Spanische Bilderwelten: Literatur, Kunst und Film im intermedialen Dialog 9783964563415

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Spanische Bilderwelten: Literatur, Kunst und Film im intermedialen Dialog
 9783964563415

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zur Beziehung von Bild und Text am Beispiel von Goya, 'Caprichos'
Goyas 'liluminatio' - Zum ästhetischen Genesisbericht der 'Caprichos'
Dalí malt Lorca 'Poeta en Nueva York' und 'El Público' im Bild
Text-Bild-Beziehungen im Werk von Camilo José Cela
Octavio Paz, Topoemas
Zur Ikonographie der Falange - Die Illustrationen der Zeitschrift "Vértice"
Bild und Wort. Zur Synchronisation spanischer Filme
Zeichen-Setzung im Spätwerk Bunuels: 'Le fantôme de la liberté' - 'El fantasma de la libertad' 1974
Über die Lesbarkeit typographischer Textarrangements: Josep Maria Junoys kalligraphische Nekrologe auf Umberto Boccioni (1916-1920)
Abbildungen

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Christoph Strosetzki / André Stoll (Hrsg.) Spanische Bilderwelten

STUDIA HISPANICA Herausgegeben von Christoph Strosetzki Band 3

STUDIA HISPANICA Christoph Strosetzki / André Stoll (Hrsg.)

Spanische Bilderwelten Literatur, Kunst und Film im intermedialen Dialog Akten der Sektion Bild und Text des Deutschen Hispanistentages, Göttingen 1991

VERVUERT VERLAG FRANKFURT AM MAIN 1993

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus Sondermitteln des Bundesministeriums für Forschung und Technologie

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Spanische Bilderwelten : Literatur, Kunst und Film im intermedialen Dialog ; Akten der Sektion Bild und Text des Deutschen Hispanistentages, Göttingen 1991 / Christoph Strosetzki ; André Stoll (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1993 (Studia Hispanica ; Bd. 3) ISBN 3-89354-453-4 NE: Strosetzki, Christoph [Hrsg.]; Deutscher Hispanistentag / Sektion Bild und Text; GT © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1993 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Inhalt

Volker Roloff (Siegen): Zur Beziehung von Bild und Text am Beispiel von Goya, 'Caprichos' André Stoll (Bielefeld): Goyas 'Illuminatio'- Zum ästhetischen Genesisbericht der 'Caprichos' Angelica Rieger (Berlin): Dali malt Lorca 'Poeta en Nueva York' und 'El Püblico' im Bild Sybil Dümchen (Berlin): Text-Bild-Beziehungen im Werk von Camilo José Cela Klaus Meyer-Minnemann (Hamburg): Octavio Paz, Topoemas Mechthild Albert (Frankfurt/M.): Zur Ikonographie der Falange - Die Illustrationen der Zeitschrift "Vèrtice" Stefanie Karg (Saarbrücken): Bild und Wort. Zur Synchronisation spanischer Filme Monika Bosse (Bielefeld/Frankfurt/M.): Zeichen-Setzimg im Spätwerk Bunuels: 'Le fantòme de la liberté' - 'El fantasma de la libertad' 1974 Reinhard Krüger (Berlin): Über die Lesbarkeit typographischer Textarrangements: J.M. Junoys kalligraphische Nekrologe auf U. Boccioni (1916-1920) Abbildungen

Bildquellen werden im jeweiligen Textteil nachgewiesen.

Vorwort Spanische Bilderwelten Literatur, Kunst und Film im intermedialen Dialog Die vorliegenden Beiträge zur Sektion "Bild und Text" des Deutschen Hispanistentages 1991 verbindet das Ziel, über die Analyse exemplarischer Bild-Text-Kompositionen der hispanischen Moderne neuartige Zugänge zu jenem Feld der Medienkultur zu eröffnen, das sich durch die poetische Innovationskraft seiner ästhetischen Prozeduren von den funktionalen Produkten des auf hedonistischen Konsum gerichteten Klischeeverbreitungsbetriebs der Massenmedien unterscheidet. Ein solches Vorhaben trifft jedoch auf mancherlei methodische Schranken, da die mit Bild- und Textmaterie separat befaßten Einzeldisziplinen immer noch gravierende Defizienzen im hermeneutischen Umgang mit synästhetischen Architekturen aufweisen. Die (daher auch im vorliegenden Band anzutreffenden) terminologischen Unsicherheiten bei der Benennung solcher grenzüberschreitenden Gebilde sind nur ein Indikator für das Fehlen eines adäquaten methodischen Instrumentariums zur Beschreibung der vielfältigen ästhetischen Prozesse, die das Miteinander von Schrift-/Text- und Bildanteilen innerhalb graphischer Blätter, visueller Textarrangements oder Filmsequenzen organisieren und diesen dadurch zu ihrer konstitutiven Differenz gegenüber den Kulturprodukten des Kontextes verhelfen. Es gilt ja nicht länger nur, zur motivgeschichtlichen Identifizierung von im Textmaterial vorfindlichen Bildern zu gelangen oder umgekehrt Textelemente von Bildwerken auf ihre externe Herkunft hin semantisch einzukreisen, sondern ungleich komplexere Beziehungsnetze aufzudecken: etwa die Ikonizität von Textstrukturen zu bestimmen oder narrative Verläufe in graphischen Stationen und cinematographischen Sequenzen freizulegen - Aufgaben, denen weder eine motivgeschichtlich ausgerichtete Kunstwissenschaft noch eine auf Texte fixierte Erzählforschung bisher gerecht geworden ist -, um sodann die Inszenierungsverfahren zu erkennen, denen die originelle und dialogische Neugestaltung jener bildlichen und textlichen Träger vorgegebener kultureller Imaginationsmuster obliegt. Als hilfreich bei der Einkreisung dieser fiktionalen Wirklichkeit erweisen sich die Verfahren der Semiologie, wenn es um die Erkenntnis gattungsübergreifender Zeichenstrukturen geht, wie auch andererseits ein Ausblick auf die analoge Praxis der Dramaturgie zur Einsicht in die szenischen Repräsentationsmodi innerhalb dieser Bild-Text-Kompositionen beitragen kann.

vm Da es sich bei den ausgewählten Beispielen nicht um intentional hermetische, einem kleinen Kreis von Eingeweihten vorbehaltene Werke handelt, kommt es ja darauf an, ähnlich wie bei Theaterstücken, die Art ihrer Beziehungen zum Bilder- und Mythenfundus der jeweiligen Öffentlichkeit zu sondieren. Der Weg zur Freilegung der poetischen Andersartigkeit des Kunstwerks führt also immer auch über ein von diesem umgestaltetes ready made als Träger öffentlicher Imaginationsmaterie. Nicht von ungefähr steht am Anfang und immer wieder im Brennpunkt der im folgenden angezeigten intermedialen Dialoge - deren historisches Spektrum von der Gründungsära des modernen Graphik- und Zeitschriftenmarktes über die Avantgarden im ersten Drittel unseres Jahrhunderts und deren Absorption durch die Propagandamedien des Franquismus bis zu den Filmklassikern und typographischen Arrangements der Gegenwart reicht - das graphische Oeuvre Francisco de Quevedos. In ihm, so zeigt sich, sind sämtliche ästhetischen Transformationsprozesse, die die qualitative Differenz des Medienkunstwerks im Kulturbetrieb der hispanischen Moderne begründen, schon vorweggenommen: die irritierende Überschreitung der Gattimgsgrenzen, die listigen Verfremdungs- und Simulationsstrategien, die spielerischsouveräne Verfügimg über die Wahrnehmungsrituale und den Mythenapparat des zeitgenössischen Publikums. Auf seine provokativ schillernden Inszenierungsverfahren berufen sich nicht nur so explizite Huldigungen wie Camilo José Celas ironische narrrative Überbietung der zuvor in der Rezeptionsgeschichte seiner Caprichos aufgetauchten Deutungsperspektiven und Projektionen, sondern auch so typisch surrealistisch anmutende (Des-)Illusionsmaschinen wie das filmische Testament Luis Bunuels, wenn es sich der vom spanischen und internationalen Film beförderten, modischen Geschichts- und Alltagsmythen seines Publikums in brillanten Paradoxien bemächtigt. MetaTheater, dramaturgische Neuorganisation zuvor inszenierter Konzepte begründet auch die visuellen Schriftfiguren der katalanischen Avantgarde des Jahrhundertbeginns ebenso wie die antidiskursiven Topoemas von Octavio Paz oder Salvador Dalis malerische und illustrative Variationen der sprachlichen Bilderwelten Garcia Lorcas. In anderen Exempla treten die für die weitere Kommerzialisierung solcher Werke typischen Verluste an ästhetischer Polyvalenz zutage: so im ikonographischen Rekurs von Falange-Zeitschriften auf die ästhetischen Experimente zeitgenössischer Avantgarden oder infolge der heute üblichen Synchronisierungspraktiken im spanisch-deutschen Filmgeschäft.

IX

Manche dieser Einsichten in bestimmte szenische Verfahren der spanischen Medienkultur lassen sich unschwer auf das Schicksal poetischer Innovationen in anderen Medienbereichen der Moderne übertragen. Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, daß die Abbildungen zu den einzelnen Beiträgen fortlaufend numeriert im Anhang dieses Bandes erscheinen. Gedankt sei an dieser Stelle den Autoren der einzelnen Beiträge für ihre geduldige Korrektur der Fahnen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. Besonderer Dank gilt Susanne Hubald und Michaela Peters für ihre tatkräftige Mitarbeit bei der technischen Realisierung des vorliegenden Bandes. André Stoll und Christoph Strosetzki

Zur Beziehung von Bild und Text am Beispiel von Goya, 'Caprichos' Volker Roloff (Siegen) 1. Bild und Text Toute notre expérience de la peinture comporte en fait une considérable partie verbale. Nous ne voyons jamais les tableaux seuls, notre vision n'est jamais une pure vision. Nous entendons parler des oeuvres, nous ne lisons de la critique d'art, notre regard est tout entouré^ tout préparé par un halo de commentaire, même pour la production la plus récente.

In diesem Hinweis M. Butors steckt mehr als nur der einfache Gedanke, daß Bilder zu Kommentaren verführen: es geht um die Wechselbeziehung zwischen Bild und Sprache bzw. zwischen Bild und Text, die für jede ästhetische Produktion und Rezeption grundlegend ist. Das Sehen selbst ist ohne Sprache für den Menschen nicht vorstellbar, es bringt "etwas zur Sprache"2, sowie umgekehrt das Schreiben und Lesen ohne das äußere und innere Sehen undenkbar wäre, kein Text ohne Bildphantasie verständlich ist. Man kann diese für jede ästhetische Wahrnehmung konstitutive Wechselbeziehung, im Anschluß an den Begriff der Intertextualität, unter den Begriff der Intermedialität fassen, womit nicht nur die von Butor sog. "mots dans la peinture" bzw. die Bilder im Text bezeichnet werden, sondern die Dynamik der Wechselbeziehung als ein notwendiges Element der Analyse von Texten und Bildern. Wenn man Intertextualität rezeptionsästhetisch als einen Modus der Wahrnehmung des Textes, als einen "Mechanismus der Lektüre" begreift3, so kann man Intermedialität als Formel einerseits für die Präsenz und Produktivität von Bildern und Texten im literarischen Text, und andererseits von Texten und Bildern im Bild bezeichnen. Der Begriff Intermedialität entspricht der Erkenntnis, daß wir in einer Kultur der Einfti'Wungen leben4, nicht nur in dem Sinne, daß Bilder endlos Bilder widerspiegeln, sondern Bilder zugleich auch, im Sinne einer komplementären Phantasie, die verschiedenen Sinne aktivieren: Geschichten und Texte produzieren Bilder, genau so wie umgekehrt Texte eine komplementäre Bildphantasie, 'innere Filme', hervorrufen.5 Bilder verweisen auf Texte, da Bilder

1

M. Butor, S. 5 f.

2

J. Manthey, S. 27.

3

M. Riffaterre, "La syllepse intertextuelle", Poétique 40 (1979), S. 496-501 hier S. 496; vgl. auch O. Ette, "Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen", RZLG 9, (1985), S. 497-522, bes. S. 505 ff.

4

Vgl. J. Paech, "La belle captive (1983). Malerei, Roman, Film (René Margritte/Alain RobbeGrillet)", F.-J. Albersmeier, V. Roloff (Hgg.), Literaturverfìlmungen, Frankfurt 1989, S.409-438, Zum Begriff der Einbildungen bes. S. 415 ff. Vgl. bes. die Einleitung S. 14 (zum Begriff der Intermedialität). 5 Vgl. zum Begriff der "komplementären Phantasie", Vf., ebd. S. 528 ff.

2

Volker Roloff

nicht in derselben Weise bedeutungstragend sein können; so wie auf der anderen Seite, wie M. Titzmann bemerkt, Bilder "sehr wohl solche kulturell denkbaren Bedeutungen vermitteln können, deren Verbalisierung der Kultur als unerwünscht gilt..."6 Die akademische Trennung von Literatur- und Kunstwissenschaft hat dazu geführt, daß diese für die meisten Autoren, Maler und Zeichner ganz selbstverständlichen Erfahrungen und Einsichten in der Praxis der Bild- und Textanalyse zu wenig beachtet werden; von einigen Sonderbereichen abgesehen, in denen, z.B. bei der Emblematik des Barock7 oder der Buchillustration, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen evident ist. Wolfgang Kaysers Buch über Das Groteske in Malerei und Dichtung, das nicht zufällig Goyas Capricho 51 ("Se repulen")8 als Titelbild hat, gehört zu den seltenen bedeutenden Ausnahmen. 2. Die Kommentare der 'Caprichos' Im folgenden soll an einem konkreten Beispiel, den Caprichos von Goya, der Spielraum einer intermedialen Text- und Bildanalyse angedeutet werden. Es geht dabei vor allem um die Funktion der Bildtitel und Kommentare der Caprichos, die - von wenigen Ausnahmen (den Arbeiten z.B. von E. Helman, W. Hofmann, J. Held, J. Battesti-Pelegrin, C. Ch. Soufas, R. Andioc, J. Soubeyroux) abgesehen - bisher relativ selten die Aufmerksamkeit der Kunst- und Literaturwissenschaftler gewonnen haben. Man hat den Eindruck, als ob die Goya-Spezialisten, die im Rahmen einer traditionellen kunstgeschichtlichen Hermeneutik über Sinn und Bedeutimg der Zeichnungen nachdenken, zu wenig die Strategien und literarischen Mittel der z.T. von Goya selbst verfaßten, kommentierenden Titel und Texte mit einbeziehen, z.B. die Formen der Ironie und Distanz, Parodie und Verfremdung, die die Beziehungen von Bild und Text bei Goya kennzeichnen. Erst in jüngster Zeit bemerken einige Interpreten zumindest die Widersprüchlichkeit zwischen Texten und Bildern sowie die Vieldeutigkeit der Zeichnungen, betonen die Notwendigkeit einer 'Lektüre' der Zeichnungen.9 Dazu muß man wissen, daß trotz hervorragender Ausstellungskataloge (z.B. W. Hofmann, Hamburg 1980, Prado 1988 usw.)10 und einer Reihe kunstgeschichtlich kommentierter Ausgaben der Caprichos (von T. Harris, P. Gassier bis E. Lafuente-Ferrari) bisher noch keine umfassende kritische Aus6 7 8

M. Titzmann, S. 376. Goyas Beziehungen zur Emblematik betont G. Levitine, S. 286 ff.

S. Abbildung Nr. 2 im Anhang zu diesem Band. Vgl. bes. J. Battesti-Pelegrin und C. Ch. Soufas. 10 Vgl. W. Hofmann (Hg.) 1980; Goyayel espíritu de la ilustración, Museo del Prado, Madrid 1988 (im folg. zit.: Prado 1988).

9

Bild und Text in Goyas 'Caprichos' 3 gäbe vorliegt, die die verschiedenen Kommentare und damit den engen Zusammenhang von Text und Bild konsequent berücksichtigt. Die wichtigsten Hinweise und aktuellen Forschungsergebnisse zu den Texten findet man bei Edith Helman, J. Held, R. Andioc, C. Ch. Soufas, J. Battesti-Pelegrin, die z.T. aber noch (wie vor allem E. Helmans detaillierte Studien11) den Typ der traditionellen Einfluß-Forschung repräsentieren. Zunächst sind einige Vorbemerkungen zu den Kommentaren nötig: das komplexe Spiel zwischen Bild und Text beginnt mit den 'Legenden', d.h. den Bildtiteln, die unstrittig von Goya selbst stammen und - mit einer Fülle literarischer Anspielungen - Goyas literarische Gestaltungskunst dokumentieren. Schon die Legenden lassen die Verfahrensweisen erkennen, die die Beziehung von Bild und Text kennzeichnen: Ironie, Distanz, Zweifel, Paradox, die Inzitation und Irritation des Betrachters, einen burlesken komödiantischen Ton, das intertextuelle Spiel mit Zitaten, Sprichwörtern und Allusionen bis hin zum polyphonen Rollenspiel; so daß schon von daher der Gedanke naheliegt, daß zumindest auch die ganz ähnlich stilistisierten Kommentare des Prado (P) von Goya verfaßt sind.12 Die bisherige Annahme, daß diese Kommentare von Goya stammen oder von ihm autorisiert sind, wird in jüngster Zeit auch in Frage gestellt.13 Schon früher wurde darauf hingewiesen, daß die Kommentare P den Sinn der Caprichos angeblich verdunkeln, ihre Kritik abschwächen, den Betrachter verwirren oder irreführen, möglicherweise aus berechtigter Sorge vor der Inquisition: el propósito del autor no parece ser aclarar para el espectador el verdadero o completo sentido de las estampas, sino más bien depistarle.14

Diese Neigung zur Irritation und Mehrdeutigkeit ist m.E. gerade ein Indiz der Schreib- und Darstellungsweise Goyas, so daß die traditionellen Kategorien und Maßstäbe, die E. Helman und R. Andioc zugrundelegen (hier z.B. mit dem Begriff des "verdadero sentido"), nicht passend erscheinen. Goyas Verfahren der ironischen Verkleinerung, der Verstellung und scheinbaren Verharmlosung beginnen ganz offensichtlich schon mit den Untertiteln: z.B. bei den "Duendecitos" (Capricho 4P)15 den "niedlichen kleinen Kobolden" ("Alegres, juguetones, serviciales y un poco golosos, amigos de pegar chascos, pero muy 11

E. Helman (1970 und 1986) bietet wertvolle Hinweise und Funde insbes. zu den literarischen Vorlagen und Anspielungen Goyas, berücksichtigt dabei aber zu wenig die formalen Aspekte und Verfahrensweisen der Intertextualität und Intermedialität. 12 Vgl. dazu bes. E. Helman 1986, S. 54 f.; W. Hofmann 1980, S. 60; J. Held 1964, S. 62 ff.; R. Andioc 1984; zuletzt E. Sayre; J. Vega, S. Stepanek in Prado 1988, S. 116 f. und S. 232. 13

Vgl. zuletzt - im Anschluß an E. Helman - bes. R. Andioc, S. 279 ff., der Goyas Freund Moratin als möglichen Mitverfasser vermutet, aber m.E. keine überzeugenden Beweise bringen kann. Vgl. auch den früheren vorsichtigeren Artikel von R. Andioc, "Moratin, inspirateur de Goya?", Goya, regatds et lectores, Aix en Provence 1982, S. 23-32. 14 E. Helman 1986, S. 54. 15 S. Abbildung Nr. 1 im Anhang zu diesem Band.

4 Volker Roloff hombrecitos de bien", (P), die das Groteske und Unheimliche der Zeichnung durch Kontrastierung verschärfen.10 Dies gilt ebenso für das bereits erwähnte Capricho 51, in dem drei teuflische Dämonen dabei sind, "sich herauszuputzen" ("Se repulen"). Auch hier variiert der Kommentar P - wie in vielen anderen Caprichos - die mit dem Bildtitel eingeleitete ironisch-komödiantische Verharmlosung: "Eso de tener uñas largas es tan perjudicial, que aun en la Bruxería está prohibido."17 Die Faszination des Grotesken ist bei Goya ambivalent in dem Sinne, daß die ironische Kehrseite des Grotesken fast immer durch Bild oder Text mit im Spiel ist: der ironische Diskurs der Caprichos überschreitet die Grenzen des Bildes (bzw. der Bildserie) und wird oft erst durch den Text genauer erkennbar: d.h. die Ironie konstituiert sich erst im Dialog mit dem Betrachter und Leser des Bildes: "las leyendas de los Caprichos establecen una comunicación con el público" (R. Andioc, S. 279). Dies zeigen die Caprichos ebenso wie die Desastres de la guerra18 in einer sehr prägnanten Weise: im zweiten Bild der Desastres zielen die napoleonischen Soldaten mit ihren Bajonetten auf die schon verwundeten Spanier, die mit Messer und Spieß den aussichtslosen, absurden Kampf führen; das nächste Bild zeigt einen spanischen Bauern, der mit der Axt ebenso brutal auf die schon verwundeten französischen Soldaten einschlägt. Goyas Titel "Con razón o sin ella" (Desastres 2) und "Lo mismo" (3) dokumentieren vor allem den Zweifel, das Dilemma, den Zusammenbruch der herrschenden pro/contra Diskurse, die das Bild allein nicht zeigen kann: es geht in der gesamten Serie der Desastres um die Empathie und Distanz des Betrachters, der angesichts der Schrecken des Krieges keine 'vernünftige' Position beziehen kann, da die Vernunft selbst fragwürdig geworden ist. Damit geht es sicherlich auch um Goyas eigenes existentielles Dilemma sowie das der Liberalen der Zeit, die durch den Krieg den Zusammenbruch der Ideale der französischen Aufklärung und Revolution erleben19. Dies gilt auch für die folgenden Titel "Las mujeres dan valor" (4), "Y son fieras" (5), deren Bilder keinen heroischen Kampf, sondern nichts als grausames Gemetzel zeigen (und dabei sogar eine sadomasochistisch erotische Komponente der Kämpfe andeuten) und so die diskurskritische Funktion der tragischen Ironie der Bild/Texte bestätigen: d.h. Goyas Destruktion jener pathetischen und patriotischen Diskurse, die den Krieg (auf beiden Seiten) rechtfertigen wollen. 16 17

18 19

Zu "Duendecitos" und den Kommentaren, vgl. zuletzt Prado 1988, S. 233 f. Vgl. E. Helman 1986, S. 223. S. Abbildung Nr. 3 im Anhang zu diesem Band. Vgl. zu dieser Problematik bes. H. Holländer, S. 761 ff.; W. Hofmann 1981, S. 100 ff.; J. Starobinski, S. 103 ff.; J. Held 1980, S. 89 ff.; zuletzt S. Jüttner, S. 84 ff.; dazu Th. Hölschers von Foucault inspirierte Goyadeutung, die eine Reihe neuer bemerkenswerter Perspektiven enthält (bes. "Goyas Widerspruch", S. 72 ff.). Ähnliche Ansätze finden sich auch schon bei A. Stoll, 1985, S. 27-51.

Bild und Text in Goyas 'Caprichos'

5

Zu ergänzen bleibt, daß eine Serie weiterer Kommentare existiert, die die von Goya eingeleitete 'Dialogizität' fortsetzen und so nicht nur die Bildgrenzen durch den Text, sondern auch die gewohnte Abgrenzung von Produktion und Rezeption verwischen. Die sogenannten Kommentare A (Ayala) und BN (Biblioteca Nacional)20 stammen von unbekannten Verfassern aus dem Umkreis Goyas und gelten als Möglichkeit der Entschlüsselung wichtiger Inhalte und zeitkritischer Bezüge. Sie sind zum Teil mit weiteren, erst jüngst wiederentdeckten und noch kaum ausgewerteten Kommentaren verwandt (z.B. Sánchez, Stirling, Douce; vgl. Prado 1988, S. 117). So entstehen vielfältige Kombinationsmöglichkeiten und Interferenzen, die nicht nur als Dokumente zeitgenössischer Rezeption, sondern auch als Elemente des künstlerischen Werks, der von Goya selbst inszenierten visuellen und verbalen Kommunikation anzusehen sind. Sie sind Ausdruck der Offenheit und Polyphonie der Goya-Kompositionen, die als solche in ihrer intermedialen, zeit- und diskursgeschichtlichen Dimension bisher noch zu wenig erforscht sind. 3. Die Mehrdeutigkeit von 'Capricho 43'21 Dies zeigt sich auch in der immer wieder neu auflebenden Diskussion über die Bedeutung der für den Zyklus der Caprichos grundlegenden, als Titelblatt konzipierten Radierung 43 "El sueño de la razón produce monstruos": hier geht es um die literarischen Aspekte der Beziehung von Bild und Text22, um die Mehrdeutigkeit der Wörter als ein Element der Zeichnung selbst, mit anderen Worten: um den, wie Foucault es nennt, "Zwischenraum" zwischen Texten bzw. Text und Bild23, in dem sich eine Vielfalt offener Sinnbezüge entfalten kann. Die Doppeldeutigkeit von Capricho 43 liegt nicht primär in der Formulierung des Titels (der Begriff "sueño de la razón" bezeichnet den Schlaf der Vernunft), sondern in der die sprachliche Logik und ihre Definitionen überschreitenden Zeichenwelt; der damit verbundenen Vervielfältigung und Konfusion. Das den Träumenden faszinierende Aufgebot undefinierbarer Wesen in der Serie der Caprichos dementiert den rationalistischen Widerstand gegen die Welt der Monstren und Masken und entlarvt damit - mit Foucault gesprochen - die Problematik des aufklärerischen Diskurses, die Vergeblichkeit des Versuchs, den Wahnsinn, das Monströse auszugrenzen. So ist das Groteske und Karnevaleske der Caprichos nicht nur, wie schon öfter bemerkt, ein Thema unter anderem, sondern ein Angelpunkt der von Goya an20

Vgl. dazu zuletzt Prado 1988, S. 116 f.; sowie E. Helman 1986, S. 223 ff.; W. Hofmann 1980, S. 60; R. Andioc.

21 22

S. Abbildungen Nr. 4 u. 5 im Anhang zu diesem Band. Vgl. u.a. W. Hofmann 1980, S. 61 f.; Prado 1988, S. 227 ff.; zur Beziehung von Bild-Text bes. C. Ch. Soufas, S. 315-318 mit überzeugenden Folgerungen, die die Distanz Goyas zu den Diskursen der Aufklärung betonen. Vgl. M. Foucault, "Flaubert et la Tentation de Saint-Antoine", Cahiers de la Compagnie M. Renaud-J.L. Barrault 59 (1967), S. 7-30.

6 Volker Roloff gedeuteten Diskurskritik, die erst in der Wechselbeziehung von Bild und Text zum Vorschein kommt. Schon in der Vorlage zum Capricho 43 hat Goya die Verbindung von Groteske und Ironie, die die Mehrzahl der Caprichos bestimmen wird, durch den Text am unteren Bildrand zum Ausdruck gebracht: "El Autor soñando. Su intento sólo es desterrar vulgaridades, y perpetuar con esta obra de caprichos, el testimonio sólido de la verdad". Auch diese Texte, die von einigen Interpreten ganz ernst genommen werden, stehen gerade wegen der Eindeutigkeit und Klarheit der These zumindest unter dem Verdacht der Ironie, ebenso der in das Bild integrierte quasi 'versteinerte' literarische Begriff, der im Diskurs der Aufklärung eine Schlüsselstellung einnimmt: Ydioma universal, ein Begriff, der, wie auch H. Holländer24 glaubt, im Einklang mit der auch im Prolog der Caprichos formulierten Absichtserklärung des Autors steht. Aber die in dieser Radierung und den Caprichos überall auftauchenden Monstren passen nicht zu dem rationalistischen, zum Gemeinplatz abgesunkenen Topos: die mögliche Ironie (und Skepsis) der Bild-Textbeziehung ist in dem Maße durchschaubar, in dem der Betrachter sowohl den literarhistorischen Kontext auklärerischer Diskurse kennt und zugleich die offensichtlichen Widersprüche von Bild und Text bemerkt. Die Frage, ob Goya selbst etwa den Begriff der Universalsprache für problematisch hält oder nicht, bleibt ebenso offen wie der Sinn des Kommentars (P) zum definitiven Capricho 43: "La fantasía abandonada de la razón produce monstruos imposibles: unida con ella es madre de las artes y origen de las maravillas." Der Kontext der Caprichos zeigt eben nicht das versöhnende, beruhigende Ideal der hier sogenannten "maravillas", sondern gerade die Macht der "monstruos imposibles". Dabei ergibt sich, daß die im Diskurs der Aufklärung ohne Zweifel positiven Begriffe und Werte (wie z.B. "idioma universal", "razón") und die Gegenpositionen (Ausgrenzungen wie z.B. den "vulgares perjudiciales" und "monstruos") durch die Diskrepanz von Text und Bild für Goya zumindest fragwürdig geworden sind, keine sichere Orientierimg mehr bieten25. Die Caprichos zeigen eher das, was Foucault als Erfahrung der modernen Phantastik notiert: die Phantasmen haben ihren Sitz nicht mehr in der Nacht, dem von Goya, wie ich meine, ironisch bezeichneten Schlaf der Vernunft, sondern im Wachzustand der künstlerischen Produktion: L'imaginaire se loge entre le livre et la lampe [...] L'imaginaire ne se constitue plus contre le niel pour le nier ou le compenser; il s'étend entre les signes, de livre á livre, dans l'interstice des réalités et des commentaires; il naît et se forme dans l'entre-deux des textes. C'est un phénomène de bibliothèque. (M.Foucault, S.11)

24 25

Vgl. H. Holländer, S. 758 ff. Vgl. Th. Hölscher, S. 73 f; C.Ch. Soufas, S. 316 f.

Bild und Text in Goyas 'Caprichos' 4. 'Capricho 75' "¿No hay quién nos desate?" als 'groteskes Duell'26

7

Dieses Capricho kann als Paradigma für Goyas Konzeption des Ehekampfes angesehen werden und enthält darüber hinaus Elemente, die für das groteske Duell bei Goya insgesamt bezeichnend sind. Man könnte von einer Typologie grotesker und absurder Kämpfe in Goyas Werk ausgehen, wobei ich den Begriff Kampf in seiner Grundstruktur als Duell, Zweikampf verstehe. Dazu gehört der Ehekampf als Kampf zweier Partner, die - miteinander verschlungen voneinander loskommen wollen und nicht können, wobei meist auch eine dritte Figur, ein Dämon, der beide bedroht, mit im Spiel ist. Es gibt bei Goya auch den absurden Kampf zwischen zwei Partnern, oft an der Grenze von Leben und Tod, wie z.B. in dem bekannten Bild "Riña a garrotazos", das zwei Kämpfer zeigt, die den Kampf bis zum äußersten führen, obwohl beide schon im Schlamm versinken. Oft zeigt Goya auch groteske Paare, Kombinationen, Verschlingungen, die Menschen und Dämonen miteinander verbinden, meist in unklaren Situationen, die entweder als Kampf oder als Umschlingung angedeutet werden können. Capricho 75 ist zunächst einmal paradigmatisch für eine Reihe motiwerwandter Radierungen der Caprichos, die das Problem der Ehe und der Beziehungen zwischen Mann und Frau betreffen: Mann und Frau sind aneinander gefesselt, beide versuchen unter Qualen, sich zu befreien. "Ein Untier bewacht diese unglückliche, unlösbare Verbindung"27: eine bebrillte Eule, die, wie die Kommentatoren anmerken, die Kurzsichtigkeit der Ehescheidungsgesetze verspotten soll. Die Eule, die schon im Capricho 43 als "monstruo" auftaucht, gehört sicherlich - wie auch die Fledermäuse - zur emblematischen Tradition28; aber daraus ergibt sich, wie auch G. Levitine anmerkt, kein eindeutiger Sinngehalt (etwa Eule = Ignorantia). Goya spielt vielmehr mit ganz verschiedenen Bild- und Literaturtraditionen, wie z.B. auch mit der grotesken Eule in H. Boschs Jardín de las delicias™ die dort eine shiwaartige Paargestalt dominiert, deren 'Bedeutung" aber schon bei Bosch, wie H. Holländer betont, "durchaus unbestimmt ist"30. Man könnte auf den ersten Blick hin die bebrillte Eule auch mit den lesenden Eseln Goyas vergleichen (Caprichos 37, 39) und von daher an eine Satire der bornierten Justiz, der Kirche und Rechtsgelehrten denken oder an das Verbot der Ehescheidung, das in Frankreich im Verlauf der Revolution 1792 aufgehoben wurde, während es in Spanien nach wie vor galt, jedoch bereits kritisch diskutiert wurde. Verschiedene Radierungen der Caprichos sind indes, wie Jutta Held erläutert, Beispiele dafür, daß nicht nur die kirchlichen und staatlichen Regeln, sondern 26

S. Abbildung Nr. 6 im Anhang zu diesem Band. J.Held, 1980, S.49. 28 Vgl. W. Hofmann 1980, S. 94; G. Levitine, S. 302 ff. 2Q S. Abbildung Nr. 7 im Anhang zu diesem Band. 30 Vgl. H. Holländer, Hieronymus Bosch. Weltbilder und Traumwerk, Köln 1988, S. 110 (und Abb. Nr.23). 27

8 Volker Roloff auch soziale Verhältnisse die Entfaltung der Leidenschaften, die freie Liebe unmöglich machten.31 Die Ehe erscheint daher bei Goya oft als Maskerade, sie wird nach Geld- und Standesgesichtspunkten ausgehandelt (vgl. Caprichos 2, 6, 14, usw.). Dabei sind, wie Goya immer wieder andeutet, die Grenzen von Ehe und Prostitution verwischt: Mesalliancen, groteske Paare markieren die Perversion der Gefühle. Aber es gibt in Capricho 75 gleichwohl keine eindeutigen Schuldzuweisungen. Der Kommentar Goyas (P) hat angesichts der im Bild dargestellten unheimlichen Verstricktheit einen eher heiteren, harmlosen Ton, einen kapriziösen Stil, der die Gattungstradition der Caprichos32 aufzunehmen scheint: "¿im hombre y una mujer atados con sogas y forcejeando por soltarse y gritando que los desaten a toda prisa? O yo me equivoco, 6 son dos casados por fuerza." Die Harmlosigkeit dieses Kommentars wird also durch die Diskrepanz des Bildes selbst ironisiert; gerade die vorgespielte Unsicherheit und Naivität sprechen hier, anders als R. Andioc33 vermutet, für Goya als Verfasser. Die Frage des Untertitels und der scheinbar harmlos fragende Kommentar P zeigen die Spannung von Bild und Text, deuten prinzipiell auf die Möglichkeit, daß Texte und Bildinhalte kontrastieren, daß Texte die Bilder ironisch in Frage stellen. Dabei wird die Vielfalt der auf das Bild reagierenden Stimmen und Kommentare als eine Form des Rollenspiels erkennbar, das sowohl die Kategorie des Autors (im Sinne von auctor - auctoritas)34 als auch den Glauben an die Zuverlässigkeit von Kommentaren in Frage stellt. Schon die Frage auf der Radierung selbst ist ein Beispiel für groteske Ironie: das Bild scheint die Frage zu beantworten und zugleich ad absurdum zu führen. Der Dämon, der das verstrickte Paar befreien könnte, etwa mit seinen riesigen Krallen, erscheint als Ausdruck der grotesken Verbindung, Symbol der Discordia concordans dieser Beziehung selbst. Er umgreift das Paar so, als ob er eigentlich erst die zeichnerische Verbindung herstellt, jene seltsame Gestalt-Symbiose, die, wie W. Hofmann es nennt, "Überfigur", die mit dem Paar auch die Nato, den Baum, und die Phantasie, die dämonische Eule, miteinander verbinden, quasi naturhaft miteinander verwachsen.35 Durch diese groteske Gestaltung, die zugleich auch auf die karnevaleske Figur bei H. Bosch anspielt, wird der aufklärerische Diskurs, der den Ehezwang kritisiert, zugleich evoziert aber auch relativiert, die Verstrickung erscheint als Element der Beziehung selbst, die von dem Dämon beherrscht wird. Die dominierende Präsenz des Dämons, der mit der Brille fast den Betrachter und Leser selbst anvisiert, wird so zu einem wichtigen Element des grotesken Zweikampfs selbst. Es geht, wie auch in anderen Radierungen

31

32

J. Held 1980, S. 49. Vgl. dazu bes. L. Hartmann, "Capriccicf - Bild und Begriff (Diss. Zürich), Nürnberg 1973.

33

Vgl. Andioc, S. 277.

34

Vgl. Vf., "Intertextualität und Problematik des Autors (am Beispiel des Tristan von Bdroul)", F. Wolfzettel (Hg.), Artusroman und Intertextualität, Gießen 1990, S. 107-126.

35

Vgl. W. Hofmann 1981, S. 50; 1980, S. 94.

Bild und Text in Goyas 'Caprichos' 9 Goyas, um die Rolle des dämonischen Dritten, der den faszinierenden Blick des Beobachters im Bild selbst repräsentiert, mit ihm korrespondiert und so den Dialog mit dem Betrachter herstellt. Mit anderen Worten: die Interpretation des Bildes wird als ein Produkt der grotesken, schadenfreudigen Phantasie des Zuschauers selbst durchschaubar; er selbst ist mit im Spiel, unlösbar in die Problemstellung des Capricho verstrickt, wird mit dem Blick des Dämons auf eine unheimliche Weise fasziniert, mit hineingezogen. So erscheint der Dämon nicht als Allegorie etwa der Ehegesetze, sondern als Ausdruck der irritierenden Mehrdeutigkeit des Bildes. Anzumerken bleibt, daß die groteske Situation des Duells zur Tradition einer karnevalesken Kultur gehört38, in der z.B. die Ehe oder Werbeszenen gern als Komödie und als Farce - zur Schadenfreude der anderen - dargestellt werden. Man kann die Ehe- und Verkupplungsszenen der Caprichos als Erweiterung der Grundsituation des grotesken Duells der Geschlechter ansehen. Die goyeske Komplikation der Situation entspricht allerdings einer, wie ich es nennen würde, Problematisierung des Karnevals und Maskenspiels, einer Verdüsterung, wie sie z.B. auch in dem Bild Entierro de la sardina zum Ausdruck kommt. Die gleiche groteske, farcenhafte Gestaltung kann man z.B. auch in den Caprichos 2 und 637 feststellen. Der Prado-Kommentar von Capricho 2 erscheint hier wiederum eher harmlos, allzu eindeutig: "Facilidad con que muchas mujeres se prestan a celebrar matrimonio esperando vivir en él con más libertad."38 Das Bild zeigt indes viel 'hintergründiger', mit der absichtlichen Verdüsterung des Hintergrunds, die karnevalesken Elemente des Rollen- und Heiratsspiels, die Dialektik von Maske und Demaskierung. Deutlich wird, wie das Opfer dabei zugleich als Täter und Komplize fungiert, die Ambiguität des Rollenspiels und der Rollenzwänge. Das karnevaleske Gesellschaftsspiel erscheint als Parabel zwischenmenschlicher Bindungen und Trennungen, die Ehe als ein Spiel mit verteilten Rollen, in dem die Rollenträger austauschbar sind. Das JovellanosZitat, das Goya im Titel verwendet ("El sí pronuncian y la mano alargan / Al primero que llega."), wird von Goya also nicht nur, wie E. Helman anmerkt, satirisch aktualisiert39, sondern zugleich - im Kontext der Caprichos - relativiert, gerät in ein mehrdeutiges Beziehungssystem von Text und Bildserie, das die Konfusion des Betrachters selbst - als Teil der Inszenierimg - miteinbezieht. 36

37 38 39

Zu den - bisher noch wenig beachteten - karnevalesken Traditionen bei Goya vgl. z.B. T. Lorenzo de Márquez, Prado 1988, S. 99 f., die aber - im Unterschied zu Bachtin - nur einige thematische Aspekte behandelt. Vgl. dazu jetzt auch die Magisterarbeit von Susanne Schlünder (Goya und die Tradition des Karnevalesken - Formen und Perspektiven der Intermedialitätsforschung, Düsseldorf, Maschinenschr.), die vor allem im Hinblick auf den karnevalesken Diskurs bei Goya neue Perspektiven entwickelt. S. Abbildungen Nr. 8 u. 9 im Anhang zu diesem Band. E. Helman 1986, S. 213. Ebd. S. 120.

10 Volker Roloff Auch Capricho 6 "Nadie se conoce" deutet auf komplizierte Spannungen zwischen Text und Bild; das eher dunkle, undeutliche Bild führt umso mehr zu einer Reihe von Kommentaren, zu einer auswuchernden Textphantasie. Der Prado-Kommentar von Goya erscheint auf den ersten Bück als literarisches Zitat, als Variation des traditionellen Topos, der die Welt als Maskerade, als karnevaleskes Schauspiel zeichnet: "El mundo es una máscara, el rostro, el traje y la voz todo es fingido; todos quieren aparentar lo que no son, todos se engañan y nadie se conoce." Für W. Hofmann (vgl. 1980, S. 95ff) steckt darin die bekannte Vanitas-Einsicht, die z.B. Shakespeare seinem Richard II. in den Mund legt, "wer heute König ist, kann morgen Bettler sein". Aber auch der Kommentar selbst könnte eine Maskerade sein, die den möglichen Sinn des Bildes verschleiert. 5. 'Caprichos' 62,42 und 63: Groteske und Ironie40 In den Caprichos finden sich zahlreiche Beispiele für Goyas bewußte Inszenierung der Mehrdeutigkeit, für die Polyphonie von Bildtitel und Kommentar und die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten, die besonders die grotesken Zweikämpfe dabei bieten. Es können hier nur einige Beispiele zur Sprache kommen. Capricho 62 "¡Quién lo creyera!" zeichnet erneut ein groteskes Duell, das aber mit einem zweiten hintergründigen Kampf verbunden ist; wobei wiederum die Dunkelheit und Undeutlichkeit dieser Radierung, die Undefinierbarkeit des Paares und der Situation, zur Kommentierung reizt: "wer könnte so etwas glauben". Die Naivität dieser rhetorischen Frage und die weiteren Kommentare, die sich um eine Antwort bemühen, sind geeignet, die Absurdität nur noch zu steigern. Die umständliche allegorisierende Erläuterung von P Ve aquí una pelotera cruel sobre cuál es más bruja de las dos: quién diría que la petiñosa y la crespa se repelaran así: la amistad es hija de la virtud; los malvados pueden ser cómplices, pero amigos, no.

erscheint geradezu als Parodie emblematischer Hermeneutik und traditioneller Allegorie: weiß doch niemand, worum es überhaupt geht, nicht einmal das Geschlecht des Paares, seine Zugehörigkeit zur Welt der Menschen oder Dämonen ist erkennbar. "Una pelotera cruel" de brujas (P), "dos viejos" (A), "una vieja y im viejo" (BN): die hilflos erscheinenden Erläuterungen gehören zur ironischen Inszenierung selbst, zu dem Versuch, den Betrachter und Kommentator in die Unlösbarkeit des Konflikts zu verstricken. Demonstriert wird erneut der unauflösliche Zusammenhang von Groteske und Ironie der Zweikämpfe. Für Baudelaire ist dies im übrigen ein Musterbeispiel für den Typ der "lutte impossible" bei Goya, das ihn in einem Gedicht der Fleurs du Mal (Duellum) zur weiteren Deutung reizt: Baudelaire ist einer der ersten, der dabei die groteske Komik Goyas bemerkt, die Absurdität: "Nul n'a osé plus que lui [Goya] 40

S. Abbildungen Nr. 10-12 im Anhang zu diesem Band.

Bild und Text in Goyas 'Caprichos' il dans le sens de l'absurde possible".41 "Sans doute il plonge souvent dans le comique féroce et s'élève jusqu'au comique absolu...".42 Baudelaire erkennt hier die Wechselbeziehung von Groteske und Ironie, von Absurdität und Komik, die der französischen Romantik - in der Fixierung auf die düsteren, makabren oder exotischen Aspekte des Werks von Goya (vgl. die frühe Rezeption bei Th. Gautier und anderen)43- verborgen geblieben war: "La lumière et les ténèbres se jouent à travers toutes ces grotesques horreurs. Quelle jovialité."44 Auch Capricho 42 und 63, die miteinander verbunden sind und zugleich auch die Serie grotesker Paare bei Goya fortsetzen (die Serialität, die Selbstzitate und Querverweise sind Zeichen der zyklischen Struktur der Caprichos), sollen als weiteres Beispiel für die Strategie karnevalesker Verdrehung dienen, Goyas Freude an der grotesken Verschlingung der Körper. Die zunächst - im Bild und in den Kommentaren A und BN - angedeutete sozialkritische Deutung von Capricho 42 (die allerdings schon von P capriziös und ironisch relativiert erscheint) wird in Capricho 63 ("¡Miren qué grabes!") vollends ad absurdum geführt, mit einer Verwirrung und Verflechtung, die es unmöglich macht, zwischen Opfer und Komplizen, zwischen Lachen und Verzweiflung zu unterscheiden. Kommentar P notiert lakonisch und sarkastisch, es seien nur ein paar mißlungene Reitübungen ungeschickter Anfänger: "La estampa indica que estos son dos brujos de conveniencias, y autores que han salido á hacer un poco de exercicio á caballo."45 6. Konsequenzen und Perspektiven Ich fasse noch einmal einige Merkmale der Text-Bildbeziehung der Caprichos zusammen; im Bewußtsein, daß erst eine umfassende kritische Ausgabe und Analyse der Texte und Bilder einen Überblick ermöglicht. Den dargestellten grotesken Duellen entspricht fast immer auch ein Konflikt der Diskurse, die erst durch Titel und Kommentare deutlich werden kann. Erst die 'Lektüre' der Zeichnungen führt zur Erkenntnis der Wechselbeziehung von Groteske und Ironie; die Mehrdeutigkeit erscheint als ein Element des künstlerischen Werkes selbst. Zu den bevorzugten Verfahrensweisen Goyas gehören die ironische Verstellung, die Verfremdung, der lakonische und sarkastische Kommentar, aber auch Euphemismus und Verharmlosung, Verdunkelung, Mehrdeutigkeit, das Spiel mit Analogien, literarischen Zitaten und Sprichwörtern, vor allem das Rollenspiel, das verschiedene Stimmen gegeneinander setzt und den LeserBetrachter miteinbezieht. 41 42 43

44 45

Charles Baudelaire, Curiosités esthétiques, S. 298. Ebd. S. 296. Vgl. Th. Gautier, Voyage en Espagne, Paris 1904 (zuerst 1843), S. 118 ff.; dazu auch P. Guinard, "Baudelaire, le musée espagnol et Goya", RHLF61 (1967), S. 310-28. Ch. Baudelaire, S. 254. E. Helman, 1986, S. 225.

12 Volker Roloff Daraus ergeben sich weitere Themen und Konsequenzen, die ich zumindest noch andeuten möchte. Goyas Bilder 'lesen', d.h. nicht nur, wie z.B. bei E. Helman oder G. Levitine, den gelehrten und belesenen Goya entdecken, den Kenner von Quevedo, Graciän, Moratin, Jovellanos und anderer Autoren, der neben den Topoi der Bildtraditionen auch die der Literatur in den Caprichos verarbeitet. Entscheidend ist vielmehr die bisher noch kaum begonnene Analyse der Intermedialität, der komplexen Wechselbeziehung zwischen Bild und Text. Dazu gehört vor allem auch die Erkenntnis der Dialogizität der Bilder, die Goya durch Untertitel und eigene Kommentare inszeniert, ohne daß die klare Abgrenzung der eigenen und fremden Stimmen gesichert wird. Viele Bilder lassen sich daher nicht mehr, wie auch H. U. Gumbrecht anmerkt, "in abgegrenzte Sinngestalten überführen, und mit der Überschreitung dieser Grenze geht Vieldeutigkeit des Sinns in den Widerstand der Bildgehalte gegen die Sinndeutung über".46 Die im Bild dargestellten Grenzüberschreitungen demonstrieren bei Goya die Unmöglichkeit der Abgrenzung von Vernunft und Wahn, von Mensch und Dämon, von Opfer und Täter, von Maske und Wirklichkeit, von groteskem Duell oder Liebesakt. Der karnevalesken Überschreitung der Körpergrenzen entspricht letztlich auch der Versuch, diskursive Grenzen zu überschreiten, vor allem die vorgegebenen, in Spanien relevanten Diskurse, den konservativ-katholischen der spanischen Tradition ebenso wie den der Aufklärung, in Frage zu stellen. Die Konfusion der grotesken Körper, der Monstren und Duelle, illustriert die, wie Thomas Hölscher es nennt, "auf Ratio irreduzible Verwicklung der diskrepanten Kräfte, und sie betrifft in Goya seinen korrespondierenden Zentralkonflikt zwischen dem spanischen Volk und den spanischen franzosenfreundlichen Aufklärern. Diese in Goya nie aufgelöste Widersprüchlichkeit von pueblo- und ilustrado-Sphäre bildet die alles durchdringende Matrix seines Universums".47 Goya zeichnet die Gegenwelt des Wahns und des Traums mit zunehmender Radikalität, wie die Desastres und Disparates zeigen. Der französisch-spanische Krieg führt nicht nur zur Zerstückelung der Körper, sondern zum Chaos und Zusammenbruch der Diskurse selbst. Man könnte Goyas Prä- und Postmodernität, seine Neigung zum Vexierbild, zur Polyphonie unter dem Titel Goyas 'absurdes Theater' zusammenfassen, vor allem auch im Hinblick auf die Präsenz karnevalesker spanischer Traditionen und die damit verbundene Intermedialität der Bild-Text-Beziehung. Der Weg führt Goya, wie zu zeigen bliebe, von den grotesken Duellen der Caprichos in zunehmendem Maße zur szenischen Darstellung besonders in den Desastres, der Tauromaquia, den Disparates (zuweilen als Proverbios oder Suenos bezeichnet) und nicht zuletzt den Pinturas Negras. Dabei wird der voyeurhafte Blick des Zuschauers, die Ambivalenz der Schaulust einer oft Eseln und Narren ähnlichen Masse miteinbezo46 47

H.U. Gumbrecht, S. 590. Vgl. Th. Hölscher, S. 73.

Bild und Text in Goyas 'Caprichos' 13 gen,48 ebenso wie die Blindheit der Menge, das Nicht-Sehen-Wollen. Daraus ergibt sich auch die Tendenz, das Lesen und Schauen, die Faszination des Blicks, aber auch die groteske, besserwisserische und doch ahnungslose Gelehrsamkeit und Lektüre (vgl. die lesenden Esel) zu verdeutlichen49 - und damit die rezeptionsästhetische Dimension des künstlerischen Werks selbst darzustellen und zu reflektieren. Dies führt Goya u.a. zur kritischen Darstellung grotesker Szene und Massenschauspiele, deren karnevaleske Ambiguität zu weiteren Untersuchungen Anlaß gibt. So ist das Theatrum mundi Goyas immer zugleich, durch Bild und Sprache, Meta-Theater, und damit eine Vorstufe des absurden Theaters, z.B. des esperpento, das, wie Valle-Inclán bemerkt, Goya erfunden habe.50 Es sind vor allem, wie besonders S. Horl gezeigt hat, die Schriftsteller (von Gautier, Baudelaire, Valle-Inclán, Gómez de la Serna, Ortega y Gasset, Alberti bis hin zu Buero Vallejo, Cela, Malraux und Carpentier), die - als Leser und mit dem Blick des Lesers - den von Goya inszenierten Dialog aufgenommen und weitergeführt haben. Bibliographie R. Andioc, "Al margen de los Caprichos: las "explicaciones" manuscritas", Nueva Revista de Filología Hispánica 33 (1984), S. 257-283 J. Battesti-Pelegrin, "Les légendes des Caprices, ou le texte comme miroir", Goya, regards et lectures, Aix en Provence 1982, S. 33-56 Ch. Baudelaire, Curiosités esthétiques. L'art romantique, ed. H. Lemaitre, Paris 1962 V. Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt 1990 M. Butor, Les mots dans la peinture, Paris 1969 C.J. Cela, Los Caprichos de Goya y Lucientes, Madrid 1989 P. Gassier, Les Dessins de Goya, 2 Bde., Fribourg 1973-75 N. Glendinning, Goya and his critics, New Häven / London 1977 H.U. Gumbrecht, 'Eine' Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt/M 1990 T. Harris, Goya, 2 Bde., Oxford 1964 L. Hartmann, "Capriccio" - Bild und Begriff (Diss. Zürich), Nürnberg 1973 J. Held, "Francisco de Goya. Graphik und Zeichnungen", Zeitschrift ßr Kunstgeschichte 1964, S. 60-74

48

Vgl. dazu bes. C. Ch. Soufas, S. 320. Vgl. bes. Caprichos 29,37-42,70. 50 Vgl. P.K. Klein, S. 19 ff. 49

14 Volker Roloff J. Held, Francisco de Goya in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg, 1980 E. Helman, Trasmundo de Goya, Madrid 1986 (zuerst 1963) E. Helman, Javellanos y Goya, Madrid 1970 Th. Hölscher, Bild und Exzeß. Näherungen zu Goya (Diss.) München 1988 W. Hofmann (Hg.), Goya. Das Zeitalter der Revolutionen, Katalog der Hamburger Kunsthalle, München 1980 W. Hofmann, Goya. Traum, Wahnsinn, Vernunft, München 1981 W. Hofmann, E. Helman, M. Warnke, Goya, 'Alle werden fallen', Frankfurt 1981 H. Holländer, "Francisco Goyas distanziertes Engagement", Studium Generale 21 (1968), S. 749-774 S. Horl, "Der Schlaf der Vernunft. Zur Rolle Goyas in der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts", D. Kremer (Hg.), Aspekte der Hispania im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1983, S. 33-49 S. Jüttner, "¡Divina libertad! - Spaniens Aufklärer im Bannstrahl der Revolution", ders. (Hg.), Revolution in Europa - erfahren und dargestellt, Frankfurt 1991, S. 84-120 W. Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, Hamburg 1960 P.K. Klein, "'El esperpento lo ha inventado Goya' - Valle-Inclán und die GoyaRezeption seiner Zeit", Ramón del Valle-Inclán - Akten des Bamberger Kolloquiums 1986, hg. von H. Wentzlaff-Eggebert, Tübingen 1988, S. 1961 F.D. Klingender, Goya in der demokratischen Tradition Spaniens, Berlin 1978 (London 1948) E. Lafuente Ferrari, Goya, Paris 1961 G. Levitine, "Zu emblematischen Vorlagen bei Goya", S. Penkert (Hg.), Emblem und Emblematikrezeption, Darmstadt 1978, S. 286-333 J. López-Rey, Goyas Caprichos. Beauty, Reason and Caricature, 2 Bde., Princeton 1953 T. Lorenzo de Márquez, "Tradiciones carnavalescas en el lenguaje ¡cónico de Goya", Goya y el espíritu de la ilustración, Museo del Prado, Madrid 1988, S. 99-109 J. Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psycho-historische Studie über das Sehen in der Literatur, München / Wien 1982

Bild und Text in Goyas 'Caprichos' 15 J. Soubeyroux, "Ordre social et subversión de l'ordre dans les Caprices de Goya (Essai d'approche sémiologique)" Imprévue 2 (1981), S. 107-137 C. Ch. Soufas, "'Esto si que es leer': Learning to read Goya's Caprichos", Word and Image 2 (1986), S. 311-330 (dt. Übersetzung in V. Bohn, S. 129-161) A. Stoll, "Die Barbarei der Moderne. Zur ästhetischen Figuration des Grauens durch Goya und Daumier", ders. (Hg.), Die Rückkehr der Barbaren. Europäer und "Wilde" in der Karikatur Honoré Daumiers, Hamburg 1985, S. 27-51 J. Starobinski, 1789. Die Embleme der Vernunft, München 1988 M. Titzmann, "Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen", W. Harms (Hg.), Text und Bild, Bild und Text. Germanistische Symposien XI, Stuttgart 1989, S. 369-384

Verzeichnis der Abbildungen51 1. Capricho 49: Duendecitos 2. Capricho 51: Se repulen 3. Desastres de la guerra 2: Con razón 6 sin ella 4. Vorzeichnung zu Capricho 43: El Autor soñando 5. Capricho 43: El sueño de la razón produce monstruos 6. Capricho 75: ¿No hay quién nos desate? 7. Ausschnitt Garten der Lüste, H. Bosch 8. Capricho 2: El si pronuncian y la mano alargan. Al primero que llega 9. Capricho 6: Nadie se conoce 10. Capricho 62: ¡Quien lo creyera! 11. Capricho 42: Tu que no puedes 12. Capricho 63; ¡Miren qué graves!

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Die Abbildungen zu den einzelnen Beiträgen erscheinen fortlaufend numeriert im Anhang zu diesem Band.

Goyas 'liluminatio' - Zum ästhetischen Genesisbericht der 'Caprichos' André Stoll (Bielefeld) Revision Nachdem die romantische Kunstkritik mit Théophile Gautier und Baudelaire in Goyas Caprichos die Entdeckimg der subversiven Kräfte des Phantastischen für das komische Genre feierte und "toutes les débauches du rêve, toutes les hyperboles de l'hallucination" aufgewendet sah, um den schaurigen "sabbat de la civilisation" in Tableaus von "wahrscheinlicher Absurdität" ans Licht zu holen,1 gelten die 80 Radierungen von 1799 der heutigen Forschimg gemeinhin - von George Levitine, José L6pez-Rey, Enrique Lafuente-Ferrari und Thomas Harris über Pierre Gassier/Juliet Wilson Bareau bis hin zu Edit Helman, Eleanor A. Sayre und Jutta Held 2 - als brillante künstlerische Vollendung der moralisierenden, satirischen Gesellschaftskritik eines Feijóo, Cadalso, Moratín, Jovellanos und verwandter Repräsentanten der aufklärerischen Intelligenz des spanischen 18. Jahrhunderts, ausgedacht in den Avantgardistenzirkeln jener 'alcalófilos' ("Liebhaber des Häßlichen"), die keine Idylle, keine Trivialität von ihrem beißenden Spott ausnahmen. Ein jüngstes, beeindruckendes Dokument dieser Annäherungen ist, im Gefolge von Edit Helmans bahnbrechenden gelehrten Motivsondierungen, der Madrider Ausstellungskatalog Goya y el espíritu de la illustración von 1988, in welchem sich allerdings erste Abgrenzungsversuche zaghaft ankündigen.3 Tatsächlich legen die zahlreichen Korrespon-

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Ch. Baudelaire, "Quelques caricaturistes étranger& (1857)", in: Oeuvres complètes, hg. v. M.A. Ruff, Paris 1968, S. 388-9. Vgl. die Goya-Strophe in dem Gedicht Les Phares, "Goya, cauchemar plein de choses inconnues ...", in: Les Fleurs du Mal, a.a.O., S. 48. - Eine detaillierte Übersicht über die romantische Goya-Rezeption enthält N. Glendinning, Goya y sus críticos (engl. 1977), Madrid 1982, S. 83-110; vgl. auch: I. Hempel-Lipschutz, Spanish Painters and the French Romantics, Cambridge/Mass. 1972. G. Levitine, "Literary Sources of Capricho 4?, in: The Art Bulletin XXXVII (1955), S. 56-59; ders., "Some Emblematic Sources of Goya", in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XXII (1959), S. 106-131. - J. López-Rey, Goyás Caprichos: Beauty, Reason and Caricature, 2 Bde., 1953, Reprint Westport Conn. 1970. - E. Lafuente Ferrari, Goya. Sämtliche Radierungen und Lithographien, Wien, München 1964. - Th. Harris, Goya. Engravings and Lithographs, 2 Bde., Oxford 1964. - P. Gassier, J. Wilson, Francisco Gcya. Leben und Werk (engl. 1971), Fribourg 1971, insbes. S. 125-131 (Die hinter den zitierten Werken Goyas vermerkte Zahlenangabe verweist auf die Numerierung in diesem Werk.). - P. Gassier, Les Dessins de Goya. Les Albums, 2 Bde., Fribourg 1973 und 1975. - E. Helman, Trasmundo de Goya (1963), korr. und erweitert: Madrid 1983; dies., Jovellanos y Goya, Madrid 1970. - E.A. Sayre, The Changing Image. Prints by Francisco Goya, Boston (Museum of Fine Arts) 1974. - J. Held, Frandsco Gcya in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980, insbes. S. 45-70. F. Licht beispielsweise hält zwar den Pessimusmus Goyas dem optimistischen Vertrauen der 'ilustrado¿ auf die Verbesserungsfähigkeit des Menschen entgegen, leitet dies aber nicht aus Bildanalysen ab. ("El moralismo del arte de Goya en el contexto de su época", in: Ausstellungskatalog Goya y el espíritu de la Ilustración, Museo del Prado, Madrid 1988, S. 89-98, bes. 92-94. Der Katalog enthält mehrere beachtenswerte Aufsätze von A.E. Pérez-Sánchez, G. Areas, T.

Goyas 'Illuminano' n denzen zwischen Goyas Defilé der grotesken Masken und Perversionen des "schwarzen Spaniens" und dem Typenrepertoire des aufklärerischen Theaters, jenen der penetranten Dummheit der Sprichwortklischees, den Phantasmen der inquisitorischen Hexenjäger und den liturgischen Verrichtungen der modischen Satansjünger entliehenen "Monstern", eine solche Wesensverwandtschaft ebenso nahe wie der moralisierende Tenor mancher seiner handschriftlichen Legenden, die so getreu die didaktische Programmatik der ilustración abbilden, daß man bezeichnenderweise bis in unsere Tage hinein ihren eigentlichen Verfasser in Goyas Freund Moratin vermuten konnte.4 Als zuverlässiges Beweisstück für eine grundsätzliche Äquivalenz von aufkärerischem Diskurs und künstlerischer Inszenierung einer dem Obskurantismus verfallenen Gesellschaft wird immer wieder das zur ästhetischen Begründungsformel für die ganze Serie verabsolutierte Motto in Capricho 43, El sueño de la razón produce monstruos,5 bemüht, wobei vor noch nicht allzu langer Zeit der schillernde spanische Schlüsselbegriff 'sueño' schlichtweg auf die Bedeutung "Schlaf", also die Suspendierung des (die Aufklärung symbolisierenden) Wachzustandes, beschränkt wurde, vor deren unheilvollen Auswirkungen das Kunstwerk folglich zu warnen suche.8 Mittlerweile hat Ratlosigkeit angesichts der nun doch endlich bemerkten schillernden Polyvalenz dieses Mottos die alten Gewißheiten verdrängt. So identifiziert Werner Hofmann, der in 'sueño' die Semantik "produktive Traumarbeit" wahrnimmt und diese der 'razón' zuschreibt, die durch sie erzeugten "Monster" gar mit den utopischen Konstrukten einer durch die Französische Revolution zur vollen Entfaltung ihres Traumpotentials befreiten Vernunft,7 gleich als handele es sich bei den geilen Hexen, pathetisch Liebenden, gefräßigen Mönchlein, juwelenübersäten Stutzern und gelehrten Eselsköpfen um spezifisch spanische Entsprechungen des 'homme-machine' eines La Mettrie und seiner Metamorphosen in den anthropologischen Projekten der Terreur im revolutionären Nachbarland.

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Lorenzo de Marques, E. Sayre, usw.). Auch Jutta Held sieht neuerdings Goyas Verhältnis zur Aufklärung differenzierter, aber nur, um ihn der traditionellen Volkskultur anzunähern ("Goyas Bildwelt zwischen bürgerlicher Aufklärung und Volkskultur", in: Idea IV (1985), S. 107-131). Einen wirklichen Neuzugang zur materialen Transgressions-Asthetik Goyas eröffnete erst vor kurzem der auch durch sprachliche Adäquanz brillierende Essay von Thomas Hölscher: Bild und Exzeß. Näherungen zu Goya, München 1988. Vgl. neuerdings: R. Andioc, "Al margen de los Caprichos: Las explicaciones manuscritas", in: Nueva Revista de Filología Hispánica 33 (1984), S. 257-263. Vgl. N. Glendinning, "Goya y las tonadillas de su época", in: Segismundo n° 3 (1966), S. 105-120. S. Abbildung Nr. 17 a und b im Anhang zu diesem Band. Repräsentativ ist J. Held: "Er (sc.: Goya) ... beansprucht... für seine Kunst dieselbe didaktische Wirkungsmöglichkeit wie die Dichter für ihre Sprache." Dieses Ziel suche er zu erreichen, "indem er allein vor dem Schlaf der Vernunft warnt". (Goya, a.a.O., S. 70). Siehe W. Hofmanns Mutmaßungen über den "von Hybris getragene(n) Traum der Vernunft" als Produktionsformel von Capricho 43, in dem von ihm herausgegebenen Ausstellungskatalog der Hamburger Kunsthalle: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen, 1980, S. 52-61, bes. 58, sowie: Goyas negative Morphologie", in: W. Hofmann, E. Helman, M. Warnke, Goya. "Alle werden fallen", Frankfurt/M. 1981, S. 15ff., bes. 30-32.

André Stoll Wenn überhaupt Differenzen wahrgenommen werden, dann scheinen sie stilistischer Natur. So entgeht die formalästhetische Opposition der Caprichos gegen die gefrorenen Repräsentationsrituale eines Rafael Mengs und anderer Großmeister des akademischen Neoklassizismus8 den Interpreten seit jeher ebenso wenig, wie in jüngster Zeit immer zahlreichere Dokumente ihres Bruchs mit den gestischen Konventionen der zeitgenössischen volkstümlichen Bilderbögen zutage treten, die, oft ebenfalls unter dem Etikett 'caprichos', gegen Ende des 18. Jahrhunderts das bunte Spektrum der spanischen Stände, ihrer Trachten, Feste und Folkore, illustrativ ausbreiten: andalusische Moriskentänzer und embozados, "verhüllte" Freier und Tabakschmuggler, snobistische Hauptstadt-'/Jeíi/weírei' (aus französische 'petits-maîtres', etwa: "Herrchen", "Señoritos") und andere manierierte Modegecken, "Französlinge" {'afrancesados'), auf Tuchfühlung mit den marionettenartig aufgeputzten 'majas', die von ihren verkrümmten Celestinas eher feilgeboten als beschirmt werden, dazu das schön klassifizierte Spektakel der 'gritos de Madrid?..?. Das starre Regelkorsett beider Darstellungssysteme, der aristokratischen Porträtmalerei wie der Kolportage-Bildmedien der unteren Schichten, hatten ja bereits die Skizzenbücher von Sanlúcar und Madrid (um 1796) gesprengt, mit ihrer strahlenden Artikulation des erotischen Begehrens und ihren überraschenden Spiegelstadien einer stets bedrohlich aufbrechenden animalischen Natur des Zivilisierten ens sociale - falls subtile Ironie nicht bereits unter den preziösen Travestien der Hofgesellschaft lauerte, die der frühe Goya auf seinen Teppichkartons zur apollinischen Feier eines neuen Arkadiens ausgestaltete.10 18

Die ästhetische Provokation, zu deren Bühne Goya seine Aquatinta-Radierungen vom Frühjahr 1799 bestimmt, ist indes noch anderer Art. Um sie zu erschließen, gilt es zunächst einmal, die Caprichos in ihrem gattungs- und medienspezifischen Eigenwert ernstzunehmen: in ihnen das neuartige, von Goya zuvor nicht praktizierte, öffentliche Werk im Sinne eines modernen, "demokratischen", weil beliebig reproduzierbaren, Mediums zu erkennen, dessen ästhetische Produktivität sich in einer Sprache artikuliert, die eine grundsätzliche andere ist als die des ihm voraufgegangenen zeichnerischen Corpus. Als Ausgangspunkt eines solchen gattungsästhetischen Differenzierungsverfahrens eignet sich die Radierung mit der Nummer 43 zweifellos gut, da ihr (mindestens) zwei elaborierte zeichnerische Stadien vorausgehen, deren Mo8

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Vgl. N. Glendinning, "Wandel der Geschmacksmodelle in der Zeit Goyas", in: Ausstellungskatalog der Collection Thyssen-Bomemisza: Goya in spanischen Privatsammlungen, Lugano, Milano 1986, S. 46-86. Umfassendes Vergleichsmaterial bei V. Bozal, Imagen de Goya, Barcelona 1983. Vgl. auch bereits: ders., "Goya und die volkstümliche Bilderwelt", in: Ausstellungskatalog Goya. Zeichnungen und Druckgraphik, hg. v. M. Stuffmann, Frankfurt/M. 1981, S. 26-33. Als einer der wenigen erhebt V. Bozal Vorbehalte gegen die Subsumierung Goyas unter das Etikett "gran satirico". Vgl. J. Held, Die Genrebilder der Madrider Teppichmanufaktur 1971.

und die Anfänge Goyas, Berlin

Goyas 'Illuminatio' 19 tivbestand dem ihrigen so sehr zu gleichen scheint, daß die gesamte bisherige kunsthistorische Forschung sich berechtigt wähnte, unterschiedslos aus der einen oder anderen Entwicklungsphase beliebige Text- und Bildelemente herauszugreifen, um aus diesem synkretistischen Fundus dann die vermeintliche Bedeutimg ihres hypothetischen Sueño de la razón zu rekonstruieren. Ist man hingegen bemüht, die semiotische Innenarchitektur eines jeden dieser Stadien aufmerksam und unter Berücksichtigimg ihrer chronologischen Ordnung zu durchwandern, Hann enthüllen sich diese als völlig kohärente, in sich geschlossene Bedeutungssysteme, deren zeichnerische Artikulationen, im Gegensatz zu ihrem oberflächlichen Schein von Vorläufigkeit, an konzeptueller und stilistischer Ausgewogenheit nichts zu wünschen übrig lassen. Im Vergleich der ästhetischen Erfahrungskomplexität, die die verschiedenen Stadien zu übermitteln da sind, büßt die Radierung Capricho 43 sogar den privilegierten Status eines ästhetischen Manifests der gesamten Graphikserie ein, der ihr bisher fraglos zugestanden wurde, so als gelangte erst hier die in zeichnerischen Skizzen und graphischen Versuchen fortschreitende Arbeit des Künstlers an ihr konzeptuelles und stilistisches Ziel - weshalb erst dieses technisch ausgereifte Produkt es verdiente, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Radikaler könnte die Inversion unserer vertrauten Werthierarchie nicht ausfallen: Keineswegs als minderwertige, nicht veröffentlichungswürdige Vorarbeiten,11 sondern umgekehrt als der Radierung an ästhetischer Erfahrungsfülle überlegene Kompositionen fügen sich die zeichnerischen Stadien zu signifikanten Artikulationen eines autobiographischen Initiationsprozesses, der in hermetischer Verschlüsselung den ästhetischen Genesisbericht derselben "Colección de estampas de asuntos caprichosos" - so ihr bescheidener Titel in Goyas eigener Werbeanzeige im Diario de Madrid vom 6. Februar 1799 - bereithält, die als öffentlich-mediale Präsentationsinstanz diese genetische Formel dem Publikum paradoxerweise nicht mehr preisgibt. Koinzidiert der Ort, den Capricho 43 innerhalb dieses Erfahrungsweges einnimmt, schon nicht mit dessen Kulminationspunkt - da er diesem nachgeordnet ist so erst recht nicht mit seinem mediengemäßen, d.h. in der Sprache der Öffentlichkeit proklamierten Endstadium: dieses besetzt das definitive Titelblatt der ganzen Serie, Goyas Selbstportät mit Zylinder. Im Vollzug einer semiologischen Archäologie der einzelnen Entwicklungsphasen wird deutlich, daß dieser Genesisbericht sich einem in die unterschiedlichsten Repräsentationssysteme weisenden, aber stets auf seine Weise verschlüsselten Dialog des Künstlers verdankt: mit den erhabensten ikonographischen Die durchgängige Einschätzung findet sich bei E.A. Sayre, The Changing Image, a.a.O., Anmerkungen zu Kat.-Nr. 70-76. - Dieselbe Auffassung spiegelt sich auch im Oeuvre-Katalog von Gassier/Wilson, wo die Zeichnungen stets als Vorstudien der Radierungen hinter diesen aufgeführt werden (a.a.O., S. 176ff.). Selbst die interne Organisation der mit faszinierendem zeichnerischem Material aufwartenden Frankfurter Ausstellung (s.o.) wird von dem Vorurteil des stilistischen und handwerklichen Experimentcharakters der Zeichnungen bestimmt.

André Stoll und poetischen Modellen der Vergangenheit in ihrem ersten, unveröffentlichten Teil, mit den maßgeblichen Diskursen der zeitgenössischen Öffentlichkeit, allen voran dem moralisierend-satirischen der ilustración, im zweiten, die Radierungen umfassenden Teil. Mit dieser dialogischen Doppelstrategie greift Goya weit über die aktuelle Forderung nach Gleichwertigkeit, das soll heißen: Konvertierbarkeit poetischer und künstlerischer imitatio hinaus, die von den Asthetiktheoretikern im Frankreich des 18. Jahrhunderts (de Piles, du Bos, Batteux usw.) unter Berufung auf die Horazsche Formel 'ut pictura poiesis' erhoben wird,12 da er seine hermetische künstlerische Initiationserfahrung dem Dialog mit dem Imaginations- und Repäsentationssystem einer neuen Öffentlichkeit, der des Medienmarktes und der demokratischen Moderne, aussetzt. 20

Mnemosyne I: die 'noche oscura* Die erste Feder-und-Sepia-Zeichnung im Vorfeld der ursprünglich zum Titelblatt einer Suenoy-Reihe von 1797 bestimmten Radierung (Prado-Museum, Madrid; Gassier/Wilson Nr. 538) eröffnet ein Szenarium dramatischer Aufgewühltheit. Die unter seinem wirren Kopf verschränkten Arme auf einen Arbeitstisch (ist es eine Druckerpresse?) gestützt, "produziert" der schlafende "Autor" chaotisch den nächtlichen Raum bevölkernde Traumgesichter: Explosionsartig gehen Strahlen von diesem Haupt aus, wie um die Ursprungsstätte von mindestens sieben mehr oder minder fratzenhaften - an Leonardo da Vincis Karikaturen erinnernden - Porträtskizzen in der oberen linken Bildhälfte und mehrerer animalischer Pendants im rechten unteren Bildraum anzuzeigen. Dabei bildet die größte, frontale und am wenigsten verzerrte Gesichtsstudie gemeinsam mit dem größten unter dem Nachtgetier, einer überdimensionalen Fledermaus, die auf den Betrachter zuzufliegen scheint, eine semiotische Diagonale, durch die ein dicht besiedeltes unteres Dreieck einem lichteren oberen symmetrisch zugeordnet wird. Die ganze Szene ist übersät mit autobiographischen Spuren. Fügt man nämlich die Physiognomie des visionären Subjekts mit jenem frontalen Traumgesicht, gleichsam wie die aktivischen und passivischen Instanzen ein und derselben Ich-Repräsentation, zusammen, so weist die daraus resultierende Synopse eine verblüffende Ähnlichkeit mit den bekannten Selbstporträts Goyas aus dieser Zeit auf, insbesondere mit dem berühmtesten unter ihnen, einer lavierten Tuschzeichnimg, die heute im Metropolitan Museum aufbewahrt wird (Gassier/Wilson Nr. 666).13 Diese Ikone des romantischen Geniekults - der die nicht minder programmatischen Beethoven-Porträts aus den 1820er Jahren 12

Siehe Roger de Piles, Cours de peinture par principes, Paris 1708 (Reprint Genève 1969). - Abbé J.B. Du Bos, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, Paris 1719. - Abbé Ch. Batteux, Les Beaux-Arts réduits à un seul principe, Paris 1746 (Reprint Genève 1969). - Zur Entwicklung dieser Annäherung siehe G. Willems, Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-BildBeziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989.

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S. Abbildung Nr. 18 im Anhang zu diesem Band.

Goyas 'Illuminatio' 21 nachgebildet scheinen - verkündet die prometheische Schöpferkraft des künstlerischen Subjekts; in dieser Bedeutimg aber ist sie dem von desengaño und Erschöpfimg geprägten, späten Selbstporträts Goyas mit dem Arzt Arrieta (um 1820; Minneapolis, Institute of Fine Arts; Gassier/Wilson Nr. 1629) diametral entgegengesetzt. Dennoch fügen sich die verschiedenen Instanzen der über die Traumsphäre verteilten Selbstinszenierung des Autors hier nicht zur Kohärenz und Eindeutigkeit jenes ihrer Summe so ähnlichen Genie-Konzepts. Ihre Zerrissenheit und Fragmentcharakter übersetzen vielmehr mit semiotischer Präzision die Erfahrung pathologischen Ich-Verlusts in einem Moment äußerster Krise. Diesen Gesamteindruck verstärkt noch das den übrigen Visionsraum durchschwirrende Getier. Als Zwitterwesen aus Vogel und Säugetier (Ratte) versinnbildlicht die Fledermaus in den Emblemata-Handbüchern seit dem Mittelalter über Alciato {Emblemata, 1555) und Cesare Ripa (Iconología, 1593) bis hin zu Gravelot et Cochin (Iconologie, 1791) das in der Dunkelheit prosperierende Böse, die Ignoranz und Heuchelei,14 bedeutet also auch hier eine Bedrohung für das Subjekt der Traumerfahrung. Deshalb aber ist dessen Status innerhalb des semiotischen Netzwerks der Krise nicht nur der eines "Opfers": an zentraler Stelle ist er der "nächtlichen" Bedrohung ausgesetzt und hat diese doch andererseits als ihr dramaturgischer Organisator auf der Metaebene des Kunstwerks "voll im Griff'. Diese paradoxale Bedingtheit der gesamten Traumkonstellation legt uns unweigerlich den Vergleich mit einem ebenfalls mit doppelter Bedeutung ausgestatteten poetischen Konzept nahe, das zu den komplexesten Figuren der hermetischen Erfahrunginszenierung des Okzidents zählt: jener 'selva oscura', in deren Dickicht der protopoeta mysticus der Renaissance seinen dramatischen Orientierungsverlust in der Lebensmitte einschreibt, und die doch zugleich der Ausgangspunkt einer radikal neuen Erfahrung ist, die über den 'descensus ad inferos' zur absoluten Lichtfülle des Paradieses führt: "Nel mezzo del cammin di nostra vita Mi ritrovai per una selva oscura^ g Che la diritta via era smarrita..."

In der hymnischen Dichtung eines Juan de la Cruz wandelt sich dann diese der Naturtopik entlehnte Paradoxiefigur, mit der Dante den Erkenntnisweg seiner Divina Commedia eröffnete, zu jener 'noche oscura', deren Dunkelheit sämtliche Potenzen der Transgressionserfahrung der 'illuminatio' schon enthält,16 da 14

S.W. Hofmann, "Das zweideutige Geflügel der Nacht", in: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen, a.a.O., S. 62. - In Alciatos Emblem Aliud de verpetilione dienen die 'murciélagot> zur Bezeichnung von "personas de mala reputación que buscan amparo en la oscuridad". (Alciato, Emblemas, hg. v. S. Sebastián, Madrid 1985, n° 70, S. 98). 15 Dante, La Divina Commedia, Inferna Canto I, w . 1-3. 16 Dank seiner präzisen Verortung der Noche oscura des San Juan de la Cruz innerhalb der exegetischen und allegorischen Systeme des 16. Jahrhunderts gelingt B. Teuber eine überzeugend neue Sicht auf die poetische Produktivität dieses Hymnus: "Erotik und Allegorie bei San Juan de

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sie die Erfüllung des 'itinerarium extaticum' - um die Meditations-Prozeßfigur des Athanasius Kircher zu bemühen17 - ankündigt. Einschließlich des durch Dante in die autobiographische Fiktion eingeführten Topos der Lebensmitte als Zeitpunkt jener produktiven Krisis bestimmt die irritierend lichtvolle Figur der 'selva/noche oscura' Goyas vermeintlich so unfertige, "chaotische" Skizze.18 Diese inszeniert folglich, in flagranntem Widerspruch zu ihrem ersten Anschein, aber im ikonographisch adäquaten Rekurs auf den Figuralkodex der radikalsten poetischen Kunstwerke der Vergangenheit, die stets nur in Gegensätze zu zergliedernde Erfahrungsfülle am Beginn des Weges zur Epiphanie. Einerseits ruft sie die schweren psychischen und physischen Erschütterungen in Erinnerung, die der 1746 geborene Künstler zwischen 1792 und 1796 durchlebte und deren Folgen (u.a. Taubheit) ihn 1797 zwangen, von den Aufgaben des Malereidirektors der Königlichen Academia de San Fernando zurückzutreten.19 Andererseits aber hält sie gleichzeitig - im Hymnus des Mystikers: "¡Oh noche que guiaste!"20 - die mit dieser Krisis koinzidierende Wende zu einer unerhört beglückenden ästhetischen Produktivität fest, einer illuminierten Vita novo - das Dantesche Modell ist unvermeidlich! aus welcher von den Caprichos bis zu den Disparates und Pinturas negras das gesamte künftige, immer kryptischer anmutende Oeuvre hervorgehen sollte. Mnemosyne: Den memorialen Durchlauf durch das erste Stadium seines Initiationsweges behält der Künstler nicht ohne Grund der Öffentlichkeit vor. Selbst wenn das Publikum aus seiner verschlüsselten Zeichensprache seine, in unermüdlicher Arbeit erworbene (surrealistische) Korrespondenz mit der sublimsten Poiesis der Vergangenheit als Ursprungsstätte der modernen, "öffentlichen" Graphikserie zu entziffern fähig wäre, müßte es diese schockierende, allen eingefleischten Vorurteilen vom Kunstwerk der Moderne zuwiderlaufende Erkenntnis unverzüglich wieder verdrängen. Also hütet Goya das

la Cruz", Referat, gehalten auf dem interdisziplinären Seminar der Universität Wien über Mystik als Phänomen von Religion, Philosophie und Literatur in Stift Zwettl, Mai 1991,18 S. 17 Zitiert nach der Erstausgabe Athanasii Kirchen Itinerarium extaticum, Romae (Typis Vitalis Mascaradi) Anno 1656. 18

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Zwar finden sich in unmittelbarer Nähe zu Goya mehrere poetische 'noche?-Evokationen: die Ode La noche y la soledad, die Meléndez Valdés, der Übersetzer von Youngs Night Thoughts, Jovellanos widmete, oder Jovellanos' eigenes Sonnett A la noche von 1796, das mit den Versen beginnt: "Ven, noche amiga; ven, y con tu manto/Mi amor encubre y la esperanza mia." (Zit. nach F. Nordström, Goya, Saturn and Melancholy. Studies in the Art of Goya, Stockholm, Göteborg, Uppsala 1961, S. 223-225,138). Da diese jedoch eher präromantische Naturtopoi und nicht die paradoxale Bedeutungsfülle des mystischen Poems aufweisen, kommen sie als VorBilder für die Goyasche Zeichnung wohl kaum in Frage. Den Verlauf dieser Krisenjahre hat X. de Salas, hauptsächlich gestützt auf die Tagebuchnotizen Moratins, detailliert nachgezeichnet: "Light on the Origins of the Caprichos?, in: The Burlington Magazine, September 1979, S. 711-716. Vgl. Jeannine Baticle, "L'activité de Goya entre 1796 et 1806 vue à travers le Diariode Moratin", in: Revue de [Art, Paris 1971, S. 111-113. Beginn der 5. Strophe der Noche oscura, zit. nach: San Juan de la Cruz, Obras complétas, hg. v. L. Ruano de la Iglesia, B.A.C., Madrid 1982, S. 318.

Goyas 'Illuminatio' 23 Geheimnis seines ästhetischen Genesisberichts in der hermetischen Abgeschlossenheit seines zeichnerischen Werkes. Mnemosyne II: Das Licht der 'ekstasis' Auf den ersten Blick hin hält man die in Feder und Sepia ausgeführte Zeichnung, die - das steht jedenfalls für die Forschung fest - unter dem Titel Sueno Z"21 im Jahre 1797 einen Zyklus von 28 und mehr, ebenfalls Suenos genannten Drucken eröffnen sollte (Gassier/Wilson Nr. 537), für ein stilistisch ungleich reiferes Werk. Eine klare Strukturierung und die sorgfältige Profilierung ihres Figurenbestandes heben sie "wohltuend" von dem früheren, "turbulenten" Entwurf ab und lassen sie wie die unmittelbare zeichnerische Vorlage zu der nur "geringfügig" modifizierten, auch technisch ausgereiften Radierung mit Aquatinta erscheinen, die schließlich, nach einem (vermutlichen) Zwischenspiel am programmatischen ersten Platz, die Nummer 43 unter den Caprichos einnehmen wird. Der Schein trügt. Aufmerksam gelesen, gibt diese Komposition ihre formal-stilistische Klarheit - nicht etwa als stationäres Ziel auf dem Weg des Künstlers zu einer erwünschten Formvollendung, sondern - als adäquate semiotische Chiffre für eine in klare Kategorien aufgeteilte, wenngleich spannungsgeladene szenische Organisation preis, deren frappierendste ikonographische Figur einer zuvor nicht dargestellten, radikalen ästhetischen Andersartigkeit gilt. Das hervorstechend neue Merkmal dieses "beruhigten" Szenariums, das sich der Krisis der 'noche-oscura'-Zeichnung substituiert hat, ist ein großflächiges weißes Kreisviertel, das den oberen linken Bildraum ausfüllt und scharf von der übrigen Traumlandschaft abtrennt, um nur mit einem leicht zu übersehenden, irritierend schwachen Lichtband mit dem Haupt des Träumenden verbunden zu sein. Geblieben, wenn auch mit geringerer Dramatik ausgestattet, ist die Figur des Traum-Autors selbst. Die frontal im Anflug gezeigte Fledermaus ist nunmehr zu monströsen Ausmaßen angewachsen, während ein zuvor nur angedeuteter Luchs klare Konturen gewonnen hat und aus dem Hintergrund, in Fußhöhe des sitzenden Traumproduzenten gelagert, seinen Blick auf den Betrachter richtet. Hinzugekommen sind u.a. zwei handschriftliche Eintragungen, von denen die eine gleichsam in die vor der Druckerpresse aufgestellte Platte eingraviert, die andere in Form einer Legende unterhalb des Bildfeldes angebracht ist. Die Forschung hat zahlreiche ikonographische und emblematische "Vorbilder" für einzelne figurale Bestandteile dieser Zeichnung zusammengetragen und ohne Rücksicht auf ihre gattungsspezifische Provenienz und ästhetische Funktion in historischen Interaktionsprozessen mit denen der Radierimg Capricho 43 vermischt, um aus ihrer Wiederkehr in einer solchermaßen synthetischen 21

S. Abbildung Nr. 19 im Anhang zu diesem Band.

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Traum-"Urszene" auf die Bedeutung der gesamten aus dieser abgeleiteten Radierungsfolge zu schließen. Die semantische Sprengkraft der ungewöhnlichen Lichtfigur in der Zeichnung ist ihr aber auch deswegen entgangen, weil sie ihr diagnostisches Augenmerk primär auf die Autorgestalt und deren vermeintliche Bindungen an die diskursiven Repräsentationssysteme der Aufklärung gerichtet hat, das Lichtsegment jedoch - wie sich zeigen wird - in einem befremdlich anderen Symbolhaushalt beheimatet ist. Doch selbst das Traumautor-(Selbst-)Porträt erschließt sich nicht aus den ikonographischen Versatzstücken eines ahistorischen Motivfundus, sondern besitzt durchaus eine stringente, wenngleich von zahlreichen Paradoxien gekennzeichnete Aszendenzlinie. In seiner unmittelbaren zeitlichen und szenischen Nachbarschaft findet sich Goyas Porträt des intellektuell, wissenschaftlich und politisch bedeutendsten Programmatikers unter den zeitgenössischen ilustrados, Gaspar Melchor de Jovellanos (Gassier/Wilson Nr. 675),22 seines bislang gewiß einflußreichsten Protektors und Mäzens, 23 wenn auch nicht seines intimsten Freundes. Dieses Gemälde von 1798 - dem einzigen Jahr, in welchem Jovellanos einen Ministerposten bekleidete, bevor er ins Exil abgeschoben und durch den Ultrakonservativen Caballero ersetzt wurde - weist allerdings eine entscheidende Abweichung gegenüber der Zeichnung Sueño Ia auf: es zeigt den Porträtierten im meditativen Wachzustand, der semiotisch adäquaten Übersetzung seiner intellektuellen Luzidität und Arbeit. Mit Ausnahme dieses Details kehrt in Jovellanos' Gestik und Haltung mit verblüffender Ähnlichkeit das Porträt des Autors der brillantesten Traumbilder der spanischen Literatur (Sueños, 1627), Francisco de Quevedo y Villegas, wieder, das zum erstenmal als Titelkupfer die Antwerpener Ausgabe seiner Werke von 1699 ziert.24 Folglich überlagern sich in Goyas Zeichnung überraschenderweise die Porträts zweier herausragender Symbolfiguren des spanischen Geisteslebens, die im Vorurteil der öffentlichen Meinung bis heutezu gewöhnlich einander ausschließen: der Repräsentant des aufklärerischen Rationalismus und der im späten 18. Jahrhundert ebenfalls noch sehr populäre, 25 kompromißloseste 22 23

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S. Abbildung Nr. 20 im Anhang zu diesem Band. Ausführlich erörtert F. Nordström im Rahmen der Melancholie-Typologie die Ähnlichkeit zwischen dem Jovellanos-Porträt und Capricho 43 (a.a.O., S. 133-141). - Die Beziehungen zwischen dem herausragenden Liberalen und dem Künstler entfaltet aufs differenzierteste B. Helman, Jovellanos y Goya, a.a.O. - Die von 1953 bis 1956 veröffentlichten Diarios von Jovellanos (hg. v. J. Somoza, Oviedo, Instituto de Estudios Asturianos, 3 Bde.) beweisen, entgegen der traditionellen Auffassung, daß Jovellanos "nur" ein generöser Protektor, nicht aber ein enger Freund Goyas war. Vgl. S. Symmens, Goya, London 1977, S. 22.

Francisco de Quevedo y Villegas, Obras. Nueva impresión corregida y ilustrada con muchas estampas muy donosas y apropiadas a la materia, Amberes 1969, Bd. I, gegenüber S. 229; das gleiche Titelkupfer erscheint auch in der Ausgabe von 1726. (S. Abbildung Nr. 21 im Anhang zu diesem Band.) 25 Die Ausstrahlung Quevedos auf das 18. Jahrhundert wird nicht allein durch die Sueños morales, visiones y visitas por Madrid von Torres Villarroel belegt, sondern durch zahlreiche weitere Imitationsversuche, wie etwa Francisco Santos' El no importa de España, loco político y mudo pre-

Goyas 'Illuminatio' 25 Verfechter der antiklassizistischen Barockästhetik. Das gestische Vorbild des letzteren dominiert allerdings in dieser Doppelfigur - eine semiotische Präferenz, die Goya durch die ausdrückliche Einschreibung seines ganzen Radierungsprojekts von 1797 in die Sueños Quevedos noch unterstreicht. Damit aber ist die Herkunft des Autor-Porträts in Sueños 7° noch nicht hinreichend geklärt. Beide in dieser Zeichnung erinnerten Porträts pflegt die kunsthistorische Forschung ein und demselben ikonographischen Typus zuzuschreiben, den sie in der Renaissance mit Dürers berühmter Melancolía I - Allegorie beginnen läßt und in so unterschiedlichen Werken wie Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621), Salvator Rosas Sogno di Ennea, dem Alfabeto in Sogno des Bolognesers G.A. Mitelli (1683) und den beiden Titelkupfern der Rousseau-Ausgabe von 1793 wiederfindet, die den Verfasser der Philosophie in zwei repräsentativen Momenten seiner schöpferischen Vehemenz vorstellen.29 Diese Klassifizierung ist zweifellos hilfreich, was den Typus des "Traum-Autors" selbst im Spektrum der traditionellen humoralpathologischen Theorie von den vier Charakteren angeht, die den schöpferischen Menschen, Künstler und Dichter, dem melancholischen Temperament zuordnet. Indem sie aber ausschließlich auf der charakterologischen Disposition des Autors, seiner genetischen Veranlagung, insistiert, vernachlässigt sie zwangsläufig die eventuell im Zeichensystem des Melancholiker-Porträts ebenfalls figurierte Qualität des von diesem Traum-Autor Hervorgebrachten: das Objekt seiner ästhetischen Erfahrung. Das poetische bzw. künstlerische Oeuvre verfährt gewöhnlich umgekehrt, da es als Bühne der ästhetischen Erfahrung des Autors, der Ergebnisse seiner Arbeit an den Symbolsystemen der Vergangenheit wie auch seiner Auseinandersetzung mit der Imagination seiner Zeitgenossen, auf die Inszenierung der genetischen Disposition desselben nur wenig Raum verwendet: siehe Dantes Passage durch die 'selva oscura'. Es zeigt sich indes, daß Goyas Sueño Io an beiden Repräsentationssystemen gleichermaßen Anteil hat: seine Ikonographie erlaubt dem Betrachter die humoraltheoretische Zuordnung des Selbstporträts zum Typus des Melancholikers und weist doch zugleich ein konventionelles Zeichen für die ästhetische Genesisformel des in diesem "Traum" hervorgebrachten künstlerischen Werks auf.27 Diesen Hinweis zu entziffern, bedarf es

gonero (Madrid 1787). Diese bei den Aufklärern sehr beliebten literarischen Traumreisen hatten jedoch die metaphysische Radikalität ihres Vorbildes aus dem Barockzeitalter zugunsten moralisierender Satire aufgegeben. Vgl. E. Helman, Trasmundo, a.a.O., S. 164-169. 26

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Siehe insbesondere: F. Nordström, a.a.O., S. 116-132. - H. Hohl, "Guiseppe Maria Mitellis Alfabeto in Sogno und Goyas Sueño de ta tazón", in: Museum und Kunst, 1970, S. 109ff. - E.A. Sayre, 77ie Changing Image, a.a.O., Kommentar zu Abb. 71. - Diese Klassifikationsversuche gehen auf die fundamentale Forschungsleistung von R. Klibansky, E. Panofsky, F. Saxl, Saturn und Melancholie (1964), Frankfurt/M. 1990, zur Antike und Renaissance zurück, besonders auf Teil III, wo die Entstehung des modernen Geniebegriffs verhandelt wird (S. 319ff.). Daß es sich um zwei verschiedene Konzepte handelt, die zu einer solchen Produktionsfigur verwoben werden, hat A. Chastel am sehr ähnlichen ikonographischen Typus der "Versuchung des

André Stoll allerdings eines Umwegs über die mitunter überraschenden Stationen seiner ikonographischen Aszendenzlinie.

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Paradoxerweise mutet das in Sueño Io wiederkehrende Porträt des respektlosesten Traum-Höllenwanderers der spanischen Literatur, Quevedo, wie die Kopie eines religiösen Werks an: des (um 1662-65 entstandenen) Gemäldes El sueño del patricio28 ("Der Traum des Patriziers") von Murillo, das Goya in einer Lünette der Kirche Santa María de la Blanca in Sevilla, einer ehemaligen Synagoge, gesehen haben dürfte.29 Auf diesem Wandgemälde wird, wie in zahlreichen anderen themenverwandten Werken der religiösen Kunst (etwa der Bologneser Schule), zusätzlich zur Figur des heiligen Visionärs - Eremiten, biblischen Propheten und ähnlicher Ekstatiker, im vorliegenden Fall: eines spätantiken Konvertiten - auch dessen Transgressionserfahrung selbst, also das in seinem "Traum" Produzierte, ins Bild gesetzt. Die durch patristische Autorität verbürgte ikonographische Übersetzung dieser Entgrenzungserfahrung ist stets eine gleißend helle Lichtquelle in der Höhe, die sich bisweilen zu einem kreisrunden Lichtkörper, einer konventionellen Figur der Absolutheit, verdichtet.30 Diesem Lichtkern vorgelagert ist meist eine (dem jeweiligen historischen Symbolkodex entlehnte) figurale Andeutung des Meditationsanlasses oder -gegenständes, der zu jener 'j//«minaft'o'-Erfahrung geführt hat: in Murillos Sueño del patricio ist dies, ebenso wie mehr als 150 Jahre zuvor in der Vision des hl. Johannes auf Patmos von Hieronymus Bosch31 (Gemäldegalerie Dahlem, Berlin), das Bild der Jungfrau Maria vor der Sonnenscheibe. Bisweilen zeigt aber auch, radikaler noch, eine völlig figurlose Helle die ekstasis des visionären TraumSubjekts an: so etwa in Riberas Traum Jakob von 1639 (Prado-Museum, Madrid) oder Goyas eigenem Jugendwerk El Sueño de San José (Museo Provincial, Zaragoza). Als semiotisches Konzept von höchster Präzision notiert jener Lichtkörper, am konsequentesten der figurlose, die 'ekstasis' als Suspendierung aller Bildhaftigkeit und Diskursivität im äußersten Stadium der poetischen Meditation: als jenes Schweigen, das, am epistemologischen Gegenpol jeglicher Bedeutungsleere, durch sein sprachliches/figurales Unvermögen die extremste Erfahrungsdichte am Kulminationspunkt - soweit es hier überhaupt statthaft ist, von einem heiligen Antonius" aufgezeigt: "La Tentation de Saint Antoine ou le Songe du mélancolique", in: Gazette des Beaux-Arts, 1936, S. 218-229. 28

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S. Abbildung Nr. 22 im Anhang zu diesem Band. Motivliche und historische Einordnung im Ausstellungskatalog des Prado-Museums und der Royal Academy of Arts: Bartolomé Esteban Murillo, 1617-1682, Madrid 1982/London 1983, Abb. 36 und S. 176-7. Vgl. die kompetenten Ausführungen zu der als Kugel modellierten Lichterscheinung in der Auferstehungs-Tafel des Isenheimer Altars von D. Harth: "Memoria eschatologies. Versuch über Matthias Grünewalds Isenheimer Altar", in: A. Assmann, D. Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M. 1991, S. 253-259. S. Abbildung Nr. 23 im Anhang zu diesem Band.

Goyas 'Illuminatio'

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Punkt zu reden: das Gegenteil wäre gerade gut genug - des 'iter extaticum' paradoxerweise zum Ausdruck bringt.32 An dieser Transgressionsfigur der religiösen Kunst und Poiesis, die den genetischen Augenblick des ästhetisch Anderen und poetisch Neuen anzeigt, hat Goyas Sueño Io ebenso eminenten Anteil wie an der Melancholie-Figur des Traum-Produzenten, unter die sie leichtsinnigerweise gewöhnlich subsumiert wird: im Medium jenes großflächigen Lichtkreis-Segments, das daher den Durchgang des Künstlers durch das äußerste Stadium des mit der 'selva/noche oscura' eingeleiteten 'itinerarium extaticum' erinnert. Nicht von ungefähr entspricht also die in ihr festgehaltene ästhetische Transgressionserfahrung konzeptuell - mehr noch als die gestische Disposition ihres Selbstporträts figural jener enigmatischen Gestalt auf dem Gemälde Das Schweigen, das Füssli in genau denselben Jahren (um 1799-1801) schuf.33 Die aktuelle Funktion der einzelnen Komponenten tritt jedoch erst im Rekurs auf die entsprechenden Symbolcodices der Vergangenheit zufolge. Aus der Vielzahl der in der Renaissance- und Barockära aufzufindenden Werke sticht ein Gemälde hervor, das frappierender als alle anderen sowohl die konfliktive Konditioniertheit des visionären Subjekts als auch den besonderen Fragmentcharakter des signifikativen Lichtkreis-Segments mit Goyas Zeichnung gemein hat: Tintorettos Preghiera nell'orto34 ("Das Gebet im Garten Gehtsemane"), das der junge Künstler auf seiner Italien-Studienreise in der Scuola di San Rocco zu Venedig gesehen haben dürfte. Die semiotische Architektur dieser dramatischen Bildkomposition35 und ihre figúrale Ausgestaltung halten in der Tat den Schlüssel zum Verständnis des hermetischen Sueño 1° bereit, insofern Goyas Abweichungen von diesem Spätrenaissance-Modell die Anzeichen eines systematischen aggiornamento an die eigene historische Erfahrung, die Imaginations- und Repräsentationssysteme der Gegenwart, sind. 32

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Vgl. B. Teubers exakte poetologische Einkreisung der "allegorischen Nichtung", a.a.O., S. 12-14. - Vgl. auch Vf. zum Transgressionsprozeß in der mystischen Poiesis: "Poetische Rückeroberung der irdischen Paradiese des Ichs. Elemente einer (weiblichen) Liebestheorie", Nachwort zu Teresa von Avila: Von der Liebe Gottes (Conceptos del Amor de Dios), hg. v. A. Stoll, Frankfurt/M. 1984, S. 86-176, bes. 130-2, sowie ders. zum 'eclaif-Konzept der Surrealisten: "Beatrice im Versteck. Zu Bretons surrealistischer Revolution: Nadjä', in: Merkur 426 (Juni 1984), S. 38091. S. Ausstellungskatalog der Hamburger Kunsthalle: Johann Heinrich Füssli. 1741-1825, München 1974, Abb. 101, S. 164. - Aufgrund rein ikonographischer Korrespondenzen bringt M. Warnke Füsslis Schweigen mit dem Gestus des Autors in Goyas Radierung zusammen ("Goyas Gesten", in: W. Hofmann, E. Helman, M. Warnke, a.a.O., S. 219), sieht in dieser Gestalt jedoch wohl fälschlicherweise eine "Symbolfigur totaler Abkapselung der Verzweiflung" (in: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen, a.a.O., S. 448). S. Abbildung Nr. 26 im Anhang zu diesem Band. E. von der Bercken und A.L. Mayer sehen die "kühne Neuerung" dieses Gemäldes u.a. darin, daß "Christus nicht betend und wachend dargestellt ist, sondern, unbekümmert um die Überlieferung und Darstellungsgewohnheit, träumend". (Jacopo Tintoretto, München 1923, Bd. I, S. 209).

André Stoll Wenn aus dem Lichtkreis-Segment in Sueño Io kein Engel mehr hervortritt, um dem visionären Subjekt entgegenzustreben, dann offenbart dies nur eine notwendige Korrektur im Sinne jener 'feliz imitación' des sublimen Modells, die das Anuncio vom 6. Februar 1799 zum Wesen der künstlerischen 'invención' selbst erklärt.38 Dem profanen Gegenstand des neuartigen "Traum-Produkts" wäre eine solche in der religiösen Ikonographie beheimatete Vermittlungsinstanz ebenso wenig angemessen wie die Christus-Gestalt des Renaissance-Gemäldes, weshalb auch diese konsequent einer "modernen" Kombinationsfigur aus Aufklärer (Jovellanos) und barockem Sueños-Autor (Quevedo) weichen mußte. 28

Die andere Aufklärung: eine Diskursfigur Zeitgenössischem, "modernem" Imaginations- und Repräsentationsfundus entstammt ebenfalls der Figurenbestand der von der Lichtsphäre kategorisch abgetrennten dunklen Zone mit dem Nachtgetier. Obwohl deren Hauptakteure Fledermaus und Luchs unterschiedslos dem traditionellen ikonographischen Melancholie-Repertoire zugerechnet werden, gilt es doch, ihre semantischen Referenzörter streng zu unterscheiden. Gegenüber der ersten Zeichnung ist die Fledermaus durch die sich nunmehr aufdrängende Assoziation mit einem Esel zu noch monströserer Negativität gesteigert worden, als diese ihr seitens der herkömmlichen Emblematik zukommt. Schwerlich aber dürfte der Luchs, der nunmehr wie ein zutrauliches Haustier in der Nähe des Traumproduzenten den Betrachter wachsam, doch friedvoll anschaut, mit der gleichen monströsen Ambiguität ausgestattet sein. Vielmehr versinnbildlicht er im Gegenteil innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses der Moderne seit dem frühen 17. Jahrhundert die Perzeptions- und Analyseschärfe dieser Wissenschaft selbst, die fähig ist, das Dunkel der Vorurteile und Zwangssysteme zu durchdringen.37 Nicht von ungefähr haben sich die Gründungsmitglieder der Academia dei Lincei nach ihm - und nicht etwa nach der Fledermaus oder auch (griechisch-antikem Beispiel folgend) nach der Eule - benannt, ebenso wie Quevedos Prosaschrift Lince de Italia y zahori español (1628) nicht etwa eine Vernebelung, sondern umgekehrt eine spionageartige Enthüllung der politischen Konstellation im damaligen Italien betrieb. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beibringen, die immer wieder das gleiche Ergebnis zeitigten: Die Goyas dunklen Traum-Erfahrungsraum bevölkernden emblematischen Tiere sind semantisch einander konträr und gehören doch ein und demselben diskursiven Register an, dem der zeitgenössischen Aufklärung, wobei die relative Nähe des Luchses zu dem visionären Subjekt selbst besonders ins Auge fällt. 36

"... y de esta ingeniosa convinación, ingeniosamente dispuesta, resulta aquella feliz imitación, por la cual adquiere un buen artefice el titulo de inventor y no de copiante servil". (Diario de Madrid, e.c., S. 150).

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S.G. Levitine, "Some Emblematic Sources...", a.a.O., S. 119-121.

Goyas 'Illuminatio' 29 Gerade auch aufgrund dieser internen Opposition weist das den Aufklärungsdiskurs repräsentierende dunkle Erfahrungsfeld aber eine erstaunliche strukturelle und semiotische Verwandtschaft mit der - ebenfalls antagonistisch besetzten - Nachtsphäre in Tintorettos Preghiera nell'orto auf. Dort nämlich kauert im unteren Vordergrund die Schar der eingeschlafenen Jünger, die analog zu dem Luchs - dem visionären Subjekt Jesus zwar nahestehen, aber doch kategorial von ihm getrennt sind, was darauf verweist, daß sie nicht dieselbe (Agonie- bzw. Ekstase-) Erfahrung durchleben; im hinteren Bildfeld tauchen, Nachtgespenstern gleich (analog zur Fledermaus), die vermummten Häscher um Judas auf, gesichtslose Wesen von todbringender Bedrohung. Wie bei Tintoretto, so ist ebenfalls bei Goya die mit positiven und negativen Diskursfiguren besetzte Nachtzone weiterhin nicht nur von dem IlluminationsKreissegment abgetrennt, sondern ihm in der Architektur des Ganzen untergeordnet, was gemäß den seit der Renaissance geltenden Perspektivgesetzen ihre niedere Werthaftigkeit im hierarchischen Gefüge der Gesamtkomposition anzeigt. Wir haben es daher im Falle der Goyaschen Zeichnung mit zwei heterogenen und antagonistisch einander zugeordneten Sinnsphären zu tun: Dem Aufklärungsdiskurs ist die in der Illuminationsfigur vorgestellte extreme ästhetische Erfahrung des Künstlers in dem gleichen unendlichen Maße überlegen, wie das die 'ekstasis' notierende Schweigen in der mystischen Poiesis jegliche Diskursivität transzendiert. Das Licht des Kreissegments ist also auf keinen Fall mit der vom Aufklärungsdiskurs selbst beanspruchten Lichtfigur zu verwechseln. Das, was Goyas Sueño Io an ästhetischer Erfahrungsfülle erinnert, wird weder mit dem epistemologischen noch mit dem Instrumentarium des Aufklärungsdiskurses je zu fassen sein. Inschriften Auf welche dieser beiden so verschiedenen semiotischen Aktionsfelder aber bezieht sich dann die Inschrift 'Ydioma universal', die Goya selbst, gleichsam wie einen mikrokosmischen Spiegel seiner gesamten Bildaussage, der Aquatinta auf der vor dem Arbeitstisch aufgestellten Druckplatte eingraviert und folglich mit einer Bedeutung ausstattet, die sie von derjenigen der drei Figuralzonen der Zeichnung - Traum-Subjekt, Illuminationssegment, Aufklärungsdiskurs - gleichermaßen abhebt? Unmißverständlich belegt der Künstler mit diesem Schlüsselbegriff den ästhetischen Gegenstand seines Sueño Ia - Zeichensystems, implizit auch denjenigen sämtlicher daraus abgeleiteten Sueños: "Ydioma universal, Dibujado y Grabado p.' F 00 de Goya año 1797'. Angesichts der oben aufgedeckten Hierarchie der signifikanten semiotischen Zonen der Zeichnung - die offensichtlich als Vorlage für eine Radierung intendiert war dürfte damit wohl schwerlich die von den zeitgenössischen pädagogischen Reformern propagierte Gebärdensprache gemeint sein, wie es für die GoyaForschung aufgrund gewisser Analogien zwischen dem Gestenrepertoire der Caprichos und dem charakterologischen Fundus eines Lavater (Physiogno-

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André Stoll

mische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, 4 Bde., 1775-78) oder der Gestensprache der Taubstummen außer Zweifel zu stehen scheint.38 Auch dürfte die von Jovellanos erhoffte transnationale und harmoniestiftende Gemeinsprache den ästhetischen Gegenstand der Zeichnung Sueño Ia nicht mehr zu bezeichnen imstande sein als etwa das partikulare, nationale Diskurssystem der auf 'clarté' und 'raison' mythisch gegründeten französischen Sprache, das Rivarol 1784 vor der Berliner Akademie zum universellen erhob (Universalité de la langue française), da beide Sprachprojekte aus dem Geschichtsoptimismus des Aufklärungsdiskurses hervorgegangen sind, letzterer aber im semiotischen Gefüge der Zeichnung dem genetischen Ort der Illuminationserfahrung des Künstlers kategorial äußerlich ist. Universalität kann folglich allein die "Sprache" der Illumination selbst beanspruchen: diese aber artikuliert sich am adäquatesten in der Suspendierung jeglichen über Dichotomien fortschreitenden Diskurses, im Schweigen also oder dessen figuralen Derivaten, den diskurssprengenden "Unmöglichkeiten" - eben: den "Monstern" -, die sich ingeniöser Kombinatorik, 'agudeza', verdanken. Wenn überhaupt ein Vergleich zu diesen "unmöglichen" Artikulationen des Schweigens statthaft ist, dann kann dies nur die Fiktion jener adamitischen Ursprache sein, die kryptologische und mathematischkombinatorische Philosophie seit der frühen Renaissance, von Ramón Llull über Nikolaus von Kues, Giordano Bruno und Athanasius Kircher bis hinauf zum zeitgenössischen Herder aus den nachbabylonischen Sprachtrümmern zu rekonstruieren bestrebt ist.39 Aus dieser Einsicht ergibt sich zwingend eine völlig veränderte - und gewiß machem Interpreten mißfallende - Perspektive auf das Verhältnis des Künstlers zu seinem Publikum. Es zeigt sich nämlich, daß Goya alle diejenigen unter seinem (zeitgenössischen und imaginären) Publikum systematisch über den ästhetischen Grund seines programmatischen Sueño 10 und sämtlicher aus ihm abgeleiteten ingeniösen Figurenkombinationen - der späteren Caprichos - zu täuschen versteht, die sich blindlings dem modischen Fortschrittsgerede ihrer Zeit anheimgeben und (lichtvolle) Erkenntnis nur im Rahmen wissenschaftlicher, "vernünftiger" Diskurssysteme zuzulassen bereit sind. Das wahre Objekt seines 'idioma universal' behält er den happy few der in die hermetische Zeichensprache der Kunst und Poiesis selber Eingeweihten vor. Dieses Spiel mit der semantischen Hintergründigkeit seines Mottos treibt Goya auf die Spitze, wenn er den schillernden Zeichen seiner Komposition Sueño 1° 38

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Stellvertretend für viele: M . Warnke, "Goyas Gesten", a.a.O., S. 122. J. H e l d vermutet die "Universalsprache" in dem modernen Massenmedium Radierung (Goya, a.a.O., S. 70-71).

Siehe die fundamentale Untersuchung von Paolo Rossi, Clavis universalis. Arti mnemoniche

e

logjca combinatoria da Lullo a Leibniz, Milano-Napoli 1960. Vgl. R. Fräser, The Language of Adam. On the Limits and Systems of Discourse, New York (Columbia University Press) 1977. G.F. Strasser, Lingua Universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1988.

Goyas 'Illuminatio' 31 durch einen handschriftlichen Kommentar zur Eindeutigkeit eines didaktischen Programms zu verhelfen vorgibt. Holzschnittartiger geht's in der Tat nimmer: "El autor soñando. Su yntento sólo es desterrar bulgaridades y perpetuar con esta obra de caprichos el testimonio sólido de la verdad." Selbst demjenigen, der seine Bildung nur aus der mündlichen Kommunikation bezog, dürfte diese Erklärung nicht fremd geklungen haben, bildet doch ihr erstes Glied ein fast wörtliches Zitat aus dem populärsten enzyklopädischen Werk der spanischen Aufklärimg, dem neunbändigen Teatro crítico universal des Padre Feijóo - einem "Theater" im Sinne der Commedia Dantes als "Spektakel der gesellschaftlichen Phänomene" -, das von 1726 bis 1740 erstmals erschien und zahlreiche Neuauflagen erlebte. Dort verkündet der Autor im 2. Diskurs (Valor de la nobleza e influjo de la sangre) des 4. Bandes: "Mi intento sólo es desterrar un error vulgar que hay en esta materia y que fomenta mucho su fantasia a la gente de calidad".40 Auch mit seinem Untertitel, Discursos varios de todo género de materias, para desengaño de errores comunes, der bezeichnenderweise direkt an Quevedos konzeptistischer Traum-Höllenwanderung - Sueños y discursos de verdades descubridoras de abusos, vicios y engaños de todos los oficios y estados41 - anknüpft, weist Feijóos Teatro auf Goyas schriftlichen Kommentar voraus. Angesichts des außerordentlichen Verkaufserfolgs dieses aufklärerischmoralistischen Kompendiums Hegt die Vermutung nahe, daß mehr als sechs Jahrzehnte nach dessen Erstveröffentlichung die genannte Absichtserklärung Feijóos sich längst zum griffigen Stereotyp verfestigt hatte und in der Ära Godoys mechanisch jeder zensur- und inquisitionsbedrohten öffentlichen Äußerung wie eine Schutzbehauptung vorausgeschickt zu werden pflegte. Dieses Zitat dürfte also durchaus zu den beliebtesten Merkörtern der zeitgenössischen bêtise (im Flaubertschen Sinne) gehört haben. Wenn daher Goya diese plakative Legitimationsfloskel aller kritisch Gesonnenen, im Verein mit dem denkbar banalsten Bildkommentar: El autor soñando - "Der Autor beim Träumen", so als würde dies nicht selbst der Dümmste begreifen! -, zur einzigen von ihm selbst autorisierten Lektüreanweisung erhebt, dann kann man nicht umhin, hier eine raffiniert kaschierte Irreführungsstrategie am Werke zu sehen, die an listiger Souveränität der Verachtimg des Renaissance- und Barockautors für den 'vulgo' in nichts nachsteht. Drastischer könnte der Kontrast zwischen verschlüsseltem Bildgehalt und explizitem Text zu seiner Erläuterung nicht ausfallen. Somit erweist sich Sueño Io als ein grandioses Manifest des künstlerischen Ingeniums, das vom illuminierten Höhepunkt des 'itinerarium extaticum' bis zur listig-hypokriten Publikumsadresse alle signifikanten Stadien der ästhetischen und medialen Genese des neuen Kunstwerks umfaßt. 40 41

BJ. Feijóo, Teatro crítico universal o Discursos varios de todo género de materias, para desengaño de errores comunes, hg. v. G. Stiffoni, Madrid 1986, S. 278. Titel der Erstausgabe Barcelona 1627, zit. nach der Sueüo-Ausgabe von J.A. Alvarez Vázquez, Madrid 1983, S. 41.

André Stall

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Capricho 43: Die Monster und die Vernunft des Publikums Unter dem Schein motivlicher und formaler Kontinuität verbirgt die Radierung mit Aquatinta, die Goya dann unter der Nummer 43 seinem Caprichos-Album vom Frühjahr 1799 eingliedert (Gassier/Wilson Nr. 536), eine Differenz zu jenem Manifest, die radikaler nicht sein kann. Systematisch sind hier die Spuren des Illuminations-Segments verwischt. Dieses ist einem grau eingeebneten Hintergrund gewichen; nur noch die Verlaufsspuren seines Randes erinnern - unerkannt - an das sublime Konzept in Sueño Ia. Kaum merklich hat sich auch die Qualität der nächtlichen Szene verändert. Zu den emblematischen Diskursfiguren Luchs und Fledermaus hat sich außer einer schwarzen Katze jene groteske Spezies von Eulen mit menschlichen Gesichtern und Gebärden gesellt - ein Uhu beispielsweise, der dem Schlafenden provokativ einen Pinsel reicht -, die weder, wie die Katze, im Bilderhaushalt des zeitgenössischen Obskurantismus, noch in der aufklärerischen Moralistik und Satire beheimatet ist, sondern allein der kombinatorischen Phantasie Goyas entspringt: es sind dies "Monster" von der Art, wie sie über die Bühne der meisten Caprichos42 defilieren. Nicht von ungefähr wird also die Radierung allen übrigen der Serie gleichgestellt. Das Motto, das sich auf der Druckplatte im Innern des Bildfeldes dem 'Ydioma universal' der Zeichnimg substituiert, 'El sueño de la razón produce monstruos', erweckt umso verführerischer den Anschein, die Produktionsformel für die vorliegende Radierung und alle weiteren der Caprichos-Señe bereitzuhalten, als seine signifikanten Artikulationen offenbar die figuralen Träger der semiotischen Architektur des Ganzen direkt bezeichnen: den Traum als Produktionsstätte, die Repräsentation der Vernunft im Jovellanos-ähnlichen Selbstporträt, die monströsen Zwitterwesen. Da indes die eigentliche genetische Formel aus Sueño Io, die Auskunft über das tatsächliche Verhältnis dieser einzelnen Instanzen zueinander geben könnte, hier nicht mehr wiederzufinden ist, vermag der Betrachter/Leser den raffinierten Syllogismus nicht zu durchschauen, der dieses berühmte Motto in Wirklichkeit konstituiert und gewiß zu einem der grandiosesten Täuschungsmanöver in der Geschichte der Begegnimg der Kunst mit dem Medienmarkt der Moderne macht. Deutet man nämlich 'sueño' als "Schlaf' und 'razón' als "aufklärerische Vernunft", so trifft man auf einen der am Ende des 18. Jahrhunderts mittlerweile abgedroschenen Gemeinplätze des reformerisch-moralistischen Selbstverständnisses, dessen Unterstellung eines platten Antagonismus von 'ratio' und 'oscuritas' für den pädagogischen Diskurs dieser Zeit - eher als für die Argumentationsweise der 'ilustrados' selbst - repräsentativ sein dürfte. Andererseits zwingt die Lesart 'sueño' gleich "Traum" den Interpreten zu einer grundfalschen Zuordnung der semiotischen Instanzen, 42

Zu dem Genre Capricho ist viel Material zusammengetragen worden (s. Lucrecia Hartmann, Capricho. Bild und Begriff, Zürich 1973); eine Relationierung dieses Etiketts zu den Publikumsstrategien Goyas steht allerdings noch aus.

Goyas 'Illuminatio' 33 da ja die "Monster", um die es hier und in der Galerie der Caprichos geht, nach Auskunft des ästhetischen Manifests Sueño Ia in keinem wie auch immer gearteten Kausalverhältnis von der aufklärerischen Vernunft abhängen. Wie um die Aussagekraft des in seiner Absurdität wahrhaft "monströsen" Mottos noch durch ein Autoritätszeugnis zu steigern, unterlegt Goya seine graphische Bild-Text-Komposition mit einem handschriftlichen Kommentar, der wie ein Zitat aus einem neoklassizistischen Ästhetik-Lehrbuch für AkademieSchüler der elementarsten Stufe daherkommt: "La fantasía abandonada de la razón produce monstruos imposibles: unida con ella es madre de las artes y origen de las maravillas".43 Freilich sind auch die Anklänge an den Aufklärungsdiskurs unüberhörbar, da die implizite Warnung vor einem Überborden der Phantasie an die kategorischen Vorbehalte eines Luzán oder Moratin gegen die 'vanas fantasmas' und 'monstruos diformes' des Barockdichters Góngora erinnern, die als "hijas de una loca y desenfrenada fantasía" (Luzán) ebenso verdammt werden wie die in den zeitgenössischen Bühnenstücken sich austobenden "sueños de enfermos delirantes" (Moratin).44 Nur wer die Hintergründe nicht kennt, kann aus diesem "Lehrsatz" ein ernst gemeintes Bekenntnis zum Kunstprinzip einer durch "vernünftige" bienséancesNormen gemaßregelten Phantasie herauslesen. Der Kommentar, so legt es Sueño 1° nahe, verlangt nach einer dem kollektiven Gemeinsinn zuwiderlaufenden Interpretation: Denn was sind die Caprichos anders als gerade jene "unmöglichen Monster", vor denen hier gewarnt wird, und was bringt ihre "Wunder" hervor, wenn nicht gerade eine Phantasie, die das rationalistische Korsett aufgesprengt hat und direkt auf die Capricci di varié figure, die Scherzi di fantasía eines Callot und Tiepolo und die brillanten dekonstruktivistischen Feuerwerke eines Quevedo zurückverweist! Bei der unter der Maske ihres Gegenteils daherkommenden Verspottung des neoklassizistisch-rationalistischen Dogmas45 und seiner pädagogischen Vulgarisierer läßt der Publikationsstratege Goya es allerdings nicht bewenden. Die andere Revolution: eine Travestie Angesichts dieser listigen Verhüllung des eigenen ästhetischen Produktionsprinzips ist äußerste Vorsicht geboten gegenüber dem Selbstporträt mit Zylinder, mit dem Goya schließlich die Traumproduzenten-Figur der beiden Zeichnungen ersetzt und den zum Verkauf bestimmten Zyklus von 80 Radierungen 43

Prado-Kommentar, zit. nach E. Helman, Trasmundo, a.a.O., S. 221. Im Ayala-Kommentar fehlt der letzte Passus:"... y origen de las maravillas". 44 Zitat von Luzán und aus Moratins erster Satire, Lección poética (1782), bei E. Helman, Trasmundo, a.a.O., S. 167. 45 Lediglich E. Helman erkennt, daß Goyas ästhetische Praxis direkt der Ablehnung des nicht durch die Vernunft gebändigten capricho, wie sie Jovellanos vertritt, zuwiderläuft, seine Affirmation dieser Kunstauffassung also nur eine simulierte ist. (Trasmundo, a.a.O., S. 164).

André Stoll eröffnet. Diesem Substitutionsakt liegt ein höchst aufschlußreicher Paradigmenwechsel zugrunde. Der Künstler übersetzt nämlich die "Illumination", die ihm nach Auskunft des "privaten" Suefio I" am Höhepunkt des 'itinerarium extaticum' zuwuchs und die seine ästhetische Produktivität begründete, in ein öffentliches Repräsentationssystem, wo eine solche Erfahrung nur über ein sozialanthropologisches Konzept von "Souveränität" angedeutet werden kann.

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Dieses leistet der imposante Zylinder, mit dem der Hofmaler Goya hier zum erstenmal ein öffentliches Selbstporträt ausstattet. Mit ihm schafft er ein semiotisches Instrument von sensationeller Originalität. Als signifikantes Zeichen verdankt sich dieser Zylinder der Überlagerung zweier repräsentativer Kopfbedeckungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts: des Quäker-Huts, auch "Franklin-Hut" genannt, der den amerikanischen Befreiungskampf und die Begeisterung des Gesandten der Union in Paris, Benjamin Franklin, für ihn in der Erinnerung wachhält;48 sodann von unmittelbarer Aktualität: jenes vestimentären Signals der Französischen Revolution, das, konkurrierend zur phrygischen Mütze und dem bicorne, den aus ihr hervorgegangenen, emanzipierten 'citoyen' auszeichnet. Wohlgemerkt: im zeitgenössischen Nachbarland, da im bourbonischen Spanien Karls IV. und Godoys der 'citoyen' kein Lebensrecht besitzt. Und selbst dort ist der 'haut-de-forme' keineswegs schon das avantgardistische Kleidungsstück der neuen Generation. Im Unterschied zu den affektierten Modelaunen der jeunesse dorée des Directoire (1795-99), der exzentrischen Incroyables und ihrer lasziven Merveilleuses, spielt er eher die Rolle eines Klassen-Attributs des Tiers-Etat, das dessen revolutionären Impetus erinnert, um erst von 1804 an zu den unverzichtbaren Modeartikeln eines jeden wohlangezogenen Bürgers im napoleonischen Empire aufzurücken.47 Und erst drei Jahrzehnte später wird er, zusammen mit dem nicht minder tristen 'habit noitvon den Karikaturisten (Daumier an der Spitze) zum ausschließlichen, jedoch nunmehr stigmatisierten Herrschaftssymbol des Bürgerkönigs Louis-Philippe erhoben, der durch die Julirevolution von 1830 an die Macht gelangt. Goya präsentiert sich also in einer - der Offizialität der Mode vorauseilenden - Idealität des neuen Souveräns der revolutionären Gesellschaft und schafft damit ein öffentliches Äquivalent zur Privatheit jenes fast frontalen Selbstporträts mit 'bicorne', das er vermutlich wenige Jahre zuvor einer Feder- und Sepia-Zeichnung anvertraute (Gassier/Wilson Nr. 332).48

46

Siehe Ch. Dittrich, Francisco Goya. Die Radierungen im Dresdener Kupferstich-Kabinett, den 1978, S. 84.

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S. Tabelle zum Artikel 'Costume civil im III. Band des Nouveau Larousse Illustré (publié sous la direction de Claude Augé, Ende 19. Jh.). Die Mode schreibt dem Tiers Etat im Revolutionsjahr 1789 einen schwarzen 'bicorne? (dtsch. abweichend: "Dreispitz") vor, während der Incroyable des Directoire (ab 1796) ohne Kopfbedeckung auftritt.

Dres-

Die von Gassier/Wilson, S. 169, angegebene Datierung muß zugunsten des späteren Datums korregiert werden.

Goyas 'Illuminatio' 35 Aus der Differenz zu jenem läßt sich indes die verstärkt subversive Bedeutung dieser Radierung am programmatischen ersten Platz der Caprichos-Serie ableiten. Wesentlich trotziger als dort signalisiert der Gesichtsausdruck hier Distanz: ein skeptisch-lauernder Seitenblick und der verächtlich nach unten gezogene Mundwinkel. Diese Mimik verfälscht der handschriftliche Kommentar mit der gewohnten lapidaren Autorität und Verschlagenheit zum rein privaten Bekenntnis eines verdrießlichen Charakters: "Verdadero retrato suyo, de mal humor, y gesto satírico". Natürlich wäre im Gegenteil dem illuminierten Künstler nichts unangemessener, als die Bühne der Öffentlichkeit in der weinerlichen Pose privaten oder sozusagen berufsbedingten Verdrusses zu betreten.49 Auch würde kein politischer Revolutionär dieser Jahre, kein auf seine Rechte pochender 'citoyen' je seine soeben errungene Souveränität mit einer solchen Miene zum Ausdruck gebracht haben, und selbst auf einer Karikatur könnte der Kontrast zwischen Porträtiertem und vestimentärem Attribut nur lächerlicher, aber keineswegs radikaler ausfallen. Die verächtliche Miene gilt dem Zylinder als dem Symbol des Souveräntitätsanspruchs einer gesellschaftlichen Klasse, da in ihr selbst die Souveränität der illuminatio physiognomisch im Zeichen des Trotzes und des 'desengaño' nachwirkt. Statt der immer wieder unterstellten Erinnerung an die leidvollen Krisenjahre artikuliert sich hier, ex negativo, die künstlerische Souveränität als eine der gesellschaftlichen überlegene, ihr in tiefer Skepsis mißtrauende. Diese listige Travestierung der eigenen künstlerischen und medialen Souveränität durch ihre diskursive Gegenfigur ist Goyas letzter Akt im Vollzug einer Mnemosyne, die mit der 'selva/noche oscura' eingesetzt hatte. Das Schwarz des Zylinders entpuppt sich als irreführende semiotische Maske jener "Nacht" am Beginn des 'itinerarium extaticum', deren Dunkel die unverwechselbare Souveränität des Traumwanderers bereits ankündigte. Denn um die Bühne der neuen Medien-Öffentlichkeit betreten zu können, hält der Künstler es für geboten, die subversiven Werke seiner Illumination unter der Maske jenes anderen, ihr äußerlichen, sozialen Zeichencodes zu verbergen. Warum wohl? Die Rezeption der Caprichos dürfte sich nicht so ohne weiteres gemäß dem bequemen Schema einer Dichotomie von altspanischer Reaktion und francophiler Progressivität vollzogen haben. Dem stehen allzu viele unauflösbare Paradoxien entgegen. Einerseits scheinen die Caprichos, wie es neuere Forschungen vermuten lassen, in einer Dachkammer der französischen Botschaft, unter der Protektion des Missionschefs und ehemaligen Mitglieds der Convention

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Ausnahmslos fällt die gelehrte Kritik auf diesen Satz herein und liest mit E. Helman (Trasmuado, a.a.O., S. 45) aus der Mimik des Selbstporträts ein privates Zeichen der Erinnerung an Depression und Verdruß der Krisenjahre heraus.

36

André Stoll 50

Ferdinand Guillemardet, heimlich gedruckt worden zu sein ; sie fanden sich jedenfalls alsbald im Besitz so illustrer Zeitgenossen wie der Herzogin von Osuna, die allein drei Serien erworben hatte, und des Architekten der Herzogin von Alba. Andererseits aber erkannte der Sekretär der Inquisition in Madrid, Juan Antonio Llórente, in ihnen - offensichtlich im Vertrauen auf ihre Legenden - eine Sequenz von moralischen Satiren auf die Prostitution, den Ehebruch, die Korruption der Kirche und andere Laster der Gegenwart und ließ sie unbehelligt.51 Doch schon zwei Tage nach ihrer Auslieferung verschwanden die 80 "kapriziösen" Blätter ohne jede weitere Erklärung wieder aus dem Parfüm- und Likörladen in der Madrider Calle del Desengaño N° 1, wo Goya sie feilbot - als kaum zu übersehende Huldigung an die Sueños seines poetischen Analogons Quevedo, in dessen Mundo por de dentro (1627) die allegorische Greisengestalt des Desengaño das extreme Produktions- gleich Dekonstruktionsprinzip dieser Traum-Wanderung durch die Hölle des Barockzeitalters verkörperte. Und nur wenige Jahre später, 1803, sah sich Goya veranlaßt, sämtliche Druckplatten mitsamt den 240 nicht verkauften (von insgesamt 300 gedruckten) Mappen seiner Radierungen Karl IV. auszuhändigen, damit er sie der Obhut der Königlichen Kunstakademie San Fernando anvertraute. Ein Staatsbegräbnis also? Erst 1855 erschien eine Zweitauflage dieses wohl berühmtesten öffentlichen Kunstwerks am Beginn unserer "Moderne".52

Verzeichnis der Abbildungen:53 13. Capricho Nr. 57: La filiación, Radierung mit Aquatinta, 1797-8 14. Zeichnung für Capricho 20: Ya van desplumados, rot laviert, Prado (95) (Gassier/Wilson 493) 15. Brujas a volar, Album B.56, Madrid, chines. Tusche laviert, Paris, Privatbes. (Gassier/Wilson 416) 16. Alguacil/Gato, 1797-98, Feder- u. Sepia-Zeichnung, Prado (33) (Gassier/ Wilson 652)

50

Siehe Jeannine Baticle, "Goya y el ámbitu francés al final del Antiguo Régimen", in: Gaya y el espíritu de la Ilustración, a.a.O., S. 71. Nach Sarah Symmons, Goya, a.a.O., S. 14.

52

S. Chr. Dittrich, a.a.O., S. 83-84.

53

Die Abbildungen zu den einzelnen Beiträgen erscheinen fortlaufend numeriert im Anhang zu diesem Band.

Goyas 'Illuminatio' 17a Vorzeichnung I zu Capricho 43, Feder und Sepia; Madrid, Prado

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17b Capricho Nr. 43, "El sueño de la razón produce monstruos", Radierung mit Aquatinta, 1799 18. Selbstporträt, 1795-7, chinesische Tusche, laviert; Metropolitan Museum, New York 19. Sueño 7°, Feder und Sepia-Zeichnung, 1797, Madrid, Prado 20. Gaspar Melchor de Jovellanos, Öl auf Leinwand, 1798; Madrid, Slg. Vizcondesa de Irueste 21. Titelkupfer zu Bd. I der Obras von Francisco de Quevedo y Villegas, Amberes 1699, gegenüber S. 229 22. Bartolomé Esteban Murillo, El sueño del patricio, 1662-5, Madrid, Prado (ursprünglich: Santa María la Blanca, Sevilla) 23. Hieronymus Bosch, Johannes aufPatmos, Gemäldegalerie Dahlem, Berlin 24. José Ribera, El sueño de Jacob, 1639, Madrid, Prado 25. La luz de Justicia, chines. Tusche laviert, Prado (345) (Gassier/Wilson 1353), Album C, n°. 118 26. Jacopo Tintoretto, Preghiera nell'Orto, Scuola di San Rocco, Venedig 27. Capricho Nr. 1, Francisco Goya y Lucientes/Pintor, Radierimg mit Aquatinta, 1799

Dalí malt Lorca 'Poeta en Nueva York' und 'El Público' im Bild Angélica Rieger (Berlin) "¡Siempre la rosa, siempre, norte y sur de nosotros!" (Federico García Lorca, Oda a Salvador Dalí)

Dalí hat in seinen frühen Jahren nicht nur den Freund Lorca gemalt; er hat auch Lorcas sprachliche Bilder gemalt. Jene sprachlichen Bilder, die ihn besonders berührten, die Bilder des "Surrealisten" Lorca, wie er sich etwa in Poeta en Nueva York als Lyriker und in El Público als Dramatiker manifestiert. Die Freundschaft des Malers und des Dichters, die "Dali-Periode" im Werk Lorcas und die "Lorca-Periode" im Werk Dalis sowie die schließliche 'Entfremdimg' der beiden Künstler sind häufiger Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen mit dem Schaffen des einen und des anderen2. Die DaliKritik ist sich auch bewußt, daß Lorcas Bilderwelt den Maler ein Leben lang beschäftigte. Die Vorstellungen von dieser Beschäftigung sind jedoch - von wenigen Ausnahmen abgesehen3 - noch immer recht vage; daher will ich anhand einiger Beispiele aus der Oda a Salvador Dali und aus Poeta en Nueva York aufzeigen, wie präsent die sprachliche Bilderwelt des Lyrikers in vielen Details der Gemälde Dalis ist. Es liegt daher nahe, daß sich der Bühnenbildner Dali darüber hinaus auch mit dem "surrealistischen Dramatiker" Lorca auseinandersetzte, und meine anschließende Gegenüberstellung von Bild und Text wird auch die enge Verbundenheit einiger Bühnenbild-Entwürfe zu einem - wie es scheint - nie realisierten "Romeo und Julia-Ballett" mit dem Dekor von El Público zeigen. I In Dalis erster Schaffensperiode bedeutet "Dali malt Lorca" zunächst einmal einfach nur: Dali malt Lorcas Portrait. Ein erstes Portrait entstand zwar bereits zwei Jahre vor der von Rafael Santos Toroella als "época lorquiana" definierten und zwischen 1926 und 1929 datierten Periode im Werdegang Dalis4, aber die 1

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Federico García Lorca, Canciones - Poemas sueltos - Varía, Madrid 3 1981, S. 188 -192, S. 191. Als Beispiel mag hier die Studie von Antonina Rodrigo, Lorca-Dali. Una amistad Barcelona 1981, genügen.

traicionada,

Sehr genaue Analysen einzelner Elemente finden sich zum Beispiel bei Augustin Sánchez Vidal, Buñuel, Lorca, Dalí: el enigma sin fin, Barcelona 1988, und Rafael Santos Toroella, La miel es más dulce que la sangre. Las épocas lorquiana y freudiana de Salvador Dalí, Barcelona 1984 (zitiert: Salvador Dalí), sowie id., "Frühe Freundschaft in der Studentenresidenz. Lorca - Dali Buñuel", in: Karin von Maur, Salvador Dali 1904-1989, Stuttgart 1989, S. 1-6 (zitiert: "Lorca Dalí - Buñuel"). R Santos Toroella, Salvador Dalí, op. cit., S. 18.

Dalí malt Lorca

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wichtigsten Darstellungen Lorcas sind ohne jeden Zweifel die dreizehn weiteren Lorca-Köpfe in Werken Dalis aus den Jahren 1926-19295. Das bereits erwähnte erste Lorca-Portrait aus dem Jahr 19246 gehört strenggenommen noch nicht in diese Reihe: es ist das "dreifache Bildnis" mit der Bildunterschrift "F.G.Lorca, 1924" auf der rechten Seite und "Para Federico, Salvador Dalí. Madrid Cafe de Oriente" auf der linken - von Dalis Hand dem Abgebildeten gewidmet, signiert, datiert und lokalisiert7. Schon in diesem ersten Portrait zeigt sich jedoch, daß es die Darstellung des toten Lorca ist, die Dali in sein ikonographisches Repertoire aufnimmt: "le representa, premonitoriamente muerto, como en descomposición"8. Dies ist das leicht makabre erste Zeugnis einer Freundschaft, deren Anfänge sich bis in die Jahre 1922-23 zurückverfolgen lassen, als sich auch Dali in der Residencia de Estudiantes in Madrid niederläßt, wo bereits Bunuel (seit 1917) und Lorca (seit 1919) wohnen: "Los años que median entre 1922 y 1925 son, por tanto, el epicentro de las complicidades entre los tres residentes que nos ocupan"9. In diese Zeit fällt auch das wiederholte Schauspiel der Darstellung seines eigenen Todes, das Lorca seinen Freunden zu geben pflegte, wie es Dali in seinen Confesiones inconfesables beschreibt: "Recuerdo su rostro fatal y terrible, cuando, tendido sobre su cama, parodiaba las etapas de su lenta descomposición. La putrefación, en su juego, duraba cinco días" .

Diesen Eindruck, so Rafael Santos Toroella, dürfte Dalí in seiner SchwarzWeiß-Skizze, die so wenig an die Gesichtszüge eines Sechsundzwanzigjährigen erinnert, festgehalten haben: "Gl patetismo que se desprende de las contrastadas manchas de este dibujo puede estar relacionado con la fuerte impresión que el poeta, al remedar su propia muerte, causaba en sus amigos de la Residencia de Estudiantes, de Madrid" .

Der nächste Schritt in diese Richtung wird Dali von seiner Schwester Ana Maria erleichtert: sie ist es, die im April 1925 bei Lorcas erstem Aufenthalt in Cadaqués eine - erst von Ian Gibson wiederentdeckte - Photographie des schla5 6 7

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g

Die Serie ist abgebildet bei R Santos Toroella, ibid., S. 223-228; teilweise auch in Farbe bei Robert Descharnes und Gilles Néret, Salvador Dalí1904-1998, Köln 1990, S. 25-32. S. Abbildung Nr. 28 im Anhang zu diesem Band. Abbildung: K. v. Maur, op. cit., S. XXXIX. Eine weitere Abbildung findet sich bei R Santos Toroella, Salvador Dali, op. cit., S. 104. A. Sánchez Vidal, op. cit., S. 349.

Ibid., S. 47. Sánchez Vidal gibt dort auch eine sehr detaillierte Darstellung der gemeinsamen Jahre der drei Freunde in der Residencia de Estudiantes in Madrid (S. 35-91). Zur genauen Datierung der ersten Begegnung Dalis und Lorcas cf. Ian Gibson, Federico García Lorca (Bd. 1), Barcelona, Buenos Aires, Mexico 1985, S. 369, und R Santos Toroella, "Lorca - Dali - Buftuel", op. cit., S. 2. 10 Salvador Dalí, Confesiones inconfesables, Barcelona 1975, S. 17. 11

R Santos Toroella, Salvador Dali, op. cit, S. 104.

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Angélica Rieger 12

fenden Dichters aufnimmt , in der seine emblematische Darstellung durch Dali in Naturaleza Muerta (Invitación al sueño) (1926) ihren Ausgangspunkt nimmt und die Rafael Santos Toroella so beschreibt: "Dali behielt die Haltung des Kopfes auch auf dem Gemälde bei, gab ihm aber etwas von einer enthaupteten römischen Büste - ein Symbol göttlicher Idealisierung, wie es auch Mantegna in seinem Heiligen Sebastian einsetzte. Der große Kreis, der den Kopf wie ein Heiligenschein umgibt, evoziert ebenfalls den christlichen Märtyrer und geht auf einen kleinen, runden Tisch zurück, den die Dalis auf der Terrasse ihres Hauses an der Playa de Llané in Cadaqués stehen hatten" .

Das wenig bekannte, 100x100cm große Bild aus der Sammlung Albaretto in Turin war - vor der großen Dali-Retrospektive in Stuttgart 1989 - zu Lebzeiten Dalis nur einmal ausgestellt, in Dalis zweiter Einzelausstellung in der Galerie Dalmau in Barcelona Ende Dezember 1926 bis Mitte Januar 192714. Sein eindeutig ironischer Titel, Naturaleza muerta (Invitación al sueño)™, verweist ohne jeden Zweifel auf Lorcas bereits beschriebene spielerische Darstellung des eigenen Todes in der Residencia de Estudiantes zurück: "Como dejo dicho, la anécdota de aquellas autoinvitaciones al sueño, a imagen y como conjuración de la muerte propia, tan trágico-burlescamente mimada por el poeta, debió de quedar grabada de modo indeleble en la imaginación de Dalí, pues tan vividamente seguía recordándola muchos años despues. A ello ha de deberse, repito, que los rostros que de su amigo pintó, o que en diversas composiciones suyas introdujo, en 1926 y 1927, aparezcan casi siempre con los ojos cerrados [...]. Convendrá, por tanto, que fijemos la atención en la serie que los mismos componen y que es la que vertebra muy distintivamente la 'época lorquiana' de Dalí" .

Neben dem stets vom Rumpf getrennten, überschatteten Lorca-Kopf enthält diese Bilderreihe einige weitere, ständig wiederkehrende Motive, so den - hier 12

13

S. Abbildung Nr. 29 im Anhang zu diesem Band. Cf. R. Santos Toroella, "Lorca - Dali - Buñuel", op. cit., S. 3. Reproduktionen der Photographie Ana Maria Dalis befinden sich in K. v. Maur, op. cit, S. 51, und A. Sánchez Vidal, op. cit., S. 85. In diesem Zusammenhang sei auch auf Lorcas Korrespondenz mit Ana Maria zwischen Mai 1925 und Anfang 1926 hingewiesen [cf. Christopher Maurer (Hg.), Federico García Lorca, Epistolario, I, Madrid 1983, S. 111-113,117,121-123,130132 und 140f.; Enrique Beck (Hg.), Federico García Lorca. Briefe an Freunde. Interviews. Erklärungen zu Dichtung und Theater, Frankfurt 1966, S. 51-60] - sowie auf dereg Äußerungen über Lorca (in Ana María Dali, Salvador Dalí visto por su hermana, Barcelona 1983, besonders S. 83f.).

R. Santos Toroella, "Lorca - Dalí - Buñuel", op. cit., S. 5. Es ist hier nicht der Ort, das Thema des Martyriums des heiligen Sebastian und seine Bedeutung für die Beziehung zwischen Dali und Lorca zu vertiefen, daher sei auf Santos Toroellas Studien verwiesen, in denen er sich dieses Problems mit großer Ausführlichkeit widmet: Ibid., S. 5, id., Salvador Dali, op. cit., und "Der heilige Sebastian, ikonographischer Schlüssel zur Freundschaft zwischen Lorca und Dali", Vortrag, gehalten an der Universität Lumière II Lyon im Januar 1988 (Titel zitiert nach R. Santos Toroella, "Lorca - Dalí - Buñuel", op. cit, S. 6, A. 5; nach Auskunft des Autors vom 10.7.1990 ist der Beitrag noch nicht publiziert). 14 R. Santos Toroella, "Lorca - Dalí - Buñuel", op cit, S. 1 und 50f. 15 S. Abbildung Nr. 30 im Anhang zu diesem Band. Abbildung in K. v. Maur, op. cit., S. 51, Kat.Nr. 43, und R. Santos Toroella, Salvador Dali, op. cit, S. 114. 18 Ibid., S. 199f.

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zum ersten Mal in Dalis Werk auftauchenden - Apparat links im Vordergrund der Naturaleza muerta und das Flugzeug in der Bildmitte im Hintergrund17. Man findet sie zum Beispiel auch in der am 30. Juni 1927 im Amic de les Arts erschienenen Federzeichung Federico García Lorca - El poeta en la platja d'Empúries vist per Salvador Dali18 und in den frühen Versionen von La miel es más dulce que la sangre. Die von Dalí links unten mit "Federico en la playa de Ampurias - Salvador Dalí - 1927" signierte und datierte Darstellung fügt den aus der Naturaleza muerta bekannten Motiven das Motiv der abgetrennten Hand hinzu: "En este fino dibujo a línea figuran 'aparatos', una mano en que se remata un brazo a manera de desgajada rama de árbol y otra que empuña una a modo de bengala - en realidad, otra rama, o quizá fragmento de arteria en que medir [...] la intensidad de la pasión, así como una cabeza heroica caída - es la del mismo Lorca -, elementos todos característicos 10 de la 'época lorquiana' de Dalí" .

Vollständig versammelt ist das Motiv-Arsenal aus Dalis Lorca-Epoche schließlich in La miel es más dulce que la sangre, repräsentiert durch Dalis Studie aus dem Jahr 192620: "En la composición están simplificados los elementos que en mayor número, y en ocasiones duplicados, aparecen en el cuadro definitivo. La cabeza solitaria que se ve aquí es la de García Lorca. Después Dalí añadiría la suya propia, que prefigura a la del 'gran masturbador'. Es posible que en principio se propusiera relacionar únicamente con García Lorca el angustioso tema plasmado en ambas obras. Después, por compartirlo, se incluiría él también en la pintura final" .

Symptomatisch für Dalis Loslösung von der mit Lorca verbundenen homoerotischen Symbolik dieses Bildes - dessen Titel Sánchez Vidal als Metapher für die Loslösung Dalis von Lorca und seine Hinwendimg zu Buüuel zum Buchtitel stilisierte - ist ihr völliges Fehlen in der Gala darstellenden Replik unter dem gleichen Titel aus dem Jahr 194922.

K. v. Maur, op. cit, S. 51, verweist wie R. Santos Toroella auf deren Symbolcharakter: "Es sei daran erinnert, daß den Apparaten wie auch dem Fliegen im Flugzeug in der Freudschen Psychoanalyse unzweifelhaft eine Bedeutung im Sinne traumhafter Autoerotik zu kommt" ("Lorca Dali - Buftuel", op. cit, S. 5). 18 S. Abbildung Nr. 31 im Anhang zu diesem Band. 19 R. Santos Toroella, Salvador Dali, op. cit., S. 103. 20 S. Abbildung Nr. 32 im Anhang zu diesem Band. Abbildung und ausführlicher Kommentar sowohl des Titels als auch der Studie bei K. v. Maur, op. cit, S. 57-59, Kat.Nr. 51. Der Verbleib des dem Entwurf in wesentlichen Teilen folgenden Bildes von 1927 ist unbekannt (ibid., S. 58). 21 R. Santos Toroella, Salvador Dali, op. cit, S. 107. 22

S. Abbildung Nr. 33 im Anhang zu diesem Band. Abbildungen bei K. v. Maur, op. cit, S. 285, Kat. Nr. 221, und R. Santos Toroella, Salvador Dali, op. cit, S. 109.

Angelica Rieger

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II

"Dalí malt Lorca" bedeutet in diesen Jahren aber auch, daß sich Dali mehr oder weniger offen an Lorcas Dichtungen - und Zeichnungen - inspiriert23, unter denen sich im übrigen auch ein Retrato de Dali befindet24. Über drei Jahrzehnte später ist es schließlich Dali selbst, der Lorcas Anteil an der Schaffung von La miel es más dulce que la sangre bestätigt, indem er sich 1960 mit dem Bild Cielo hyperxiológico zu einer expliziten Würdigung des Freundes aufschwingt: "Peindre pour la première fois dans l'histoire un ciel hyperxiologique. [...] Je veux dédicacer le tableau achevé à Garcia Lorca, car il m'avait demandé d'en faire un autre semblable Le Miel est plus doux que le Sang ta m'écrivant: 'Mets mon nom dans le tableau, pour que mon nom serve à quelque chose dans le monde'. J'ai décidé, enfin, d'écrire^e nom de Garcia Lorca mêlé à celui de Gala, ce qui donne le nom suivant 'Galcia Larca'" .

Diese Äußerung Dalís bestätigt, wie auch ein noch 1987 diktierter Brief 6 , daß er nie aufgehört hat, sich mit Lorca zu beschäftigen. Darüber hinaus hat er Lorca 1962 in Dali de Gala ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt - in zentraler Position zwischen Lidia zur Linken und Gala zur Rechten wacht Lorca über das Schicksal Dalís in Port Lligat:27 "Les dieux tutélaires de notre maison ont été Lidia qui nous la donna, Lorca qui la chanta et Gala qui, comme Gala-Placidia en se mariant avec le roi Ataülf, réalisa l'unité du lieu"28.

All das berechtigt uns dazu, auch über Dalís eigentliche "época lorquiana" hinaus Reminiszenzen aus dieser Beschäftigung im Werk des Malers zu erwarten. In dieser "época lorquiana" entstand auch Lorcas Oda a Salvador Dali, die im Grunde eine gesonderte Studie verdiente, die aber, so viel wird auch bei einer in diesem Rahmen notwendigerweise oberflächlichen Betrachtung deutüch,

24

Cf. ibid., S. 80f.; Reynolds Morse, Salvador Dali... A Panorama of His Art, Cleveland/Ohio 1974: "It is also significant that Apparatus and Hand and other works of 1927 bear a close relationship to concepts of Federico García Lorca [...]. Details of two of Lorca's drawings, Perspectiva urbana con autorretrato y Columna y casa, for example, are here freely utilized by Dalí. Thus the painter's debt to the poet should never be overlooked".

Farbreproduktion bei Robert Deschames, Ami Guichard, Dalí de Gala, Lausanne, Paris 1962, S. 21; cf. auch R Santos Toroella, Salvador Dalí, op.cit., S. 83 und lOSf. (mit Abbildungen von weiteren Zeichnungen Lorcas), sowie Hans Gebser, Lorca, poète-dessinateur, Paris 1949, S. 24; weitere Reproduktionen von Zeichnungen Lorcas in: id., Lorca oder das Reich der Mütter, Stuttgart 1949 (Bibliographie der veröffentlichten Zeichnungen bis 1949: S. 63f.) sowie in dem von Mario Hernández herausgegebenen Band Libro de los dibujos de Federico García Lorca, Madrid 1990. 25 R Descharnes, A. Guichard, Dali de Gala, op. dt, S. 73 (mit Abbildung). 26 R Santos Toroella, "Lorca - Dali - Buftuel", op. cit., S. 1, zitiert einen Brief an El País vom Januar 1987, "in dem er noch einmal die Leidenschaft der Freundschaft zu Lorca und die Dauerhaftigkeit der Spuren, die sie ließ, beschwor". 27 S. Abbildung Nr. 34 im Anhang zu diesem Band. 28 R Descharnes, A. Guichard, Dali de Gala, op. cit., S. 88f.

Dalí malt Lorca 43 sehr viel mehr als ein Resumé der damaligen Dalischen Ikonographie ist, da sie zweifellos eine ganze Reihe der für Dalis künstlerische Entwicklung entscheidenden Themen und Motive generiert und präfiguriert29. An dieser Stelle sei exemplarisch nur ein einziges dieser Elemente herausgegriffen, das leitmotivisch die ganze Ode durchzieht; sie beginnt mit den Versen "Una rosa en el alto jardín que tú deseas. Una rueda en la pura sintaxis del acero" (1,1-2).

Über die in Dalís Werk so oft präsenten Fischer von Cadaqués schreibt Lorca: "En alta mar les sirve de brújula una rosa" (Vili, 2).

Und die beiden zentralen Strophen nehmen das Motiv wieder auf: "Pero también la rosa del jardín donde vives. ¡Siempre la rosa, siempre, norte y sur de nosotros! Tranquila y concentrada como una estatua ciega, ignorante de esfuerzos soterrados que causa. Rosa pura que limpia de artificios y croquis y nos abre las alas tenues de la sonrisa. (Mariposa clavada que medita su vuelo.) Rosa del equilibrio sin dolores buscados. ¡Siempre la rosa!" (XX-XXI).

Bereits der - im gesamten Text einmalige - formale Bruch in Strophe XXI(5) unterstreicht die Bedeutung, die Lorca dem Motiv beimißt, ohne daß sich Dali jedoch bis zu diesem Zeitpunkt selbst mit seiner künstlerischen Darstellung befaßt hätte. Die Rose als ausdrucksvolles erotisches Symbol und gestaltendes Prinzip wird bei Salvador Dali erst in dem zwischen 1929 und 1932 entstandenen Bild Der unsichtbare Mann30 in Erscheinung treten, und erst 1930 in Las rosas sangranF. Garcia Lorca, Canciones, op. cit., S. 188-92. Elemente, deren Bezug zum Werk Dalis im einzelnen von Bedeutung ist, sind - ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Meer, Boote, Fischer und Nixen - "Tu fantasía llega donde llegan tus manos, /y gozas el soneto del mar en tu ventana", XI, 3-4 - "frente a la mar poblada con barcos y marinas", XXIX, 4 - "Canto la sirenita de la mar que te canta / montada en bicicleta de corales y conchaá1, XXV, 3-4; "[Marineras] decapitan sirenas en los mares de plomo", V, 2 -"sirenas", IX, 3 - "pescadores, VIII, 1 -"caracolas", VII, 2. Architektonische und geometrische Konstruktionen - "Amas la arquitectura que construye en lo ausentof, XVII, 3 - "y los sabios cristales cantan sus geometrías", XIX, 4; "La máquina eterniza sus compases binarios", III, 4; Marmor, Torsi und Statuen - "Ancha luz de Minerva, constructora de andamioá", XTV, 3 - " Venus es una blanca naturaleza muerta?, VI, 3 -"el ansia de estatus/', XXV, 1 - "mármol", II, 3 - "mármoles nuevos", XI, 1. Die Fauna - "El pez en la pecera y el pájaro en la jaula", XVII, 1; "Mariposa clavada que medita su vuelo", XXI, 3 - "mariposas", VI, 5, etc. [Hervorhebungen von mir], 30

Abbildungen: R Descharnes, A. Guichard, Dali de Gala, op. cit., S. 150f. (Skizze und definitive Version); Dali. Biographischer Essay von Max Gérard, Frankfurt/M., Berlin 1969, Nr. 87; K. v. Maur, op. cit., S. 76, und S. 90: "Die Allegorie des Rosen-Leibes [...] in den an eine Wand gelehnten Zwillingsfiguren der Komposition Der unsichtbare Mann [wurde] erst nach 1931 ergänzt" (cf. ibid., A. 4).

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tes3\ 1931 in Gradiva und Andrómeda32, 1932 in Erinnerung der Kind-Frau und 1935 in Frau mit Rosenhaupt33 zur vollen Entfaltung gelangen34. Einer gern propagierten autobiographischen Deutung der Rosas sangrantes - das Bild verarbeite eine Unterleibsoperation Galas im Jahr 1931 - stehen neben chronologischen Divergenzen zwei eindeutige Lorca-Reminiszenzen entgegen: Zum einen nimmt die dargestellte Frauengestalt darin die Haltung des in der Beziehung zwischen Lorca und Dali so bedeutungsvollen Heiligen Sebastian von Andrea Mantegna ein35. Und zum anderen, ein bisher unbeachtetes Detail, fällt eindeutig der Schatten Lorcas, wie er aus der Naturaleza muerta vertraut ist - und auch in Allegorie einer amerikanischen Weihnacht wiederkehren wird -, auf die Terrasse über dem Meer im Hintergrund. Bei der Herstellung solcher Querverbindungen zwischen Bild und Text ist die Entscheidung stets problematisch, wo die genauen Grenzen zwischen direkten Übernahmen und Gemeinsamkeiten verlaufen, die einfach dem "Requisitenfundus" einer Epoche und Kunstrichtung entspringen, die sich in Malerei und Literatur besonders zwischen zeitgenössischen und befreundeten Künstlern parallel entwickeln - Lorca selbst hat in seiner Oda a Salvador Dali darauf hingewiesen: "Pero ante todo canto un común pensamiento que nos une en las horas oscuras y doradas. Ño es el Arte la luz que nos ciega los ojos. Es primero el amor, la amistad o la esgrima" (XXVI).

Aber auch wenn man dem von Lorca beschworenen "común pensamiento" ebenso Rechnung trägt wie dem "narrativen Charakter" von Dalis Malerei38, gehen dessen Anleihen aus Lorcas Bilderwelt nicht nur im Fall des Rosen-Motivs, sondern auch beim Poeta en Nueva York weit über generelle ikonographische Gemeinsamkeiten hinaus. Was die Einflüsse aus Lorcas anläßlich seiner Amerika-Reise 1929 entstandenen Gedichtsammlung auf Dalis Kunst insgesamt betrifft, sind sie viel zu komplex, als daß sie hier in allen Einzelheiten diskutiert werden könnten. Ich werde mich daher auch in diesem Fall auf zwei exemplari31

Ibid., S. 90f., Kat.Nr. 71. S. Abbildung Nr. 35 im Anhang zu diesem Band. Cf. dazu auch R. Santos Toroella, "Las rosas sangrantes y la imposible descendencia de Dalí", Journal ABC, 26. November 1987, S. 143.

32

Abbildungen: K v. Maur, op. cit., S. 90 und 92, Kat.Nr. 72.

33

Ibid., S. 114f. und 154f.

34

35

Das Rosenmotiv ist auch in Portrait de la vicomtesse de Noailles (1932) und in Montres Molles (1933) gestaltet, cf. R. Descharnes, A. Guichard, Dalí de Gala, op. cit., S. 158 und 161, sowie, für Montres molles, K. v. Maur, op. cit., S. 145. Für eine kritische Würdigung der These insgesamt und eine Reproduktion des Mantegna-Gemäldes aus dem Jahr 1459 cf. ibid., S. 90; zur Rolle des heiligen Sebastian cf. die bereits A. 13 zitierten Studien von R Santos Toroella. Cf. R. Santos Toroella - vereinfachend - in "Lorca - Dali - Buftuel", op. cit., S. 3: "Dalis Malerei war stets narrativ, daher auch seine Nähe zur Literatur".

Dalí malt Lorca

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sehe Analysen beschränken, die Dali in jener Umgebung schuf, aus der auch Lorcas Texte hervorgingen: Geburt einer neuen Welt (1942) und Allegorie einer amerikanischen Weihnacht (1943). An der Schwelle zu Dalis erneuter Hinwendung zur Bilderwelt Lorcas steht ein letztes Lorca-Portrait aus dem Jahr 1938, Afgano invisible con aparición sobre la playa del rostro de García Lorca en forma de frutero con tres higos. Diese erneute Hinwendung scheint mit Lorcas Tod 1936 gekoppelt zu sein und hängt, so Augustin Sánchez Vidal, mit Dalís Narciso-Sonett von 1925 zusammen: "La muerte de Lorca parece provocar en la pintura de Dalí un resurgir de la iconografía del poeta, cuya primera manifestación tiene lugar en junio de 1937 con la publicación de su poema J^a metamorfosis de Narciso, de igual título que un cuadro que pinta por las mismas fechas" .

Sánchez Vidal ist es auch, der auf die Bilderreihe aus den Jahren 1938-39 aufmerksam macht, in der Dali Lorca erneut ein Denkmal setzt: sie reicht von El simulacro transparente de la falsa imagen über Afgano invisible con aparición sobre la playa del rostro de García Lorca en forma de frutero con tres higos und Aparición de un rostro y un putero en una playa bis zum Enigma sin fin36, das Sánchez Vidal in seiner Chronik der Jugendjahre Buñuels, Lorcas und Dalis zum programmatischen Buchtitel erhob. In dieser Reihe ist die Erscheinung von Garcia Lorcas Gesicht in Form einer Obstschale in Afgano invisible con aparición sobre la playa del rostro de García Lorca en forma de frutero con tres higos39 von besonderem Interesse: es handelt sich explizit um eine "aparición", die Erscheinung eines Toten, und sie hat daher auch nichts mehr mit Dalis bisherigen Darstellungen Lorcas - dem Kopf eines Schlafenden oder Toten/Enthaupteten (cf. supra) - gemein: buchstäblich mit "Menschenaugen" blickt der Dichter, nunmehr vom Maler zum Leben erweckt, aus seiner für beide so beziehungsreichen Umgebung, am Meeresstrand, auf den Betrachter. Lorcas linkes Auge ist der liegende Philosoph von El enigma sin fin, sein rechtes Auge eine sitzende Fischersfrau40. Es ist sicher nicht vermessen, daraus zu schließen, daß Dali - wohl unter dem Einfluß des neuen Blicks, mit dem Lorca in Poeta en Nueva York die Neue Welt betrachtet - auf der gemeinsamen Basis, dem Strand von Port Lligat, einen neuen Zugang zum Werk des Dichters gefunden hat. Schemenhaft rahmt 37

A. Sánchez Vidal, op. dt., S. 269-272, mit Abbildungen; cf. auch K. v. Maur, op. dt., S. 240f. (mit Farbreproduktion).

38

Cf. A. Sánchez Vidal, op. dt., besonders S. 272-282; R. Santos Toroella, Salvador Dali, op. dt., S. 121-163. Abbildungen bei Robert Descharnes, "Die Eroberung des Irrationalen". Dali. Sein Werk - sein Leben, Köln 1984, S. 238f., der beiden letztgenannten Bilder auch bei K. v. Maur, op. dt., S. 254f.

39 S. Abbildung Nr. 36 im Anhang zu diesem 40

Band.

Dalis Aufschlüsselung von El enigma sin fin mit dem "reclining philosopher" und der "seated woman" reproduzieren K. v. Maur, ibid., S. 254, und R. Descharnes, Dali, op. dt., S. 239.

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ihn eines der bedeutendsten beide verbindenden Motive ein: die Silhouette eines weißen Afghanen, eines Artgenossen des berühmten Perro andaluz. Der am 6. Juni 1929 uraufgeführte gleichnamige Film Bunuels und Dalis markiert zugleich den Zeitpunkt der Distanzierung beider von Lorca, dessen Romancero gitano sie scharf verurteilten41, und jenen des Aufbruchs Lorcas in die Neue Welt, von dem die später in Poeta en Nueva York versammelten Gedichte Zeugnis geben sollten, über die Dali schließlich zu Lorca zurückfand. Bevor ich mich den beiden genannten Bildern zuwende, die hier Dalis Beziehimg zu Poeta en Nueva York illustrieren sollen, sind einige Worte über die Veröffentlichimg der unter diesem Titel zusammengefaßten Texte und Dalis Kenntnis davon angebracht. Die 1930/31 in den USA entstandenen Gedichte brachte Lorca selbst nach seiner Rückkehr bei verschiedenen Lesungen und - in Auszügen - in verschiedenen Zeitschriften in Spanien einem kleinen Publikum nahe42; es ist jedoch nicht anzunehmen, daß Dali, der Lorca erst 1935 wieder begegnen sollte43, bereits zu diesem Zeitpunkt genaue Kenntnis der Sammlung erlangte. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß die postume zweisprachige New Yorker Ausgabe von Rolfe Humphries vom Mai 1940 Anlaß seiner tieferen Beschäftigung mit Poeta en Nueva York war44. Sie erschien kurz vor Dalis Ankunft in New York im August 1940, und es ist daher nicht verwunderlich, daß sie auf die Arbeiten seines achtjährigem Exils in den

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Die Erstaufführung des Perro andaluz fand am 6. Juni 1929 in Paris statt; wenig später reiste Lorca über Paris nach London, um sich am 19. Juni dort nach New York einzuschiffen; eine Begegnung mit Buftuel und Dali scheint jedoch nicht stattgefunden zu haben (A. Sánchez Vidal, op. cit., S. 355 und 361). Für die Wiedergabe und den Kommentar des Streits um den Romancero gitano cf. ibid., S. 153-82. 42 Bereits im Januar 1931 erschien in der Revista de Occidente Ruina, Vida, Muerte, Nueva York (oficina y denuncia), im Maíz desselben Jahres folgte ein Vortrag Lorcas über Poeta en Nueva York mit der Lesung ausgewählter Gedichte in der Residencia de Estudiantes, im Dezember 1932 eine zweite Lesung in Barcelona. 1933 veröffentlichte er seine Oda al rey de Harlem in Los cuatro vientos, im gleichen Jahr in Mexiko die Oda a Walt Whitman. 1935 erscheint Tierra y Luna in El tiempo presente, und für Oktober plante Lorca die Veröffentlichung der definitiven Fassung von Poeta en Nueva York, die jedoch nicht zum Abschluß kam (alle Angaben nach A. Sánchez Vidal, op. cit, S. 357-61). 43 Cf. ibid.,, S. 361: "En octubre [1935] tiene lugar el último encuentro entre Lorca y Dalí [...]. No se habían vuelto a ver desde finales de julio de 1927". 44 The Poet in New York and other Poems of Federico García Lorca. The Spanish Text With an English Translation by Rolfe Humphries, New York (W.W. Norton) 1940. Zur Editionsgeschichte der Sammlung cf. Eutimio Martin (Hg.), Federico García Lorca, Poeta en Nueva York. Tierra y luna, Barcelona, Caracas, Mexico 1981; Daniel Eisenberg, "Poeta en Nueva York': historia y problemas de un texto de Lorca, Barcelona, Caracas, Mexico 1976; sowie, mit ergänzenden bibliographischen Angaben (S. 543-45), Julio Calviño Iglesias, "Poeta en Nueva York como mentira metonímica", Cuadernos Hispanoamericanos435-36 (1986), S. 519-45; zusätzliche interpretatorische Aspekte bei Anthony L. Geist, "Las mariposas en la barba: una lectura de Poeta en Nueva York", Cuadernos Hispanoamericanos435-46 (1986), S. 547-65.

Dalí malt Lorca

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USA ausstrahlte45. So sind die beiden 1942 und 1943 für die Weihnachtsnummern der Zeitschrift Esquire angefertigten Blätter voller Lorca-Reminiszenzen. Die erste Illustration, Geburt einer neuen Welt, begleitet der Text: "GEBURT EINER NEUEN WELT/ Zukunftsvision über die Folgen heutiger Mühen/ speziell für diese Ausgabe des Esquire/ von dem meist diskutierten aller lebenden Maler/ SALVADOR DALI/ geschaffen"48. Auf den ersten Bück scheint Dali eine klassische Weihnachtsszene darzustellen: Josef und Maria und das Jesuskind im Stall und die Anbetung der Hirten, am Himmel musizierende Engel. Die verfremdenden Elemente hingegen, das auf den Stufen Hegende Kind unter der Neuen Welt, die trauernde Maria, der Neger unter den "Hirten", die anwesenden Tiere - nicht Ochse und Esel, sondern Pferd und Ameisen - sind Elemente, die direkt aus Lorcas Poeta en Nueva York ins Bild übertragen scheinen. Das läßt sich bereits durch einen exemplarischen Vergleich mit den beiden Werken gleicher Thematik, Nacimiento de Cristo und Navidad, belegen: - Die Rolle des Jesuskinds in Lorcas "Simbolismo mítico" hat bereits Miguel Garcia-Posada herausgearbeitet: "Según era de esperar, Lorca asocia el mito de la Redención con el símbolo del niño [...]. La muerte de este Niño había sido anunciada ya. Desde el mismo momento de su venida al mundo lo rondan las 'espigas' (clavos) lacerantes del martirio, que él, suma encarnación de la Trinidad, presiente [...]. La inutilidad de la Redención está ya latente en el primer Cristo-Niño del poema - la figurita del Belén andaluz del que insensiblemente pasamos al Cristo que nace en Nueva York. La figurita aparece con los dedos partidos en la cruz [...] El nacimiento de Cristo se produce en un contexto horrible. A la frialdad de 'hormigas' y 'pies ateridos' se une el abandono en que el poeta ve al Cristito, cuyas manos sangran sobre el fondo del cielo implacable [...] Sacrj|icio inútil, redención baldía. La ciudad - el mundo - es un vacío; lo demás es irrelevante" .

Aus Lorcas pessimistischer Vision von Geburt und Tod des "Erlösers" in Nacimiento de Cristo und Navidad erklären sich nicht nur die Präfiguration des gekreuzigten Christus im auf den Stufen liegenden Kind, sondern auch die Vorstellung von der neuen Welt, die an seiner statt geboren und beweint wird48:

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Dali war bereits mehrmals (1934,1936 und 1939) in New York gewesen, und die beiden folgenden Bilder sind nicht die ersten gemalten Eindrücke Dalis aus Amerika. Er hatte bereits 1935 im Auftrag der Zeitschrift American Weeklyeine Serie von Illustrationen im Comic-Stil angefertigt, so die Blätter Gangsterism and Goofy Visions und The American City Night-and-Day - by Dali (cf. K. v. Maur, op. cit, S. 180f.). 46 Farbreproduktion und Zitat: Ibid., S. 288f. S. Abbildung Nr. 37 im Anhang zu diesem Band. 47 Miguel Garcia-Posada, Lorca: interpretación de"Poeta en Nueva York", Madrid 1981, S. 185-87. 48

Eine optimistische Deutung des Bildes, wie sie Raymond Gram Swing vorlegt ("Die Geburt ist der Optimismus der Natur und daher die Basis des menschlichen Galubens. Ohne die Überzeugung, daß diese gequälte Zeit tatsächlich die Neue Welt hervorbringt, aus dem Fleisch unserer amerikanischen Gegenwart gebiert, hätten wir kaum den Mut, diese Tage zu bestehen", zitiert nach K. v. Maur, op. cit., S. 288), scheint mir - auch wenn Dalis Darstellung (wohl aus Rücksicht auf die Rezipienten dieser Auftragsarbeit) weniger blutrünstig ist als Lorcas Text - nicht gerechtfertigt, da sie vor allem auch dem "Inhalt" der "Neuen Welt-Kugel" nicht Rechnung trägt.

Angelica Rieger

48 "Un pastor pide teta por la nieve que ondula blancos perros tendidos entre linternas sordas. El Cristito de barro se ha partido los dedos en los filos eternos de la madera rota. ¡Ya vienen las hormigas y los pies ateridos! Dos hilillos de sangre quiebran el cielo duro. Los vientres del demonio resuenan por los valles. Golpes y resonancias de carne de molusco" (1-8)

und "No importa que cada minuto un niño nuevo agite sus ramitos de venas ni que el parto de la víbora desatado baja las ramas calme la sed de sangre de los que miran los desnudos. ^ Lo que importa es esto: Hueco. Mundo solo. Desembocadura" (28-32) .

- Auch das Pferd, als "verdadero astro del bestiario lorquiano" und "símbolo de la naturaleza"51 und die bereits in Nacimiento de Cristo beschworenen Ameisen entstammen Lorcas Navidad: "Estaban los cuatro marineros luchando con el mundo, con el mundo de aristas que ven todos los ojos, con el mundo que no se puede redorrer sin caballos. [...] El mundo solo por el cielo solo. Son las colinas de martillos y el triunfo de la hierba espesa. Son los vivísimos hormigueros y las monedas en el fango" (6-8,13-15).

Überhaupt sind in Poeta en Nueva York - ebenso wie in Dalís Werk - jene Tiere, die spätestens seit dem Perro andaluz (1929, cf. supra) geradezu als die Wappentiere des Surrealismus betrachtet werden können, allgegenwärtig. Außer ihrem Vorkommen im Poeta en Nueva York allgemein analysiert Miguel Garcia-Posada auch ihre Bedeutimg in dem von Dali - wie wir sahen - direkt in seine Geburt einer neuen Welt übertragenen Vers "lYa vienen las hormigas y los pies ateridos!":

49 50

51

E. Martín, op. cit, Nacimiento de Cristo, S. 214f.

Ibid., Navidad, S. 210-13.

Cf. M. García-Posada, op. cit., S. 166f., der auch auf die widersprüchliche Rolle der Pferde in Crucifixión verweist: "Y llegaban largos alaridos por el sur de la noche seca. / Era que la luna quemaba con sus bujías el falo de los caballos" (E. Martín, op. cit., S. 222-25). Eine ausführliche Analyse des "bestiario lorquiano" unternimmt García-Posada, S. 165-94.

Dalí malt Lorca

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"Es decir, los pies de los fariseos, de los neoyorquinos de 'la otra mitad', con las plantas heladas por la falta de amor; y las 'hormigas' no son sino esos mismos ciudadanos, representación del hombre moderno - />o faber- según una relación de base imaginativa tradicional - en su génesis inicial - [...]" .

Selbst wenn mit diesen wenigen Hinweisen gewiß längst nicht alle interpretatorischen Parallelen zwischen Bild und Text aufgedeckt sind, will ich hier mit zwei Detail-Betrachtungen schließen: da ist zum einen die - zunächst harmlos wirkende - Gruppe musizierender Engel auf dem Dach des durch ein stilisiertes Holzgerüst angedeuteten Stalls, bei deren vorderstem, mit dem Saiteninstrument, sich die Erinnerung an Dalis Karikatur Lorcas mit der Mandoline aus den Jahren 1926/27 aufdrängt53. Zum anderen erscheint im Innern der "Neuen Welt"-Kugel in Geburt einer neuen Welt - ganz in Dalis bereits beim Afgano invisible praktizierter Suchbild-Manier - ein schemenhaftes Portrait, das an die ebenfalls bereits bekannte, aus der Naturaleza muerta hervorgegangene Serie von Lorca-Köpfen erinnert54. Auf der gleichen Ebene bewegen sich auch einige Anspielungen auf Lorca in Dalis zweiter Illustration, Allegorie einer amerikanischen Weihnacht. Das Bild scheint weniger bedrohlich als die Geburt einer neuen Welt, wird aber von blutrot gesäumten schwarzen Wolken eingerahmt, die kaum die Hoffnungsschimmer signalisierende Morgenröte symbolisieren, sondern viel eher Lorcas La Aurora: "La aurora de Nueva York tiene cuatro columnas de cieno y un huracán de negras palomas que chapotean las aguas podridas. [•••] La aurora llega y nadie la recibe en su boca porque allí no hay mañana ni esperanza posible" (1-4 und 9-10).

Und die Wolken sind Lorcas Wolken aus Roma, "nubes rasgadas por una mano de coral / que lleva en el dorso una almendra de fuego" (S-4)56. Dennoch sieht Dalí selbst in dem von einem Flugzeug durchbrochenen klassischen Symbol der Fruchtbarkeit und der Geburt, dem Ei-Kokon, ein Zeichen der Hoffnung. Karin von Maur zitiert seinen Begleitkommentar aus Esquire:

52

Ibid., op. dt., S. 170-74, S. 171f.

53

Abbildung: A. Sánchez Vidal, op. dt., S. 276.

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Cf. supra, A. 5, und die Abbildungen 29,30,32 und 36 im Anhang zu diesem Band. S. Abbildung Nr. 38 im Anhang zu diesem Band. Farbreproduktion K. v. Maur, op. dt., S. 290f., Kat. Nr. 225. E. Martin, op. dt., S. 208f. und 226-30.

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Angelica Rieger "Ich schließe meine Augen und sehe einen ungeheuren Kokon über einer schneebedeckten Ebene. Das ist Amerika, und ein großes Mysterienspiel geht über die Bühne. Ein gargantueskes Flugzeug ist gerade aus dem Kokon ausgebrochen und schwingt sich gen Himmel. Unter den Alchimisten wurde der Kokon als Symbol der Weihnacht angesehen. Diese alten Weisen stellten sich den Winter als gigantische Insektenpuppe vor, in deren Tiefe sich eine große Wahrheit verbarg: der Stern des Ostens, die Geburt Christi und nun, in unseren Tagen, die Luftfahrt. Alle sind Symbole der Hoffnung ugd Erlösung. Alle sind Wunder, da sie alle den Menschen für den Menschen interpretieren" .

Doch das schneebedeckte Amerika ist das Amerika Lorcas aus Ciudad sin sueno, "Nos caemos por las escaleras para comer la tierra hümeda o subimos al filo de la nieve con el coro de las dalias muertas" (22-25),

und Roma: "La muchedumbre de martillo, de violin o de nube [...] ha de gritar loca de fuego, ha de gritar loca de nieve" (62 und 65-66) .

Auch in den meisten anderen Texten ist der Schnee "simbolo de la muerte (fisica o moral)"59. Und Dali übersetzt das Symbol malerisch in den Totenschädel links unten auf der Erde - wieder ein Motiv, das ihn mit Lorca verbindet, wie Santos Toroellas Studien über die Calavera atmosfirica sodomizando a un piano de cola (1934) zeigen60. Auch Dalis positive Verkehrung der Flugzeug-Symbolik in ein "Symbol der Hoffnung und Erlösung" kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es das erste Attribut ist, das er in Naturaleza muerta Lorca beigegeben hat, und das Santos Toroella bereits in diesem Bild als homoerotisches identifizierte61. Überhaupt ist die ganze Allegorie einer amerikanischen Weihnacht eine Art Vexierbild des Lorca-Portraits aus dieser Naturaleza muerta, denn der Schatten, den das Kokon-Ei wirft, ist der immer wieder beschworene Schatten Lorcas - beide zusammen zeichnen die helle und die dunkle Silhouette des Schlafenden/Toten aus eben dieser Naturaleza muerta nach. Und die drei Randfiguren, die in einer Linie hinaufweisen zu dem Kokon-Ei und dem ausbrechenden Flugzeug, um sich schließlich abzuwenden, sind der bereits erwähnte Totenschädel, eine Figur in der Haltung des heiligen Sebastian von hinten, der lediglich den rechten 57

K. v. Maur, op. dt., S. 290.

58

E. Martin, op. dt., S. 170-74, S. 171 und 226-30; S. 229f.

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All diese "Schneebilder" aus Poeta en Nueva York faßt M. Garcia-Posada, op. dt., S. 139-41, zusammen (Zitat S. 139). Cf. R. Santos Toroella, Salvador Dali, op. dt., S. 193-218. Cf. supra, A. 17, und K. v. Maur, op. dt., S. 51; sowie, zum Bildnis Gala mit Nase als Flugzeug, ibid., S. 148, Kat. Nr. 112.

Dali malt Lorca 51 Arm erhebt62, und ein einsamer Spaziergänger - der Poeta en Nueva York, eben jener, der "den Menschen für den Menschen interpretiert". III

"Dali malt Lorca" bedeutet nicht zuletzt aber auch: Dali malt Lorcas Bühne. Allerdings hat er nur einmal ganz konkret für Lorca ein Bühnenbild geschaffen: das Dekor zu Mariana Pineda (1927) für die Uraufführung am 24. Juni 1927 im Teatro Goya in Barcelona. Das Gespann Lorca-Dali war dabei so erfolgreich, daß beiden sogar am 25. Juni eine gemeinsamen Karikatur in La Noche unter der Überschrift "Se estrenó, con éxito, 'Mariana Pineda', romance en tres estampas, de Federico García Lorca, por la compañía de Margarita Xirgu. García Lorca y Dalí" zuteil wurde83. Bezeichnenderweise stellt der Karikaturist Dali darin buchstäblich in Lorcas Schatten und läßt ihn darüber hinaus aus dessen Quelle trinken... In der Folge sollte sich Dali noch oft - besonders während seiner AmerikaAufenthalte - als Bühnenbildner hervortun64; 1939 schuf er Bühnenbild und Kostüme für das "erste paranoische Ballett" Bacchanal (Venusberg)05. Mit seiner Uraufführung am 19.11.1939 durch die "Ballets russes de Monte Carlo" am Metropolitan Opera House in New York wird auch Dalis fruchtbare Zusammenarbeit mit deren damaligem Choreographen Léonide Massine in den nächsten Jahren eingeleitet. Es folgen am 8. Oktober 1941 Bühnenbilder und Kostüme zu dessen Labyrinth und 1944 stattet Dali gleich drei Ballette aus: Sentimental Colloquy für André Eglewsky, den Mad Tristan68 Léonide Massines und schließlich das in diesem Zusammenhang interessanteste: Das FlamencoBallett El Café de Chinitas, "mit spanischer Volksmusik, die von Federico García Lorca arrangiert wurde"87. Auch auf der Ballettbühne war Dali also in diesen Jahren mit Lorca konfrontiert. Und das erlaubt den Brückenschlag zu der Betrachtung weiterer Bühnenbildentwürfe Dalis zu einem allem Anschein nach

62

Cf. supra, A. 13, und Der androgyne heilige Sebastian, 1943 (R. Descharnes, Dali, op. dt., S. 271). 63 S. Abbildung Nr. 39 im Anhang zu diesem Band. Abbildung ibid., S. 55.

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Die Liste aller "Filme, Drehbücher, Bühnenbilder und Kostüme" veröffentlicht R. Descharnes, ibid., S. 442; demnach übernahm Dali Bühnenbilder und Kostüme für ein knappes Dutzend Opern und Ballette. Cf. ibid., S. 228 und 230; Falbreproduktion: K. v. Maur, op. dt, S. 276f., Kat. Nr. 215; bei den Kostümen, darunter auch das berühmte Totenkopf-Kostüm für die Darstellerin der Lola Montez (für den Entwurf cf. ibid., S. 278f., Kat. Nr. 216: Ballerina als Totenkopf), assistierte im übrigen Coco Chanel. Reproduktionen von drei Entwürfen zu Labyrinth ibid., S. 282f., ein Szenenfoto bei R. Descharnes, Dali, op. dt., S. 258; Reproduktionen von fünf Entwürfen ibid., S. 274f. K. v. Maur, op. dt., S.491; ebenso R. Descharnes, Salvador Dali, op. dt., S. 442.

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nie aufgeführten Romeo und Julia-Ballett unter dem Aspekt, daß auch sie von Lorca beeinflußt sein könnten68. Das Shakespeare-Drama, das auch Lorcas El Público stark beeinflußte69, fand mehrfach Verwendung als Ballettstoff, doch die entscheidende Version brachte am 11. Januar 1940 das Kirow-Ballett in Leningrad nach einem Libretto von Radlow/Piotrowskij zur Musik von Sergej Prokofjew zur Uraufführung70. Sie hatte eine regelrechte Romeo und /ußa-Ballettwelle zur Folge; unter den zahlreichen Nachfolgeproduktionen könnte Dali zum Beispiel an dem 1943 von Anthony Tudor für das American Ballet Theatre nach Musik von Frederick Delius choreographierten Ballett mitgewirkt haben, allein: sein Bühnen- und Kostümbildner war nicht Salvador Dali, sondern Eugene Berman71. Daher ist es wohl sinnvoller, die Spur Léonide Massines weiterzuverfolgen: es ist schwer vorstellbar, daß der ungeheuer produktive Choreograph und sein Bühnenbildner Dali nicht - inspiriert von der Romeo und Julia-Version der "Ballets Russes" mit Bühnenbildern von Max Ernst und Joan Miró72 - an eine eigene Romeo und /u/i'a-Produktion dachten, die sie jedoch nie verwirklichen sollten73. Für ein solches Ballett dürfte Dali die vorliegenden Entwürfe angefertigt haben. Denn daß es sich um Entwürfe für ein "Ballett-Theater" handelt, geht aus 68

Auch eine genaue Untersuchung aller übrigen Bühnenbilder Dalis im Hinblick auf Lorcas Bildeiwelt verspricht interessante Ergebnisse, würde aber diesen Rahmen sprengen. 89 Cf. dazu María elementa Millán (Hg.), Federico García Lorca, El público, Madrid 1988, S. 3746; sowie, zum Einfluß Shakespeares auf Lorca insgesamt, Andrew Anderson, "Some Shakespearian réminiscences in Garcia Lorca's Drama", Comparative Literature Studies 22/2 (1985), S. 187-210. 70 Cf. Otto Friedrich Regner und Heinz-Ludwig Schneiders, Reclams Ballettführer, Stuttgart 1972, S. 389-94; Otto Schneider, Tanzlexikon: der Gesellschafts-, Volks- und Kunsttanz von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien, Mainz 1985, S. 441. 71 O.-F. Regner, H.-L. Schneiders, op. cit., S. 393. 72 Uraufgeführt am 4. Mai 1926 in Monte-Carlo, am 18. Mai 1926 in Paris und am 17. Mai 1927 in Barcelona. Cf. Les Ballets russes de Serge de Diaghilev 1909-1929 (Ausstellungskatalog, Hg.: Ville de Strasbourg), Strasbourg 1969, S. 217-20, Abbildungen Nr. 101-102; sowie Nathalie Gontcharova, Michel Larionov, Pierre Yorms, Les Ballets russes de Serge de Diaghilev et ta décoration théâtrale, Belvès (Dordogne) 1955, S. 107 und 113. 73

K. v. Maur, op. cit., S. 386, kommentiert Dalis Entwurf zu Julias Grabmal: "Obwohl auBer dem vorliegenden noch mehrere Skizzen und Szenenbilder zu diesem als 'Ballett-Theater' bezeichneten Projekt vorhanden sind, fehlt bisher jeglicher Hinweis auf die näheren Umstände der Aufführung, so da£ anzunehmen ist, daß sie wohl nicht realisiert wurde". Léonide Massine gibt in seiner Autobiographie ([My Life in Ballet, London 1968) ebensowenig Hinweise auf Pläne für die Realisierung eines Romeo und Ju/j'a-Balletts wie seine Biographen - cf. Arnold L. Haskeil, "Léonide Massine: An Appréciation", Dance Magazine 43 (1969), S. 40-53; Marie-Françoise Christout et al., "Léonide Massine: Enciclopedia dello spettacolo (Bd. 7), Rom 1960, S. 266-71; O. Schneider, op. cit., S. 334f.; Horst Koegler und Helmut Günther, Reclams Ballettlexikon, Stuttgart 1984, S. 295f. Massine zeigte sich jedoch so beeindruckt von der "Ballets russes"-Version (op. cit., S. 169f.), daß solche Pläne dennoch wahrscheinlich sind; daß sie unter Umständen sogar mit Lorcas El Público in Verbindung standen, Massine zumindest eine besondere Beziehung zu dem Dichter hatte, legt der Name seines Sohnes, des Tänzers Léonide Lorca Massine, nahe (Max Niehaus, Ballett Faszination. Vom Studio zur Bühne, München 1972, S. 166f.).

Dalí malt Lorca 53 Dalis erster schwarz-weiß Skizze - mit zwei Bühnenbild-Entwürfen und drei Detail-Zeichnungen - eindeutig hervor74: Auf den in der Bildmitte mit "Salvador Dali 1942" signierten Entwürfen ist von dessen Hand - und in dessen Schreibweise - zu lesen: "Projets por le ballet teatre Romeo et Juliette 1942". Aber bereits der Titel der ersten Skizze links oben, "une envie", und die dazugehörige Anmerkung "se fond peut servir pour la place publique Velazquez", klingt mysteriös, denn diese kommt in Romeo und /u//a-Balletten normalerweise nicht vor. Von den drei Detail-Entwürfen im Vordergrund sind zwar die beiden in der Mitte und rechts als Julias Bett und Grabstatt zu identifizieren, wie sie in "Tombeau de Juliette" wiederkehrt (cf. infra), die "Schneckenlampe" ("cette lampe, 'peinte' sur le rideau de fond, pose sur escargot et 'geniale'") links unten dagegen läßt sich nirgends einordnen. Lediglich die Skizze der Möchszelle rechts oben ("celule de moine deux chasis lateraux avec des libres peints en trompe leill la table et marches seron les memes que Celles du tombeau du dernier acte et situes deja au meme lieu de l'escene") bestätigt, daß überhaupt ein Bezug zu einem solchen Ballet besteht: Dort spielen im Radlow/Piotrowskij-Libretto das jeweils 2. Bild des 2. (die heimliche Hochzeit Julias) und 3. Aktes (Julia holt sich von Pater Lorenzo die Droge für ihren Scheintod)75. Die übrigen - farbigen - Entwürfe entfernen sich so beträchtlich von dem - zumindest zu Prokofjews Musik geplanten - "Ballett in 3 Akten und 13 Bildern"78, daß man sich ernsthaft fragen muß, was, wenn nicht Shakespeare oder Prokofjew, Dali im Kopf gehabt haben mag, als er diese Bühnenbilder schuf. Dann aber drängt sich automatisch der Gedanke an das dem Poeta en Nueva York so artverwandte El Püblico Lorcas auf77. Auf den 22.8.1930 datiert Lorca den Abschluß der erhaltenen Redaktion des Stücks78, das er selbst als "irrepresentable" bezeichnete79. Der Abdruck zweier der fünf erhaltenen Bilder im Juni 1933 in Los cuatro vientos80 erlaubt den 74

S. Abbildung Nr. 40 im Anhang zu diesem Band. Reproduktion bei R. Descharnes, Dali, op. cit., S. 272: "Entwürfe für Romeo und Julia 1942 - Technik, Maße und Sammlung unbekannt". 75 O.F. Regner, H.-L. Schneiders, op dt, S. 390f. 76 Inhaltsangabe: O.F. Regner, H.-L. Schneiders, op. cit, S. 389-91. 77 Diese Artverwandtschaft arbeitet heraus: Maria elementa Millán, "Poeta en Nueva York y El público, dos obras afines", Insula 416-77 (1986), S. 9f., cf. auch id. (Hg.), Federico García Lorca. B1 público, Madrid 1988 (zitierte Ausgabe), S. 13. 78 Rafael Martínez Nadal (Hg.), Federico García Lotea. Autógrafos II: El público, Oxford 1976, S. 145: "Sábado 22 de Agosto 1930". 79

M.C. Millán, op. cit, S. 30. Das in der Tat schwer aufführbare Stück wurde im übrigen tatsächlich kaum gespielt, aber 1986 durch den argentinischen Choreographen Oscar Araiz im "Grand Théâtre de Genève" ausgerechnet als Ballett wieder in großem Stil auf die Bühne gebracht - cf. Rafagl Martínez Nadal, "El Públiccf - Amor y muerte en la obra de Federico Garcia Lorca, Madrid 1988, mit drei Szenenfotos von Serge Buffat vor S. 257. on Ibid., S. 17 und 257, A. 2 ("Los Cuatro Vientos. Núm. 3, Madrid, junio, 1983, Págs. 61-78"); sowie A. Sánchez Vidal, S. 359.

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Schluß, daß Dalí zumindest Teile des erst 1978 von Rafael Martínez Nadal81 endgültig herausgegebenen Fragments vertraut gewesen sein dürften, wenn er nicht sogar eine der beiden bis heute verschollenen Versionen kannte. Vergleicht man nämlich Lorcas Szenenbildanweisungen für die heute erhaltenen Bilder eins bis drei, fünf und sechs mit Dalis Romeo und /u/ia-Entwürfen, so tauchen darin nahezu alle Elemente aus El Público wieder auf. Nur das "blaue Dekor" für das erste und sechste Bild scheint kaum Spuren hinterlassen zu haben, obwohl sich Lorcas "große Hand" so lückenlos in Dalis Bilderwelt eingefügt hätte82: "CUADRO PRIMERO. Cuarto del DIRECTOR El DIRECTOR sentado. Viste de chaqué. Decorado azul. Una gran mano impresa en la pared. Las ventanas son radiografías" (S. 119)83

und "CUADRO SEXTO. La misma decoración que en el primer cuadro. A la izquierda, una gran cabeza de caballo colocada en el suelo. A la derecha, un ojo enorme y un grupo de árboles con nubes apoyadas en la pared" (S. 181).

Pferd, Bäume und Wolken scheinen indessen zumindest in jenen Entwurf Dalis Eingang gefunden zu haben, der sich eher dem dritten oder fünften Bild zuordnen läßt (cf. infra). Das zweite Bild jedoch, Ruina romana, mündet direkt in die - für die bekannten Ballettversionen von Romeo und Julia völlig überflüssige - "Gedenkstätte für Romeo und Julia"84. Lorca fordert: "CUADRO SEGUNDO. RUINA ROMANA [Una estatua de Venus], Una figura, cubierta totalmente de pámpanos rojos, toca una flauta sentada sobre un capitel. Otra figura, cubierta de cascabeles dorados, danza en el centro de la escena" (S.131)

und "Suena una trompa y aparece el EMPERADOR de los Romanos. Con él viene un CENTURION de túnica amarilla y carne gris. Detrás vienen los cuatro CABALLOS con sus trompetas [Las figuras se arrodillan]. El NIÑO se dirige al EMPERADOR Éste lo toma en sus brazos y se pierden en los capiteles" (S. 137).

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83 84

Op. cit; die Erstausgabe (Oxford, 1970) trug noch den Titel El público. Amor, teatro y caballos en la obra de Federico García Lorca. Sollte dies bedeuten, daß Dalí doch nur wenig mehr als die in Los cuatro vientos publizierten Auszüge (cf. supra) kannte? Die Seitenangaben beziehen sich auf die zitierte Ausgabe von M.C. Millán; in eckige Klammern gesetzte Angaben sind im Manuskript durchgestrichen. S. Abbildung Nr. 41 im Anhang zu diesem Band. Farbreproduktion bei R Deschamps, Dali, op. dt., S. 272: "Gedenkstätte für Romeo und Julia 1942 - Ol auf Karton - 28,6 x 37,4 cm - Privatsammlung".

Dalí malt Lorca

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Die in verwitternden gotischen Bogengewölben auf Kapitellen tanzenden und entschwebenden Figuren Dalis zeigen bereits anschaulich, wie der Maler mit den Anweisungen des Dichters spielt. Komplexer sind die Bezüge zu Lorcas drittem und fünftem Bild. Nur ein Teil des dritten Bildes scheint in den nächsten - in seiner Funktion einem Romeo und Julia-Ballett ebensowenig zuzuordnenden - Entwurf eingegangen zu sein85: "CUADRO TERCERO. Muro de arena. A la izquierda, y pintada sobre el muro, una luna transparente casi de gelatina [sobre el muro la sección de un tronco que se pierde en el techo. Cortina azul]. En el centro, una inmensa hoja verde lanceolada" (S. 141).

Nur der transparente Mond scheint hier zu fehlen (will man ihn nicht im Zifferblatt der Uhr vermuten); ihn werden wir erst im Entwurf zu Julias Grabmal wiederfinden. Dem höchsten Punkt der Mauer entwachsen in der Tat die Zweige eines Baumes. Und aus dem in einen sich öffenenden Baum verwandelten "riesigen Blatt" entspringt ein weißes Pferd. Ohne hier näher auf den Inhalt von El Público eingehen zu wollen, muß doch auf die Schlüsselrolle eines der vier darin vorkommenden weißen Pferde für das ganze Stück hingewiesen werden. Mehr noch, gerade Julias großer Dialog mit dem weißen Pferd (S. 146155) scheint der Schlüssel zu El Público schlechthin86. Zur Illustration der engen Bezüge dieses Dialogs zu Dalis Bildmotiven mögen hier einige Ausschnitte aus Julias an dessen Anfang stehendem Lied genügen: "Un mar de sueño. Un mar de tierra blanca y los arcos vacíos por el cielo. [...] Mi cola por el tiempo. Un mar de tiempo. [...] ¡Oh puro amianto de final! ¡Oh ruina! ¡Oh soledad sin arco! ¡Mar de sueño!" (S. 147).

Das anthropomorphe Gebäude mit dem Uhrkopf - es ist fünf vor zwölf scheint darüber hinaus im fünften Bild verwurzelt: "CUADRO QUINTO. [...] Al fondo, unos arcos y escaleras que conducen a los palcos de un gran teatro. A la derecha, la portada de una universidad" (S. 165).

S. Abbildung Nr. 42 im Anhang zu diesem Band. Farbreproduktion bei R Descharnes, Dali, op. cit., S. 272: "Öl auf Leinwand - 22,7 x 45,3 cm - Privatsammlung. Dieses Gemälde ist rechts unten bezeichnet mit 'Romeo et Juliette Dali 1942'". Das Bühnenbild könnte in einer Ballettversion allenfalls für die berühmte "Balkonszene" (1. Akt, 5. Bild) eingesetzt werden. 86

Cf. M.C. Millán, op. cit., S. 58f. und 64f.; sowie Rafael Martínez Nadal, "El caballo en la obra de García Lorca", in id., op. cit., (Barcelona 1988), S.202-37, und A. 77. Außerdem sei auf die dominierende Rolle der Pferde in Poeta en Nueva York verwiesen (ausführlich kommentiert bei M. Garcia-Posada, op. cit., S. 166f.).

56 Angélica Rieger Dalís verbleibender Entwurf schließlich, auch eine "Bild-Mischung" aus den Bildern 3, 5 und 6, ist der ungleich interessanteste87. Für sein Verständnis ist wiederum ein kurzer Rückgriff auf den Inhalt von El Público erforderlich, bei dem es, grob vereinfacht, darum geht, das alte - veraltete - Theater durch ein neues zu ersetzen. Das Geschehen spielt daher auf zwei Ebenen, dem "teatro bajo la arena" und dem "teatro al aire libre", in einem "universo íntimo" und einem "universo objetivo", "para que se sepa la verdad de las sepulturas": "Este carácter subterráneo y oculto, que presenta la verdad en esta obra, es lo que provoca la aparición en El público del 'teatro bajo la arena'ydentificado con el verdadero drama, y de la 'fuerza oculta' que el autor quiere escenificar" .

Dabei ist Romeo und Julia und insbesondere das Grabmal der Julia das Kernstück der Überlegungen zu einem neuen Theater: "El 'ejemplo' de que se sirve el Director de escena para llevar a cabo su intento es la obra de Shakespeare, Romeo y Julieta"69. Shakespeares Romeo und Julia steht dabei für das "falso teatro convencional", aus dem nur Julia - eine männliche Julia, wie sich schließlich herausstellt - in das neue Theater hinübergerettet werden kann. Dazu öffnet sich im dritten Bild die Sand-Mauer und gibt den Blick frei auf Julias Grabmal, die einzige "Decoración realista", die Lorca für sein Stück fordert90: "Muro de arena. A la izquierda, y pintada sobre el muro, una luna transparente casi de gelatina" (cf. supra)

und "El muro se abre y aparece el sepulcro de JULIETA en Verona. Decoración realista. Rosales y yedras. Luna. JULIETA está tendida en el sepulcro. Viste un traje blanco de ópera" (S. 146).

Auch in Dalís Entwurf zum "Grabmal Julias" öffnet sich die "Sand-Mauer", sind wir in einem "teatro bajo la arena", mit Blick auf Julias Grab. Auch bei ihm liegt (im unteren Teil der Skizze) eine weiß gekleidete Julia aufgebahrt im Innern des Grabmals. Und in dessen Zentrum und um das Grabmal herum hat Dali noch einmal all jene Elemente angeordnet, die ihn mit Lorca verbinden: Überdimensional in der Szenenmitte der transparente, tödliche Mond "casi de gelatina" und die - diesmal in Tränen aufgelöste - Büste ohne Rumpf; darüber

87

S. Abbildung Nr. 43 im Anhang zu diesem Band. Farbreproduktionen bei K. v. Maur, op. cit, S. 286f.: "Das Grabmal der Julia 1942, Öl auf Leinwand, 50,7 x 50,7 cm, Bez. rechte unten: Gala/Salvador Dali/1942/Romeo et Juliette. Privatsammlung. Maquette zum Bühnenbild des letzten Aktes von Shakespeares Tragödie Romeo und Julia'; sowie R. Descharnes, Dali, op. cit., S. 273.

88

M.C. Millän, op. cit., S. 32.

89

Ibid., S. 34.

90

Cf. dazu M.C. Millän, op. cit., S. 72.

Dalí malt Lorca 57 der "afgano invisible", zum Skelett abgemagert, und schließlich rechts das "Wappentier der Surrealisten": die Ameise. In allen drei Entwürfen sind die Verbindungen zu Lorca zu manifest, um zufällig sein zu können; aber sie sind auch zu vage, als daß es sich hier wirklich um versteckte Bühnenbildentwürfe zu El Público handelte. Vielmehr blieb Dali seiner oft beschworenen außerordentlichen Persistencia de la memoria treu und erinnerte sich für ein eigenes Romeo und Julia-Projekt der komplexen Sicht des Werkes durch Lorca in El Público.*

* Erst nach Drucklegung wurden zugänglich: Mario Hernández, "García Lorca und Salvador Dalí: del ruiseñor lírico a los burros podridos (Poética y epistolario)", in: Laura Dolfi (Hg.), L'impossibile/possibile di Federico García Lorca. Atti del convegno di studi Salerno, 9-10 maggio 1988, Neapel 1989, S. 267-319, und Lourdes Cirlot, "La relación Lorca-Dali", in: Spanisches Kulturinstitut München (Hg.), García Lorca en el recuerdo (Diciembre de 1988), S. 107-122.

Text-Bild-Beziehungen im Werk von Camilo José Cela Sybil Dümchen (Berlin) Einzelne Aspekte der Text-Bild-Beziehungen im Werk von Camilo José Cela sind von der Forschung bereits behandelt worden. Darunter fallen insbesondere die Untersuchungen, in denen visuelle Grundstrukturen von Texten im Vordergrund stehen. Und zwar visuelle Strukturen von Texten, die weder von bildlichem Material begleitet werden, noch selbst Bilder beschreiben. Daß solche Texte dennoch sozusagen "visuelle Qualitäten" haben, hat z. B. Volker Roloff bezüglich der VerEQmbarkeit (und der damit verbundenen Grenzen) von La Colmena gezeigt.1 Ein Text wie La Colmena eignet sich u.a. deshalb so gut für eine Verfilmung, weil er dem Film ähnliche Strukturen benutzt, z. B. in Bezug auf die Szenenübergänge, die Art der Montage, aber auch was die Erzählperspektive und den Umgang mit den Zeiten angeht. Die Themenwahl - das Großstadtleben mit vielen einzelnen Erzählsträngen - ist ebenfalls ein geeigneter Kreuzungspunkt zwischen Text und Film. Im folgenden soll auf diese - schon untersuchten - Fragestellungen nicht noch einmal eingegangen werden. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie Cela mit Bildern in seinen Texten umgeht. Dabei werden exemplarisch vier Aspekte von Text-Bild-Beziehungen in einem Buch behandelt, 1. das Texte von Cela mit Bildern eines zeitgenössischen Malers verbindet. 2. in dem Cela einen schon bestehenden Bild-Text-Kontext eines Werkes eines Künstlers der Vergangenheit aufbricht und mit eigenen Texten neu schafft. 3. das Texte mit nicht-künstlerischen Bildern verbindet. 4. das Beschreibungen von Photographien enthält. Es verwundert nicht, daß Cela verschiendene Medien verbindet und visuelles Material in seine Arbeiten mit einbezieht, denn schon allein innerhalb seiner rein literarischen Texte setzt Cela, der viel mit vorgefertigtem Material arbeitet, alle Gattungsgrenzen außer Kraft. In San Camilo z.B. benutzt er die CollageTechnik und in El diccionario discreto verbindet er die wissenschaftliche Form eines Wörterbuchs mit erotischen Inhalten. Die interdisziplinäre Arbeit mit anVolker Roloff: 'La Colmená. Von der Lektüre des Romans zur Komplementärgeschichte des Films (Camilo José Cela, 1951/Mario Camus, 1982), in: Franz-Josef Albeismeier/Volker Roloff (ed.): Literaturverfìlmungen, S. 522-543. Ein anderer Text, der vom Titel her verspricht, Bildtechniken in den Texten Celas zu untersuchen, benutzt jedoch die Malerei nur metaphorisch und ist in unserem Zusamenhang deshalb wenig interessant: Vicente Urbistondo: Cela y Rubens: estudio analítico sobre 'Tobogán de hambrientosí, in: Papeles de Son Armadans, año X, t. XXXIX, Núm. CXVII, S. 252-278.

59 Camilo José Cela deren Künsten ist nur eine Konsequenz seiner in allen Texten präsenten ästhetischen Grenzübertretung.

I. Das erste Buch, von dem hier die Rede sein soll, sagt schon mit seinem Titel aus, daß es mehrere Formen miteinander verbindet: Gavilla de fábulas sin amor aus dem Jahr 1962. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Erzählkranz, der einzelne Teile aneinanderreiht. Diese gavilla bringt sehr unterschiedliche Erzählformen zusammen, pervertiert Gattungen und verbindet Novellen, Gedichte, dramatische Elemente. So werden in der "farsa en siete Momentos", die hauptsächlich in der dritten Person erzählt wird und im übrigen nur vier Seiten lang ist, Mythen aus der Bibel oder die Geschichte des Trojanischen Krieges vermischt und verändert. Allen Texten sind insgesamt 32 Zeichnungen von Picasso zugeordnet. Und bei fast allen Text-Bild-Beziehungen in diesem Buch herrscht das Prinzip vor, daß man erst das Bild sieht und dann ein oder zwei Seiten weiter die entsprechende identifizierende Beschreibung liest. Das kann sogar dazu führen, daß in einem Text, in dem mehrere Bilder integriert sind, eine zusätzliche Spannung dadurch entsteht, daß die Beschreibimg des Bildes - das durch das Umblättern nicht mehr co-präsent ist - mit einem weiteren Bild zusammen auftritt, auf das die Beschreibung gar nicht zutrifft und dessen eigener Bezugstext sich wieder um eine Seite veschoben findet. Es entsteht also eine Kette von Bildern und Texten, wobei die Texte zwar die Zeichnungen "adäquat" beschreiben bzw. die Bilder die Texte illustrieren, aber die räumliche Trennung Verwirrung stiftet. In der ersten Episode des Buches mit der Kapitelüberschrift Los cuatro reyes del sur z. B. werden die vier Könige, die dem Polarstern folgen, visuell und textuell vorgestellt. Aber das Bild des ersten Königs steht ohne seinen Beschreibungstext auf der ersten Seite. Die Beschreibimg dieses Königs namens "Kagpha" findet sich auf der Rückseite2 und ist dann begleitet von dem Bild des zweiten Königs, "Badadilma". Die Zuordnung von Text und Bild und damit die Identifizierung der Könige funktioniert anhand der Beschreibungen der Farbe der Augen, des Bartes und der Haare. Der Text lenkt mit seinen Epitheta den Blick des Betrachters und stellt die Beziehung Bild-Text nachträglich her.

2

Kagpha wird beschrieben ais: "Kagpha, que en su remota lengua quiere decir tahúr, es joven y rubiasco, barbilucio y casi rapagón. Kagpha enseña los bucles de la cumplida pelambre que Anastasii (el dios barbero) le dio, pintados de color verde yerba [...] y tiene los ojos redondos y amarillos, como avaro que es, y la corona sembrada de aguamarinas azules, frágiles y delicadas." aus: Camilo José Cela: Gavilla de fábulas sin amor, 32 dibujos de Picasso, Barcelona 1975 (1. Ed. 1962), S. 12.

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Sybil Dümchen

Abb. 1, Cela/Picasso, Gavilla de fábulas sin amor: König Kagpha (links) und König Badadilma Hier ist von Anfang an die Initiative des Lesers gefordert, der die Bilder bestimmten Textteilen zuordnen muß. Aber dadurch, daß er erst nur ein Bild sieht, erstellt er sich schon einen Text selbst. Auf den ersten Blick scheint die hauptsächliche Bild-Text-Relation die Doppelkodierung von Information zu sein. Beide Elemente sagen ähnliches aus, wobei sogar dahingestellt sein soll, ob das Bild den Text oder der Text das Bild illustriert. Durch die Stellung der Bilder zu den Texten wird der Leser auf jeden Fall aktiv in die Textproduktion einbezogen, indem seine Imagination durch diese räumliche Spannung in Gang gesetzt wird, was natürlich vor allem für die erste Lektüre gilt. Es gibt aber noch komplexere Text-Bild-Beziehungen in diesem Band. Das gilt für einen kurzen Abschnitt, dessen Kapitel-Deckblatt versehen ist mit den Initialen CJ.C., also den Initialen von Camilo José Cela. Blättert man um, sieht man eine Zeichnung Picassos, die einen Christus darstellt, der einen Anhänger mit den Initialen CJ.C. um den Hals trägt. Können die paratextuellen Elemente und die damit verbundene Sinnstiftung bei dem Beispiel der vier Könige noch vielleicht als zufällig bezeichnet werden, da es keine Informationen darüber gibt, ob die Seitenaufteilung von Cela gewollt oder das Resultat der Editionsarbeit war, besteht bei diesem Beispiel kein Zweifel an der Intentiona-

Camilo José Cela 61 lität der durch das Umblättern generierten Spannung zwischen Bild und Text, da es sich hierbei um ein Deckblatt und die erste Seite des nachfolgenden Kapitels handelt.

Abb. 2, Cela/Picasso, Gavilla de fábulas sin amor: C. J. C. (aufeinanderfolgende Seiten) Hier überlagern sich also schon zwei Figuren - der Autor und Christus - bevor überhaupt der Fließtext beginnt. Und dieser Text kehrt dann auch sofort wieder zu dem Deckblatt und dem Bild zurück, weil er wieder mit den Initialen beginnt, die aber ganz anders aufgelöst werden als der Leser/Betrachter erwartet: nämlich als "C.J.C., comer joanna-theresa y caminar"3. Diese erste Auflösimg, die phonetisch motiviert ist, wird nochmals ergänzt durch eine weitere Namensinterpretation: "Al ruin Catulino Jabalón Cenizo ... lo coronaron de espinas."4 Der Verweis auf Christus durch das Bild wird dabei überlagert, aber nicht negiert, da von einer Dornenkrone die Rede ist. Eine weitere Lese3

Ibid, S. 25.

4

Ibid.

62 Sybil Diimchen Alternative der Initialen wird übrigens nicht gegeben, Camilo José Celas Name erscheint nicht. An diesem kurzen Beispiel wird klar, inwieweit Cela mit der Spannung von ausgesprochenen und unausgesprochenen Bild-Text-Beziehungen spielt, indem er wiederum dem Leser eine aktive Rolle zuteilt. Er brauchte selbst die Assoziation von CJ.C. mit dem Autorennamen nicht zu explizieren und auch die Zeichnimg nicht sprachlich als Christus zu identifizieren. Das geschieht durch den Betrachter. Celas Aktivitäten gehen dagegen dahin, die Interpretation des Lesers zu erschüttern und andere Möglichkeiten der Lektüre aufzuzeigen, eine Vorgehensweise, die der aus dem vorigen Beispiel mit den Königsbildern, deren Texte versetzt erscheinen, verwandt ist. Cela läßt den Leser zuerst Erwartungen aufbauen, die er dann nicht erfüllt. In der gavilla gibt es noch einen weiteren interessanten Text-Bild-Aspekt. In einem Textabschnitt werden mehrmals Bilder, die nicht von Picasso stammen, mit ihrem Titel evoziert, ohne daß sie selbst abgebildet wären. Die sechs Titel, die genannt werden, haben sozusagen Stellvertreterfunktion. Auch hier muß der Leser seine Imagination einsetzen, diesmal weil er kein Bildmaterial zur Verfügimg hat. Für jeden Leser wird dies jedoch einen anderen Text ergeben, je nachdem, ob er die genannten Bilder kennt oder nicht. Cela zitiert die Bilder sogar mit Angabe des Museums5 (u. a.: Raffaels Incendio de la fortaleza, Fréminets Mercurio impone a Eneas el abandono de Dido und Peruzzis Orfeo y Euridice). Offensichtlich benutzt Cela hier den Verweis auf die Bilder als kulturelle Versatzstücke und setzt sie gleich mit den Verweisen auf Legenden und Mythen. Zugleich entsteht eine Auflösung von Personen, Raum und Zeit, bzw. es findet eine Verschachtelung statt: Cela ordnet mythisches Material, zitiert Bilder und Texte der Vergangenheit, aber gleichzeitig gibt es ja die Zeichnungen von Picasso und seine eigenen Texte, die sich wieder auf einer anderen Zeit-RaumAchse befinden. Es ist die Aufgabe des Lesers, daraus ein Ganzes zu erstellen. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage interessant, in welcher Form Cela und Picasso zusammengearbeitet haben. Aus dem Buch selbst ist dies nicht ersichtlich, aber Celas Sohn gibt Auskunft darüber.6 Cela und Picassso haben sich erst spät persönlich kennengelernt und dann auch nur sehr selten gesehen. 5

8

Es wäre interessant, die Angaben zu überprüfen, um zu sehen, ob es intentionale Abweichungen gibt. Camilo José Cela Conde: Cela mi padre, Madrid 1989. Cf. insbesondere die S. 133-142 über Picasso und die Gavilla. Cela Conde geht auch darauf ein, daß das Buch erst einmal der Zensur zum Opfer fiel, weil es als Produkt einer Allianz zwischen einem bekannten Schriftsteller und einem berühmten Exil-Maler schon von vornherein suspekt sein mußte. Cela wurde aber durch die Intervention eines einflußreichen Kirchenmannes die Publikation doch noch erlaubt. Einmal gedruckt, schlug die Zensur wieder zu und wollte die Verbreitung verbieten, weil Cela gerade ein Manifest gegen die Zensur unterschrieben hatte. Allerdings wechselte bald der zuständige Minister. Durch dessen liberalere Politik konnte das Buch dann doch noch in Umlauf kommen.

Camilo José Cela

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Cela gab 1960 eine Sondernummer seiner Zeitschrift Papeles de Son Armadans als hommage für Picasso heraus und übergab diese Nummer Picasso anläßlich eines Besuchs. Dieser zeichnete als Dank für jeden Mitarbeiter der Sondernummer jeweils etwas anderes auf die einzelnen Belegexemplare. Später wurden diese Zeichnungen, die auf die Exemplare der Zeitschrift verstreut waren, zusammengestellt, und Cela schrieb den Text der gavilla. Die Bilder hatten also zuerst eine ganz andere Funktion und existierten vor dem Text. Die Tatsache, daß Picasso für jeden Mitarbeiter der Sondernummer eine Zeichnimg anfertigte, erklärt auch den Anhänger mit den Initialen CJ.C. um den Hals der Christusfigur. Dies war höchstwahrscheinlich die Zeichnung Picassos für Cela selbst, was der Text jedoch verschleiert.7 Hier wird also ein akzidentelles Element des Außerliterarischen zum Textgenerator. II.

Die zweite Art der Text-Bild-Beziehungen, die hier vorgestellt werden soll, finden wir in Camilo José Celas 1989 erschienenem Buch Los Caprichos de Francisco de Goya y Lucientes. Dabei handelt es sich um die vollständige Reproduktion der achtzig caprichos, die Cela mit eigenen Texten versieht. Um die Beziehung der Texte von Cela zu den Bildern Goyas bestimmen zu können, ist es notwendig, an die Komposition der caprichos zu erinnern. Cela greift hier nämlich auf bildliches Material zurück, das schon in seiner ursprünglichen Bestimmung enge Verbindungen zu Texten eingegangen ist. Diese ursprüngliche Bild-Text-Beziehungen werden aufgebrochen, weil Cela diese Texte bis auf die Bildtitel unterschlägt, sie sozusagen "überschreibt". Sie gehen in ihrer Abwesenheit jedoch eine dialektische Text-Text-Beziehung mit den Kommentaren von Cela ein, da der Leser/Betrachter die anderen Texte in der einen oder anderer Form kennt und in der Rezeption mit-denkt. Goyas caprichos hegen uns mit unterschiedlichen Text-Kommentaren vor, von denen drei in der Kunstgeschichte zu Referenztexten geworden sind. Einer der Texte soll von Goya selbst stammen (Prado-Version), die beiden anderen (die Ayala-Version und die der Biblioteca Nacional) sind anonym.8 Es wird allgemein davon ausgegangen, daß Goya aufgrund der politischen Umstände seine eigenen Kommentare nicht mit dem Ziel der Erklärung erstellt hat, sondern eher, um die Bildintentionen (die von den Titeln unterstützt werden) zu ver-

7

Cela Conde geht auf die einzelnen Zeichnungen allerdings nicht ein. Die Prado- und die Biblioteca-Nacional-Version werden normalerweise nach ihrem Aufbewahrungsort benannt, die Ayala-Version erhält ihren Namen durch Adelardo Lopez de Ayala, der Besitzer des Manuskripts war. Cf. zu den verschiedenen Kommentaren: Jutta Held: Literaturbelicht Francisco de Goya. Graphik und Zeichnungen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 1964, Band 27, Heft 1, S. 60-73, hier. S. 62sqq.

64

Sybil Dümchen 9

Schleiern und politisch zu entschärfen. Die anderen Versionen dagegen beziehen sich direkter auf den politischen und zeitlichen Kontext.10 Die Tatsache, daß es mehrere Versionen und dazugehörige Bild-Text-Relationen gibt, hat wiederum in der Kunstwissenschaft eine Anzahl von Metakommentaren ausgelöst. Wenn Cela nun den caprichos einen weiteren Text hinzufügt, dann stellt er sich einerseits in die Tradition der Kommentare auf der Objektebene (simultan zu den Bildern), andererseits produziert er auch einen Metatext, da er sich implizit sowohl auf seine Vorgänger (auf Goya selbst und die beiden anderen Kommentatoren) bezieht als auch auf die kunstwissenschaftliche Diskussion um die philosophisch-sozial-politische Bedeutung der Kommentare. Er stellt sich aber auch noch in eine andere Tradition: in die der Literatur, die Arbeiten von Goya - nicht nur die caprichos - als Ausgangspunkt für neue, eigenständige Werke genutzt hat. Selbst wenn man sich auf die spanisch-sprachige Literatur beschränkt, die Goya als générateur benutzt, entsteht eine lange Liste,11 mit so bedeutenden Namen wie Manuel Machado mit seinen Sonetten auf Gemälde Goyas; Ramón Valle-Inclán und seinen Esperpentos-, Luis MartínSantos, der in Tiempo de silencio (1964) ein Gemälde Goyas beschreibt; Rafael Alberti, der in Noche de la guerra (1956) Goya selbst auftreten läßt; Antonio Buero Vallejo, der in El sueño de la razón (1970) ebenfalls Goya zu seinem Protagonisten macht; Carlos Rojas, in dessen Aquelarre (1970) die Figuren Goya-Bilder kopieren, um dann in ihnen zu verschwinden und Antonio Larret, der in Volavérunt (1980) Goya und Godoy zusammenfuhrt. Ohne hier auf eines dieser Werke detailliert eingehen zu können, sei doch angemerkt, daß sie - wie die Sekundärliteratur der Kunstwissenschaft - die philosophischen, sozialkritischen oder politischen Elemente bei Goya als Ausgangspunkt für ihre intertextuellen Arbeiten nutzen. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß Goya seine caprichos ebenfalls als Inter-"Texte" angefertigt hat. Verbindungen zu anderem visuellen Material - insbesondere der Emblematik konnten ebenso nachgewiesen werden wie zu zeitgenössischer Literaturpro0

Cf. Edith Helman: Trasmundo de Goya, Madrid 31986 (1. Ed. 1963), S. 54. Cf. dazu auch Werner Hofmann: Goyas negative Morphologie, in: Werner Hofmann/Edith Helman/Martin Warnke: Goya. 'Alle werden falleti, Frankfurt/M. 1981, S. 15-69. 10 Auf die Bezüge der Versionen untereinander wird nur global eingegangen werden. Cf. dazu ausführlich den Beitrag von Volker Roloff in diesem Band. Die verschiedenen Versionen sind reproduziert in: Helman, Trasmundo, loc. cit., S. 213-229. 11

Folgende Beispiele aus: Sabine Horl: Der Schlaf der Vernunft Zur Rolle Goyas in der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Dieter Kremer (ed.): Aspekte derHispania im 19. und 20. Jahrhundert Akten des Deutschen Hispanistentages 1983, Hamburg 1983, S. 33-48, besonders S. 42-47. Sie wählt Autoren aus vier Phasen der Gegenwart - 1898, 1927, nach 1939, nach 1975 -, um aufzuzeigen, wie die Tradition der "Aufklärung" Goyas im 20. Jahrhundert durch intertextuelle Bezüge weitergeführt wird (cf. ibid., S. 35). Horl verweist auch noch neben den genannten spanischen Autoren auf die Bedeutung Goyas für die Literatur außerhalb Spaniens. Sie nennt u. a.: Charles Baudelaire, Hermann Broch, Lion Feuchtwanger, Ernest Hemingway und Alejo Carpentier. Zum Literatur- und Zeitbezug Goyas cf. auch José López-Rey: Goyäs Caprichos, Princeton 1953,2 Bde.

Camilo José Cela 65 duktion.12 Edith Helman hat u. a. überzeugend sowohl die Beziehung nachgewiesen, die zwischen der Komödie El dómine Lucas von Cañizares und dem capricho Nr. 50 Los Chinchillas besteht,13 als auch die engen Bande verschiedener caprichos zu der satirischen und aufklärerischen Literatur von Jovellanos oder Moratin - beides enge Freunde Goyas.14 Die positive Bewertung der Verbindung von Text und Bild bei Goya ergibt sich abgesehen davon, daß sie in den caprichos praktisch umgesetzt ist, auch aus offiziellen Erklärungen Goyas wie z. B. in der (Werbe-) Anzeige im Diario de Madrid vom 6. Februar 1799, in der er sich auch als "autor" der caprichos bezeichnet, und wo es heißt: "Persuadido el autor de que la censura de los errores y vicios humanos (aunque parece peculiar de la eloquencia y la poesia) puede también ser objeto de la pintura [...] La pintura (como la poesia) escoge en lo universal lo que juzga mas á propósito para sus fines [...]"1S Darüber hinaus trägt Goya der Verbindung von Bild und Text noch auf andere Weise Rechnung: er stellt in den caprichos mehrmals den Leseakt dar.16 Mit seinen neuen Text-Bild-Verbindungen führt Cela also nicht nur eine schon fast institutionalisierte Goya-Rezeption weiter, er knüpft geradezu an das Programm Goyas hinsichtlich der Beziehung von Literatur und Malerei an. Wir werden an ausgewählten Beispielen sehen, inwieweit Celas Kommentare Goyas Textintention der Bildverfremdung weiterführen,17 wie Cela mit den Bildern und Texten umgeht und welche grundsätzlichen Beziehungen zwischen Goya und Cela bestehen. Ein erster Unterschied zu den drei Referenztexten fällt schon beim flüchtigen Betrachten der capricAo-Texte von Cela auf: seine Texte sind erheblich länger als die der anderen Kommentatoren.18 Dieser Formunterschied steht in engem 12

Cf. dazu Martin Warnkes Vorwort zu: Werner Hofmann/Edith Helman/Martin Warnke, loc. cit., S. 9-13. Warnke, S. 11, weist besonders auf den Artikel von Martin S. Soria aus dem Jahr 1948 hin,"[...] in dem er nachwies, daß eine Reihe von Allegorien Goyas die ikonographischen Anweisungen aufnahmen, wie sie ein Handbuch von Cesare Ripa aus dem Jahre 1603 den Malern empfahl." 13 Edith Helman: Goyas 'Chinchilla^, in: Werner Hofmann/Edith Helman/Martin Warnke, loc. cit., S. 71-92. Zu der Beziehung Goyas zum Theater cf. auch Helman, Trasmundo, loc. cit., S. 190-199. 14 Helman, Trasmundo, loc. cit., Kapitel 3., S. 97-140 über Jovellanos und Goya, über Goya und Moratin S. 177sqq. Helman weist auch eine Verbindung des Capiicho 12 (A caza de dientes) zu der Tragicomedia de Calisto y Melibea (cf. S. 78/79) nach, sowie intertextuelle Beziehungen der caprichos zur picaresca und der Satire des 17. Jahrhunderts (cf. S. 84sqq.). 15 Zitiert nach dem Faksimile der Anzeige, reproduziert in Helman, Trasmundo, loc. cit., S. 48/49, hier S. 48 und 49. Zur Verbindung "autor" von Bild und Text cf. Helman, Goyas 'Chinchilla loc. cit., S. 87. 16 Cf. dazu Christopher Soufas: 'Bsto si que es leef: learning to read Goyits'Los Caprichoä, in: Word & Image, vol. 2, No. 4, October-December 1986, S. 311-330, hier S. 317. 17 Über die Ambiguität, die Goya selbst mit seinen Bildtitel erzeugt, cf. Soufa, loc. cit., S. 323. 18 Ca. 20 Zeilen bei Cela stehen 1 bis maximal 6, durchschnittlich jedoch 2 Zeilen der anderen Versionen gegenüber.

66 Sybil Dümchen Zusammenhang mit Celas Vertextungsstrategie, die wir auch schon für seinen Umgang mit den Zeichnungen Picassos konstatieren konnten: er narrativisiert die Bilder Goyas. Er erfindet Geschichten zu ihnen, die inhaltlich mit den schon vorliegenden Kommentaren und auch mit den Interpretationen der Kunstwissenschaft auf den ersten Blick nichts gemeinsam zu haben scheinen. Mit dieser inventio erfüllt er aber einen weiteren "Programmpunkt", den Goya in seiner Anzeige im Diario de Madrid, nennt: "[...] el autor ni ha seguido los exemplos de otro, ni ha podido copiar tan poco de la naturaleza. Y si el imitarla es tan difícil, como admirable quando se logra; no dexará de merecer alguna estimación el que apartandose enteramente de ella, ha tenido que exponer á los ojos formas y actitudes que solo han existido hasta ahora en la mente humana, obscurecida y confusa por la falta de ilustración ó acalorada con el desentreno de las pasiones."19 Verfolgt man die verschiedenen etymologischen Erklärungen zu dem Begriff "capricho", kann man feststellen, daß dieser Programmpunkt - die freie Erfindimg - genau die ca/wicAo-Definitionen umfaßt, die der Diccionario de Autoridades vorschlägt: "Parece compuesta de caput y hecho, como si dixera hecho de propia cabeza"20. Somit nimmt Cela Goyas caprichos beim Wort, wenn er sie als Ausgangspunkt für etwas Neues, etwas frei Erfundenes benutzt. Die Narrativisierung der Bilder ist ausnahmslos gleichzeitig eine referentielle Banalisierung. Die Episoden entmythisieren die Bilder, beschreiben sie nicht als die Versinnbildlichung der philosophischen Diskussion um die spanische Aufklärung - wie in den kunstwissenschaftlichen Arbeiten und auch in den anderen literarischen Intertexten vorgeschlagen -, sondern machen aus ihnen Alltagsszenen. Cela führt die Bild-Verfremdimg durch die Goya-Texte weiter, aber mit anderer Intention. Er will nicht wie Goya die politische Brisanz verschleiern, sondern die Bilder von der metaphysisch-philosophisch-politischen Aura befreien, die von den Kommentatoren und den wissenschaftlichen Interpreten in den Vordergrund gestellt wird. Dabei geht Cela allerdings nicht willkürlich vor, sondern bezieht schon vorhandene Elemente der Bilder und Texte ein. Dazu gehören u. a. die Titel, die nicht verändert werden, ebenso aber auch bestimmte Bild-Textstrategien wie die Einbeziehung bestimmter proverbialer Gemeinplätze und deren Konkretisierung. Indem er Dargestelltes beim Wort nimmt - und dabei auch die Bildtitel in Verbindung mit dem Bild als générateur benutzt -, imitiert er Goya, der mit "besonderer Vorliebe [...] Bilder oder Re-

19

Zitiert nach dem Faksimile bei Helman, Trasmundo, loe. cit., S. 48. Zit. nach Helman, Trasmundo, loc. cit., 163. Helman zitiert (ibid.) ebenfalls den Diccionario abreviado de la Academia (1780): "por la fuerza del ingenio más que por la observancia de las reglas de arte". Zum Begriff der caprichos cf. auch Lucrezia Hartmann: 'Capriccid Bild und Begriff, Dissertation an der Universität Zürich, Druckschnelldienst Nürnberg 1973, S. 7-11 über die Etymologie des Begriffs. Der Teil über Goya, S. 115-121 ist in unserem Zusammenhang jedoch nicht interessant.

67 Camilo José Cela densarten um[kehrte], [...] ihre verborgene Dialektik [aufspürte, und [...] damit erst ihren wahren Kern [enthüllte]."21

Trotz dieser methodischen Übereinstimmungen zwischen Cela und Goya entstehen neue Text-Bild-Konstrukte. Das capricho 43 nimmt in der Produktionsund Rezeptionsgeschichte eine Sonderstellung ein und soll deshalb hier als eines der beiden ausführlicheren Bild-Text-Beispiele der caprichos herangezogen werden. Die Analyse von verschiedenen Vorstudien hat ergeben, daß dieses Blatt in einer früheren Version der capricho-Rothe das Titelblatt sein sollte. Deshalb ist sein Text auch integriert in das Bild, wodurch eine besondere (Bild)-Text-(Kommentar-)Text-Bild-Beziehung entsteht. In der ersten Version trägt das Bild die Inschrift Ydioma universal, wodurch Bildlichkeit und Sprachlichkeit programmatisch verbunden werden.22 Diese mise-en-abymeFunktion für die ganze capricho-Reihe behält das Blatt auch in der späteren Ausführung mit dem Text El sueño de la razón produce monstruos, der die im Bild dargestellte Gegenüberstellung von ilustración und Unaufgeklärtheit unterstreicht. Das capricho 43 steht jedoch nicht deshalb im Mittelpunkt der kunstwissenschaftlichen Diskussion, sondern weil der Text aufgrund der beiden Bedeutungen von sueño eine doppeldeutige Bildinterpretation zuläßt und der Bedeutungshorizont dadurch erweitert wird. Es ist entweder der Traum von der Vernunft, der Monstren produziert, oder die Abwesenheit (der Schlaf) der Vernunft, der sie heraufbeschwört.23 Damit wird dieses capricho zum Schlüssel zu der Frage, wie Goya zur ilustración stand, und deshalb zu einem immer wieder diskutierten Objekt der Kunstwissenschaft.24 Die Frage nach der Position Goyas soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Doch trifft die Bemerkung Warnkes sicherlich zu, daß Goya in der zwiespältigen Lage war, von dem Re-

21

22

23

Sigrun Paas-Zeidler Goya. Radierungen, Stuttgart 1978, S. 18. Cf. dazu Christopher Soufas, loe. cit., S. 314: "The preliminary title Idioma Universal, however, is in keeping with Goya's professed goal to have his images compete with poetry in expressive power." Zu Goyas Erklärung über Wort und Bild im Diario de Madrid sagt Soufas, ibid., S. 313: "Goya's Statement is an ingenious slap against both Neoclassical representational norms and Lessing's reformist attempt in Laocoön to banish the infelicitous tendencies of this pictorial art to bring together in one subject a multitude of traits that would not normally exist together in one space and time."

Die drei Kommentare interpretieren jedoch sehr ähnlich: "P La fantasía abandonada de la razón produce monstruos imposibles: unida con ella es madre de las artes y origen de las maravillas. A La fantasía abandonada de la razón produce monstruos, y unida con ella es madre de las artes. BN Portada para esta obra: cuando los hombres no oyen el grito de la razón, todo se vuelve visiones." Zitiert nach Helman, Trasmundo, loe. cit., S. 221. Über die Doppeldeutigkeit des Begriffes äußern sich alle hier zitierten Kunstwissenschaftler, cf. insbesondere Horl, loc. cit. S. 33/34. Helman, Trasmundo, loc. cit., S. 169, weist auf die Verwandtschaft der Begriffe "capricho" und "sueño" hin: "[...] unas veces se refieren al proceso mismo y otras al producto que resulta de tal proceso. Así, 'capricho' es la fantasía que inventa y lo inventado, como 'sueño' es el estado de dormir y a la vez el suceso o las figuras que se representan en la imaginación del sujeto dormido." 24 Zur Beziehung des capricho 43 zum Diskurs der Aufklärung, aber auch zu den Intertexten dieses Blattes cf. den Beitrag von André Stoll in diesem Band.

68 Sybil Dümchen formprogramm der Aufklärung überzeugt zu sein, obwohl dieses sich auch gegen eine folkloristische Kultur und Moral wandte, denen Goya sich verbunden fühlte.25 Die Doppeldeutigkeit ist also nicht unmotiviert. Für die Art und Weise, in der Cela mit diesem capricho umgeht, ist aber allein wichtig, daß alle Kommentatoren die philosophische Dimension der Text-Bild-Beziehung betonen. Cela dagegen "konkretisiert" und banalisiert die Episode. Sein Text lautet: a SUÉÑO OE LA RA20N PRODUCE MON5TRUOS C t í i p e ( c o n c e ) Sanios Tnjueque, mientras vivió. !ue un d e c i d i d o partidario d e ios métodos racionales. - Yo no c r e o e n la lorefia nt en ia casualidad. A mi m e esoanta el desoaraiuste y eso d e andar a ¡a q u e c a i g a n o m e p a r e c e s a i u d a ö e - para las cosru mores. O r a e n y m é t o d o : am estd la sotuaón. el universo tiene •jn Ofden q u e n o sere yo quien se atreva a alterar. £i orden m a g n í f i c o d e i universo d e C e l i p e ( c o n c e ) Sanios Tríjueque hubiera sido m u e n o mas c ó m o d o y a b o r d a t f e si su p a d r e ie hubiera puesto d e n o m D r e reii pe ( c o n efe) c o m o a todo ei mundo, poraue Ceti p e (con c e ) Sanios Trijueaue -enia q u e dedicar mueno l e m p o y d e m a s i a d o s eöuerzos a explicar q u e su nombre e m p e z a b a c o n una ce. -''Y por q u e no lo c a m b i a ? Lo a u e mas (e molestaba a C e i i p e ( c o n c e ) Santos Trijueque era q u e nadie entendiera si a l c a n c e del problema. - Pues p o r a u e no. !Hay q u e ver en q u é q u e d q n a el orden det universo si todos se pusieran a cambiarse el nombren Oe existir una justicia d i v i n a , C e l i p e ( c o n c e ) Santos Tnjueque hubiera muerto d e un delirium 'remens a c e c h a d o por miles d e mochuelos q u e ¡e p i c a b a n 'os ojo» y le sorbían la razón, pero no. Celipe ( c o n c e ) Santos Tnjueque murió en una taberna, a consecuencia de un botellazo q u e ni siquiera iba aingido a el. Et orden del universo ^sigue, a veces, senderos difíciles d e comprender.

Abb. 3: Cela/Goya: Capricho 43 Oberflächlich gesehen wird hier aus einem philosophischen Diskurs eine Kneipenszene. Bei genauerer Betrachtung jedoch kann man feststellen, daß auf einer sehr konkreten Ebene philosophisch relevante Themen dargelegt werden. Celipe ist ein Rationalist, der den Zufall leugnet. Daß Cela ihn durch einen "botellazo" sterben läßt, er dabei vom Zufall auf sehr sarkastische Art und Weise bei seinem Tod eingeholt wird, und ihm nicht mythen-trächtig die Augen ausgestochen werden, soll zeigen, daß der Rationalismus einen Teil des Lebens nicht erklären kann. Cela trägt hier im Sinn Goyas der doppelten Bedeutung von sueño Rechnung: Der Traum von der Aufklärung kann zum Alptraum werden, wenn das reale menschliche Leben in der philosophischen Diskussion 25

26

Warnke, loc., cit., S. 12. Cf. auch Francis Klingender: Goya in the Democratic Tradition, in: Fred Licht (ed.): Goya in Perspective, New Jersey 1973, S. 36-70. Cf. auch Klingendere Buch unter demselben Titel, London 1968. Camilo José Cela: Los Caprichos de Francisco de GqyayLucientes, SILEX 1989, S. 98.

69 Camilo José Cela außer acht gelassen wird. Die Konkretisierung philosophischer Probleme führt Cela auch sehr ironisch mit dem Namen Celipe durch. Die Unmöglichkeit der Namensänderung thematisiert die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft und die Herrschaft etablierter Ordnungen. Cela vertextet also Goyas Intentionen und die seiner Kommentatoren durchaus, jedoch so, daß die Verbindung von Philosophie und Leben mit narrativer Leichtigkeit und auf sehr ironische Weise wiederhergestellt wird.

Das zweite Beispiel, das hier zitiert werden soll, ist das capricho 75, das den Titel trägt: ¿No hay quién nos desate? Obwohl dieses Blatt nicht einen so deutlichen philosophischen Hintergrund hat wie das vorige Beispiel, stellen die Interpreten einen offensichtlichen Zeitbezug in den Vordergrund: die Diskussion der Aufklärung um die Ehepraxis.27 Der Kommentar von Goya spricht auch von "dos casados por fuerza"28 Hier der Text von Cela:

- NO HAY QUIEN NOS DESATE

- ''Os acorde:* c e como se íamaDa ei novio d e a jeocadita. ¡a det enterrador? EJ difunto novo de a Leocadita se ilamó, mientras anauvo soore sus dos enes, ¡te-rtjamtn Gutiérrez Cruz,- mas atoe, cuando se echó ya para siempre, dejó de lomarse de ninguna manera poraue nadie, •Dsoiuramenre nadie, e üamaDa. - y de hao.>rto ticmaao alguien, ''aue? - 3 ues naaa.- ae na Den o llamado alguien hubiera aado ¡ o mismo. Seniamin Gutiérrez Cruzfue (ue en vida un mozo apasionado y venemenre, que no 'oleraba ef que a •arrmia de :a Leocodira .a de< enterrador se opusiera a sus amores. - 5¡no transigen, va a ser peor para rodos porque m e amarro a ti y que sea 10 que Oíos quiera. Cuanao 3enjamin Gutiérrez Ouz se amarró a a _eocadita, su paare y sus hermanos, aue eran unas •nulas de vara de mueno cuidado, "e atizaron una •remenaa paliza di Seniamin y los dejaron asi, como dos perros enguiiados, roda una noche en & monte, ta cosa debió car resultado porque, una vez que se vio suelto, 3eniamm Gutiérrez Cruz sanó d e estampida y no paró ias?a cruzar ei océano. Dicen que murió devorado por os tiburones en ei .mar de Gracias q Dios, cerca a e la costa de ios Mosqytros,- sea como fuere, ya nadie haoia de el para naaa.

Abb. 4: Cela/Goya: Capricho 75

cr. Soufa, loe. cit., S. 325. "P Un hombre y una mujer atados con sogas y forcejeando por soltarse y gritando que los desaten á toda prisa? O yo me equivoco, ó son dos casados por fuerza. A Dos casados por fuerza ó dos amancebados. BN Dos jobenes amancebados en vano intentan desatarse por sí mismos: mas nudos se dan." Zitiert nach Helman, Trasmundo, loe. cit., S. 228. 28 Camilo José Cela: Los Caprichos, loe. cit., S. 162.

27 28

70 Sybil Dümchen Auch hier handelt es sich wieder um eine Narrativisierung und eine Konkretisierimg. Es geht nicht um die abstrakte Diskussion sozialer Probleme, sondern um einen konkreten Fall. Cela dreht den Kommentar über die Zwangsvermählten jedoch um. Seine Figuren wollten zusammenkommen und werden daran gehindert. Das ist natürlich auch die andere Seite der gesellschaftlichen Praxis, die - wenn sie ungewünschte Ehen erzwang - gewollte Verbindungen unterband. Indem Cela aber diese Umkehrung durchführt, benutzt er ein Verfahren Goyas in den anderen caprichos und stiftet mit dem erkenntnistheoretischen Prinzip der Dialektik zwischen seiner sprachlichen Ebene lind Goyas Bildmechanismen Kohärenz. Werner Hofmann unterstreicht, daß Goya bei vielen Blättern das Prinzip des Umschlagens einer Sache in ihr Gegenteil in Szene setzt und dabei besonders auf die Dialektik von Täter und Opfer zurückgreift.30 Hofmann zeigt dies - auch unter Einbeziehung der Kommentare, die sich z. T. untereinander widersprechen oder die Dialektik selbst nennen u.a. am capricho 72, bei dem der Titel No te escaparás suggeriert, daß das abgebildete Mädchen gegen ihren Willen festgehalten werden soll, ihre Pose und ihre Gesichtszüge aber zu erkennen geben, daß sie kein Opfer ist, sondern die Situation provoziert und Gefallen daran findet. Auch beim capricho 8 - Que se la llevaron - handelt es sich vielleicht nicht tun eine Vergewaltigung, sondern um eine von der Frau arrangierte Entführung, da sie ihren Überwältiger umklammert. Der Kommentar aus der Biblioteca Nacional führt dies auch aus.31 Der Text Celas zum capricho 72 inszeniert also die Struktur der Umkehrung der anderen Blätter: hier werden Täter zu Opfern. Diese Beispiele mögen als Belege für die Bild-Text-Konstruktionen Celas anhand der caprichos genügen. Es ist wohl deutlich geworden, daß Cela die vorhandenen Bild-Text-Verbindungen als Material benutzt und mit seinen Texten zu neuen Einheiten verbindet, und daß er darüber hinaus philosophische und ästhetische Prinzipien der caprichos und ihrer Rezeption in seine eigene Produktion integriert. Seine Texte sind tatsächliche "Intertexte", da sie homolog zu den Bild-Text-cc/7/fc/ioí von Goya funktionieren. So arbeitet Cela z.B. auch mit dem vorgefertigten Material der caprichos auf dieselbe Art, wie Goya mit Redensarten, Gemeinplätzen und Emblemen. Es ist sicherlich noch interessant, abschließend die Frage zu stellen, warum Cela sich mit Goya beschäftigt. Dabei ist die Tatsache von Bedeutung, daß (wie Horl ausführt32) Goya im Verlauf der Rezeption seiner Werke zur Verkörpe30

Werner Hofmann, loc. cit., Goyas negative Morphologie, in: Werner Hofmann/Edith Helman/ Martin Warnke, loc. cit., insbesondere S. 41-52 über die Dialektik Täter - Opfer. Helmann verweist auch noch in diesem Zusammenhang auf seinen Beitrag in dem Hamburger Katalog der Goya-Austellung von 1980/81, S. 62sqq. Zur Bedeutung der Dialektik von Begriffen (u.a. offen/geschlossen, Vernunft/Phantasie, männlich/weiblich) cf. Soufa, loc. cit., besonders S. 320. 31 Ibid., S. 47. Der Kommentar zitiert nach Helman, Trasmundo, loc. cit., S. 215: "BN Un Eclesiástico que tiene un amor ilícito, busca un gañán que le ayuda al rapto de su querida." 32 Horl, loc. cit., S. 36 und 44.

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rung des "spanischen Wesens" und zur Inkarnation der Freiheit geworden ist, wodurch auch ein Teil der literarischen Verarbeitung erklärbar wird. Cela bezieht sich auch auf diesen Mythos, der nicht nur die Frage nach dem spanischen Charakter umfaßt, sondern auch die Problematik der Beziehung von Individuum und Gesellschaft. Cela beschäftigt sich in seinen Texten mit diesen Themen und entwickelt seine Positionen ebenso wie Goya mit Material, das eng verbunden ist mit costumbristischen Elementen aus dem "dunklen" Spanien, das beschrieben wird ohne die Verpflichtung zu einem normativen Schönheitsideal, und in dem Gewalt, Vorurteile, Aberglaube und Unwissenheit herrschen, wodurch aber auch kraftvolle Imagination freigesetzt werden kann. Unübersehbar ist daher die Beziehimg zum tremendismo, wie er sich z. B. in Celas La Familia de Pascual Duarte, dessen Protagonist ebenfalls zu einem spanischen Mythos wurde, manifestiert und die diesbezügliche Verwandtschaft zwischen den Werken Goyas und Celas. Auch in La Familia de Pascual Duarte geht es "goyesk" um die Identität von Opfer und Täter,33 und wie bei Goya werden soziale Mißstände durch anatomische (psychische) Mißbildungen veranschaulicht.34 Viele Texte Celas und Arbeiten Goyas weisen auch noch eine andere Gemeinsamkeit auf: existentielle Fragen der Erkenntnis und das Prinzip der Dialektik der Gegensätze werden exemplarisch an der Beziehung Mann-Frau aufgezeigt. Das capricho 72 wird dadurch auch zur mise-en-abyme für die grundlegenden Themen der caprichos und der Vertextungstechniken Celas. Zusammenfassend kann sicher davon ausgegangen werden, daß die Beschäftigung Celas mit Goyas caprichos sich auf ästhetische Übereinstimmungen im Werk beider Künstler zurückführen läßt, was Cela den "Zugriff' auf die Bild-Texte Goyas erleichert haben dürfte. III. Die Bild-Text-Relationen in dem dritten Text, der hier vorgestellt werden soll La insólita y gloriosa hazaña del Cipote de Archidona35 - unterscheiden sich von den bisher genannten. Générateur für den Text ist ein fait divers, der sich nach Auskunft des Klappentextes in Málaga 1971 ereignet hat. Cela veröffentlicht in diesem Buch einen Briefwechsel mit Alfonso Canales, sowie andere Briefe, Sonette, ein Gerichtsurteil und Zeichnungen als "graphische Dokumente". Der Vorfall, der in Text und Bild als Heldentat und Ausdruck spanischer Größe sehr ironisch dargestellt wird, ist folgender: Ein junger Mann verursacht während einer Flamenco-Vorführung in einem Kino einen Skandal, weil er sich im Dunkeln vor seiner Begleiterin entblößt und die anderen Besucher durch seine "Männlichkeit" belästigt werden. Die beiden werden verhaftet, die Leute for33

34 35

Cf. dazu auch ibid., S. 42. Cf. dazu bezüglich Goya auch Hofman, loc. cit., S. 54. La insólita y gloriosa hazaña del Cipote de Archidona, Barcelona e1989, (1. Ed. 1977). Camilo José Cela und Alfonso Canales fungieren hier als "Herausgeber". Die Fiktionalität einiger D o kumente ist evident.

72 Sybil Dümchen dem Schadensersatz, und es kommt zu einer Verurteilung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Vom Thema her paßt dieser Vorfall ganz in das Panorama von Celas Werken, die ja immer wieder sehr detailliert-groteske Beschreibungen von Sexualität zum Gegenstand haben. Wie in den anderen Werken umfaßt diese Beschreibimg sowohl costumbristische als auch gesellschaftskritische Aspekte. Dieses von der Justiz verurteilte Ereignis kommt in die öffentliche Diskussion, in deren Verlauf der Protagonist mit Sonetten verherrlicht wird. Das ist natürlich auch ein Paradigma für die Gegensätzlichkeit der offiziellen und nicht-offiziellen Diskurse des Spaniens dieser Zeit. Das offiziell Verbotene findet inoffiziell Anerkennung. Die Tabu-durchbrechende Kraft dieses Textes wird nun komplementiert durch die graphischen Dokumente. Dabei handelt es sich angeblich um eine Zeichnung eines Arztes, der vorgibt, diese nach den Beschreibungen Celas in der Enciclopedia del erotismo angefertigt zu haben. Diese Zeichnung des Arztes ist als Faltblatt (von 45cm Länge) dem Büchlein beigefügt. Ihr stellt der Arzt zwei weitere gegenüber, die demselben Gegenstand gewidmet, aber sozusagen den spanischen "Durchschnittsnormen" angepaßt sind. Die Illustrationen und die Texte folgen also denselben Intentionen, d. h. der ironischen Durchbrechimg von Tabus.

Abb. 5: Cela: La insólita y gloriosa hazaña del Cipote de Archidona Hier entstehen im Gegensatz zu den anderen Beispielen Bilder aus Texten. Es ist allerdings das einzige Mal, daß Cela mit nicht-künstlerischem Bildmaterial gearbeitet hat.

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IV. Der vierte Aspekt der hier behandelten Bild-Text-Relationen ist die Funktion von Beschreibungen von Photographien in Texten von Cela. Der erste Text, der in diesem Zusammenhang genannt werden soll, ist Pabellón de reposo aus dem Jahr 1944. In ihm werden die Geschichten der Patienten eines Lungensanatoriums erzählt. Die Patienten, die keine Namen haben und nur mit ihrer Zimmernummer bezeichnet werden, sind in doppelter Hinsicht isoliert: räumlich und zeitlich. Sie befinden sich fernab von der Stadt, von ihren Freunden, von ihrer Arbeit. Für sie gibt es auch keine lineare Zeit mehr. Die Gegenwart, die sie leben, ist gleichförmig. Ihr einziger Trost ist die Erinnerung an die glückliche Zeit der Vergangenheit, und ihre einzige Perspektive für die Zukunft ist der Tod. Die Photographie mit den ihr inhärenten Qualitäten paßt nicht nur zu diesen Themen, sondern ist für sie auch ein geeignetes Ausdrucksmittel. Ohne daß hier auf philosophische und ästhetische Merkmale der Photographie eingegangen wird, soll doch daran erinnert werden, daß sie sowohl zeit- als auch raumauflösend ist: Sie bringt die Vergangenheit in die Gegenwart und überbrückt Entfernungen. Sie ist ebenfalls eng verbunden mit dem Begriff des Todes, sie symbolisiert Erstarrimg, fixiert (sieht man von den Bewegungsstudien im Sinne Mareys einmal ab) in alle Ewigkeit einen einzelnen Moment und stellt als Einzelphotographie keine Entwicklung dar. In den Texten von Cela ist die Photographie funktional eingesetzt. In Pabellón de reposo ist eine der Patientinnen eine Frau, deren einziger Bezug zur Außenwelt, zur Vergangenheit, zum Glück durch eine Photographie ihres Verlobten repräsentiert wird: "Cuando se mete en la cama, después de cenar, coge entre las manos la fotografía del novio - un novio que sonríe, apoyado, indiferente al peligro, en la barandilla de un furioso rompeolas - y la aprieta contra su pecho hasta que el llanto la invade, un llanto convulsivo que acabará con ella".36 Als sie anfängt, für einen Mitpatienten, der ebenso dem Tod geweiht ist wie sie selbst, Gefühle zu entwickeln und mit ihm in ihrem Zimmer sitzt, stört die Photographie als Repräsentant einer viel reicheren Vergangenheit. Sie sagt: "Prefiero no tener testigos; demosle la vuelta a la fotografía. Y la fotografía de mi pobre amigo, a quien tanto quiero, de mi pobre y lejano novio; la fotografía, con su fondo de mar embavecido, quedaba, a lo mejor, horas y horas, de cara a la pared."37 In demselben Text gibt es einen Einschub des Autors, einen fiktiven Brief eines gewissen W. L., der vorgibt, ein tuberkuloser Freund von Camilo José Cela zu Oú

O

Camilo José Cela: Pabellón de reposo, Barcelona 1989 (1. Ed. 1944), S. 33. 37

Ibid., S. 37.

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sein. In ihm wird die Thematik der Photographie und des Vergehens der Zeit aufgenommen. Dabei stellt der Briefeschreiber zwei Photographien gegenüber. Eine von Cela, die er von Celas Tante erhalten habe: "... me enseñó una fotografía tuya, de militar, recién acabada vuestra guerra, con las insignias de tu arma en la solapa y las condecoraciones que te dió el Gobierno, colocadas sobre tu pecho. He mandado hacer una reproducción y la he puesto en un marco, apoyada en unos libros, sobre mi mesa de escribir. La miro con frecuencia, y el mirarla me trae a la memoria lejanos recuerdos de tiempos ya pasados y más felices. Eres de los hombres que menos han cambiado con los años."38 Hier scheint das Glück der Vergangenheit zum Moment erstarrt, eingefangen und in der Zeit verlängert. Dem stellt er sein eigenes Abbild gegenüber. Ihn hätte die Zeit nicht wie Cela verschont, und das Zeugnis zeige Verfall. Diesen funktionellen Einsatz der Photographiebeschreibung zur Darstellung von Verfall, Tod, Zeitablauf könnte man an noch vielen anderen Texten Celas nachweisen, z. B. an Mazurca para dos muertos aus dem Jahre 1983, einem Text, mit dem der vorliegende Essay geschlossen werden soll. An ihm kann gezeigt werden, daß sich grundsätzlich die Funktion der Photographiebeschreibungen im Werk von Cela auch nach 40 Jahren erhalten hat. Sieht man von der Evozierung von fremden Orten und großen räumlichen Distanzen ab,38 so steht auch hier die Vergänglichkeit und der Tod im Mittelpunkt. Der Erzähler spricht von einer Frau, die er kennt und die zum Erzählzeitpunkt nicht mehr jung ist: "Doña Pura Garrote, la Parrocha, se envuelve en un mantón de Manila durante las tormentas ... El mantón de la Parrocha es muy famoso, cuando doña Pura era joven se hizo lo menos veinte fotos de arte desnuda y con el mantón puesto; con una teta al aire y un florero, con las dos tetas fuera y ante un telón representando a los pirámides de Egipto ... etc., se las hacían en Studios Méndez, en la calle de Lamas de Carvajal, y a Méndez, que era el dueño le pagaba en especie, ¡qué horror, cuanto tiempo ha pasado!"40 Hier wird das Thema der zerrinnenden Zeit direkt genannt, und es sind die Photographien, die erzähltechnisch bewerkstellen, daß über diese Vergangenheit geredet werden kann. Und auch in diesem Text wird die Photographie mit dem Tod assoziiert, jedoch auf dialektische Weise. So, wie sie Lebendes erstarren läßt, also in gewissem Sinne tötet, kann sie Totes teilweise am Leben halten, aber nur zum Schein. Es heißt:"... Xabarín encargó para el sepulcro de su difunta una lápida de mármol 38 39

40

Ibid., S. 191-192.

17

Camilo José Cela: Mazurca para dos muertos, Barcelona 1990 (1. Ed. 1983), S. 124: "... el abuelo se apertó al Brasil y se hizo una fotografía que pone por detrás: F. Villela, Photographo de A Casa Imperial do Brazil,... en la foto está muy bien, va de bigote, corbata de lazo y bastón, y se apoya en el respaldo de una silla de elegancia, también lleva los pantalones algo arrugados,...'1 Ibid., S. 91-92.

75 Camilo José Cela blanco en la que mandó grabar el siguiente epitafio: Porque te llamabas María, nombre de la madre de Dios, siempre me arrepentiré de no haberte hecho fotografiar."41

Auch wenn natürlich die Bild-Text-Relationen im Werk von Camilo José Cela vielfältiger sind, als an diesen vier Beispielen gezeigt werden konnte, ist an ihnen vielleicht deutlich geworden, wie komplex und wie wichtig sie für das Gesamtwerk Celas sind.

41

Ibid., S. 213.

Octavio Paz, Topoemas Klaus Meyer-Minnemann (Hamburg) Im Jahre 1968 veröffentlicht Octavio Paz ein schmales Opus mit dem Titel Topoemas, das aus sechs visuellen Gedichten besteht.1 Das Werk wird 1971 als separate lose Blattsammlung neu aufgelegt und acht Jahre später in die Ausgabe der Poemas (1935-1975) von Octavio Paz übernommen.2 Ich beziehe mich in der folgenden Untersuchung auf diese Edition der Topoemas, die am leichtesten zugänglich ist und auch die Kommentare einbezieht, die Paz seinen visuellen Gedichten beigegeben hat. Zu dem Titel Topoemas merkt Paz an: 'Topoema = topos + poemas. Poesía espacial, por oposición a la poesia temporal, discursiva. Recurso contra el discurso".3 /

Wie der Kommentar zeigt, ist der Titel Programm. Gr. T« «o^ bedeutet in dem hier angesprochenen Sinne "Ort", "Stellung". Ein topoema ist mithin ein Gedicht, in dem der "Ort", die "Stellung" der Wörter Bedeutimg erlangt. Damit ist nicht die durch die jeweilige Syntax einer Sprache geregelte Wortstellung gemeint, sondern eine davon unabhängige Anordnung der verwendeten Lexeme als Buchstabenfolge auf der Druckfläche. Diese Anordnung, die auch ikonisch sein kann, ist der Absicht nach semantisch und soll vom Leser/Betrachter durch seinen Akt der Lektüre und des Sehens mit Bedeutung ausgestattet werden. Die sechs visuellen Gedichte der Topoemas tragen die Überschriften: "Palma del viajero"; "Parábola del movimiento"; "Nagarjuna"; "Ideograma de libertad"; "Monumento reversible"; "Cifra". Sie sind in dieser Reihenfolge Marie José [Paz]; Julio und Aurora [Cortázar]; Ramón und Ana [Xirau]; Charles und Brenda [Tomlinson]; Antonio und Margarita [González de León] sowie Carlos und Rita [Fuentes] gewidmet.4 Im weiteren erläutert Paz: Además, en su conjunto, estos topoemas son un homenaje implícito (ahora explícito) a antiguos y nuevos maestros de poesía: a José Juan Tablada; a Matsúo Basho y a sus discípulos y sucesores (y a R.H. Blyth, por los cuatro volúmenes de su Haiku y a Donald Keene, que me abrió las puertas de la poesía japonesa); a los poetas y calígrafos chinos (y a Arthur Waley, por sus Chinese Poems, The Book of Songs, The lite and times ofPo-Chü-l, The poetry and the career of LJ-Po, y tantas otras traducciones), a Apollinaire, Arp y cummings; y a Haroldo de Campos y el grupo de jóvenes poetas brasileños de Noigandres e Inven$3