 59  Zit. in: Neumeyer 1986 (wie Anm. 9), S. 139. 60  „Im Begriff ‚Kunst‘ hat von jeher noch der Begriff ‚Kunstgewerbe‘ gesteckt. Aber Kunstgewerbe ist eine Biotechnik, ‚Werkkunst‘, das Streben, die Gebrauchsgegenstände zu größt­mög­ licher Vollkommenheit heranzubilden: den optimalen Stuhl, das zweckmäßigste Gefäß zu schaffen.“ (Huberta von Bronsart: Die Lebenslehre der Gegenwart. Einführung in die Objektive Philosophie, Stuttgart 1924, S. 88).

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auf dem Wege, Bauformen zu gestalten, die endlich dem inneren Sinn ihres Daseinszweckes gemäß sind. Aber das sind erst Ansätze, und noch sind Kleidung, Hausrat, Gerät, das ganze Gehäuse des Alltags, die Art, Feste zu feiern, ein Tummelplatz der Unkultur, vor dessen Sinnwidrigkeit und Stillosigkeit man erschrickt, wenn man erst einmal im Lichte der objektiven Denkungsart die leuchtenden Möglichkeiten eines wirklich organischen Lebens erblickt hat.“61 Wenn Francés Ideen von der Avantgarde so ekstatisch aufgenommen wurden, dann deshalb, weil sie glaubten, dasselbe „wahrhaft organische Leben“ zu suchen. Für viele deutsche Leser und Leserinnen in den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg schien Francés neue biotechnische Wissenschaft die Kräfte der Natur in den Dienst der nationalen Regeneration zu stellen. Im Schlusswort von Die technischen Leistungen der Pflanzen kündigt der Botaniker „eine neue Welt von Arbeit, Möglichkeiten und Erkenntnissen“62 an, die nur darauf warte, von mutigen Seelen erkundet zu werden. „In einem Zeitalter voll tiefer Zerstörung von Vergangenheiten“, mahnt er, müsse die Menschheit nun „die heimische Natur, die Weltkräfte überhaupt nun bei dem Neubau der Kultur des XX. Jahrhunderts ganz anders aus[]nutzen wie bisher.“63 Gleich dem brennenden Fenchelstängel, den Prometheus der Menschheit brachte, sei die Lehre von der Erfindungskunst der Pflanzen sein Beitrag zum „großen Kampf um die Ideale des Seins, gerade in den großen Jahren der Erneuerung unseres Volkes.“64 Doch wie mehr als ein Kritiker monierte, war Francé der festen Überzeugung, die Normen der technischen Gestaltung unmittelbar der Gesellschaft aufzwingen zu können.65 Die Biotechnik konnte nur deshalb zur Etablierung einer neuen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts eingesetzt werden, weil sie technische Mittel an die Stelle vitaler Zwecke setzte. In dieser Hinsicht war die tatsächliche Wirkung der Biotechnik weniger eine praktische als eine ideologische – sie entsprach dem Wunsch nach einer natürlichen Ordnung,

61  Francé 1925 (wie Anm. 38), S. 214. 62  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 267. 63  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 268. 64  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 268. Der Landschaftsarchitekt Leberecht Migge, der die „Binnen-kolonisation“ des deutschen Bodens durch ökologisch nachhaltige Siedlungen befürwortete, war ein begeisterter Leser von Francé. Siehe David Haney: When Modern Was Green. Life and Work of Landscape Architect Leberecht Migge, London 2010. 65  So wirft Arthur Mendt Francé vor, zu weit zu gehen, wenn er „aus seinen Naturerkenntnissen ethische, volkswirtschaftliche, politische Einsichten“ ableitet, also versucht, „Menschenfragen […] naturwissenschaftlich zu betrachten und lösen zu wollen“, oder menschliche und nicht-menschliche Erfindung miteinander gleichsetzt (Arthur Mendt: Die Technik in der Krise unserer Zeit, Berlin 1933, S. 57).

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die heute weitaus zerbrechlicher und kontingenter erscheint, als es sich Francés Zeitgenossen jemals hätten vorstellen können.

V. Pflanzenpolitik Francés Aufforderung an Industrie und Architektur, Pflanzen zu imitieren, war zugleich ein Plädoyer für die Umgestaltung der Gesellschaft selbst: für die Erschaffung eines neuen, harmonischen, in der Natur gründenden Gemeinschaftsgefühls. Die Leiter des Bauhauses verstanden ihr eigenes Programm zur rationalistischen Reform der gebauten Umwelt als eine Antwort auf diesen Aufruf. Was sie nicht wussten: Francé verachtete das Bauhaus, dessen Ausstellung er 1923 besuchte, als er in Weimar lebte.66 Und obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass Francés harmonische Botschaft der Bauhaus-Programms der sozialen Erneuerung durch Gestaltung entgegenkam, war sein Heilsplan für die zerbrochene Gesellschaft, die er nach dem Bild der Natur neu ordnen wollte, ebenso autoritär wie utopisch. 1924 – im selben Jahr, in dem Lissitzky und Schwitters Francé in ihr MerzPantheon der modernistischen Abstraktion aufnahmen –  veröffentlichte der Philosoph Paul Krannhals eine Hommage an den Vordenker der Biotechnik in der ‚völkischen‘ Zeitschrift Hellweg. Darin pries er Francés Botschaft von Hierarchie, Harmonie und Verwurzelung im Heimatboden als die besten Waffen gegen den Zustrom „fremder Ideen“, die seiner Meinung nach Deutschland bedrohten.67 Krannhals’ Begeisterung für die Schriften des Botanikers hielt auch nach seinem Eintritt in die NSDAP im Jahr 1927 an.68 In seinem 1932 erschienenen Buch Der Weltsinn der Technik erklärte er die menschliche Industrialisierung zu einer Erweiterung der natürlichen Prozesse und hob die vorbild­ liche Behandlung der funktionellen Analogien zwischen der „Technik der organischen Natur“ und derjenigen des Menschen in Francés Die technischen Leistungen der Pflanzen hervor. Wenn natürliche Vorbilder „auch ohne bewußte Absicht“ auf menschliche Konstruktionen angewandt würden, so brächten sie eine „Weltgesetzlichkeit“ zum Ausdruck, die sowohl die Natur als auch die Kultur umfasst.69 Somit, so Krannhals, „lag unsere heutige menschliche Technik der Anlage nach bereits in der Natur und im Geiste 66  Bernhard 2009 (wie Anm. 56), S. 146. 67  Paul Krannhals: Ein Wegweiser zur völkischen Kultur. Zum 50. Geburtstag von Raoul H. Francé am 20. Mai, Hellweg 4 (2. Mai 1924), Heft 21, S. 388–389. 68  Krannhals’ bekanntestes Werk ist Das organische Weltbild. Grundlagen einer neuentste­ henden deutschen Kultur, München 1928, von dem Mies van der Rohe die 1936 erschienene Volksausgabe besaß. 69  Paul Krannhals: Der Weltsinn der Technik als Schlüssel zu ihrer Kulturbedeutung, München 1932, S. 167.

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des Menschen [...], ehe sie Wirklichkeit wurde.“70 Diese Auffassung von Technik als einer im organischen Leben vorgeformten Kraft bzw. als Instinkt geht letztlich auf Kapps Auffassung von Technik als unbewusster Projektion zurück. Obwohl eine solche Sichtweise die bewusste Tätigkeit der menschlichen Techniker und Erfinder zu entwerten scheint, wurde sie von einigen deutschen Ingenieuren dennoch mit eifriger Überzeugung angenommen. Enno Heidebroek etwa beschrieb 1931 die Technik als unbewussten Ausdruck einer universalen „Gestaltungskraft“, einer „Naturkraft“, die sich einfach „des schöpferischen Organs des menschlichen Gehirns [...] als eines Servomotors [bedient], wie sie in anderen Zweigen des organischen Lebens sich anderer Hilfsmittel bedient.“71 Der deterministische Zug in Francés eigenem Denken scheint bisweilen weniger posthuman als antihuman. Mattenklott erkennt diese Tendenz in Die Pflanze als Erfinder und verweist auf die Drastik ihrer „lustvolle Unterordnung“ und „masochistisch[en]“ Partizipation „an der herrschenden Gewalttätigkeit“72. Es ist bemerkenswert, wie abwesend der Mensch und sein Gebrauch von Technologie in diesen Überlegungen sind: Wenn sie überhaupt erscheint, wird die Menschheit zu einem bloßen Gefäß für das, was Francé den „dunklen Trieb zum Erfinden“73 nennt, der angeblich allen Lebensformen innewohnt. „Nicht die Pflanze erfindet, nicht ‚wir‘ erfinden, sondern das Gesetz der technischen Formen vollzieht sich in der eisigen dunklen Nacht der Notwendigkeit.“74 Und an anderer Stelle heißt es: „Also nicht wir haben letzten Endes Schrauben, Bohrer, Propeller erfunden und nicht die Bazillen und Geißelinfusorien und Pflanzen, auch nicht die Luft, die sich am schnellsten in schraubigen Wirbeln bewegt, sondern über allem Geschehen steht ewig aufgerichtet das Gesetz, tief zu innerst begründet im Bau der Welt selbst: Bewegung in spiraliger Linie überwindet Widerstände leichter, als Bewegung in gerader Linie.“75 Wenn Menschen und Pflanzen auf die gleiche Weise konstruieren und gestalten, dann nur deshalb, weil beide gleichermaßen von der Notwendigkeit – „de[m] wahre[n] Gott“, wie Francé schreibt – beherrscht sind.76 Menschliche Arbeit 70  Krannhals 1932 (wie Anm. 69), S. 129. 71  Enno Heidebroek: Das Weltbild der Technik, in: Das Weltbild der Naturwissenschaften. Vier Gastvorlesungen an der Technischen Hochschule Stuttgart im Sommersemester 1931, Stuttgart 1931, S. 122. Heidebroek trat 1933 in die NSDAP ein. 72  Mattenklott 1981 (wie Anm. 11), S. 34. 73  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 6. 74  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 55. 75  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 18. 76  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 16.

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und menschliches Handeln sind mithin dem einzigen, dunklen und letztlich unmenschlichen Gesetz des kleinsten Kraftmaßes unterworfen, einem Gesetz, das bei Francé nicht mehr eine Bedingung für das Handeln, sondern dessen Ursache darstellt. Francés einzigartige Ausprägung des Techno-Vitalismus zeigt anschaulich, wie die Rationalisierung der Natur mit der Vitalisierung der Technik Hand in Hand geht. Der französische Wissenschaftsphilosoph Georges Canguilhem lieferte 1946 eine luzide Darstellung dieses Problems: „Wenn man die Technik als ein universales biologisches Phänomen und nicht mehr nur als ein intellektuelles Unternehmen des Menschen betrachtet,“ so erklärte er, „folgt daraus, dass wir einerseits die schöpferische Autonomie der Künste und des Handwerks [arts et métiers] im Verhältnis zu jenem Wissen anerkennen müssen, das fähig ist, sich diese einzuverleiben oder sie zu belehren, um ihre Wirkungen zu intensivieren. Andererseits und als Folge hiervon können wir das Mechanische in das Organische einschreiben.“77 Francés Biotechnik erfüllt beide Bedingungen, indem sie der Technik eine innere Lebenskraft zuschreibt, die außerhalb der Vernunft liegt, während sie gleichzeitig Pflanzen als rational optimierte Maschinen darstellt. Überraschenderweise bezieht sich Canguilhems Einsicht in das Dilemma, dass „jede Technik […] auf wesentliche und positive Weise eine vitale Originalität [beinhaltet], die nicht auf Rationalisierung reduzierbar ist“, direkt auf das biozentrische Denken des Weimarer Deutschlands – seine Referenz ist keine andere als Krannhals’ Weltsinn der Technik – dasselbe Buch, in dem der Nazi-Philosoph die Technik zu einem unbewussten Instinkt erklärte, mit Francé als seinem Kronzeugen.78 Für Francé war die Biotechnik integraler Bestandteil einer größeren sozialen und politischen Agenda. Es ist bezeichnend, dass das Vorbild für seine Erfindungstheorie, Ernst Kapps Technikphilosophie, im Staat kulminiert, den Kapp als „Gesammtheit der menschlichen Individuen zu organisch gesell-

77  Georges Canguilhem: Maschine und Organismus, in: ders.: Die Erkenntnis des Lebens, übers. von Till Bardoux, Maria Muhle und Francesca Raimondi, Berlin 2009, S. 231. Zu diesem Text siehe auch Henning Schmidgen: Über Maschinen und Organismen bei Canguilhem, in: ders. (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaft, Technik, Leben. Beiträge zur historischen Epistemologie, übers. von Ronald Vouillié, Berlin 2006, S. 157–178. 78  Canguilhem 2009 (wie Anm. 77), S. 222. Man muss sich übrigens über die Chuzpe von Canguilhem – einem Resistance-Kämpfer – wundern, einen überzeugten Nazi wie Krannhals in einem 1946 in Straßburg gehaltenen Vortrag zustimmend zu zitieren. Vgl. Thomas Ebke: Lebendiges Wissen des Lebens. Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie, Berlin 2012, S. 249n.

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schaftlicher Einheit“79 bezeichnet. Auch für Francé war der Staat ein „biotech­ni­ sche[s] Produkt“80. Es kann gewissermaßen als Bestätigung von Canguilhems oben zitierten Behauptungen gewertet werden, dass Francés Vision des „wirklich organischen Lebens“ deutliche Analogien zu einer Mechanisierung und Rationalisierung der Arbeit aufweist. Die Pflanze, schreibt Francé, stelle die „ideale Verkörperung des Taylorismus ohne seine Nachteile“81 dar – und damit das ideale Modell für merkantile, technische wie politische Planung und Organisation. Die Pflanzentechnik zeige, wie die für den „praktische[n] Geschäftsbetrieb“ charakteristische Effizienz „‚biologisiert‘, d.h. in einen Organismus verwandelt [wird], für den auch die Gesetze des Organischen gültig sind.“82 So kommt „in idealer Weise […] in der Pflanze jede Mehrleistung der Einzelbetriebe der Gesamtheit, also dem Staate zugute.“83 Durch seine rationale Energieerhaltung und ausgewogene Arbeitsteilung scheint das Gemüse eine Art organischen Taylorismus zu realisieren, dessen unerbittliche Optimierung Francé als das Vorbild für die harmonische Gesellschaft der Zukunft deutet.84 Die „Organisation“ der Natur war also auch eine politische Frage. Francés eigene politische Neigungen schwankten zwischen der kropotkinschen anarchistischen Philosophie der ‚gegenseitigen Hilfe‘ seiner Jugend85 und einem späteren völkischen Nationalismus, den er mit seinen faschistischen Anhängern wie Krannhals und Hanns Fischer teilte.86 1935 trat er schließlich der 79  Kapps Staat ist die ultimative „Organprojektion“: Im „Staatskörper[]“, erklärt der gute Hegelianer, wird „der in den Einzelartefacten sich forterhaltende Gegensatz von Mechanismus und Organismus aufgehoben.“ (Kapp 1877, wie Anm. 23, S. 345). 80  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 83. 81  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 251–252. 82  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 250. 83  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 252. 84  „Wann wird nun die gesamte Zoesis, wann endlich sogar die Kultur ihr Taylorsystem errichten? Das ist die Lebensfrage der Kulturmenschheit von heute, namentlich die der tief gesunkenen und durch die Ereignisse von 1914 bis 1920 an den Rand des Unterganges gebrachten Völker Europas.“ (Francé 1923, wie Anm. 27, S. 252). 85  Francés Glaube an die gegenseitige Hilfe schloss jedoch einen Glauben an natürliche Hierarchien nicht aus. In seinen Vorkriegsschriften entwarf Francé ein „idealisiertes Bild der Waldgemeinschaft“, das „mit einer radikal nationalistischen Vision der Gesellschaft korrespondierte, in der das unterirdische Proletariat, die sanftmütige Bourgeoisie, die schwachen Aristokraten und die Sozialschmarotzer von einer ‚Oligarchie‘ von (Nietzsche’schen oder anderen) Helden beherrscht werden würden.” (Jeffrey K. Wilson: The German Forest. Nature, Identity, and the Contestation of a National Symbol, 1871–1914, Toronto 2012, S. 191–192). 86  Vgl. Botar 1998 (wie Anm. 14), S. 243. Der rechtsmystische Schriftsteller Hanns Fischer verfasste neben der Biographie Raoul Francé. Das Buch eines Lebens (Leipzig 1924) auch Titel wie Das kosmische Schicksal der Germanen und Bücher über die sogenannte Welteislehre, die behauptete, Eis sei die Grundsubstanz des größten Teils des Universums, und die heute vor allem wegen ihrer Popularität unter führenden Nationalsozialisten in Erinnerung ist. Siehe Christina Wessely: Welteislehre. Eine wahre Geschichte, Berlin 2013.

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NSDAP bei. Die Gründe dafür bleiben unklar, scheinen aber mehr mit karrieristischem Opportunismus als mit antisemitischer Gesinnung zu tun gehabt zu haben.87 In der Tat war es nicht unbedingt zwingend, dass Francé – der auf dem Höhepunkt seiner Popularität weithin von Anhängern beider politischen Richtungen gelesen wurde – sich mit dem Nationalsozialismus verbündete: Selbst seine verblüffend positive Befürwortung von Eugenik und ‚Rassenhy­ giene‘ unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der dominanten Haltung der europäisch-amerikanischen Wissenschaftsgemeinschaft vor dem Zweiten Weltkrieg.88 Dennoch illustrieren Francés Schriften aus den 1920er Jahren anschaulich, wie fließend die Grenzen zwischen ökologischer Neuromantik einerseits und totalitärer Biopolitik andererseits schon damals waren. In Bios etwa nennt der Botaniker nicht Pflanzen, sondern Insektengesellschaften als Paradebeispiel für das „Optimum des Staatenlebens“, in dem „der Staat keine rassenfremden Eindringlinge duldet“ und in dem „Rassenhygiene und die Hochhaltung der Rassenreinheit eine streng gewahrte Vorbedingung der Staatenbildung“ sind.89 In einem Werk aus dem Jahr 1927, das als spekulative Science-Fiction gelten kann und den Titel Phoebus: Ein Rückblick auf das glückliche Deutschland im Jahre 1980 trägt, schildert Francé ein utopisches Mitteleuropa, in dem Überbevölkerung und Umweltverschmutzung schließlich durch Gartenstädte und Naturschutzgebiete überwunden sind. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, die in diesem Szenario durch „Rassenvermischung“ untergegangen seien, wird Deutschland um 1980 als wahres eugenisches Paradies beschrieben, in dem die „Plasmaqualitäten“ eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin deren Eingliederung in eine bestimmte Klasse bestimmen (ein Auswahlverfahren, das Francé in fast zynischer Weise „Meritokratie“ nennt).90 Das allgemeine Wahlrecht sei zusammen mit dem „uralte[n] Fehler von der ‚Gleichheit 87  Siehe Botar 1998 (wie Anm. 14), S. 239–244. Im August 1935, als er in Dubrovnik lebte, trat Francé dem Ortsverband Sarajevo der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bei. Oliver Botar, der die Beitrittserklärung im Jahr 2015 entdeckte, vermutet, dass dieser Schritt für den populärwissenschaftlichen Schriftsteller notwendig war, um weiterhin in Deutschland publizieren zu können. Oliver Botar, „Raoul Francé: Navigating the Nazi Ecosystem“, unveröffentlichter Vortrag, gehalten im Jahr 2016 auf der Konferenz der Society for Literature, Science and the Arts in Atlanta, Georgia. Ich danke Dr. Botar herzlich dafür, dass er sein Vortragsmanuskript mit mir geteilt hat. Francé wurde später denunziert, ähnlich wie andere deutsche organische Biologen und Philosophen in den 1930er Jahren, die sich zunächst auf die Seite des Regimes gestellt hatten; vgl. Harrington 1996 (wie Anm. 15), S. 195. 88  Auch Francés spätere Frau, die ‚Halbjüdin‘ Annie Harrar, veröffentlichte ein Buch mit dem Titel Rasse. Menschen von gestern und morgen (Leipzig 1920), in dem sie u. a. behauptete, das Römische Reich sei durch rassische Degeneration untergegangen (siehe ebd. S. 72). 89  Francé 1923 (wie Anm. 19), S. 225. 90  Raoul Francé: Phoebus. Ein Rückblick auf das glückliche Deutschland im Jahre 1980, München 1927, S. 21 und S. 51.

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der Menschen‘“ überwunden und die Gesellschaft in ein „organisches“ Gefüge von Kasten und Zünften neu geordnet worden, das an die soziale Ordnung des Mittelalters erinnere.91 Etwaige Mängel dieser natürlichen Ordnung würden durch die „Ausmerzung des lebensunwerten Lebens“ 92 behoben. Die Biotechnik war das Mittel, mit dem dieser organische Zustand realisiert werden sollte. In Phoebus erzählt Francé, wie der „Siegeslauf der Biotechnik [...], deren Hauptkennzeichen die sogenannte Produktion auf kaltem Wege nach Art der Pflanzen war“, zum Verschwinden der traditionellen Fabriken und zu einer rationelleren Verteilung industrieller Energien geführt habe, die Deutschlands Wirtschaftskraft „allen anderen Völkern“ gegenüber nach vorne katapultiert hätte.93 Diese nationalistischen Phantasien erlauben es, zu verstehen, warum der Ingenieur Alf Giessler im Jahr 1939 Francés Biotechnik ohne wesentliche Änderungen als Nazi-Wissenschaft ausgeben konnte.94 Wie der Weimarer „Kult der Technik“, den er befördert hatte, reduzierte Francé „den wirklichen Fortschritt auf den Fortschritt der Technik und die rationale Verfassung der Gesellschaft auf die Rationalität der Maschinenproduktion.“95 Indem er die Produktionsverhältnisse ausschloss, „ontologisiert[e]“96 er also die Kräfte der Technik. So gelangte Francé durch eine Ausblendung der sozialen Dynamik menschlicher Gesellschaften zu einer Naturalisierung der Technik als autonomer, vitaler Kraft und konnte sie auf der Grundlage dieser Prämisse zu einem scheinbar natürlichen Modell der sozialen und politischen Organisation erklären.97 91  Francé 1927 (wie Anm. 90), S. 70 92  Francé 1927 (wie Anm. 90), S. 67. 93  Francé 1927 (wie Anm. 90), S. 34. 94  Alf Giessler: Biotechnik. Eine Einführung, Leipzig 1939. Giessler war der Leiter einer kurzlebigen „Forschungsstelle für Biotechnik“ in Halle/Saale. Sein Buch wiederholt Francés Vorstellung von der Natur als „oberste[s] Gesetz, […] Lehrmeister, Vorbild und Richtschnur“, von dem keine Abweichung möglich ist. Giessler geht jedoch davon aus, dass nur der „naturverbundene nordische Mensch“ in der Lage sei, das „technische Prinzip der Natur“ durch seinen Instinkt und „intuitive[] Schau“ zu erfassen (ebd. S. 15, S. 18 und S. 10). Das Buch ist mit einem Vorwort des SS-Gauleiters Joachim Eggeling versehen; vgl. Bud 1995 (wie Anm. 18), S. 82. Einer von Himmlers Landschaftsplanern im „eingegliederten Ostgebiet“ zitiert Francé ausführlich als Inspiration für seinen „biotechnische[n] Gedanke[n]“ (Ebehard Mäding: Landespflege. Die Gestaltung der Landschaft als Hoheitsrecht und Hoheitspflicht, Berlin 1942, S. 157–158). 95  Anson Rabinbach: The Aesthetics of Production in the Third Reich, in: Journal of Contemporary History 11 (1976), Heft 4, S. 57 96  Rabinbach 1976 (wie Anm. 95), S. 57. 97  Die Vorstellung von „der Technik als etwas völlig von sozialen Beziehungen Getrenntes“ war etwas, das er mit der sogenannten ‚konservativen Revolution‘ im Weimarer Deutschland gemeinsam hatte. Wie Jeffrey Herf bemerkt, „lehnte die Sprache des rechten Vitalismus die Technik nicht ab, sondern suchte die Befreiung ihres erstickenden Geistes von den Fesseln der politischen und sozialen Beziehungen der Weimarer Republik.“ (Herf 1984, wie Anm. 24, S. 121).

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VI. „Der Stil entfaltet sich wie eine Pflanze“ Obwohl sich sein eigener ästhetischer Geschmack und seine politischen Ideale drastisch von denen seiner modernistischen Zeitgenossen unterschieden, schloss Francés biotechnische Theorie ästhetische Belange keineswegs aus. Im Gegenteil ist, wie Detlef Mertins hervorhebt, Francés Behauptung, dass „Pflanzen oder Organismen als Prototypen menschlicher Technik gesehen werden könnten, von einer objektivistischen, rationalistischen Orientierung im Gestaltungsdiskurs geprägt.“98 Moderne technische Gestaltung erscheint in seinen Schriften häufig als idealer, reiner Ausdruck der Naturgesetze: „Wie ungemein sachlich“, schreibt er, „gleichsam als eine Verkörperung des Gesetzes vom kleinsten Kraftmaß steht doch eine moderne Schnellzugslokomotive oder eine Dynamomaschine vor uns.“99 Auf den ersten Blick scheint ein solcher thermodynamisch inspirierte Funktionalismus keine Diskussion über den Stil zuzulassen. Und doch ist es vor allem die Frage nach dem Stil, die Francés biotechnische Theorien an ihre Grenzen treibt und zu erschüttern droht. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts war diese Frage in Deutschland zu einem Problem geworden, das es zu lösen galt. Möglicherweise hatte der junge Botaniker um die Jahrhundertwende die im Werkbund geführten Debatten zum modernen Stil verfolgt. Hermann Muthesius etwa setzte 1902 dem spartanischen Funktionalismus der „Baukunst“ die „Stilarchitektur“ entgegen, also die ornamentale und historisierende Mode der Zeit.100 Gleichzeitig mit der Ablehnung historischer Stile bemühte sich Muthesius – wie viele andere Werkbundmitglieder – um die Formulierung eines universellen Stils, der auf zeitlosen Prinzipien beruhen würde. Stil, bemerkte der Architekt Peter Behrens 1910, sei „nur [der] einheitliche [...] Formausdruck, den die gesamten

98  Detlef Mertins: Where Architecture Meets Biology: An Interview with Detlef Mertins, in: Joke Brouwer und Arjen Mulder (Hg.): Interact or Die!, Rotterdam 2007, S. 111–114. 99  Francé 1923 (wie Anm. 27), S. 244. Die elegante Einfachheit der anorganischen Maschine passte besonders gut zur Ästhetik der Neuen Sachlichkeit; und Alfred Renger-Patzschs erotisierte Fotografien von Generatoren und Dampfmaschinen fanden weite Verbreitung in Büchern mit Titeln wie Die Schönheit der Technik (von Franz Kollmann, München 1928). Wie Ernst Jünger 1929 verkündete: „Erst unsere Generation beginnt sich mit der Maschine zu versöhnen, und in ihr nicht nur das Nützliche, sondern auch das Schöne zu sehen.“ (Ernst Jünger: Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus der großen Schlacht, Berlin 1929, S. 81). 100  Hermann Muthesius: Stilarchitektur und Baukunst. Wandlungen der Architektur im XIX. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt, Mülheim an der Ruhr 1902.

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Geistesäußerungen einer Epoche ergaben.“101 „Eine solche Einheit“, wie Frederic Schwartz kommentiert, „wurde als Gegensatz zu einem vermeintlichen, mit einem allgemeinen Niedergang intuitiver geistiger und einem Anstieg rationaler und materieller Werte einhergehenden Kulturverfall im 19. Jahrhundert begriffen. In der Architektur und in den angewandten Künsten spiegelte sich der geistige Niedergang dieser Ansicht nach im Historismus, der endlosen Wiederholung von Elementen vorangegangener Stile der westlichen Tradition – der klassischen Antike, der Romanik, der Gotik, der (italienischen und deutschen) Renaissance, des Barock, des Rokoko, des Biedermeier – oder ihrer eklektischen Kombination.“102 Gerade diese Stilvielfalt wurde als symptomatisch für die Unentschlossenheit und das moralische Versagen der dekadenten Moderne empfunden, ein Zustand, dem die neue funktionalistische Gestaltung und der vom Werkbund propagierte Verzicht auf Ornamente Abhilfe schaffen sollte. Francé verstand seine biotechnische Theorie als Korrektiv zu früheren Ansätzen, die sich vor allem an der Natur als Quelle ästhetischer Inspiration orientierten. Sein Hauptgegner war der prominente Monist und Evolutionsbiologe Ernst Haeckel, der mit seinen mikroskopischen Studien an Radiolarien einen neuen „Stil“ in Architektur und Design anstrebte – ein Wunsch, der Jahrzehnte später mit dem Aufkommen von Jugendstil und art nouveau tatsächlich in Erfüllung ging.103 Francé seinerseits beklagte, dass „die Stilistik bisher fast immer nur rein ästhetisch-kunstwissenschaftlich betrachtet“ werde, während „nur ganz selten daran gedacht [wurde], daß [der Stil] auch zweckbedingt, durch Material und jeweilige Bauaufgabe festgelegt, ein notwendiger Ausdruck der 101  Zit. in Frederic J. Schwartz: Der Werkbund. Ware und Zeichen 1900–1914, übers. von Brigitte Kalthoff, Dresden 1999, S. 39. 102  Schwartz 1999 (wie Anm. 101), S. 39. 103  Siehe Erika Krauße: Haeckel, Promorphologie und ‚evolutionistische‘ ästhetische Theorie. Konzept und Wirkung, in: Eve-Marie Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995, S. 350. Zu Haeckels Einfluss auf Design und Architektur des Jugendstils – etwa René Binets monumentales Tor auf der Pariser Weltausstellung von 1900 – siehe ebd, S. 360–368, sowie Rosemarie Mann: Ernst Haeckel, Zoologie und Jugendstil, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 13 (1990), S. 1–11. Natürlich waren auch Haeckel Vergleiche zwischen Organismen und Maschinen nicht fremd: So schrieb er 1899: „Jede Pflanze und jedes Tier erscheinen in der Zusammensetzung aus einzelnen Teilen ebenso für einen bestimmten Lebenszweck eingerichtet wie die künstlichen, vom Menschen erfundenen und konstruierten Maschinen: und solange ihr Leben fortdauert, ist auch die Funktion der einzelnen Organe ebenso auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen Teilen der Maschine.“ (Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn 1899, 302f., zit. in Mattenklott 1981 (wie Anm. 11), S. 16).

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Leistungsgesetzmäßigkeit sein muß.“104 Francés Betonung der Zweckmäßigkeit ähnelt den Ausführungen des Zoologen Karl Semper (des Neffen von Gottfried), der 1880 behauptete, dass „alle structurellen Eigenthümlichkeiten der Thiere echte Organe seien, einem bestimmten Gebrauch einer Function dienen müssen und nicht nutzlose Ornamente sein dürfen.“105 Eine solche funktionalistische Rhetorik stand jedoch in einem grellen Gegensatz zu Francés ausgeprägt biedermeierlichem Geschmack. So kann er im selben Atemzug behaupten, dass die „Zusammenhänge zwischen dem Stil des Menschen und der Pflanze nicht künstlerische[r] Willkür, sondern innere[n] Notwendigkeiten“ entspringen, und diese – angeblich rein zweckmäßigen – Pflanzenformen als die „ursprünglichen“ Quellen vermeintlich „nutzlose[r] Ornamente“ deuten.106 Für den Biozentriker verläuft die Entwicklung von Stilen auf dieselbe ­Weise wie die der Werkzeuge nach Kapp: unbewusst, anonym und organisch. Insofern wiederholt Francé vielleicht nur, was der Restaurateur und im Stil der Neugotik arbeitende Architekt Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc bereits behauptet hatte: „Der Stil [entfaltet] sich wie eine Pflanze, die gedeiht, weil sie bestimmten Gesetzen folgt.“107 Für eine Theorie der „Biotechnik“, die darauf bestand, dass jeder Funktion eine einzige optimale Form entspreche, musste sich diese Pflanze jedoch als dornig erweisen. Indem Francé die botanische Welt für die Diskussion von Stilfragen öffnete, reproduzierte er genau jenen Eklektizismus der historistischen Entwürfe, den der Werkbund beklagte und den er selbst an Haeckels ästhetisierenden Naturbildern so vehement kritisiert hatte. So sei die Gotik, Francé zufolge, „eigentlich nichts anderes als die Über­ tragung der Formgestaltung des deutschen Buchenwaldes in Stein“108 – obwohl sie auch in der Alpen-Anemone ihren „reinen“ Ausdruck finde; der ungarische Nationalstil wiederum übersetze die Form der Tulpe.109 Der Stil bestimmt 104  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 181. 105  Carl Semper: Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, Leipzig 1880, Bd. 1, S. 19–20. 106  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 185. Siehe etwa die pflanzlichen Muster für historische Stile, die ebd. S. 183 abgebildet sind. Für einen früheren Versuch, die „ornamentale Schönheit“ von Pflanzen zu begründen, siehe Martin Möbius: Über nutzlose Eigenschaften an Pflanzen und das Prinzip der Schönheit, in: Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 24 (1906), S. 5–12. 107  Eugène Viollet-le-Duc: Definitionen. Sieben Stichworte aus dem „Dictionnaire raisonné de l’architecture française du Xle au XVIe siècle“, übers. von Marianne Uhl, Berlin u.a. 1993, S. 142. 108  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 184. 109  Wie er schreibt, ist „grade die Gotik […] der ausgesprochen ‚vegetabile Stil‘, nicht nur in den Einzelmotiven, sondern auch in seiner Gesamtwirkung.“ (Francé 1919, wie Anm. 18, S. 184); vgl. ebd. S. 128. Francé identifiziert den gotischen Baustil häufig mit dem „nordischen“

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8|  O. T., in: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919.

jedoch nicht nur den Organismus in seiner Ganzheit, sondern in jedem einzelnen seiner Teile, bis hin zum „Unterstock der histologischen Bildungen“110. So wird das Gefäßbündel eines Farnstammes zum Vorbild für den romanischen Stil erklärt (Abb. 8) – auch wenn Francé an anderer Stelle behauptet, dass dasselbe Gefäßbündel „reinste Gotik atmet“111. Genau wie „jedes Haus, jeder Bauteil eigentlich seinen Sonderstil haben kann und muß“, so trage auch jedes Organ der Pflanze einen eigenen Stil; und wie ein Künstler oder Architekt kombiniere die Pflanze diese verschiedenen „Organstilmotive“ zu einem harmonischen und „ästhetisch hochbefriedigende[n] Zusammenschluß.“112 Die Möglichkeiten sind anscheinend grenzenlos: „vom Menschen noch unverwirklichte Stile sind beschlossen in den Pilzkörpern, dem Algenthallus, den Wald; vgl. ders.: Die Kultur von Morgen. Ein Buch der Erkenntnis und der Gesundung, Dresden 1922, S. 123–127. Ähnliche Vorstellungen gab es schon vor der Jahrhundertwende. Für den populärwissenschaftlichen Schriftsteller Ernst Krause etwa sind „die Schnörkel der Barockzeit, für welche die Unsymmetrie gleichfalls Lebensluft war, direkte Abkömmlinge des Araceen-Geranks.“ (Carus Sterne [=Ernst Krause]: Natur und Kunst. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Kunst, Berlin 1891, S. 171). 110  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 185. 111  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 185. 112  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 182.

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9|  O. T., in: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919.

Moosstengeln.“113 Die Natur, jenes „Freilichtmuseum“, wird so zu einem endlosen rekombinatorischen Reservoir ästhetischer Formen. Francés Begeisterung für den Stil im Pflanzenreich stellte seinen radikal anpassungsorientierten Ansatz ernstlich in Frage. Obwohl er die Zahl der technischen Formen auf sieben Grundformen eingeschränkt hatte, stieß er immer wieder auf einen überwältigenden Überschuss an ‚optimierten‘ Formen, die nahezu identischen Funktionen entsprechen. So interpretiert er eine Klasse von Süßwasseralgen, die sich mit Hilfe von peitschenden Geißeln fortbewegen, als Vorläufer der Turbine (Abb. 9). Doch während „wir Menschen […] kaum ein Dutzend Turbinentypen [haben]“, gibt es „32 Gattungen von Peridineen mit etwa 160 Arten“, von denen jede „das gleiche oft rätselhafte Prinzip auf andere Weise [variiert].“114 Weit davon entfernt, Sparsamkeit zu erzwingen, scheint die Natur einen verschwenderischen Exzess zu begünstigen. Der Chemnitzer Professor Arthur Mendt betonte diesen Punkt 1933 mit Verweis auf Die technischen 113  Francé 1919 (wie Anm. 18), S. 185–186. 114  Francé 1920 (wie Anm. 17), S. 34.

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Leistungen der Pflanzen: „Der Haushalt der Natur kann sich Verschwendungen leisten, die ungeheuer sind; er kann all seine höchst zweckmäßigen Erfindungen ‚sinnlos‘ wuchern oder vernichten lassen. Solches ahnen zu lassen, wäre der eigentliche Bildungswert der Biotechnik.“115 Diese Erkenntnis war nun aber, ob gewollt oder nicht, in Francés Exkurs über den Pflanzenstil implizit angelegt. Keineswegs war der von der Natur ausgeprägte Stil also der reinste Ausdruck des Funktionalismus. Vielmehr zeugt er von der Unabhängigkeit der organischen Form gegenüber der Funktion in der Kunst und im Leben gleichermaßen. Im Jahr 1920, dem Erscheinungsjahr von Die Pflanze als Erfinder, veröffentlichte der Botaniker Karl von Goebel eine empirische Abhandlung über die Entfaltungsbewegungen der Pflanzen, in der er die anpassungstheoretische Stoßrichtung von Haberlandts neuer darwinistischer Botanik abzuwehren suchte: Die Pflanzenform, so argumentiert Goebel, sei nicht reduzierbar auf Zwecke. Im Gegenteil: „Überhaupt sind viele scheinbar besonders zweck­ mäßige ‚Anpassungen‘ nichts als Korrekturen einer an sich unzweckmäßigen Gestaltung.“116 Im gleichen Sinne bemerkte der Biologe Ludwig von Bertalanffy 1937, dass es unter dem Gesichtspunkt der Funktion gleichgültig ist, ob eine Blattform „rund, oval, lanzettlich, gezackt, gesägt“ usw. ist: „In diesen grundlegenden, morphologischen Besonderheiten scheinen sich also verschiedene ‚Stiltypen‘ der Organismen auszusprechen, die an sich mit Nützlichkeit nichts zu tun haben, sich aber jedesmal mehr oder minder gut den verschiedensten Lebenssituationen anzupassen vermögen — so ähnlich, wie man im gotischen, Barock- oder Rokokostil bauen und in jedem dieser Stile Gebäude für die verschiedensten Zwecke, Kirchen, Rathäuser, Schlösser usf. errichten kann.“117 In der Vervielfältigung der natürlichen Formen, fährt er fort, „scheint sich ein gewisses ästhetisches Prinzip in der Natur zu verraten“118, wenn auch eines,

115  Mendt 1933 (wie Anm. 65), S. 57 116  Karl Goebel: Die Entfaltungsbewegungen der Pflanzen und deren teleologischen Deutung, Jena 1920, S. 142. Goebel hatte bereits in den 1890er Jahren ähnliche Ansichten entwickelt und zahlreiche botanische Beispiele angeführt, in denen „ein Organisationsplan genauso gut ist wie ein anderer und die Verwirklichung des einen oder des anderen unabhängig von Umweltfaktoren ist.“ (Cittadino 1990, wie Anm. 44, S. 131). 117  Ludwig von Bertalanffy: Das Gefüge des Lebens, Leipzig 1937, S. 171. Bertalanffy erwähnt Francé und die Psychovitalisten in seinem Artikel: Eduard von Hartmann und die moderne Biologie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 38 (1928), S. 158. 118  Bertalanffy 1937 (wie Anm. 117), S. 172. In einem berühmten Artikel aus dem Jahr 1979 kritisierten der Paläontologe Stephen Jay Gould und der Biologe Richard Lewontin „die nahezu allmächtige Wirkung der natürlichen Selektion beim Formen von organischem Design und

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das durch morphologische Gesetzmäßigkeiten eingeschränkt ist. Aus dieser Perspektive scheint Francés Lehre von den „technischen Grundformen“ weniger mit dem Funktionalismus an sich übereinzustimmen als mit Goethes morphologischem Begriff des „Typus“ oder der architektonischen Tradition der Typologie.119 Es ist bezeichnend, dass Bertalanffy, der spätere Stammvater der allgemeinen Systemtheorie, sich einen Großteil seiner frühen Karriere darauf konzentriert hatte, über Kunst und Ästhetik zu schreiben.120 Letztlich war die Biotechnik der Ästhetik vielleicht doch mehr verpflichtet, als ihr Begründer wahrhaben wollte. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für eine technische „Nachahmung der Natur“, das in Die technischen Leis­ tungen der Pflanzen angeführt wird, ist der gotische Pilaster, von dem es heißt, er sei das zweckmäßigste Mittel, um das Gewicht der Außenwand mit einem Minimum an Materialaufwand zu tragen (Abb. 10a). Nach Francés Darstellung hatten die mittelalterlichen Architekten die Pilasterform unbewusst von den Kieselalgen entlehnt (Abb. 10b). Doch eine Vergleichbarkeit liegt hier eher im Bereich der visuellen Erscheinung als in der Funktion, denn Francés fotografische Gegenüberstellung von gotischem Bauwerk und mikroskopischem Organismus blendet wesentliche Unterschiede im Maßstab wie im Zweck aus. Eine Kieselalge ist nicht so gebaut, dass sie ein Gewicht wie ein Pfeiler tragen kann; das muss sie auch nicht, denn im Vergleich zur Kraft der Oberflächenspannung beim Gestalten der besten aller möglichen Welten“ und stellten fest, dass „Arten verwandter Organismen oder Subpopulationen innerhalb einer Art oft unterschiedliche Anpassungen als Lösungen für dasselbe Problem entwickeln. Wenn ‚multiple adaptive peaks‘ besetzt sind, haben wir normalerweise keine Grundlage für die Behauptung, dass eine Lösung besser ist als eine andere.“ – Stephen Jay Gould und Richard Lewontin: The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm. A Critique of the Adaptationist Programme, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 205 (1979) Heft 1161, S. 584 und S. 593. Sie betonen stattdessen die Rolle, die u.a. formale und materielle Constraints in der Evolution spielen – was der Paläontologe Adolf Seilacher ‚bautechnische‘ Lizenzen genannt hat; ebd., S. 595. Zur Neudefinition der Form als architektonische Konstruktion, siehe auch Tamborini 2020 (wie Anm. 27), S. 730. Für eine Kritik an architektonischen Metaphern in der Evolutionsbiologie, siehe Alasdair I. Houston: San Marco and Evolutionary Biology, in: Biology & Philosophy, 24 (2009), Heft 2, S. 215–230. 119  Zum Typenkonzept bei Cuvier, Semper, Goethe und Viollet-le-Duc siehe Steadman 2008 (wie Anm. 18), S. 54–70. 120  Zum Beispiel: Expressionismus und Klassizismus, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1924), S. 334–338; Die Entdeckung des Raumes, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 20 (1926), S. 307–311; Rezension zu: Max Dworzak, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 20 (1926), S. 375–381; Rezension zu: J. Strzygowski, Die Krisis der Geisteswissenschaft, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 22 (1928), S. 213–220. Francé ist als Vorläufer der Systemtheorie bezeichnet worden; siehe Franz Pichler: The Contribution of Raoul H. Francé: Biocentric Modeling, in: Peter Weibel (Hg.): Beyond Art. A Third Culture, Wien 2005, S. 371.

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10a–10b|  O. T., in: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919.

ist die Wirkung der Schwerkraft auf mikroskopische Körper fast unbedeutend.121 Während er also Ingenieuren und Architekten ihre Unkenntnis der Botanik vorwirft, macht sich Francé seinerseits schuldig, die Grundlagen der 121  Siehe John B. S. Haldane: On Being the Right Size, in: ders.: Possible Worlds and Other Papers, New York 1928, S. 20–28, bes. S. 21–22; und zuletzt auch John T. Bonner: Why Size Matters. From Bacteria to Blue Whales, Princeton 2006.

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Physik zu ignorieren: nämlich die Regel, dass „eine isomorphe Änderung der absoluten Abmessungen einer Struktur auch ihr mechanisches Verhalten beeinflusst.“122 Francés Nachweis der pflanzlichen Herkunft der gotischen Architektur scheitert damit sowohl im Hinblick auf die Mechanik (er ignoriert die Auswirkungen der unterschiedlichen Maßstäbe) als auch hinsichtlich der funktionalen Aspekte (deren wesentliche Unterschiede er übergeht). Was in diesem Scheitern sichtbar wird, ist die Künstlichkeit der ‚natürlichen‘ Gesetze, deren Regeln nicht zuletzt das menschliche Subjekt unbewusst folgen müsste.

VII. Ausnahmen von der Regel Hannah Höchs Gemälde „Gewächse“ von 1928 könnte ein ironischer Kommentar zu Francés Die Pflanze als Erfinder sein, das sie durch ihre Freunde Raoul Hausmann oder László Moholy-Nagy hätte kennenlernen können (Abb. 12). Die titelgebenden Gewächse sind mit einem Gewirr von bunten, aufkeimenden Maschinen verschmolzen und füllen die Ränder des horizontlosen Bildraumes mit ihrem chaotischen Wuchern. In ihrem Text für eine Ausstellung in Den Haag, in der dieses Gemälde 1929 zum ersten Mal gezeigt wurde, äußert Höch ihren Wunsch, „die festen Grenzen aus[zu]wischen, die wir Menschen mit einer eigensinnigen Sicherheit um alles, was in unseren Bereich kam, gezogen haben. Ich male, um diesem Wunsch Form zu geben und um ihn anschaulich zu machen.“123 Ganz anders als Francés fotografische Gegenüberstellungen von Fotographien vermag Höchs Malerei, pflanzliche und technische Formen vollständig miteinander zu assimilieren. Doch diese visuelle Synthese dient nur dazu, ihre Unterschiede und ihre gegenseitige Unreduzierbarkeit umso deutlicher zu unterstreichen. Ob sie nun Francés pflanzliche Erfinder vor Augen hatte oder nicht, Höchs unheimliche Vision wimmelnder, mechanischer Pflanzen zielt auf keine Harmonie zwischen Natur und Technik, sondern treibt vielmehr die ihrem Unterschied innewohnende Dissonanz hervor. Als die Avantgarden vor einem Jahrhundert Francé lasen, geschah dies, um technische Lösungen für das zu finden, was sie als Entfremdung der modernen Gesellschaft von der Natur empfanden. In einer Zeit, in der die 122  Volker Mosbrugger: The Tree Habit in Land Plants. A Functional Comparison of Trunk Constructions with a Brief Introduction into the Biomechanics of Trees, Berlin 1990, S. 4. Interessanterweise haben spätere Botaniker Schwendener und Francé gleichermaßen für diesen Fehler kritisiert; siehe Wladimir Rasdorsky: Die Baumechanik der Pflanzen, in: Biologia Generalis 5 (1929), S. 48–104, hier S. 63. 123  Einladung und Katalog zur Ausstellung von Hannah Höch in der Galerie De Bron, Den Haag, 11. Mai–7. Juni 1929. Inventarnummer BG-HHC D 520/79, Nachlass Hannah Höch, Berlinische Galerie, Berlin, hg. von Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf 2002.

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11|  Hannah Höch: Gewächse, 1928, Öl auf Leinwand, 100 × 120 cm, Gelsenkirchen, Städtisches Museum Gelsenkirchen, Inv. I b 66/18.

Abhängigkeit der menschlichen ‚Kultur‘ von der nicht-menschlichen ‚Natur‘ immer deutlicher zutage tritt, stößt sein Werk aus ganz unterschiedlichen Gründen wieder auf Interesse. So stand die zukunftsweisende, von Francé in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Annie Francé-Harrar entwickelte Bodenökologie im Mittelpunkt einer vor zwei Jahren in Berlin gezeigten Ausstellung zu den „Archäologien der Nachhaltigkeit“ in der Ökopolitik des 20.  Jahrhunderts.124 Auch seine Theorie der Biotechnik hat in letzter Zeit eine philoso­ phische Wiederentdeckung erlebt. In einem kürzlich erschienenen Artikel würdigte der Wissenschaftshistoriker Marco Tamborini Francé als einen wegweisenden Denker der Morphogenese, der auf einen metaphysischen Formbegriff zugunsten eines Verständnisses von zweckgerichteter Organisation als Konstruktion verzichtet habe.125 Gleiches gilt für die dem Botaniker verpflichteten Avantgarden, jene künstlerische Strömung, die Mertins treffend als

124  Die Ausstellung Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne fand vom 16. August—27. Oktober 2019 im Botanischen Museum Berlin, der neuen Gesellschaft für bildende Kunst, und in der Nachbarschaftsakademie im Prinzessinnengarten Kreuzberg statt. Siehe Sandra Bartoli u.a. (Hg.): Licht Luft Scheiße – Perspektiven auf Ökologie und Moderne, Ausst.-Kat., Hamburg 2020. 125  Tamborini 2020 (wie Anm. 27), S. 730.

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„bioconstructivism“126 bezeichnet hat. Obwohl Francé damit als Vorläufer der zeitgenössischen Disziplin der Bionik gelten darf und verschiedene Forschungen zur Biomimikry vorgenommen hat, ist sein biotechnischer Gedanke selten im größeren Rahmen seines biozentrischen Denkens untersucht worden. Die Zukunft, die Francé sich vorstellte, war verführerisch, aber keineswegs harmlos. Die biopolitischen Implikationen seiner Biotechnik auszublenden, hieße nicht nur, ihre Einbettung in die Diskurse der damaligen Zeit zu übersehen; es würde auch bedeuten, sich der Möglichkeit zu begeben, sie in einem angemessenen Verhältnis zur gegenseitigen Durchdringung von Leben und Technologie in unserer Zeit zu denken. Wenn die Avantgardisten der Zwischenkriegszeit die ersten waren, die sich für die Biotechnik einsetzten, so waren sie auch unter den ersten, die sie kritisierten. Der Dadaist Raoul Hausmann, der zuvor in Anlehnung an Francé eine sogenannte „Kosmobiotechnik“ vertrat, unterzog sein Buch Die Kultur von morgen 1924 einer harschen Kritik und bezeichnete den Botaniker als kleinbürgerlichen Misanthropen und aufgeblasenen Schulmeister, der sich für einen Erneuerer der Menschheit halte. Hinter der Rhetorik der „Harmonie mit dem Ganzen“ erkannte Hausmann voller Scharfsinn die impliziten Prämissen, die der von Francé prophezeiten Zukunft der deutschen Kultur zugrunde lagen: „Ausscheidung der Fremdideen, organische Arbeitsgliederung im Innern des Volkes, Ausscheidung des Blutfremden durch organische Rassenhygiene.“127 Es ist angesichts ihrer politischen Problematik und ihrer inneren Widersprüchlichkeit bezeichnend, dass Francés Theorien jene Künstler und Architekten am meisten prägten, die sie nicht buchstäblich übernahmen, sondern für ihre Zwecke neu interpretierten. Selbst El Lissitzky – neben Moholy-Nagy wohl der am meisten von Francé inspirierte Künstler – sah sich gezwungen, Elemente von dessen Lehren zu verändern. Er kopierte Passagen aus Bios in sein Tagebuch und schrieb den Text in einer Weise um, die die deterministische Deutung des Wissenschaftlers umkehrte. „Nicht die ‚Welt‘ ist Mechanik“, hatte Francé geschrieben, „sondern Mechanik ist nur die Regelung der Weltfunktionen [...].“128 Bei Lissitzky lautet dieser Satz jedoch: „Die Kunst wie die Welt sind nicht Mechanik; die Mechanik ist nur die Regelung der Funktionen der Teile im Ganzen.“129 Die Kunst stellt in Lissitzkys reformulierender Lektüre also keinen Teil des Weltganzen dar, sondern eine entscheidende Ausnahme

126  Detlef Mertins: Bioconstructivisms, in ders.: Modernity Unbound, London 2011, S. 170. 127  Raoul Hausmann: Intellektualismus, Gesellschaft und Gemeinschaft, in: Die Aktion 13 (1923), Heft 25/26, col. 348. 128  Francé 1923 (wie Anm. 19), S. 140. 129  El Lissitzky: Proun und Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente, hg. von Sophie Lissitzky-Küppers und Jen Lissitzky, Dresden 1977, S. 14; vgl. Nisbet 1995 (wie Anm. 54), S. 184– 186.

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von der Gesetzmäßigkeit der über die Natur waltenden Mechanik. Ironischerweise scheint Francés eigene Diskussion über Stil und Funktion in der Pflanzenwelt dieselbe Ansicht zu bestätigen – eine Ansicht, nach der die Natur, wie die Kunst, letztlich aus Ausnahmen von der Regel besteht.

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Technologie im Sinne Leonardos? Zum Begriff einer organischen Mechanik bei Joseph Beuys1

„Ich habe gesagt, ich mache so eine Leonardo-Sache und ich stelle mir vor, wie Leonardo heute Technologie zeichnen würde, wenn er jetzt lebte. So simpel habe ich das gesagt, und habe das tatsächlich auch versucht in der Kürze der Zeit, in den einzelnen Zeichnungen, so weit es geht, sichtbar zu machen.“2 Mit diesen Sätzen kommentiert Beuys die Entstehung seiner Zeichnungen zu Leonardos Codices Madrid, die 1975 als Buch-Multiple in einer Auflage von eintausend Exemplaren mit Faksimiles von einhundert Zeichnungen erschienen, die zwischen den imitierten Pappdeckeln eines Schulaufsatzheftes gebunden wurden.3 „Wie Leonardo heute Technologie zeichnen würde“ – Beuys’ scheinbar lapidarer, gleichwohl mit einem gewaltigen Anspruch verbundener Satz öffnet eine Fülle von möglichen Bedeutungsebenen. Indem Beuys sich als einen im Geiste Leonardos Handelnden bezeichnet, verfährt er nach einer für ihn typischen Strategie der ‚Beauftragung‘ durch historische Persönlichkeiten bzw. verwandte Geister, unter denen an erster Stelle Rudolf Steiner und James Joyce zu nennen sind – aber eben auch Leonardo da Vinci, auf dessen Werk

1  Dieser Beitrag ist das überarbeitete Manuskript eines Vortrags im Rahmen der Tagung: Renaissance der Moderne: Duchamp, Leonardo, Beuys, Schwerin, 8. und 9 September 2017, Staatliches Museum Schwerin und Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg, Konzeption: Prof. Dr. Frank Fehrenbach, Dr. Gerhard Graulich, Dr. Kornelia Röder. 2  Joseph Beuys im Gespräch mit Martin Kunz, in: Joseph Beuys. Spuren in Italien, Ausst.Kat. (Kunstmuseum Luzern), Luzern 1979, unpag. 3  Es war also kein Faksimile eines Skizzenbuches, das Beuys tatsächlich benutzt hatte, sondern einem solchen nachgebildet; das Original, ein schwarz-weiß marmoriertes Schulaufsatzheft, hatte Caroline Tisdall in New York gekauft. Es befindet sich im Nachlass und enthielt mehrere der Zeichnungen, die in die Codices Madrid-Serie aufgenommen wurden. Vgl. Ann Temkin: Joseph Beuys Codices Madrid, in: Lynne Cooke und Karen Kelly (Hg.): Joseph Beuys. Zeichnungen zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzenbüchern „Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci, New York u. a. 1998, S. 13–29, S. 21, Anm. 33.

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und Weltbild er sich Zeit seines Lebens immer wieder bezogen hat. Im universalen Anspruch einer neuerlichen Synthese von künstlerischer und wissenschaftlicher Weltaneignung wurde Leonardo früh zu einer Identifikationsfigur mit modellhafter Funktion. Beuys verortete sich mit seinem erweiterten Kunst- und Wissenschaftsbegriff quasi antipodisch in einer vergleichbaren historischen Schwellensituation. In einem Interview aus dem Jahr 1979 antwortet Beuys auf die Frage, welche Bedeutung Leonardo da Vinci für ihn heute habe: „Eine sehr große. Er ist ja immer für mich eine wichtige Persönlichkeit gewesen, weil er ja auch in so einer historischen Situation gelebt hat, die den Blick in seiner Person nach zwei Seiten gerichtet hatte. Einerseits ist Leonardo einer der allerersten Menschen, die die technologische Entwicklung eingeleitet haben, also eine analytische Methodik besaßen, die später aufgegriffen wurde von Galilei und radikaler wird, aber er hatte gegenüber Galilei natürlich noch die Fähigkeit, in die ganzen mythologischen Zusammenhänge zu schauen. Diese Zweiseitigkeit hat mich sehr interessiert, die ganz komplexe, ganzheitliche Figuration hat mich fasziniert, ebenso die Vereinbarkeit von Kunst und Wissenschaft. Da liegt ein Modell vor in Leonardo.“4 Beuys begann im Sommer 1974 ernsthaft an den Zeichnungen zu arbeiten, nachdem Anfang des Jahres der amerikanische Verlag McGraw-Hill eine Faksimileausgabe von Leonardo da Vincis Codices Madrid genannten Skizzenbüchern veröffentlicht hatte, die 1965 in der Nationalbibliothek in Madrid entdeckt wurden. Obgleich ein direkter Vergleich von Leonardos Codices und den Zeichnungen von Joseph Beuys in Motiv oder Form ergebnislos bleiben muss, konditioniert die Tatsache, dass die Zeichnungen ausdrücklich zu den Codices Madrid geschaffen wurden, von vornherein den Blick des Interpreten, so dass es eigentlich keine Betrachtung des Buch-Multiples ohne Leonardo geben kann. Wir sehen uns einem Zwiegespräch gegenüber, das Beuys helfen konnte, seine eigene Position zu schärfen und seinen revolutionären Impetus zu verdeutlichen. In der behaupteten Engführung von künstlerischer und ‚technischer‘ Zeichnung – Technologie, gezeichnet im Sinne eines heute lebenden Leonardo – wird ein für Beuys zentrales Thema zum Hauptanliegen des Buches gemacht: die Reflexion und für ein zukunftsfähiges Bewusstsein notwendige Erweiterung einer quantitativ-materialistischen Sichtweise der Welt, die Beuys in die Formel des erweiterten Kunst- und Wissenschaftsbegriffs fasste. Indem der Künstler explizit von ‚Technologie‘ spricht, betont er nicht nur das Erkennen von Zusammenhängen, sondern auch den Umgang des Menschen mit seiner 4  Beuys u. a. 1979 (wie Anm. 2), unpag.

Technologie im Sinne Leonardos?

Umwelt; greifen doch Technik und Technologie eben dort ein, wo sich der Mensch um Dienstbarmachung, instrumentelle Beherrschung und Veränderung der Natur bemüht. Beuys‘ Kritik gilt vor allem der materialistischen Grundhaltung, die zu einer Entfremdung zwischen Mensch und Objekt geführt hat.5 Mit seinem Hinweis auf Technologie trägt er möglicherweise auch der Tatsache Rechnung, dass der erste Codex eine traktatartig angelegte Darstellung mechanischer Probleme ist, im Grunde also der Versuch einer mechanischen Elementarlehre. Dass wir im Folgenden unser Augenmerk auf den Begriff der „organischen Mechanik“ richten, hat nicht zuletzt mit dieser dezidierten Themenstellung zu tun. Sie führt in zentrale Ideen von Beuys‘ Werk hinein, trifft aber auch sozusagen ins Zentrum einer technikphilosophischen Kritik der Mechanisierung des Weltbildes seit dem 17. Jahrhundert, die für Beuys’ morphologisches Geschichtsbild so wichtig war. Der Idee einer „organischen Mechanik“ soll zuerst anhand einiger ausgewählter Zeichnungen von Beuys’ Codices Madrid-Buches nachgegangen werden, um sie dann in weiteren Werkzusammenhängen zu verfolgen. Der Begriff findet sich auf Seite 87 des Büchleins, in einer diagrammatischen Zeichnung kombiniert mit weiteren Begriffen sowie Darstellungen ineinander verschränkter kreis- und ellipsenförmiger Elemente, die an Planetenbahnen oder auch an Molekülstrukturen erinnern. (Abb. 1) Die hier auftauchenden Termini erinnern an wissenschaftliche Prozessbeschreibungen: „Wiederholungselemente“, „Implosionen höheren Grades“, „Ausstrahlungen“, „Ströme“ und „Veränderungselemente“ adressieren verschiedene dynamische Energieformen, während im oberen Teil der Zeichnung den ineinander verschränkten Kreisformen synthetisierende Begriffe zugeordnet sind: „organische Mechanik“, „Kreiszustände“ und „Balance“. Die Zeichnung ist Teil eines thematisch zusammenhängenden Blocks innerhalb des Buches, der sich in oft enger Verschränkung von begrifflicher und zeichnerischer Demonstration jener für Beuys so zentralen Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlicher Methodik widmet.6

5  In der für diesen thematischen Komplex höchst aufschlussreichen „Abendunterhaltung“ mit Hamburger Wissenschaftlern und Journalisten wird deutlich, dass Beuys‘ Forderung nach Reflexion wissenschaftlicher Methodik weniger auf Wissenschaftstheorie als vielmehr auf konkrete Lebenswirklichkeit zielt. Auf das Argument des Physikers Thomas von Randow, dass sich in der Quantenphysik Materie als Immaterielles erweise, Naturwissenschaft also durchaus existenzielle Grundfragen stelle, erwidert Beuys, diese Erkenntnisse hörten jedoch im Leben der Menschen auf. Vgl. Peter Schata (Hg.): Documente No. 1 – Abendunterhaltung. Joseph Beuys im Gespräch mit Hamburger Journalisten und Wissenschaftlern am 5. März 1977, Achberg 1977, S. 6. 6  Vgl. hierzu Magdalena Holzhey: Im Labor des Zeichners. Joseph Beuys und die Naturwissenschaft, Berlin 2009, S. 81–83.

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1|  Die Abbildungen sind entnommen aus: Joseph Beuys, Zeichnungen. Zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzen­ büchern „Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci, manus presse 1975, unpag., Ex. 7/1000, Kunstmuseen Krefeld.

„Organische Mechanik“ könnte auch als Aufgreifen eines kombinatorischen Prinzips verstanden werden, wie es vor allem in Novalis’ Versuch einer synthetisierenden Totalwissenschaft mit Begriffen wie „geistige Physik“ Anwendung fand.7 Gerade die paradoxe Logik8 des Begriffes mag jedoch ein weiteres Beispiel für die ‚Zweiseitigkeit‘ liefern, die Beuys in Leonardo konstatiert. Er verweist direkt auf eine Verknüpfung mechanistischer mit organismischen bzw. morphologischen Auffassungen, die im Denken Leonardos noch möglich waren.9 Erst Galilei markiert nach Beuys endgültig die Schwelle, an der eine mathematisierte, mechanisierte Wirklichkeitsauffassung das organische Naturverständnis ablöst; eine Wissenschaft entsteht, die nicht mehr dem sinnlichen Erleben entspricht und somit Mensch und Natur, Subjekt und Objekt voneinander trennt.10 Mit der zweckgerichteten Technik kann die Welt als komplett 7  Vgl. Theodora Vischer: Beuys und die Romantik, Köln 1983, S. 41ff. 8  Zur Verwendung der paradoxen Logik bei Beuys siehe: Armin Zweite: Zeige deine Wunde. Das Münchner Environment von Joseph Beuys, in: Städtische Galerie im Lenbachhaus München (Hg.): Joseph Beuys. Zeige deine Wunde, München 1980, unpag. 9  In diesem Sinne bezeichnet Frank Fehrenbach das Weltbild Leonardos auch als eine „historisch folgenreiche Übergangsstelle“, vgl. Frank Fehrenbach: Vorwort, in: ders. (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 9. 10  Vgl. Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1976, S. 872f. Rudolf Steiner stellt am Beispiel von Galileis Fallgesetzen dar, wie

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mess- und objektivierbar gesehen werden. Im Zuge der Mechanisierung des Weltbildes verliert auch die Leibmetaphorik an Bedeutung. An ihre Stelle tritt die Vorstellung, der Körper, abgetrennt vom erkennenden Geist bzw. der Seele, funktioniere rein nach den Gesetzen der Mechanik.11 Leonardo da Vinci scheidet zwar spekulative Metaphysik und wissenschaftliche Naturbeobachtung streng voneinander. Gleichzeitig jedoch fehlt es in seinen Schriften nicht an Äußerungen über die Beseeltheit alles Lebendigen, dessen Vollkommenheit von menschlichen Werken nicht erreicht werden kann. „Vor diesem Hintergrund“, schreibt die Philosophin Anne Eusterschulte, „ist die Frage, ob sich mit diesem Naturbegriff ein organismisches oder ein mechanistisches Denken verbinde, möglicherweise so gar nicht zu stellen.“12 Joseph Beuys wird dieses in der aktuellen Forschung diskutierte Problem in seiner Beschäftigung mit Leonardo möglicherweise intuitiv erfasst und als ‚Zweiseitigkeit‘ begriffen haben, mit Tendenzen, die einerseits objektivierend sind und andererseits vorwissenschaftlich und naturmythisch anmuten. Die Frage deutete bereits Anny E. Popp in ihrem – in Beuys’ Besitz befindlichen – Buch von 1928 an. Einerseits stellt sie Leonardos Bewegungsstudien als Erforschung des Lebens dar, welches mit mechanischen Termini als Arbeit der Natur in den Lebewesen, als „Bewegungsmaschine“, aufgefasst wird, und beschreibt andererseits seine Vorstellung von der Erde als Lebewesen, das im bildhaften Denken der Renaissance als Analogon zum menschlichen Körper begriffen wird.13 Eine vergleichbar ambivalente Terminologie findet sich selbst im ersten Band der Codices Madrid, der vor allem die rationale Seite Leonardos repräsentiert. Leonardo spricht hier von der Erde als „tereste machina“, als Erdmaschine, deren Mittelpunkt er als Gravitationszentrum begreift, von dem aus unsichtbare Linien zu den Mittelpunkten der Körper führen; gleichzeitig bezeichnet er den Mittelpunkt jedes Körpers als „anima de‘ pesi“ (CM I 146r), als Seele der Gewichte. Leonardos Zweiseitigkeit zeigt sich folglich besonders in seiner Auffassung einer belebten respektive mechanisierten Natur, und Joseph Beuys konnte offensichtlich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, mit

sich die physikalische Erkenntnis vom Erleben des Menschen löst. Siehe: Rudolf Steiner: Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung (GA 326), Dornach 1972, S. 102–113. 11  Unter einem bestimmten, verengenden Blickwinkel kann Leonardos „Erfahrungswissenschaft“ also als „prototypisch für die Veränderung neuzeitlicher Naturauffassung betrachtet werden“, vgl. Anne Eusterschulte: Organismus versus Mechanismus. Zur Rolle mechanomorpher Modelle in Naturkonzepten der frühen Neuzeit, in: Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 97–135, S. 114f. 12  Eusterschulte 2002 (wie Anm. 11), S. 113. 13  Anny E. Popp: Leonardo da Vinci. Zeichnungen, München 1928, S. 10 und S. 13.

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seiner Verbindung von Organismus und Mechanismus an diese Ambivalenz des Renaissancekünstlers besonders fruchtbar anknüpfen. Auf Seite 18 seines Codices Madrid-Buches ist einem liegenden, mehrfach umhüllten Körper „lebendige Wärme“ einbeschrieben – im Gegensatz zum Begriff „tote Wärme“ im oberen Abschnitt. Beuys spielt auf seinen Wärmebegriff als zentrales plastisches Prinzip an, das menschliche Wärme als „evolutionäre Wärme“ oder „Liebessubstanz“ fasst.14 (Abb. 2 und 3) Denkbar ist auch, dass er hier einer Unterscheidung Rudolf Steiners folgt, der die Wärme im Erdinneren als lebendige, als „innerliches Lebensprinzip“, die Wärme oberhalb des Erdbodens als tote Wärme bezeichnete.15 Das Bild des umhüllten, quasi mumifizierten Körpers, von dessen Kopf- und Fußende Energie ausgeht, erinnert an die Aktion Der Chef/The Chief, die Beuys 1964 über mehrere Stunden in der Galerie René Block durchführte. Beuys war dabei vollständig von einer Filzrolle umwickelt, zu Häupten und zu Füßen je ein toter Hase, und stieß Laute aus, die durch akustische Vorrichtungen wie Mikrophon und Verstärker für die Zuschauer übertragen wurden und dem Röhren eines Hirsches oder der Trägerwelle einer Radioübertragung, also einem elektrischen Impuls des SenderEmpfänger-Prinzips, entsprechen sollten. Der Körper als Energiespeicher und Sender, Natur und technisches Gerät verbinden sich zu einer Kraftquelle. Entsprechend breiten sich auf der Zeichnung vom Körper zwei Kraftfelder in Form parallel laufender Pfeile aus, die die Richtung des Energieflusses anzeigen. Ein technisch anmutendes Gerät unterhalb des Körpers bündelt die Ströme. Vom Kopf aus fließt von rechts in kurzen parallelen Pfeilen einer der Energieströme in den zylinderförmigen Apparat hinein. Auf ihn trifft im rechten Winkel der vom Fußende des Körpers ausgehende Strom, der sich vorher über mehrere Kraftfelder verbreitet. Er wird zusätzlich gelenkt und verstärkt von einem Schlitten, einem von Beuys oft verwendeten Motiv der Energieerzeugung und des -transports. Der technische Apparat greift die Typologie eines magnetohydrodynamischen Generators auf, eines Gerätes zur Energieerzeugung, das Wärme in elektrischen Strom verwandelt. Aufgebaut nach dem Induktionsgesetz, d. h. der Fähigkeit eines magnetischen Feldes, in anderen Körpern Ladung hervorzurufen, wird hier ein leitfähiges Gas verwendet, das mit hoher Temperatur und großer Geschwindigkeit durch den Kanal des Generators gepresst wird.16 Die

14  Vgl. dazu ausführlich Dieter Koepplin: Joseph Beuys in Basel, Bd. 1: Feuerstätte, Basel u. a. 2003, S. 56f. 15  Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft (GA 327), Dornach 1979, S. 48. 16  Zu dieser technischen Aufschlüsselung sei angemerkt, dass sich eine Vielzahl solcher konkreter physikalischer und chemischer Bezüge in Beuys‘ Werk nachweisen lässt, vgl. Holzhey 2009 (wie Anm. 6), insbes. S. 88–134.

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2|  Joseph Beuys: Zeichnungen. Zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzen­ büchern „Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci, 1975.

3|  Joseph Beuys: Zeichnungen. Zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzen­ büchern „Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci, 1975.

physikalische Komponente der Zeichnung wird noch deutlicher, liest man die beiden Seiten des Multiples als einander ergänzende Darstellungen. Die Zeichnung auf der gegenüberliegenden Seite nähert sich einer naturwissenschaftlichen Skizze an, die die Anordnung der Feldlinien um einen Stabmagneten anzeigt.17 (Vgl. Abb. 3/oben.) Auf die nebenstehende Zeichnung übertragen, wäre zu argumentieren, dass Energie – sowohl in Form des Wärmeflusses wie als Magnetfeld – vom liegenden Körper ausgeht, als eine Art magnetisches Feld menschlicher Energie, das Beuys in Bezug auf die Plastik Grauballemann (1952) als Feldcharakter bezeichnet hatte.18 In der Verknüpfung von technischem Gerät und menschlichem Körper wird mechanische mit organischer Bewegung analog gesetzt, technisch messbare auf lebendige Energie übertragen. Eine weitere, graphisch reiche Zeichnung illustriert eindrücklich die Verschmelzungen von Körper, Gefäß und Labor. (Abb. 4) Wir sehen einen Oberkörper in Dreiviertelansicht von hinten, Rücken und Schädelform klar umrissen. Die Linie, die Rücken und Hals der Gestalt definiert, läuft nach oben in das 17  Vgl. Temkin 1998 (wie Anm. 3), S. 24. 18  Beuys in: Caroline Tisdall: Joseph Beuys, Ausst.-Kat. (Solomon R. Guggenheim Museum, New York), New York 1979, S. 34. Zu Grauballemann vgl. die Ausführungen in Eva Beuys u. a.: Joseph Beuys. Block Beuys, München 1990, S. 328ff.

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kurze Ende eines gebogenen Rohres aus, das Beuys nicht zuletzt in der für die documenta 1977 konzipierte Honigpumpe am Arbeitsplatz als Kopf, wo sich der Honig staute, umsetzte – auf die große Kasseler Installation wird später noch zurückzukommen sein. Am Kopf ist die funktionell bedeutende Stelle des Übergangs zwischen Kopf und Wirbelsäule betont, das Kopfgelenk, das hier wie ein Kreisel in einer kleinen Fassung die Beweglichkeit des Kopfes andeutet.19 Während der Kopf vorn mit großen kristallinen Brocken in Berührung kommt, auf eine Verhärtung des Denkvorgangs anspielend, strahlen von Kopfgelenk und Hinterkopf durch Pfeile verdeutlichte Energieströme ab, die Beweglichkeit und Lebendigkeit des Denkens suggerieren. Chemische Kolben setzen im oder am Körper an und verdeutlichen mit der Darstellung des Körpers als Labor zentrale leibmetaphorische Vorstellungen. Transformation wird im und durch den Menschen möglich der Mensch als schöpferisches, zur Wandlung fähiges Wesen sichtbar gemacht. Die Idee einer organischen Mechanik bzw. Beispiele für organische Maschinen lassen sich in Beuys’ Werk weithin verfolgen und führen direkt in seinen erweiterten Kunst- und Wissenschaftsbegriff hinein. Die Frage nach einer Verbindung von Körper und Maschine beschäftigte Beuys schon früh im zeichnerischen Werk.20 Ausführlich bearbeitete er Motive von Kreislaufformen und Körperinnenansichten, Schlauch- und Röhrensystemen, zirkulatorischen Vorgängen etwa zeitgleich in seinem der Auseinandersetzung mit James Joyce gewidmeten Zeichnungskonvolut sowie in den Skizzenbüchern 4 Bücher aus: Projekt Westmensch.21 Ein vergleichbares System kommunizierender Röhren liegt ebenfalls den energetischen Prozessen in dem enigmatischen Doppel-

19  Beuys kannte offenbar die vergleichende Onto- und Phylogenese der Wirbelsäule bei den Wirbeltieren und den Menschen. Er hob häufig bestimmte Knochen bzw. Gelenkstellen im menschlichen Körper hervor, die auch aus medizinischer Sicht wichtige oder kritische Punkte darstellen, etwa die cranio-vertebrale Übergangszone zwischen Schädelbasis und Halswirbelsäule. Vgl. Heribert Schulz: Die Plazentavorstellung von Joseph Beuys. Eine synthetische Anatomie, Köln 1997, S. 74. 20  Vgl. z.B. das Ölfarbenblatt Organisch-physiologische Maschine (1960), das einen teils apparatehaften, teils organomorphen Körper zeigt, durch den Substanzen transportiert und in ein rotierendes, kreiselförmiges Gerät abgeleitet werden, das als Rad eines „Hirschwagens“ oder „Gyroskop“, kurz: als Apparat mit Transformationspotential häufig in Beuys‘ zeichnerischem Werk auftaucht. Vgl. auch die Bleistiftzeichnung Physiologische Maschine (1958), die ein System von Röhren und Trichtern, eingepasst in eine landschaftlich-gebirgig anmutende Formation zeigt (beide Museum Schloss Moyland – Sammlung van der Grinten). 21  Vgl. die Abbildungen in Sabine Fabo: ‚Ulysses‘ in der Wärmezeitmaschine. Joseph Beuys ‚liest‘ James Joyce, in: Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Hg.): Joseph Beuys. Verbindungen im 20. Jahrhundert. Eine Tagung im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt 2001, S. 77–90. Zu Bezügen auf Joyce, das Book of Kells und die Mikro-Makrokosmos-Analogie vgl. Christa-Maria Lerm Hayes: James Joyce als Inspirationsquelle für Joseph Beuys, Hildesheim u. a. 2001, S. 143ff.

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4|  Die Abbildungen sind entnommen aus: Joseph Beuys, Zeichnungen. Zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzenbüchern „Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci, manus presse 1975, unpag., Ex. 7/1000, Kunstmuseen Krefeld.

blatt zugrunde, das Beuys Warm Time Machine (1958) betitelte und 1974 dem Zeichnungskonvolut The Secret Block for a Secret Person in Ireland hinzufügte. Mit dem Neologismus der Wärmezeitmaschine, den Beuys später vor allem im Kontext seines gesellschaftspolitischen Engagements nutzen sollte22, gelingt ihm eine Grenzüberschreitung im doppeltem Sinn; zum einen verspricht die Zeitmaschine den Weg in eine Dimension, in der die Zeit den Raum überwindet, zum anderen spielt Wärmezeit mit dem Begriff der Raumzeit, den die Relativitätstheorie als vierdimensionale Struktur entworfen hat: Die Wärmezeitmaschine ist ein utopisches Vehikel, das naturwissenschaftlich-spekulativ die physikalische Raumzeit um die menschliche Wärmezeit erweitert.23 Beuys verwendete dafür in einem Interview 1979 ebenfalls den Begriff der organischen Maschine, und zwar im Zusammenhang mit der mehrteiligen Installation Fond II (1968), die sich heute im Block Beuys in Darmstadt befindet. Der physikalische Versuchsaufbau, der Teil von Fond II ist, wurde erstmals 22  Vgl. z.B. die Postkarte Die Wärmezeitmaschine in der Ökonomie, Edition Staeck, 1974. Hierzu und zur Auffassung der Kasseler Aktion 7000 Eichen (1982) als „neue Wärmezeitmaschine“ siehe Armin Zweite: Vom „dernier espace…“ zum „Palazzo Regale“. Die letzten Räume von Joseph Beuys, in: ders. (Hg.): Joseph Beuys. Natur Materie Form, Ausst.-Kat. (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf), München 1991, S. 31–53, insbes. S. 37ff. 23  Vgl. Magdalena Holzhey: Erweiterung der Raumzeit. Joseph Beuys Wärmetheorie und die physikalische Revolution um 1900, in: Eugen Blume und Catherine Nichols (Hg.): Joseph Beuys – Die Revolution sind wir, Ausst.-Kat. (Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin), Göttingen 2008, S. 349–351.

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in der Aktion Manresa 1966 in der Galerie Schmela in Düsseldorf eingesetzt und funktioniert nach dem Prinzip des nach dem Physiker Nikola Tesla benannten Transformators.24 Hierbei handelt es sich um ein Gerät zur Erzeugung hochfrequenter Wechselströme mit sehr hoher Spannung, dessen Funktionsweise auf der Resonanz zweier elektrischer Spulen beruht. Zwischen den offenen Enden der Kupferdrähte können Funken- und Büschelentladungen von bis zu mehreren Metern Länge entstehen.25 Beuys brachte während der Aktion verschiedene Objekte mit dem Tesla-Transformator in Berührung, ‚elektrisierteʻ solcherart beispielsweise zwei Hasenohren und eine Hasenzeichnung: Ähnlich wie in der erwähnten Aktion Der Chef/The Chief (1964) ist es wieder der Künstler selbst, der sich zu einem Teil des Versuchsaufbaus macht und technische mit geistiger Energie verbindet. Der Tesla-Transformator wird in der späteren Installation Fond II mit zwei großen, mit Kupferblech bedeckten Tischen kombiniert, die vom Generator unter Strom gesetzt werden können. Die Tische werden zu Stromleitern, quasi untereinander kommunikationsfähig. Als Arbeitsstätte tragen sie ein Kraftpotential in sich, das Beuys auf menschliche Kreativität überträgt und hierbei den Begriff der organischen Maschine mit seinen Vorstellungen der Sozialen Plastik und der Wärmezeitmaschine verknüpft: „Any deposit of material awaiting the process of transformation becomes organic machinery. The generation of energy means the production of warmth, and hence the link with the idea of Social Sculpture and Warm time machine – another organic machinery.“26 In diesem Statement wird nochmals deutlich, dass die Idee der organischen Mechanik oder organischer Maschinen, die durch das analoge Denken als Methodik der Welterklärung früh entwickelt wird, sich im Zuge von Beuys’ wachsendem gesellschaftlichen Engagement dezidiert in die Idee eines gesellschaftlichen Organismus, nämlich die Soziale Plastik, hinein fortsetzt. Die Honigpumpe am Arbeitsplatz, 1977 für die documenta 6 konzipiert und von 24  Manresa bildete quasi eine Synthese-Utopie ab: die Vereinigung von spiritueller Energie (Element 1) mit physikalischer Energie (Element 2) um der Frage nach einem zukünftigen Prinzip willen (Element 3). Vgl. Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen, Ostfildern-Ruit 1994, S. 146–165. Zu den physikalischen Vorgängen vgl. auch Friedhelm Mennekes: Joseph Beuys MANRESA. Eine Fluxus-Demonstration als geistliche Übung zu Ignatius von Loyola, Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 110f. 25  Die Rezeption des exzentrischen Physikers Nikola Tesla, nach dem die Maßeinheit für magnetische Feldstärke benannt ist, oszilliert zwischen der Geschichte eines genialen Erfinders und phantastischer Legendenbildung. Dass Beuys über Tesla gut informiert war, ist nicht unwahrscheinlich, da er sich ja häufig ein immer wieder überraschend detailliertes Spezialwissen zu verschiedensten Themen, Objekten und Personen aneignete. Tesla wollte etwa elektrischen Strom vor allem zu therapeutischen Zwecken einsetzen und konnte mit seiner medizinischen Diathermie nachweislich Arthritis und andere Beschwerden lindern. Vgl. Margaret Cheney: Nikola Tesla. Erfinder, Magier, Prophet, Düsseldorf 1995, S. 89f. und S. 402. 26  Beuys zit. nach: Tisdall 1979 (wie Anm. 18), S. 134.

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Beuys ausführlich als Modell des Menschen erläutert, ist die wohl direkteste skulpturale Umsetzung einer „organischen Maschine“. Das Röhren- und Schlauch­­system, durch das kiloweise Honig gepumpt wurde, erinnert mit seinem weichen durchsichtigen Kunststoff an einen lebendigen Kreislauf und steht in Opposition zum Maschinenraum mit seinen harten Röhren, ist aber gleichzeitig mit ihm zu einem System verbunden. Beuys kommentierte: „Ich habe auf jeden Fall etwas versucht, von dem ich meine, dass etwas klargemacht werden kann, beispielsweise im Hinblick auf die Entwicklung organischer Maschinen: Mit einem neuen technologischen Begriff, […] der sich auf eine Technologie bezieht, die tatsächlich erstens einmal eine innerliche ist, d. h. eine begrifflich kreative, gestalterische im Menschen selbst, […] und dass auch auf der Seite der Technologien Entwicklungen an den Maschinen – beispielsweise habe ich Fett bei der Honigpumpe eingesetzt – eingesetzt werden, um zu zeigen, wie Mensch sich mit Maschine in der Zukunft ja verbinden muss. […] Das geht hin auf eine organische Maschine, das geht hin auf moralische Maschinen.“27 Bei der Honigpumpe am Arbeitsplatz wird die Technik, der Antrieb des Honigflusses durch Elektromotoren, von Beuys nicht nur sichtbar belassen, sondern ausdrücklich als Teil der Arbeit hervorgehoben. Die zwischen den beiden Elektromotoren befindliche Kupferwelle geht außerdem mit einem darunter lagernden Fettblock eine chemische Reaktion ein. Die elektrische Energie der Motoren verbindet sich mit dem Energiepotential des Fettes, „wodurch zweifellos auch die Energie erlebbar ist, als sich auf die menschliche Existenz beziehend.“28 Die Honigpumpe am Arbeitsplatz ist also eine Maschine, die als solche erkennbar bleibt und trotzdem als Modell organischer Prozesse fungiert; ihr Nützlichkeitsprinzip ist an einen technischen Arbeitsbegriff gebunden und lässt sich dennoch auf eine transzendente Energieform erweitern. Die Installation ist so als Kritik an der Trennung von ideellen und maschinellen Produktionsprozessen zu verstehen – eine Kritik, die Beuys’ Vorstellung entspricht, Wirtschaft solle nicht nur praktische Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen ansprechen, sondern auch ihre geistigen herausfordern.29 Die Maschinenhaftigkeit des Environments dient eben nicht allein als Verweis auf Isolation und Entfremdung des modernen Menschen von seinem Tun, sondern sucht die Einseitigkeit des Mechanischen aufzuheben; die ‚Kälte‘ der

27  Beuys in: Joseph Beuys: Kunst=Kapital, Achberger Vorträge, Wangen 1992, S. 89. 28  Beuys in: Veit Loers und Pia Witzmann (Hg.): Joseph Beuys. Documenta-Arbeit, Ausst.Kat. (Museum Fridericianum, Kassel), Ostfildern 1993, S. 172. 29  Vgl. die Programmschrift Ich durchsuche Feldcharakter, in: Volker Harlan u. a. (Hg.): Soziale Plastik, Achberg 1976, S. 121.

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Maschine wird, sozusagen, ‚aufgewärmt‘, mechanische Kräfte werden mit organischen und geistigen zur Deckung gebracht. Mit seinem Hinweis auf die Notwendigkeit einer „innerlichen Technologie“ unterläuft Beuys ein Charakteristikum der Maschine, nämlich die Trennung der innerlichen von der äußerlichen Bewegung, „the fatal gap between men›s external and his inner powers“.30 Mit dem Begriff der „moralischen Maschine“ bezieht sich der Künstler offensichtlich auf eine Formulierung von Rudolf Steiner.31 „Moralische Technik“ meint bei Steiner eine intuitive Verbindung von instrumenteller und ethischer Vernunft, indem statt Herrschaft über die Dinge eine fragende Haltung gegenüber den Dingen eingenommen wird; moralische Technik hilft, mit den Worten Steiners, die Welt der Wahrnehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen Zusammenhang, ihr Lebensprinzip zu durchbrechen. Die Honigpumpe am Arbeitsplatz als „Diagramm des Menschen“, wie Beuys es nannte, setzt sein Analogiedenken sehr bildhaft um. Technische Apparatur und menschlicher Organismus sind kommensurabel. Der zirkulierende Honig wird als Blutkreislauf, die Energie aus dem Maschinenraum als Willensbereich, das gekrümmte Ende im Dach als Kopf des Menschen verstanden. Indem der Kreislauf der Honigpumpe in mehrfachen Windungen das Büro für Direkte Demokratie durchläuft, in welchem Beuys mit den Besuchern der documenta diskutierte, stellt sich eine Beziehung zwischen dem menschlichen Organismus und einem gesellschaftlich tätigen Organismus her. Die der gesamten Apparatur zugrundeliegende Bewegung wird so zum Ausdruck einer inneren Energie, des menschlichen Kraftpotentials schlechthin. „Wie Mensch sich mit Maschine in der Zukunft ja verbinden muss“ – für Joseph Beuys der lebenslange Versuch, das Verhältnis von Natur und Technik neu zu bestimmen. Technologie – so verstanden als schöpferische Kraft – wird quasi zu einer Metapher für Erkenntnis: Beuys’ Analogiebildungen dienen nicht nur dazu, Bilder zu schaffen, die die Entfremdung des modernen Menschen von der Welt überwinden können; er weitet den Funktionszusammenhang des Organismus auf eine gesellschaftliche Dimension aus und fordert als „moralische Technik“ verantwortliches Handeln. 30  Roberto Assagioli: The Act of Will, Baltimore 1974, S. 4. 31  „Das moralische Handeln setzt […] voraus neben dem moralischen Ideenvermögen und der moralischen Phantasie die Fähigkeit, die Welt der Wahrnehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen Zusammenhang zu durchbrechen. Diese Fähigkeit ist moralische Technik.“ Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung (GA 4), Dornach 1995, S. 194. Voraussetzung für moralisches Handeln sind die drei höheren Formen des Denkens, Imagination (als Phantasie beim Entwurf konkreter Produktionsmethoden), Intuition (als Vermögen der individuellen Zwecksetzung und sensiblen Wahrnehmung) und Inspiration (als ästhetisches Verhältnis zu den Dingen). Vgl. Peter Buschkühle: Wärmezeit. Zur Kunst als Kunstpädagogik bei Joseph Beuys, Frankfurt/M. 1997, S. 152f.

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Das Unding der Kraftverschwendung Erscheinungsweisen und Grenzen von Verausgabung in der Kunst nach 1945

Der Verausgabung vorausgesetzt: Einleitendes zu künstlerischen Tendenzen einer Herausstellung von Gestaltungskraft Dem Eindruck entsprechend, den eine verbreitete Kurzfassung von Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert vermittelt, waren deren erste Dekaden durch eine Reihe weitreichender Umbrüche auf ästhetischem und programmatischem Gebiet bestimmt. Demgegenüber stellt sich das Kunstgeschehen der Zeit nach 1945 zusammengenommen kleinschrittiger dar.1 Wo nunmehr einzelne Zuspitzungen lokale Szenen prägen und sich Modifikationen verbreiten, artikulieren sich künstlerische Akzentverschiebungen auch auf Nebenschauplätzen. Und so möchte ich mich einer Tendenz zur besonderen Freistellung einer (gleich noch zu bestimmenden) Gestaltungskraft in der Nachkriegskunst nähern, indem ich ein gewissermaßen randliches Beispiel aufrufe: Im Oktober 1965 erscheint das anderthalb Seiten kurze, nicht übermäßig beachtete AntiobjektManifest. Verfasst hat es ein Zusammenschluss von Münchner Künstlern, darunter Protagonisten der sich gerade auflösenden Gruppe SPUR. In einer nachkriegstypischen Mischung avantgardistischer Strömungen fraternisierten sie

1  Ein „kleineres Maß“ der Veränderungsschritte kann als Konsequenz daraus interpretiert werden, dass entscheidende moderne Muster bereits um 1945 etabliert waren (dazu zählen insbesondere eine – sich in Frankreich, trotz oder wegen einer Konzentration von Macht in zentralen Institutionen, schon ungefähr zwei Jahrhunderte zuvor abzeichnende – Emanzipation von einem konservativen Kunst-Akademismus und die Hinwendung zur Breite gesellschaftlicher Realität, außerdem zur Innenwelt des Menschen, in Verbindung mit Stilplura­ lismus, einschließlich Spielarten der Abstraktion, gefasst unter der Überschrift populär gewordener „Ismen“). Martin Damus, der im Übrigen in seiner Überblicksdarstellung ein weitaus vielschichtigeres Bild als das oben angesprochene zeichnet, stellt für die 1940er und 1950er Jahre lapidar fest: „Die Moderne Kunst hatte sich, nicht anders als Moderne Architektur, durchgesetzt.“ Siehe: Martin Damus: Kunst im 20. Jahrhundert. Von der transzendierenden zur affirmativen Moderne, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 238.

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mit dem Situationismus und standen stilistisch dem sogenannten Informel nahe (worüber sich ihre Werke in das gebräuchlichste Register für europäische Tendenzen innerhalb der abstrakten Kunst nach 1945 sortieren). Unter Punkt sechs ihres Manifestes lassen die Verfasser wissen: „Nicht die äußere Gestalt unserer Antiobjekte ist verbindlich für die Gestaltung unserer Umwelt, sondern ihr Entstehungsvorgang.“2 Bevor ich auf den Akzent zu sprechen komme, der hier auf den Entstehungsvorgang gesetzt wird, will ich kurz auf das andere, das titelgebende Stichwort eingehen: „Antiobjekt“. So sehr es die Attitüde gestalterischer Revolte ausdrückt, so wenig klärt es die damit aufgeworfene Gestaltungsfrage (darin der Formel „Anti Form“ nicht unähnlich, die Robert Morris 1968 findet). Ungeklärt bleibt, wie eigentlich eine Gestaltung aussehen könnte, die formal wirklich unverbindlich und anti-objekthaft wäre.3 Dafür hätte sie weitaus radikaler sein dürfen, als es die Zurückweisung von Gegenständlichkeit (und Geometrie) im Informel je gewesen ist: Anstatt Objekte abstrakter, weniger naturalistisch konturiert, mit weniger Referenzen auf die außerkünstlerische Welt zu gestalten, hätte ein echter Gegenentwurf zu bekannten Formen von Kunstobjekten vorgelegt oder sogar auf das Produzieren verzichtet werden müssen. Obwohl das ausblieb und damit praktisch der eigene Anspruch nicht in letzter Konsequenz eingelöst wurde, erhebt das Manifest einen umso umfassenderen; womit ich vom Antiobjekt und der Frage nach der dinglichen Präsenz von Werken (die ich weiter unten erneut berühre) zurück zum Zitatganzen komme. Darin wird, mehr als jene des Objekts, die Gestaltung der ganzen Umwelt zum künstlerischen Anliegen erklärt. Zu diesem holistischen, in den Begleitzeilen kaum gefüllten Umweltbegriff, der vor allem den Anspruch künstlerischer Reichweite betont, fügt sich am Zitatende der des Entstehungsvorgangs. Entstehung bezieht hier nämlich nicht etwa allgemeinere Grundlagen, Hintergründe oder Zusammenhänge ein, aus denen Kunst mithervorgeht. Vielmehr beanspruchen die Künstler im weiteren Manifestkontext ausdrücklich für sich, ihre Werke kontinuierlich zu „Projekten“ zu entwickeln, um Gattungsgrenzen zugunsten „neuer Kulturformen“ aufzulösen und in den umgebenden

2  Hans Matthäus Bachmayer u. a.: Antiobjekt-Manifest, München 24. Oktober 1965. Zitiert nach: Edition Nautilus (Hg.): Wetterleuchten! Künstler-Manifeste des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2000, S. 90–91, hier S. 90. 3  Bei denkbar knappem Hinweis auf das zugehörige Manifest erwähnt Nina Zimmer im Rahmen ihrer u. a. der Gruppe SPUR gewidmeten Dissertation – bis dato eine der wenigen monographischen Studien auf diesem Feld – Arbeiten, die unter dem Begriff Antiobjekt firmierten und die, so Zimmer unter Berufung auf Mitglieder der Gruppe, „Modellcharakter […] haben sollten“. Tatsächlich lassen sich die überlieferten Beispiele am besten als Bildobjekte beschreiben, die sich zwar einer lyrisch abstrakten Formensprache bedienen, sich aber aufs Ganze alles andere als eigentlich anti-objekthaft darstellen. – Zum Zitat: Nina Zimmer: SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York, Berlin 2002, S. 241ff.

Das Unding der Kraftverschwendung

Raum ausgreifen zu lassen.4 Unbenommen der Anklänge von Wirkungshybris und der angesprochenen Umsetzungsprobleme, bricht sich mit der Betonung des Projektcharakters und des Entstehungsvorgangs ein Aufruf zur Akzentverschiebung Bahn: Weg vom traditionell ausgeformten, in Kunstgattungen eingehegten Ergebnisobjekt und hin zur Gestaltungsrelevanz des Hervorbringungsprozesses! Diese Forderung ist kunstgeschichtlich voraussetzungsreich. Bevor es um Voraussetzungen gehen wird, will ich eine methodische ­Zu­­spitzung in der nun aufgerufenen Perspektive vorschlagen: Dahingehend, sich innerhalb des Bereichs künstlerischer Hervorbringung auf den postplanerischen, den auch physisch ausführenden Teil zu konzentrieren. Denn eine Fokussierung auf den praktisch-aktiven Vorgang des Hervorbringens von künstlerischen Formen scheint mir als empirische Voraussetzung dafür geeignet, diskutieren zu können, inwieweit Kraft in der Kunst verausgabt oder gar verschwendet sein könnte. Dort, wo für Gestaltung sichtlich Kraft aufgewendet wird, dürfte auch ihr Verschleiß beobachtet werden können. Die hier eingenommene Perspektive auf Kraft im Bereich bildender Kunst versteht sich somit vollzugsorientiert.5 Sie vernachlässigt bewusst Konzeptualisierungsmühen im Vorfeld der künstlerischen Ausführungsarbeit und fixiert sich auch nicht auf den Horizont möglicher Endprodukte. Eine solche Fokuswahl knüpft an basale alltagsweltliche (und arbeitsphysiologische6) Auffassungen von 4  Vgl. Bachmayer u. a. 2000 (wie Anm. 2), S. 90f. 5  In der Fokussierung auf den Vollzug ließe sich eine Nähe zu praxistheoretischen Ansätzen erkennen. Diese können, zumal auf Kunstkontexte übertragen, durchaus problematisiert werden. So ist Praxistheorien u. a. entgegengehalten worden, dass sie, in der Konzentration auf „Vollzugsprobleme“, Bedingungen von Vollzügen, auch die symbolische Dimension kreativen Schaffens, reduktionistisch außer Acht ließen. Vgl. Thomas Alkemeyer; Nikolaus Buschmann: Das Imaginäre der Praxis. Einsatzstellen für eine kritische Praxistheorie am ­Beispiel von Gegenwartsdiagnosen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44 (2019), Heft 2, S. 117–138, hier insbes. S. 119f. Dass solche Einwände grundsätzlich und mit Blick auf Kunst besonders berechtigt sind, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Allerdings geht es mir um eine bewusste analytische Isolierung des aktiv-praktischen Hervorbringungsparts aus einem unbestritten vorhandenen Zusammenhang. Die Heraushebung von Hervorbringung, so eine Ausgangsthese, kennzeichnet eine kunsthistorische Linie und kann für sich – wesentlich auch symbolische – Bedeutungen tragen. 6  Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass arbeitsphysiologische Konzepte von Kraft, die dort eine Leistungsgrundlage (neben Ausdauer, Flexibilität, Koordination und Schnelligkeit) bezeichnet, diese in einen Komplex von Fähigkeiten einsortieren, der auch psychische, emotionale und kognitive Faktoren berücksichtigt. (Vgl. Bernd Hartmann und Reingard Seibt: Arbeitsphysiologische Aspekte der physischen Leistungsfähigkeit, in: Zentralblatt für Arbeits­­ medizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 1 (2020), S. 18–26, bes. S. 19). Ich will keinesfalls bestreiten, dass solche und weitere Faktoren auch und gerade an Kunstvollzügen, und nicht nur als Voraussetzung, beteiligt sind. Lediglich der Fokus wird hier auf Kraft als beobachtbare Erscheinung (energetischer Leistung) im Vollzug gerichtet, wobei auch damit kein physio­ logischer Reduktionismus im Sinne einer Festlegung auf bloße „Muskelkräfte“ verfolgt,

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Aktivität an, denen zufolge Kraft von einer Person aufgebracht und erkennbar eingesetzt werden muss, um eine bestimmte, die jeweilige Aktivität kennzeichnende Bewegung zu vollführen und zu einer Handlung auszugestalten. Es geht in dieser Perspektive auf Kraft – als einer für den Vollzug jedweder Gestaltung erforderlichen und sich darin formend äußernden Energie – weder um deren Herkommen noch um Bedingungen von kreativem Handeln überhaupt. Es geht mir, wie noch abzugrenzen sein wird, ebenso wenig um außerordentliche Wirkungen oder metaphysische Konzepte von „Kunstkräften“. Wenn ich stattdessen bei der praktischen Hervorbringung künstlerischer Form ansetze, muss gleichwohl das Vorliegen einer Basismotivation für dieses Formen angenommen werden. (Wo umgekehrt ohne spezifischen Anspruch gestaltet wird, muss das Adjektiv künstlerisch nicht strapaziert werden.) Motivationen, die über das grundlegende „Um-Kunst-zu-Machen“ hinausgehen, können außerdem unter der Bedingung von Interesse sein, dass ein Zweck darin besteht, sich gegen Verzweckung als ein äußeres Regime zu richten, mit­ hilfe einer dann regelrecht ausgestellten, antiökonomisch aufgefassten Verausgabung. – An diesem Punkt ist festzuhalten, dass die empirische Grundlage für das Thematisieren künstlerischer Verausgabung von konkret angewandter Kraft im sichtlichen Vorhandensein eines Hervorbringungsaufwandes besteht. Eine Arbeitsdefinition von beobachtbarer Kraft in der Kunst kann folglich lauten: Mit ausgeübter künstlerischer Gestaltungskraft soll der Energieeinsatz bezeichnet sein, der nötig ist, um eine besondere, nicht schon zuvor vollständig so zugängliche und in jedem Aspekt alltägliche Form in Erscheinung treten zu lassen, gleich, wie stabil und beständig sie auch sei.7 Auf einen Begriff gebracht, ließe sich zu dem jetzt versuchsweise Definierten ergänzen: Unter Aufbietung von Gestaltungskraft bringen Formende ein s­ ondern weiter davon ausgegangen wird, dass sich eine kognitive und emotionale Beteiligung der Person der oder des Ausführenden davon im Kunstgeschehen nicht trennen lässt. 7  Damit soll dieser, bereits durch sein Leitkompositum Gestaltung so komplexe wie potenziell weitläufige Kraftbegriff, der heute regelmäßig z.B. im politischen Diskurs (um ein besonders weitreichendes Lenkungshandeln zu benennen oder zu wünschen) Verwendung findet, pragmatisiert und gelöst werden von einer einflussreichen Prägung. Ihren ebenso programmanzeigenden wie, der Sache nach, quasi-schöpfungsmythologisch unkonkreten Niederschlag hat sie v.a. bei Ludwig Klages gefunden. In der Rezeption ist Klages’ Gestaltungskraft bald als eng an eine Vorstellung von Begabung gekoppelt und als etwas wie das beseelte Füllen „irgendein[es] Tun[s] bis an den Rand mit Ausdruck“ verstanden worden; siehe: Gustav Kolb: Aus „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck“, in: Kunst und Jugend 11 (1931), S. 192–193, Zitat S. 192. – Kurz: Der hier vorgeschlagene vollzugspragmatische grenzt sich vom Begriff der Gestaltungskraft nach Klages und auch der Ausgriffsdimension, für die er meist im politischen Diskurs steht, ab. Ausdruck und Ausgriff scheinen in weiten Teilen von den Bereichen der Präformation und der Rezeption abhängig, während beobachtbare Gestaltungspraxis zunächst am direkt Formbaren (das vieles sein kann) unter Kraftaufwendung formend wirkt.

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Kunstwerk hervor. Ein mögliches Missverhältnis in der Ausübung von Gestaltungskraft, also ein Zuviel an Aufwand für ein Zuwenig an Ertrag, lässt sich damit aber nicht ohne Weiteres in den Blick nehmen (und, wie von mir beabsichtigt, in Frage stellen). Zweifellos ist, was ein Kunstwerk ausmachen kann, zu komplex und in seiner Begriffsgeschichte zu arbiträr, um nebenbei, mithilfe einer Hand voll Kriterien, bestimmt zu werden.8 Einen kunsthistorisch pragmatischen Orientierungspunkt hält hingegen der Gattungs- und Materialkanon bereit, der allerdings durch die Zeit Unterschiedliches umfasst. Gleichwohl gilt bis ins 20. Jahrhundert hinein grosso modo, dass mit Werken der Kunst Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Reliefs, auch Architekturen und schließlich Fotografien gemeint sind. Trotz aller Unterschiede und Variationen treten sie, einmal angefertigt, sämtlich in vergleichsweise stabiler Ausführung in Erscheinung. Sie so relativ fest und für eine Dauer9 herzustellen, erfordert einigen Energie- und Materialaufwand. Der kann sehr hoch sein und weit über die Ausgestaltung hinaus bis auf den Aufschluss von Ressourcen reichen. Dieser vielseitige Bereit- und Herstellungsaufwand erscheint im fertiggestellten Werk jedoch wie eingelassen, gebunden in und an ein Objektganzes, so sehr jeweils einzelne Eigenschaften präsent und so kunstvoll sie in Szene 8  Aus der langen Diskursgeschichte um den Begriff sei hier ein bereits modernes Beispiel dafür, in welche Schleifen die Frage nach dem Kunstwerk führen kann, gegriffen: Martin Heidegger hat sich in Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/1936, nach seinem Rücktritt als Rektor der Universität Freiburg ausgearbeitet, aber am Vorabend der NS-Diktatur begonnen) zwar nicht so strikt, wie der Titel erwarten lassen könnte, doch definitorisch eingelassen. Ein Blick in seine Anfangsargumentation zeigt, dass er sich zunächst auf eine Kurzdefinition zurückzieht. Erst danach adressiert er sehr knapp inhaltliche bzw., in seinen Worten, allegorische und symbolische Dimensionen eines Kunstwerks. Konkret liefert er dort, im ersten Versuch, das Kunstding von übrigen Dingen zu differenzieren, folgende Kurzformel: „Das Werk macht mit Anderem öffentlich bekannt, es offenbart Anderes […].“ – vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960, S. 10. Es folgt im Weiteren, nach der erwähnten Adresse an die Ebene von Allegorie und Symbol, ein recht langer Argumentationsweg wieder weg von spezifischen Kunst-Leistungen oder -Inhalten und weg von der direkteren Beantwortung der Frage, wie und mit welcher Art Anderem das Kunstding denn nun bekannt macht. Heidegger diskutiert stattdessen (bzw. will „erfahren“), was „das Dinghafte des Dinges“ in Wahrheit sei (vgl. ebd., S. 11ff.). Anders gesagt: Die auf eine besondere Anzeigefunktion zusammengezogene Bestimmung eines Kunstwerkes als das, das etwas Anderes öffentlich bekannt macht, diffundiert sogleich in einen ausholenden, teils tautologischen Dingdiskurs. Abkürzungen und Geraden scheinen im Kunst-/Werkdiskurs einmal mehr kaum möglich. 9  Dass Dauer wiederum nur im Verhältnis zu zeitlicher Begrenztheit zu sehen ist und darüber einen – ausdrücklich bereits für die Vormoderne vielfach wiederkehrenden – Bezugskomplex bildet, der sozusagen chronisch zwischen die Tempuspole gespannt (also auch vice versa wirksam) ist, darauf ist zu Recht hingewiesen worden, z. B. bei: Birgit Jooss: Das nicht enden wollende Bild. Der Aspekt der Dauer innerhalb von Performances, in: Karin Gludovatz und Martin Peschken (Hg.): Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, S. 113–124, hier S. 116.

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gesetzt oder in eine Szenerie eingebettet worden sein mögen. Im Angesicht des dinglich abgeschlossenen Kunstwerks gerinnt die Energie seiner Herstellung zur mehr oder minder ablesbaren historischen Voraussetzung, während es für sich genommen geschlossen dasteht. Positiv bilanziert, lässt sich sagen, dass mit der festen Form des Kunstwerks ein (relativ) beständiger Ausweis zuvor investierter Gestaltungskraft vor Augen steht, wenngleich ein zum ursprünglichen Vollzug distanzierter.

Auf dem Weg zum Unding – Momente einer modernen Vorgeschichte der Freistellung künstlerischer Gestaltungskraft Im Laufe des 20. Jahrhunderts stellen Künstlerinnen und Künstler überkommene Vorstellungen von Kunstwerken verstärkt auch hinsichtlich der Festigkeit und Fortdauer ihrer dinglichen Erscheinungsformen in Frage. Die Bewegungen in diese Richtung sind facettenreich. Im Dadaismus formiert sich bereits vor 1920 etwas, das der späteren Performance-Kunst vorgreift: Im legendären Zürcher Cabaret Voltaire kamen damals Künstlerinnen und Künstler für ­Soireen und ähnliche Formate, sprich: für ein aktives Auftrittsgeschehen, zusammen – und nicht für eine bloße Ausstellung. Gleichzeitig konnten sich, durch aberwitzige Kostüme, eine Raum- und Bühnenausstattung (auch mit Gemälden) und nicht zuletzt typologisch elaborierte Begleitdrucke (Flugschriften, Plakate), während der Auftritte stabilere Elemente konstant im Spiel halten. Es entstand also ein Kunstgesamt, das die Aufführung noch nicht voll isoliert. Und selbst da, wo Vertreter der Avantgarde um 1920 Immaterialisierung als Ziel und ausdrücklich eine Entfaltung von Kräften anvisieren, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Ulrike Schmitt notiert zu den Bestrebungen am Bauhaus und konkret von László Moholy-Nagy, Werke mittels einer kleinen rotierenden Apparatur – dem sogenannten Licht-Raum-Modulator – in eine luzide Transzendenzform zu überführen: „Der Künstler betrachtete diesen vollkommen neuen Werktypus, der sich als Einheit aus Modulator, Projektion und Projektionsbild offenbarte, aus materieller Substanz und immateriellen Sensationen, als Vorboten einer zukünftigen, sich vom Statischen lösenden, dynamischen Kunst, bei der der Betrachter ‚selbst zum aktiven Faktor der sich entfaltenden Kräfte‘ würde, und bei der Material als Fänger der aus dem Raum einwirkenden Kräfte diente, als ‚träger von bewegungen, der durch diese bewegungen zu schaffenden virtuellen (volumen-)beziehungen‘.“10 [Binnenzitate von Alfred Kémeny und Moholy-Nagy] 10  Ulrike Schmitt: Der Doppelaspekt von Materialität und Immaterialität in den Werken der ZERO-Künstler 1957–67, Köln 2013, S. 49.

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Eine dynamisierte und immateriellere Zukunft, die Betrachtende anders zu aktivieren vermag, wird mit dieser Licht-Raum-Kunst kühn angepeilt. Was sie schon erreichen kann, stößt jedoch im Hinblick auf eine konsequent gedachte Immaterialisierung an physische Grenzen. Nicht wesentlich anders als noch in der späteren Lichtkunst, gründet, bei allen „frei“ flirrenden Effekten, alles unabweisbar auf stationären Geräten und Aufbauten (wie dem Modulator). Erst nach 1945 geht diese Entwicklung weiter, als Bauhaus-Visionäre wie Moholy-Nagy oder auch Dada-affine Avantgardekünstler kamen oder zu kommen vorhatten: Tradierte Werkbegriffe, die von der dinglichen Geschlossenheit und Haltbarkeit ausgehen, werden im Zuge einer „zweiten Kunstmoderne“ fundamental vonseiten körperlich durchbewegter, von Aktionsformen herausgefordert. Zum Teil kommen sie ganz ohne Einsatz von Geräten aus (was sie in diesem Punkt mit dem Ansatz der etwas späteren, programmatisch ‚entdinglichten‘ Konzeptkunst verbindet). Der Weg dahin scheint widersprüchlich: Die neuen Kunstformen schließen ausgerechnet an besonders dingbetonende an. So notiert Heinrich Klotz mit Blick auf Voraussetzungen für die Kunstentwicklung von der abstrakten Malerei hin zum aktionskünstlerischen Happening: „Die Verwandlung des Werkes in ein ästhetisches Ding enthält bereits das Programmpotential, das Gemälde als Ding an sich preiszugeben und die Aktion des Malens in eine Aktion des Lebens zu verwandeln.“11 Um der These zu folgen, hilft eine weitere: Nämlich, dass das Kunstwerk im Falle des abbildenden und repräsentierenden Bildes auf eine ikonische Differenz ausgeht, also nach Gottfried Boehm etwas darstellt, das es materiell nicht ist.12 Anders gesagt: Es dissimuliert Elemente seiner dinglichen Verfasstheit, insofern Blicke auf den Bildinhalt gelenkt werden. Deshalb, weil das Bildwerk traditionell als ein Angebot präsentiert wird, um etwas, aber Teile seiner Materialbasis nicht oder nur rahmend wahrzunehmen, kann die fortgeschritten moderne Zurückweisung des alten Werkbegriffes die Strategie anwenden, zuerst eine weitgehende Verdinglichung des Bildes zu betreiben. Klotz führt als ein prominentes Beispiel Frank Stellas sogenannte ‚shaped canvases‘ an, Bildobjekte ohne Darstellungswert in bisher ebenso unbekannten wie unprätentiösen Formaten. Durch diese habe das bereits dem „abstrakten Bild von Anfang an innewohnende Potential, Dingcharakter anzunehmen“, eine konsequente „Formulie­rung“13 erfahren. Solche neuen, ganz unverhohlen als Objekte zur Schau ge­stellten Bildwerke lassen zugleich, in der Rückspiegelung, sogar ungerahmte oder nur unauffällig eingefasste, traditionell getreu darstellende Bilder deutlicher als verfasste Dinge hervortreten: Sie sind und waren als Ganzes voll vorhanden, 11  Heinrich Klotz: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne [1994], München 1999, S. 38. 12  Vgl. Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1994, S. 30f. 13  Klotz 1999 (wie Anm. 11), S. 43f.

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mit Bildträger und Rückwand, und sind darin mehr als Medien. Künstler wie Stella erwirken also eine betonte Ausstellung des Gefügt- und Gemachtseins eines Kunstwerks als Ding – allerdings ohne eine substanzielle Abkehr vom festen Werk, im Gegenteil. Erst die Aktionskunst, die sich in einer gewissen Folgerichtigkeit vor der Folie neuer Bildobjekte entwickelt, erreicht eine gesteigerte Privilegierung des Machens gegenüber dem Gemachten im Werk. Im Unterschied zur Verdinglichungstendenz zielt die Aktionskunst auf die Unterminierung nicht nur einer Auffassung des Kunstwerks, sondern auf dessen Objektstatus insgesamt – zugunsten des Vollzugs. Daraus resultiert eine Brüskierung von Stabilitätserwartungen, während das künstlerische Machen, die aktive Gestaltung der Form als unübersetzte körperliche Bewegung, ins Zentrum rückt.

Fast ahistorische Zwischennotizen: Jeweiliger Aufwand versus Walten der Kräfte, und eine ‚post-kunstfertige‘ Anerkennung Das Herausstellen des Machens in der oder als Kunst, wie im vorigen Abschnitt historisch nachzuvollziehen, bietet einen Weg, sich dem Hervortreten von Gestaltungskraft und damit ihrem möglichen Diffundieren zu widmen. Ein anderer, ein theoretischer Anlass für ein derartiges Ansetzen besteht darin, dass bezüglich des Status des Machens zu unterscheiden ist von metaphysischeren Perspektiven in einer neueren Philosophie der Kraft der Kunst. Diese kann, namentlich bei Christoph Menke, ihrerseits durchaus betonen, dass Kunst „eine Tätigkeitsweise ist“14. Menkes Argumentationsgang dreht sich dann jedoch weniger um jeweilige Hervorbringungsaufwände. Stattdessen geht er davon aus, dass Formbildung einem „Spiel der Kräfte“ entspringt. Die Kräfte seien „vorsubjektiv“15 und könnten nicht, wie die (an der Kunsthervorbringung mitbeteiligten) Vermögen, ausgeübt werden. Im Rekurs auf Nietzsche schließlich erscheint der Künstler als eine Figur in einem Dazwischen von Kraft und Vermögen.16 Kraft wird so zu einer Art sphärischen Voraussetzung von Kunst. Jedenfalls gilt unter den Vorzeichen des Machens, dass sie für oder zur Kunst nicht zur Disposition steht. Vielmehr, so ließe sich im Ausgang von Menkes Nietzsche-Lektüre sagen, erfasst und obwaltet sie (im Verbund mit Vermögen, Spiel und Rausch). Und mit der Vorstellung, dass Kraft zur Kunst walte, wird

14  Christoph Menke: Die Kraft der Kunst [2013], Frankfurt/M. 2014, S. 17. 15  Menke 2014 (wie Anm. 14), S. 13. Wobei das vor- und übersubjektive Kraft-Wirken auf Menschen, von dem Menke spricht, in Teilen eine Vorprägung bei Schelling zu finden scheint, bei dem von einer „Macht“ im Kontext objektiver Hervorbringung die Rede ist; vgl. F. W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus [1800], Hamburg 2000, S. 288. 16  Vgl. Menke 2014 (wie Anm. 14), S. 37.

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ausgeschlossen, dass das Kunstwerk von einem künstlerischen Subjekt in seiner Wirkung voll kalkuliert werden könnte.17 Hierin nun soll aber Kraft in der Kunst gar nicht erst als Beiträgerin zu außerordentlich ergreifenden Wirkungen von Werken betrachtet werden. Sie soll, so vollzugsbezogen wie oben vorangestellt, in ihrer erkennbaren Aufwendung gefasst werden, und zwar durch Gestaltende eingesetzt, um etwas zu formen; etwas in dem Sinne Spezifisches, ist anzufügen, das nicht in reiner Repetition aufgeht, sondern, mit einem gewissen, nicht notwendig ausufernden künstlerischen Distinktionsanspruch versehen, in Erscheinung gebracht zu werden vermag. Außer, dass die hier eingenommene Fokussierung auf den formenden Vollzug von Kunst die genannten Kriterien zur Grundlage macht, soll daraus weiterhin nichts Definitorisches folgen. Mit Blick auf real gegebene Bedingungen für eine breitere gesellschaftliche Anerkennung als Kunst wäre lediglich zu ergänzen, dass eine Rezeption in einem etablierten Rahmen und Raum des Kunstbetriebs möglich sein muss. Dass sich ein Hervorbringungsaufwand im Sinne solch äußerer Anerkennung als Kunst rechtfertigen kann, erscheint zunächst unsicherer, wenn dieser wesentlich im flüchtigen Tun besteht. Wird jedoch auch das als Kunst akzeptiert, was im Vollzug ein Hauptwerk sein soll und kein folgendes, als eigentliches Werk privilegiertes Endprodukt erbringt, so begründet diese Verlagerung per se erkennbar keinen Ausschluss aus dem institutionalisierten System der Kunst. Im Falle der Aktionskünste ist der Einschluss historisch längst vollzogen, mit der Würdigung durch die Kunstkritik und der Aufnahme in Schauen sowie Sammlungen. Fraglos, für diese Anerkennung spielen die nachträgliche Verwertbarkeit und Verwertung in Form von Dokumentationen eine wichtige Rolle. Sie gewährleisten dauerhafter die institutionelle Einbindung. Das mag potenziell ‚kunstbetriebs-evasive‘, flüchtige Arbeiten weniger konsequent erscheinen lassen.18 In der sekundären Festschreibung schwächt die Dokumentation den Status der Aktion als eigentliches Werk dennoch nicht grundsätzlich, da sie ebendieses Hauptwerk nur indizieren kann und, selbst bei Vorliegen einer eigenen künstlerischen Qualität, darauf verwiesen bleibt. Auch übernehmen ihre Herstellung regelmäßig Dritte, die, um ein bis heute bevorzugtes Verfahren zu nennen, die Aktion fotografieren. Die Assistenz besteht dann grundlegend im alerten Auslösen. Dem und einer fotografischen, selbst einer filmischen Ansicht gegenüber steht das komplexe Geschehen der Performance, so dass es auch im Sinne einer

17  Vgl. Menke 2014 (wie Anm. 14), z.B. S. 27. 18  Gegen eine Kunst- bzw. Kulturkritik, die zu rigoros ideologisch bilanziert, kann Adorno zitiert werden: „Ob Kunst heute möglich sei, ist nicht von oben her zu entscheiden, nach dem Maß der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Die Entscheidung hängt ab vom Stand der Produktivkräfte.“ – Siehe: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [1970], Frankfurt/M. 2003, S. 374.

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Bilanz solcher Energieeinsätze unverändert Sinn ergibt, den Hauptakzent auf den aktiven Hervorbringungspart zu legen statt auf die überdauernden Teile. Darüber hinaus wäre es wiederum mit Blick auf Werke, die in der Hauptund Ergebnissache auf Dauer angelegt sind, insgesamt (und nicht nur bei dokumentarischen) problematisch, mit dem Faktor Aufwand Maß nehmen zu wollen. Denn das Erscheinungsbild eines ausgefertigten Werkes lässt keineswegs immer zutreffende Rückschlüsse auf eine dahinterstehende Elaboriertheit zu. Spätestens nach 1945 schwindet in professionellen Bewertungsverfahren die Bedeutung von Vorstellungen einer ermessbar maßfesten Durcharbeitung ohnehin19; und seit jeher konnte Bewunderung gerade auch der schnellen genialischen Geste gelten, die mit geringem Aufwand viel erreicht. Außer in kritischen Urteilen, die auf spezifische Kunstfertigkeiten oder Materialeinsätze abstellen, taugen dauerhafte Werke für energetische Vollzugsbilanzierungen entsprechend bedingt. Und noch dort, wo es hauptsächlich um Hervorbringung statt Dauer geht, scheint angemessen, vor einer Wertung, das Vorkommen von Verausgabung auszumachen. Zu identifizieren wäre sie als das Stadium, in dem ein Aufwand die vorhandene Gestaltungskraft bis an oder über das Limit fordert.

Sisyphosische Anstrengung? Francis Alÿs’ Verschiebung einer Formungspraxis ins Paradoxale Eines der prägnantesten Beispiele einer neueren Kunst, in der etwas wie Verausgabung thematisch wird, stammt vom gebürtigen Belgier Francis Alÿs. ­Seine Arbeit führt er allerdings mitten in einer mittelamerikanischen Metropole aus. Darauf hinzuweisen, erlaubt eine kurze wie notwendige Klarstellung: Wenn hier von Werken „der Kunst“ die Rede war und ist, geben die europäische Tradition und der ihr zugeschriebene Kanon die Perspektive vor. Das indiziert schon die zeitliche Angabe „nach 1945“ im Titel, die untrennbar an das Ende eines von Deutschland in Europa entfachten Krieges und an eine darauffol­ gende Phase institutionell organisierter Kulturproduktion ebenda bindet. Kunst und Verausgabung mit einer solchen Periodisierung zu korrelieren, bedeutet, anderes nicht zu meinen: außereuropäische Verständnisse von künstlerischen

19  Als bereits recht einsamer „konservativer Rufer“, als der er sich selbst verstanden haben mag, beklagt Hans Sedlmayr wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (damals Ordinarius in München) und mit Blick auf die Vorkriegsavantgarden verschiedene Verluste, darunter der „flüssige Stil“ und allgemein das Maß. Dies sind – oftmals als exakter, als sie sein können, angeführte – Bewertungsgrößen einer solchermaßen überkommenen Kritik. Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, West-Berlin 1956, hier etwa S. 130.

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Werken oder auch solche, die innerhalb Europas marginalisiert wurden, ­ lemente anderer, gewissermaßen von Lebens-Künsten. Denn in vielen perE formativen Ausdrucksformen weltweit war und ist bis heute das Sich-Verausgaben wesentliches Merkmal eines werkähnlich geschlossenen Vollzuges, insbesondere im Rahmen von Ritualen. So sehr aber deren selektive Rezeption einer Reihe von Werken kanonisierter Kunst zur Inspiration gereicht hat, so wenig würde pauschal Ritualen ein Rückübertrag von Maßstäben dieses Kanons gerecht werden, weder der Kategorie nach noch entlang einer Jahreszahl. Den Blick wieder zurück in die Zeit nach 1945, genauer in das Jahr 1997 und zu Francis Alÿs gewendet, kann der Ablauf der Arbeit sehr knapp beschrieben werden: An einem sonnigen Sommertag schob der Künstler einen anfangs massiven und voluminösen Eisblock durch Mexiko City.

1|  Francis Alÿs: Paradox of Praxis 1 (Sometimes making something leads to nothing), 1997, Fotografie/Documentation of an Action, Mexico City, Courtesy David Zwirner, New York/ London, Inv.nr. ALŸS16118.

Ohne festen Bestimmungsort zerrann der Block zusehends unter dem erst sehr kraftraubenden Schieben, bis sich sogar der übrige, leicht über den Asphalt zu kickende Eiswürfel in ein bescheidenes Pfützlein aufgelöst hatte. Sometimes doing something, leads to nothing untertitelte Alÿs diese bekannte Performance – mit Haupttitel Paradox of praxis – passend; passend umso mehr, sofern man das Tun an die Erwartung koppelt, dass künstlerischer Tätigkeit, wenn schon kein bleibendes Werk, etwas Aufbauendes oder mindestens Ausgestaltendes

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und nichts komplett Aufbrauchendes entspringt. (Auf die Natur des zu Eis gefrorenen Wassers bezogen, wäre indessen festzustellen, dass hier Reibungsund Sonnen- bzw. Stadtwärme lediglich den Wechsel des Aggregatzustandes, von gefroren über flüssig bis zu verdunstend, bewirken, aber nichts aufgebraucht haben.) In einer so lebendig umtriebigen wie potenziell, schon durch eine chronische Klimakrise lebensbedrohlichen Megacity vollzogen, wirkt die Eisblock-Arbeit einerseits wie eine Allegorie auf die Prekarität selbstbehauptenden und speziell künstlerischen Tuns in der Spätmoderne.20 Andererseits kann mithilfe ihrer ausgestellten Freiheit zur Zwecklosigkeit ein Residuum für Kunst in einer Welt behauptet werden, deren Zweckorientierung mit den verschiedensten, straßenbildprägenden Alltagsgeschäften allerorten in der Stadt anschaulich hervortritt. Kunst kann sich demonstrativ dem millionenfachen und oft mühsamen Streben nach möglichst unumwundener Zweckerfüllung (konkret etwa einem Kühlgut-Transport, der Verluste tunlichst begrenzt) entziehen. Gewiss entkommt auch Alÿs im tätigen Unterminieren, so stark es in seiner absurd wirkenden Mühe mit direkter zielgerichtetem Handeln kontrastiert, herrschenden Bewirtschaftungsformen des Daseins nicht ganz. Zu aktiv hält er seine – auch ökonomische – Bindung an den Kunstkontext mit der Aktion aufrecht. Kunstimmanent macht er hingegen sehr konsequent einen Kontrast auf: Er setzt sich von der plastischen Tradition ab, indem er sich in nihilistischer Überdehnung seinem Werkblock nähert. Statt etwas, wie üblich, unter maßvoller Absplitterung und Reduzierung oder durch Hinzufügen von Material herauszuformen, wirkt er über weite Strecken lediglich an der bereits laufenden Verkleinerung des Eisblocks mit. Zu Beginn so gewichtig wie kantig konturiert, schrumpft dieser allmählich und nimmt die bald post-minimalistischen Züge21 eines abgerundeten Eiswürfels an. Am Ende ist so viel verschliffen und aufgerieben worden, dass nichts mehr von den Form- und Festigkeitseigenschaften des Ausgangsmaterials bleibt. Gäbe es die Fotodokumente der

20  Jens Kastner geht in seiner Auseinandersetzung mit mehreren mexikanischen Arbeiten von Alÿs auf Aspekte einer fortgeschrittenen Globalisierung ein, und diese gehört zentral dem Phänomenkreis an, der die spätmoderne Phase charakterisiert. Vgl. Jens Kastner: Flaneur und Tourist unter Vagabunden. Francis Alÿs und die Psychogeographie der Globalisierung, in: kritische berichte 3 (2004), S. 76–83, insbes. S. 77ff.; wobei ich an dieser Stelle besonders auf Effekte einer existenziell verschärften Konkurrenz im Rahmen einer expandierten, wenngleich lokal unterschiedlich wirkenden Kapitalwirtschaftsordnung abziele. 21  Zur Entstehung eines Post-Minimalismus-Begriffs, auf den ich mich hier beziehe, bereits in der Kunst der späten 1960er Jahre verweist Eric De Bruyn krafttheoretisch pointiert auf eine Auseinandersetzung Dan Grahams mit Latex-Arbeiten von Bruce Naumann: „What Graham experienced was a dynamic field of opposing forces that was conducive to a constant process of spatial warp rather than an objective space conceived as an empty continuum populated by sculptural volumes of a fixed contour and shape.“– siehe Eric De Bruyn: Topological Pathways of Post-Minimalism, in: Grey Room 25 (2006), S. 32–63, hier S. 33.

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Arbeit nicht, auch keine Berichte (die sie letztlich einem Zweck zuführen), wäre etwas wie die radikale Verausgabung von Gestaltungskräften erreicht. Im Vorrücken des Tuns bis zur Werknihilisierung weist Alÿs’ Einsatz Ähnlichkeiten zu dem der mythologischen Figur des Sisyphos auf.22 Das Anschieben inmitten des Zerrinnens seines Transportobjektes erscheint auf den ersten Blick vergleichbar zwecklos wie das stete Hinauftragen von etwas, das, oben angekommen, wieder herunterrollt. Doch Sisyphos verfügt über eine vom Gott Hermes gegebene, zu seiner Strafe schier unerschöpfliche Kraft – allerdings einer zweckberaubten, im Unterschied zur Effektivität göttlicher Kraft außerhalb eines Strafzusammenhangs. Und sein Transportobjekt ist stabil, so dass er bekanntlich in einer endlosen Mühe gefangen bleibt. Vergebens ist sein Tun dadurch nur umso mehr: Alle Kraft allzeit aufwändigst vergeudet. Solch eine Bilanzierung des Krafteinsatzes des Sisyphos verharrt zugleich in anthropo-, allenfalls „phyto-zoo-zentrischer“ Perspektive. Zwar ließe sich die Vergeudungsthese bis zu einem gewissen Grad allgemeiner, naturwissenschaftlich unterlegen: Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik könnte herangezogen werden, demzufolge (in einem geschlossenen, nicht durch molekulare Ausnahmen und Spontaneitäten beeinflussten Natursystem) „ein geordneter Zu­­ stand im Mittel in einen weniger geordneten übergeht“23, bzw. dass mit jeder Energieübersetzung ein „niedereres“, kälteres Stadium eintritt. (Der Übertritt ins Niedere und Kältere wäre nur übertragen auf das Mythosgeschehen zu beziehen, sozusagen als abschüssiges Fortschreiten des Frusts parallel zum Fortgang sisyphosischer Mühe.) Aber selbst solche Verlustbilanzen folgen menschlichem Maß und dürften der abiotischen Welt vollkommen äußerlich sein. Zu ihr wäre nicht Alÿs’ Mittun, sondern die umformungslose Endlos­ mühe des Sisyphos der denkbar größte Kontrast.

Verwinden und Verschmerzen: Positionen zur Kraft in der Kunst nach 1945 zwischen Aufgriff und Abkehr So wenig wie die griechische Mythologie sie antizipieren konnte, könnte Kunstkreisen in der Moderne pauschal eine kritische Grundhaltung zu Krafttheoremen attestiert werden. Währenddessen stand deren Relevanz für zahlreiche naturwissenschaftlich-technische Disziplinen schon bald nach ihrer

22  Die zumindest vordergründig naheliegende Sisyphos-Assoziation findet sich ebenfalls bei Kastner, der kunsthistorisch zudem noch den Marmorblock des Bildhauers mit jenem aus Eis verbindet und so einmal mehr verdeutlicht, dass Alÿs’ Schieben weder referenz-, noch, im Sinne der Platzierung im Kunstkontext, effektlos ist. Vgl. Kastner 2004 (wie Anm. 20), hier S. 81. 23  Martin Carrier: Raum-Zeit, Berlin 2009, S. 81.

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Etablierung in Frage, und Kraft war als „unbekanntes agens“24 dem Verdacht ausgesetzt, bloß behelfsweiser Verlegenheitsbegriffs zu sein. Künstlerinnen und Künstler äußern sich dagegen vielfach vorkritisch. Wo sie sich nicht durch einen populären (auch fachsprachlich freilich nicht erloschenen) Weitergebrauch von Termini wie Anziehungs- oder Triebkraft ausweisen, tendieren Verwendungen mitunter zu offener Esoterik. August Macke beispielsweise schreibt 1912 im „Blauen Reiter“: „Die Form ist uns Geheimnis, weil sie der Ausdruck von geheimnisvollen Kräften ist.“25 Von diesem verrätselnden Diktum Mackes aus ließe sich eine Nachweisreihe zur Virulenz mystifizierender Kraftbegriffe vom frühen ins fortgeschrittene 20. Jahrhundert bilden. (Sie ­würde mindestens bis zu den von Beuys beschworenen ‚Richtkräften‘ reichen, die zwar Inspirationen aus der Physik aufnehmen, aber nicht ohne eine prominente privat-mythologische Komponente auskommen.)26 Ein weiterer, ein klar nicht-wissenschaftlicher Bezugspunkt bleibt für die Kunst bis tief in moderne Strömungen hinein der Begriff der Schöpferkraft. In mythologischer und theologischer Tradition der göttlichen Sphäre zugeschrieben, wird dieser im Schlepptau des Genie-Diskurses der Ära der bürgerlichen Emanzipation zum Element einer proto-modernen, individualistischen Ästhetik. Michael Parmentier summiert dazu: „Im Genie wird das schöpferische Individuum zum allmächtigen Weltengründer stilisiert. […] Kant hat diesen Aspekt des Geniebegriffs schon deutlich formuliert. Für ihn ist das Genie der Ausnahmefall, eine ‚seltene Erscheinung’ (Kant KdU, S. 49), die durch die überragende Qualität ihrer Einbildungskraft in der Lage ist, aus dem Stoff, den sie in der Wirklichkeit vorfindet, eine andere, eine neue Welt, die ästhetische nämlich, zu schaffen.“27

24  Mit dieser Formulierung zitiert Hans-Werner Schütt den Physikhistoriker Eduard Jan Dijksterhuis, in: Hans-Werner Schütt: Ein Wort und seine Kraft. Katalyse – ein umstrittener Begriff als Motor der Wissenschaftsgeschichte, in: Kultur & Technik 4 (1991), S. 19–25, hier S. 19. 25  Zit. nach: Diether Schmidt (Hg.): Schriften deutscher Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, Bd. 1: Manifeste, Manifeste. 1905–1933, Dresden 1965, S. 49. 26  Dass das Nebeneinander von wissenschaftlichen und mythisch inspirierten Vorstellungen in Beuys’ Konzeptionen integral ist, fasst (bspw.) zusammen: Susanne Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften, Nürnberg 2003, S. 74. 27  Michael Parmentier: Auctor oder Echoraum: Das Subjekt der künstlerischen Tätigkeit, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 87 (2011), Heft 4, https://www.schoeningh.de/view/journals/vfp/87/4/article-p671.xml S. 671–685, hier S. 672, (01. 03. 2021).

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Zwar versäumt Parmentier es nicht, in diesem Zusammenhang sogleich darauf hinzuweisen, dass „schon in der Romantik“ dieser Genie-Mythos „zu brö­ ckeln“28 beginnt. Doch in der Kunst nach 1945 scheint eine feierliche Wiedergeburt stattzufinden, vor allem dank eines medialen Diskurses, der Künstler wie Pablo Picasso im alten Genie-Jargon als Ausnahmeschöpfer zelebriert.29 Schöpferkraft umfasst hier sowohl die Anlage zu schier überbordender Imagination als auch eine exzeptionelle Unermüdlichkeit in der virtuosen Produktion. Sie ist, nebenbei bemerkt, buchstäblich als patriarchal zu verstehen und wird Männern zugeschrieben. Die Zuschreibung genialischer Schöpferkraft erlaubt es, Hauptvertreter der Avantgarden im 20. Jahrhundert (Picasso nur als populärstes Beispiel) regelrecht zu ‚verkulten‘. Das Festhalten an einem Konzept individueller Ausnahmeleistung begünstigt dabei, die bald nach 1945 weit über die USA hinaus wachsende Präsenz nordamerikanischer abstrakter Malerei durch den Zusatz ‚expressiv‘ als Kunst kraftvollen Selbstausdrucks auszustellen. In der Mitvermarktung der als frei und kulturell ermächtigt stilisierten Persönlichkeit ‚dahinter‘ – man denke an auflagenstarke, das Machen betonende Fotoserien aus Pollocks Atelier30 – kam dazu noch die plakative Abgrenzung einer westlichen gegen eine formal kühlere Ost-Abstraktion. Vor dem Hintergrund einer ausstellungsoffiziellen und bisweilen pene­ tranten Promotion des Schöpferkünstlers in den ersten zwei bis drei Nachkriegsjahrzehnten, wird verständlicher, warum sich in der Folgezeit distanzierte, bisweilen ironische Haltungen zur großen Schöpferkraft und zur großen Geste bemerkbar machen. So bei Jan Dibbets und Rainer Ruthenbeck: In einer kleinen konzeptuellen Foto-Text-Arbeit auf Papier sind sie erst an einem Restauranttisch, dann jeweils beim Biegen eines gewöhnlichen Drahtes und schließlich in gemeinsamer Pose mit zwei Drahtenden zu sehen. Die zweisprachige Bildunterschrift in großen Schreibmaschinenlettern verrät auf der rechten (englischen) Seite dazu: THE ENERGY OF A REAL ENGLISH BREAKFAST 28  Parmentier 2011 (wie Anm. 27), S. 672. 29  Noch um 1980, immerhin 35 Jahre nach Kriegsende, wird in Begleitschriften zu einer großen, bereits als Revision angelegten Ausstellung westlicher moderner Kunst die Meistererzählung „der unverbrauchten Moderne“ zentral entlang einzelner Werk-/Biographien und im Besonderen derjenigen Picassos erzählt, unter Verwendung nicht mehr zwingend explizit des Genie-Begriffs, aber mit Formeln des zugehörigen Jargons, wie Virtuosität, Souveränität, Sonderstellung; nachzulesen bei: Laszlo Glozer: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln 1981, hier insbes. S. 26ff. 30  Peter Kalb fasst, eigentlich um eine gewisse Ausnahme (mit Blick auf die Pollock-Fotoserien Rudy Burckhardts und Hans Namuths) zu machen, gleichwohl treffend zusammen: „As has been documented by numerous art historians and suggested above, the US political and culture industry took on the task of inscribing the images of Pollock into a coherent narrative of US exceptionalism and power.” – siehe Peter R. Kalb: Picturing Pollock: Photography’s Challenge to the Historiography of Abstract Expressionism, in: Journal of Art Historiography 7 (2012), S. 1–17, hier S. 14.

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TRANSFORMED INTO THE BREAKING OF A STEEL BAR BY THE ARTISTS DIBBETS AND RUTHENBECK. (London, August 1969).

2|  Jan Dibbets/Reiner Ruthenbeck: Die Energie eines englischen Frühstücks umgesetzt in das Brechen eines Stahldrahtes, 1969, Fotografie und maschinenbeschriebenes Papier, London.

Nicht nur, dass mit der Drahtbiegung durch Dibbets und Ruthenbeck der Kraftmeierei ‚großschöpferischer‘ Kunst eine Absage erteilt wird, indem sie minimale, alltägliche Formungsarbeit in Szene setzt. In diesem Fall findet sich Gestaltungskraft zudem auf den Platz recht nichtsnutzer Verrichtungen verlegt. Die Wahl des Begriffs „Energie“ im Titel der Arbeit versieht das Gemeinschaftswerk ferner mit einem zusätzlichen Modernisierungsakzent: Dibbets und Ruthenbeck greifen zu einem Standardterminus des naturwissenschaftlichen Diskurses, dessen vermehrte Verwendung zu einem Signum für das Ende eines Vorrangs des Kraftbegriffs geworden war.31 Im innerkünstlerischen Bereich konnte sich letzterer, im Fahrwasser der Inszenierungen von Schöpfertum und mit maskulinem Konnotat, länger halten, mindestens bis zu seiner Ironisierung. Der Typus des Künstlers, der als Kraftaufwendender im Zentrum seiner Arbeit steht, trat, trotz der bei Dibbets und Ruthenbeck ausgestellten Distanz zum wuchtigen Opus Magnum, in den Aktionskünsten zugleich umso anschaulicher hervor.32 Erst wenige Jahre vor Dibbets und Ruthenbeck war dieser neue

31  Bemerkenswert ist, dass sich die neue Dominanz des Energiebegriffs gewissermaßen in deren späterer wissenschaftshistorischer Aufarbeitung spiegelt. Vgl. Tanja Paulitz: Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologe des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften, 1850–1930, Bielefeld 2012, S. 268. 32  Michael Archer schreibt zum Hervortreten des Subjekts in der Aktionskunst: „Whereas Happenings in the US signal the extension Abstract Expressionist gestures into the environ-

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Grundtypus (im Anschluss an aktionistische Formen früherer AvantgardeKunst) profiliert worden, maßgeblich33 in den USA durch Alan Kaprow. Indem die Aktionskunst sich entschieden von statischen Formen löst und Flüchtiges, wie improvisierte Interaktionen oder theatrale Bewegungsabläufe, in ihr Werkzentrum rückt, etabliert sie eine alternative, dynamistisch-prozessuale Kunst. Abgesehen von ihren, durchaus vorhandenen, überwiegend den Bestand sichernden und dann de facto sekundären Prägungen (in Film, Foto, Text oder Zeichnung), besteht sie zuallererst in einer Verlaufsform. In Deutschland führten früh Vertreter des Fluxus, darunter Wolf Vostell und Joseph Beuys, Aktionen als Werke auf. Diese Aktionen oder Happenings haben nicht alle Dinge direkt verbannt. Sie unterhielten bisweilen einen besonderen Bezug zu vorgefundenen, manchmal auch eigens konstruierten Apparaturen, allerdings einen doppelbödigen: Jean Tinguely machte es bereits vor Vostell und Beuys zu einer Art maschinen-plastischem Prinzip, viel Energie für Bau und Bewegungsablauf seiner Apparate einzusetzen; für Apparate, die dann nichts – nach vordergründigem ökonomischen Verstand – Verwertbares hervorbrachten, sondern sich idiosynkratisch manövrierten und teilweise sogar selbst zerstörten.34 (Tinguely wird damit zum Vorläufer weiterer, vor allem Schweizer Künstler, die, wie Roman Signer, aufwändige Aufbauten kreieren, deren Energieladungen dann aber im Betrieb regelrecht verpuffen.) Wolf Vostell arbeitete vergleichbar, wenngleich nicht in jedem Fall direkt mit Maschinen. Auch auf Menschen an Maschinen wirkt er ein, inklusive solcher, die eine Ausdehnung der spätfordistischen Ideologie maschineller Effizienzsteigerung bis in den Privatbereich verkörpern. So macht er in einem RadioStück aus dem Jahr 1969 seinen Hörerinnen und Hörern unter anderem fol­ gende, wiederholte und ad absurdum führende Vorgabe: „Schlagen Sie sieben Mal Ihre Kühlschranktür auf und zu! […].“35

ment, there is an element of showmanship in Nouveau Réalisme which, although greatly influenced by Pollock’s example, more significantly involves the actions of the artist in the final work. All of these activities pushed the persona of the artist to the fore […]“ – in: Michael Archer: Art Since 1960, London 2002, S. 33. 33  Maßgeblich für den Westen, wäre hier zu präzisieren. Auf eine parallele, allerdings auch ihrem anderen regionalen Hintergrund verbundene Entwicklung macht u. a. Martin Damus aufmerksam, namentlich unter Verweis auf die japanische Gruppe Gutai, vgl. Damus 2000 (wie Anm. 1), S. 274. Damus stellt deren Agieren dabei dem Auftreten von Künstlern wie Lucio Fontana und Yves Klein gegenüber, die dem Nouveau Réalisme nahestehen und gleichfalls zur Geschichte der Aktionskunst beigetragen haben (vgl. auch die vorige Anmerkung). 34  Im Überblick zu diesem Zerstörungsmuster bzw. dessen Entfaltung durch Tinguelys Maschinen vgl. Claire van Els und Barbara Til: Autodestruktive Aktionen, in: Stiftung Museum Kunstpalast (Hg.): Jean Tinguely. Super Meta Maxi, Köln 2016, S. 69–86, bes. S. 70. 35  Zit. nach: Maria Goeth: Humor an den Grenzen von Musik. Strategien, Universalien, Grenzen, Hildesheim u. a. 2016, S. 319.

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Doch Fluxus und Aktionskunst ersetzen emphatischere Demonstrationen von Künstlerkraft nicht vollständig durch subversive, ironische oder nihilistische Formen. Augenfällig wird das parallele Bestehen in – letztlich klarer kraftaffirmativen – Verausgabungen der Kunstfigur des Schmerzensmannes. Sie zeichnet sich dadurch aus, sich im Rahmen von Performances physisch wie psychisch demonstrativ nicht zu schonen. Joseph Beuys hat diese Figur durch Aktionen mitgeprägt, die zum Kanon der Kunstgeschichte der Performance zählen. Dazu gehört sein Beitrag zum legendären 24-Stunden-Happening in der Wuppertaler Galerie Parnass (1965). Anders als der gleichfalls teilnehmende Vostell, war Beuys über die ganze Spanne in der Galerie präsent. Mehr noch: Außerordentlich ausdauernd harrte er dabei auf einer unkommoden, ziemlich kleinen Kiste aus, als Teil der Aktion in uns … unter uns … landunter. Nur unter einigen Windungen und Mühen ließen sich so überhaupt Bewegungen ausführen, zu denen gehörte, dass sich Beuys selbst boxte. Kurze Zeit später treten auch Schmerzensfrauen in Erscheinung, besonders prominent Marina Abramovic. ´ Immer wieder setzt sie sich starken Belastungen aus. In ihrer frühen Performance Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful (1975) kämmt sie beispielsweise ihre Haare bis weit über die Zuträglichkeitsgrenze: „[T]he hairbrush does not comb anymore, it tears the hair off, while injuring the skin.”36 Im gleichen Jahr ritzt sie sich, in Lips of Thomas, in die Haut ihres Bauches einen fünfzackigen Stern, als das Symbol der sozia­ listischen Republik Jugoslawien; und auf diese Region bezogen bzw. auf die Jugos­lawienkriege, die in der Folge des Zerfalls der Republik während der 1990er Jahre wüten, entstehen weitere schonungslose Performances. Dass solche Arbeiten auf den Kontext von Kriegen und Menschheitsverbrechen bezogen werden, verbindet Abramovic´ insofern mit Beuys, als sich beide öffentlich wiederholt wie stellvertretende Büßer für Verheerungen des 20. Jahrhunderts geißeln (obgleich bei Beuys mit Akzent auf einer Verheerung „der“ Natur durch „den“ Menschen und dann der Heilung). Dabei trauen sie ihrer Kunst „Kräfte“ hinsichtlich einer symbolischen und quasi-rituellen Verarbeitung von Unheil zu. Sie beabsichtigen so gerade keine Kraftvergeudung. Beuys und Abramovic´ können hier stattdessen für jene Kunstform stehen, in der der extreme Einsatz einer Intensitätssteigerung dient, die die Aufmerksamkeit erhöht. Deren Exponenten treten an, um sich durch ein Besonders-Viel auszuzeichnen, ohne dass in einer Rechnung von Aufwand zu Ertrag ein Zuviel resultieren müsste.

36  Andrea Mecacci: Eating an Onion. Notes on Marina Abramovic, ´ in: Aisthesis 12 (2019), Heft 1, S. 107–114, hier S. 109.

Das Unding der Kraftverschwendung

Herumlaborieren an den Grenzen: Künstlerische Krafteinsätze in Randzonen der Wahrnehmbarkeit Ganz andere historische und örtliche Bezugspunkte als Beuys und Abramovic´ wählt Nikolaus Lang. 1988 beispielsweise begibt er sich auf eine anstrengende Reise durch das Outback, um „traditionelle Ockerpfade der Aborigines […], aber auch Leidenswege Einzelner“37 nachzuvollziehen. Konkret wandelt der Künstler aus Bayern tagelang zu Fuß auf Routen, die Teil ritueller Wandernetze der indigenen Volksgruppen Australiens waren, oder auch auf Hetzstrecken von Opfern der Kolonialjustiz sowie auf Wegen früher weißer Siedler. (Nicht ohne Anlass konnte ihm diese Arbeit Vorwürfe der Appropriation über große kulturelle Distanzen hinweg einhandeln, während er sich selbst als eine Art weißer Büßer im kolonial versehrten Land verstand.) Nicht so klar rückführbar auf eine Haltung, aus der sich Verausgabung als Praxisbeitrag zu symbolischer Buße deuten lässt, scheinen Arbeiten, die Lang als Stipendiat in Japan umsetzt: Unter anderem macht er sich dort große Mühe, einen Frosch regelrecht zu bestatten. Das Tier hatte er tot auf der Holzsuche vor den Toren Tokios bei einem Fluss gefunden, wie wir aus Begleittexten erfahren.38 Diese protokollartigen Texte und einzelne Zeichenblätter, in anderen Fällen Fotos, sind das Wenige und oft wenig Ausgestaltete, das von solchen Aktionen überliefert ist. Lang beschreibt dann, wie er aus dem Froschfund heraus sein, an zwei Tagen im Dezember 1971 umgesetztes Begräbnisritual entwickelt: Nachdem er das leblose Amphibium am ersten Tag in einem Plastikbeutel im Fluss versenkt und vertäut hatte, fährt er an dem darauffolgenden erneut in die Peripherie Tokios. Von einer Vorort-Bahnstation aus findet er rasch zu dem eingesackten Frosch zurück, obwohl er, wie er anmerkt, am Tag zuvor Sorge darauf verwendet hatte, die Spuren seiner Präsenz zu beseitigen. Das Beseitigen gerät schließlich umfassender, insoweit er nun das Tier mithilfe einer aus Bambusstangen und Steinen gefügten Feuerstelle einäschert. – Vergleichbar aufwändige Rituale, verbunden mit stundenlangem Umherstreifen, vollführt er mit Kadavern in seiner bayerischen Heimat. Außer nüchternen Dokumenten bleibt naturgemäß wenig von solch einem Arbeiten am Hinfälligen zurück. Damit unterscheiden sich derartige, häufig über zählbare Distanzen im Gelände hinweg ausgearbeitete Beiträge von den meisten der im Grundsatz

37  Lutz Hengst: Forschungsadaptionen für ein Individualmuseum? Zu Genese und Posi­ tionen spurensichernder Kunst im 20. Jahrhundert, Kassel 2016, S. 92. 38  Vgl. Nikolaus Lang: Arbeiten. Texte, in: Kestner-Gesellschaft (Hg.): Nikolaus Lang, Hannover 1975, S. 13–89, hier S. 26f.

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genauso äußeren Wechselfällen ausgesetzten Land Art.39 Selbst bei sehr fra­ gilen Geländemanipulationen, wie sie früh Land Art-Künstler wie Dennis Oppenheim oder, später, beispielsweise Andy Goldsworthy vorgenommen haben, ist der Durchgestaltungs- und Kompositionsanspruch durchweg dezidierter als im Falle der bewusst rustikalen und entschieden verfallsaffinen Kunst Langs. Besonders Epigonen der Land Art, wie Goldsworthy, geben ein gutes Beispiel dafür, dass temporäre Gestaltungsinterventionen keineswegs zwangsläufig an einer Grenze des Kalkulierbaren operieren müssen. Viel mehr können sie sozusagen im Äußersten mit einem wertsteigernden Effekt rechnen, den ihr Arbeiten just vor der Werkauflösung erreicht. – Um ein Beispiel zu geben: 1998 schichtet Goldsworthy im gezeitengepeitschten Uferbereich der Bay of Fundy im kanadischen Nova Scotia angespülte Äste auf- bzw. ineinander. Dafür wählt er genau die Tageszeit, bevor die Flut einsetzt und das Treibgut mit sich zieht. Zu Nestern getürmt, spiegelt es die kapitale Form eines orts­ typischen Strömungsstrudels (Stick Dome, 1999). Die örtliche und zeitliche Exposition setzt auf das Spannungsmoment der drohenden Auflösung, um den unbedingten Kunstwillen in der gelingenden Gestaltung gerade noch davor, vor der Tilgung, zu zeigen; und je kürzer dieses Davor ist, desto aufmerksamkeitserheischender ist das Eben-noch-Fertiggestellte. Das kontrastiert stark mit Kunstwerken, die gar nicht erst so ambitiös entstehen und sich stattdessen in einem eher gestaltungsarmen Nesteln am modernden Material (wie bei Lang) fast verlieren. Ebenso kontrastiert es damit, dass, wie im Falle von Alÿs’ Paradox of praxis, das potenzielle Gestaltungsmaterial nicht nur nie zu einer bevorzugt herausgestellten Form gebracht wird, sondern sogar schon in der Zuwendung des Künstlers zerrinnt. Allerdings, zur Erinnerung: auch Alÿs lässt Stadien des Objekts seiner Verausgabung (und sich) durch Fotografien sorgsam mitdokumentieren. Darüber mindert er die – verglichen mit einer Vostell’schen Effizienzkritik: – entschiedenere Positionierung gegen eine global gewordene Verzweckung, insofern das Fotodokument seiner ‚Arbeit-zuNichts‘ nachträglich einen Zweck hinzufügt und das zuvor ausgesetzte Primärwerk in den Markt zurückholt. Bei einem weiteren Künstler, bei Jochen Gerz, verkomplizieren sich die Verhältnisse im Gange der medialen Reproduktion noch weiter: Die zweite, die Dokumentation im Fotoprint einer seiner Arbeiten spielt gewissermaßen gesteigert in die Verausgabung. Gerz’ ursprünglich mitgefilmte Aktion Rufen bis zur Erschöpfung (u. a. Paris 1972) wird in Günter Metkens Band Spurensiche­

39  Als eine Ausnahme kann in diesem Kontext Hamish Fulton genannt werden, mit seinen Wanderungen als Hauptwerk, die ihrerseits in das Sub-Genre ‚konzeptuelles Reisen‘ einleiten.

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rung mithilfe eines Stills gezeigt.40 Doch das, was Gerz zentral, wenn auch vergebens vollzieht, nämlich das Anrufen gegen automobilen Lärm, kann das isolierte technische Bild nicht wiedergeben.

3|  Jochen Gerz: Rufen bis zur Erschöpfung, 1972, Filmstill, Paris.

Zwar lässt die für die Abbildung im Buch ausgewählte Pose des Künstlers, mit vage erkennbar trichterförmig links und rechts seines Mundes aufgestellten Händen, erahnen, dass er ruft. Hörbar wird er dadurch natürlich nicht. Die Vergeblichkeit seines zunehmend heiseren Anrufens gegen den undurchdringlichen Großstraßen- und Maschinenlärm verdoppelt sich in dieser medialen Reproduktion. Sie kann nur noch einen Moment der Verausgabung des Künstlers archivisch verzeichnen und erst im Verbund mit Begleittext mehr Aufschluss geben. Als Standbild aus einem Tonfilm kann sie weder seine Stimme noch die Übertönung wiedergeben. – Gegen diese verlustbetonende Lesart kann wieder eingewendet werden, dass die inszenierte Verausgabung, gerade in ihrer nachträglich, durch das Printformat gesteigerten Beschnittenheit, ein Ziel weiterverfolgt: Inmitten einer lauten Welt auf schwer wahrnehmbare, aber umso notwendigere Um-Gestaltungsversuche durch Kunst hinzudeuten. Dass sich deren Relevanz mithilfe selbst zunächst ungeeignet erscheinender Me­­ dien herausstellen lässt, erhöht den Nutzen, den Künstler aus Verausgabung

40  Siehe Günter Metken: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977, S. 124.

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ziehen können. Ziele können damit gleichermaßen im Bereich der Verbreitung künstlerischer Kritik an herrschenden Verzweckungsszenarien liegen wie in der Behauptung des eigenen Schaffens.

Vor dem Abschied nach ‚Entroprien‘: Bilanzierendes zu Optionen und Grenzen von ‚Verausgabungskunst‘ Am Ende kann es kaum gelingen, eine Kunstform der völligen Zweckfreiheit und des Kraftvertuens auszumachen. Die hier prominent gesetzten Arbeiten, bei denen es sich selbstverständlich um eine exemplarische Selektion handelt, lassen sich besser als Kunstformen einer zur Schau gestellten Verausgabung betrachten, einer immer noch auf etwas gerichteten. Über die Unterschiede bestimmter thematischer Bezüge hinweg – von der Verarbeitung von Schuld bis zum Rufen in der ‚automobilen Wüste‘ – verbindet die ausgewählten Beispiele konkret das Doch-Bezogensein auf den institutionellen Kunstkontext und -markt. Mindestens diese Ausrichtung und noch mehr das Sich-Behaupten im etablierten Kunstsystem stiften einen Zweck. Dass es gelingt, sich mit ebenso aufwändigen wie materiell ergebnislichten Werken zu behaupten, ist trotzdem bemerkenswert. Denn, obwohl die Systemimmanenz am Ende die radikalsten Potentiale vergibt, lassen sich durchaus riskante Momente erkennen: Schon die überwiegend undingliche Ausführung der Arbeiten erhöht das Risiko, im Betrieb nicht oder nur nachrangig wahrgenommen zu werden. Indem sich diese ‚Vollzugskunst‘ bis ans Verpuffen vorwagt, stellt sie ihr genuines Energetisch-Sein umso entschiedener frei. Wie oben umrissen, können Künstler wie Francis Alÿs, Jochen Gerz und Nikolaus Lang auf eine Vorgeschichte und eine Basis der Akzeptanz bauen. Ihre Exponate erscheinen in einer Reihe früherer Entwicklungsschritte hin zu flüchtigen und performativen Werken, und damit einer Kunst, die Hervorbringung künstlerischer Form als Vollzug selbst ausstellt sowie privilegiert, statt ihn bloß vorauszusetzen. Darüber, über die spezifischeren Vorgeschichten flüchtig-aktionistischer Kunst, kommen zugleich wieder die großen Linien westlicher Kunst im 20. Jahrhundert mit in den Blick.41 So schaffen einflussreiche Entwicklungen, auf programmatischer Ebene etwa Dada- und Surrealismus

41  Mit Akzent auf ästhetische Muster (ohne die genau gleiche historische Periodisierung, von materialbetont zu ergebniswerklos, vor Augen zu haben) schreibt Roberto Nigro treffend: „Den Weisen, wie Künstler, Werk und Tätigkeit miteinander verbunden sind, korrespondieren die sukzessiven Transformationen der ästhetischen Paradigmen.“ – Roberto Nigro: Wie verändert sich Kunst, wenn sie zur Tätigkeit ohne Werk wird?, in: Judith Siegmund (Hg.): Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? Bielefeld 2016, S. 199–213, hier S. 200.

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oder, auf formaler Ebene, abstrakte Kunst, vor und nach den Weltkriegen Grundlagen freisetzenden Gestaltens – und nicht zuletzt neue Gelegenheiten, die Figur des genialischen Schöpferkünstlers aufzurufen. Darauf wiederum reagieren Arbeiten, die ‚Künstlerkraft‘ ironisieren; wobei das Beschwören, das der Ironisierung vorausliegt, beim zweiten Hinsehen an sich schon brüchig erscheint. Dahinter nämlich könnte die Erfahrung eines modernen Verlustes stecken, der an der Ausnahmestellung des Schöpferkünstlers zehrt. Gemeint ist ein Verlust, der darauf gründet, dass ein populär hoch geschätztes, aber deswegen nicht unwichtiges Element künstlerischer Gestaltungskraft für lange Zeit mit der Fähigkeit identifiziert wurde, etwas im Bilde festzuhalten und getreu nachzubilden, das vor der Erfindung der Fotografie anders nicht festzuhalten war.42 Erst Kunstschaffende der späten Moderne scheinen, statt Überkompensation, einen Frieden mit diesem Verlust an Nachbildungshoheit zu suchen.43 Eine ihrer Optionen – der Wechsel in den Modus nicht-dauerhafter Kunst – verspricht sogar eine sekundäre Souveränität: Künstlerinnen und Künstler dürfen sich in der Negation bleibender Formgestaltung eine andere Entscheidungsgewalt darüber zuschreiben, inwiefern etwas entsteht. Solche Kunst muss weder eine zweite, eine Quasi-Naturkraft durch die überzeugende Nachbildung unter Beweis stellen, noch eine ‚Kraft zur Kunst‘ an etwas Anderes, Ersatzweises abgeben, das weit außerhalb des hervorbringenden Zugriffs zu suchen wäre.44 Anders gesagt: In der nihilistischen Suspension der stabilen Form oder überhaupt des Werks überdauert zumindest das zeitweilig und potenziell zur Gestaltung ganz freie Subjekt. In einigen berühmt gewordenen Fällen kann das nicht materiell Gestalten auf einer anderen Ebene sogar neuerlich zu großer Ausdehnung führen, wie bei Yves Klein: 42  Hinzuzufügen ist, dass sich freilich auch vor-fotografische Kunst von Forderungen mimetischer Darstellungstreue oder deren Rang auf verschiedene Weisen zu distanzieren vermochte. 43  Dass das Problem in den Nachkriegsmodernen noch virulent ist, zeigt exemplarisch das eingangs zitierte Antiobjekt-Manifest. Unter Punkt acht, in kämpferischer, aber offenbar darin als notwendig empfundener Distanzierung von einem überkommenen mimetischen Anspruch an Kunst, heißt es: „Heute ist Abbild ohnehin nur noch ein müder Reflex des Künstlers auf die mechanische Bilderinflation durch die Massenmedien.“ – siehe: Bachmayer u. a. 2000 (wie Anm. 2), S. 90. 44  Unter die dann nicht aufzurufenden „apriorischen Kräfte“ außerhalb des Gestaltens bzw. vor diesem zählt die, im Vorausgehenden mit Menke implizit adressierte, „ereignishafte Konstellation“. Gleichfalls werden so, über die Abwendung von spekulativen „Kräften davor“, auch Bemühungen jener früheren Modernisierer entbehrlich, die versuchten, bildnerische Kraft zwar in der kompositorischen Geste des Schaffenden zu behaupten, ihr aber deren Anlagerung im Material – bei Kandinsky sind das im Besonderen Farbe und Form – voraussetzten. Vgl. dazu: Reinhard Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. 1: Darstellung, Berlin 2002, hier insbes. S. 300f.

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„In Zusammenarbeit mit dem Architekten Werner Ruhnau […] entstand 1958 das ‚Manifest zur allgemeinen Entwicklung der heutigen Kunst zur Immaterialisierung (nicht Dematerialisierung)‘, in dem sie die Absicht verkündeten, eine Architektur ohne feste Dachkonstruktion zu schaffen, bei der Materie durch Energie ersetzt würde. Küche, Bäder, Schlafräume sollten unterirdisch angesiedelt sein, während der offene Wohnbereich über der Erde lag – von keinerlei sichtbarer Grenze umgeben, da hier Außenund Trennwände ausschließlich aus Luft bestanden. Diese Architektur unter freiem Himmel, bei der Innen und Außen verschmolzen und die Raumeinheiten gleitend ineinander übergingen, waren Ausdruck der Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit – Ideale, die das gesamte Œuvre Kleins prägten.“45 So kommt zum Abschluss ein Beispiel doch wieder raumgreifender künstlerischer Zwecke inmitten der Zurückweisung dauerhaft stabiler Werkzurichtung – oder: ein Viel-Wollen im Wenig-Herstellen – zu Wort. Mit Kleins Ideal der Grenzenlosigkeit drängt sich mir eine entsprechend weitläufig bilanzierende Relativierung auf: Wird Energie nämlich als bloße Ressource ubiquitärer Bewegung betrachtet, entbehrt die scharfe Unterscheidung zwischen Zweck­ orientierung und Zwecklosigkeit bezüglich ihrer Einsätze einer Grundlage. Es lassen sich darin Unterschiede in der Gerichtetheit und den Umwelteffekten beobachten, doch Dringlichkeit besitzen sie ausschließlich für haushaltendes Leben. Energetische Hauptströme hingegen erlauben in orbitaler Dimension gleichgültig das Dauerglühen der Sonne und dereinst deren plötzlichen, keineswegs unenergetischen Zerfall. Wieder auf den haushaltenden Menschen, aber einen Lebensbereich zurückgewendet, der nicht zwangsläufig durch die sonst herrschenden Ökonomien bestimmt sein muss, möchte ich auf das Folgende hinaus: Dass es auch energetisch fragwürdig wäre, Kunst in ‚ergebnis‘-, treffender: rückstandsarmer Form a priori als verschwenderisch zu beschreiben. Nur wer ein ideologisches Effizienzraster anlegt, könnte pauschal an solchen Urteilen festhalten. Dass bestimmte Kunstpraktiken der Verausgabung zustreben, soll damit keineswegs bestritten werden. Eine solche Kunst bewusst zu praktizieren, ist sogar dazu angetan, eine Haltung im Sinne nicht allein der Effizienz-, sondern der Kritik jedweder Verzweckung von Gestaltungskräften auszudrücken. Ob nun in kritischer Absicht oder nicht, zählt für eine Kunst der Verausgabung das ausgestellte Ausreizen des Aufwandes als Maßstab, den eine Künstlerin, ein Künstler treibt, treiben kann und zu investieren bereit ist. Im günstigen Fall zeigt sich gerade in der Exponiertheit eines performativen Ringens klar die ursprüngliche Synchronie von Bewegung und Ausformung im Vollzug 45  Schmitt 2013 (wie Anm. 10), S. 147.

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der künstlerischen Gestaltungsarbeit. Tatsächlich sind unter den hier angeführten Beispielarbeiten solche, die sich dadurch auszeichnen, dass die, die sie geschaffen haben, sehr weit gegangen sind, ohne dabei zuerst auf beständige, also asynchrone Kunstformen zu setzen. Verausgabende Kunst nimmt in Kauf, an die Grenze von einem Zuviel an Einsatz zu einem Zuwenig an Ertrag zu geraten. Solange sie aber in Erscheinung tritt, wie flüchtig das sein mag und sei es mithilfe eines dafür außerordentlich hohen Aufwandes, fällt die Last einer jeweils möglichen ‚energetischen Unbilanz‘ auf das schaffende Individuum zurück. Andere können dies Risiko nicht bilanzieren. Und doch ist eine Art äußere Bilanzgrenze vorstellbar. Sie liegt dort, wo ein geforderter Aufwand die Kräfte, irgendetwas initiativ zu formen, endgültig übersteigt. Der Werkcharakter müsste in der Folge solch einer Grenzüberschreitung vollends gefährdet werden, und ein Unterfangen dieser Art nähme Kurs auf ein Jenseits jeder Immanenz im künstlerischen System. Bas Jan Ader steht für eine Position, die dem sehr nahegekommen ist. Sich entschieden Naturkräften auszusetzen, bestimmte bereits ältere Serien seines schmalen Werks. Unter anderem umfassen sie seine Stürze von einem Hausdach oder, mit einem Fahrrad, in eine Amsterdamer Gracht, jeweils filmisch festgehalten. Im Juli 1975 schließlich bricht er im Alter von 33 Jahren in Cape Cod an der Ostküste der USA mit einem kleinen Segler zu einer riskanten Atlantiktraverse auf, als zentraler Teil seiner Arbeit In Search of the Miraculous. Monate später wird sein verwaist und umgedreht treibendes Boot vor der irischen Küste entdeckt. Wie einst der Amateurboxer und Avantgardist Arthur Cravan gilt Bas Jan Ader seither als auf See verschollen. Vermutlich hatte er, allein und mit bescheidenem Bootsmaterial unterwegs, irgendwann den Naturgewalten des Meeres nichts mehr entgegenzusetzen.46 Die totale Verausgabung bedeutet dann das Ende auch aller künstlerischen Gestaltungskraft. Ob sie damit verschwendet war, kommt uns zu beurteilen nicht zu.

46  Der Verweis auf die „Naturgewalt“ bietet die Möglichkeit, sich einer Interpretation zu enthalten, die anhand der Biographie Aders’ das Klischeebild vom selbstzerstörerischen Künstlergenie bedient. Letzteres aufzurufen, attestiert Maike Aden einer mittlerweile verbreiteten kunsthistorischen Rezeption. (Sie kommt im Weiteren auf eine – m. E. womöglich nur vermeintliche – Alternative zur Selbstzerstörungsthese zu sprechen, nach welcher sinngemäß freie, unbeherrschte Kräfte eine Anziehung auf die Künstlerexistenz ausgeübt haben könnten.) Vgl. Maike Aden-Schraenen: Bas Jan Ader als absurder Held. Die Moderne im und als Fall, in: NEUE kunstwissenschaftliche Forschungen 1 (2014), http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bsz:16-nkf-167237 S. 26–38, hier insbes. S. 28f., (01. 03. 21).

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Die unheimlichen Kräfte der Natur in ‚spekulativen Seinserzählungen‘ von der Romantik bis zur Gegenwart

Die im Zuge des linguistic turn der 1960er Jahre eingeforderte kritische Ausein­ andersetzung mit der sprachlichen Verfasstheit aller Dinge erlebt seit geraumer Zeit eine markante Infragestellung. Gegen die Überzeugung, dass es Realität nicht anders gibt denn als diskursiv geformte, entwickeln sich seit Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl von Theorien, die ausgehend von einem subjektund anthropozentrismuskritischen Impuls neu über das Verhältnis von Mensch und Umwelt, Subjekt und Objekt, Geist und Materie nachdenken und zu der Einsicht drängen, dass der materiell gegebenen Welt jenseits der menschlichen Erkenntnis mehr Aufmerksamkeit zu widmen sei. Befördert wird dieses Drängen durch das zeitgleich sich verstärkende Bewusstsein von der durch den Menschen verursachten ökologischen Krise. Erst wenn der Mensch verstünde, dass er nicht über der Natur steht, sondern ein Teil von ihr ist, wäre ein Ausweg aus der Krise denkbar.1 Nachdem es zunächst so aussah, als würde sich der Begriff der alles mit allem in Verbindung setzenden Affektivität als neues Paradigma dieser Denkbewegung abzeichnen,2 sind es nun eher Theorien wie Posthumanismus, Neumaterialismus und Spekulativer Realismus, die besonders hoch im Kurs einer ökokritisch orientierten Kulturwissenschaft stehen und dazu veranlassen, wahlweise von einem nonhuman turn, material turn oder speculative turn zu sprechen.3 So unterschiedlich die diese turns begründenden Theoriekomplexe 1  Zur Entwicklung dieses Gedankens vgl. Laurence Coupe (Hg.): The Green Studies Reader. From Romanticism to Ecocriticism, London u. a. 2000. 2  Vgl. Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich u.a 2007; Melissa Gregg und Gregory J. Seigworth (Hg.): The Affect Theory Reader, Durham/NC u. a. 2010. 3  Zum material turn vgl. Diane Coole und Samantha Frost (Hg.): New Materialisms: Ontology, Agency, and Politics, Durham/NC u. a. 2010; zum nonhuman turn vgl. Richard Grusin (Hg.): The Nonhuman Turn, Minneapolis u. a. 2015, zum speculative turn vgl. Levi Bryant, Nick Srnicek und Graham Harman (Hg.): The Speculative Turn: Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011.

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im Einzelnen auch sind, eint sie ihr Bestreben, die traditionelle Frontstellung von aktiver menschlicher Subjektivität und passiver Materialität aufzuheben und nun auch nicht-menschliche Materialität als aktiv zu denken. Um diese Aktivität genauer zu bestimmen, wird mit erstaunlicher Häufigkeit, aber auch in erstaunlich unreflektierter und unsystematischer Weise auf die Vorstellung einer in den Dingen der Welt herrschenden ‚dunklen Kraft‘ zurückgegriffen, wenngleich in terminologisch ausdifferenzierter Weise: Produktivität, Affekt, conatus, Potentialität, Materialität und agency sind nur einige der Konzepte, die herangezogen werden, um sich dem zu nähern, was nicht unmittelbar greifbar, aber nichtsdestotrotz wirkungsvoll ist und damit eine interessante Nähe zu dem aufweist, was Immanuel Kant einst als unerkennbar markiert hatte: das Ding an sich.4 Zu zeigen, a) wie die Aktivität der Dinge als ein Wirken von Kraft gedacht wird, inwiefern b) diese Art der Kraft als dunkel und unheimlich imaginiert wird, und wie dieses Kraftdenken c) mit einem spezifischen Naturverständnis zusammenhängt, ist das Anliegen dieses Artikels. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, dass die gegenwärtige Beschäftigung mit ‚dunklen Kräften‘ auf Diskurse aus der Zeit der Romantik zurückgreift, die sich ihrerseits aus einer Auseinandersetzung mit Bildwelten aus dem Mittelalter speisen. Das führt zu einer eigentümlichen Spannung. Während vor allem in der Naturphilosophie der Romantik Natur als durchwirkt von der Kraft der göttlichen Vernunft gedacht wird, wird in vielen literarischen Texten der Zeit die Kraft der Natur als heidnisch-dämonisch imaginiert. Um diese These genauer zu untersuchen, werde ich naturphilosophische und literarische Texte aus der skandinavischen Romantik heranziehen und diese mit literarischen Texten und Filmen der Gegenwart vergleichen. Auch hier werde ich mit Material aus Skandina­ vien arbeiten. Skandinavien bietet sich für ein solches Nachdenken über Kraft an, da hier die gegenwärtig wachsende Sorge über die Zukunft unseres Planeten in besonderer Weise mit Vorstellungen von einer kraftvoll-unheimlichen Natur zusammengedacht wird. Die skandinavischen Länder stehen in dem Ruf, Ort einer ausgeprägten Liebe zur Natur zu sein und in ökologischer Hinsicht ein besonders großes Engagement an den Tag zu legen. Gleichzeitig haben wir es mit technologisch besonders avancierten Ländern zu tun. Die dadurch entstehende Spannung konnte lange Zeit durch die Dominanz einer protestantisch geprägten Ethik ausgeglichen werden, in der ökologisches, technologisches und religiöses Denken miteinander harmonisiert wurden, indem Eingriffe in die

4  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jan Timmermann, Hamburg 1998; wichtig sind hier v.a. seine Überlegungen zur „Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena“ (ebd. S. 336–377).

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Natur als Nutzbarmachung einer von Gott zur Arbeit bereitgestellten Natur verstanden wurden.5 Dieses Gleichgewicht ist in den vergangenen Jahren ins Schwanken geraten. Auch wenn die Auswirkungen der Klimakrise sich im Norden Europas noch nicht in dramatischer Form abzeichnen, stellt vor allem der steigende Meeresspiegel eine veritable Bedrohung für die von allen Seiten von Wasser umgebenen skandinavischen Länder dar.6 In der skandinavischen Literatur und dem Film der Gegenwart wird diese Bedrohung zum zentralen Thema. Immer mehr Werke entwerfen Zukunftsszenarien, die das Leben auf dem Planeten Erde als gefährdet darstellen. Da diese Darstellungen sich nicht auf das beziehen, was offen zutage liegt, sondern auf etwas nur möglicherweise Vorhandenes oder erst noch Kommendes, bezeichne ich die hier interessierenden Werke als Spekulative Fiktion. Entgegen des sonst gebräuchlichen Verständnisses von Speculative Fiction als Sammelbegriff für nicht-mimetische Texte, die die gegebene Welt entweder in eine technologisch veränderte Zukunft hin ausweiten und insofern mit dem Genre Science Fiction zusammenzudenken sind, oder für Texte, die von rational nicht erklärbaren Vorkommnissen erzählen und deshalb häufig dem Genre Fantasy oder Phantastische Literatur zugerechnet werden,7 verstehe ich unter Spekulativer Fiktion literarische Texte und Filme, die im oben skizzierten Sinne von einer Welt erzählen, in der Mensch, Natur und Technik gleichermaßen als durchzogen von Kräften gedacht werden. Da diese Kräfte nicht empirisch fassbar sind, geschieht das Erzählen im Modus des Spekulativen. Um zu untersuchen, wie dieser Begriff des Spekulativen mit spekulativem Denken der Romantik einerseits und spekulativem Denken in posthumanistischen und neumaterialistischen Theorien der Gegenwart zusammenhängt, werde ich zunächst skizzieren, wie eine von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling inspirierte Naturphilosophie in das Kraftdenken der skandinavischen Romantik übernommen wurde und wie sich dieses Denken an literarischen Darstellungen pagan gedachter Kräfte bricht. Daran anschließend zeige ich, wie dieses Denken im Spekulativen Realismus und im Neumaterialismus zum Ausdruck kommt. Dazu werde ich insbesondere auf die Arbeiten Graham Harmans und Jane Bennetts verweisen. In einem dritten Schritt möchte ich zeigen, wie sich diese Theorien in der zeitgenössischen spekulativen Literatur und Filmkunst Skandinaviens spiegeln. In allen drei Abschnitten werde ich

5  Vgl. hierzu Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hg. von Dirk Kaesler, München 2006. 6  Vgl. hierzu Katie Ritson: The Shifting Sands of the North Sea Lowlands. Literary and Historical Imaginaries, London u. a. 2018. 7  Zur verzweigten Begriffsgeschichte vgl. Marek Oziewicz: Speculative Fiction, in: Oxford Research Encyclopedia of Literature, gepostet am 29.03.17, https://oxfordre.com/literature/ view/10.1093/acrefore/9780190201098.001.0001/acrefore-9780190201098-e-78 (21.02.2021).

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versuchen, Kraft als eine der menschlichen Kontrolle entzogene und deshalb unheimliche Größe zu erschließen, der sich auf spekulative Weise genähert wird, da sie sich weder empirisch noch rational fassen lässt.

I. Kraft in der romantischen Naturphilosophie Skandinaviens Der zentrale Gedanke der romantischen Naturphilosophie – die Einheit von Natur und Geist – speist sich aus einer Kritik an Kants Kritik der reinen Vernunft, die dieser zunächst 1781 und dann, in erweiterter Form 1787 veröffentlichte. In diesem Werk bestimmt Kant Spekulation als einen Vernunftgebrauch, der auf eine Erkenntnis a priori, d. h. auf eine Erkenntnis vor und außer aller Erfahrung abzielt und damit frei von Zufälligkeiten ist. Kant erklärt: „Eine theoretische Erkenntnis ist spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann.“8 Allerdings schränkt er ein, dass menschliche Erkenntnis immer an eine subjektive Perspektive gebunden ist, und zwar auch dort, wo im oben angeführten Sinne spekuliert wird. Was wir von den Dingen wissen, wissen wir nur insoweit, wie wir von ihnen Bewusstsein haben. Über die ontologische Beschaffenheit der Welt, die Dinge an sich, kann nichts Allgemeingültiges gesagt und gewusst werden. In der von Schelling inspirierten skandinavischen Romantik wird die im Begriff verharrende Philosophie Kants verworfen und durch den Anspruch ersetzt, Seinsaussagen über die Natur machen zu können, die als durchwirkt von der Kraft der göttlichen Vernunft aufgefasst wird. Die epistemologisch begründete Kluft zwischen Mensch und Natur soll ontologisch geschlossen werden. Die Vermittlung dieses Gedankens nach Skandinavien verdankt sich dem dänisch-norwegischen Naturwissenschaftler Henrik Steffens. Steffens hörte im Winter 1798/1799 Schellings Vorlesungen in Jena und rezensierte im Jahr darauf auf mehr als 30 Seiten Schellings frühe naturphilosophische Schriften in der ersten Ausgabe von Schellings Zeitschrift für speku­ lative Physik.9 Auch in seinem 1801 erschienenen Werk Beyträge zur inneren Naturgeschichte der Erde10 schloss Steffens sich den naturphilosophischen Ideen Schellings an und erarbeitete eine Naturgeschichte, die auf der Überzeugung von der Identität von Natur und Geist basiert. In seinen im Winter 1802 in Kopenhagen gehaltenen Vorlesungen, Einführung in Philosophische Vorlesungen

8  Kant 1998 (wie Anm. 4), S. 702. 9  Henrik Steffens: „Schelling, F.W.J.: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. Hamburg: Perthes 1798. Rezension“, in: Zeit­ schrift für spekulative Physik 1 (1800), S. 88–121. 10  Henrik Steffens: Beyträge zur inneren Naturgeschichte der Erde, Bd. 1, Freyberg 1801.

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(Inledning til philosophiske Forelæsninger), geht Steffens ausführlich auf den Begriff des Triebs ein, den er weitgehend synonym mit dem der Kraft gebraucht. Er legt dar, dass in jedem lebenden Geschöpf der Trieb der Selbsterhaltung wirke, dieser „individualisierende Trieb“ aber „im Widerspruch zu sich selbst“ stehe, da er auf die Vernichtung anderer ziele und damit sich selbst gefährde.11 Diese Dissonanzen löst Steffens aber auf, indem er sie in die alles übergreifende Harmonie des Daseins integriert. Über allem steht „der Einheitstrieb des Universums“, der „[w]ie eine höhere, unsichtbare Hand“12 den Einzelnen steuert, ohne ihm jedoch seine Freiheit zu nehmen: die Kraft des Göttlichen. Den im Menschen selbst liegenden Keim des Göttlichen gilt es Steffens zufolge sorgsam zu pflegen. In der neunten Vorlesung, die den humanistisch-idealistischen Endpunkt seiner Vorlesungsreihe bildet, hält Steffens fest: „Diesen Keim zu heben, ihn zum Wachsen zu bringen, ist der ewige Wunsch des Edleren Menschen.“13 Eingewoben in Steffens Vorlesungen sind auch Gedanken zur Poesie. Ihr kommt im naturphilosophischen Denken ein besonderer Stellenwert zu, da in ihr die Ahnung des Göttlichen schöpferisch wird. Steffens erklärt: „Diese Ahnung, deren Gegenstand immer unendlich ist, nennt man, wenn sie sich in ihrer Herrlichkeit in einem vortrefflichen Gemüt lebend, schaffend offenbart – Poesie.“14 Auch bei Steffens Zeitgenossen, dem dänischen Naturwissenschaftler Hans Christian Ørsted, dessen Ruf als Physiker von Weltrang sich heute vornehmlich auf seine Entdeckung des Elektromagnetismus im Jahr 1820 gründet, gehen Gedanken über Kraft, Spekulation und Poesie eine für die Zeit charakteristische Mischung ein. In seinem Werk Die Kraftlehre (Kraftlæren) legt er dar, dass die Kräfte, die chemische, elektrische oder magnetische Veränderungen bewirken, der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sind. Nicht die Kräfte als solche, sondern nur deren Wirkungen können untersucht werden.15 Gerade deshalb aber, so Ørsted an anderer Stelle, müsse die experimentelle Wissenschaft durch spekulatives Denken ergänzt werden. „Der Naturforscher versucht sich der Idee des Ganzen zu bemächtigen […]. Das geschieht in der 11  „individualiserende Drift“, „Modsigelse med sig selv“ (Henrich Steffens: Inledning til philosophiske Forelæsninger, Kopenhagen 1996, S. 15). 12  „Universums Eenhedsdrift“, „som en høyere, usynlig Haand“ (Steffens 1996, wie Anm. 11, S. 18 und S. 21). 13  „At hæve denne Spire, at bringe den til at vokse, er det Ædlere Menneskes evige Ønske.“ (Steffens 1996, wie Anm. 11, S. 155). 14  „Denne Ahnelse, hvis Gienstand altid er uendelig, kaldes, naar den levende, skabende aabenbarer sig i sin Herlighed i et fortreffeligt Gemyt – Poesie.“ (Steffens 1996, wie Anm. 11, S. 34). 15  Vgl. Hans C. Ørsted: Kraftlæren, in: Anja Skaar Jacobsen (Hg.): H. C. Ørsted‘s Theory of Force. An Unpublished Textbook in Dynamical Chemistry, Kopenhagen 2003.

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Naturphilosophie […]. Sie ist die höchste Spekulation und nimmt nichts aus der Erfahrung.“16 Interessant an dieser Wertschätzung des spekulativen Denkens ist seine Nähe zum Begriff der Einbildungskraft und damit zum literarischen Denken. Ørsted spricht im Zusammenhang mit der spekulativen Vernunft von der „hervorbringende[n] Kraft“ des Gedankenexperiments, die er für den Prozess des Erkenntnisgewinns als ebenso wichtig ansieht wie den „ordnende[n] Verstand“17. Allerdings reicht Ørsteds Wertschätzung der Einbildungskraft nur so weit, wie diese den Gesetzen der Vernunft untergeordnet bleibt. In einem Aufsatz über Das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Dichtkunst (Naturviden­ skabens Forhold til Digtekunsten) postuliert er zunächst: „Der Dichter schafft sich mit vollem Recht eine übernatürliche Welt, in der die Einbildungskraft und nicht der Verstand die Oberherrschaft hat.“ Dann aber heißt es einschränkend: „Die große Freiheit, mit der die Einbildungskraft in der Welt der Dichtung wirkt, darf aber nicht wild und zügellos sein; vielmehr gibt es ja eine ganze Welt der Schönheit, dessen Gesetze sie nicht übertreten darf.“18 Gerade zu solchen ‚wilden Übertretungen‘ kommt es aber in vielen Texten der romantischen Literatur. Dass diese Übertretungen oft mit einer der Natur zugeschriebenen Kraft zu tun haben, die dem Menschen gefährlich wird, wenn er sich nicht von ihr fernzuhalten oder sich deutlich von ihr abzugrenzen versteht, lässt sich vor allem an den Texten sehen, die sich auf die ‚Zauberlieder‘ (trylleviser) des Mittelalters beziehen. Während es in Norwegen und Schweden oft Waldgeister wie Huldren, Elfen oder Trolle sind, die thematisch werden,19 nimmt in der dänischen Dichtung die Figur des Wassermanns eine zentrale Position ein.20 Der Wassermann gehört gemeinsam mit den Seejungfrauen und den vor allem in Seen und Flüssen vorkommenden Nöcks zur 16  „Naturgrandskeren søger at bemægtige sig det Heles Idee […]. Dette skeer i Naturphilosophien. […] Den er den højeste Speculation, og laaner intet af Erfaringen […].“ (Hans C. Ørsted: Videnskaben om Naturens Almindelige Love, Bd. 1, Kopenhagen 1809, S. 6f.). 17  I.O. dt.: Hans  C. Ørsted: Betrachtungen ueber die Geschichte der Chemie, in: Hans  C. Ørsteds Naturvidenskabelige Skrifter, Bd. 1, hg. von Kristine Bjerrum Meyer, Kopenhagen 1920, S. 315–343 und S. 340. 18  „Digteren danner sig med fuld Ret en overnaturlig Verden, i hvilken Inbildningskraften, ikke Forstanden har Overherredømet.“, „Den store Frihed, hvormed Indbildningskraften virker i Digtningsverdenen, tør dog ikke være vild og tøilesløs; men der gives tvertimod en heel Skjønhedens Verden, hvis Love den ikke maa overtræde.“ (Hans C. Ørsted: Naturvidenskabens Forhold til Digtekunsten, in: ders.: Aanden i Naturen, Bd. 2, Kopenhagen 1850, S. 155– 175, hier S. 163). 19  Per Ottesen: Huldra. Sagn og tradisjoner om de underjordiske, Oslo 2005; Lynda Taylor: The Cultural Significance of Elves in Northern European Balladry, Leeds 2014. 20  Vgl. für den dänischen Kontext Vibeke A. Pedersen: Romantik og folkeviser – en reper­ toireundersøgelse, in: Henrik Blicher (Hg.): Som Runer paa Blad. Arbejdspapirer om dansk litte­rær romantik 1800–1820, Kopenhagen 1996, S. 35–52.

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­Gattung der Wassergeister, die aufgrund ihrer betörenden Stimmen oder der wundersamen Klänge ihrer Harfe zu einer Gefahr für die Menschen werden. Und zwar vor allem für die, die sich in einem Übergangsalter befinden, also empfänglich sind für die verschiedenen Möglichkeiten des Lebens. Insofern taucht der Wassermann häufig als Verführer junger Mädchen auf.21 Eins dieser namhaft gewordenen Mädchen ist Agnete. In dem Lied Agnete und der Wasser­ mann (Agnete og Havmanden) steht sie, symbolisch bedeutsam, auf einer Brücke als plötzlich ein Wassermann auftaucht und um sie freit. Die ersten drei der insgesamt 50 Strophen, alle zweizeilig mit Paarreim und ergänzt durch den nach jedem Vers eingeschobenen Refrain, lauten: „Agnete sie steht auf der Højelands Brücke, — Die Vögel singen. — Und es kommt der Wassermann aus den Wellen so blau. — Schöne Agnete! — Sein Haar war wie das purste Gold, Seine Augen die waren ach so hold’. ‚Und hör du Agnete, so hübsch und fein! Willst du nun werden die Liebste mein?‘“22 Agnete zögert nicht lange. Sie lässt sich mitnehmen ins Reich unter Wasser und bekommt dort im Laufe von acht Jahren sieben Söhne und eine Tochter. Dann aber wird sie eines Tages vom Läuten der Kirchenglocken an ihr früheres Leben erinnert und erwirkt sich unter Auflage einiger heidnischer Gebote von ihrem Gatten ‚Landgang‘. Als sie jedoch, unter dem Einfluss von Pastor und Mutter stehend, an Land bleiben will, wird sie von dem in die Kirche stürmenden Wassermann wieder mit Gewalt in die Tiefen des Meeres hinabgezogen. Erzürnt über Agnetes Ungehorsam, aber auch, so scheint es, traurig, dass sie nicht freiwillig wieder zu ihm und den Kindern zurückwollte, verbietet ihr der Wassermann weiteren Umgang mit den Kindern, überlässt ihr aber seine goldene Harfe, auf der sie fortan ihre traurigen Lieder singen wird. Inspiriert durch dieses in der mittelalterlichen Balladenliteratur verbreitete Lied waren unter anderem der in der dänischen Romantik zentrale Autor

21  Vgl. Villy Sørensen: Digtere og dæmoner, fortolkninger og vurderinger, Kopenhagen 1959. 22  „Agnete hun stander paa Højelands Bro / — Fuglene synge. — / og op kom den Havmand fra Bølgen den blaa. / — Skjønne Agnete! — // Hans Haar det var som det pureste Guld, / hans Øjne de vare saa frydefuld’.// ‚Og hør du, Agnete saa favr og saa fin! / og vil du nu være Allerkjæreste min?‘“ (zit. nach Svend Grundtvig (Hg.): Danmarks Folkeviser i Udvalg, Kopenhagen 1882, S. 208–212).

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Adam Oehlenschläger,23 der dänische Philosoph Sören Kierkegaard24 sowie der in Deutschland vor allem als Märchendichter bekannte H. C. Andersen. In seinem Versdrama Agnete und der Wassermann (Agnete og Havmanden)25 malt Andersen deutlicher als in der Vorlage Agnetes eigenes Begehren nach der Welt des Wassermannes aus. Diese Welt ist das unbekannte Fremde, das Angst macht, gerade deshalb aber fasziniert. Genau das aber erregte das Missfallen H. C. Ørsteds. Im einem kurz nach der Veröffentlichung des Dramas geschriebenen Brief erklärt der Naturwissenschaftler dem Dichter, dass ihn Agnetes Sehnsucht nach einer nicht-menschlichen Welt dämonischer Sinnlichkeit abgestoßen habe, da hier die „Macht des Guten“ außer Kraft gesetzt und „die Dissonanzen der Welt“ verabsolutiert worden seien.26 Die dichterische Einbildungskraft, so wird mit Nachdruck klar gemacht, muss dem Gesetz der Vernunft gehorchen, um im idealistischen Sinne schön genannt zu werden. Natur als das große, pagane und verführerische Fremde hat in der Naturphilosophie der Romantik keinen Platz. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Ørsted in seiner Kraftlehre explizit den Menschen als Ziel der Entwicklung der Kräfte der Natur betrachtet. So erklärt er in seiner Vorlesung über die Geschichte der Chemie, 1805, dass die Kräfte der Erde zwar ungeheuer stark, aber unbestimmt und disparat gewesen seien. Das habe zur Ausrottung „früherer Geschöpfe“ geführt und Platz gemacht „für die jetzige Schöpfungskette mit dem Menschen an der Spitze“.27 Diese Haltung, die den Menschen auf Kosten anderer Lebewesen an die Spitze einer Entwicklung setzt, scheint rund 200 Jahre nach Ørsted hoffnungslos veraltet. Spätestens seit Anfang 2000, als der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen den Begriff des Anthropozäns prägte und damit auf die unumkehrbaren Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Natur und die daraus resultierenden Folgen aufmerksam machte,28 mehren sich die Stimmen, die ein 23  Adam Oehlenschläger: Agnete [1812], in: ders.: Samlede Digte, Bd. 4, Kopenhagen 1847. 24  Søren Kierkegaard: Frygt og Bæven, Kopenhagen 1843. Vgl. hierzu Sophie Wennerscheid: Das Begehren nach der Wunde. Religion und Erotik im Schreiben Kierkegaards, Berlin 2008, hier S. 190–195. 25  H. C. Andersen: Agnete og Havmanden, Kopenhagen 1834. 26  „vild Begjærlighed efter noget sandseligt Stort“, „det Godes Magt“, „Verdensdissonantserne“ (Hans C. Ørsted, Brief an H. C. Andersen vom 8.3.1834, zit. nach H. C. Andersen: Mit livs Eventyr, Bd. 2, Kopenhagen 1951, S. 167). 27  „tidligere Skabninger“, for den nuværende Skabningskjæde med Mennesket i Spidsen (Hans C. Ørsted: Betragtninger over Chemiens Historie, in: ders.: Det skandinaviske Litteraturselskabs Skrifter, Bd. 2, Kopenhagen 1807, S. 1–54, hier S. 52). 28  Paul J. Crutzen, Eugene F. Stoermer: The „Anthropocene“, in: Global Change Newsletter 41 (2000), S. 17–18, http://www.igbp.net/download/18.316f18321323470177580001401/1376383088452/NL41.pdf (21. 02. 2021).

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radikales Umdenken des Verhältnisses von Mensch, Technik und Natur fordern. Statt den Menschen als ‚Krone der Schöpfung‘ zu begreifen, der sich ‚die Erde Untertan macht‘,29 wird der Mensch als eingebunden und untrennbar verwoben mit der gesamten Materialität des Daseins verstanden. Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Timothy Morton, dem der Ecocriticism wichtige Impulse verdankt, hat zur Beschreibung dieser Konstellation den Begriff ‚the Mesh‘ geprägt. Er benutzt ihn, um das traditionelle Verständnis von ‚Natur‘ oder ‚Umwelt‘ als dem Menschen gegenübergesetzte, von ihm unterschiedene Größe, in das Bild unauflösbarer Verwobenheit zu überführen. In Ecology with­ out Nature hält er dazu fest: „There is no such ‚thing‘ as the environment, since, being involved in it already, we are not separate from it.“30 Dieser Gedanke der unauflösbaren Verbundenheit des Menschen mit allen anderen Dingen und Materialitäten steht auch im Zentrum neumaterialis­ tischer Theorien, in denen immer wieder auf Vorstellungen von Kraft zurückgegriffen wird. Warum das der Fall ist, und was das für ein Nachdenken über die unheimlichen Kräfte der Natur bedeutet, soll der folgende Abschnitt klären.

II. ‚Kraft‘ in den Theorien des Spekulativen Realismus Der Begriff des Spekulativen Realismus verdankt sich einer 2007 in London durchgeführten Konferenz, zu der diejenigen Denkerinnen und Denker eingeladen worden waren, die sich später als die zentralen Figuren dieses Ansatzes behaupten sollten. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass diese Theoretiker vor allem das einte, was sie ablehnten. Graham Harman erklärt: „[T]hese philosophies all reject the central teaching of Kant’s Copernical Revolution, which turns philosophy into a meditation on human finitude and forbids it from discussing reality in itself“31. Vage fällt hingegen die positive Bestimmung dessen aus, was mit dem Begriff des Spekulativen gemeint ist. Harman verweist lediglich darauf, dass ein spekulativer Realismus nicht „a dull commonsense realism“ verteidige, sondern sich auf „a darker form of ‚weird realism‘“32 beziehe, der mit einem Alltagsverständnis von Realität nichts gemein habe. Gerade aber weil die Realität als ‚weird‘ erlebt und beschrieben wird, spielen Kraftvorstellungen eine wichtige Rolle. Wo Realität als dem menschlichen Wissen entzogen gedacht wird, erscheint sie als durchzogen von versteckten,

29  Zum Ursprung dieses Gedankens im Christentum vgl. Lynn White, Jr.: The Historical Roots of Our Ecological Crisis, in: Science 155 (1967), S. 1203–1207. 30  Timothy Morton: Ecology without Nature: Rethinking Environmental Aesthetics, Harvard 2009, S. 163. 31  Graham Harman: Towards Speculative Realism. Essay and Lectures, Winchester u. a. 2010, S. 2. 32  Harman 2010 (wie Anm. 31), S. 2.

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heimlichen Kräften, die, eben weil sie verborgen und unzugänglich sind, als unheimlich erlebt werden. Von dieser Sensibilität für das Unheimliche erklärt sich auch das auffallende Interesse der zentralen Akteure des Spekulativen Realismus für das Genre der Weird fiction und des Horrors.33 In beiden Genres werden Menschen mit Vorliebe als gegenüber der Übermacht des Universums unbedeutend und machtlos dargestellt. Sie sind bösen Mächten und Kräften unterworfen, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen.34 Neben diesem Verständnis des ‚bösen Unheimlichen‘ gibt es aber auch noch einen zweiten gedanklichen Strang, der geltend gemacht wird, wenn es darum geht, das Verhältnis von Mensch und Natur als unheimlich zu bestimmen. Dieser Strang führt zurück zu Martin Heidegger, der in verschiedenen seiner Schriften darauf hinweist, dass es sich für den Menschen als fatal erweisen wird, wenn man, wie es seit der neuzeitlichen Physik der Fall ist, meint, Natur als „einen vorausberechenbaren Zusammenhang von Kräften“35 verstehen zu können. Aus der Verstrickung in dieses Denken führt eine bestimmte Form der Angst heraus. Allerdings handelt es sich hier nicht um die Angst vor dem Monster oder anderen intentional bösen Kräften, sondern um eine als existentiale Größe verstandene Angst, die den Menschen, hier bezeichnet als „Dasein“, aus seinem scheinbaren Aufgehen in der Welt zurückholt in die Grundbefindlichkeit des Unvertrauten, Unheimlichen. In Sein und Zeit heißt es dazu: „Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-Sein kommt in den existentialen ‚Modus‘ des Un-zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der ‚Unheimlich­ keit‘“36. Im Werk Graham Harmans spielt Heidegger eine wichtige Rolle. Harman führt ihn als den Denker an, der mit seiner Philosophie der Dinge ein Vorläufer dessen ist, was Harman in einem Vortrag aus dem Jahr 1999 zunächst als „object oriented philosophy“ bezeichnet und dann später zu seiner objektorientierten Ontologie, kurz OOO, ausbaut.37 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Kritik an der als common sense vertretenen Auffassung, dass der

33  Harman bemerkt dazu, dass die Vertreter des Spekulativen Realismus alle Bewunderer des Horror- und Weird Fiction-Autors H.P. Lovecroft seien; vgl. Graham Harman: Speculative Realism. An Introduction, Cambridge 2018, S. 91; vgl. hierzu ausführlich Henry G. Bartholomew: Enstranged Strangers: OOO, the Uncanny, and the Gothic, in: Open Philosophy 2 (2019), Heft 1, S. 357–383. 34  Vgl. Jeffrey Andrew Weinstock: The New Weird, in: Ken Gelder (Hg.): New Directions in Popular Fiction: genre, reproduction, distribution, Basingstoke 2016, S. 177–200. 35  Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: ders.: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 5–36 und S. 21. 36  Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 191. 37  Ausgeführt wird diese Auseinandersetzung in Graham Harman: Tool-Being: Heidegger and the Metaphysics of Objects, Open Court 2002.

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sogenannte linguistic turn unhintergehbar sei. Statt der Idee zu huldigen, dass es keinen direkten Zugang zur Welt gebe, sondern alles nur Text sei, beharrt Harman darauf, dass es Wirklichkeit nicht einfach nur wirklich gibt, sondern dass sie außerdem voller beunruhigender Kräfte sei. „[R]eality is churning“, stellt er fest und führt weiter aus: „[T]he arena of the world is packed with diverse objects, their forces unleashed und mostly unloved.“38 Die bildstarken Beispiele, die Harman anführt, um diese Behauptung zu unterlegen, stammen ähnlich wie in der Literatur der Romantik gesehen häufig aus dem Bereich der Meereswelt. So verweist er z. B. auf Haifische, die Thunfische zermalmen und auf Eisberge, die mit zerstörerischer Wucht Küsten rammen. Diesen und anderen Turbulenzen nachzugehen, die sich in den Dingen dieser Welt von uns unbeachtet ereignen, gelte es sich nun wieder zuzuwenden, statt, so Harmans polemisches Plädoyer, mit Kant nur nachzudenken über die „condition of the condition of the condition of possibility of ever referring to them“39. Weniger martialisch als von Harman ausgemalt, denkt Jane Bennett das Wirken der in der Natur aktiven Kräfte. In ihrem frühen Werk The Enchantment of Modern Life beschreibt sie die gegenwärtige Welt als durchzogen von einer Kraft der Verzauberung. Mit diesem Ansatz wendet sie sich gegen Max Webers wirkmächtige These von der entzauberten Moderne; eine für Bennett problematische These, die unserer affektiven Verbundenheit mit der Welt und damit unserer Sorge für sie ihre Grundlage entzogen habe. Eben diese gilt es nun wiederaufzurichten. In ihrem einleitenden Kapitel, The Wonder of Minor Expe­ riences, hält Bennett dazu programmatisch fest: „This book tells a story of contemporary life that accentuates its moments of enchantment and explores the possibility that the affective force of those moments might be deployed to propel ethical generosity. It claims both that the contemporary world retains the power to enchant humans and that humans can cultivate themselves so as to experience more of that effect.“40 In ihrem ein Jahr später erschienenen Buch, Thoreau’s Nature,41 schließt Bennett den Begriff der Verzauberung mit dem Begriff der Wildnis zusammen, der sie die als Kraft gedachte Fähigkeit zuschreibt, Menschen so zu affizieren, dass sie sich der Umwelt als einer mit Kräften durchzogenen bewusst werden und

38  Graham Harman: Object-Oriented Philosophy (1999), in: ders.: Towards Speculative Realism. Essay and Lectures, Winchester 2010, S. 93–104, hier S. 94. 39  Harman 2010 (wie Anm. 38), S. 95. 40  Jane Bennett: The Enchantment of Modern Life: Attachments, Crossings, and Ethics, Princeton/NJ 2001, S. 3f. 41  Jane Bennett: Thoreau’s Nature: Ethics, Politics, and the Wild, Lanham/MD 2002.

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ihren Herrschaftsanspruch preisgeben. Zu einer Ökologie der Dinge arbeitet Bennett diesen Ansatz in ihrem bislang erfolgreichsten Buch Vibrant Matter aus.42 Hier entwickelt sie eine materialistische Ontologie, die den Antagonismus von aktiver menschlicher Subjektivität und passiver Materialität zugunsten einer beiden Teilen eigenen Vitalität aufheben will. Sie pointiert: „I will highlight the active role of nonhuman materials in public life. In short, I will try to give voice to a thing-power.“43 Politisches Ziel dieser neumaterialistischen Philosophie ist es, die nicht-menschliche Welt als uns so verwandt herauszustellen, dass es uns ein quasi natürliches Anliegen wird, für ihr bzw. eben unser aller Wohlergehen zu sorgen. Dem Begriff der Kraft, den Bennett sowohl von Spinozas conatus-Konzept ableitet als auch mit Thoreaus Erleben einer „unheimlichen Präsenz“44 in der Wildnis des Waldes, Latours Aktant-Begriff und Adornos Denken der NichtIdentität in Beziehung setzt, kommt bei diesem Projekt eine zentrale Bedeutung zu. Denn das, was die vitale Materialität der nicht-menschlichen Welt ausmacht, ist Bennett zufolge eben nichts anderes als die sich dem Menschen immer entziehende und von ihm unabhängige, aber nichtsdestotrotz auf ihn einwirkende und mit ihm verbundene „Ding-Kraft“, die sie zusammenfassend beschreibt als „the curious ability of inanimate things to animate, to act, to produce effects dramatic and subtle.“45 Das, was Bennett hier als die eigentümliche Fähigkeit der unbelebten Dinge beschreibt, Menschen zu beleben, nennt sie an anderer Stelle unheimlich. Dabei ist das Gefühl des Unheimlichen aber nicht negativ konnotiert, sondern ähnlich wie bei Heidegger eher etwas, das uns näher an das Sein der Dinge führt. In ihrem frühen Aufsatz, The Force of Things, der in überarbeiteter Form in Vibrant Matter eingegangen ist, beschreibt sie es als das Ziel ihres Kraft-der-Dinge-Projekts „to promote acknowledgment, respect, and sometimes fear of the materiality of the thing and to articulate ways in which human being and thinghood overlap.“46 Einsicht, oder vielleicht eher Einfühlung in die Materialität der Dinge macht Angst, weil hier etwas sichtbar oder fühlbar wird, das uns sonst verschlossen bleibt, uns aber Respekt, Sensibilität im Umgang, ja eine gewisse Art von Andacht abverlangt. Auch hier scheint eine Nähe zu Heidegger vor­ zuliegen, der nicht ohne Grund immer wieder als der Hirte des Seins und 42  Jane Bennett: Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, Durham/NC u. a. 2010. 43  Bennett 2010 (wie Anm. 42), S. 2. Bennett spricht sowohl von „thing-power“ als auch von „the force of things“ ohne zwischen Kraft und Macht zu unterscheiden; beide Begriffe treffen sich im Moment der Wirkmächtigkeit. 44  „uncanny presence“ (Bennett 2010, wie Anm. 42, S. 2). 45  Bennett 2010 (wie Anm. 42), S. 6. 46  Jane Bennett: The Force of Things. Steps toward an Ecology of Matter, in: Political Theory 32 (2004), Heft 3, S. 347–372, hier S. 349.

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„Pastoralphilosoph“47 apostrophiert worden ist. Zwar stellt Bennett heraus, dass ihr Denken im Gegensatz zu demjenigen Heideggers „pagan“ geprägt sei, weist aber trotzdem darauf hin, dass sie Heideggers Kritik an einem Verständnis von Natur als berechenbarer und nutzbarer Ressource teilt. „I too am critical of the picture of nature as calculable mechanism. But I am attracted to a more ‘pagan’ conception of materiality – as turbulent, energetic, and capable of emergent forms of self-organization. It is worthy of our respect because we are composed of it, because we enter into various relations of dependence with it, and because its force fields can turn on us if we don’t attend closely to them.“48 Die Vorstellung, dass die Kraft der Dinge, oder genauer die Kraftfelder der Materialität sich gegen uns wenden, wenn wir nicht beizeiten auf sie achten und für eine gute Koexistenz sorgen, ist ein Gedanke, der sich auch im Werk Donna Haraways finden lässt, allerdings in einer eher utopischen Wendung. Haraway geht nämlich von einer Welt aus, in der die Menschen bereits eins geworden sind mit den erwähnten Kraftfeldern. Eine solche Welt, so Haraway, wäre dann nicht mehr als Anthropozän zu bezeichnen, sondern als „Chthuluzän“, strukturiert und belebt durch „the dynamic ongoing sym-chthonic forces and powers of which people are a part, within which ongoingness is at stake“49. Um sich diesen Kräften, und damit der Verflechtung und Ver-Antwortung (Response-ability) von menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten zu nähern, ist es laut Haraway nötig zu fabulieren und zu spekulieren. So kann Bestehendes nicht nur neu beschrieben und wahrgenommen werden, sondern es eröffnen sich auch neue, auf Ko-Existenz abzielende Handlungsoptionen. Genau eine solche auf Handlung zielende neue spekulierende Erzählung schreibt auch Bennett. Zumindest dann, wenn man ihre hier und dort etwas unvermittelt auftauchenden Formulierungen ernst nimmt, dass ihre eigene Philosophie des „Thing-power materialism“ eine „speculative onto-story“ sei.50

47  So von Peter Sloterdijk, der Heidegger einen „Pastoralphilosophen“ nennt und von dem „kryptokatholischen Charakter“ seiner philosophischen „Meditationsfiguren“ spricht (Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 1999, S. 26 und S. 29). 48  Gulshan Khan: Agency, nature and emergent properties: An interview with Jane Bennett, in: Contemporary Political Theory (2009), Heft 8, S. 90–105, hier S. 98. 49  Donna Haraway: Staying with the Trouble; Making Kin in the Chthulucene, Durham/NC u. a. 2016, S. 101. 50  Bennett 2004 (wie Anm. 46), S. 349.

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III. Kraft im spekulativen Erzählen der Gegenwart Auch wenn sich der Begriff der spekulativen Seinserzählung noch nicht eta­ bliert hat, hat der Begriff des Spekulativen in der Literatur und der Literaturwissenschaft doch ähnlich viel Aufmerksamkeit erfahren wie in der Philosophie, und zwar interessanterweise auch hier ab etwa 2000. In seinem Überblicksartikel zum Lemma „Speculative fiction“ in der Oxford Research Encyclopedia of Literature stellt Marek Oziewizc, nachdem er die in den 1940er Jahren einsetzende Geschichte des Begriffs dargelegt hat, fest: „[S]omething happened around 2000“51. Es erscheinen immer mehr literarische Texte, die von einem nicht-mimetischen Wirklichkeits- und Literaturbegriff ausgehen und Elemente aus den sonst getrennt verhandelten Genres Fantasy und Science Fiction so stark mischen, dass diese Grenzziehung sinnlos wird. Wichtiger noch erscheint, dass dieser Trend sich vor allem in der spekulativen Literatur aus dem nicht-westlichen, und hier vornehmlich dem afrikanischen Raum bemerkbar macht. Obwohl Oziewicz in seiner interessanten Beobachtung mit keinem Wort auf Texte eingeht, die sich aus einer posthumanistisch-anthropozentrismuskritischen Perspektive mit Natur oder gar mit den Mensch und Natur glei­ chermaßen durchziehenden Kräften befasst, wie es in der oben dargestellten ­spekulativen, neumaterialistischen Philosophie der Fall ist, schließt seine Beobachtung doch sehr gut an das oben Dargelegte an. Und zwar insofern, als er feststellt, dass die neue spekulative Literatur aus Afrika die traditionelle Unterteilung von „science for the West, myth for the rest“ unterlaufe, indem sie Wissenschaft und Spiritualität auf neue, eben spekulative Weise zusammenbringe. Oziewicz betont: Diese Art von spekulativer Literatur „interrogates normative notions about reality and challenges the materialist complacency that nothing exists beyond the phenomenal world.“52 Verbindet man Oziewizcz’ Beobachtung mit dem oben vorgestellten specu­ lative turn in der Philosophie, dann ließe sich Spekulative Fiktion im Sinne einer Bennett’schen spekulativen Seinserzählung wie folgt definieren: Spekulative Fiktion bezeichnet literarische Texte und Filme, die sich in nicht-mimetischer, d. h. die phänomenologisch fassbare Wirklichkeit übersteigender Weise mit dem jetzigen und zukünftigen Leben des Menschen in einer Welt auseinandersetzen, in dem Mensch, Natur und Technik gleichermaßen als durchzogen von empirisch nicht fassbaren Kräften gedacht werden. Da diese Kräfte sich dem kontrollierenden Zugriff entziehen, begegnen sie dem Menschen vornehmlich im Modus des Unheimlichen.

51  Oziewicz 2017 (wie Anm. 7). 52  Oziewicz 2017 (wie Anm. 7).

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Tauchen Werke, die sich dieser Definition entsprechend als spekulative Fiktion bezeichnen lassen, Anfang 2000 erst vereinzelt auf, kulminiert der Trend ab etwa 2010.53 Als initiales Werk in diesem Sinne lässt sich der 2010 erschienene Erzählband Mount København des dänischen Autors Kaspar Colling Nielsens nennen.54 Hier wird aus der Zukunftsperspektive von einem gigantischen von Menschen geschaffenem Berg erzählt, der nicht nur die gesamte Fauna und Flora des östlichen Dänemarks verändert, sondern auch in den Menschen eine bislang ungekannte Kraft weckt, die dafür sorgt, dass sie im wörtlichen Sinne über sich selbst hinauswachsen. So lässt sich etwa ein Mann zu einem Vogel umoperieren und stiftet damit die neue Gattung der Vogelmenschen. Ein anderer wird magnetisch und verschmilzt mit allem Metall der Umgebung zu einer neumateriellen Einheit. Zu einer besonderen Form der posthumanen Intimität kommt es in dem 2014 erschienenem Roman Sången ur det kinesiska rummet (Das Lied aus dem chinesischen Zimmer) des schwedischen Autors Sam Ghazi.55 Hier wird von der gegenseitigen Affizierung zwischen einem Roboter und einer Frau erzählt, die sich in einer Form vollzieht, die der Frau nicht bewusst ist, aber trotzdem als unheimlich wahrgenommen wird. So tastet sich die Maschine einmal an die Frau heran als „ein Meer voller Hände. Ein Gewimmel graublauer Handflächen, die sich dem Sofa wie ein Schwarm Fische näherte“56. Hier deutet sich ein sexueller Akt an, der zwischen zärtlich-naturhaft und unkontrollierbarübergriffig changiert. Von unheimlichen Kräften durchzogen sind auch die Welten in dem Erzählungsband Nach der Sonne (Efter solen, 2018) von Jonas Eika,57 allerdings hier in einer eher utopischen Variante, die dem Kinship-Denken Haraways nahesteht.58 In Rachel, Nevada, der mittleren der insgesamt fünf Erzählungen, 53  Vgl. Sophie Wennerscheid: På sporet af en posthuman virkelighed. Dansk spekulativ litteratur i 2010’erne, in: Passage. Tidsskrift for litteratur og kritik 85 (2021), Heft 35, S. 9–23 (im Erscheinen). 54  Kaspar Colling Nielsen: Mount København, Kopenhagen 2010. 55  Sam Ghazi: Sången ur det kinesiska rummet, Stockholm 2014. Eine ausführliche Analyse zu diesem Text findet sich in Sophie Wennerscheid: Technotimität als neue Form des MenschMaschine-Gefüges in schwedischer Science-Fiction-Literatur und TV-Produktion, in: dies. (Hg.): Cahier voor Literatuurwetenschap, special issue: Against nature? Instinct and Desire in Western Literature from the Early Modern Period to the Digital Age, Gent 2019, S. 103–117. 56  „ett hav av händer. Ett myller av gråblå handflator som närmade sig soffan likt ett stim fiskar“ (Ghazi 2014 (wie Anm. 55), S. 119). 57  Jonas Eika: Efter Solen, Kopenhagen 2018. 58  Vgl. Haraways Cyborg-Manifesto, in dem sie über eine Welt spekuliert, „in which people are not afraid of their joint kinship with animals and machines“ – Donna Haraway: A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, in: dies.: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, London u.a 1991, S. 149–181, hier S. 154.

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liest man bspw. von einem alten Mann, der nachts in der Wüste umherläuft und dort einen merkwürdigen Gegenstand entdeckt, der an den schwarzen Monolithen aus Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey von 1968 erinnert. Dieser Gegenstand, den der Mann ‚Sender‘ nennt, verfügt über eine nicht erklärbare Kraft, mit der er alle Kriechtiere und Wüstenpflanzen zu sich hinzieht. Der Mann will dem Sender jedoch noch ganz anders nahe sein. Er bricht deshalb ein Stück aus dem anorganischen Körper des Senders heraus und implantiert es sich in die eigene Kehle. Schreiend vor Schmerz und Lust wird er mit seinem obskuren Objekt der Begierde eins. Ein deutlicher Rückgriff auf die romantische Tradition der Darstellung mythischer Naturwesen findet sich in Romanen wie Dennis Gade Kofods Nancy (2015) und Charlotte Weitzes Der Abscheuliche (Den afskuelige, 2016).59 Sind es im ersten Buch Unterirdische, die die Insel Bornholm von den Menschen zurückerobern, ist es im zweiten Fall eine Art Yeti, der im langsam im Regen untergehenden Dänemark sein Unwesen treibt. Während diese und zahlreiche andere Bücher ähnlicher Art außerhalb Skandinaviens bislang wenig zur Kenntnis genommen werden, haben die Filme Lars von Triers, die dieser um 2010 produziert hat, Antichrist von 2009 und Melancholia von 2011,60 internationale Aufmerksamkeit bekommen. Allerdings wurden sie bislang nur vereinzelt als wichtiger Betrag zu einer „dunklen Ökologie“ im Sinne Timothy Mortons wahrgenommen.61 Dabei sind in beiden Werken die unheimlichen Kräfte der Natur zentral. In Antichrist ist es der Wald, in dem die unheimlichen Kräfte der Natur zum Ausdruck kommen. In diesen Wald, genauer in die in diesem Wald stehende Hütte „Eden“, die auf den Garten Eden und den in ihr waltenden paradiesischen Zustand einer Mensch-Natur-Einheit nur ex negativo verweist, zieht sich das namenlose Paar He (Willem Daffoe) und She (Charlotte Gainsbourg) zurück. Ziel ist es, dort die Psychose zu therapieren, die She nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes Nic entwickelt hat. Grund der Psychose scheint Shes Wahnvorstellung zu sein, dass sie die Schuld an Nics Tod trägt, weil sie Sex mit He hatte, während Nic mitten in der Nacht aufgestanden und aus dem Fenster gestürzt ist. Im Laufe der Filmhandlung stellt sich heraus, dass She den Sommer zuvor mit Nic in der Hütte verbracht hat, während sie an ihrer Dissertation zum Thema Hexenverfolgung gearbeitet hat. Nun glaubt sie, dass Frauen mit

59  Dennis Gade Kofod: Nancy, Kopenhagen 2015; Charlotte Weitze: Den afskuelige, Kopenhagen 2016. 60  Lars von Trier: Antichrist, Dänemark 2009; Lars von Trier: Melancholia, Dänemark 2011. 61  Vgl. Graça Corrêa: Gothic-Romantic Ecocentric Landscapes in Lars von Trier’s Melancho­ lia, in: Avanca Cinema, 2012, S. 180–187; Torsten Bøgh Thomsen: Grøn æstetik og mørk økologi, in: Kritik 207 (2013), S. 91–105; Jacob Bøggild: Nature is Saturn’s Church. Lars von Triers Melancholia, in: Spring 38 (2015), S. 210–227.

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der dämonischen Macht der Natur im Bunde sind, also tatsächlich Hexen seien. He, der von Beruf Psychiater ist, meint diesen psychotischen Zusammenhang erkennen und rationalisieren zu können. Doch er täuscht sich. Während She scheinbar lernt, ihre Angst vor dem Wald zu überwinden, erlebt He ihn als zunehmend unheimlich. Die auf das Dach der Hütte prasselnden Eicheln machen ihm Angst und als er eines morgens erwacht und sein Arm voller Zecken ist, reagiert er panisch. Als besonders unheimlich erlebt er auch die Begegnung mit einem Reh, einem Fuchs und einem Raben, die er nicht mit seinem rational-aufgeklärten Weltbild in Übereinstimmung bringen kann und die ihm deshalb zutiefst unheimlich vorkommen; das gilt insbesondere für den Fuchs, der sich selber das Fell vom Leib reißt und dabei mit menschenähnlicher Stimme erklärt: „Chaos reigns.“ Die von He erlebte Diskrepanz zwischen rationaler Weltsicht, die ihn gelehrt hat, die Natur als nicht-intentionalen Akteur zu betrachten, und einer Natur, die er als gegen sich gerichtet wahrnimmt, stellt sich aufgrund der suggestiven Machart des Films auch beim Publikum ein. Viele Einstellungen zeigen den Wald aus nicht-fokalisierter Perspektive, d. h. es sind weder He noch She, durch die wir den Wald sehen. Vielmehr scheint sich der Wald uns zu sehen zu geben. Kameratechnisch wird das z. B. durch Bilder erzeugt, die aus der Luft aufgenommen wurden, über Zeitlupensequenzen oder digital bearbeitete Bilder, die den Wald in einem unheimlich-unwirklichen Licht erscheinen lassen. Außerdem gibt es Szenen, in denen der Wald als belebt im quasimenschlichen Sinne gezeigt wird. So z. B. wenn He und She Sex im Wald haben und aus einer Baumwurzel Dutzende von Händen nach He greifen, ohne dass er selbst das bemerkt. Der Natur wohnt eine Kraft inne, die es nicht gut mit einem Menschen wie He meint, der annimmt, innere wie äußere Natur verstehen und kontrollieren zu können. „Nature is Satan’s church“, erklärt She an einer Stelle im Film – und der Zuschauer ist aufgefordert, ihr zu glauben.62 In dem zwei Jahre nach Antichrist in die Kinos gekommenen Film Melan­ cholia wird Natur mit einer noch sehr viel umfassenderen destruktiven Kraft ausgestattet. Sie wirkt sich nicht nur auf das Leben einzelner Menschen aus, sondern auch auf das Leben aller auf der Erde lebenden Wesen, ja auf den Planeten Erde selbst. Zum Ausdruck kommt diese Kraft in dem Planeten Melancholia, der sich der Erde nähert und sie entgegen aller wissenschaftlichen Vorhersagen am Ende rammt bzw. gleichsam verschlingt. Bildmächtiger noch als in Antichrist werden Aufnahmen gezeigt, die die menschliche Perspektive überschreiten. So vor allem im Vor- und im Abspann, wo wir sehen, wie der große Planet Melancholia auf die wesentlich kleinere Erde trifft und sie dabei 62  Vgl. hierzu Yvonne Leffler: ‚Nature is the Church of Satan.‘ The Gothic Topography in Contemporary Scandinavian Horror Novels and Films, in: Agnieszka Łowczanin und Dorota Wisniewska ´ (Hg.): All that Gothic, Frankfurt/M. 2014, S. 110–123.

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gleichsam in sich aufzunehmen scheint wie eine riesige Eizelle ein winziges Spermium. Eine inhaltliche Nähe weisen beide Filme dort auf, wo es um die Frage nach dem rationalen Umgang mit der Natur, letztlich also um ihre Kontrollierund Berechenbarkeit geht. Wie in Antichrist ist es auch in Melancholia die Figur des männlichen Protagonisten, die meint, Natur beherrschen zu können. Und zwar sowohl die innere Natur des weiblichen Gegenübers, das als zutiefst angstbesetzt erscheint, wie auch die äußere Natur. „Trust the science“63, erklärt der Hobbyastrologe John (Kiefer Sutherland), der sich aufgrund der wissenschaftlichen Berechnungen zur Laufbahn des Planeten vor einem Zusammenstoß sicher wähnt, seiner Frau Claire (Charlotte Gainsbourg), die angesichts des nahenden Planeten zunehmend panisch reagiert. Ganz anders reagiert hingegen Claires Schwester Justine (Kirsten Dunst), die das verkörpert, was der Planet seinem Namen nach ist: Melancholie. Beide Melancholien, die menschliche und die planetarische, werden als sich gegenseitig beeinflussende Kräfte dargestellt. Das wird deutlich, wenn man den Film nicht anthropozentrisch auffasst. Statt den Untergang der Erde als eine Art halluzinatorische Wunschpsychose der weiblichen Hauptfigur zu lesen, d. h. als Effekt einer gleichsam performativ wirkenden Einbildungskraft,64 kann man auch dem Planeten selbst agency zusprechen. Es ist nicht einseitig Justines erotisch aufgeladene Todeslüsternheit, die den Planeten anzieht, sondern es ist ebenso sehr auch der Planet, der die für die Erde tödliche Vereinigung mit dieser bewirkt. Dass Johns Wissenschaftsgläubigkeit diesem Wirklichkeitsverständnis nicht standhält, zeigt sich, als Melancholia aller Berechnungen zum Trotz der Erde immer näherkommt. John nimmt sich das Leben und Justine und Claire erleben gemeinsam mit Claires kleinem Sohn, wie die Erde in einem Ragnarökähnlichen Finale in Feuer und Wasser untergeht. Am Ende des Films, die letzten Töne aus Wagners Tristan und Isolde überlagernd, hören wir nur noch das katastrophische Grollen der kosmischen Mächte.65 Auch wenn der Untergang der Welt im Film nicht als direkte Folge eines menschlichen Eingriffs in die Natur dargestellt wird, der Film also nicht als ökokritisch im engen Sinne aufgefasst werden kann, lässt er sich doch als Ausdruck dessen verstehen, was Timothy Morton im kritischen Sinne „Natur“ nennt und als „Katastrophe“

63  Von Trier 2011 (wie Anm. 60), 01:09:07. 64  Vgl. Sophie Wennerscheid: ‚Close your eyes‘. Phantasma, Kraft und Dunkelheit in der Literatur der skandinavischen Moderne, Paderborn 2014, S. 345. 65  Zur wichtigen Rolle Wagners vgl. Sophie Wennerscheid: Phantasmagorien des Untergangs bei Richard Wagner und Lars von Trier, in: Stefan Börnchen, Georg Mein und Elisabeth Strowick (Hg.): Jenseits von Bayreuth. Richard Wagner heute: Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn 2014, S. 275–295.

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­ iagnostiziert. Am Ende des ersten Kapitels seines Buchs Dark Ecology fasst er d zusammen: „The Anthropocene doesn’t destroy Nature. The Anthropocene is Nature in its toxic nightmare form. Nature is the latent form of the Anthropocene waiting to emerge as catastrophe.“66 Morton und von Triers Darstellung der Natur als Ausdruck einer dunklen, unheimlichen und desaströsen Kraft, bleibt in der skandinavischen Gegenwartskultur jedoch nicht ohne ein etwas hoffnungsvolleres Gegenbild. Ein solches Gegenbild zeichnet sich z. B. in der schwedischen Fernsehserie Jordskott ab, die hier kurz vorgestellt werden soll, um abschließend noch einmal zu zeigen, wie die Figur des mythischen Naturwesens aufgerufen wird, um auf eine ökologische Krise aufmerksam zu machen, zu der es der Serie zufolge kommt, weil der Mensch die Natur als berechenbare und ausnutzbare Ressource versteht, nicht aber als ein organisches Ganzes, dem er selbst zugehört. Jordskott erschien 2015 und 2017 in zwei Staffeln mit insgesamt 18 Episoden. Auf Deutsch lief sie auf Arte unter dem Titel Jordskott. Die Rache des Wal­ des.67 Der zentrale Begriff des Titels, Jordskott, lässt sich nur schwer übersetzen. Er spielt auf unterirdisch sich verzweigendes Wurzelwerk an, aber auch auf sich plötzlich auftuende Spalten im Boden. Beide Phänomene werden im Film dargestellt und, über den verwickelten Plot der Serie hinweg, der als Kriminalgeschichte beginnt, dann aber schnell zu einer Art Ökothriller avanciert, als Naturphänomene dargestellt, die sich der Kontrolle des Menschen entziehen. Deutlich wird das auch daran, dass Jordskott von den Menschen als ein Parasit bezeichnet wird, also als etwas, das von außen in den Menschen eindringt und ihm dann dort gefährlich wird. Später lernen wir aber auch, dass Jordskott heilende Kräfte hat und es als eine Art verbindendes, speziesübergreifendes Etwas verstanden werden kann. Neben dieser merkwürdigen Größe Jordskott tauchen in dem Film noch eine Vielzahl weiterer Wesen wie Huldren und Nöcks auf, die sich gegen die Menschen wenden, weil der Besitzer der holzverarbeitenden Firma Thörnblad Cellulosa einen jahrhundertealten Vertrag mit den Wesen des Waldes zum Schutz ihrer Heimstatt gebrochen hat und den Wald hemmungslos ausbeutet. Die Serie setzt ein, indem sie uns mit Eva, der Tochter des alten Thörnblad bekannt macht, deren Tochter auf mysteriöse Weise mitten im Wald plötzlich verschwunden ist. Jahre später fährt Eva nachts im Wald ein Mädchen an, das ihrer Tochter auf auffallende Weise ähnelt. Sie nimmt das Kind mit, muss es aber ins Krankenhaus bringen, weil es schwer krank zu sein scheint. Im Krankenhaus erfährt sie, dass es keine genetischen Übereinstimmungen zwischen ihr und dem Mädchen gibt, sie also nicht ihre Mutter sein kann. Eva bleibt aber vom Gegenteil überzeugt. Die Ärzte diagnostizieren bei dem Mädchen einen 66  Timothy Morton: Dark Ecology, New York 2016, S. 59. 67  Henrik Björn, Anders Engström: Jordskott, Schweden 2015.

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unbekannten Parasiten, der ihre Lungen befallen hat. Später stellt sich heraus, dass wir es mit Jordskott zu tun haben, der speziesverbindenden Substanz, die das Mädchen zu einem Teil der Natur gemacht hat. In einer Szene im Krankenhaus, die über die eingesetzte Musik und die entsprechend schummrige Beleuchtung unheimlich wirkt, sehen wir das Mädchen mit seiner Hand in einer Topfpflanze. Die Kamera zoomt näher heran und wir erkennen, dass die Hand des Mädchens Wurzeln ausgebildet hat. Am Ende der Serie wird klar, dass das Mädchen tatsächlich die Tochter Evas ist, die damals von den Wesen des Waldes entführt und eine von ihnen geworden ist. Ein Zurück gibt es für sie nicht mehr, Eva, die selbst mit Jordskott infiziert ist, das aber als Teil von sich akzeptiert hat, lässt ihre Tochter ziehen, um die Waldwesen zu versöhnen. Jordskott wird so verstanden zu einem Zugang zur Natur, der sich nicht empirisch erklären, aber im Modus des Spekulativen erzählen lässt. Als eine geheimnisvolle, im Dunklen der Erde und im Dunklen des Körpers wuchernde Kraft verbindet Jordskott Mensch und Nicht-Mensch und „integrates the body in its affective capacity into the material wholeness of the world.“68

68  Helen Mäntymäki: Epistemologies of (Un)sustainability in Swedish Crime Series Jordskott, in: Green Letters 22 (2018), Heft 1, S. 89–100 und S. 93, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14688417.2017.1415159 (21. 02. 2021).

BILDNACHWEISE

FRANK FEHRENBACH UND CORNELIA ZUMBUSCH Abb. 1: Royal Collection Trust / © Her Majesty Queen Elizabeth II 2021, Windsor 2021. Abb. 2: Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut/Roberto Sigismondi, Florenz. SIMONE DE ANGELIS Abb. 1: Charles Bonnet: Traité d’Insectologie, ou Observation sur le Pucerons, Paris 1745. Abb. 2: Jean Hermann: Tabulae Affinitatum Animalium, Argentorati 1783. Abb. 3: Martin Gierl: Geschichte als präzise Wissenschaft, Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 296. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. IVANA RENTSCH Abb. 1: Marin Mersenne: Harmonie universelle, 1636–37, Bd. 3, Livre septiesme des instrumens de percussion, S. 66f. IVO RABAND Abb. 1: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:F%C3%BCrstenmausoleum_ Stadthagen_01_Auferstehungsmonument_1.JPG (13. 03. 2021), Foto: Rabanus Flavus (Creative Commons). Abb. 2: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bueckeburg_Stadtkirche_Taufe.JPG (13. 03. 2021), Foto: Beckstet (Creative Commons). Abb. 3: Siehe Abb. 1. Abb. 4: Fotograf: Theodor Vollmer. Abbildung freundlicherweise bereitgestellt durch den Fotografen und mit Erlaubnis der Fürstlichen Schlossverwaltung Bückeburg. Abb. 5: Caroline Campbell et al.: Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance, Ausst.-Kat. (Gemäldegalerie, Berlin), München 2018, S. 224. Abb. 6: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Raffaello,_resurrezione_di_cristo,_1499-1502,_02.JPG (13. 03. 2021), Foto: Sailko (Creative Commons). Abb. 7: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Transfigurazione_(Raffaello)_ September_2015-1a.jpg (13. 03. 2021), Foto: Alvesgaspar (Creative Commons). Abb. 8: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mercurio_volante,_Giambologna,_Bargello_Florenz-01.jpg (13. 03. 2021), Foto: Rufus46 (Creative Commons). Abb. 9: Frits Scholten: Adriaen de Vries’s Resurrection Group at Stadthagen. The Iconography and Meaning of the Monumental, Freestanding Risen Christ, in: Schaumburger Landschaft

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Bildnachweise (Hg.): Neue Beiträge zu Adriaen de Vries. Vorträge des Adriaen de Vries Symposiums vom 16. bis 18. April 2008 in Stadthagen und Bückeburg, Bielefeld 2008, S. 75. ISA WORTELKAMP Abb. 1: Samuel Joshua Beckett: Loïe Fuller, Silbergelatine, 10,1 × 12,5 cm, um 1900, Paris,Gilman Collection, Metropolitan Museum of Modern Art, New York, © bpk. Abb. 2: Samuel Joshua Beckett: The Dance of The Butterfly, in: Loïe Fuller: Fifteen Years of a Dancer’s Life, London 1913, S. 143, Fotografie: Tivadar Nemesi. Abb. 3: Charles Reutlinger: Loïe Fuller, 16,5 cm × 11,4 cm, um 1895, Paris, Collection of Maryhill Museum of Art, Washington. Abb. 4: Charles Reutlinger: Loïe Fuller, Cabinet Fotografie, 16,5 cm × 11,4 cm, um 1893, Paris, Collection of Maryhill Museum of Art, Washington. SCHIRIN KRETSCHMANN Abb. 1–15: © 2021 Schirin Kretschmann und VG Bild-Kunst, Bonn 2021. MATTHEW VOLLGRAFF Abb. 1: Walter Riezler: Einheit der Welt (Ein Gespräch), in: Die Form 2 (1926/1927), Nr. 8, S. 243. Abb. 2a–2b: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919, S. 92 (links) und S. 95 (rechts). Abb. 3: Raoul H. Francé: Die Pflanze als Erfinder, Stuttgart 1920, S. 8. Abb. 4a–4b: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919, S. 38 (links) and S. 39 (rechts). Abb. 5: Raoul Francé: Bios. Die Gesetze der Welt, 2. Aufl., Bd. 2, Stuttgart 1923, S. 240–241. Abb. 6a–6b: Simon Schwendener: Das mechanische Princip im anatomischen Bau der Monocotylen, mit vergleichenden Ausblicken auf die übrigen Pflanzenklassen, Leipzig 1874, S. 51 (oben) and S. 87 (unten). Abb. 7a–7b: El Lissitzky: Gestalten=Form, in: ABC. Beiträge zum Bauen 2 (1924), unpag. Abb. 8: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919, S. 181. Abb. 9: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919, S. 228. Abb. 10a–10b: Raoul H. Francé: Die technischen Leistungen der Pflanze, Leipzig 1919, S. 36 (links) und S. 37 (rechts). Abb. 11: Sabine Beneke und Hans Ottomeyer (Hg.): Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Ausst.-Kat. (Deutsches Historisches Museum, Berlin), Wolfratshausen 2002, S. 282, Städtisches Museum Gelsen­ kirchen, Inv. I b 66/18; © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. MAGDALENA HOLZHEY Abb. 1–4: Joseph Beuys: Zeichnungen. Zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzen­ büchern „Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci, 1975, Stuttgart 1975, Ex. 7/1000, unpag.; © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. LUTZ HENGST Abb. 1: https://werkleitz.de/paradox-of-praxis-1-sometimes-doing-something-leads-to-nothing/ (25. 5. 2021); © Francis Alÿs (Courtesy David Zwirner, New York/London), Inv.nr. ALŸS16118. Abb. 2: Tony Godfrey: Conceptual Art, London 1998, S. 122; © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Abb. 3: Günter Metken: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977, S. 124; © VG Bild-Kunst, Bonn 2021.