Paare in Kunst und Wissenschaft [1 ed.] 9783412519506, 9783412519483

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Paare in Kunst und Wissenschaft [1 ed.]
 9783412519506, 9783412519483

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Melanie Unseld, Christine Fornoff-Petrowski (Hg.)

PAARE IN KUNST UND WISSENSCHAFT

MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Dorle Dracklé Florian Heesch Dagmar von Hoff Nina Noeske Carolin Stahrenberg

Band 18

Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissenschaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu­rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.

PA A R E I N K U N S T U N D WISSENSCHAFT herausgegeben von Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Das Forschungsprojekt »Paare und Partnerschaftskonzepte in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts« wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Die Publikation des vorliegenden Bandes wurde ermöglicht durch die Mariann Steegmann Foundation und das Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung en : Alfred Le Petit, Karikatur von Adelina Patti, in: Les Contemporains. Journal Hebdomadaire, Nr. 20 [um 1880] (Privatbesitz) Alphonse Daudet, Künstler-Ehen. Pariser Skizzen, Deutsch von Adolf Gerstmann, Leipzig [o. J.], Titelblatt (Privatbesitz) Theodor Leschetizky (Hg.), Stücke aus dem Repertoire Essipoff-Leschetizky, Leipzig [o. J.], Titelblatt (Privatbesitz) Doppelporträt von Eugen und Hermine d’Albert (1902), gemeinfrei auf Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Eugen_und_Hermine_d%27Albert.jpg#filelinks) Edvard und Nina Grieg, Fotograf: Anders Beer Wilse, 1906, gemeinfrei auf flickr. Quelle: Bergen Public Library – the Grieg Collection (http://www.bergen.folkebibl.no/arkiv/grieg/fotografi/stor_ nina_edvard_paris_1903_ca.jpg.0) Ernst Ludwig und Elsa Laura von Wolzogens Eheliches Andichtbüchlein, Berlin 1903, Titelblatt/ Illustration: Johannes Martini (Privatbesitz) Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51950-6

Inhalt

Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld Paare in Kunst und Wissenschaft. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Schreiben über Paare Beatrix Borchard Eine Frage der Schreibperspektiven. Paare – Familien – Einzelne . . . . . . 19 Christine Fischer Stimmen der Revolution. Giuseppina Strepponi und Giuseppe Verdi als Paar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Henrike Rost »His was a privileged position, she held …« – Zur Paarbeziehung von Ignaz und Charlotte Moscheles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Hannah Gerlach »Goethe cause içi un grand bouleversement«. Paarkonzepte und Diskursreflexion in Charlotte von Steins Lustspiel Neues FreiheitsSystem oder die Verschwörung gegen die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Schreiben als Paar Vera Viehöver Diario a due mani. Überlegungen zum Paartagebuch als Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Li Gerhalter »Bekannten Gesichtern wird bis auf 3 Meter Entfernung zugelacht.« Arbeitspaare und Elterntagebücher in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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Inhalt

Thilo Neidhöfer Vom Nutzen und Nachteil der Ehe für das A ­ nthropologinnenleben. Ehe und Feldforschung bei Margaret Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Christine Fornoff-Petrowski Tagebuchschreiben im Duett. Selbstbildung und Selbstdarstellung in den Ehetagebüchern des ­Musikerpaares Hermine und Eugen d’Albert . . . . . . 147 Selbst | Inszenierungen Anja Zimmermann Bilder von Paaren. Der Fall Krasner/Pollock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Anna Langenbruch »Wir spielten im Leben Komödie und waren Menschen nur auf der Bühne«: Kunst und Leben in Inszenierungen eines Musiker-Paares . . . . . 185 Christine Fornoff-Petrowski Anerkennung oder Verurteilung als Künstlerehepaar? Eine Spurensuche rund um Eugen d’Alberts Liederzyklus Lieder der Liebe op. 13 . . . . . . . . . 201 (Link zur Aufnahme: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/paare-inkunst-und-wissenschaft)

Konstellationen, Familien, Netzwerke Sigrid Nieberle Geschliffene Biographeme. Paarkonstellationen im autobiographischen Musikerinnennachlass am Beispiel von Margarethe Quidde und Aline Valangin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Jenny Schrödl 2 + 1. Zur Figur des Dritten in Paarkonstellationen der Performancekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Carola Bebermeier und Katharina Prager Paarkonstruktionen, Familienkonstellationen und ­Netzwerke um Salka und Berthold Viertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Inhalt

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Annkatrin Babbe Geigenausbildung als »Familiensache«: Josef Hellmesberger d. Ä. als Geigenlehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Melanie Unseld Familien-Netzwerke und musikalische ­W issensproduktion. Die Familien Kiesewetter und Ambros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld

Paare in Kunst und Wissenschaft Zur Einleitung

Das Ehepaar Castleman, das zur Verleihung des Nobelpreises nach Stockholm fährt, hat ein Leben in Zweisamkeit und erfolgreicher Arbeitsteilung hinter sich: Joan Castleman schrieb jene Bücher, für die Joe Castleman nun den Literaturnobelpreis erhält – ihre Bücher wurden mit seinem Namen Bestseller und Preis gekrönt. Dass sich diese Arbeitsteilung als erfolgreich erweist, ist für Joe keine Frage: Die Gesellschaft will es so. Er auch. In Stockholm, rund um die Verleihung des Nobelpreises, kommen allerdings Joes Sicherheiten ins Wanken und dies ist der dramaturgische Drehmoment des Spielfilms The Wife,1 der 2017 in die Kinos kam. – Die Geschichte des Ehepaars Castleman: bloße Fiktion? The Wife erzählt von einer Konstellation, die in vielen Details an Lebenskonstellationen realer Paare in Kunst und Wissenschaft erinnert. Damit ist nicht zuvörderst die Camouflage der tatsächlichen Autorschaft gemeint, sondern vor allem die Frage, wie Partnerschaft und Schreiben, künstlerisches Handeln, Forschen etc. gelingen können oder auch, woran diese Konstellationen scheitern: Wer kann in welcher Form Kreativität in der Partnerschaft leben? (Wie) lassen sich der Alltag als Paar und Kreativität verbinden? Können beide für sich erfolgreich sein, oder beide als Paar oder nur eine/r? Wie geht die Gesellschaft mit dem (Miss-)Erfolg des Paares um? Diese Fragen sind nicht neu, der Spielfilm The Wife aktualisiert, was zumindest seit dem 18. Jahrhundert ungezählte Male real erlebt oder in fiktionaler Form diskutiert wurde. Denn Paare faszinieren: in ihrem gemeinsamen Tun, in ihrem Erfolg und in ihrem Scheitern. So ist bis heute künstlerisch und/oder wissenschaftlich tätigen Paaren die öffentliche Aufmerksamkeit gewiss – von Faustina Bordoni und Johann Adolph Hasse, über Robert und Clara Schumann bis John Lennon und Yoko Ono, von Lee Miller und Man Ray bis Christo und Jeanne-Claude, Marina Abramović und Ulay, von Paul Sartre und Simone de Beauvoir bis Marie und Pierre Curie.2 1

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The Wife (dt. Verleihtitel: Die Frau des Nobelpreisträgers), schwedisch-US-amerikanischer Film, Regie: Björn Runge, Drehbuch: Jane Anderson nach dem gleichnamigen Roman von Meg Wolitzer, mit Glenn Close und Jonathan Pryce. Erscheinungsjahr: 2017 (Eintrag in der IMDb: https://www. imdb.com/title/tt3750872/, abgerufen am: 15. September 2020). Vgl. u. a. die von dem Sender Arte produzierte Dokumentar-Mini-Serie Liebe am Werk, die sich in zwei Staffeln neun Künstlerpaaren widmet: L’amour à l’œuvre. Couples mythiques d’artiste, Regie

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Und selbst in jüngerer Vergangenheit reißt das Interesse an Paaren nicht ab: Über die Opernsängerin Anna Netrebko wird häufig auch in ihrer Rolle als Ehefrau von Yusif Eyvasov und als in Alltagsdingen notorisch unsortierte Diva3 ­berichtet. Und noch ein Jahr nach der Trennung des ›Schlager-Traumpaares‹ Helene Fischer und Florian Silbereisen verging kaum eine Woche ohne Schlagzeilen über das Ex-Paar in der Boulevardpresse. Immer wieder wurden und werden Paare aus Kunst und Wissenschaft Gegenstand öffentlicher Aushandlung. Über sie wird in Journalen berichtet, sie sind Gegenstand von Erzählungen, Home-Stories und Klatsch-Nachrichten, über sie wird diskutiert und spekuliert. Öffentlich wurde und wird verhandelt, was eine ideale Wissenschafts- oder Künstlerehe ausmache, wie das kreative Verhältnis zwischen Ehepartnern beschaffen sein solle. Hierbei kommen Narrative zum Tragen, die in The Wife die gezeigte Selbstdarstellung wie Außenwahrnehmung des fiktiven Schriftsteller-Paares Castleman ebenso prägen, wie den realen Aushandlungsprozess von Künstlerehen wie die zwischen Alma Schindler und Gustav Mahler, zwischen Clara Wieck und Robert Schumann oder zwischen Hermine Finck und Eugen d’Albert – um nur wenige exemplarisch zu nennen: Es geht um das Erzählen und die (Selbst)Imagination als Genie und seiner Muse, als schaffender Künstler und der nachschaffenden Gattin, als ›ideale‹ Künstlerehefrau und dem vom ›Ehekreuz‹ befreiten Künstlerehemann.4 Dass sich Erzählmuster dieser Art, die sich insbesondere aus dem Genie- und EheDiskurs des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, für Journale, Celebrity-Presse und populäre Medien eigne(te)n, mag nicht erstaunen. Die besondere BeharrStaffel 1: Delphine Deloget, Erscheinungsjahr 2018; Regie Staffel 2: Stéphanie Colaux, Erscheinungsjahr 2019 (Eintrag in der IMDb: https://www.imdb.com/title/tt10179368/), Ausstrahlung bei Arte Deutschland 2019 und 2020; John & Yoko: Above Us Only Sky (dt. Verleihtitel: »John und Yoko«: Idol mit feinen Rissen), Dokumentarfilm, Regie: Michael Epstein, Drehbuch: Joss Crowly, Erscheinungsjahr: 2018 (Eintrag in der IMDb: https://www.imdb.com/title/tt8965432/, abgerufen am: 21. September 2020); Lauren Redniss, Radioactiv. Marie & Pierre Curie. A Tale of Love and Fallout, New York 2011; Veronika Beci, Robert und Clara Schumann. Musik und Leidenschaft, Düsseldorf 2006. 3 »Dressed in black leggings and long, layered tank tops, Anna Netrebko was bouncing around her apartment, a sheepskin boot on one foot while her other remained bare. ›Has anybody seen my other shoe?‹, she asked loudly […]«. ( Juliet Chung: »A Diva’s Domain. Anna Netrebko settles into a ›grown-up‹ apartment in New York«, in: The Wall Street Journal, 26. März 2010 (online: https:// www.wsj.com/articles/SB10001424052748703734504575125992221920162, abgerufen am: 20. September 2020). 4 Aus der Vielzahl an Beispielen solcher Darstellungen vgl. u. a. Caroline Bernard, Die Muse von Wien: Roman, Berlin 2018; Christoph Nettersheim, »›Sind Sie auch Musiker?‹ Robert und Clara Schumann«, in: Ders.: Berühmte Paare der Weltgeschichte. 50 liebevolle Episoden, München 2012, S. 104– 107; John Ray-Atkinson [Hans Arnold], 6 Frauen um Eugen d’Albert. Genie und Leidenschaft. Ein Leben für die Liebe, Berlin 1959.

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lichkeit aber erweist sich dort, wo Biographien, Geschichtsschreibung und wissenschaftliche Darstellungen mit eben diesen Narrativen – sichtbar oder invisibilisiert – weiterarbeiten. Auch hier dominieren mit erstaunlicher Beharrungskraft klischierte, zumeist heteronorme Bilder, insbesondere das vom Künstler und seiner Muse, oder der Dreiklang von ›Liebe, Kunst und Leidenschaft‹.5 Was aber steht hinter diesen beharrungskräftigen Bildern und (Selbst)Inszenierungen? Die Arbeits- und Lebensrealitäten von Paaren in Kunst und Wissenschaft sind geprägt von individuellen Formen der Aushandlung partnerschaftlicher Produktionsbedingungen.6 Hierbei spielen nicht nur geschlechterbezogene, professionelle Handlungsspielräume eine wichtige Rolle, sondern auch zeitgenössische Subjektkulturen sowie Vorstellungen von Ehe, von (auch gleichgeschlechtlicher) Partnerschaft, von Künstlertum und/oder vom jeweiligen Wissenschaftsverständnis. Paare agieren innerhalb der zeitgenössischen Vorstellung des Paar-Seins und müssen doch individuell-partnerschaftlich ein eigenes Modell schaffen und – entlang der Karriere(n) – weiterentwickeln. Damit sind die Fallstricke skizziert, die offenliegen, befasst man sich wissenschaftlich mit dem Thema »Paare in Kunst und Wissenschaft«: Die starken ­Narrative sind ebenso langlebig, populär wie klischiert, sodass sie selbst in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit (einzelnen) Paaren unkritisch aufscheinen. Die dahinterliegenden Diskurse hingegen werden selten thematisiert und erscheinen dann als naturalisierende Matrix hinter der Darstellung von Paaren. Dass auch die Selbstdarstellung von Paaren – bis hin zu Egodokumenten wie etwa Ehe-Tagebüchern – von Vorstellungen des Genie-Muse-Diskurses durchzogen ist, verweist darauf, dass auch konkrete Lebens- und Arbeitsrealitäten vor dem Hintergrund dieser Diskurse ausgehandelt werden mussten – nicht selten mit starken Friktionen dort, wo Widersprüche zwischen Ideal und künstlerischem und/oder wissenschaftlichem Alltag zu überbrücken waren. Der vorliegende Band widmet sich daher Paaren in Kunst und Wissenschaft vor dem Hintergrund einer kritischen Reflexion über die Konstruktion von PaarVorstellungen und deren Wechselverhältnis zu Arbeits- und Lebensrealitäten 5 Vgl. u. a. Peter Braun und Eva Wagner (Hg.), Von der Muse geküsst. Starke Frauen hinter großen Künstlern, Cadolzburg 2011; Ulrike Halbe-Bauer und Brigitta Neumeister-Taroni, Er, ich & die Kunst. Die Frauen der Künstler, Stuttgart 2010; Geoffrey Skelton, Richard und Cosima Wagner. Biographie einer Ehe, München 1995. 6 Exemplarisch: Beatrix Borchard, Stimme und Geige. Amalie und Joseph Joachim. Biographie und Interpretationsgeschichte, Wien, Köln und Weimar 2005; Dies., Clara Wieck und Robert Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kassel ²1992.

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von Paaren:7 Wie wurden Paarideale und Partnerschaftskonzepte diskutiert? Welche Perspektiven ermöglichen eine differenzierte Sichtweise auf Lebensrealität, Handlungsspielräume und die öffentliche Repräsentation von Paaren? Wie wird über Paare geschrieben und welche Vorstellungen von Paar und Partnerschaft werden dabei sichtbar? Welche Medien nutzten Paare (insbesondere in den Künsten), um sich öffentlich zu präsentieren? Welche Einsichten sind möglich, wenn Paare Gegenstand künstlerischer Aushandlung sind? Und schließlich auch: In welcher Relation stehen Paare zueinander, zu familialen oder professionellen Netzwerken? Denn Kunst- und Wissenschaftspaare standen selten isoliert, häufiger waren sie eingebunden in professionelle und familiale, weit verzweigte und mehrgenerationelle Netzwerke. Der Band bündelt diese Fragen nicht zuletzt vor dem Hintergrund des mehrjährigen Forschungsprojekts »Paare und Partnerschaftskonzepte in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts«.8 Dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte, musikwissenschaftliche Projekt, das seine Arbeit 2015 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg begann und seit 2016 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – mdw weitergeführt wurde, initiierte 2018 eingedenk nicht nur der historischen, sondern vor allem der professionellen Breite des Phänomens »Paare« ein interdisziplinäres AbschlussSymposium. Konkretes Anliegen war dabei, Vorstellungen des Paar-Seins in den verschiedenen künstlerischen Disziplinen (Musik, Theater, Kunst, Performance, Literatur) wie in Sozial- und Geschichtswissenschaften vergleichend zu ­betrachten. Dementsprechend kamen Vertreter:innen unterschiedlicher Disziplinen ins Gespräch, nicht nur, um Paare aus verschiedenen Künsten und Wissenschaften zu beleuchten, sondern auch, um dabei die interdisziplinären methodischen Herangehensweisen zu reflektieren und zu diskutieren.9 7

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Siehe hierzu auch: Jenny Schrödl, Magdalena Beljan und Maxi Grotkopp (Hg.), Kunst-Paare: historische, ästhetische und politische Dimensionen, Berlin 2017; Hannelore Schlaffer, Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar, München 2011; Annegret Heitmann, Siegrid Nieberle u. a. (Hg.): Bi-Textualität. Inszenierungen des Paares, Berlin 2001. Paare und Partnerschaftskonzepte in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts, Leitung: Prof. Dr. Melanie Unseld, 2015–2018, https://www.mdw.ac.at/imi/paare-und-partnerschaftskonzepte/. Siehe auch: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/265443355. Aus dem Forschungsprojekt ist ebenfalls hervorgegangen: Christine Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe. Ein Phänomen der bürgerlichen Musikkultur, Wien, Köln und Weimar [2021, Druck in Vorb.]. Paare in Kunst und Wissenschaft, Interdisziplinäres Symposium zum DFG-Projekt »Paare und Partnerschaftskonzepte in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts«, 4.–6. Oktober 2018 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Organisation: Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld. Gefördert durch die DFG und die Mariann Steegmann Foundation (https://www.mdw. ac.at/imi/paare-und-partnerschaftskonzepte/, abgerufen am: 24. September 2020).

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Das Symposium, und in Anlehnung daran auch dieser Band, war bzw. ist in vier Sektionen gegliedert: (1) Schreiben über Paare, (2) Schreiben als Paar, (3) Selbst | Inszenierung und (4) Konstellationen, Familien, Netzwerke. Zum Symposium gehörte außerdem auch ein Gesprächskonzert unter dem Titel Auftreten als Paar. Musiker-Partnerschaften in Text und Musik. Zur Aufführung10 gelangten dabei Kompositionen von Louis Spohr, geschrieben für sich und seine Ehefrau, die Harfenistin Dorette Spohr, ein Ausschnitt aus einem Liederabend des SängerEhepaares Magda und Franz Henri von Dulong sowie der Liederzyklus Lieder der Liebe op.  13 von Eugen d’Albert, den er anlässlich der Hochzeit mit der Sängerin Hermine Finck komponierte.11 Dank der großzügigen Unterstützung durch die Stabstelle Gleichstellung, Gender Studies und Diversität der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – mdw gelang es, diesen selten gespielten Liederzyklus in der Aufnahme mit der Sängerin Xinzi Hou und dem Pianisten Gregor Hanke (Einstudierung: Rannveig Braga-Postl) dieser Publikation beizugeben. Der entsprechende Link ist zu finden unter: www.vandenhoeckruprecht-verlage.com/paare-in-kunst-und-wissenschaft (Code: Dw4T6u8). Im vorliegenden Band widmet sich der erste Teil dem Schreiben über Paare. Zu Beginn hinterfragt Beatrix Borchard, in welchen Konstellationen familiär verbundene Musiker und Musikerinnen schreibend abgebildet werden. Sie zeigt in ihrem Aufsatz Eine Frage der Schreibperspektiven. Paare – Familien – Einzelne am Beispiel der Familien Bargiel und Schumann, welche Wirkung bestimmte Darstellungsmuster auf die Wahrnehmung der Personen hatten und diese nachhaltig im Geschichtsbild festschrieben. Die drei folgenden Aufsätze exemplifizieren, wie Auseinandersetzungen mit berühmten Paaren durch eine genderkritische und methodisch reflektierte Perspektive über klischierte Narrative hinausgehen. So analysiert Christine Fischer in ihrem Aufsatz Stimmen der Revolution – Giuseppina Strepponi und Giuseppe Verdi als Paar die Beziehung zwischen dem Komponisten und der Sängerin vor dem Hintergrund zeitgenössischer Geschlechterrollen und musiktheatraler Konzepte in Zusammenhang mit dem politischen Wirken des Paares. Henrike Rost untersucht mit Hilfe eines interessanten Quellenkonvoluts in »His was a privileged position, she held …« – Zur Paarbeziehung von Ignaz und Charlotte Moscheles die Geschlechterrollen des Musikerpaares sowie die Bedeutung der familiären Netzwerke Charlotte Moscheles’ für die Kar10 Interpretation: Manja Slak (Violine), Julia Kräuter (Harfe), Xinzi Hou (Sopran), Hugo Paulsson (Tenor) und Gregor Hanke (Klavier). Moderation: Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld. 11 Vgl. dazu in diesem Band: Christine Fornoff-Petrowski, Anerkennung oder Verurteilung als Künstlerehepaar? Eine Spurensuche rund um Eugen d’Alberts Liederzyklus Lieder der Liebe op. 13, S. 201– 217.

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riere ihres Mannes. Abschließend entwickelt die Literaturwissenschaftlerin Hannah Gerlach in »Goethe cause içi un grand bouleversement«. Paarkonzepte und Diskursreflexion in Charlotte von Steins Lustspiel Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe eine neue Lesart des Werkes und damit auch der Intention der Autorin und deren Bezugnahme zur Beziehung zu Johann Wolfgang von Goethe. Der zweite Teil stellt das Schreiben als Paar ins Zentrum. Hier wirft Vera Viehöver zum Einstieg grundlegende Fragen zum bisher kaum erforschten Genre des gemeinsam verfassten Tagebuchs auf: Diario a due mani. Überlegungen zum Paartagebuch als Forschungsgegenstand. Im Anschluss beschäftigt sich Li Gerhalter in ihrem Aufsatz »Bekannten Gesichtern wird bis auf 3 Meter Entfernung zugelacht«. Arbeitspaare und Elterntagebücher in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts am Beispiel der Ehepaare Stern und Scupin mit von Eltern zu Forschungszwecken verfassten Dokumentationen über ihre Kinder. Weniger um das Schreiben als Paar als um das Forschen als Ehepaar geht es in Thilo Neidhöfers Beitrag, der in Vom Nutzen und Nachteil der Ehe für das Anthropologinnenleben – Ehe und Feldforschung bei Margaret Mead die Erfahrungen und Sichtweisen der Anthropologin darstellt. Schließlich greift der Aufsatz von Christine Fornoff-Petrowski noch einmal ganz konkret Vera Viehövers Überlegungen zum Ehetagebuch mit einer Analyse der gemeinsam verfassten Diarien des Musikerpaares d’Albert auf: Tagebuchschreiben im Duett: Die Selbstbildung und Selbstdarstellung in den Ehetagebüchern des Künstlerpaares Hermine und Eugen d’Albert. Im dritten Teil liegt der Fokus auf der Selbst│Inszenierung von Paaren. Die Kunsthistorikerin Anja Zimmermann beschreibt in ihrem Aufsatz Bilder von Paaren: Der Fall Krasner/Pollock die Inszenierung und die Zuschreibung von Geschlechterrollen in Bezug auf das Künstlerpaar Lee Krasner und Jackson Pollock im Rahmen verschiedener Bilder und Bilderserien. Anna Langenbruch beschäftigt sich in »Wir spielten im Leben Komödie und waren Menschen nur auf der Bühne«: Kunst und Leben in Inszenierungen eines Musiker-Paares mit der Sopranistin Galina Višnevskaja und dem Cellisten Mstislav Rostropovič und untersucht sowohl deren Selbstdarstellung als Musikerpaar als auch die Inszenierung als solches auf der Opernbühne. Der letzte Aufsatz dieses Abschnitts knüpft ebenfalls an das Thema der Selbstinszenierung als Musikerehepaar an und steht zugleich in enger Verbindung mit dem zur Tagung gehörenden Gesprächskonzert Auftreten als Paar. Musik-Partnerschaften in Text und Musik. Dieses hatte zum Ziel, auch die – speziell mit Musikerpaaren untrennbar verbundene – klangliche Ebene von Paarinszenierungen erlebbar zu machen. Teil des Programms war der Liederzyklus Lieder der Liebe op. 13 von Eugen d’Albert, der ein besonders interessantes Dokument musikalischer Paardarstellung ist, sich aber heute nicht im üblichen Lieder-Repertoire befindet. Der Aufsatz Anerkennung

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oder Verurteilung als Künstlerehepaar? Eine Spurensuche rund um Eugen d’Alberts Liederzyklus Lieder der Liebe op. 13 von Christine Fornoff-Petrowski knüpft somit noch einmal an das Musikerpaar d’Albert an, beschreibt deren Selbstdarstellung als Paar im Kontext der mutmaßlichen Uraufführung des Liederzyklus und zeichnet damit gleichsam als Einführung zur Aufnahme die Rezeption der Lieder der Liebe nach. Der vierte Teil öffnet den Blick bewusst über den Dualismus des Paares hinaus und beschäftigt sich mit Konstellationen, Familien, Netzwerken. Der Beitrag der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Nieberle (Geschliffene Biographeme. Paarkonstellationen im autobiographischen Musikerinnennachlass am Beispiel von Margarethe Quidde und Aline Valangin) thematisiert, wie das Scheitern von Musikerinnenkarrieren in auto/biographischen Texten narrativiert wird, und wie dabei antropomorphisierte Objekte in Biographeme gelangen, die Paarigkeit anders zu denken geben. Die Theaterwissenschaftlerin Jenny Schrödl erweitert den Horizont des Denkens über Paare in ihrer Untersuchung 2 + 1. Zur Figur des Dritten in Paarkonstellationen der Performancekunst durch die Reflexion der Bedeutung eines dritten Elementes für die Darstellung als Paar. Carola Bebermeier und Katharina Prager beleuchten anschließend die Bedeutung von Paarkonstruktionen, Familienkonstellationen und Netzwerke[n] für das kulturelle Handeln des Künstlerpaares Salka und Berthold Viertel. Ebenfalls mit Netzwerken setzt sich Annkatrin Babbe in ihrer Untersuchung zur Geigenausbildung als »Familiensache«: Josef Hellmesberger d. Ä. als Geigenlehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien auseinander und geht hier dem auf die Familie Hellmesberger fokussierten Netzwerk der Violinist:innen-Ausbildung im Wien des 19.  Jahrhunderts nach. Zum Abschluss beschäftigt sich Melanie Unseld mit Familien-Netzwerken und musikalischer Wissensproduktion: Die Familien Kiesewetter und Ambros. Mit dem Begriff des ›Hauses‹ beschreibt sie einen familialen Ort, an dem Wissen über Musik entsteht und tradiert wird. Noch ein Wort zu Schreibweisen und Wortwahl: Die Herausgeberinnen haben es in der Hand der Autorinnen und Autoren belassen, in welcher sprachlichen Form das Geschlecht der erwähnten Personen benannt wird. Darüber hinaus ist anzumerken, dass, wenn von Paaren in Kunst und Wissenschaft die Rede ist, in Formulierungen wie etwa »Künstler-Ehe«, »Musiker-Ehe« bereits Vorstellungen von (männlicher) Profession implizit sichtbar werden. Im vorliegenden Band aber werden die Begriffe so verwendet, dass sie alle in der jeweiligen Zeit denkbaren Formen von Ehe, die zwischen künstlerisch tätigen Personen geschlossen werden können, umfasst. Zum Schluss bleibt die schöne Aufgabe, den vielen Personen und Institutionen zu danken, ohne die das Forschungsprojekt, das Symposium und die Herausgabe

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des vorliegenden Tagungsbandes nicht möglich gewesen wären. Zunächst möchten wir uns ganz herzlich bei den Wegbegleiter:innen der ersten Stunden bedanken, mit denen wir an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gemeinsam begonnen haben, über das Thema Paare nachzudenken: Anja Zimmermann, Thomas Etzemüller und Thilo Neidhöfer. Ebenso möchten wir uns bei Vera Viehöver für den intensiven gedanklichen Austausch über das Genre Ehetagebuch sowie die gemeinsame Konzeption des Panels Schreiben als Paar bedanken. Bei der Vorbereitung und Durchführung des Symposiums unterstützten uns tatkräftig die Mitarbeiter:innen und Studienassistent:innen des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – mdw. Im Besonderen sind hier Imke Oldewurtel, Sophie Zehetmayer und Johanna Stacher zu nennen. Johanna Stacher und Susanne Hofinger haben uns zudem bei der Vorbereitung des Manuskripts für den Druck unterstützt, Letztere auch als akribische Korrekturleserin. Delilah Rammler und Sumner Williams danken wir für die Erstellung des Registers. Ganz besonders danken wir darüber hinaus dem Team der Tonaufnahme: Rannveig Braga-Postl für die Einstudierung. Birgit Huebener für die Organisation, Martin Shi in seiner Funktion als Recording Producer und ganz besonders Xinzi Hou und Gregor Hanke für die Interpretation der Lieder. Außerdem gilt unser Dank den fördernden Institutionen, die das Projekt, das Symposium und den Druck des vorliegenden Bandes finanziell unterstützt haben: die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Marian Steegmann Foundation, die Stabstelle Gleichstellung, Gender Studies und Diversität sowie das Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Wir freuen uns sehr darüber, dass unser Buch in die Reihe Musik – Kultur – Gender aufgenommen wurde und danken den Herausgeber:innen herzlich dafür, so wie wir uns auch beim Böhlau Verlag, insbesondere bei Svenja Lilly Kempf, Julia Beenken und Michael Rauscher, für die freundliche und zuverlässige Unterstützung und das allen Turbulenzen trotzende Engagement beim Druck des Buches bedanken. Oldenburg und Wien, im Herbst 2020

Schreiben über Paare

Beatrix Borchard

Eine Frage der Schreibperspektiven Paare – Familien – Einzelne

Wie situiere ich schreibend die künstlerische Arbeit eines Menschen, für den Musik eine »Lebensform«1 war? Für den ›Fall‹ Clara Schumann ist diese Frage besonders aufschlussreich. Das umfangreiche, im Rahmen der Schumann Brief­ edition neu veröffentlichte Quellenmaterial erlaubt einen genaueren Einblick in das familiäre, künstlerische und soziale Netz, das sich Clara Schumann im Laufe ihrer einzigartigen Karriere aufgebaut hat und von dem sie getragen wurde – Personen wie ihre bisher weitgehend unbekannte Mutter, Mariane Bargiel; ihr wichtigster künstlerischer Partner, der Geiger, Komponist und Hochschuldirektor Joseph Joachim; mehrere Generationen der Familie Mendelssohn; Freundinnen wie Emilie und Elise List, Lida Bendemann; die Ehepaare Herzogenberg und Bendemann; der Dirigent und Komponist Hermann Levi sowie ihre Kinder und ihre Schülerinnen stehen dafür. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem neuen Wissen? Müssen wir überhaupt daraus Konsequenzen für die Darstellung ziehen? Antwort: Ja und nein, je nach dem, worauf der Fokus der Darstellung liegt. Denn nimmt man den Lebensweg Clara Schumanns als Fallbeispiel für die Berufsbiographie einer Pianistin im 19.  Jahrhundert oder interessiert man sich besonders für interpretationsgeschichtliche Fragen, dann reichert sich das bekannte Bild zwar um zahlreiche Facetten an, aber es entsteht kein neues Bild. Anders sieht es aus, wenn man die Briefe als Basis beispielsweise für eine psychologische oder alltagsgeschichtliche oder künstlersozialhistorische Studie unter dem Aspekt Geschlecht liest. Der ›Lektürewinkel‹ ist bekanntlich entscheidend. Der komplexe Zusammenhang zwischen »biographischer Konstellation und künstlerischem Handeln« ist »ein Deutungsprozeß, der dem Lesen aufgegeben bleibt.«2

1 Vgl. Christan Kaden, »Musik als Lebensform«, in: Biographische Konstellation, Biographische Kon­ stellation und Künstlerisches Handeln. Symposionsbericht, hg. von Giselher Schubert, Mainz 1997 (Veröffentlichungen des Paul-Hindemith-Instituts Frankfurt a. M., Frankfurter Studien 6), S. 11– 25. 2 Barbara Hahn, »Lesenschreiben oder Schreibenlesen. Überlegungen zu Genres auf der Grenze«, in: Modern Language Notes 116 (2001), S. 564–578, hier: S. 578.

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Tochter ihrer Mutter Clara Schumann wird gemeinhin als Tochter ihres Vaters und Frau ihres Mannes dargestellt. Neu erschlossene Quellen lassen eine in der Clara SchumannBiographik zwar vor allem von Nancy Reich und Janina Klassen erwähnte, jedoch nicht ausführlicher thematisierte Person sichtbar werden, die Mutter Clara Schumanns: Mariane Bargiel, geschiedene Wieck, geb. Tromlitz. Es ist das Verdienst von Elisabeth Schmiedel, einer Urenkelin von Mariane Bargiel, und des Schumann Forschers Joachim Draheim, als Erste reiches Briefmaterial aus dem Bargiel’schen Nachlass veröffentlicht zu haben und damit Clara Schumann nicht nur als Vatertochter, sondern auch als Tochter ihrer Mutter sichtbar gemacht zu haben.3 Das ist nun schon über zehn Jahre her, zeitigte jedoch keine Konsequenzen für die Clara Schumann-Biographik. Mariane Bargiel war nicht nur Mutter, sondern eine berufstätige Frau, Musikerin und jahrzehntelang Alleinernährerin ihrer Familie. Sie stammte aus einer mehrgenerationellen Musikerfamilie. In Fachkreisen namhaft bis heute ist ihr Großvater, der Flötist, Flötenbauer und Komponist Johann Georg Tromlitz (1725–1805). Bereits er trat in Leipzig als Solist in Erscheinung. Über die Großmutter wissen wir nichts. Der Vater Georg Christian Gotthold Tromlitz (1765–1825) war Kantor. Über die Ausbildung der Mutter Christiana Friederica Carl (1766–1830) haben wir wiederum keine Informationen, aber wir wissen, dass Marianes Schwester Emilie, verh. Carl (1802–1885), ebenfalls als Musikerin ausgebildet und von Friedrich Wieck unterrichtet wurde. Mariane Tromlitz/Wieck/Bargiel lebte von 1797 bis 1872, ist also für damalige Verhältnisse recht alt geworden. Ausgebildet als Pianistin und Sängerin gilt sie als eine der ersten Schülerinnen von Friedrich Wieck, den sie dann jung heiratete. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor. Drei überlebten: Clara Schumann (1819–1896), Pianistin, Komponistin, Herausgeberin, Pädagogin, Alwin Wieck (1821–1885), Geiger und Klavierlehrer sowie Gustav Wieck (1823–1884). Dieser wurde Instrumentenbauer. Mit Adolph Bargiel hatte Mariane Tromlitz noch einmal vier Kinder: Woldemar Bargiel (1828–1897), Musiklehrer, Komponist, Pianist, Hochschullehrer; Eugen Bargiel (1830–1907), Kaufmann; Cäcilie Bargiel (1832–1910), Klavierlehrerin sowie Clementine Bargiel (1835–1869), Klavierlehrerin. Bis auf Eugen Bargiel ergriffen alle Kinder einen musikbezogenen Beruf.

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Elisabeth Schmiedel und Joachim Draheim, Eine Musikerfamilie im 19. Jahrhundert: Mariane Bargiel, Clara Schumann, Woldemar Bargiel in Briefen und Dokumenten, 2 Bde., München und Salzburg 2007 (Musikwissenschaftliche Schriften 43).

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Mit Clara Schumann waren also unterschiedliche familiäre Konstellationen verbunden: die Herkunftsfamilien Wieck und Tromlitz, die Brüder Wieck, die Halbgeschwister Bargiel, die Halbschwestern Wieck, die Herkunftsfamilie Schumann sowie die eigenen Kinder, dann auch Enkelkinder. Clara Schumann differenzierte übrigens sprachlich nicht, auch nicht zwischen Mariane Bargiel und Clementine Fechner, der zweiten Frau ihres Vaters. Sie schreibt nur von Mutter, Schwestern und Brüdern. In der nächsten Generation heiratete Woldemar Bargiel eine Pianistin, Hermine Tours (1845–1911). Die beiden Töchter wurden ebenfalls Musikerinnen: Clementine Bargiel jun. (1871–1957), Klavierlehrerin und Clara Schmiedel geb. Bargiel (1886–1952) Geigerin. Der Sohn Herman (1881–1915) arbeitete als Architekt. Schaut man nun auf die Familienkonstellation Clara Wiecks, lässt sich sagen: Mütterlicherseits gehört sie zu einer Musikerfamilie, die bis zum 20. Jahrhundert vor allem Klavierlehrerinnen hervorbringt. Das ist bemerkenswert, bedeutet es doch, dass auch die Töchter die Chance hatten, sich eine ökonomisch selbstständige musikbezogene Existenz aufzubauen. Das war offenkundig auch Clara Schumann wichtig. Sie bildete ihre Töchter, soweit zeitlich möglich, selbst aus und sorgte dafür, dass trotz finanzieller Schwierigkeiten alle Kinder in den Genuss einer umfangreichen musikalischen Ausbildung kamen. Zwei von ihnen, Elise und Eugenie, verdienten später ihren Lebensunterhalt als Klavierlehrerinnen. Die älteste Tochter Marie arbeitete wie Eugenie in den späteren Jahren zwar auch am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt/Main und bereitete die Schüler und Schülerinnen für den Unterricht bei ihrer Mutter vor, aber als Clara Schumann ihre Lehrtätigkeit beendete, zog auch sie sich beruflich zurück. Privat unterrichtete sie weiter. Ob gegen Bezahlung wissen wir nicht. Dennoch können wir auch in ihrem Fall von einer professionellen Arbeit als Klavierlehrerin sprechen. Die väterliche Genealogie Anders als die Mutter stammte der Vater, Friedrich Wieck, nicht aus einer Musiker-, sondern aus einer Kaufmannsfamilie. Er studierte – typisch für Söhne aus nicht begütertem bürgerlichen Elternhause – Theologie und arbeitete als Hauslehrer. Musikalisch gilt er weitgehend als Autodidakt, arbeitete jedoch später als Pädagoge und Instrumentenhändler. Er bildete sowohl Sängerinnen als auch Pianistinnen und Pianisten aus, wirkte schulbildend sowohl über eigene Veröffentlichungen als auch über Veröffentlichungen zweier seiner Kinder, seines Sohns aus erster Ehe, Alwin, sowie seiner Tochter aus zweiter Ehe, Marie. We-

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der Alwin noch Marie hatten Kinder, aber sie hatten Schüler_innen. Schulbildung kann durchaus auch als Familienbildung betrachtet werden. Nicht zufällig spricht man nicht nur im biologischen Zusammenhang von »Stammbäumen«. Familienbildung Liest man die nun veröffentlichten Briefe sowohl an die Familie Bargiel4 wie an die Familie Wieck5, wird deutlich, dass Clara Schumann kein passives Familienmitglied war, sondern von sich aus Entscheidendes zur familiären Vernetzung beigetragen hat. Als ›Star‹ der Familie stand sie sowohl als Person wie als Künstlerin in deren Zentrum. Nur sie machte eine Karriere mit internationaler Ausstrahlung. Ihren auch wirtschaftlichen Erfolg sah sie offenkundig als Verpflichtung und engagierte sich erstaunlich intensiv nicht nur für die Berufswege ihrer Kinder und Enkel, sondern auch ihrer Geschwister und Halbgeschwister. Erst jetzt wird ein Aspekt ihrer Persönlichkeit sichtbar, den ich Familienbildung durch Unterricht nennen möchte: Kinder, Geschwister, Halbgeschwister, Enkelinnen und Enkel erhielten von ihr Klavierunterricht, wann immer es möglich war. Bereits mit neun Jahren begann sie auf Geheiß des Vaters, ihren Bruder Alwin zu unterrichten (und wurde dafür mit 4 Pfennigen pro Stunde bezahlt)6, und noch im hohen Alter ließ sie sich von ihren Enkelkindern Julie und Ferdinand vorspielen und gab ihnen Hinweise. Beide hatte sie zeitweise in ihren Haushalt aufgenommen, wo sie von ihren Töchtern Marie und Eugenie betreut wurden. Ihre eigenen Kinder unterrichtete sie vor allem in den Sommermonaten – ›nach der Uhr‹, wie ihre jüngste Tochter Eugenie berichtet.7 Den Anfangsunterricht übernahmen die älteren Kinder zunächst für die jüngeren, so wie Clara Schumann es im Wieck’schen Hause kennengelernt hatte und wie es für das Prinzip des ›ganzen Hauses‹ bzw. der auf diese Weise strukturierten Musikerfamilien gang und gäbe war. Außerdem wurden ausgewiesene, nicht zur Familie gehörende Lehrerinnen und Lehrer hinzugezogen, bevorzugt natürlich Schülerinnen von Clara Schumann. In der Ferienzeit unterrichtete sie auch ihre Halbschwestern Bargiel, vor allem Clementine, von deren großer Begabung sie besonders überzeugt war. Unterrichten hieß in ihrem Falle das, was wir heute 4 5 6 7

Eberhard Möller (Hg.), Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit der Familie Bargiel, Köln 2011 (Schumann-Briefedition I/3). Eberhard Möller (Hg.), Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit der Familie Wieck, Köln 2011 (Schumann-Briefedition I/2). Gerd Nauhaus und Nancy Reich (Hg.), Clara Schumann, Jugendtagebücher1827–1840, Hildesheim 2019, hier: Eintragung vom März 1829, S. 14. Vgl. Eugenie Schumann, Erinnerungen, Stuttgart 1925, S. 164–170.

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Meisterkurse nennen würden. Zweifelsohne war sie in pianistischen und vor allem interpretatorischen Fragen für alle die maßstabsetzende Orientierungsfigur. Namensverknüpfungen Die tradierte Schreibperspektive bezogen auf Musiker_innenfamilien wird bestimmt durch den Fokus der öffentlichen Sichtbarkeit. Die Kehrseite in diesem Falle ist die Unsichtbarkeit der Genealogie von schlechtbezahlten Klavierpädagoginnen, ausgehend von der Mutter, die ihr Leben lang berufstätig war und in den Berliner Jahren einen kranken Mann und vier Kinder mit Klavierunterricht ernähren musste. Sichtbar nach außen war die familiäre Verknüpfung zwischen den Namen Wieck und Schumann. Fast auf jedem Konzertplakat wird Clara Schumanns Geburtsname, unter dem sie berühmt geworden war, mit angegeben. Nicht ohne Weiteres erkennbar war hingegen die Verbindung mit dem Namen Bargiel. Woldemar Bargiel Der junge Woldemar Bargiel war ein willkommener Gast des Schumann’schen Ehepaars während der Düsseldorfer Zeit und wurde sowohl von seiner Schwester als auch von Robert Schumann als junger Komponist gefördert. Woldemar Bargiel betrieb die Verknüpfung mit dem Namen seiner Schwester und seines Schwagers werbewirksam über Zueignungen: »Seinem innig verehrten Schwager Robert Schumann« widmete er sein Trio op. 6. Clara Schumann nahm die ihr gewidmeten Fantasiestücke in ihre Programme auf8 und setzte sich auch für den Druck seiner frühen Klavierkompositionen ein. Bei ihrem letzten Konzert am 23. Januar 1889, das sie in der Berliner Philharmonie mit Joseph Joachim gab, wünschte sie sich den Halbbruder als Dirigenten.9 Und dennoch: Trotz spo8 Vgl. Repertoireverzeichnis, Janina Klassen, Art. »Clara Schumann«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff. Stand vom 25.04.2018, https:// mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Clara_Schumann.html#Repertoire (abgerufen am: 21.  August 2020). 9 Das Konzert in Berlin fand am 23. Januar 1889 in der Philharmonie statt. Auf dem Programm standen Woldemar Bargiel, Ouverture zu Prometheus op. 16, Robert Schumann, Phantasie a-Moll für Violine und Orchester op. 131, Frédéric Chopin, Klavierkonzert f-Moll op. 21, Joseph Joachim, Violinkonzert in ungarischer Weise op.  11 (vgl. CSPr Nr.  1293). Abb. des Programmzettels in: Schmiedel und Draheim, Eine Musikerfamilie im 19. Jahrhundert (Anm. 3), Bd. 2, S. 677.

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radischer gemeinsamer Auftritte spielte diese Bargiel’sche Geschwisterkonstellation öffentlich kaum eine Rolle; allein ihre Entscheidung für den Ehenamen Clara Schumann auch als Auftrittsname ordnete sie einem anderen zu, nämlich Robert Schumann. Marie Wieck Öffentliche Sichtbarkeit familiärer Zusammenhänge garantiert keinen Schutz vor dem Vergessenwerden. Wieder ist Clara Schumann ein aufschlussreicher ›Fall‹. Denn aus der zweiten Ehe Friedrich Wiecks mit Clementine Fechner, einer Nichtmusikerin, gingen zwei Mädchen hervor, Marie und Cäcilie. Marie Wieck (1832–1916) wurde Pianistin und wie Clara Schumann vom Vater ausgebildet. Cäcilie (1834–1893), Patenkind von Robert Schumann, starb früh und galt als geisteskrank. Wie bereits erwähnt wurde auch Marie Wieck nach Düsseldorf eingeladen und wirkte sogar in einem Konzert am 3. August 1852 unter Leitung Robert Schumanns mit.10 Sie war 13 Jahre jünger als Clara Schumann, und wie die neu edierten Briefe zeigen, hatte diese zu Beginn durchaus eine schwesterlich-zärtliche Beziehung zu Marie. Sie beobachtete sehr genau, wie der Vater die Schwester ausbildete und kommentierte dies im Vergleich mit ihrer eigenen Entwicklung als Kind in ihrem Tagebuch. Die Zusammenhangsbildung vollzog sich hier also nicht nur über die gemeinsame genetische Herkunft, sondern auch über die Schule des Vaters. So wie die Mutter von Clara Schumann erwartete, dass die Tochter sich für ihren Sohn einsetzte, so ihr Vater, dass sie die Karriere seiner Tochter förderte, indem sie mit Marie als Klavierduo auftrat oder sie in ihren Konzerten auftreten ließ. Clara Schumann fiel es offenkundig schwer, diesen Wunsch nicht zu erfüllen. Maries Karriere wurde über den Namen Clara Schumann lanciert. So warb sie z. B. 1865 in London, wo Clara Schumann ein besonders großes Renommee genoss, um Schüler als »Mdlle. Marie Wieck, sister of Mde. Schumann«.11 Clara Schumann ihrerseits widmete Marie ihre in den Jahren 1841–1844 entstandenen Quatre Pièces fugitives op. 15, auch dies eine gezielte Verknüpfungsstrategie, ob auf Wunsch des Vaters oder aus eigenem Antrieb – wir wissen es nicht. Eine Aufführung dieser Stücke durch Marie Wieck ist allerdings nicht nachweisbar. 10 Programm-Sammlung, Konzert 03.08.1852, Düsseldorf, D-Zsch, Archiv-Nr.: 10463-A3,298. Vgl. Stefanie Hodde-Fröhlich, Beruf: Pianistin - Facetten kulturellen Handelns bei Marie Wieck (1832– 1916) und Sofie Menter (1846–1918), Hannover 2018, S. 236. 11 Ebd., S. 373.

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Es gab auch Querverbindungen zwischen den Familien Wieck und Bargiel in der zweiten Generation. Woldemar Bargiels Erinnerungen an einen längeren Aufenthalt 1852 in Düsseldorf bei Schwester und Schwager und an eine anschließende Reise nach Scheveningen belegen seine Bekanntschaft mit Marie Wieck, die ebenfalls mitreiste.12 Marie Wieck spielte zumindest in einem Fall auch eine Komposition von ihm im Rahmen eines öffentlichen Konzerts.13 Meines Wissens nach gibt es keine Fotos von Mariane Bargiel mit Tochter Clara, auch nicht von Clara Schumann mit den Geschwistern Bargiel, aber eine Abbildung von Clara und Marie Wieck mit ihrem Vater.14 Wahrscheinlich war es Friedrich Wieck selbst, der diese ikonographische Verknüpfung der beiden Töchter als Schwestern und als Musikerinnen, als seine Geschöpfe initiiert hatte. Marie Wieck bezog sich öffentlich sowohl auf den Namen des Vaters als auf den Namen Schumann. Sie sorgte dafür, dass ihr Vater als Pädagoge nicht in Vergessenheit geriet. So gab sie z. B. 1875 Pianoforte Studien von Friedrich Wieck und 1877 Friedrich Wiecks Singeübungen (gemeinsam mit Wiecks Schüler Louis Grosse) heraus. Sie gründete eine Wieck-Stiftung und beauftragte 1888, also noch zu Lebzeiten Clara Schumanns, Adolph Kohut, ein Portrait ihres Vaters zu schreiben.15 In diesem Buch wurden ohne Einwilligung ihrer Schwester zahlreiche Briefe veröffentlicht. Das führte zum Abbruch der Beziehungen. Ursprünglich wollte Clara Schumann sogar vor Gericht ziehen. Sie unterließ es auf Bitten ihrer noch lebenden Stiefmutter Clementine Wieck. Jedoch ging es Marie Wieck nicht nur um eine sichtbare Schwesternverbindung, sondern vor allem auch um die Verknüpfung mit dem im Laufe der Jahre immer mehr an öffentlicher Bedeutung gewinnenden Namen Schumann. Denn so grotesk es uns heute erscheinen mag, mit der Begründung, dass Robert Schumann ihr Schwager war, profilierte sich Marie Wieck als authentische Interpretin seiner Werke und gab reine Robert Schumann-Abende z. B. in Skandinavien, wo sie häufig konzertierte. Nachdem Clara Schumann nicht mehr öffentlich auftrat, sah sie sich als legitime Nachfolgerin bezogen auf deren Rolle für die 12 »An den Rhein und weiter«. Woldemar Bargiel zu Besuch bei Robert und Clara Schumann. Ein Tagebuch von 1852, hg. von Elisabeth Schmiedel und Joachim Draheim, Sinzig 2011 (Schumann-Studien Sonderband 6. Im Auftrag der Robert-Schumann-Gesellschaft Zwickau hg. von Gerd Nauhaus). 13 Nachweislich spielte sie in einem Konzert im Jahr 1891 einen Walzer von Woldemar Bargiel. Vgl. Hodde-Fröhlich, Beruf: Pianistin (Anm. 10), S. 247. 14 Vgl. Friedrich Wieck mit seinen Töchtern Clara und Marie, kolorierter Holzstich, ca. 1880, © StadtMuseum Bonn (online einsehbar unter: https://www.schumann-portal.de/familie-148.html, abgerufen am: 23. September 2020). 15 Friedrich Wieck, Ein Lebens- und Künstlerbild von Dr. Adolph Kohut. Mit zahlreichen ungedruckten Briefen, Dresden und Leipzig 1888.

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Durchsetzung der Werke Robert Schumanns.16 Das gilt vor allem für die Zeit nach der Jahrhundertwende. In der von Marie Wieck zusammengestellten Programm-Sammlung, die Stephanie Hodde-Fröhlich untersucht hat, lassen sich nach 1902 bis auf nur drei Veranstaltungen ausschließlich Programme von Schumann-Abenden finden.17 Der Fall Marie Wieck steht also für einen gezielten Einschreibprozess in das Umfeld Robert Schumanns. In ihrer Rolle als Repräsentantin der »wahren Art Klavier zu spielen« und als »authentische« Schumann-Interpretin geriet sie vor allem in England in Konkurrenz mit einer anderen Halbschwester Clara Schumanns, nämlich Clementine Bargiel, die sich 1859 in England als Klavierlehrerin niedergelassen hatte.18 Nach 1865 reiste Marie Wieck nicht mehr auf die Insel, wo sie ursprünglich von Clara Schumann eingeführt worden war. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Wir wissen es nicht. Die jüngste Schumann-Tochter Eugenie arbeitete 1892–1919 ebenfalls in London als Klavierlehrerin und geriet dabei ihrerseits in Konkurrenz zu englischen Clara Schumann-Schülerinnen wie vor allem mit Fanny Davies.19 Clara Schumann selbst sah ihre Töchter vor allem als ihre Nachfolgerinnen – über Marie Wieck verlor sie jedoch keine Silbe: Ich lasse mir jetzt von Marie und Eugenie sonntags vorspielen – ich finde es unrecht, wenn ich mich mit ihnen, die so hübsch spielen, so feines Verständniß haben, nie beschäftige. Ich habe ja keine solche Schülerin, wie beide sind. Recht betrübt ist es mir immer, daß ich ihnen nach außen hin ein Hemmschuh bin; was sie leisten, weiß Niemand, weil sie eben nicht vorspielen, wenn ich dabei bin. Ich hatte heute wieder große Freude an Eugeniens Spiel, sie spielte mit feinstem Verständniß und vereinigt Kraft mit Zartheit. Ach spielte sie doch öfter die Sachen ihres Vaters vor Leuten – ich glaube, wenn ich mal nicht mehr spielen kann, lebt nur noch eine Tradition in meinen Töchtern.20 16 Vgl. dazu Hodde-Fröhlich, Beruf: Pianistin (Anm. 10), S. 245. 17 Ebd., S. 222. 18 Clementine Bargiel an ihren Bruder Woldemar am 4. Mai 1865: »Die Marie Wieck ist mir im Wege, es ist eine unangenehme Lage, so immer mit ihr zusammen zu kommen, und sie hat so etwas Zudringliches und Ordinäres – es ist wirklich fatal – aber nicht zu ändern – der Clara ist es auch nicht angenehm, denn sie will überall mit ihr hingehen und sie kann es nicht abschlagen.« Vgl. Brief Clementine Bargiel an Woldemar Bargiel, Highfiel Hendon 04.05.1865, in: Schmiedel und Draheim, Eine Musikerfamilie im 19. Jahrhundert (Anm. 3), Bd. 1, S. 385. 19 Vgl. dazu die Einleitung von Christina Siegfried zum 2. Band der Briefe an Eugenie Schumann. Siegfried, Christina (Hg.), Briefwechsel von Clara und Eugenie Schumann, Bd. II, Köln 2017 (Schumann Briefedition I/9), S. 34–38. 20 Clara Schumann, Tagebuch Januar 1882, zitiert nach Berthold Litzmann, Clara Schumann. Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen, 3 Bde., Leipzig 1902, 1905, 1908, hier: Bd. 3, S. 423 f.

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Nach dem Tod Clara Schumanns publizierte Marie Wieck 1912 noch eine sogenannte Familienchronik. Schon der Titel Aus dem Kreise Wieck-Schumann21 weist darauf hin, dass sie die unterschiedlichen Zusammenhänge, die mit den Namen Wieck beziehungsweise Schumann verbunden waren, als einen Wirkungskreis sah. Im Zentrum steht nicht Robert Schumann, auch nicht das ›hohe Paar‹ Clara und Robert Schumann, sondern der Vater als Ursprung der Genealogie und sie als seine Sachwalterin. Bereits zu Beginn ihres Buches hebt sie die herausragende Bedeutung ihres Vaters hervor: Meine Erinnerungen soll dieses Buch enthalten. – Wie könnte ich sie wohl würdiger beginnen, als mit der Lebensgeschichte derer, durch die die Familie Wieck-Schumann erst ihre Berühmtheit erlangte. Ich meine vor allem meine Schwester Klara, Robert Schumann, deren viele Schüler und Schülerinnen, und über ihnen allen ihren unübertroffenen Lehrer und Meister Friedrich Wieck, meinen Vater.22

In dieser Familiendarstellung spielen die Mütter keine Rolle. Aber auch Alwin Wieck, der Sohn aus erster Ehe mit Mariane Tromlitz, der seit 1859 ebenfalls als Klavierlehrer in Dresden lebte, fühlte sich trotz lebenslanger heftiger Auseinandersetzungen mit seinem Vater aufgerufen, zu dessen Nachleben beizutragen und gab ebenfalls Unterrichtsmaterialien heraus, auf deren Titelblatt er seinen Namen mit dem seines Vaters und dem seiner Schwester Clara als Frau Dr. Clara Schumann geb. Wieck verknüpfte.23 Das brachte ihn in heftige Konflikte mit Marie Wieck, die für sich das Recht auf ›Alleinvertretung‹ der Methode ihres gemeinsamen Vaters in Anspruch nahm und öffentlich auch als dessen Alleinerbin wahrgenommen wurde.24 Diese Auseinandersetzungen sind ein aufschlussreiches Beispiel für Deutungskämpfe und damit für die Frage, welche Quellen als Basis einer Geschichtsschreibung überliefert werden und wie sie überliefert werden. 21 Anna von Meichsner, Friedrich Wieck und seine beiden Töchter Clara Schumann, geb. Wieck, und Marie Wieck, Leipzig 1875; Marie Wieck, Aus dem Kreise Wieck-Schumann, Dresden 1912, 2. Aufl. 1914. Vgl. zu Marie Wieck: Cathleen Köckritz, »Eine zweite Clara? – Die musikalische Ausbildung und der künstlerische Werdegang von Marie Wieck«, in: Schumanniana nova. Festschrift Gerd Nauhaus zum 60. Geburtstag, hg. von Bernhard R. Appel, Ute Bär und Matthias Wendt, Sinzig 2002, S. 344–362; Ute Bär, »Eine Pianistin im Schatten Clara Schumanns? Zum Gedenken an den 175. Geburtstag von Marie Wieck am 17. Januar 2007«, in: Die Tonkunst 1 (2007), S. 52–54. 22 Marie Wieck, Aus dem Kreise Wieck-Schumann (Anm. 21), S. 1. 23 Alwin Wieck, Materialien zu Friedrich Wieck’s Pianoforte-Methodik, Berlin: Simrock 1875. 24 Clara Schumann an Rosalie Leser, 22.10.1885: »Was mich tief betrübt ist, daß Alwin sich in den letzten Monaten so furchtbar gegrämt hat, weil in den Blättern bei Gelegenheit des 100jährigen Geburtstages meines Vaters seiner mit keinem Worte erwähnt war, der er doch mit unermüdlichem Fleiße und besten Resultaten die Methode des Vaters zu verbreiten gesucht hat.« Zit. nach Litzmann, Clara Schumann. Ein Künstlerleben (Anm. 20), Bd, 3, S. 471 f.

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Beide legten übrigens Wert darauf, an der Seite ihres Vaters begraben zu werden. Anders als das Bildarrangement Friedrich Wieck in der Mitte, seine beiden Töchter rechts und links, liegen nun die treuergebene Tochter und der rebellische Sohn an seiner Seite. Clara Schumann als Tochter, die ihren Vater verlassen hat, wurde bekanntlich an der Seite bzw. symbolisch zu Füßen ihres Mannes begraben.25 Trotz öffentlicher Sichtbarkeit zu Lebzeiten verschwanden sowohl Marie Wieck als auch Alwin Wieck im Schatten der Schwester, die sich ebenso wenig als Teil einer Wieck’schen Geschwisterkonstellation definierte wie als Teil einer Bargiel’schen. Wikipedia jedoch führt alle drei, Alwin und Marie Wieck sowie Woldemar Bargiel, als »Familienmitglied von Robert und Clara Schumann«.26 Schreibperspektive: Selbstdefinition Clara Schumanns Die jüngst veröffentlichten Jugendtagebücher von Clara Schumann zeigen es deutlich: Wieck wollte anhand der Ausbildung seiner Tochter Clara seine Klaviermethodik entwickeln und einen Gegenpol zur damals weitverbreiteten Hummel’schen Klavierschule aufbauen. Man kann also von einer Fremdbestimmung sprechen: Clara Wieck = Geschöpf ihres Vaters. Sie selbst entschied sich für einen neuen Namen: Clara Schumann (und weder Schumann-Wieck, noch Wieck-Schumann, wie es oft falsch auf Notenausgaben und CDs zu lesen ist). Die Entscheidung, sich als Teil eines Künstlerpaares zu positionieren, begrenzte während der Ehe ihre künstlerischen Handlungsspielräume (Unterordnung unter seine Interessen), eröffnete ihr jedoch Wege nach dem Tod ihres Mannes. Sie musste sich nicht vom Konzertpodium zurückziehen und wurde nicht auf die Mutterrolle festgelegt. Vielmehr konnte sie sich über Jahrzehnte als Sachwalterin seines Erbes etablieren. Die aktive Verknüpfung ihres Namens mit dem Werk ihres Mannes lief neben ihrer pianistischen und pädagogischen Arbeit nicht zuletzt auch über die Titelblattgestaltung der von ihr herausgegebenen Gesamtausgabe, in die sie auch ihre eigenen Liebesfrühlingslieder aufnahm, ihrer

25 Die Gestaltung des Schumann-Denkmals auf dem Bonner Friedhof durch Adolf von Donndorf aus dem Jahr 1880 zeigt stilisiert Clara Schumann in der tradierten Rolle der Muse, in einer Hand den Kranz der Unsterblichkeit, den sie ihrem Mann reicht, in der anderen eine Notenrolle haltend. Das Denkmal petrifiziert also die traditionelle Auffassung der Konstellation Clara und Robert Schumann als eine Konstellation zwischen Meister und Muse. Vgl. dazu Beatrix Borchard, »Verlebendigen und fortführen. Clara Schumann als Witwe«, in: Die Tonkunst 4 (2014), S. 487–497. 26 https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Wieck; https://de.wikipedia.org/wiki/Alwin_Wieck; https:// de.wikipedia.org/wiki/Woldemar_Bargiel (abgerufen am: 21. August 2020).

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Instruktionsausgabe, über die Herausgabe der Jugendbriefe, die Gestaltung ihres 50. und 60. Künstlerjubiläums etc.27 Es ist bekannt: Clara Schumann steuerte über ihre älteste Tochter Marie die Schreibperspektive ihres Biographen Berthold Litzmann. Dieser erzählte ihren Lebensweg über die Abfolge von Konstellationen, zunächst die zwischen Vater und Tochter, dann die Konstellation zwischen zwei Musikern in einer hierarchischen Rollenverteilung (er der Erfinder, sie die Ausführende), schließlich nach Schumanns Tod unter dem Titel »Clara Schumann und ihre Freunde« die selbstgewählte Künstlerfamilie (Brahms/Joachim/Herzogenberg u. a.) sowie das weitverzweigte Freund_innennetz. Die neu erschlossenen Quellenmaterialien spiegeln nicht nur die vielfach dargestellte Berufsbiographie, sondern auch – von der Berufsbiographie nicht zu trennen – die innere Biographie. Sie ist geprägt durch eine hohe Bedürftigkeit nach Zuwendung und Anerkennung sowie durch die Angst, nicht mehr auftreten zu können, endlich überhaupt nicht mehr spielen zu können und bereits zu Lebzeiten vergessen zu werden. Clara Schumann war offenkundig bewusst: Interpretinnen sind nur so lange präsent, wie sie für sich selbst einstehen können. Nach ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit, spätestens nach ihrem Tod scheint es so, als hätten sie nie gelebt. Perspektivwechsel: Clara Schumann als Tochter ihrer Mutter Der Perspektivwechsel macht deutlich: Clara Schumann war keine Ausnahme, sondern Glied in einer Kette von Musikerinnen und Musikpädagoginnen. Sie selbst hat diese Genealogie fortgeführt, auch jenseits biologischer Zusammenhänge, und wurde zum Bezugspunkt für Pianistinnen, Komponistinnen und Klavierlehrerinnen, nicht zuletzt für klavierspielende Mädchen bis heute. Das Würdigungsblatt für Clara Schumann aus dem Jahr 192928 besteht aus Autographen und Musikzitaten von Johanna Müller-Hermann (Komponistin und Musikpädagogin), Clara Faisst (Komponistin, Pianistin), Elisabeth Kuyper (Dirigentin, Komponistin und Pianistin), Anna Hegeler (Komponistin, Bratschistin), Mary Wurm (Pianistin, Dirigentin und Komponistin), Hildegard Quiel (Musikpädagogin und Komponistin), Clara Hoppe (Komponistin, Sängerin, Musikpä27 Vgl. dazu Beatrix Borchard, »Verlebendigen und fortführen. Clara Schumann als Witwe«, in: Die Tonkunst 4 (2014), S. 487–497. 28 Würdigungsblatt für Clara Schumann mit zahlreichen Autographen von Musikerinnen (1929), Sophie Drinker Institut Bremen (online einsehbar unter: https://mugi.hfmt-hamburg.de/old/A_ma terialsammlungen/schu1819/index.php.html, abgerufen am: 23. September 2020).

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dagogin), Luise Greger (Komponistin), Elisabeth Wintzer (Komponistin) und Rachel Danziger-van Embden (Operettenkomponistin). Jenseits der dominierenden Selbstpositionierung Clara Schumanns als Ausnahme und Teil eines Paares macht es ihr Handeln sichtbar als Teil des »lautlosen Aufbruchs« (Renate Feyl) auf dem Weg zur Frauenemanzipation durch ökonomische Selbständigkeit sowie durch die Entwicklung zunächst einer eigenen kompositorischen, pianistischen und pädagogischen Stimme, durch institutionelle Einbindung etc. Clara Schumann als Vorbild für andere Musikerinnen? Joachim Raff, Direktor des Hoch’schen Konservatorium wies die Bewerbung einer Musikerin um eine Lehrstelle, die sich auf das Vorbild Clara Schumann bezog, mit der Begründung ab: »Mit Ausnahme von Madame Schumann ist und wird im Conservatorium keine Lehrerin angestellt. Madame Schumann selbst kann ich eben wohl als Mann rechnen. Wenn Sie daher hier Unterricht geben wollten, so könnte dies nur privatim geschehen.«29 Die Musikerinnen, die sich für das Würdigungsblatt für Clara Schumann als eine Gruppe formierten, nahmen eine andere Perspektive ein. Sie versuchten mit ihrem Bezug auf Clara Schumann eine weibliche Genealogie zu konstruieren. Der Versuch nicht nur von ihnen, sondern auch von Musikschriftstellerinnen wie Anna Morsch oder La Mara, die Basis für das Wissen um die kulturellen Leistungen von Frauen und damit für sich selbst Raum im Musikleben sowie eine andere Musikgeschichtsschreibung zu schaffen, scheiterte. Noch heute scheint trotz Forschungszentren und Forschungsplattformen zum Thema Musik und Gender jede Frau wieder ›die erste‹ zu sein und immer eine Ausnahme – sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als mangels historischen Bewusstseins und Wissens auch allzu oft in der Selbstwahrnehmung. Dass Clara Schumann sich als Ausnahme definierte, ist durchaus strategisch zu verstehen: Ausnahmen bedrohen nicht das System der tradierten Geschlechterordnung. Nur als Ausnahme konnte sie ihre pianistische Karriere fortführen trotz sieben Kindern. Aber ihr Handeln, sprich die professionelle Ausbildung ihrer Töchter, die engagierte Unterstützung anderer Musikerinnen u. v. m. zeigt, dass sie als Tochter ihrer Mutter aktiv mitwirkte an der bürgerlichen Frauenbewegung auf dem Weg zur ökonomischen Selbständigkeit und kulturellen Selbstbestimmung.

29 Joachim Raff an eine unbekannte Bewerberin, 03.07.1879, zitiert nach Peter Cahn, Das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt am Main (1878–1978), Frankfurt a. M. 1979, S. 213.

Eine Frage der Schreibperspektiven

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Perspektivwechsel: Clara Schumann als Subjekt musikbezogenen Handelns Versucht man den Lebensweg von Clara Schumann nicht über ihre Rollen als Tochter von, Frau/Witwe von, Schwester von, auch nicht als ›Teil‹ eines Paares oder einer Musikerfamilie zu beschreiben, sondern über ihre Tätigkeitsfelder: Pianistin, Komponistin, Klavierpädagogin, Konzertveranstalterin, Herausgeberin, Professorin für Klavier, Vernetzerin etc., resultieren daraus alternative Schreibperspektiven, in deren Zentrum »Musik als Lebensform« steht: Musik als Muttersprache, als Begegnungsmöglichkeit mit anderen Menschen, als Verarbeitungsmöglichkeit von Konflikten und Leid, als Kraftquelle und mehr. Im Fokus steht nicht Musik als Vorführkunst, sondern als Kunst, die Beziehungen zwischen Menschen schafft und von Beziehungen getragen wird.30

30 Vgl. Beatrix Borchard, Clara Schumann: Musik als Lebensform. Neue Quellen. Andere Schreibweisen, Hildesheim 2019.

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Stimmen der Revolution Giuseppina Strepponi und Giuseppe Verdi als Paar

Giuseppina Strepponi und Giuseppe Verdi lebten und arbeiteten über 50 Jahre lang zusammen. Spekulationen darüber, was sie als Paar im Hinblick auf beider künstlerische Tätigkeit verband, gibt es seit langem. Dabei wurde hauptsächlich eine eher oberflächliche Parallelisierung von Opernhandlung und Paarbiographie in den Verdi-Opern der 1840er Jahre bis hin zu La Traviata zum bestimmenden Deutungsrahmen. Obwohl die Genderforschung in Sachen Verdi seit der Jahrtausendwende wichtige Schritte unternahm1, wurde die Beziehung Strepponi/Verdi bisher kaum vor dem Hintergrund zeitgenössischer Geschlechterrollenbilder sowie Gattungs- und Gesangsästhetik gelesen. Sie blieb so in vie1 Chronologisch in Auswahl: John Roselli, The Life of Verdi, Cambridge u. a. 2000, S. 39–42; Mary Ann Smart, »Ulterior Motives: Verdi’s Recurring Themes revisited«, in: Siren Songs. Representations of Gender and Sexuality in Opera, hg. von ders., Princeton 2000, S. 135–159; Christine Fischer, »Von gefallenen Engeln und Amazonen: Geschlecht als ästhetische und soziale Kategorie im Werk Verdis«, in: Verdi Handbuch, hg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert unter Mitarbeit von Christine Fischer, Stuttgart 2001, S. 141–167; Heather Hadlock, »›The Firmness of a Female Hand‹ in The Corsari and Il corsaro«, in: Cambridge Opera Journal 14/1–2 (2002), S. 47–57; Jane A. Bernstein, »›Bewitched, Bothered and Bewildered‹: Lady Macbeth, Sleepwalking, and the Demonic in Verdi’s Scottish Opera«, in: Cambridge Opera Journal 14/1–2 (2002), S. 31–46; Ralph Hexter, »Masked Balls«, in: Cambridge Opera Journal 14/1–2 (2002), S. 93–108; Jürgen Schläder, »Die sinnlos-süßen Opfer und ihre Verklärung. Frauenrollen in Verdis Opern seit 1850«, in: »Die Wirklichkeit erfinden ist besser«. Opern des 19. Jahrhunderts von Beethoven bis Verdi, hg. von Hanspeter Krellmann und Jürgen Schläder, Stuttgart und Weimar 2002, S. 278–290; Harald Goertz, »Frauengestalten in Giuseppe Verdis Opern«, in: Frauengestalten in der Oper des 19. und 20. Jahrhunderts. Symposium 2001, hg. von Carmen Ottner, Wien 2003 (Studien zu Franz Schmidt 14), S. 57–62; Emanuele Senici, Landscape and Gender in Italian Opera. The Alpine Virgin from Bellini to Puccini, Cambridge 2005; Daniel Albright, »The Witches and the Witch: Verdi’s Macbeth«, in: Cambridge Opera Journal 17/3 (2005), S. 225–252; Naomi André, Voicing Gender: Castrati, Travesti and the Second Woman in Early Nineteenth-Century Opera, Bloomington 2006; Joseph Kerman, »Verdi and the Undoing of Women«, in: Cambridge Opera Journal 18/1 (2006), S. 21–31; Francesco Izzo, »Verdi, the Virgin, and the Censor: The Politics of the Cult of Mary in I Lombardi alla prima crociata and Giovanna d’Arco«, in: JAMS 60/3 (2007), S. 557–598; Roberto Bizzocchi, Cicisbei: morale privata e idendità nazionale in Italia, Bari 2008; Conrad L. Osborne, »Buddy Stories«, in: Opera News 77/6 (2012), S. 30–33; Susan Rutherford, Verdi, Opera, Women, Cambridge 2013; Caroline Anne Ellsmore, Verdi’s Exceptional Women. Giuseppina Strepponi and Teresa Stolz, Oxon 2018.

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len Aspekten von stark klischierten Narrativen überformt und damit aus nachzeitiger Sicht rätselhaft. Der Beginn Als Strepponi (1815–1897) und Verdi (1813–1901) anlässlich der Uraufführung von Nabucco 1842 in Mailand erstmals zusammenarbeiteten – getroffen haben sie sich möglicherweise schon früher –, waren sie mit 26 bzw. 28 jung an Jahren. Aber beide blickten bereits auf ein erfahrungsreiches Leben zurück: Strepponi hatte sich eine erfolgreiche Karriere als Sängerin aufgebaut, mit der sie ihre Mutter und jüngeren Geschwister finanziell unterhielt. Zudem hatte sie mindestens drei uneheliche Kinder zur Welt gebracht, die sie kurz nach der Geburt in Pflege oder in Waisenhäuser gab. Abgesehen von möglichen emotionalen Folgen der Trennung von ihren Kindern, über die wir nur spekulieren können, unterbrachen die Schwangerschaften ihre hochdotierten Engagements und brachten sie in finanzielle Notlagen. Zudem drohten angesichts nicht eingehaltener Verträge auch rechtliche Streitigkeiten. Ihre Stimme war bereits geschwächt, das Ende der Karriere zeichnete sich ab. Verdi hatte nach einem erfolgreichen Erstlingswerk (Oberto, conte di San Bonifacio, Mailand 1839) mit seiner zweiten Oper (Un giorno di regno, 1840) ein Fiasko an der Mailänder Scala erlebt. Zudem war 1839 bis 1841 seine gesamte Familie innerhalb von knapp zwei Jahren verstorben: seine beiden kleinen Kinder Virginia und Icilio sowie seine Frau Margerita, geb. Barezzi. Die Quellen Der Hauptgrund, warum das, was für das Paar Strepponi/Verdi folgte, nur schwierig zu ergründen blieb, ist eine überaus lückenhafte Quellenlage: Es ist keine Daguerreotypie oder Fotografie erhalten, auf der sie beide zu sehen wären, auch kein Gemälde stellt sie gemeinsam dar. Selbst die ohne Aufwand, mehr oder weniger heimlich im Jahre 1859 ›abgewickelte‹ Eheschließung bot offenbar keinen Anlass, die nun legitimierte Zweisamkeit vor Zeitgenoss_innen und Nachwelt hervorzukehren – so vermittelt es jedenfalls die Überlieferungssituation. Bis dahin blieb ihre Beziehung eine sogenannte wilde Ehe. Den Konnotationen von Skandal, die diese Situation mit sich brachte, begegnete das Paar offenbar mit äußerster Diskretion und Verschwiegenheit in Bezug auf Privates, was die Situation für die forschende Nachwelt ebenfalls verkompliziert haben mag. So sind nahezu keine Äußerungen des Komponisten zu seiner Lebensge-

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fährtin und Ehefrau erhalten geblieben. In den überlieferten Dokumenten aus Verdis Feder treten uns darüber hinaus auch Aussagen zu anderen Frauen so gut wie ausschließlich über das Musikalische entgegen: Hauptsächlich die Stimmqualitäten von Sängerinnen sind es, die er beschreibt, und in diesen künstlerischen Kontext sind auch die Kommentare zu ihrem Äußeren und zu ihrer Bühnenpräsenz eingebunden. Bis auf sehr wenige Ausnahmen hält sich der Komponist zumindest aus Sicht der Nachwelt sehr bedeckt, was seine Liebesbeziehungen angeht. Einzig ein Brief aus dem Jahr 1852, in dem Verdi Strepponi gegenüber seinem Schwiegervater vor Angriffen in Schutz nimmt, blieb erhalten.2 Wohl eher ins Reich der spannungserhaltenden Mythenbildung ist zudem einzuordnen, dass sich ein Brief Verdis vom vermutlichen Beginn der Beziehung, den Strepponi angeblich mit sich begraben wissen wollte, noch heute, ungelesen von der Nachwelt, auf St’Agata befinden soll.3 Weiterhin bleibt zu vermuten, dass Verdis Anweisung, nach seinem Tod zwei Holzkisten mit Unterlagen zu verbrennen, Folge geleistet wurde;4 und dass unter diesen Unterlagen möglicherweise auch Zeugnisse waren, die die Beziehung zu Strepponi von seiner Seite aus fassten. Womöglich brachte es diese Nachlassgestaltung auch mit sich, dass zum künstlerischen Austausch der beiden wenig überliefert ist. Dagegen sind zahlreiche schriftliche Zeugnisse Strepponis zu ihrer Beziehung zu Verdi erhalten. In den Briefen und Tagebucheintragungen tritt sie als gewitzte Ratgeberin und Unterstützerin ihres Lebensgefährten in Erscheinung, die mit ihm den Schaffensprozess durchsteht, Ratschläge erteilt und ihn manches Mal geschickt zu der aus ihrer Sicht richtigen Entscheidung manövriert – diese aber meist, sich unterordnend, letztlich ihm überlässt. Außerhalb dieser Ego-Dokumente wird das Paar Strepponi/Verdi zeitgenössisch kaum rezipiert – in Korrespondenzen mit Freunden und Bekannten oder in der Presse5 spielte das Miteinander der beiden keine oder eine untergeordnete Rolle. Das mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass sie als Sängerin nur selten und in den letzten Jahren ihrer Karriere mit seinem Repertoire auftrat; und dass die beiden die ›wilde Ehe‹, die sie lange führten, zumindest anfangs geheim zu halten suchten – damit waren sie so erfolgreich, dass es bis heute zur Diskussion steht, wann sie denn ein Paar wurden.6 2 3 4

S. u., S. 46–47. Mary Jane Phillips-Matz, Verdi. A Biography, Oxford und New York 1993, S. 196. Giuseppe Verdi an Angiolo Carrara am 25.11.1899, Antonio Baldassarre und Matthias von Orelli (Hg.), Giuseppe Verdi. Lettere 1843–1900, Bern u. a. 2009, S. 252. 5 Vgl. Ellsmore, Verdi’s Exceptional Women (Anm. 1), S. 141 für vereinzelte Pressemeldungen in den 1840er Jahren über Verdi und seine »Frau«. 6 Phillips-Matz, Verdi. A Biography (Anm. 3), S. 159.

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Überformt wird diese bruchstückhafte Wahrnehmung der geheim gehaltenen frühen Beziehung von Dokumenten aus den späten 1860er Jahren, in denen es beim Ehepaar Verdi kriselte: Es ist die Zeit, in der die Sopranistin Teresa Stolz, die spätere Sängerin der Uraufführungs-Aida, im Leben und Schaffen Verdis wichtig wurde; und in der in den Schreiben Strepponis zunehmend Melancholie und eine intensive Hinwendung zur Religion zum Ausdruck kommen. Der Fundus an Dokumenten zum Paar Strepponi/Verdi hat sich seit 1974 nicht grundlegend erweitert, dem Jahr in dem Claudio Sartoris Aufsatz zur frühen gemeinsamen Zeit der beiden in Paris erschien7 und in dem Ursula Günther auf gemeinsam vorgenommene Eintragungen in die Partitur der eben dort 1847 aufgeführten Umarbeitung von I Lombardi alla prima crociata zu Jérusalem hinwies.8 Zu vermuten bleibt, dass in die Suche nach zeitgenössischen Dokumenten zur Außenwahrnehmung des Paares bisher nicht investiert wurde. Sehr wohl hat man sich jedoch für die Kinder, mindestens drei an der Zahl, die Strepponi zur Welt brachte, intensiv interessiert. Der Zeitpunkt ihrer Geburten und ihr Verbleib wurden nach und nach entschlüsselt und die Identität ihrer Väter immer neu diskutiert.9 Eine mögliche Geburt fällt dabei sogar in die Zeit, in der Strepponi und Verdi bereits ein Paar waren.10 Auch darüber, ob es ein aus welchen Gründen auch immer bewusst gefasster Entschluss war, dass das Paar Verdi zumindest offiziell kinderlos blieb, können wir nur spekulieren. Die »eigentliche Traviata« Zusätzlich zum Vakuum dieser Quellenlosigkeit führte wohl ein weiterer Faktor zu persistenten Versuchen, die Paarbeziehung der beiden über Verdi-Opernhandlungen zu fassen: eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber der doppeldeutigen Rolle Strepponis in der Partnerschaft. Von Verdi einerseits als finanziell unabhängige, eigenständige Frau und Künstlerin beschrieben, in der sie sich auch in ihrer Korrespondenz beweist, konnte sie andererseits in Suaden totaler Unterordnung gegenüber ihrem als Retter gepriesenen Partner ausbrechen. Besonders häufig wurde das Paar mit der Handlung von La traviata ›erklärt‹ (Venezia, 7

Claudio Sartori, »La Strepponi e Verdi a Parigi nella morsa quarantottesca«, in: Nuova rivista musicale italiana 8/2 (1974), S. 239–253. 8 Ursula Günther, »Documents inconnus concernant les relations de Verdi avec l’Opéra de Paris«, in: Atti del III congresso inzernazionale di studi verdiani. Milano, Piccola Scala, 12–17 Giugno 1972, Parma 1974, S. 564–583. 9 Phillips-Matz, Verdi. A Biography (Anm. 3), S. 289–295. 10 Gaia Servadio, The Real Traviata. The Biography of Giuseppina Strepponi, Wife of Giuseppe Verdi, London 1994, S. 66–74, s. u. S. 47.

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1853) – der gegenwärtigsten Opernhandlung in den frühen Jahren ihrer Beziehung, die zudem beide diese Facetten Strepponis in der Hauptrolle aufscheinen lässt. Dass Strepponi an der Übersetzung des Librettos mitwirkte, bot den Thesen zu einer autobiographischen Ausrichtung von La traviata, der vom Wege Abgekommenen, weitere Nahrung. Seit wann der Traviata-Topos in der Forschung zu Strepponi und Verdi auftaucht, ist bisher nicht untersucht. Jedenfalls spricht sich Julian Budden bereits Ende der 1970er Jahre deutlich gegen eine solche Parallelisierung zwischen Leben und Werk des Paares aus.11 Einen Höhepunkt dieser Perspektivierung stellt Gaia Servadios Biographie von 1994, The Real Traviata, dar.12 Als ein eifriger Verfechter dieses autobiographischen Zugangs aus noch jüngerer Zeit wirkt Joseph Kerman, der im Cambridge Opera Journal von 2006 die These ausführt, Verdi habe in La Traviata seine Gefühle gegenüber Strepponi musikalisch aufgearbeitet: »Violetta allowed him [Verdi] to explore feelings of love, guilt and suffering that he learnt from his experience as Strepponi’s lover.«13 Selbst die jüngste biographische Arbeit zu Strepponi hält, wenn auch mit Einschränkungen, an diesem Topos fest14 und zieht hierfür die von Susan Rutherford nachgewiesene Nähe von auf die Bühne gebrachten Verdi-Schicksalen mit realen weiblichen Erfahrungen15 als Argumentationsgrundlage heran. So entwickelte sich, trotz immer wieder auftauchender Gegenstimmen16, die parallelisierende Verquickung von künstlerischem Schaffen und Biographie zum landläufigen Schema, in das die Beziehung eingepasst wurde. Ein schillerndes, klingendes Motiv, dessen Geist nur schwierig wieder in die Flasche zu bannen ist – obwohl es nicht nur ein gemeinsames künstlerisches Wirken in Abrede stellt, sondern zudem auch eine Kontextualisierung dieses Schaffens in einem Italien, das sich zum Nationalstaat formiert, als abseits des Privaten ins Unmögliche definiert: Verdi erscheint als finanzieller und moralischer Retter einer ›gefallenen‹ Frau, zu der er sich zwar nicht in der Ehe, wohl aber in seinem (genialen) künstlerischen ›Werk‹ öffentlich bekennt und die er so über sein Schaffen rehabilitiert. Strepponi wird dagegen zur passiven Muse, die mit ihrem Leben 11 Julian Budden, The Operas of Verdi, Bd. 2, London 1973–1981, S. 165–166. 12 Servadio, The Real Traviata (Anm. 10); dies., Traviata. Vita di Giuseppina Strepponi, Milano 1994. 13 Kerman, Verdi and the Undoing of Women (Anm. 1), S. 31; er argumentiert damit in der bereits von Gary Schmidgall hergeleiteten Methodik einer verallgemeinerbaren Erfahrung des Privaten, vgl. »La Traviata: The Autobiographical Verdi«, in: La Traviata, hg. von William Weaver und Martin Chusid (Metropolitan Opera Classics Library), Boston und Toronto, 1983, S. 1–30. 14 Caroline Anne Ellsmore, Verdi’s Exceptional Women (Anm. 1), Kapitel »Of Courtesans and Consorts, Art and Life: 1850s and Beyond«. 15 Rutherford, Verdi, Opera, Women (Anm. 1). 16 Vgl. z. B. Fischer, Von gefallenen Engeln (Anm. 1).

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und Leiden, mit ihrer Liebe Verdi zu künstlerischen Höchstleistungen inspiriert – und so letztendlich bürgerlichen Ansprüchen an Geschlechterrollen gerecht wird. Das Wirkungsprinzip einer biographischen Überformung des Paares durch Opernrollen setzt bereits direkt nach dem Tode Strepponis ein, wie am bisher nicht beachteten Nachruf des italienischen Verdi-Verlegers Giulio Ricordi auf die Sängerin aus dem Jahre 1897 abzulesen ist. Er beschreibt eine Episode, die sich während eines seiner Besuche auf St’Agata in der Zeit nach der Fertigstellung von Otello (1887) abgespielt haben soll. Zu diesem Zeitpunkt waren Strepponi und Verdi bereits über 70 Jahre alt: Il Maestro, accaloratosi nel parlare del di lui lavoro, nel dire delle intenzioni sue, si alzò e si avvicinò al pianoforte: la signora Verdi, che mai presenziava a quelle rarissime udizioni, esci ed andò nella propria camera. Rimasi solo presso al pianoforte, innanzi al quale si era seduto il Maestro: le mani agitate da un movimento nervoso egli voltava le pagine del proprio manoscritto, e moveva le labbra pronunciando in tono sommesso le parole boitane del libretto: d’un tratto, quasi cedendo ad impulso irresistibile, Verdi attacca le prime note del quarto atto!… E tutto l’ammirevole e tragico capolavoro si svolge in note sublime, ispirate!… Ecco la dolce preghiera di Desdemona: un leggero scricchiolio mi fa alzare gli occhi e m’accorgo che la porta di comunicazione fra le due camere erasi socchiusa; nella piccola apertura vidi la dolce fisionomia della signora, pallidamente bella, esprimere un sentimento di estasi quasi celestiale!… La porta si chiuse subito, ed il Maestro, che di nulla erasi accorto, continuò sino alla fine dell’atto.17

Soweit zum wahrhaft von Türrahmen und Tür umfassten Bild, das Ricordi von Strepponi als betender Desdemona, als perfekter Erfüllerin des Ergänzungsprinzips der Geschlechter vermittelt: Sobald es um Verdis Schaffen geht, verlässt sie den Raum. Durch ihre Zurückhaltung, Dienstfertigkeit und Religiosität er17 Giulio Ricordi, »Giuseppina Verdi Strepponi«, in: Gazzetta musicale di Milano 52/46 (1897), S. 661– 664, hier: S. 661–662: »Der Maestro, der sich beim Reden über seine Arbeit erwärmte, stand auf und näherte sich dem Klavier: Signora Verdi, die nie bei diesen äußerst seltenen Hörproben anwesend blieb, ging hinaus und in ihr eigenes Zimmer. Ich blieb alleine beim Klavier, an das sich der Maestro gesetzt hatte: Die Hände bewegten sich nervös und blätterten die Seiten des eigenen Manuskripts um, er bewegte die Lippen und sprach die Worte des Librettos Boitos leise aus: plötzlich, als gäbe er einem unwiderstehlichen Impuls nach, spielte Verdi die ersten Noten des vierten Aktes!… und das ganze bewundernswerte und tragische Meisterwerk ergoss sich in erhabenen, inspirierten Noten! … Hier das süße Gebet von Desdemona: Ein leichtes Rascheln lässt mich die Augen heben, und ich bemerke, dass die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern angelehnt war; in der kleinen Öffnung sah ich die süße Physiognomie der Signora, in ihrer bleichen Schönheit, die das Gefühl einer gleichsam göttlichen Ekstase ausdrückte! … Die Tür schloss sich sofort wieder, und der Maestro, der nichts davon bemerkt hatte, spielte weiter bis zum Ende des Aktes.« (Übersetzungen soweit nicht anders vermerkt von der Autorin)

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möglicht sie sein Schaffen, durch das er sie als Madonna überhöht, als religiöse, tugendhafte Matrone, die, durch die Musik des Genies an ihrer Seite beglückt, für ihre treue Hingabe entlohnt wird. Neue Bilder Hier ist nicht der Raum, den Überformungen der Beziehung umfassend nachzuspüren. Dennoch sollen im Folgenden über eine Kontextualisierung in zeitgenössischen Geschlechterrollenkonzeptionen und in musiktheatralen Konzepten der 1840er Jahre alternative Perspektivierungen der Sicht auf das Paar Strepponi/Verdi skizziert werden. Das künstlerische Schaffen der beiden in Paris, das sich um die Funktionalisierung und Positionierung von Verdi als nationalem Künstler zentrierte, wird dabei wegweisend in den Blick genommen. Inwieweit dieser Kontext auch zu einem identitätsstiftenden Faktor ihrer Beziehung wurde, soll zumindest in Ansätzen ergründet werden. Methodisch wird dabei auf eine Zusammenführung zweier bisher separat geführter Verdi-Forschungsstränge gesetzt: Den Untersuchungen zu Verdis politischer Rolle als Komponist in Zeiten politischer Bestrebungen einen italienischen Nationalstaat zu formen, die sich vor allem auf Rezeptionszusammenhänge seiner Opern fokussierten, soll über eine Horizonterweiterung auf die stimmperformative Faktur der Frauenrollen der Opern dieser Zeit innerhalb einer bereits so beschriebenen neuen Art zu singen eine andere Stoßrichtung gegeben werden.18 Die lückendurchzogene Quellenlage zum Paar Strepponi/Verdi kann so auf der Grundlage von Strepponis Expertise als Sängerin und Verdis – zumindest aus heutiger Sicht – stark stimmzentriertem Frauenbild um einen fundiert genderrelevanten neuen Aspekt ergänzt werden. Dieses Anliegen überschneidet sich, deckt sich jedoch nicht mit dem in der Verdi-Forschung bereits formulierten Anliegen, die Lebensbeschreibungen Strepponis auf wissenschaftliches Niveau zu heben.19 Zudem bietet es 18 Vgl. den ähnlich gelagerten Ansatz, der die musikalische und formale Neuorientierung (abseits der Chöre) nach I Lombardi alla prima crociata politisch-historisch kontextualisiert, in: Antonio Baldassarre, »Onore a questi prodi. Onore a tutta l’Italia che in questo momento è veramente grande«: Giuseppe Verdi und seine Musik im Kontext der italienischen Revolutionsbewegungen von 1848/49, hg. von Barbara Boisits, in: Musik und Revolution: Die Produktion von Identität und Raum durch Musik in Zentraleuropa 1848/49, Wien 2013, S. 509–539. 19 Marcello Conati, »La sensibilità sociale e culturale di Giuseppe e Giuseppina Verdi«, in: La sensibilità sociale di Giuseppe e Giuseppina Verdi. Dalle società di mutuo soccorso alla tutela dei musicisti d’oggi, hg. von Franca Cella und Davide Daolmi, Milano und Parma 2002 (Quaderni dell’Istituto di studi verdiani 6), S. [27]–36, hier: S. 27: »Il grande fascino esercitato da una personalità di eccezionale intuito e di grande ricchezza d’animo quale emerge dal copioso epistolario ha in un certo senso

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Gelegenheit, jenseits von autobiographisch gedeuteten Opernhandlungen, auch einen Blick auf das Verhältnis Strepponi/Verdi nach der Erlangung der staatlichen Einheit Italiens zu werfen, als sie sich privat und künstlerisch neu positionierten. Verdi und der Risorgimento Eine Kontextualisierung des Paares in den 1840er Jahren bedeutet eine Auseinandersetzung mit Verdi-Forschungstraditionen zur Positionierung des Komponisten innerhalb des Risorgimento. Es dauerte lange, bis der »maestro della revoluzione italiana« von Mythen befreit wurde, die nach der italienischen Einheit, zum Teil auch im Faschismus, kreiert wurden und die eine direkte kausale Verbindung zwischen Aufführungen seiner Opern und der Befreiung von Besatzungen sowie der nationalen Einheit Italiens konstruierten. Birgit Pauls20 hat in den 1990er Jahren ein solch direktes und frühes Einwirken Verdis auf den Einigungsprozess grundlegend in Frage gestellt. In den letzten Jahren gibt es hierzu »revisionistische« Gegentendenzen zu verzeichnen,21 die wohl am prominentesten von Philipp Gossett22 vertreten werden. Er verweist darauf, dass es schlichtweg unmöglich sei, die zahlreichen Verweise auf risorgimentale Inhalte in den Opern Verdis nicht in der Komponisten-Biographie zu verorten. Michael Walters jüngster Verdi-Aufsatz kontextualisiert die Debatte in einem Reichtum neu konsultierter Quellen zur Rezeption von Verdi-Aufführungen und belegt damit erneut die Unhaltbarkeit eines einfachen Zusammenhangs von patriotischem

emarginato, se non proprio offuscato, la figura dell’artista, fino a far prevalere l’immagine di una primadonna per così dire ›mancata‹, che solo l’incontro con il giovane Verdi avrebbe in seguito riscattato in quanto compagna di vita di un grande dell’arte.«/ »Der große Zauber, der vom Eindruck einer außergewöhnlich einfühlsamen und sehr warmherzigen Persönlichkeit ausgeht wie er aus dem umfangreichen Briefwechsel entsteht, hat in gewisser Weise die Figur der Künstlerin an den Rand gedrängt, oder sogar verunklart, bis hin zum Bild einer sozusagen ›fehlgeleiteten‹ Primadonna, die die Tatsache, dass sie dem jungen Verdi begegnete in der Folge Lebensgefährtin eines der Großen in der Kunst wurde, rehabilitiert hat.« 20 Birgit Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung, Berlin 1996 (Politische Ideen 4). 21 Zusammengefasst in Roger Parker, »Verdi politico«, in: Journal of Modern Italian Studies 17 (2012), S. 427–436; Mary Ann Smart, »Magical Thinking. Reason and Emotion in Some Recent Literature on Verdi and Politics«, in: Journal of Modern Italian Studies 17 (2012), S. 437–447; Mary Ann Smart, Waiting for Verdi. Italian Opera and Political Opinion, 1815–1848, Oakland 2018. 22 Philipp Gossett, »Giuseppe Verdi and the Italian Risorgimento«, in: Proceedings of the American Philosophical Society 156/3 (2012), S. 271–282, hier: S. 274.

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Aufruhr und Verdi-Aufführungen.23 Der vorliegende Beitrag positioniert sich in dieser andauernden Kontroverse vermittelnd: In ihm werden Verdi und Strepponi als KünstlerInnen beschrieben, die sich bewusst in der Bewegung eines Giovane Italia verankerten und damit über das Musiktheater auf die Ausprägung einer symbolischen Klang- und Bildsprache hinwirkten, die den Diskurs einer nationalen Einigung stützte – ohne deswegen zwingend auf direkte patriotische Bekundungen bei Aufführungen hinführen zu wollen oder zu können.24 Die Thesen stehen somit in einer Linie mit der Verfeinerung einer Diskussion der zahlreichen Facetten des Risorgimento in Verdis Schaffen25 – die auch durch Fragestellungen aus der Gender- und Postkolonialismus-Forschung konturiert werden. Die Stimme Während ihrer zwölf Jahre währenden Gesangskarriere war Strepponi eine der gesuchtesten und bestbezahlten Sängerinnen ihrer Zeit, deren Repertoire sich um Rossini-, Donizetti- und Bellini-Rollen zentrierte.26 Dabei brillierte sie sowohl in ernsten wie in komischen Partien. Kritiken heben besonders ihre schauspielerischen Fähigkeiten, ihre musikalische Intelligenz und Ausdruckskraft hervor. Die Vorankündigung eines ihrer Auftritte in Rom im Jahr 1838 in Bellinis I puritani ordnet Strepponi, quasi als Werbemaßnahme, folgende Stimmeigenschaften zu: Volete voi sentire una voce fresca, limpida, estesa; un canto espressivo, animato, ragionato, scevro di quei pretesi abbellimenti accompagnati sempre da mille grotteschi modacci e stirature di collo? Volete voi deliziarvi in un canto tutto spontaneità, esattezza, simmetria e privo affatto di quei così detti slanci di voce, che straziano le orecchie meglio organiz23 Michael Walter, »Verdis Opern und der Risorgimento«, in: Muzikološki Zbornik 50 (2014), S. 5–38. 24 Alberto M. Banti, La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore delle origini dell’Italia unita, Torino 2000, S. 30 und S. 45; vgl. Vittorio Coletti, »Eine nationale Sprache für Verdis Opern«, in: Verdi Handbuch, 2. Aufl., hg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Stuttgart 2013, S. 42–53; Albert Russell Ascoli und Krystyna von Henneberg (Hg.), Making and Remaking Italy: The Cultivation of National Identity around the Risorgimento, Oxford und New York 2001. 25 Vgl. Baldassarre, Onore a questi prodi (Anm. 18); Ester Capuzzo, Antonio Casu und Angelo G. Sabatini (Hg.), Giuseppe Verdi e il Risorgimento, Soveria Mannelli 2014. 26 Für eine Übersicht zu den Auftritten Giuseppina Strepponis s. Elena Cazzulana, Giuseppina Strepponi. Biograf ia, Lodi 1990, S. 150–155; Giorgio Gualerzi und Giorgio Rampone, »Giuseppina Strepponi cantante donizettiana«, in: La vocalità e i cantanti, hg. von Francesco Bellotto und Paolo Fabbri, Bergamo 2001 (Il teatro di Donizetti. Atti dei convegni delle celebrazioni 1797/1997 – 1848/1998 3), S. 153–162.

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zate, e dimostrano la ridicolaggine, il pessimo gusto, l’ignoranza drammatica di chi l’eseguisce? Amate infine di sentire cantare italianamente ed italianamente pronunciare senza che vi si astringa a veder strapazzata la nostra lingua e tradita e malmenata la semplicità e originalità delle sublime note belliniane? Se ciò bramate recatevi al teatro ed ascoltate in quest’opera la signora Strepponi.27

Wie von Marcello Conati bereits beschrieben, wird Strepponi mit diesen ihr zugeschriebenen künstlerischen Qualitäten zur Vertreterin einer als neu beschriebenen Gesangsart, die musikalische Interpretation und szenische Aktion auf die Sinngebung im dramaturgischen Zusammenhang hin erneuert.28 Diese ›neue Schule‹ wurde besonders mit den Opern Bellinis verknüpft und zeitgenössisch wiederholt mit einer vor dem Hintergrund der Juli-Revolution durch Victor Hugos Hernani ausgelösten, literarisch-dramatischen Neuerungsbewegung in den 1830er Jahren assoziiert. Solche künstlerischen Erneuerungsimpulse, an denen später wiederholt der Beginn der Romantik festgemacht wurde, gingen in Frankreich und Italien Hand in Hand mit Forderungen nach der Abkehr vom in der französischen Tradition wichtigen klassischen Tragödienprinzip und nach einer Rückkehr zu mehr Dramatisierung und ursprünglicher Ausdruckskraft. Noch bevor Strepponi Verdi kennenlernte, wurde ihre Stimme demnach mit künstlerisch ›revolutionären‹ Qualitäten verknüpft. Verdis Kompositionen wurden von Zeitgenossen wiederholt als radikalisierende Weiterführung dieser künstlerischen Neuerungsbewegung gesehen, als man ab Mitte der 1840er Jahre erneut auf eine (politische) Revolutionsbewegung hoffte. Auch in der Wahl seiner Stoffe dieser Zeit positionierte Verdi sich bewusst innerhalb dieser Strömung, wenn er in I due Foscari (1844, Rom) auf

27 Anonym, in: Rivista teatrale, 21.04.1838, zitiert nach Gaia Servadio, Traviata. Vita di Giuseppina Strepponi, Milano 1994, S. 65–66: »Wollen Sie eine frische Stimme hören, leicht, mit großem Umfang; einen ausdrucksvollen Gesang, belebt, bedacht, frei von diesen anmaßenden Verzierungen, die immer von tausend grotesken, schlechten Moden und Halsverzerrungen begleitet sind? Möchten Sie sich an einem Gesang erfreuen, der ganz spontan ist, exakt, symmetrisch und tatsächlich ohne den sogenannten heroisch breiten Schwung auskommt, der die besser ausgestalteten Ohren strapaziert und die Lächerlichkeit, den schlechten Geschmack und das dramatische Unwissen der Ausführenden beweist? Lieben Sie es schließlich italienisch singen zu hören und italienisch aussprechen, ohne dass man dabei unsere Sprache strapaziert sieht, verraten und die Einfachheit und Originalität der erhabenen Noten Bellinis geprügelt wird? Wenn Sie das ersehnen, begeben Sie sich ins Theater und hören Sie sich in dieser Oper Signora Strepponi an.« 28 Marcello Conati, »La svolta degli anni Trenta. Il ›canto in azione‹ (a proposito di Giuseppina Strepponi)«, in: La vocalità e i cantante, hg. von Francesco Bellotto und Paolo Fabbri, Bergamo 2001 (Il teatro di Donizetti. Atti dei convegni delle celebrazioni 1797/1997 – 1848/1998 1), S. 277–294; Ellsmore, Verdi’s Exceptional Women (Anm. 1), S. 127–128.

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Manzonis Il Conte di Carmagnola anspielt29, auf Victor Hugos Hernani (Venezia, 1844) zurückgreift oder Schiller (Giovanna d’Arco, Milano, 1845; I masnadieri, London, 1847; Luisa Miller, Neapel, 1849) rezipiert, der spätestens seit Rossinis Guillaume Tell (Paris, 1829) ebenfalls mit republikanischer Revolution assoziiert wurde.30 Auch Strepponi mag anlässlich von Nabucco in dem jungen Komponisten das Potential erkannt haben, als künstlerisches Aushängeschild einer politischen Neuorientierung zu dienen, die sie anhand ihrer Erfahrungen und Netzwerke verdeutlichen, beschleunigen und mit ihrer Stimme auch klanglich tragen konnte. Sie fungierte als Türöffnerin in die seit langem vertraute Opernwelt für den im Geschäft noch unerfahrenen, jungen Komponisten, beriet ihn bei Honorarforderungen und strategischen Winkelzügen – und leitete so ein musikalischrisorgimentales Geschäftsmodell ursächlich mit in die Wege, mithilfe dessen sich das Paar künstlerisch erfolgreich in der Assoziationskette Stimme, Liebe, Revolution positionieren sollte. Als sich Strepponi 1846 nach dem Ende ihrer Opernkarriere als Gesangslehrerin in Paris niederließ, wurde ihr Wirken in Mailand erneut – in Verbindung mit Verdi – als künstlerisch revolutionär bewertet: Giuseppina Strepponi si è fatta una delle più ardenti propagatrici della nuova scuola, una delle più valorose interpreti del canto drammatico: Giuseppe Verdi scrisse per essa il Nabucco. La musica della nuova scuola non è tanto facile come vorrebbe farsi credere; lo stile è ardito, potente, ed esige avanti tutto somma intelligenza. Questa musica è piena di gradazioni ed effetti inaspettati. Con cattivi interpreti le appassionate e graziose melodie passerebbero inosservate; cantate invece quali il maestro le imaginò, allora cangeranno fisionomia, e sveglieranno l’entusiasmo. […] La Strepponi avrà così il merito d’aver fatto in Parigi il primo passo per la rivoluzione del canto, rivoluzione che non tarderà a metter frutti.31 29 Christine Fischer, »I due Foscari«, in: Verdi Handbuch, hg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert unter Mitarbeit von Christine Fischer, Stuttgart 2001, S. 328–334. 30 Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart und Weimar 1992, S. 65–110. 31 Anonym in: Moda (Milano), 20.10.1847, zitiert nach Conati, Il ›canto in azione‹ (Anm. 28), S. 293: »Giuseppina Strepponi hat sich zu einer der leidenschaftlichsten Verbreiterinnen der neuen Schule entwickelt, einer der wertvollsten Interpretinnen des dramatischen Gesangs: Giuseppe Verdi schrieb für sie Nabucco. Die Musik der neuen Schule ist nicht so einfach wie man es sich vorstellen mag; der Stil ist leidenschaftlich, mächtig, und fordert vor allem höchste Intelligenz. Diese Musik ist voller Schattierungen und unerwarteter Effekte. Mit schlechten Interpreten gehen die gefühlvollen und anmutigen Melodien unbemerkt vorüber; werden sie dagegen so gesungen, wie der Maestro sie sich vorgestellt hat, dann verändern sie ihre Erscheinung, und wecken Enthusiasmus. […] Die Strepponi wird sich so den Verdienst erworben haben, in Paris den ersten Schritt zu einer Revolution des Gesangs hin gemacht zu haben, eine Revolution, die ohne Verzögerung Früchte tragen wird.«

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Mit dem Verweis auf eine bewusste Deklamation der Nationalsprache, auf eine Erneuerung des (Musik-)Theaters mit ausdrucksstarker Präsentation von Leidenschaften, schließlich auf revolutionäre musikalische und stimmliche Qualitäten werden wichtige Schlüsselwörter der Bewegung Giovane Italia, deren wichtige Köpfe in Paris versammelt waren,32 mit Strepponis Stimme verknüpft und auf den inzwischen bekannten Verdi und sein Repertoire der vokalen Neuerung33 rückgebunden. Verdi in Paris Nach seinem London-Aufenthalt für I masnadieri kam Verdi 1847 nach Paris. Es war ein Besuch, den Strepponi vor Ort vorbereitet hatte: Mit einem Konzert, in dem sie Partien aus Ernani und Nabucco sang; und mit Kontakten zu den Verlegern Escudier. Inwieweit sie an den letztlich gescheiterten Plänen beteiligt war, in Versailles zusätzlich zum Pariser Théâtre Italien eine italienische Operngruppe zu verorten, bliebe zu überprüfen. Ganz ungetrübt ist der Erfolg der beiden in der französischen Hauptstadt jedoch nicht: Hugo äußerte Vorbehalte gegen eine, wie er es sah, Profanisierung seines Hernani in Verdis Oper, sodass Ernani 1846 nur unter geändertem Titel am Théâtre Italien aufgeführt werden konnte. Womöglich auch, weil der Komponist mit der Qualität von Orchester, Chor und Sänger_innen dort unzufrieden war, wurde das nächste Pariser Opernprojekt an der Académie Royale umgesetzt: I Lombardi alla prima crociata wurde grundlegend überarbeitet, ins Französische übertragen und mit einem Ballett versehen als Jérusalem 1847 aufgeführt. Verdi und Strepponi führten die Adaptionen an der Oper gemeinsam aus. Eine Schülerin Strepponis sang die Haupt­ rolle.34 32 Vincenzo Gioberti und Giuseppe Mazzini, Vertreter eines gemäßigten beziehungsweise eines radikalen Liberalismus, hielten sich in diesen Jahren in Paris auf, vgl. Carlo Romano, »Mazzini visto da Verdi: da modello venerato di patriottismo a profeta esecrato«, in: Giuseppe Verdi e il Risorgimento, hg. von Ester Capuzzo, Antonio Casu, Angelo G. Sabatini, Soveria Mannelli 2014, S. [51]–71; Antonio Rostagno, »Verdi fra Gioberti e Manin. Dal liberalismo moderato alla Società nazionale italiana«, in: ebd., S. [25]–49. 33 Rodolfo Celletti, »Caratteri della vocalità di Verdi«, in: Atti del IIIo congresso internazionale di studi verdiani, 12–17 giugno 1972. Il teatro e la musica di Giuseppe Verdi, hg. von Mario Medici und Marcello Pavarani, Parma 1974, S. 81–88; Silke Leopold, »Stimme oder Figur? Violetta auf der Bühne zu Verdis Lebzeiten«, in: Verdi. La Traviata, hg. von ders., Kassel u. a. 2013, S. 99–104; Emanuele Senici, »Vocal Categories and Individual Singers in Early Verdi«, in: »Poetischer Ausdruck der Seele«: Die Kunst, Verdi zu singen, hg. von Isolde Schmid-Reiter, Regensburg 2016 (Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie), S. 23–38. 34 Günther, Documents inconnus (Anm. 8), S. 570–571.

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Die Republik Beide, Strepponi und Verdi, zeigten sich in dieser Zeit in Paris in ihren Briefen als glühende Republikaner_innen und beurteilten die dort erlebten Cinque giornate des Revolutionsjahres 1848 mit der zeitweiligen Vertreibung der Habsburger aus Mailand aus dieser Perspektive. Warum sie sich entschlossen hatten, in Paris zu wirken, ist ein Punkt, dessen abschließende Klärung noch aussteht. Frankreich sollte jedenfalls gute 10 Jahre später eine entscheidende Rolle bei der Bildung des italienischen Nationalstaats spielen. Und auch Verdi war sich dessen bewusst, dass Italien nicht allein aus eigener Kraft seine Eigenständigkeit erlangen konnte, als er am 24. August, als sich die Revolution in Mailand bereits in Restauration verkehrt hatte, an Giuseppina Appiani schrieb: … sa in chi spero? Nell’Austria: nei sconvolgimenti dell’Austria. Qualche cosa di serio deve pure nascere là, e se noi sapremo cogliere il momento, e fare la guerra che so doveva fare, la guerra d’insurrezione, l’Italia può ancora esser libera. Ma Iddio ci salvi d’aver confidenza dei nostri re e nelle nazioni straniere.35

Schon früher, im April 1848, als noch unklar war, welche Folgen die Erhebung zeitigen würde, äußerte sich Strepponi – wie in ihrem nahen, politisch aktiven Freundeskreis auch unter Frauen durchaus üblich – in ihrem Republikanismus nicht weniger eindeutig gegenüber Pietro Romani: Capisco benissimo che le crome e le semicrome non possono far effetto contro i colpi di fucile e di cannone, sempre per l’antica verità del più forte! Ma vadino pure al Diavolo tutte le note, se vi fosse luogo a sperare che l’Italia divenisse grande, unita, forte … libera! Ma troppe teste coronate l’opprimono ancora. Io ebbi un momento di grande speranza, quando i Milanesi cacciarono il tedesco dalla loro città, ma ora le cose volgono alla peggio e gl’Italiani non possono rinunziare allo spirito di partito, discutono, parlano troppo e non agiscono abbastanza. Il sangue scorre in rivoluzioni impetuose, generose, ma gli uomini non hanno abbastanza fermezza per conservare il frutto dei loro sagrifizj! Dimenticano quanto loro costò il rovesciare un trono e ne innalzano un’altro, come non si potesse vivere senza Re!36 35 Giuseppe Verdi an Giuseppina Appiani, 24.08.1848, Eduardo Rescigno (Hg.), Giuseppe Verdi. Lettere, Milano 2012, S. 197: »Weißt du auf wen ich hoffe? Auf Österreich: auf die Umbrüche in Österreich. Es muss dort etwas Ernsthaftes entstehen, und wenn wir den Moment zu nutzen wissen und Krieg beginnen, denn ich weiß das müssen wir, einen kriegerischen Aufstand, dann kann Italien noch frei sein. Aber Gott behüte uns davor, Vertrauen in unsere Könige oder in fremde Nationen zu haben.«; vgl. auch Baldassarre, Onore a questi prodi, Anm. 99 (Anm. 18). 36 Giuseppina Strepponi an Pietro Romani, 21.04.1848, zitiert nach Sartori, La Strepponi e Verdi (Anm. 7), S. 252: »Ich verstehe sehr gut, dass Achtel- und Sechzehntelnoten nichts gegen Gewehrund Kanonenschüsse ausrichten können, immer der alten Wahrheit des Rechts des Stärkeren fol-

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In der letzten Pariser Zeit führte das Paar ein eher zurückgezogenes Leben im damals noch ländlichen Passy bei Paris. Die Revolutionswirren, die auch auf Frankreich übergriffen, führten vermutlich dazu, dass Strepponi und Verdi 1849 beschlossen, nach Italien zurückzugehen. Strepponi hatte mit sinkenden Zahlen an Schüler_innen zu kämpfen, und es erwies sich für beide schwierig, Einnahmen zu retten und ihre finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Eine frühe Phase der gemeinsamen künstlerischen Erneuerung, in der Strepponi Stimmkompetenz in die als dramatisch und ursprünglich gefasste Art zu singen und zu spielen einbrachte, und damit die revolutionäre Färbung der Neukompositionen Verdis klanglich mittrug, kam so durch ein Revolutionsjahr und seine realpolitischen Auswirkungen zu einem Ende. Ehe? Die Rückkehr nach Busseto, in die Nähe der Eltern und Schwiegerfamilie Verdis, bedeutete für Strepponi allem Anschein nach ein Spießrutenlaufen. Dass sich Verdi notariell und räumlich von seinen Eltern und deren finanziellen Angelegenheiten im Jahre 1851 trennte, wird landläufig mit der unfreundlichen Aufnahme Strepponis in Verbindung gebracht. Möglicherweise verschärfte sich die Situation auch durch eine erneute Schwangerschaft der Lebensgefährtin Verdis: Philips-Matz konnte nachweisen, dass im April 1851 ein neugeborenes Mädchen mit dem Namen Santa Stirponi in Cremona im Krankenhaus abgegeben wurde. Sie fand schliesslich Pflegeeltern, die auf einem St’Agata benachbarten Grundstück lebten und mit deren Familie Verdi und Strepponi in Kontakt standen.37 In diese Gemengelage ist auch der Brief Verdis vom Januar 1852 einzuordnen, den er zur Verteidigung Strepponis an seinen Schwiegervater Antonio Barezzi schreibt: Io non ho nullo da nascondere. In casa mia vive una signora libera, indipendente, amante come me, della vita solitaria, con una fortuna che la mette al coperto di ogni bisogno. Né io, né Lei dobbiamo a chicchessia conto delle nostre azioni, ma d’altronde chi sa quali gend! Doch mögen alle Noten zum Teufel gehen, wenn es Raum gäbe, zu hoffen, dass Italien groß, vereint, stark, frei werde! Aber zu viele gekrönte Häupter drücken es noch nieder. Ich hatte einen hoffnungsvollen Moment, als die Mailänder die Deutschen aus ihrer Stadt vertrieben haben, aber jetzt wenden sich die Dinge zum Schlechten und die Italiener können dem Parteigeist keine Absage erteilen, diskutieren, sprechen zu viel und handeln zu wenig. Das Blut läuft bei Revolutionen ungestüm, freizügig, aber die Menschen haben nicht genügend Festigkeit, um die Früchte ihrer Opfer zu bewahren! Sie vergessen was es sie gekostet hat, einen Thron umzustürzen und errichten darauf einen neuen, als ob man nicht ohne König leben könne!« 37 Phillips-Matz, Verdi. A Biography (Anm. 3), S. 289–295.

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rapporti esistono fra noi? Quali gli affari? Quali i legami? quali i diritti che io ho su Lei, ed Ella su di me? Chi sa s’Ella è o non è mia moglie? […] Bensì io dirò che a Lei, in mia casa, si deve pari anzi maggior rispetto che non si deve a me.38

Verdis ausdrückliche Betonung von Strepponis finanzieller Unabhängigkeit mag sehr wohl auch mit Fragen nach einem möglichen Erbe des Komponistenvermögens aus dem Familienkreis zusammenhängen, die gerade in Zusammenhang mit einer Schwangerschaft der ehemaligen Sängerin aufgekommen sein könnten. Die beiden scheinen diesem Brief nach zu urteilen recht erfolgreich darin gewesen zu sein, einen Mantel des Schweigens darüber gelegt zu haben, wie sie ihre Beziehung definierten. Teil dieser Verschleierungstaktik mag auch ein erneuter Rückzug aufs Land gewesen sein: Mit den Einnahmen aus Paris und London kaufte Verdi das Landgut St’Agata in der Nähe von Busseto. Dort sollten beide bis zu ihrem Tod leben. Über die Gründe dafür, dass nicht früher geheiratet wurde, lässt sich ebenfalls nur spekulieren. Es gibt Hinweise darauf, dass er sich ihr gegenüber nicht zu sexueller Treue verpflichtet sah – was auch unter verheirateten Männern dieser Zeit jedoch nicht ungewöhnlich gewesen wäre, zumal sich Strepponi daran auch nicht gestört zu haben schien.39 Gaia Servadio vermutet, dass Probleme in Zusammenhang mit Strepponis Sohn Camillo, zu dem sie, anders als im Falle ihrer Töchter, Kontakt hielt, einer Heirat im Wege standen. Bei einer Eheschließung hätten möglicherweise Aufsehen erregende Verhandlungen mit dem Impresario Cirelli angestanden, der Camillo nach der Geburt legitimiert hatte. Offenbar war es im Falle der häufigen illegitimen Geburten im italienischen Opernwesen der Zeit tatsächlich oberste Handlungsleitlinie, einen Skandal zu vermeiden; bei entsprechender Diskretion in der Handhabung blieb auch moralische Verurteilung aus.40 Ebenfalls vermutet wurde, dass u.U. noch Forderungen aus Streppo-

38 Giuseppe Verdi an Antonio Barezzi, 21.01.1852, Rescigno, Giuseppe Verdi (Anm. 35), S. 260: »Ich habe nichts zu verbergen. In meinem Haus lebt eine freie Dame, unabhängig, die wie ich das Leben auf dem Lande liebt, mit einem Vermögen, das sie alle ihre Bedürfnisse abdecken lässt. Aber weder ich noch sie müssen irgendjemandem Rechenschaft darüber ablegen, was wir tun und überhaupt wer weiß, in welcher Beziehung wir zueinander stehen? Wie steht es zwischen uns? Was verbindet uns? Welche Rechte habe ich auf sie und sie auf mich? Wer weiß, ob sie meine Frau ist oder nicht? […] Jedenfalls sage ich was sie betrifft: in meinem Haus gebührt ihr derselbe Respekt wie mir, wenn nicht größerer.« 39 Phillips-Matz, Verdi. A Biography (Anm. 3), S. 287–288 zu Verdis vermutlicher Affäre in Venedig 1852, S. 290 zu einem möglicherweise mit einer Dienerin 1850 gezeugten Kind Verdis. 40 John Rosselli, Singers of Italian Opera. The History of a Profession, Cambridge, New York und Melbourne 1992, S. 68.

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nis nicht erfüllten Engagements aus der Zeit ihrer Sängerinnenkarriere gegen Verdi laut geworden wären und dies eine Heirat verhindert haben mag.41 Opernrollen Möglich wäre aber auch, dass sie ihre Verbindung schlicht und ergreifend ähnlich revolutionär definierten, wie die künstlerische Neuerung, die sie verfolgten42 – was von biographischen Spekulationen weg- und zu künstlerischen Fragen hinführt. Während Verdis Popularität als Opernkomponist um 1850 zunahm und in der Trias Rigoletto (Venedig, 1851), Il Trovatore (Rom, 1853) und La Traviata (Venedig, 1853) gipfelte, veränderten sich die dramaturgischen Anlagen der Opern und mit ihnen die Frauenrollen. Verdi/Strepponi orientierten sich weg von historischen Stoffen und ins Zeitgenössische hinein, weg von großen Chorszenen, Schlachtengetümmel und kriegerischen Frauen und hin zu Leidenschaftskonflikten der Protagonist_innen zwischen Liebe, Ehre und Pflichterfüllung.43 Bei gleichbleibender Relevanz der Bestrebungen zur sanglichen Erneuerung im Sinne von gesteigerter Affektivität und Dramatik44 stand nun das Leiden und Sterben von Frauen im Mittelpunkt. 2014 hat Claudio Colombati aufgezeigt, dass ein qualvoller Tod aus dem Leidenschaftskonflikt heraus, unabhängig vom historischen Setting des Stoffes, zur Geschichtskonstruktion einer sich formenden italienischen Nation wurde.45 Auch die weibliche Verkörperung der italienischen Nation in der allegorischen Tradition der Freiheitsdarstellungen der französischen Revolution lässt sich in Italien nachweisen.46 Im Jahrzehnt der Vorbereitung der Einheit kann damit das in allen Details geschilderte Sterben der Verdi-Heldinnen auch als Bild einer unterdrückten Nation gefasst werden, als Darstellung einer unverschuldeten Knechtschaft und damit Wurzel zu Revolution, Opferbereitschaft und Erneuerung.47 Eine Sicht, die der 41 Marcello de Angelis, Le carte dell’impressario. Melodramma e costume teatrale nell›ottocento, Firenze 1982, S. [135]–190. 42 Rutherford, Verdi, Opera, Women (Anm. 1), S. 113. 43 Zu den musikalisch-formalen Neuerungen nach La battaglia di Legnano vgl. Baldassarre, Onore a questi prodi (Anm. 18). 44 Vgl. z. b. Leopold, Stimme oder Figur? (Anm. 33), S. 99–104. 45 Claudio Colombati, »Il soggetto storico e il mito verdiano del Risorgimento nel pensiero poeticomusicale dell’Ottocento«, in: Giuseppe Verdi e il Risorgimento, hg. von Ester Capuzzo, Antonio Casu, Angelo G. Sabatini, Soveria Mannelli 2014, S. [73]–100. 46 Fischer, »Von gefallenen Engeln« (Anm. 1), S. 155–160. 47 Zur zeitgenössischen Rezeption von La Traviata vgl. Susan Rutherford, »La traviata, or the ›willing

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von Catherine Clément im Zuge der zweiten Frauenbewegung monierten défaite des femmes (wörtlich einer »Zerlegung« der Frauen) in den Opern des 19. Jahrhunderts, darunter prominent diejenigen Verdis,48 eine grundlegend neue Perspektivierung verleiht. Sucht man nach dem philosophischen Fundament der italienischen Einheitsbewegung dieser Jahre, führt eine Relektüre der zeitgenössisch stark rezipierten Schrift Del rinnovamento civile d’Italia (1851) des ausgebildeten Theologen, Philosophen und späteren Politikers Vincenzo Gioberti zu bisher nicht rezipierten postkolonialen Aspekten: Antonio Rostagno zufolge führt Gioberti die schwache Stellung Italiens auf die Unterteilung in unhierarchisierte »kulturelle« und nicht »natürliche«, sprich »rassische« Gruppen zurück. Dieser Gedankengang mündet in eine Herleitung der gegenwärtigen Degeneration, sprich der italienischen Zerstückelung und Besatzung, von einer für den »Volksstamm« schwächenden Mischung indigener und nicht indigener Völker auf dem Territorium Italiens. Der Prozess des Nation building durch Erneuerung ziviler Werte wird demnach bei Gioberti mit der Denkfigur einer »rassischen« Einheitlichkeit in Verbindung gebracht.49 Silvana Patriarca zufolge wohnt dem angestrebten Erneuerungsprozess dieser Jahre zudem eine geschlechtliche Komponente inne: Einer mit weiblichem Leiden illustrierten Degeneration steht eine in der moralischen Erhebung der Neuerung angestrebte Maskulinisierung gegenüber.50 Das Weibliche wird somit doppelt konnotiert: Inhaltlich als Zustand übermenschlichen Leidens, den es in einem auch ethnisch gefassten Neuerungsprozess zu überwinden gilt; und musikalisch als Weg in einen neuen, intensivierten sängerischen und darstellerischen (und auch allgemeinmusikalischen) Ausdruck. Die bereits vollzogene musikalische Revolution erklingt in den Verdi-Opern, und vor allem in deren Frauenfiguren, somit zeitgleich zu ausführlichen inhaltlichen Schilderungen eines dazu vorzeitigen degenerativen Zustands der Nation – quasi als Aussicht auf erfolgreichen Vollzug der Neuerung. Oder vielmehr: Die Musik ist die (zivile) Neuerung, der Gesang die (politische) Revolution. Ähnlich wie der Konstruktionsprozess einer »italienischen Nation« durch zivile Neuerung sich auf deren angebliche historische Existenz bezog51, versprach die »revogrisette‹: Male Critics and Female Performance in the 1850s«, in: Verdi 2001. Atti del convegno iternazionale di studi, Parma, New York, New Haven 24 gennaio–10 febbraio 2001, hg. von Fabrizio della Seta, Roberta Montemorra Marvin und Marco Marica, 2 Bde., Bd. 2, Florenz 2013, S. 585– 600. 48 Catherine Clément, L’opéra, ou, la défaite des femmes, Paris 1979. 49 Rostagno, Verdi fra Gioberti e Manin (Anm. 32), S. 30. 50 Silvana Patriarca, Italianità. La costruzione del carattere nazionale, Bari 2010 (Storia e società), S. 30. 51 Banti, La nazione del Risorgimento (Anm. 24), S. 30.

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lutionäre« Neuerungsrhetorik der Verdi’schen Vokalität somit Erfolg und damit erfüllte Suche. Eine solche Deutung des Sterbens der Traviata Violetta Valérie umgeht die Kritik, textbasierte revolutionäre Inhalte hätten in einer Aufführung nicht rezipiert werden können. Die musikalische Revolution der affizierenden Vokalität der Ursprünglichkeit Verdis/Strepponis ist zwar in den Handlungsverlauf eingebettet, aber nicht konkret textabhängig. Der gesungene Tod Violettas führt vielmehr gleichzeitig das Problem und dessen Lösung vor: die nationale Einheit Italiens. Eine solche Deutung schließt selbstredend andere Interpretationsansätze der Sterbeszene, so den von Rutherford überzeugend entwickelten Rezeptionszusammenhang über das Krankheitsbild der Tuberkulose keineswegs aus, unterstreicht vielmehr die Polyvalenz in der Rezeption von Aufführungen allgemein.52 Einheit und Ehe 1859 entschieden Strepponi und Verdi, sich in Savoyen am Genfer See, mehr oder weniger heimlich, mit Bediensteten als Trauzeugen das Ja-Wort zu geben. Dass sich die italienische Einheit würde verwirklichen lassen, war zu diesem Zeitpunkt bereits abzusehen, erfolgte die Eheschließung doch in Wochenfrist vor der Wahl Verdis zum Abgeordneten der Provinz Busseto für das Parlament in Parma. Das Abgeordnetenmandat war eine Voraussetzung für die Wahl ins italienische Parlament im Januar 1861. Strepponi und Verdi, die beiden feurigen Republikaner von einst, hatten inzwischen gelernt, Konzessionen zu machen. Sie waren nun Unterstützer Camillo Benso di Cavours und damit einer italienischen Einigung unter dem König von Sardinien-Piemont, Vittorio Emanuele II., die weit umfassender war als die republikanischen Träume der Lombarden von einst. Womöglich stellten sie die private Entscheidung zur Heirat in den Dienst der politischen Sache. Denn auch wenn eine Heirat nicht explizit Voraussetzung für ein Abgeordnetenmandat war, scheint die zeitliche Koinzidenz der staatlichen Einheit mit dem Übergang in die bürgerliche Existenzform als Paar augenfällig. Ernüchterung Von einem Auseinanderleben, von Schwierigkeiten in der Beziehung der Verdis wissen wir aus der zweiten Hälfte der 1860er Jahre. Signora Verdi schrieb entsprechende Passagen in ihrem Tagebuch nieder. Noch während der 1850er Jahre 52 Rutherford, Verdi, Opera, Women (Anm. 1), S. 186–190.

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hatte sie daran gearbeitet, das Bild von Verdi als Bären zu zeichnen53, der besonders während intensiver Arbeitsphasen missmutig auf seine Umgebung reagierte. Das Verhalten des »orso« ist in ihrer Korrespondenz nachgezeichnet und konturiert ihre unerlässliche Rolle als gewandte und belesene Vermittlerin des Familienbetriebs nach außen umso deutlicher. Nun jedoch hatte sie es mit einem anderen Verdi zu tun, dem Politiker der italienischen Einheit. Sein in diesem Lebensabschnitt selbst geschaffenes Bild des einfachen Bauern54 aus Le Roncole, dem zum Sinnbild der Einheit gewordenen einfachen Mann (der eigentlich hoch gebildet, wohlhabend und Großgrundbesitzer war), ließ ihr weniger Spielraum für eigene Rollenfindungsprozesse – künstlerischer wie privater Natur. Verdis bewusst angegangener Versuch, Authentizität, Volksverbundenheit und Männlichkeit durch seine Verbindung mit der »italienischen Scholle« zu kreieren (und vielleicht damit sogar republikanische und kosmopolitische Ansätze der 1840er Jahre vergessen zu machen), ließen seine Frau vielleicht etwas ratlos bezüglich der eigenen Rolle an der Seite des musikalischen Nationalgenies im geeinten Italien zurück. Hier gilt es, eine bereits viel zitierte Tagebuchstelle vom Januar 1868 ins Gedächtnis zu rufen, die bisher im Blick auf Strepponi als Traviata einseitig gedeutet wurde: J’ai pris part à la conversation, en disant mon opinion, avec des termes, que j’ai pensée ont été convenable… mais depuis assez longtemps je parle, à ce qu’il parait toujours, mal et mal à propos. […] Après en venant dans ma chambre, je lui ai domandé: Qu’ai-je dit hier soir, qui méritait tes observations? Il me repondit: C’est le ton… Mais au nom de Dieu! Est-ce qu’à mon âge je dois parler et me tenir comme une jeune fille? … Il soutient que j’ai la prétention de me croire une femme parfaite (!) et qu’on ne peut me toucher, ni me dire un mot, sur ce que je dis et fais, surtout sur mon ménage! […] Et d’ailleurs, est-ce un grand crime de s’occuper, comme je le fais, aussi consciensieusement d’affaires, qui sont, dans leur extrème modestie, du rapport essentiellement féminin? Que d’hommes voudrait voir leurs femmes occupées de la sorte, surtout quand on conserve en même temps les gouts poétiques de la lecture, des arts, et d’une élégance en rapport avec l’âge? Mais ayant renoncé à la societé, au monde (et avec bonheur!) pour m’occuper exclusivement de ce qui peut lui être utile, et nécessaire, ne serait il pas juste de m’en tenir compte, avec une parole de satisfaction au mains une fois par an?! Mais c’est peut être là mon tort, de n’avoir pas fait comme la généralité des femmes qui arrivées à obtenir un but ardemment desire, recommencent après une vie de dépenses, d’amusement, etc. J’ai voulu devenir une femme neuve pour répondre dignement à l’honneur que j’ai reçu en devenant sa femme et au bien que je reçois continuellement de cet homme, qui pour être parfait il ne lui manquerait 53 Anselm Gerhard, »Verdi-Bilder«, in: Verdi Handbuch, 2. Aufl., hg. von dems. und Uwe Schweikert, Stuttgart 2013, S. 2–28, hier: S. 6–8. 54 Ebd., S. 20–21.

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qu’un peu de douceur et de charme dans les rapports journaliers, avec qui n’a d’autre bonheur, que celui d’une parole aimable!55

Die Äußerung Strepponis, eine »neue Frau« werden zu wollen, die die Monographie Irene Tobbens56 sogar im Titel trägt, wurde bisher moralisch gedeutet: Strepponi habe sich im neuen Rahmen der italienischen Einheit und der neu geschlossenen Ehe moralisch von ihrer kompromittierenden Vergangenheit lösen können. Es spricht jedoch vieles dafür, dass sie selbst und auch Verdi nichts Kompromittierendes an ihrer Vergangenheit als erfolgreicher Opernsängerin sahen. Dass dieses Berufsbild, wollte man Erfolg, nahezu zwangsläufig Promiskuität und ungewollte uneheliche Kinder mit sich brachte, war allgemein bekannt und wohl als eine Art Systemfehler auch akzeptiert.57 Susan Rutherford wies dagegen auf die zu Strepponis Gesangsauftritten zeitgenössische Konzeption der Primadonna als »a positive symbol of liberation and artistic fulfilment, whose voice is quintessentially the voice of freedom« hin.58 Das spiegelt sich 55 Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, 4 Bde., Bd. 3, Milano 1959, S. 157 und https://www.rodoni.ch/ CORSOSUVERDI/cronologia.html (abgerufen am: 06.03.2019): »Ich beteiligte mich an der Unterhaltung [mit Angelo Mariani, über Politik] und äußerte meine Meinung so, wie ich es für angebracht hielt – aber schon seit geraumer Zeit sage ich anscheinend immer nur Ungelegenes und im ungelegenen Moment. […] Später in meinem Zimmer fragte ich: ›Was habe ich eigentlich gestern Abend gesagt, das deine Kritik verdiente?‹ Er antwortete: ›Dein Ton war es…‹ Aber muss ich denn um Gottes willen in meinem Alter wie ein kleines Mädchen reden und mich benehmen? Er behauptet, ich masse mir an, eine vollkommene (!) Frau zu sein, und man dürfe mich nicht im leisesten angehen oder mucksen bei dem, was ich sage und tue, besonders wenn es um meine Haushaltsführung geht. […] Ist es denn ein so großes Verbrechen, sich, so wie ich, auch mit Dingen ernsthaft zu befassen, die in ihrer äußersten Bescheidenheit typisch weibliche Eigenschaften haben? Wie viele Männer würden nicht gern ihre Frauen in dieser Art beschäftigt sehen, überhaupt wenn man dabei den Geschmack am Lesen, an den Künsten und eine seinen Jahren angemessene Eleganz sich bewahren konnte. Aber da ich auf die Gesellschaft, auf die Welt (und gerne!) verzichtet habe, um mich ausschließlich mit dem zu beschäftigen, was ihm nützlich und nötig sein könnte, wäre es da nicht gerecht, wenn er mir dies mit einem Wort der Zufriedenheit zumindest einmal im Jahr vergelten würde. Aber vielleicht ist es meine Schuld, dass ich es nicht wie die meisten anderen Frauen gemacht habe, die wenn sie ein brennend ersehntes Ziel einmal erreicht haben, ein Leben voller Ausgaben und Vergnügungen etc. beginnen. Ich wollte eine neue Frau werden, um mich der Ehre würdig zu erweisen, die mir damit widerfuhr, seine Frau zu werden, und würdig des Guten, das ich ständig von diesem Mann erfahre, dem vollkommen zu sein wohl nichts fehlt als ein wenig Wärme und Herzlichkeit im täglichen Umgang mit jemandem, der kein anderes Glück kennt, als ein freundliches Wort aus seinem Mund.« 56 Irene Tobben, »Ich wollte eine neue Frau werden«. Giuseppina Strepponi, Verdis Frau: Ein Lebensbild, Berlin 2003. 57 Vgl. oben S. 47 und Anm. 40. 58 Susan Rutherford, »The Voice of Freedom. Images of the prima donna«, in: The New Woman and her Sisters. Feminism and Theatre 1850–1914, hg. von Viv Gardner und Susan Rutherford, New York

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auch darin, dass bereits seit den 1830er Jahren in Frankreich eine Zeitschrift erschien, die zwischenzeitlich den Titel La femme nouvelle trug und sich in von Frauen geschriebenen Artikeln mit emanzipatorischen Themen beschäftigte.59 Bettet man die »neue Frau« in spätere zeitgenössische Rollenbilder ein, ging es Signora Verdi in ihrem Tagebucheintrag vermutlich viel weniger darum, die Primadonna moralisch vergessen zu machen, als mit neueren emanzipatorischen Entwicklungen Schritt zu halten, die in Zeiten der Verbürgerlichung auch einschlossen, einen Haushalt straff und professionell zu führen: Für 1868, den Zeitpunkt des Tagebucheintrags Strepponis, konstatiert Anne-Marie Käppeli gar eine erneute Welle der Veröffentlichung emanzipatorischer Zeitschriften, darunter Anna Maria Mozzonis La donna in Italien, in der auch über feministische Strömungen im Ausland berichtet wurde.60 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die »neue Frau« zum emanzipatorischen Kampfbegriff für das Ideal der weiblichen Berufstätigkeit.61 Zur Zeit von Giuseppina Verdis Bezug auf diesen Begriff mögen die Inhalte von Emanzipation nicht rein auf eigenständiges, vom Haushalt unabhängiges Berufsleben hin ausgerichtet gewesen sein – allein die Tatsache, dass aus klerikalen wie aus italienisch-feministischen Kreisen in der zweiten Jahrhunderthälfte verwandte Positionen zu Frauenbildern vertreten werden konnten62, bestärkt eine solche Annahme und erklärt eine allgemeine Tendenz zu einer durchaus fortschrittlich gedachten, religiös fundierten und moralisierenden Verbürgerlichung von Geschlechterrollen. Im Kontext gelesen verweist Strepponis Tagebucheintrag somit auf eine versuchte Neuorientierung hin zu bürgerlich-weiblicher Beflissenheit – die bei ihrem Mann, der sich einst in die freie Primadonna verliebt hatte, wohl nicht nur auf Wohlgefallen stieß. Wenig später kam es zwischen den beiden zum Eklat – und dabei ging es keineswegs um Haushaltsführung. Anfang 1869 las Giuseppina Verdi – wohl zurecht – Gezwungenheit aus der Einladung ihres Mannes, zur Uraufführung von La forza del destino nach Mailand zu kommen. Sie vermutete dahinter eine Affäre mit der Sopranistin Teresa Stolz: Quando facevamo insieme la gita a Milano, la visita a Manzoni, la corsa sul lago e che conseguenza di tutto questo vi era il tuo ravvicinamento al paese de’ tuoi primi successi, u. a. 1992, S. 95–113, hier: S. 95; dies., »Divinig the ›diva‹, or a Myth and its Legacy: Female Opera Singers and Fandom«, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft/Annales Suisses de Musicologie/ Annuario Svizzero di Musicologia, N.F. 36 (2016), erschienen 2019, S. 39–62. 59 Anne-Marie Käppeli, »Die feministische Szene«, in: 19. Jahrhundert, hg. von Geneviève Fraisse und Michelle Perrot, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Geschichte der Frauen 4), S. [539]–573, hier: S. 546. 60 Ebd. 61 Vgl. z. B. Martha H. Patterson, The American Woman Revisited. A Reader 1894–1930, London 2008. 62 Michela De Giorgio, »Das katholische Modell«, in: 19. Jahrhundert, hg. von Geneviève Fraisse und Michelle Perrot, Frankfurt a.M. u. a. 1994 (Geschichte der Frauen 4), S. [187]–220, hier: S. [187].

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Christine Fischer

io non pensava allo strano e duro risultato che mi sta dinanzi di essere rinnegata. No, Verdi, io non poteva pensare che in primavera si potesse presentare insieme all’augusta presenza del Manzoni ed in inverno fosse cosa prudente rinnegarmi.63

Wie die Erwähnung des gemeinsamen Nationalhelden Alessandro Manzoni verdeutlichen mag, lag die eigentliche Verletzung für Strepponi nicht so sehr in der ehelichen Untreue (möglicherweise war sie daran gewöhnt). Vielmehr verletzte sie offenbar der Verrat an der gemeinsamen Sache, der künstlerischen Ausrichtung an einem vereinten Italien als Paar, die sie mit Verweis auf Manzoni assoziiert, zutiefst. Nun hielt die zentrale Rolle ihres Berufs- und Privatlebens eine andere, jüngere Sängerin besetzt, mit der und für die der Maestro musikalisch arbeitete und neue künstlerische Ziele verfolgte. Dabei war es für sie im enger gewordenen Moralgerüst der zweiten Jahrhunderthälfte wohl auch zunehmend schwierig geworden, eine passende Rolle an der Seite des selbst ernannten Bauern von St’Agata einzunehmen: Eine Erdverbundenheit, eine Bäuerlichkeit konnte sie sich nur schwerlich glaubhaft zuschreiben – auch wenn Ricordi in seinem oben zitierten Nachruf genau das versucht und der weltläufigen Geschäftsfrau und ehemals international gefeierten Künstlerin starke dialektale Färbung beim Ausdruck ihrer Bewunderung für Verdi in den Mund legt.64 Eine Orientierung nach unten in der sozialen Hierarchie war für Frauen ein tückenreicher Pfad, der nur mit gesteigerter Religiosität moralisch abgefangen werden konnte – sonst drohte das Abdriften in das ›wilde‹ Abseits der ursprünglich-klischeehaften Weiblichkeit, das an der Seite des genio nazionale nun wirklich undenkbar geworden war. Diese letzte Neudefinition als nouvelle femme in die Bürgerlichkeit hinein, die Signora Verdi ebenfalls als revolutionär empfunden haben mag, erklärt zumindest ansatzweise die Ambivalenz der Selbstfindung Strepponis in der Beziehung zu Verdi. Einem tieferen Verständnis ihrer Rolle in Partnerschaft und Ehe beugte Verdi, wohl auch zum Schutze seines eigenen unangetasteten Status als nationalem Genie, mit der verordneten Vernichtung seiner privaten Dokumente vor.

63 Giuseppina Verdi an Giuseppe Verdi, 03.02.1869, zitiert nach Cazzulana, Giuseppina Strepponi (Anm. 23), S. 189: »Als wir gemeinsam den Ausflug nach Mailand, den Besuch bei Manzoni, die Bootsfahrt auf dem See machten, was alles Deiner Wiederannäherung an den Ort Deiner ersten Erfolge bewirkt hat – da dachte ich nicht an das seltsame und niederdrückende Endergebnis, das mich erwarten sollte: verleugnet zu werden. Nein, Verdi, das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass man im Frühjahr miteinander vor dem großen Manzoni steht und im Winter es dann ratsam sein würde, mich zu verleugnen.« 64 Ricordi, Giuseppina Verdi Strepponi (Anm. 17), S. 664.

Henrike Rost

»His was a privileged position, she held …« Zur Paarbeziehung von Ignaz und Charlotte Moscheles

Die erfolgreiche Karriere des Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles (1794–1870) wurde maßgeblich durch seine Ehefrau Charlotte Moscheles geb. Embden (1805–1889) getragen und geprägt. Die von der Familie selbst sowie von deren Umfeld als weitgehend konfliktfrei beschriebene Paarbeziehung stellte somit eine wichtige Grundlage für die berufliche Entfaltung und Vernetzung des Musikers dar. Ignaz Moscheles, in Prag geboren, wird heute vor allem als böhmisch-jüdischer Klaviervirtuose, zudem als langjähriger Freund von Felix Mendelssohn Bartholdy erinnert.1 Moscheles’ kompositorisches Schaffen findet sowohl in der Musikgeschichtsschreibung als auch im aktuellen Konzertrepertoire kaum Berücksichtigung. Charlotte Moscheles erscheint zuweilen in der Musikforschung als Verfasserin und Herausgeberin der ersten umfassenden Biographie ihres Mannes, die 1872/73 in Leipzig erschien.2 Abgesehen von dieser Publikation ist ihr Wirken im häuslich-privaten Raum zu verorten. Die Bedeutung des familiären, häuslichen Umfelds sowie des geselligen Umgangs in privaten Kontexten für eine erfolgreiche Musikerlaufbahn im 19. Jahrhundert herauszustellen, ist ein zentrales Anliegen dieses Beitrags. Zeigen möchte ich im Folgenden vor allem, inwiefern Charlotte Moscheles durch ihre Verwandtschaftsbeziehungen aktiv Einfluss auf die Karriere ihres Mannes nahm. Neben publizierter Erinnerungsliteratur beziehe ich mich dabei auf ausgewählte autographe Beiträge aus den Stammbüchern von Ignaz und Charlotte Moscheles.3 Als Alben, die darauf zielten, persönliche Erinnerungen ebenso wie gesellschaftliche Bedeutung und ideelle Vernetzung zu dokumentieren, eröffnen Stammbücher generell einen aussagekräftigen Zugang zum ästhetischen und

1 Vgl. u. a. Thomas Schmidt-Beste, »Felix Mendelssohn Bartholdy und Ignaz Moscheles«, in: Felix und seine Freunde, hg. von Veronika Leggewie, Lahnstein 2006 (Koblenzer Mendelssohn-Tage. Vortragsreihe 5), S. 69–91. 2 Charlotte Moscheles, Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern herausgegeben von seiner Frau, Bd. 1 und Bd. 2, Leipzig 1872 und 1873. 3 Das »Autograph Book« von Ignaz Moscheles liegt in London, in der British Library: GB-Lbl, Zweig MS 215 (im Folgenden = IM); das Stammbuch von Charlotte Moscheles befindet sich in Privatbesitz und hat keine Signatur (im Folgenden = CM).

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sozialen Handeln im Privaten.4 Vor diesem Hintergrund zeichnen sich schließlich »Selbst-Bildungen« als Subjektivierungspraktiken ab, die insbesondere geschlechterbezogene Profile und Zuweisungen in der Paarbeziehung von Ignaz und Charlotte Moscheles nachvollziehen lassen.5 Die Paarbeziehung in der Erinnerung der Familie Moscheles Die für die Öffentlichkeit bestimmte narrative Darstellung der Paarbeziehung von Charlotte und Ignaz Moscheles kann nicht nur anhand der bereits erwähnten Biographie von 1872/73 nachgezeichnet werden. Zusätzlich initiierte auch der einzige Sohn des Ehepaars, der Maler Felix Moscheles, zeitgenössische Publikationen, um dem Leben und Wirken seiner Familie – zweifellos von der Bekanntheit seines Vaters ausgehend – ein Denkmal zu setzen. Dazu zählen eine Ausgabe des Briefwechsels mit Felix Mendelssohn Bartholdy, die in ihrem Titel beide Eheleute einbezieht,6 sowie Felix Moscheles’ eigene Lebenserinnerungen, die als Fragments of an Autobiography erschienen.7 Aus seiner Sicht beschrieb Felix Moscheles darin die Rollenverteilung zwischen seinen Eltern wie folgt: But it was not often my father was allowed an opportunity of watching over his own comforts. That was a duty my mother would not willingly share with him or with anybody else; quite apart from the affection she lavished on the husband, there was the tribute of respect she paid to the artist. His was a privileged position, she held, and his path should be kept clear of all annoyance. Petty troubles, at any rate, should not approach him, nor the serious ones either if it was within her power to shield him from them; if not, she would contrive to take the larger share of the burden upon herself.8

Demnach erfüllte Charlotte Moscheles in geradezu paradigmatischer Weise die Aufgaben einer Musikergattin aus gehobenen bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts. Als Ignaz’ engste Vertraute, Beraterin und Assistentin war sie bemüht,

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Für eine umfassende Auseinandersetzung mit den bisher kaum in der Musikforschung berücksichtigten Quellen verweise ich auf meine Dissertation: Henrike Rost, Musik-Stammbücher. Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar und Wien 2020 (Musik – Kultur – Gender 17). Hierzu Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist, »Einleitung«, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, hg. von dens., Bielefeld 2013, S. 9–30. Briefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy an Ignaz und Charlotte Moscheles, hg. von Felix Moscheles, Leipzig 1888. Felix Moscheles, Fragments of an Autobiography, New York und London 1899. Ebd., S. 5 f.

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ihren Mann vom alltäglichen Unbill abzuschirmen und leistete auf diese Weise ihren Beitrag zu seinem künstlerischen Schaffen.9 Charlotte Moscheles selbst äußerte sich über die 45 Jahre währende Beziehung zu ihrem Mann mit ähnlichen Worten, wobei sie die große Verbundenheit der Eheleute nachdrücklich betonte: Im Entstehen glich diese Jugendliebe jeder anderen; – ein lockeres, leicht zu lösendes Band; bald aber mischte sich gegenseitige Achtung hinein, um es fester zu schürzen, erhöht durch das Gefühl der aufrichtigsten Dankbarkeit. Die Frau fühlte sich gehoben durch die Stellung, die er ihr gab, er dankte ihr manche Hülfeleistung, die, wenn auch noch so gering, ihm doch seine täglichen materiellen Obliegenheiten erleichterte, sodass er ungestörter seinem Künstlerberufe nachleben konnte. Während einer 45jährigen Ehe der Liebe und Treue hatte sich das Gefühl gegenseitiger Unentbehrlichkeit so mächtig entwickelt, dass dies Band nur gewaltsam durch den Schwertstreich des Todes zu trennen war!10

Demzufolge führten die Moscheles eine glückliche und erfüllte Paarbeziehung mit klarer Rollenverteilung, die dem Geschlechterdiskurs ihrer Zeit gänzlich entsprach. Ignaz Moscheles’ Identität und »Subjektform« als Musiker herausstellend,11 untermauerte Charlotte Moscheles die Eintracht in der gemeinsamen Ehe schließlich mit folgendem Ausspruch ihres Mannes: »Wir handeln gewöhnlich unisono, kommt ja einmal eine Abweichung, so ist es eine durchgehende Note, die bald ihre Auflösung findet.«12 Zufriedenheit auf beiden Seiten also – eine emotionale Grunddisposition, die auf einem »Gefühl gegenseitiger Unentbehrlichkeit« basierte. Wie ist dieses in der Erinnerungsliteratur kolportierte Narrativ einer glücklichen Ehe nun weiter zu kontextualisieren? Wie kann das weitgehend reibungslose Funktionieren der Partnerschaft, dem offensichtlich eine gewisse Ausgewogenheit der Interessen und Ansprüche auf beiden Seiten zugrunde lag, genauer gefasst werden? Und inwiefern wurde Charlotte Moscheles tatsächlich – wie sie es formulierte – »gehoben durch die Stellung, die er ihr gab«?

9 Zu Charlotte Moscheles’ Rolle als »companion, […] copyist, nurse, friend and advisor on matters both professional and personal« vgl. auch Mark Kroll, Ignaz Moscheles and the Changing World of Musical Europe, Woodbridge 2014, S. 148–153, hier: S. 148. 10 Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1872 (Anm. 2), S. 97 f. 11 Im Anschluss an Andreas Reckwitz sind Subjektformen »gesellschafts- oder bereichsspezifische kulturelle Typisierungen wie ›der Bürger‹, ›die Unternehmerin‹« etc. und zu verstehen als »Formen, in denen Individuen für andere wie für sich selbst als Subjekte intelligibel werden«. Alkemeyer, Budde und Freist, Selbst-Bildungen (Anm. 5), S. 18. 12 Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1872 (Anm. 2), S. 98.

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Abb. 1: Charlotte und Ignaz Moscheles im Jahr 1854 (Privatbesitz).

Das familiale Netzwerk der Charlotte Moscheles (geb. Embden) Als Tochter des Kaufmanns Adolph Embden und seiner Frau Serena (geb. Dellevie) in Hamburg geboren, hatte Charlotte Embden nach kurzer Verlobungszeit am 1. März 1825 – mit 19 Jahren – einen bereits etablierten, erfolgreichen Musiker geheiratet. Durch ihre Herkunft aus einem kulturaffinen deutschjüdischen Familienumfeld war sie bestens auf ihr zukünftiges Leben vorbereitet. Zu Charlotte Moscheles’ Verwandtschaft gehörten, neben dem Dichter Heinrich Heine und den Malern Leo, Henri und Rudolf Lehmann, die einflussreichen Pariser Kulturförderer August und Sophie Leo sowie Nanette und Sebastian Valentin. Aufgrund der großen Bedeutung des familialen Netzwerkes Charlotte Moscheles’ in Hinblick auf die Unterstützung der beruflichen Ambitionen ihres Mannes seien die Verwandtschaftsverhältnisse an dieser Stelle kurz nachgezeichnet. Sophie Leo (1796–1864) sowie ihre Schwester Nanette Valentin (ca. 1784–1848) – geb. Dellevie – waren Charlotte Moscheles’ Tanten mütterlicherseits und wie alle fünf Dellevie-Schwestern in Hamburg aufgewachsen. Die mittlere Schwester Frederika Dellevie (1792–1884) heiratete den Hamburger Maler Leo Lehmann; zwei ihrer Söhne, Henri und Rudolf, wurden ebenfalls

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Maler. Die zweitjüngste Schwester Caroline (1794–1850) heiratete Reuben Hahn; einer ihrer Enkel war der Komponist Reynaldo Hahn. Während Nanette und Sophie beide in Paris ansässige Bankiers ehelichten, blieb Serena (1782– 1818), die älteste der Dellevie-Schwestern und Charlotte Moscheles’ Mutter, nach der Heirat mit Adolph Embden im Jahr 1801 in Hamburg. So führte die Hochzeitsreise von Charlotte und Ignaz Moscheles nicht zufällig nach Paris. Das frisch vermählte Paar besuchte dort im Frühjahr 1825 die Familien Valentin und Leo.13 Naheliegend ist es, sich vorzustellen, wie das junge Paar die mondäne Stadt erkundete, die Ignaz Moscheles bereits durch frühere Konzertreisen kannte, und aktiv am geselligen Leben teilnahm. Da sowohl die Valentins als auch die Leos in Paris wohlbekannte offene Häuser führten, in denen ortsansässige sowie zugereiste Musiker:innen, Künstler:innen und Dichter:innen ein- und ausgingen, ist anzunehmen, dass Charlotte und Ignaz Moscheles fast täglich mit neuen und alten Bekannten in geselliger Runde zusammentrafen, wobei dem Hören, Aufführen und Reden von Musik eine wichtige Rolle zukam. Als Bestandteil der geselligen Kommunikation war in Paris zudem das Sammeln von Autographen und insbesondere von gewidmeten Notenautographen, die in Stammbücher eingeschrieben oder eingeklebt wurden, Mitte der 1820er Jahre eine weit verbreitete Mode. Vor diesem Hintergrund kam auch Charlotte Moscheles während der Hochzeitsreise auf die Idee, ihrem Musikergatten ein solches Stammbuch zu schenken. Bereits vor der Geschenkübergabe hatte sie mehrere Musiker um Einträge in das Album gebeten.14 Darunter sind die Pianisten Johann Peter Pixis und Johann Nepomuk Hummel, die sich beide am 18. April 1825 in das Stammbuch eintrugen, sowie der Geiger Charles Philippe Lafont mit einem Eintrag vom 26. April 1825.15 Die Stammbucheinträge der Gebrüder Beer Datiert vom 25. April 1825 in Paris steuerten Jacob Meyer Beer (1791–1864), bekannt unter dem Name Giacomo Meyerbeer, sowie dessen jüngerer Bruder, der Dichter Michael Beer (1800–1833), Beiträge zum Album bei. In der Biogra13 Ebd., S. 99 f. 14 Vgl. ebd. 15 IM f.65v (S. 76); IM f.61r (S. 71); IM f.64, f.65r (S. 73–75) (Anm. 3). Für eine umfassende Diskussion und Erläuterung der Autographe vgl. Rost, Musik-Stammbücher (Anm. 4), S. 160–163. Das Album von Ignaz Moscheles wurde von der British Library vollständig digitalisiert und ist seit April 2017 online einsehbar: (abgerufen am: 21. August 2020).

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phie erwähnt Charlotte Moscheles sie als regelmäßige Gäste des Hauses Valentin, sodass davon auszugehen ist, dass die Moscheles in Paris mit den Brüdern öfters in geselliger Runde zusammenkamen. Vor diesem Hintergrund schrieb Giacomo Meyerbeer eine Komposition in das Stammbuch, die in der Bezugnahme auf Pixis’ Eintrag die Melodie von God Save the King in Hinblick auf die bevorstehende Übersiedlung der Moscheles nach England kreativ verarbeitete.16 Michael Beer verfasste für Ignaz Moscheles eine dreiseitige Dichtung. Unter der Überschrift »Legende« entwickelte Beer, thematisch an die Eheschließung der Moscheles anknüpfend, eine skurrile Kurzgeschichte in anspielungsreichen Versen. Der Text wurde später mit kleineren Abweichungen und Glättungen unter dem Titel »Der Herrgott und der Musikant. In das Stammbuch eines Tonkünstlers nach seiner Vermählung im Jahre 1825 in Paris« veröffentlicht.17 Die bisher nie publizierte Fassung der Dichtung aus dem Stammbuch sei im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.18 [S. 51] Legende. Es war vor altergrauer Zeit, / Ich glaub’ es sind nun schon zwei Monde, / Daß sich in seiner Herrlichkeit, / Des lieben Herr-Gott’s Majestät, / Wie er das wohl schon oftmals thät’, / An seinem Himmels-Feuer sonnte. / Er schaute von dem Sternen-Zelt / Hinunter in die kleine Welt, – / Und’s kam ihm vor, als trieb man da / Gar mancherlei Hallotria. / Er schaute manchen staub’gen König, / Drob lacht der alte Herr nicht wenig. / Der dreht und bläht sich, als wär er schon / Des Herr-Gott’s himmlische Person. / Minister sieht er auf goldnen Säcken, / Das Volk auf kargem Streu sich strecken. / Schaut auch viel neue schwarze Pfaffen, / Die machen sich viel mit ihm zu schaffen. / Und sprechen: »Kopf ab wer nicht glaubt.« – / Drauf schüttelt er sein allwissend Haupt, / Und wend’t sich weg von diesem Zank. / Nimmt mürrisch ’ne Prise Schnupf-Taback, / Zuckt blitzend die ewigen Brauen und niest, / Daß es in Stürmen niedergießt, / Spricht drauf: was ich da drunten muß schauen, / Das macht mir Ekel, das macht mir Grauen. / Schlägt donnernd zu das Wolken-Thor. Da klingt ihm was an’s himmlische Ohr – / Es dringt von der Erde zum göttlichen Haus, / Da guckt er noch einmal zum Fenster hinaus, / Und horcht … und spricht: giebt’s auch nichts zu schauen / »Da drunten auf meinen irrdischen Gauen / »So merk’ ich es giebt dort viel zu hören. / »Sie spielen nicht besser in meinen Sphären! / Und wie er nun hinunter blickt, / Zu schauen was ihn so sehr entzückt / Sieht er mit schöpferischem Selbstgefühl, / Ein keckes Männlein am Saiten-Spiel. / In der Töne zitternde Reih’n 16 IM f.66r (S. 77) (Anm. 3). 17 Sämmtliche Werke von Michael Beer, hg. von Eduard von Schenk, Leipzig 1835, S. 902–905. 18 IM f.50, f.51r (S. 51–53) (Anm. 3). In der Transkription wurden die Unterstreichungen aus dem Autograph übernommen, Passagen in lateinischer Schrift sind kursiviert.

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[S. 52] Dringt er mit mächtigen Händen ein. / Braust’s wie der Welle schäumendes Tosen / Flüstert’s wie Zephyrs liebliches Kosen, / Füllet der Hörer klopfende Brust, / Mit staunendem Schauder, mit wogender Lust. / Ha! ruft Gott-Vater, parole d’honneur / Das nenn’ ich spielen! Mes anges, kommt her! / Ich schwör’s bei mir, selber, hier seyd ihr nur Stümper. / Meine Haus-Capell’ macht ein elend Geklimper. / Den Meister, den will ich gebührend belohnen, / Ich geb ihm was beß’res als Schätze und Kronen. / Will Musterung halten der himmlischen Wesen / Und eines ihm zur Gesellschaft erlesen. Front, kommandirt er! Die leuchtenden Engel / Präsentiren die ewigen Lilien-Stengel. / Gott winkt, und ein Englein kommt angehupft, / Dem werden die Flügel gleich ausgerupft. / Gekleidet wird es in strahlenden Schnee / Von der feinsten Sort’ auf Olympos Höh’. / Papa mahlt ihm selber recht länglich genau / Die glänzenden Augen, mit himmlischem Blau. / Das Morgenroth liefert, nach Gottes Verlangen, / Die zartesten Rosen den schneeigten Wangen. / Und das köstlichste Schwarz der gehorsamen Nacht, / Durchfließet des Scheitels geglättete Pracht. / Als Gott so fertig gekleidet den Leib, / So spricht er: mein Engelchen werde ein Weib; / Und haucht ihm in die Lieb athmende Seele, / Des Geschlechtes Tugend – die reizende Fehle. / So wird sie zur Erde hinab spedirt / Und dem Meister der Töne gleich kopulirt. / Der Herr-Gott segnet mit himmlischem Mund / Höchstselber den vielversprechenden Bund, / Drauf sagt er zu seinem Grand-Chambellan / Dem Meister hab’ ich das Beste gethan. / Ich gab ihm im lumpigen Reiche der Zeit / Die seligste Wonne der Ewigkeit. / Er genieße sein Glück benedey’ meinen Nahmen / Und wohl wird’s ihm gehn bis in Ewigkeit. Amen! Dies hier ist eine wahrhafte Geschicht’, [S. 53] Wie uns eine alte Sage bericht’ / Wer sie nicht glaubt, versteht sie nicht. / Dir aber, mein Freund, dir ist sie auf ’s Haar / Gewiß ganz deutlich und sonnenklar. / Und wenn dir das Herz drob im Leibe lacht / So sey dabei des Freundes gedacht, / der diese Geschicht zu Papier gebracht. Paris d. 25ten April / 1825.

Michael Beer

Wie deutlich geworden sein dürfte, beschreibt Michael Beer in seiner »Legende« mit humoristischer Intention den Ehebund von Ignaz und Charlotte Moscheles als himmlische Belohnung für einen »Meister der Töne«, dem der Herrgott, entsprechend der charakteristischen Rollenverteilung des 19. Jahrhunderts, einen seiner Engel als Gefährtin zur Seite gestellt hat. Reproduziert wird das Klischee von Künstlergenie und Künstlergattin, die als attraktive und liebende Partnerin ihrem Mann nicht nur eine glückliche Ehe und Familie gewährt, sondern ihm aktiv in allen beruflichen sowie alltäglichen Belangen zur Seite steht. Damit kam Beer den tatsächlichen Umständen im Hause Moscheles durchaus nahe. Denn der Musiker legte Wert darauf, seine junge Gattin in den ersten

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Ehemonaten gezielt zu einer für ihn hilfreichen Assistentin und Partnerin auszubilden. In einer in der Moscheles-Biographie überlieferten Tagebuchnotiz heißt es dazu: »Ich gebe meiner Frau nicht nur Clavierstunden, sie muss auch Noten schreiben von mir lernen […]«.19 In welchem Maße Charlotte Moscheles – über das Notenkopieren und das Korrekturlesen von Druckfahnen hinaus – letztlich in das künstlerische Schaffen ihres Mannes eingebunden war, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Diverse in ihrer Handschrift verfasste, mit dem Namen Ignaz Moscheles unterzeichnete Briefe belegen jedoch, dass Charlotte Moscheles an der geschäftlichen und persönlichen Korrespondenz ihres Mannes maßgeblich, allerdings gewissermaßen ›unsichtbar‹ beteiligt war. Ihr Handeln als liebevolle Ehefrau sowie als Assistentin in beruflichen Dingen kann hier als Ausdruck der von ihr verinnerlichten Subjektform ›Musikergattin‹ gelesen werden – vor dem Hintergrund der »Subjektkulturen«, die die jeweilige Subjektform prägen und bestimmen.20 Charlotte Moscheles: Musikergattin mit gewissen Kontakten Ihre Qualitäten als Gefährtin eines Künstlers stellte Charlotte Moscheles schließlich im Laufe vieler Ehejahre immer wieder unter Beweis. Durch den engen Kontakt zur Familie Leo lernte Ignaz Moscheles beispielsweise im Herbst 1839 Frédéric Chopin persönlich kennen, der mit August und Sophie Leo befreundet war und von diesen verschiedentlich gefördert wurde.21 Beide Pianisten wurden kurz darauf für ein Konzert am 29. Oktober an den Hof nach SaintCloud bestellt, wo sie vor der königlichen Familie unter anderem gemeinsam Moscheles’ vierhändige Klaviersonate vortrugen.22 Die von Chopin gestaltete Seite in Moscheles’ Album nimmt darauf Bezug: »And.[ante] de la Sonate à 4 mains de Moscheles / Souvenir de St Cloud. – 1839 / F[rédéric] Chopin / admirateur de l’auteur«.23

19 Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1872 (Anm. 2), S. 108. 20 »Subjektkulturen« sind zu verstehen als »historisch sich verändernde und umkämpfte Komplexe aus Praktiken, diskursiven Semantiken, (impliziten) Wissensordnungen und kulturellen Kodes, die die bewohnbaren Zonen der Subjektformen abstecken.« Alkemeyer, Budde und Freist, Selbst-Bildungen (Anm. 5), S. 20. 21 Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1873 (Anm. 2), S. 38 f. Vgl. auch [Sophie Leo], Erinnerungen aus Paris. 1817–1848, Berlin 1851, S. 192–195. 22 Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1873 (Anm. 2), S. 43–45. 23 IM f.77v (S. 90) (Anm. 3).

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Wie bereits erwähnt war Charlotte Moscheles auch mit dem Dichter Heinrich Heine familiär verbunden.24 Auf Besuch in London, wo sich die Moscheles nach der Heirat niedergelassen hatten, verkehrte Heine – an die verwandtschaftlichen Bande anknüpfend – im Sommer 1827 regelmäßig bei der Familie. Der vertraute Kontakt wird im Stammbuch durch ein Briefchen Heinrich Heines an die Moscheles illustriert.25 Bei einem seiner Besuche nutzte Charlotte Moscheles die Gelegenheit, sich im Austausch für Gefälligkeiten mit einem besonderen Wunsch an Heine zu wenden. Sicher auch um ihre eigenen Bemühungen um die Reputation ihres Mannes herauszustellen, schildert sie in der Biographie ausführlich, wie sie den für seinen beißenden Spott bekannten Dichter auf einen Pakt zum Schutz ihres Mannes festlegte:26 Gleich bei seinem ersten Besuch hatten wir Beide ein komisches Gespräch mit einander; ich weiss nicht, wo ich den Muth hernahm; aber als er mir erzählte, was er zu sehen wünsche, sagte ich: »Dazu und zu allen Privatgalerien und Parks, zu allen öffentlichen Gebäuden kann ich Ihnen Einlasskarten verschaffen und mache mir es zur Ehre; nur verlange ich etwas dafür, und möchte einen Pact darüber schliessen.«27

Bemerkenswert ist schließlich der Wortlaut, mit dem Charlotte Moscheles – sich selbst zitierend – ihr eigentliches Anliegen wiedergibt. So typisiert sie ihren Mann wiederum als Musiker, zu dessen Kunst Heine keinen tiefergehenden Zugang habe und Moscheles somit nur jenseits seines Metiers verspotten könne. Nachdem zunächst in ihrer Argumentation vor allem die Sorge um den Ruf ihres Mannes im Vordergrund steht, offenbart die Formulierung zur »Hinweglassung unseres Namens« im resümierenden Satz schließlich Charlotte Moscheles’ Selbst-Einbindung in die Paar-Konstellation: »Ich möchte«, erwiderte ich, »dass Sie in dem Buche, welches Sie jetzt über England schrei­ben werden, Moscheles nicht nennen.« Nun war er erst recht erstaunt und ich 24 Die Schwester ihres Vaters Adolph, Henriette (geb. Embden), war mit Henry Heine, Heinrich Heines Onkel, verheiratet; der Bruder Moritz Embden heiratete Charlotte (geb. Heine), Heinrich Heines jüngere Schwester. 25 IM f.31r (S. 27) (Anm. 3). Das Billett vom Juli 1827 begleitete die Rückgabe von Strümpfen und Stiefeln, die Heine nachdem er eingeregnet war, bei den Moscheles’ geliehen hatte. Der Brieftext ist wiedergegeben in: Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1872 (Anm. 2), S. 182. 26 In den 1840er Jahren übte Heinrich Heine etwa massive Kritik an dem mit den Moscheles’ eng befreundeten Felix Mendelssohn Bartholdy. Vgl. Dietmar Goltschnigg, »Heines Auseinandersetzung mit musikalischen Zeitgenossen. Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner«, in: Die Vorstellung von Musik in Malerei und Dichtung, hg. von Barbara Boisits und Cornelia Szabó-Knotik, Wien 2006 (Musicologica Austriaca 25: Jahresschrift der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft), S. 55–67, hier: S. 56–59. 27 Moscheles, Aus Moscheles’ Leben, 1872 (Anm. 2), S. 181.

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erklärte weiter: »Moscheles’ Specialität ist die Musik, die interessirt Sie vielleicht, aber Sie haben doch kein besonderes Verständniss dafür, können also nicht eingehend darüber schreiben. Dahingegen könnten Sie leicht irgend einen Anhalt für Ihre genialisch satirische Ader an ihm finden und den bearbeiten, das möchte ich nicht.« Er lachte oder schmunzelte vielmehr, auf die ihm eigenthümliche Weise, und dann gaben wir uns den Handschlag, er auf Hinweglassung unseres Namens, ich auf Besorgung von Einlasskarten.28

Zeichnungen von Rudolf Lehmann für Ignaz und Charlotte Moscheles Ignaz Moscheles’ Stammbuch enthält neben Notenautographen, Briefen und Texteinträgen auch mehrere Bilder und Zeichnungen. Charlotte Moscheles’ Cousin, der Maler Rudolf Lehmann (1819–1905), steuerte beispielsweise zum Album eine kolorierte Genreszene bei.29 Der entsprechende Brief, der die Zusendung begleitete, adressiert die Eheleute als Paar und drückt den Wunsch aus, dass die Zeichnung »Euren Beifall haben, das schöne Album nicht verunzieren, und unter den guten Dingen die ich Euch und den Euren im neuen Jahre wünsche das Schlechteste sein möge«.30 Eine weitere Zeichnung von Lehmann findet sich schließlich im Stammbuch von Charlotte Moscheles.31 Sie sammelte in dem Album, das sie ungefähr ab Ende der 1830er Jahre führte, neben stammbuchtypischen Einträgen überwiegend Zeichnungen und Bilder, die sie meist nachträglich einklebte. Auch die Bleistiftzeichnung von Rudolf Lehmann wurde nicht direkt im Album ausgeführt, sondern später eingefügt. Im Vergleich zum Album ihres Mannes zeichnet sich die Sammlung von Charlotte Moscheles durch deutlich privatere Kontexte und Bezugnahmen aus. So ist die »Familien-Caricatur Rud.[olf ] Lehmann« – wie die Zeichnung im handgeschriebenen Inhaltsverzeichnis des Albums genannt wird – nur schwer in all ihren Bedeutungsebenen zu entschlüsseln. Deutlich ist jedoch ein Musikbezug nachzuvollziehen: Durch die auf dem Bild zu 28 Ebd., S. 181 f. 29 IM f.42r (S. 39) (Anm. 3). Die Zeichnung, signiert mit »18RL60«, zeigt eine barfüßige Frau in bäuerlicher Kleidung, die einen Krug bei sich trägt und auf eine Wasserlandschaft blickt. 30 IM f.41r (zwischen S. 38/39) (Anm. 3). »Lieber Moscheles und liebe Charlotte / Eben im letzten Moment kündigt Mutter mir den Abgang der Zeichnung an Euch an. Mir bleibt nur Zeit den Wunsch und die Hoffnung auszusprechen, daß sie Euren Beifall haben, das schöne Album nicht verunzieren, und unter den guten Dingen die ich Euch und den Euren im neuen Jahre wünsche das Schlechteste sein möge. / Herzlich grüßt und bittet um ferneres geneigtes Wohlwollen / Euer Vetter Rudolf [in Ignaz Moscheles’ Handschrift: »Fontenay, 1 Januar 1861«]. 31 CM, S. 53 (Anm. 3).

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Abb. 2: Die »Familien-Caricatur« von Rudolf Lehmann in Charlotte Moscheles’ Stammbuch (Privatbesitz).

entziffernden Worte »Schlaf, Herzenssöhnchen« und »Engel vom Himmel so lieblich wie du« wird auf Liedzeilen aus dem Wiegenlied op. 13 Nr. 2 ( JV 96) von Carl Maria von Weber angespielt, dem ein Text von Franz Carl Hiemer zugrunde liegt. Weiterhin ist unter einem aufklappbaren Papierstreifen am rechten Bildrand der restliche Teil der Darstellung einer Waage verborgen. Über der rechten Waagschale, die aufgrund mangelnden Gewichts nach oben ragt, wurde der Name »Beethoven« notiert. Wenngleich ich hier keine schlüssige Deutung der Zeichnung präsentieren kann, scheint mir doch in der Bezugnahme auf zwei zentrale Namen des musikalischen Kanons, der zweifellos auch die kulturelle Identität der Moscheles durchdrang, eine spielerische Referenz auf musikkulturelle Codes im Zuge der innerfamiliären Kommunikation vorzuliegen. Charlotte Moscheles’ Eintrag in Ignaz Moscheles’ Stammbuch Nach diesem kurzen Blick in Charlotte Moscheles’ Album möchte ich nun wieder zurückkommen auf das Stammbuch ihres Mannes, in dem dieser im Laufe seines Lebens über 150 Beiträge sammelte. Auf diese Weise dokumentierte Ignaz Moscheles nicht nur seine zahlreichen beruflichen wie privaten Kontakte, sondern untermauerte auch seine eigene gesellschaftliche Position. In beeindruckender Vielfalt, aber auch in dezidierter Selektion versammelt das Stammbuch die einflussreichsten Namen des öffentlichen Musik- und Kulturlebens. In Hin-

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blick auf die bekannten Zuweisungen der geschlechtertypischen Wirkungsräume fällt der Anteil von Frauen unter diesen Persönlichkeiten dabei erwartungsgemäß gering aus. Umso bemerkenswerter ist es deshalb, dass sich Charlotte Moscheles selbst im Album ihres Mannes verewigte. Sie platzierte ihren leicht zu übersehenden Eintrag, bei dem es sich um eine vertikal eingeschriebene Zeile handelt, am äußersten Rand der letzten Albumseite.32 Dabei folgte sie einer seit Jahrhunderten etablierten Praxis, die bis hin zum Wortlaut teils auch noch heute in sogenannten ›Poesiealben‹ zu beobachten ist. Im Zuge dieses Brauchs blieben die Einträge auf der ersten sowie der letzten Seite eines Stammbuchs besonders nahestehenden Personen vorbehalten.33 Wahrscheinlich anlässlich der Schenkung während der Hochzeitsreise dichtete Charlotte Moscheles: »Wer mehr dich liebt als ich, der schreib’ sich hinter mich. Deine treue Charlotte. 14 April 1825 Paris.«34 Gewissermaßen als Auftakt zu ihrer Paarbeziehung mit Ignaz Moscheles schrieb sich Charlotte Moscheles somit über ihren Stammbucheintrag als dessen Lebenspartnerin in die Erinnerung ein. Sie unterstrich dabei zugleich ihren Anspruch auf Teilhabe an der gesellschaftlichen Position ihres Mannes, die sich in seinem Musik-Stammbuch nicht nur in ideeller Form, sondern in haptisch greifbarer Gestalt materialisiert. Grundlegend ist diesbezüglich, dass es sich bei dem Album sowohl um ein innerfamiliär geschätztes als auch um ein kulturell wertvolles Erinnerungsobjekt handelt, dessen potenzielle Bedeutung für eine breitere Öffentlichkeit ebenso wie ein daran gebundener finanzieller Wert vermutlich von Beginn an zumindest in Ansätzen eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte.35

32 Der Eintrag befindet sich auf einem circa 1 cm breiten Papierstreifen, der am äußeren rechten Seitenrand aufgeklebt wurde (online einsehbar, s. Anm. 15). Dies könnte späteren Reparaturmaßnahmen geschuldet sein, wobei nicht auszuschließen ist, dass der Streifen immer schon eingeklebt war. 33 Vgl. Robert und Richard Keil, Die Deutschen Stammbücher des sechszehnten bis neunzehnten Jahrhunderts. Ernst und Scherz, Weisheit und Schwank in Original-Mittheilungen zur deutschen Kultur-Geschichte, Berlin 1893 (Nachdruck: 1975), S. 39 f. 34 IM f.158r (S. 229) (Anm. 3). Wohl als Spaß gedacht, schrieb Sigismund Neukomm im Juni 1829 noch eine weitere Zeile in kleinerer Schrift unter Charlotte Moscheles’ Eintrag und machte ihr auf diese Weise die ultimativ letzte Position im Album streitig. 35 So sind Stammbucheinträge zweifellos als eine »Form der Veröffentlichung« anzusehen. Beatrix Borchard, »Opferaltäre der Musik«, in: Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy. Komponieren zwischen Geselligkeitsideal und romantischer Musikästhetik, hg. von Beatrix Borchard und Monika Schwarz-Danuser, Stuttgart u. a. 1999, S. 27–44, hier: S. 42.

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Fazit Mittels Erinnerungsliteratur sowie anhand von ausgewählten Stammbucheinträgen konnten in diesem Beitrag wesentliche Dispositionen in der Paarbeziehung von Ignaz und Charlotte Moscheles nachgezeichnet werden – eine Partnerschaft, die grundlegend durch die Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts geprägt erscheint, zugleich aber bis heute, in Hinblick auf die Konstellation von professionellem Musiker bzw. Künstler und einer dessen beruflichen Ambitionen verpflichteten Gattin, als exemplarisch gelten kann. Charlotte Moscheles brachte in ihre Ehe ein weit gespanntes familiales Netzwerk und einflussreiche Kontakte ein, die für Ignaz Moscheles in vielerlei Hinsicht vorteilhaft waren, konnte er doch daran anknüpfend seine Beziehungen zu den künstlerischen und gesellschaftlichen Eliten nachhaltig festigen. Aus einer Bescheidenheitsgeste heraus, die vor dem Hintergrund der entsprechenden Subjektkulturen zu betrachten ist, verstand Charlotte Moscheles sich selbst dennoch als »gehoben durch die Stellung, die er ihr gab«. Als Moscheles’ Partnerin und Assistentin wirkte sie vor allem im privaten, familiären Rahmen. Ihr kam die Rolle zu, optimale Voraussetzungen und Freiräume für die Künstlerexistenz ihres Mannes zu schaffen. Durch das Verfassen seiner Biographie leistete sie schließlich einen wichtigen Beitrag zur Einbindung Ignaz Moscheles’ in die Musikgeschichtsschreibung. Zugleich sicherte sie sich selbst als Herausgeberin einen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch ihr Eintrag in das Stammbuch ihres Mannes, das in erster Linie bekannte und öffentlich wirkende Akteure und Akteurinnen des kulturellen Lebens adressierte, lässt ein Interesse daran erkennen, ihre eigene Bedeutung, die überwiegend im häuslichen Umfeld zu verorten ist, für eine begrenzte Öffentlichkeit festzuschreiben. Bereits in den ersten Ehemonaten positionierte sich Charlotte Moscheles auf diese Weise als liebende Musikergefährtin, die sich in der Paarbeziehung mit Ignaz Moscheles vor allem dazu bestimmt sah, die privilegierte Stellung ihres Mannes als Künstler zu gewährleisten und zu erhalten.

Hannah Gerlach

»Goethe cause içi un grand bouleversement« Paarkonzepte und Diskursreflexion in Charlotte von Steins Lustspiel Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe

Charlotte von Stein (1742−1827) gehört, der schieren Häufigkeit ihrer Thematisierung folgend, zu den berühmtesten Partnerinnen der deutschen Literatur. Zwar gelten ihre Briefe an den Freund Johann Wolfgang von Goethe, Dokumente eines über Jahre hinweg geführten Austauschs, größtenteils als vernichtet. Rund 1700 Schreiben von ihm an sie sind jedoch erhalten und seit dem 19. Jahrhundert zahllose Male gedruckt worden.1 Meist von ihnen ausgehend wird die Geschichte des »Paars« von Stein und Goethe, der »Frau in Goethes Nähe«2, seiner »unerfüllte[n] Passion«3, ihres gemeinsamen »Sommerregen[s] der Liebe«4 oder des »Martyrium[s] der Frau von Stein«5 bis heute in regelmäßigen Abständen besprochen.6 Vor allem die Daten der ersten Begegnung beider 1775 in Weimar und seines Aufbruchs zu seiner zweijährigen Italienreise 1786 werden dabei in der Regel mit mindestens zwei Kommentaren versehen: Der erste der beiden lautet, zwischen Goethe und von Stein, einer verheirateten Hofdame, habe sich kurz nach ihrer Bekanntschaft auch eine Liebesbeziehung entwickelt. Sie sei aufgrund seiner verheimlichten Reise und seiner späteren Beziehung zu Christiane Vulpius jedoch durch von Stein beendet worden. Zweitens, so das Credo diverser Texte, seien die nachfolgend verfassten literarischen Werke von Steins als Dokumente ihrer veränderten Haltung Goethe gegenüber und schon insofern zugleich als »dilettantische Versuche ohne literar[ischen] Anspruch«7 entstanden: »S.s dichterische Arbeiten«, 1

Vgl. zur Übersicht über erhaltene Korrespondenz Elke Richter, »Charlotte von Steins Nachlass im Goethe- und Schiller-Archiv«, in: Charlotte von Stein. Schriftstellerin, Freundin und Mentorin, hg. von Elke Richter und Alexander Rosenbaum, Berlin und Boston 2018, S. 51−74. 2 Jochen Klauß, Charlotte von Stein. Die Frau in Goethes Nähe, Zürich 1995. 3 Alfons Nobel, Charlotte von Stein. Goethes unerfüllte Passion, München 1985. 4 Sigrid Damm, Sommerregen der Liebe. Goethe und Frau von Stein, Frankfurt a. M. 2015. 5 Ida Boy-Ed, Das Martyrium der Frau von Stein. Versuch einer Rechtfertigung, Stuttgart 1916. 6 Vgl. etwa Susanne Kord, »Einleitung«, in: Charlotte von Stein. Dramen (Gesamtausgabe), hg. von ders., Hildesheim, Zürich und New York 1998, S. I−XXXIV. 7 Walter Hettche/Red., Art. »Stein, Charlotte (Ernestina Bernardina) von, geb. von Schardt«, in: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl.,

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heißt es etwa im Killy-Literaturlexikon, umfassten »einige kleinere Dramen, in denen sie, z. T. kaum verhüllt, ihren Zorn auf Goethe verarbeitet ha[be]«8. Auch infolge solcher Urteile entstanden in den letzten Jahrzehnten – etwa mit Studien Arnd Bohms, Susanne Kords, Ortrud Gutjahrs oder Gaby Pailers – verschiedene Forschungsbeiträge, die genauere Analysen der literarischen Gestaltungsweisen von Steins forderten.9 Bezieht man diese Beiträge ein, kann mittlerweile grob von drei Schwerpunkten der Forschung zur Autorin gesprochen werden: Zum einen dem eingangs erwähnten, nach dem von Steins Werke als authentische, emotionale Beziehungskommentare zu verstehen sind. Dann einem zweiten neuerer Beiträge, die die Werke von Steins zwar ebenfalls als zu dechiffrierende Texte, zugleich jedoch als humorvoll gebrochene Darstellungen Goethes lesen. Eine dritte Richtung lässt sich als gänzliches Abrücken von Goethe als Referenzfigur fassen. So rief etwa Kord dazu auf, die »Goethe-Phase«10 der Rezeption von Steins endlich abzuschließen. Dass sich zumindest der zweite und dritte Ansatz lohnen, dass es sich lohnt, Goethe als komische (Neben-)Figur in von Steins Werken zu verstehen oder seine Person in Analysen mitunter ganz auszusparen, kann als sicher gelten; selbst in der Dido von Steins, die lange als geradezu prototypisches Werk der gekränkten Geliebten firmierte, haben Forschungsarbeiten sowohl diverse zen­ trale, unabhängig von Goethe gesetzte Verweise wie humorvolle Referenzen auf seine Werke nachweisen können.11 Dennoch, so die These dieses Aufsatzes, Bd. 11, hg. von Wilhelm Kühlmann in Verb. m. Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus und Reimund B. Sdzuj, Berlin und Boston 2011, S. 205 f., vgl. zu einer ähnlichen Stellungnahme etwa Ulrich Joosts Rezension der oben zitierten Gesamtausgabe überlieferter Dramen von Steins; diese richtet sich gegen das »feministische[ ] Lager der Literaturwissenschaft« und seine Verbreitung der Dramen von Steins, die »doch eher ermüdend« seien (Ulrich Joost: [Rez. zu] »Charlotte von Stein: Dramen (Gesamtausgabe). Herausgegeben und eingeleitet von Susanne Kord, Hildesheim 1998«, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1997, hg. im Auftrag der LichtenbergGesellschaft von Wolfgang Promies und Ulrich Joost, Göttingen 1998, S. 327−329, hier: S. 328. 8 Hettche/Red., Art. Stein, Charlotte (Ernestina Bernardina) von, geb. von Schardt (Anm. 7). 9 Vgl. etwa Arnd Bohm, »Charlotte von Steins ›Dido, Ein Trauerspiel‹«, in: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft 22 (1989), S. 38−52; Susanne Kord, »Not in Goethe’s Image. The Playwright Charlotte von Stein«, in: Thalia’s Daughters. German Women Dramatists from the Eighteenth Century to the Present, hg. von Susan L. Cocalis und Ferrel Rose unter Mitarbeit von Karin Obermeier, Tübingen 1996, S.  53−76; Ortrud Gutjahr, »Charlotte von Steins ›Dido‹ – eine Anti-Iphigenie?«, in: Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche, hg. von Ortrud Gutjahr und Harro Segeberg, Würzburg 2001, S. 219−246 und Gaby Pailer, »Literaturbeziehungen und Geschlechterentwürfe um 1800: Autorinnen um Schiller«, in: LenzJahrbuch 13/14, (2004–2007) S. 59–87. 10 Kord, Einleitung (Anm. 6), S. VI. 11 Auslöser der Annahme, von Stein wolle sich über den Text an Goethe »rächen«, war generell die ironisch skizzierte, selbstische (Neben-)Figur des Dichters »Ogon« (vgl. Charlotte von Stein, Dido.

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übergehen selbst solche Ansätze einen zentralen Aspekt des Schreibens von Steins – und das ist ihre Verarbeitung der eigenen Rezeption als Goethes Freundin in ihren Texten. Diesem Aspekt, den man als Diskursreflexion von Steins bezeichnen könnte, wird im Folgenden am Beispiel des Lustspiels Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe in zwei Schritten nachgegangen. Ein erster ist rezeptionsbezogen: Das Lustspiel als Schlüsseltext zu verstehen, so die Behauptung hier, war immer mit Schwierigkeiten, teils auch mit Korrekturen des Textes durch Editoren verbunden. Gerade daran, soll zweitens veranschaulicht werden, ist der Charakter des Werks, das mit der Form wie der Erwartung des Schlüsseltextes de facto spielt, jedoch deutlicher zu erkennen: Denn in der Tat setzt das Neue Freiheits-System Anreize, mit der Beziehung von Steins und Goethes verbunden zu werden. Untersucht man das Lustspiel genauer, zeigt jedoch schon seine Vielzahl widersprüchlicher ›Schlüssel‹, wie das Werk weit eher einen Metakommentar zur Wahrnehmung von Steins darstellt, als Ansichten einer Goethe emotional verhandelnden früheren Freundin zu liefern. Fünf Abschnitte zu den Thesen folgen: Ein erster thematisiert Inhalt und Druckfassungen des Stücks, Abschnitte zwei und drei diskutieren die gerade aufgrund der erwähnten Vereindeutigungsversuche aussagekräftige Editionsgeschichte des Werks. Abschnitt vier vergegenwärtigt anhand der Kapitel eins bis drei das erwähnte alternative Textverständnis. Fünftens folgt ein kurzes Fazit des Aufsatzes. Inhalt und Druckfassungen des Stücks Charlotte von Steins hier diskutierter Text, vollständig Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen übertitelt, ist in den Jahren 1798 und 1799 entstanden und entgegen den erklärten Absichten der Autorin zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht worden.12 Aus dem Nachlass gedruckt wurden dagegen gleich drei verschiedene Fassungen des Werks: Eine erste stammt von 1867 und wurde vom Urenkel Charlotte von Steins, Felix von Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, hg. von Heinrich Düntzer, Frankfurt a. M. und Leipzig 1867). Die erwähnten alternativen Rückbindungsmöglichkeiten des Stücks verdeutlichen unter anderem Beiträge Ortrud Gutjahrs, Charlotte von Steins »Dido« – eine Anti-Iphigenie? (Anm. 9) oder früher Arnd Bohms, Charlotte von Steins »Dido, Ein Trauerspiel«, (Anm. 9) und Susanne Kords, Einleitung (Anm. 6), die neben der Option des Vergleichs des Dramas mit Goethes Iphigenie auf Tauris vor allem auf Referenzen von Steins in Richtung der Dido-Tragödie von Justinus verweisen. 12 Vgl. Linda Dietrick und Gaby Pailer, »Nachwort«, in: Charlotte von Stein: Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe. Ein Lustspiel in Fünf Aufzügen, mit einem Nachwort hg. von dens., Hannover 2006, S. 103−113, hier: S. 106.

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Stein, explizit abgeändert veröffentlicht. Eine zweite Fassung ist 1930 uraufgeführt und 1948 erstmals publiziert worden – herausgegeben hat sie der Regisseur und Intendant Franz Ulbrich, der in weiten Teilen auf die Version von 1867 zurückgriff. 2006 schließlich erschien eine Ausgabe nach einer Weimarer Abschrift des Textes mit handschriftlichen Anmerkungen der Autorin. Mit ihr, die von Gaby Pailer und Linda Dietrick ediert wurde, ist erstmals eine mutmaßlich autorisierte Werkfassung veröffentlicht worden.13 Worum geht es also? Blendet man Editionsunterschiede zwecks eines ersten groben Überblicks aus, lassen sich die gemeinsamen Inhalte des Lustspiels wie folgt zusammenfassen: Eine der Hauptfiguren des Textes ist der Dorfherr Daval, der es sich zum Ziel gesetzt hat, alle Liebe, wo er sie entdeckt, zu zerstören, da er sie als sozialen Irrweg wahrnimmt. Seine Antipathie wird nicht explizit erklärt; suggeriert wird nur, dass er ein Anhänger der Französischen Revolution sei, was sich womöglich mit seinen Aversionen gegen die Ehe in Verbindung setzen lässt.14 In jedem Fall folgt Daval seiner Idee konsequent: Er sabotiert die Liebesbeziehung seiner Schwester Menonda und seines Freundes Avelos, indem er an Letzteren ein gefälschtes Trennungsschreiben in Menondas Handschrift sendet. Und er lässt Avelos anschließend – im Glauben, ihm, Daval, eine eigene Liebesbeziehung zu ermöglichen – zwei völlig fremde Frauen aus einem Wirtshaus entführen, nachdem er sie im Gespräch mit Liebhabern belauscht zu haben meint. Der Plan scheitert jedoch in doppelter Hinsicht: Zum einen entpuppen sich die zwei von Daval ins Visier genommenen Frauen als Schauspielerinnen, 13 Vgl. Charlotte von Stein, »Ein neues Freiheits-System. Lustspiel in vier Akten. Nach einem Lustspiel gleichen Namens aus dem Nachlaß der Frau Charlotte von Stein, geb. von Schardt, neu bearbeitet von Felix Freiherrn von Stein-Kochberg«, in: Die Deutsche Schaubühne. Organ für Theater, Musik, Kunst, Literatur und sociales Leben, Jg. 8, 10/11 (1867), S. 1−31; Charlotte von Stein, Die Verschwörung gegen die Liebe. Lustspiel in vier Bildern, erstmalig hg. u. f. d. Bühne bearbeitet von Franz Ulbrich, Braunschweig 1948; Charlotte von Stein, Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe; aus dieser schon oben erwähnten Ausgabe wird im Fließtext mit der Abkürzung NF und Seitenzahl zitiert. 14 So unterstreicht etwa die Haushälterin des Dorfherrn, Daval wolle »Zugbrücken und Thüren abschaffen« (vgl. NF 25), er erklärt seinem Angestellten, niemand solle »aufwarten, Hunden lern[e] man aufwarten« (NF 27) und spricht wiederholt davon, er habe seinen Namen und damit auch einen früheren Adelstitel »wegen dem Sinn der Zeit [geändert]« (NF 28). Wie Linda Dietrick zurecht erläutert, wird die politische Einstellung Davals jedoch nie völlig eindeutig erklärt (vgl. Linda Dietrick, »Charlotte von Steins Lustspiel ›Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe.‹ Zum Titelbegriff ›Freiheits-System‹ im kulturhistorischen Kontext«, in: Charlotte von Stein. Schriftstellerin, Freundin und Mentorin, hg. von Elke Richter und Alexander Rosenbaum, Berlin und Boston 2018 (Supplemente zu den Propyläen 1), S. 127−138). Eventuelle Verbindungen zwischen Davals Ablehnung der Ehe und der Französischen Revolution existieren insofern, als in Frankreich 1792 erstmals auch das Scheidungsrecht eingeführt wurde (vgl. hierzu etwa Lynn Hunt, The Family Romance of the French Revolution, London 1992, S. 41 f.).

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die lediglich ihre Rollen eingeübt haben. Florine und Luitgarde, so ihre Namen, hatten im Wirtshaus also gar keine Liebhaber bei sich. Zum zweiten entführt Avelos versehentlich auch nicht sie, sondern zwei gleichfalls verschleierte andere Frauen, von denen eine sich zu allem Überfluss als Menonda herausstellt – die frühere Geliebte ihres Entführers. So scheint auch das Stück auf den ersten Blick glücklich zu enden: Menonda und Avelos finden wieder zusammen. Daval verliebt sich in Luitgarde und selbst die zweite der versehentlich Daval übergebenen Frauen findet in Fähnrich Monrose, einem jungen Bekannten, der sie zu befreien versucht hat, einen Verlobten. Zu ergänzen bleibt: Schon von diesem Plot des Stücks lassen sich Verbindungen zu von Steins tradierter, weniger glücklicher Liebesbeziehung ziehen – ein Fakt, der sich festhalten lässt, ganz ohne über von Steins Gefühle für Goethe zu spekulieren. Denn zumindest in den Jahren nach Goethes Rückkehr aus Italien war das Ende ihrer Beziehung zu ihm ein in Weimar nachweisbar viel verhandeltes Thema. So schrieb etwa Karoline von Beulwitz 1789 an Friedrich Schiller, von Stein seien Goethe betreffend »böse Reminiszenzen […] geblieben«15. Und Caroline Herder spekulierte bereits 1788 darüber, wie sich die Haltung von Steins zu Goethe verändert habe,16 um ein halbes Jahr später zu dem Schluss zu kommen, das »Verhältnis« sei »noch immer nicht im Gleis. Sie will nicht verzeihen und er nicht um Verzeihung bitten. […] Ich denke, er sei’s wohl wert, daß man um ihn etwas leidet.«17 Von Stein, unterstrich Herder darüber hinaus, sei über das Verhältnis Goethes mit Christiane Vulpius »sehr, sehr unglücklich«18. Liest man Briefe weiterer Zeitgenossen und Zeitgenossinnen der Diskutierten, lassen sich diverse ähnliche Rückbezüge auf die Verbindung von Steins und Goethes finden. Vorerst sagt das wenig über das Neue Freiheits-System. Es lohnt jedoch, im Kopf zu behalten, dass die Themen des Stücks den erwähnten Diskussionen über von Stein so deutlich ähneln. Überarbeitungen, Teil 1 Werfen wir einen Blick auf die erste Druckfassung des Textes, machte zumindest auch von Steins Urenkel in seiner Erstedition des Werks von 1867, das er nun Die Verschwörung gegen die Liebe. Lustspiel in vier Bildern nannte, Andeutungen einer engen Verbindung zwischen von Stein und Goethe. Schon seine Einlei15 Karoline von Beulwitz, »Brief an Friedrich Schiller vom 2. Oktober 1789«, in: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Bd. I: 1749−1793, hg. von Regine Otto und Paul-Gerhard Wentzlaff, zusammengestellt von Wilhelm Bode, Berlin und Weimar 1979, S. 406. 16 Caroline Herder, »Brief an Johann Gottfried Herder vom 7. November 1788«, ebd., S. 368. 17 Brief an Johann Gottfried Herder vom 23. Februar 1789, ebd., S. 388. 18 Brief an Johann Gottfried Herder vom 08. Mai 1789, ebd., S. 402.

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tung zum Lustspiel umreißt ein Verständnis desselben als Schlüsseldrama und unterstreicht Parallelen zwischen der Verfasserin und einer älteren Frau im Text. Konkret schrieb Felix von Stein: In dem Nachlaß der Frau Baronin Charlotte von Stein […], der langjährigen Freundin Goethes […], fand sich das Manuscript eines Lustspiels in 5 Aufzügen […]. Ein Urenkel der Verfasserin, welcher sich bereits vorher mit dramatischen Arbeiten beschäftigt hatte, glaubte eine Pflicht der Pietät zu erfüllen, indem er diese Arbeit aus der Verborgenheit, in der sie bis jetzt geruht, an das Licht der Oeffentlichkeit brächte. Wenn dies nun auch in veränderter Gestalt geschieht, indem die fünf Akte in vier zusammengezogen wurden, indem manches für unsere Zeit »zopfige« ausgemärzt, und manches unsere[r] Zeit entsprechende Schlaglicht aufgesetzt wurde, so sind doch Situationen und Charaktere möglichst treu beibehalten, und »aus Pietät« ist manches stehen geblieben, was bei ganz freier Hand wohl gestrichen werden müßte, wie namentlich die Alte in der Schenke, deren Person in gar keinem organischen Zusammenhang mit der Handlung steht, in der aber die Verfasserin offenbar ihr eigenes Bild gegeben hat.19

Tatsächlich ist die »Alte«, welche hier erwähnt wird, im Text mit einzelnen Zügen von Steins ausgestattet. Deutlicher noch ist einer ihrer Gesprächspartner in der entsprechenden Szene, ein »Doktor«, Goethe ähnlich gestaltet: Beide treffen nahe »einer Schenke an der Landstraße« zusammen, wo die »Alte« – schwerhörig und mehr oder weniger abgeschnitten vom Leben um sie her – an einem Spinnrad sitzt und ihre »Gedanken«, wie es heißt, durch die »Spule«20 laufen lässt. »[R]echt einsam«, erklärt sie dabei, sei es teils um sie, doch sei mittlerweile »alles so gleichgültig und klein, das einem doch schwer und wichtig vorkam, wie man noch mitlebte«21. Der »Doktor« indes scheint vor der von der »Alten« offenbar betriebenen Schenke erst richtig aufzuleben: Ihre Erzählungen schätzt er als »unschädlich[e]« Formen des »Wahnsinns« ein, die ihn nicht weiter kümmern. Seine eigenen Schilderungen dagegen lenkt er rasch in Richtung Italien: »Ja, Herr Major«, erklärt er etwa der dritten Figur in der Szene, dem Onkel der zweiten entführten Frau Theodore, nur wer Italien kennt, weiß, was Leben heißt, und schleppt die Sehnsucht nach dem Lande der Citronen wie der Galeerensklave seine Kette durch’s Leben. […] In Italien ist der rechte Wallfahrtsort; dort wird das zweibeinige Säugethier Mensch neu geboren! […] Ueberall Schönheit, überall Poesie!22

19 20 21 22

Felix von Stein, [Einleitung zu:] Charlotte von Stein: Ein neues Freiheits-System (Anm. 13), S. 3. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 18.

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Allein die Tatsache, dass die alte Spinnerin ihre »Gedanken« durch »die Spule« laufen lässt und so vielleicht kein Gewebe, keine textura, aber eventuell einen Erzählstrang erzeugt, deutet darauf hin, dass möglicherweise auch ihre alias von Steins Geschichte im sonstigen Lustspiel verarbeitet wurde. In seinem Vorwort allerdings verhandelt Felix von Stein die Verbindung zwischen Goethe und seiner Urgroßmutter ausschließlich auf den Schauplatz der Landstraße bezogen, womit er zugleich (sei es aus »Pietät«, sei es aus anderen Gründen) eine so klare wie wertende Rollenverteilung vornimmt: Komisch ist in dieser Szene eindeutig die schwerhörige, als »zopfig« und »wahnsinnig« titulierte Spinnerin – die schon von Felix von Stein erwähnte »Alte« also, die mit ihrer »gleichgültig[en]« Erinnerung an das, was ihr einmal »so schwer und wichtig« vorkam, als »geläuterte«, zumindest in Liebesdingen altersklug gewordene Frau verstanden werden kann. Von Stein, lässt sich die Textfassung lesen, sei im Verlauf der Zeit, trotz aller Spinnereien im wahrsten Sinne des Wortes,23 einsichtiger geworden. Diese suggerierte Entwicklung ihres Charakters allerdings entbehrt, schon angesichts der Tatsache, dass die »Alte« in der Fassung des Stücks von 1867 stärker als in der autorisierten Abschrift verspottet und der Doktor zum überhaupt erst hier Goethe ähnelnden Spötter wird,24 nicht gewisser Skurrilität, sollte sie pietätvoll gemeint sein: Die geläuterte ist auch durchgehend die wahnsinnig gewordene, einsame »Alte«. Überarbeitungen, Teil 2 Falls die Korrektur des Rufs seiner Urgroßmutter tatsächlich ein Vorhaben Felix von Steins gewesen sein sollte, war diesem kein Erfolg beschieden: Obwohl auch Franz Ulbrich das Werk von Steins 1948 als Schlüsselwerk vorstellte, verfolgte er die These der zornigen und gekränkten Autorin. Er stellte die Verschwörung 23 Das deutsche Wörterbuch der Grimms, dessen Eintrag zum »Spinner« unter anderem auf das »Spinnhaus« verweist, führt interessante Ambiguitäten desselben auf: Es ist dort zum einen ein »haus, in dem gesponnen wird«, dann ein Zuchthaus für Landstreicher, zu dessen Zielen auch die »Züchtigung« vermeintlich Geistesgestörter gehört, zudem ein Haus, in das speziell »lüderliches weibsvolck« eingesperrt wird. Diese Assoziation passt neben der der textura recht gut auch zu dem im Folgenden vorgestellten Verständnis des Textes als Metakritik der Rezeption seiner Verfasserin (vgl. Jakob und Wilhelm Grimm, Art. »Spinnhaus«, in: Deutsches Wörterbuch, Abteil. I, Bd. 10, Leipzig 1905, S. 2542 f.) 24 »Wahnsinn, Dein Name ist Mensch!«, kommentiert etwa der Doktor ihren Szenenabgang (von Stein, Ein neues Freiheitssystem (Anm. 13), S. 18) – in der Weimarer Fassung behält sie das letzte Wort und wird auch ansonsten sowohl vom Doktor wie vom Major freundlich bis ehrerbietig angesprochen.

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gegen die Liebe, wie er das Stück nannte, gleichfalls dessen »[s]elbsterlebten« Charakter unterstreichend, mit folgenden Worten vor: [W]ie in der »Dido« und im »Rino« finde ich auch hier in diesem anmutigen Spiel persönlichste Erinnerungen an den verlorenen Freund Goethe, wenn die leichtlebige Luitgarde nachdenklich singt: »Auch hat mich der Beste, Der alles beseelt, Aus Weltlust vergessen, Aus Leichtsinn gequält.« Klingt nicht aus diesen Versen die gleiche Verbitterung, wie aus Menondas Worten, mit denen sie sich die Liebesgedichte ihres verlorenen Freundes wieder aneignet: »Schäme dich, mein Herz, daß du ihn nicht vergessen hast, den Undankbaren, der dich so gekränkt«, oder bei der Lektüre des Briefes, wenn sie sich selbst tröstet: »Also auch er unglücklich wie ich selbst!« Und auch Susettes schnippische Betrachtung: »So philosophische Junggesellen machen doch närrische Heiraten!« ist gewiß in voller Absicht an den Schluß des Stückes gesetzt. Man geht wohl nicht fehl, darin einen wohlgezielten Seitenhieb auf Goethes Beziehungen zu Christiane Vulpius zu erblicken.25

Dass Franz Ulbrich diesen und weiteren Kommentaren nach zu urteilen wohl nicht das Werk Charlotte von Steins überarbeitete, sondern dessen schon durch Felix von Stein geänderte Fassung, wird von ihm nicht kommentiert; er erwähnt, seine Vorlage sei vermutlich eine Abschrift »von zweiter Hand«26, beschreibt seine Veränderungen am Text aber als Korrekturen am Werk der Autorin. Trotz der diesmal vergleichsweise zurückhaltenden Eingriffe des Herausgebers rückt der Fokus in seiner Ausgabe, wie kurz angerissen, von der Präsentation einer altersklug gewordenen, wenngleich lächerlich wirkenden von Stein zurück zu ihrer Darstellung als verbitterter Zurückgebliebener. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass die Szene der Frau am Spinnrad im Text schlicht nicht mehr vorkommt. Statt der »Alten« erscheinen, auch vor dem Hintergrund der oben zitierten Einleitung, nun Luitgarde, die einsame Schauspielerin, die entführte Menonda und die Hausangestellte Susette als Parallelfiguren Charlotte von Steins, wenngleich die Zuordnung Goethes, nach dem sich als vermeintlich zentralem Partner ja suchen ließe, nicht explizit unternommen wird. 25 Franz Ulbrich, »Das Liebhabertheater in Groß-Kochberg und seine Wiedererweckung«, in: Charlotte von Stein, Die Verschwörung gegen die Liebe (Anm. 13), S. 16 f. 26 Vgl. ebd., S. 14.

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Die Rezeption der Textfassung Ulbrichs in Forschung und Kritik verlief entsprechend: Das Werk wurde wiederholt als Schlüsseldrama einer wütenden, enttäuschten und sich gleich mehrfach entsprechend verkörpernden Frau gelesen. Die völkisch-antisemitische Zeitschrift Deutschlands Erneuerung etwa textete nach der Uraufführung des Stücks 1930, mit »der ›Verschwörung gegen die Liebe‹«, habe von Stein ihrem »Herzen Luft« gemacht, wenngleich sie eine Veröffentlichung des Textes »klug«27 unterlassen habe. Sarah Colvin verwies noch 2000 auf reale Parallelen Davals, um das Lustspiel letztlich gleichfalls als Text zur Beziehung von Steins zu interpretieren: Zwar seien, so Colvin, auch Ähnlichkeiten zwischen Daval, Friedrich Schiller und Johann Caspar Lavater vorhanden – im Fall des Duos Daval/Schiller über ein Zitat, im Fall von Daval und Lavater über Namensähnlichkeiten und philosophische sowie theaterbezogene Interessen.28 Auch Colvin sah jedoch die auffallendste Verbindung Davals, einen »generally recognisable link« der Figur zur Lebenswelt der Autorin in der Tatsache, dass diese einen »satirized hero, or possibly even an anti-hero«29 und damit Goethe darstelle. Selbst Colvins das Lustspiel detailliert untersuchender Aufsatz perpetuiert damit Annahmen des Schreibens von Steins aus Wut oder Bitterkeit heraus und versucht anhand von ihnen eine Dechiffrierung des Werkes. Zur Neuedition und ihren Verständnisspielräumen Damit ist zur neuesten Fassung des Lustspiels zu kommen, seiner 2006 von Linda Dietrick und Gaby Pailer publizierten textkritischen Ausgabe, der auch mein Alternativvorschlag zum Verständnis des Werks folgt. Selbst Pailer hat letztlich – obwohl sie zurecht wiederholt vor biographischen Festlegungen der 27 Karl Grunsky, »Musik und Bühne. Eine Umschau«, in: Deutschlands Erneuerung 14/9 (1930), S. 550−552, hier: S. 552. 28 Vgl. Sarah Colvin, »›Lachend über den Abgrund springen‹. Comic Complexity and a Difficult Friendship in Charlotte von Stein’s Neues Freiheitssystem oder die Verschwörung gegen die Liebe«, in: Goethe at 250. London Symposium/Goethe mit 250. Londoner Symposium, hg. von T. J. Reed, Martin Swales und Jeremy Adler, München 2000, S. 199−208, hier: S. 202 f. 29 Ebd., S. 203. Ein Schiller-Zitat wird Daval in Ulbrichs von Colvin zitierter Edition in den Mund gelegt: »Mein Leben sei geweiht dir und der Kunst, – den schwanken Brettern, die die Welt bedeuten, von dort dem Volk die neue Lehr’ zu deuten.«, erklärt er dort (S. 60) – diese Verse sind Schillers Gedicht »An die Freunde« nachempfunden, dessen entsprechende Verse lauten: »Sehn wir doch das Große aller Zeiten | Auf den Bretern, die die Welt bedeuten, | Sinnvoll still an uns vorübergehn.« (Friedrich Schiller, »An die Freunde«. in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 2, Teil I: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799−1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß, hg. von Norbert Oellers, Weimar 1983, S. 225 f.).

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Werke von Steins gewarnt hat –,30 auf die Option der Einordnung des Neuen Freiheits-Systems als Schlüsseltext hingewiesen. So schrieb sie etwa, es sei zu vermuten, dass sie [Charlotte von Stein] mit den Figuren Daval und Avelos – in zwei Varianten, einer komischen und einer tragischen – auf Goethe anspielt, so etwa in Davals Inkognito und Plänen der Theaterleitung oder Avelos’ Campagne-Erfahrung. […] Entsprechend dem komisch-tragischen Figurendoppel Daval und Avelos lässt sich mithin auch das weibliche Figurendoppel Luitgarde und Menonda als komische und tragische Variante der Autorin selbst (als Mit-dem-Leben-Spielende oder Entsagende) deuten.31

Diese Hinweise sind nicht falsch: Der Avelos der neuesten Ausgabe des Stücks war in der Campagne und Daval ist weiterhin Theaterliebhaber. Menonda ist in der Tat sogar noch mehr als ihre früheren Pendants von Stein angenähert, wenn sie Verse der Autorin zitiert,32 und Luitgarde erscheint, wie schon in den anderen Fassungen, als trauernde, zurückgelassene Frau, wenn sie die Sätze äußert: »Bringt Liebe dem Herzen | auch ächtern Gewinn: | So spottet der Schmerzen | ein freierer Sinn!« (NF 16). Gerade die neueste Edition des Lustspiels erlaubt jedoch – vor dem Hintergrund eines kritischen Blicks in Richtung seiner früheren Rezeption und früherer editorischer Vereindeutigungsversuche des Textes – ein über literarische Emotionsverarbeitung weit hinausreichendes Werkverständnis. Ich möchte das in drei Schritten erläutern und dabei mit dem erwähnten Konzept der Schlüsselliteratur als solchem einsetzen. Nach Sikander Singh ist Schlüsselliteratur eine Sammelbez. für lit. Werke, in denen Personen oder Ereignisse […] im Kontext eines fiktiven Geschehens dargestellt werden, dessen Wirklichkeitsbezug für den Leser durch textimmanente Hinweise (›Schlüssel‹) dechiffrierbar ist. Im Ggs. zu lit. Texten, die stofflich auf eine außerlit. Wirklichkeit rekurrieren […] setzt die Sch. die Kodierung eines realen Ereignisses als Erzählziel voraus und impliziert als kommunikative Strategie des Autors eine Relativierung des fiktionalen Charakters des lit. Kunstwerks.33

Dass von Steins Text dies tut, lässt sich zumindest im Fall der autorisierten Fassung jedoch bezweifeln: Natürlich hat Pailer Recht, wenn sie schreibt, in der 30 Vgl. Pailer, Literaturbeziehungen und Geschlechterentwürfe (Anm. 9), S. 68. 31 Ebd., S. 75. 32 Menonda reagiert, als sie im Büro ihres Bruders versteckte Briefe Avelos’ findet, mit folgenden mutmaßlich von von Stein verfassten Zeilen: »Lösch das Bild aus meinem Herz vom geschiedenen Freund, dem unausgesprochener Schmerz, stumme Thränen weint!« (NF 38). Entsprechende Urheberschaftsangaben finden sich in Heinrich Düntzer, Charlotte von Stein, Goethes Freundin. Ein Lebensbild, 2 Bde., Bd. 2, Stuttgart 1874, S. 109. 33 Sikander Singh, »Schlüsselliteratur«, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart 2007, S. 686.

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Edition von 2006 verwiesen Daval und Avelos in gewisser Weise auf Goethe, Luitgarde und Menonda in gewisser Weise auf Charlotte von Stein. Aber zugleich werden – und schon das unterläuft eine einfache Genrezuordnung als Schlüsseltext – vom Neuen Freiheits-System eben nicht zufällig deutlich mehr und teils widersprüchliche Verweise von fiktionalen auf reale Figuren geliefert. Wenn man so will: Es sind nicht einzelne Schlüssel vorhanden, die von der Literatur aus in Richtung einer außerliterarischen Wirklichkeit verwiesen. Existent ist vielmehr eine deutlich markierte Vielzahl von Referenzen, die Zuordnungen im klassischen Sinne unmöglich macht. Gerade in der 2006 herausgegebenen Abschrift des Lustspiels könnte Charlotte von Stein durch Luitgarde oder Menonda dargestellt sein, ebenso aber immer noch durch die Spinnerin, die Felix von Stein nicht rein willkürlich zu ihrem alter ego erklärte, durch Susette, die Hausangestellte Menondas, oder gar durch die Haushälterin Davals, die bislang wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Auch sie erläutert, zumindest dem Klischee der trauernden von Stein entsprechend, dass sie sich »verbleichte Augen und graue Haare« über einen Liebhaber an den Hals geweint habe (NF 21).34 Daval könnte Goethe darstellen, ist ebenso jedoch auch hier tatsächlich als Lavater interpretierbar; er ist nach wie vor Philosoph, liebt das Theater, erinnert auch seinem Namen nach noch immer an den Genannten. Ebenfalls könnte er, Ettore Ghibellinos Deutung des Stücks folgend (der zufolge der Text sich nicht um von Stein und Goethe dreht, sondern ein Verhältnis zwischen Goethe und Herzogin Anna Amalia andeutet), eine Parallelfigur zu Herzog Karl August sein. Das wiederum ließe die möglichen Referenzen noch zahlreicher werden, erinnerten in diesem Fall doch die Schauspielerinnen Florine und Luitgarde an Karoline Jagemann und Luise Rudorff, die beide etwa während der Zeit der Entstehung des Lustspiels Geliebte von Herzog Karl August (Ghibellinos Deutung entsprechend Daval)35 waren. Allerdings findet sich in erhaltenen Briefen Charlotte von Steins an ihren Sohn Fritz eine zu dieser Interpretation nur zur Hälfte passende, Daval eher mit Karl Ludwig von Knebel parallelisierende Notiz vom 17.12.1797: Leider heyrathet Knebel dennoch die Rudorf… Sie hat es aber lang drauf angelegt deucht mir, Frau Majorin zu heisen, den als einmahl nach der Zauberflöte als sie noch actrice war, bey der Herzogin Mutter ein Soupé fin eingenommen wurde, […] nahm die Rudorf 34 Eine weitere Parallele der Haushälterin zu Charlotte von Stein entsteht durch ihre jeweils wiederholt erwähnte Vorliebe für Kaffee, die Goethe ablehnte (vgl. NF 36, Markus Wallenborn, Frauen. Dichten. Goethe. Die produktive Goethe-Rezeption bei Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim, Tübingen 2006, S. 121). 35 Vgl. Ettore Ghibellino, J. W. Goethe und Anna Amalia – eine verbotene Liebe, Weimar 2003, S. 114. In späteren Auflagen der Darstellung sind keine Verweise auf das Neue Freiheits-System enthalten.

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noch als Pamina angezogen, Knebeln bey der Hand, und stimte an, mit Dir will ich durch die Fluthen wallen, dies soll den Philosoph sehr gerührt haben.36

Ausgerechnet »Mit dir will ich durch die Fluthen wallen« singt Luitgarde im Neuen Freiheits-System der neuesten Fassung Daval vor, um anschließend Florine zu erklären, es habe »jede seiner kleinsten Nerven berührt[ ]« (NF 54). Aber was soll das heißen? Wäre Daval damit Knebel, Luitgarde würde zu Rudorff und das restliche Figurenpersonal des Stücks müsste doch noch einmal verglichen werden? Wohl kaum. Viel eher ist das Verwirrspiel mit vermeintlich realen Vorbildern, das Who is Who der Weimarer Gesellschaft als Trick und gezieltes Verfahren des Werks zu begreifen. Ein Schlüsseltext im engeren Sinne (im Übrigen ebenfalls eine beliebte literarische Form zur Zeit von Steins und ihr schon insofern gut bekannt) ist das Neue Freiheits-System damit nicht.37 Aber der Text referiert deutlich auf Muster des Genres: Auffallend klar markiert, stellt er nicht eine, sondern gleich mehreren tradierten Bildern von Steins ähnelnde Frauen dar; verlassene, trauernde, teils komische Figuren, die in ihrer Vielzahl allerdings – die editorischen Kürzungen und Erläuterungen verdeutlichen es – Erwartungen einer emotionalen, strukturell simplen Beziehungsdarstellung enttäuschen müssen. Und dezidiert stellt der Text mit Avelos und Daval nicht nur alter egos Goethes vor, sondern zwischen ihm, Lavater, Knebel, vielleicht auch Schiller, Herzog Karl August, sogar Carl von Linné changierende Männer: Von Linné, erfahren Leserinnen und Leser nämlich zu allem Überfluss, hat Daval vor dem Wandel des »Sinn[s] der Zeit« (NF 28) geheißen (vgl. NF 79). Dass auch dieser Verweis, teils mit Goethes Interesse für Linné verbunden,38 für Diskussionen gesorgt hat, mag ein weiteres Beispiel für den Erfolg des Verwirrspiels des Textes liefern. Dessen Interpretation lässt sich im Übrigen in der erwähnten Richtung noch weiterdenken: Liest man den Text genauer, wird sein Spiel mit der Leserschaft zweitens durch die Tatsache unterstrichen, dass die Verwechslung von Figuren untereinander und das Vorspielen von Rollen in Maskeraden zentrale Themen des Werks sind. Entsprechende Ideen sind durchaus nicht nur bei Charlotte von

36 Charlotte von Stein: [Brief an den Sohn Fritz.] Zit. in: Johann W. v. Goethe: Begegnungen und Gespräche, Bd. IV: 1793–1799, hg. von Renate Grumach, Berlin und New York 1980, S. 81. 37 Vgl. Kord, Einleitung (Anm. 6), S. VI f. 38 Vgl. etwa Pailer, Literaturbeziehungen und Geschlechterentwürfe (Anm. 9), S. 74. Gaby Pailer zitiert hier sogar noch eine weitere Interpretationsvariante Davals in Heidemarie Förster-Stahls Geschichte des Liebhabertheaters von Schloß Kochberg (Heidemarie Förster-Stahl, Geschichte des Liebhabertheaters von Schloß Kochberg, Ilmenau 1994, S. 38). Sie versteht Daval als Karikatur von von Steins Sohn Carl, was wiederum in gewisser Weise an die Verweise auf Carl von Linné anschließt.

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Stein zu finden – Verwechslungskomödien gab es zu ihrer Zeit vielfach,39 auch die Idee des cross dressing, die im Stück durch Verkleidungen von Frauen als Männer aufgegriffen wird, war natürlich bekannt. Das Lustspiel, könnte man sagen, lässt sich in verschiedener Hinsicht literarischen Strömungen seiner Zeit zuordnen.40 Das ändert jedoch nichts daran, dass die ständigen Rollenwechsel und Verwechslungen der Figuren des Neuen Freiheits-Systems sowie die Tatsache, dass im Text wiederholt das gesamte Leben zum Rollen-Spiel erklärt wird, zur erwähnten Irreführung der Leser- und Leserinnenschaft geradezu ideal passen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Theodore und Luitgarde sind ohnehin Schauspielerinnen, folgen ihren Rollen aber, wie erläutert, auch im Privatleben. Luitgarde etwa erobert in der schon oben zitierten Rolle der Pamina Davals Herz. Monrose, der junge Fähnrich, spielt »Komedie«, um der angebeteten Theodore den Hof zu machen (NF 66). Daval selbst willigt ein, mit Luitgarde auf der Bühne aufzutreten (vgl. NF 81), ist überhaupt Theaterliebhaber und hat immerhin seiner eigenen Schwester vorgespielt, er sei ihr Geliebter. Avelos »spiel[t]« zumindest – hier merkt man, wie omnipräsent schon das Wort »spielen« in von Steins »Lustspiel« ist – eine Rolle im Plan Davals (NF 6) und Luitgarde singt gar die Verse: »Ich spiele des Lebens | bethörendes Spiel. | Der glücklichen Tage hat keiner zu viel.« (NF 16) Die Verwendung der Verwechslungskomödie als Textform sowie des Motivs des Spiels durch von Stein lassen sich neben möglichen Referenzen auf Konzepte der Entstehungszeit des Stücks also durchaus auch als humorvolle Verweise der Autorin auf Dechiffrierversuche ihres Werks verstehen. Und schließlich passt eine dritte Eigenheit des Textes zu dessen hier vorgeschlagener Verständnisweise als Kommentierung der von Stein so oft zugeschriebenen Rolle der wütenden Partnerin. Denn es geht im Neuen FreiheitsSystem eben auch nicht nur um Verwechslungen und Rollenspiele als solche, sondern zugleich um die teils komischen, teils beschränkenden Rollenerwartungen, die speziell Liebesbeziehungen mit sich bringen können. Dass das Rollenspiel der Figuren sich immer neu auch in ihren Beziehungen fortsetzt, wenn 39 Vgl. Ulrike Müller-Harang, Das Weimarer Theater zur Zeit Goethes, Weimar 1991, S. 23, zu Fortführungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts u. a. Ralf Simon, »Romantische Verdopplungen – komische Verwechslungen. Von der romantischen Reflexionsphilosophie über die Verwechslungskomödie zur Posse und zurück«, in: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation, hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger, Tübingen 2000, S. 259−280. 40 Vgl. etwa Colvin, »Lachend über den Abgrund springen« (Anm. 28); Christine Garbe, Art. »Ein neues Freiheits-System. Lustspiel in vier Akten (*1876)«, in: Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730−1900), hg. von Gudrun Loster-Schneider und Gaby Pailer, Tübingen und Basel 2006, S. 412−414 oder Pailers Aufsatz (Anm. 9), in dem auch mögliche Verweise auf Schillers Konzept des homo ludens aufgegriffen werden.

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nicht verschärft, wurde schon angedeutet; tatsächlich wünscht sich etwa Daval von seiner Geliebten Luitgarde sogar explizit eine Verkleidung – »Ich hörte, daß Herr Daval ihr empfahl, wo möglich sich griechisch zu kleiden, und viele Federn auf den Kopf zu stecken«, sagt Florine (NF 71). Darüber hinaus sind die Partnerschaften im Stück vielfach von überindividuellen Mustern und Verweisen auf frühere Paare durchzogen: Monrose, der seine Theodore wechselnd in die Rollen der »Thisbé« (NF 15) oder der »Proserpina« rückt (NF 20), wirkt dabei vor allem komisch. Avelos, der nach seiner Wiedervereinigung mit Menonda erklärt, sie seien nun »wie Arethusa, und Alpheus« (NF 81) erneut aufeinandergestoßen, lässt zugleich massive Zweifel an der wiederhergestellten Verbindung aufkommen, wenn er sie mit einem Liebespaar vergleicht, das keines war: In die Nymphe Arethousa verliebte sich der Jäger Alpheus unglücklich, woraufhin sie, die Unwillige, sich in eine Quelle verwandelte, um ihm zu entfliehen. Der Versuch scheiterte: Alpheus seinerseits wurde, der Überlieferung folgend, zum Fluss, der sich letztlich mit ihr vereinte.41 Und auch Menondas Kommentierung des Scheiterns ihrer ersten Beziehung zu Avelos passt zum Verständnis des Stücks als Spiel mit Rollenvorstellungen: Ein »Mädgen«, erklärt sie, dürfe »den untreuen Freund, so wie das treu gestorbene Hündgen, nur im stillen beweinen« (NF 80). All das lässt sich wiederum kürzer fassen: Von Steins Stück ist nicht nur als Irreführung seiner vielfach ein Schlüsseldrama erwartenden Leserinnen und Leser interpretierbar, ferner sind in ihm nicht allein Verwechslungsmotive, Motive des Rollentauschs und Ideen des gesamten Lebens als Spiel enthalten. Der Text verweist auch speziell auf Liebesbeziehungen als Auslöser von Rollenerwartungen und Rollenspielen, eine Tatsache, die Davals doppeldeutiger Ausruf »Hier Schwester! Ist die Gefährtin meines Lebens, ich gehe mit ihr aufs Theater« (NF 81), nachdem er sich in Luitgarde verliebt hat, vielleicht am klarsten veranschaulicht. Von beiden, lässt sich erahnen, werden nachfolgend bestimmte Rollen erwartet und, vielleicht, übernommen werden. Fazit Man kann diese Überlegungen mit einem Zitat abschließen: »Goethe«, schrieb Charlotte von Stein am 10. Mai 1776 an Luise von Döring, »cause içi un grand bouleversement«42. Das verwies zunächst einmal lustspielunabhängig auf die 41 Vgl. Herbert A. Cahn, Art. »Arethousa«, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd. II, hg. von der Fondation pour le Lexicon Iconographicum Mythologiae, Zürich und München 1984, S. 582−584. 42 Charlotte von Stein, »Brief an Luise von Döring vom 10. Mai 1776«, in: Goethes Briefe an Charlotte

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starke Wirkung Goethes in Weimarer Kreisen. Angesichts der schon damals massiven Rezeption von Steins als Goethes Freundin und der später immer neu wiederholten Wahrnehmung ihrer Texte als Beziehungskommentaren lässt sich der Satz allerdings nachträglich auch als Verweis auf eine Alternativinterpretation des Neuen Freiheits-Systems und womöglich des Schreibens von Steins als solchem verstehen. Natürlich ist das Verfahren, das Stück mit Goethe in Verbindung zu setzen, nicht seine einzig mögliche Verständnisweise. Wählt man sie aber, wird sie vor allem dann produktiv, wenn man sich die früh erkennbaren Reflexionen von Steins zum massiven öffentlichen Diskurs über Goethe – und später sie als seiner Freundin – sowie die Verarbeitung dieser Diskurse im Werk der Autorin vergegenwärtigt. Was von Stein für Goethe empfunden hat, ist heute schon aufgrund ihrer größtenteils fehlenden Briefe an ihn kaum nachzuvollziehen – ganz zu schweigen davon, dass der überlieferte Bruch der beiden zur Zeit der Entstehung des Neuen Freiheits-Systems schon etwa zehn Jahre her war. Doch lässt sich der Text, liest man ihn genau, auch kaum im Kontext entsprechender Empfindungen verstehen: Bezieht man die obigen Analysen ein, erscheint das Neue Freiheits-System im engeren Sinne weder als ironischer noch geständnisartig-ernsthafter Schlüsseltext zu einer Beziehung. Es deutet entsprechende Verfasstheit an – um nachfolgend umso deutlicher mit Paarkonzepten zur Zeit von Steins und auf die Autorin bezogenen Erwartungen zu spielen.

von Stein. Neue, vollständige Ausgabe aufgrund der Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv, Bd. 1, hg. von Julius Petersen, Leipzig 1923, S. 533.

Schreiben als Paar

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Diario a due mani Überlegungen zum Paartagebuch als Forschungsgegenstand

Was wir unter Autorschaft verstehen, ist bekanntlich seit mehr als zweihundert Jahren bestimmt, zumindest aber mitbestimmt und überlagert von den Ideologemen der Genieästhetik. Es muss heute kaum mehr bewusst gemacht werden, dass das in der Aufklärungsepoche populär gewordene Konzept des Genies männlich konnotiert war und die Verknüpfung von Genieästhetik und (männlichem) Geschlecht in der Kultur um 1800 bis in die Gegenwartskultur Folgen zeitigt. Erst in letzter Zeit ist dagegen das Bewusstsein dafür geschärft worden, dass die Genieästhetik außerdem den einzelnen Schöpfer ins Zentrum stellte, sodass Autorschaft bis heute in der Regel fraglos je einem Individuum zugeschrieben wird, welches die Einheit und Abgeschlossenheit des im einsamen Schreiben hervorgebrachten Werkes zu legitimieren vermag. Die Entstehung neuer Praktiken des kollaborativen Schreibens im Netz hat in den letzten Jahren jedoch zu einem wachsenden Interesse der Forschung an Phänomenen kollektiver bzw. kollaborativer Autorschaft geweckt, von dem inzwischen mehrere Studien und Sammelbände Zeugnis ablegen.1 Früher bereits hatte die RomantikForschung sich für Konzepte gemeinschaftlicher Autorschaft interessiert, da bekanntlich bereits um 1800, also in der Hochblütezeit der Genieästhetik, im Kreis der Frühromantiker um Schlegel und Novalis gegenläufige Konzepte überindividueller Autorschaft entworfen wurden. Die bekannteste Formulierung der Idee gemeinschaftlichen schöpferischen Wirkens ist sicherlich diejenige, die Friedrich Schlegel 1798 im 125. Athenäums-Fragment niedergelegt hatte:

1

Vgl. Nacim Ghanbari u. a. (Hg.), Kollaboration. Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit, München 2018, sowie mit Blick auf die Aufklärungsepoche Nacim Ghanbari, »Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert«, in: Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, hg. von Stefanie Stockhorst, Marcel Lepper und Vinzenz Hoppe, Göttingen 2016. Zur Geschichte kollektiver Autorschaft vgl. darüber hinaus Martha Woodmansee, »Der Autor-Effekt. Zur Wiederherstellung von Kollektivität«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis u. a., Stuttgart 2000, S. 298–314. Auch die Musikwissenschaft interesssiert sich neuerdings vermehrt für Formen des kollaborativen Schaffens, vgl. dazu Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren in Frankreich während des Front populaire (1936–1938). Voraussetzungen, Bedingungen und Arbeitsweisen, Hildesheim 2016.

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Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein, was sie könnten.2

Doch auch wenn die Aufmerksamkeit für aktuelle und historische Phänomene gemeinsamen Schreibens in jüngster Zeit zugenommen hat, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Vorstellung, die Autorschaft für ein Werk sei ›normalerweise‹ je einem Individuum zuzuschreiben, gegenüber der Idee einer doppelten oder mehrfachen bzw. gemeinsamen Autorschaft in der Gegenwartskultur weiterhin dominiert, insbesondere mit Blick auf die sogenannte Schöne Literatur. Hat das Konzept des ›einsamen‹ Autors somit über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg Vorstellungen von Schreiben, Dichtung und Literatur im Allgemeinen geprägt, so gilt dies in einem noch höheren Maße für das Tagebuchschreiben, das ein einsames Schreiben par excellence zu sein scheint. So sieht etwa Michel Foucault diese Variante der von ihm so genannten écritures de soi als eine Praxis der Askese (im Sinne von Übung) und hebt zugleich ihren Zusammenhang mit der Anachorese, dem Rückzug des Individuums in die Einsamkeit, hervor: »Was für den in Gemeinschaft lebenden Asketen die anderen sind, das ist für den allein Lebenden das Tagebuch.«3 »Das Tagebuch ist gleichsam eine literarische Robinsonade, die Robinsonade der Literatur überhaupt«,4 formuliert Manfred Jurgensen und stellt damit ebenfalls den Aspekt des Alleinseins, des Auf-sich-Gestelltseins in den Mittelpunkt seiner Gattungsdefinition. »Das Tagebuch ist wesentlich ein Mittel zur Kommunikation mit sich selbst«,5 schreibt Rüdiger Görner in seiner Einführung aus dem Jahr 1985, was impliziert, dass für einen zweiten Autor in dieser diaristischen Kommunikationssituation per definitionem kein Platz ist. Man könnte also sagen, dass sich in vielen Bestimmungen diaristischen Schreibens die im Zuge der Genieästhetik leitend gewordenen Vorstellungen von Schreiben und Autorschaft überhaupt verdich2 3

4 5

Friedrich Schlegel, »›Athenäums‹-Fragmente«, in: Kritische und theoretische Schriften, ders., Auswahl und Nachwort von Andreas Huyssen, Stuttgart 1994, S. 76–142, hier: S. 93. Michel Foucault: »Über sich selbst schreiben [1983]«, in: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, ders., hg. von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff u. a. 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, S. 137–154, hier: S. 138. Manfred Jurgensen, Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern und München 1979, S. 9. Rüdiger Görner, Das Tagebuch, München 1986, S. 11.

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ten: Außerhalb wissenschaftlicher Kontexte werden Tagebücher gemeinhin als Produkte der Einsamkeit betrachtet, niedergeschrieben in stillen Nächten, in denen das Individuum ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Kein Medium könnte einsamer, keines könnte monologischer sein. Soweit das Klischee. Dieses Klischee bezieht sich natürlich in Wirklichkeit nur auf eine der vielfältigen Praktiken diaristischer Aufzeichnung, die sich im deutschsprachigen Raum seit dem späten Mittelalter herausgebildet haben: nämlich auf das selbstreflexive Tagebuchschreiben, das im Zuge der allgemeinen Alphabetisierung um die Mitte des 18. Jahrhunderts in den bürgerlichen Milieus große Popularität erlangte. Es ist also zunächst daran zu erinnern, dass auch Familienchroniken, Reiseberichte oder Rechnungs-, Haushalts- und Logbücher sowie politische Tagebücher oder Kriegstagebücher Varianten des diaristischen Schreibens darstellen, die neben den neueren, ›subjektiven‹ Formen des Tagebuchschreibens (weiter) existierten. Auch lassen sich bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert zahlreiche Beispiele für Tagebücher nennen, in denen verschiedene Formen diaristischen Schreibens miteinander interagieren, so etwa, wenn ein Tagebuch der chronologischen Verzeichnung von familiären und gesellschaftlichen Ereignissen dient, zugleich aber für Gebete und Reflexionen oder für literarische Entwürfe und Projektskizzen genutzt wird.6 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass auch solche pragmatisch begründeten Tagebücher im Regelfall von einer Person allein geführt werden. Die Tatsache, dass in ›einsamer‹ Autorschaft verfasste Tagebücher gegenüber zu zweit oder kollektiv geführten Diarien zahlenmäßig bei weitem überwiegen, hatte verständlicherweise zur Folge, dass sich auch die Tagebuchforschung zunächst fast ausschließlich für Tagebücher einzelner Schreibender und dabei – der Wirkmächtigkeit des Geniekonzepts geschuldet – vor allem für die Tagebücher ›bedeutender Männer‹, sprich: für die Diarien kanonisierter Schriftsteller, Philosophen, Politiker, bildender Künstler und, wenn auch seltener, berühmter Musiker interessiert hat. So verzeichnet das 1969 erschienene, heute jedoch immer noch lesenswerte Metzler-Realienbuch zum Tagebuch von Peter Boerner7 in seiner 6

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Ein Beispiel dafür sind die immer noch unveröffentlichten Tagebücher der früh verstorbenen Leipziger Pianistin und Klavierlehrerin Henriette Voigt (1808–1839). Wie Mirjam Gerber erläutert, bestehen drei dieser Tagebücher aus Notizen in vorgedruckten Wochenkalendern und dokumentieren einerseits das Familienleben sowie andererseits die musikalischen Aktivitäten im Hause Voigt. Das vierte Tagebuch, das die Jahre 1830 bis 1835 umfasst, ist dagegen primär dem inneren Leben seiner Verfasserin gewidmet: Es enthält »neben Reflexionen über gehörte Predigten, eigenen Gedichten und der Beschreibung von Gefühlszuständen auch emotionale Äußerungen zu musikalischen Eindrücken.« Mirjam Gerber, Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit. Henriette Voigt, Livia Frege und Leipzigs bürgerliches Musikleben, Hildesheim 2016, S. 39. Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969.

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Bibliographie fast 200 Tagebücher, davon lediglich 14 von Frauen geschrieben. Immerhin erfasst das Verzeichnis auch ein zu zweit geschriebenes Tagebuch: Es handelt sich um das Journal der Brüder Edmond und Jules Goncourt, das auch in anderen einschlägigen Forschungsbeiträgen zum Tagebuch als einziges Beispiel für das zweisame diaristische Schreiben angeführt wird. So stellt auch Görner eben dieses Journal in seiner Einführung als Ausnahme von der Regel dar: In zweierlei Hinsicht bilden die Tagebücher der Brüder Goncourt hier eine Ausnahme: zum einen widerlegten sie die These, ein Tagebuch sei eine rein individuelle Angelegenheit, zum anderen boten ihre Tagebücher eine ebenso angefeindete wie bewunderte Zeitgeschichtsschreibung der Pariser Gesellschaft von 1851–1896.8

Görner sieht dieses Tagebuch zweier Schriftsteller und Journalisten als den Versuch, einen »authentischen Gesellschaftsroman in Fortsetzungen« zu schreiben, womit die Brüder Goncourt gegen die im 19. Jahrhundert dominant gewordene Tendenz der »Verinnerlichung« diaristischen Schreibens bewusst verstoßen hätten.9 Wenn auch Görner immerhin auf dieses Beispiel für zweisames Tagebuchschreiben ausführlicher eingeht, so fehlt doch jeder Hinweis auf Tagebücher von Paaren. Zwar ist er einer der wenigen Literaturwissenschaftler, die Robert Schumann als Tagebuchschreiber im Blick haben,10 das Ehetagebuch von Robert und Clara Schumann aber, das wohl berühmteste Beispiel für ein zu zweit geschriebenes Tagebuch im deutschsprachigen Raum, wird, wie auch in allen anderen mir bekannten literaturwissenschaftlichen Studien zum Tagebuch, mit keinem Wort erwähnt. Angesichts dieser Befunde wird es kaum erstaunen, dass die Forschungsdiskussion über eine Theorie des Tagebuchs bis heute am ›einsam‹ verfassten Text orientiert ist. Theorie des ›einsamen‹ Tagebuchs Nach Boerners Definition ist ein Tagebuch »ein fortlaufender, meist von Tag zu Tag geschriebener Bericht über Dinge, die im Laufe jedes einzelnen Tages vorfielen. Seine formalen Kennzeichen liegen in einer gewissen Regelmäßigkeit des 8 Görner, Das Tagebuch (Anm. 5), S. 19. 9 Ebd. 10 »Wer immer Tagebuch schreibt, der weiß sich zumindest in einer stattlichen Tradition von Tagebuchschreibern; ja, mehr noch, er teilt seine Eigenart mit vielen der bedeutendsten Künstler unserer Kultur, zumeist mit Schriftstellern, weniger mit bildenden Künstlern und Architekten, am wenigsten mit Komponisten ( Jean Sibelius’ und Robert Schumanns Tagebücher bilden nahezu eine Ausnahme).« Ebd., S. 11 f.

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Berichtens und einer deutlich erkennbaren Trennung der einzelnen Niederschriften voneinander«.11 Wenn man von Logbüchern oder Geschäftsmemoranden absehe, enthalte »ein Tagebuch vornehmlich Aufzeichnungen eines einzelnen Schreibers über Dinge, die er im Laufe eines Tages mit eigenen Augen beobachtete oder die ihn innerlich beschäftigten«.12 Boerner geht also vom Normalfall des »einzelnen Schreibers« aus, weist allerdings immerhin auf Ausnahmen hin: »Obgleich das Tagebuch gewöhnlich von einem einzelnen Schreiber stammt, kommt es vor, daß sich zwei oder sogar mehrere Personen in seiner Führung abwechseln.«13 Seine Bibliographie verzeichnet allerdings nur ein einziges zu zweit geschriebenes Tagebuch, nämlich das bereits erwähnte Journal der Brüder Goncourt. Als Beispiele für kollektiv verfasste Tagebücher erwähnt Boerner nationalsozialistische Sippentagebücher sowie Brigadetagebücher in sozialistischen Ländern, ohne jedoch ein Beispiel ausführlicher zu analysieren. Außerdem grenzt er das Tagebuch gegen verschiedene »verwandte literarische Formen« ab, so von der Zeitung, der Chronik, der Autobiographie und dem Brief: »Ein Tagebuch ist primär für den Schreiber selbst bestimmt, der Brief dagegen von vornherein an ein Du gerichtet. Nicht selten ergeben sich dabei mehr oder weniger deutliche Überschneidungen, etwa wenn zwei Partner ihre Briefe so regelmäßig wechseln, als ob sie füreinander Tagebuch führten, oder auch wenn ein Korrespondent sein Tagebuch ganz oder teilweise statt eines Briefes übermittelt.«14 Auf diesen Abgrenzungsversuch wird später zurückzukommen sein. In vielen Studien zum Tagebuch fehlt das Interesse an Formen des diaristischen Schreibens zu zweit oder zu mehreren sogar gänzlich. Hervorgehoben wird vielmehr in aller Regel die Rolle des Tagebuchs als Medium der Selbsterkenntnis, der Selbstreflexion sowie auch der Selbstkontrolle, kurz: der Konstruktion von Subjektivität und Ich-Identität. So schreibt Ralph-Rainer Wuthenow in seiner Studie zu »Europäischen Tagebüchern« aus dem Jahr 1990: »Immer stärker tritt im Lauf der Entwicklung der Charakter des Journals als eines Spiegels hervor, es wird zum Medium der Selbstbeobachtung, wobei die wiederholt auch erkennbare Funktion des Tagebuchs als Gesprächspartner nur eine Variante darstellt: im Medium des Journals spricht der Schreibende zu sich selbst, er spiegelt sich.«15 Görner wiederum betont in seiner Definition den Experimentalcharakter des Tagebuchs, indem er dieses als eine Art Werkstatt konzeptualisiert, in 11 Boerner, Tagebuch (Anm. 7), S. 11. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd., S. 13. 15 Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher, Darmstadt 1990, S. 9.

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der verschiedene Ich-Entwürfe konstruiert und erprobt werden können: »Tagebücher lassen sich […] als Beschreibungen von Selbstversuchen lesen, als Modellformen von Subjektivität und damit geradezu als eine Anleitung zur Kon­ struktion von Subjektivität sowie ihrer (mindestens zuweilen) selbstkritischen Reflexion.«16 Auch Sibylle Schönborn interessiert sich in ihrer Untersuchung zur Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstepoche17 ausschließlich für Tagebücher ›einsam‹ schreibender Autorinnen und Autoren. An Albrecht Koschorkes Arbeiten zum Zusammenhang von Alphabetisation und Empfindsamkeit18 anknüpfend, postuliert sie: »Im Tagebuch realisieren sich exemplarisch die beiden großen Entwicklungsschübe im Europa des 18. Jahrhunderts, die Literalisierung und die Individualisierung der Gesellschaft. […] Die Entwicklungsgeschichte der Gattung Tagebuch korreliert […] mit der Ausbildung von an Schrift gebundene Individualitätsstrukturen.«19 Anhand eingehender Textanalysen zeigt Schönborn im Folgenden auf, dass das Tagebuch zwar als wichtiger Motor des Individualisierungsprozesses anzusehen sei, daraus aber keineswegs gefolgert werden dürfe, diaristisches Schreiben sei per se monologisch. Vielmehr sei allen von ihr untersuchten Tagebüchern gemeinsam, dass sie die innere Struktur von Dialogen aufwiesen, wobei allerdings der Adressat jeweils variiere: Schönborn unterscheidet den »Dialog mit Gott«, das »Gespräch mit dem abwesenden Partner«, das »Gespräch mit den ›geliebten Toten‹« sowie schließlich den »Dialog mit dem eigenen Ich«.20 In diesem Beitrag soll es nun aber um solche Tagebücher gehen, die dem Klischee vom ›einsamen‹ Tagebuchschreiben insofern offen widersprechen, als sie a due mani, d. h. in doppelter Autorschaft entstanden sind. Ausgehend vom hier verhandelten Thema, »Paare in Kunst und Wissenschaft«, sollen dabei Tagebücher im Vordergrund stehen, die für die Paarkonstruktion der jeweiligen Verfasser/innen eine zentrale Rolle gespielt haben. Tagebücher von Paaren, in denen nicht mindestens ein/e Partner/in künstlerisch tätig ist, werden nicht in 16 Rüdiger Görner, »Tagebuch«, in: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. von Dieter Lamping, Stuttgart 2009, S. 703–710, hier 705. 17 Sibylle Schönborn, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999. 18 Vgl. Albrecht Koschorke, »Alphabetisation und Empfindsamkeit«, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Jürgen Schings, Stuttgart und Weimar 1994, S. 605–628. Nach Erscheinen von Schönborns Studie ausführlich ausgearbeitet in: Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Eine Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003. 19 Schönborn, Das Buch der Seele (Anm. 17), S. 3. 20 Sibylle Schönborn, »Tagebuch«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weima, hg. von Jan-Dirk Müller, Bd. III: P–Z. Berlin und New York 2007, S. 574–577, hier: S. 575.

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Betracht gezogen, was allerdings keineswegs als Hinweis auf deren grundsätzliche Unergiebigkeit verstanden werden sollte, sondern allein dem thematischen Schwerpunkt des Bandes geschuldet ist.21 Angesichts des Befundes, dass alle bisher vorliegenden Versuche, das Tagebuch als Gattung oder Medium präzise zu bestimmen, am ›Normalfall‹ des allein verfassten Tagebuchs entwickelt worden sind, stellt sich die Frage, ob die so gewonnenen Definitionen auf das zweisame diaristische Schreiben übertragen werden können. Wenn ein allein verfasstes Tagebuch der Selbsterkenntnis, der Selbstreflexion, der Selbstkontrolle, der Konstruktion von Subjektivität dient, dient dann ein von einem Paar geführtes Tagebuch notwendig der Erkenntnis und Reflexion eines ›Paar-Selbst‹? Und was wird dann eigentlich Gegenstand der Kontrolle: dieses ›Paar-Selbst‹? Oder aber kontrolliert jede/r Schreiber/in das jeweils andere Ich in diesem Paar? Wird im Paartagebuch das Wir eines Paars konstruiert? Oder müsste man ein PaarTagebuch nicht eher als ein dynamisches Aushandeln zweier Ich-Konstrukte denken, die miteinander in ein wechselvolles Spannungsverhältnis treten? Wie lässt sich ein Paartagebuch von einem Briefwechsel abgrenzen? Oder ist das Paartagebuch letztlich nichts anderes als ein Briefwechsel? Paartagebücher – Überlegungen zum Korpus Eine andere Frage ist diesen Fragen allerdings noch vorgelagert: Welche Tagebücher wären überhaupt in ein Korpus aufzunehmen, das die Untersuchung des Zusammenhangs von diaristischem Schreiben und Paarkonzeption zum Ziel hat? Es scheint mir in diesem Zusammenhang fruchtbar, von der Definition des Begriffes ›Bi-Textualität‹ auszugehen, die die Herausgeberinnen des gleichnamigen Aufsatzbandes im Jahr 2001 vorgeschlagen haben: Schreibende Paare konstituieren sich über Texte und in Texten. Bezogen auf die besondere Art der Schreibpositionen von Paaren umschreibt Bi-Textualität das Problem einer doppelten, auf ein Gegenüber bezogenen Autorschaft, die auf vielfältige Weise dialogisch, komplementär, konkurrierend, kongenial, korrespondierend, spiegelbildlich, symbiotisch und synthetisierend angelegt sein kann. Bi-Textualität bezieht sich somit auf die Eigenschaft solcher Texte, die zwei- oder mehrstimmige Produkte einer »literarisch-kreativen

21 Vielmehr wäre es von großem Interesse für weitere Forschungen, die entsprechenden Archive, z. B. das Emmendinger Tagebuch-Archiv, mit Blick auf Tagebücher nicht-prominenter Paare auszuwerten. Ebenso könnten Elterntagebücher, denen in diesem Band der Beitrag von Li Gerhalter gewidmet ist, implizit der Aushandlung von Paarkonzeptionen dienen, werden aber in diesem Beitrag aus Gründen der notwendigen Fokussierung nicht behandelt.

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Symbiose« oder Konkurrenz sind, die – bezogen auf die Etymologie von Text als textus – immer schon von mehreren Händen gewoben wurde.22

Diese bewusst weit gefasste Definition, die die »auf ein Gegenüber bezogene Autorschaft« zum zentralen Kriterium für Bi-Textualität macht, lädt dazu ein, den Blick nicht unnötig zu verengen und Tagebücher auch dann nicht von vornherein als irrelevant zu verwerfen, wenn sie nur einen physischen Schreiber oder nur eine Schreiberin haben. An einer Reihe von Beispielen sei dies genauer erläutert: Zwei Partner schreiben mit- und füreinander ein Tagebuch, in dem sie die eigene Liebesgemeinschaft und das gemeinsame Leben reflektieren, wobei die Feder einmal die eine, einmal der andere führt – das ist wohl die Vorstellung, die einem beim Stichwort ›Paartagebuch‹ als erstes in den Sinn kommt. Ginge man von dieser engen Vorstellung aus, dann gäbe es ›Musterbeispiele‹ der Gattung, etwa die bereits erwähnten Ehetagebücher von Robert und Clara Schumann, aber auch das gemeinsame Tagebuch von Nathaniel und Sophia Hawthorne aus dem ersten Jahr ihrer Ehe, auf das später noch näher einzugehen sein wird. Schon das von Felix und Cécile Mendelssohn Bartholdy während der Hochzeitsreise geführte gemeinsame Tagebuch23 würde nach einem solch exklusiven Gattungsverständnis nicht mehr von Interesse sein, dominiert darin doch der Zweck der Berichterstattung über die Reise klar gegenüber dem der Reflexion über Liebe, Ehe und gemeinsames Leben. Anders formuliert: Die beiden Partner wenden sich im zweisamen diaristischen Schreiben nicht primär einander zu, sondern blicken als Paar nach außen, was bedeutet, dass das Tagebuch von vornherein auf eine paarexterne Leserschaft ausgerichtet ist. Im Kontext der Frage nach dem Zusammenhang von diaristischem Schreiben und Paarkonstruktion ist dieses Tagebuch, in dem die explizite Reflexion auf die eigene Liebesbeziehung nahezu vollständig ausgeklammert bleibt, jedoch möglicherweise nicht minder aufschlussreich als andere, intimere Tagebücher, lassen sich doch aus den Einträgen wie auch allein schon aus dem Akt, ein an die Daheimgebliebenen adressiertes gemeinsames Tagebuch anzulegen, Schlüsse daraus ziehen, dass und wie die beiden schreibenden Individuen als Paar gesehen werden wollten. Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel ist in diesem Zusammenhang das als »Diario per la fidanzata« bekannt gewordene Tagebuch des italienischen Schrift22 Annegret Heitmann, Sigrid Nieberle, Barbara Schaff, Sabine Schülting u. a., »Einleitung«, in: BiTextualität. Inszenierungen des Paares, hg. von dens., Berlin 2001, S. 11–26, hier: S. 15. 23 Felix und Cécile Mendelssohn Bartholdy, Das Tagebuch der Hochzeitsreise, hg. von Peter Ward Jones. Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen von Thomas Schmidt-Beste, Zürich und Mainz 1997.

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stellers Italo Svevo, welches, ginge man von der oben skizzierten engen Definition aus, allein schon deshalb aus dem Korpus ausgeschlossen werden müsste, weil es nicht a due mani geschrieben wurde, sondern vom männlichen Partner allein. Rein physisch hat die Braut, Livia Veneziani, an diesem Vor-Ehe-Tagebuch nicht mitgeschrieben, als Initiatorin des Schreibprojekts und zugleich Adres­satin des Geschriebenen ist sie gleichwohl immer präsent. Es liegt ohne Zweifel im gesamten Tagebuch eine »auf ein Gegenüber bezogene Autorschaft« vor, wie sie in der oben zitierten Definition des Begriffs »Bi-Textualität« gefordert wird. Darüber hinaus dient das »Diario per la fidanzata« klar dem Zweck der Reflexion der eigenen Identität als künftiger Ehemann und damit implizit, teilweise auch explizit der Reflexion des Paars. Als einen weiteren Fall solch physisch ›einsamen‹ und virtuell dennoch ›zweisamen‹ diaristischen Schreibens könnte man Cosima Wagners Tagebücher betrachten, die bekanntlich kurz nach der Legalisierung der Beziehung im Januar 1869 einsetzen und die soeben abgeschlossene Autobiographie Wagners (die dieser Cosima in die Feder diktiert hatte) gewissermaßen fortsetzen.24 Verfasserin des Tagebuchs ist allein Cosima, und doch kann das Tagebuch, wie auch dessen Herausgeber meinen, als Teil eines übergreifenden Schreibprojekts angesehen werden, das vom Paar gemeinsam initiiert wird, jedoch auf nur einen Partner fokussiert ist, nämlich Richard Wagner, der ja gerade nicht physischer Autor des Tagebuchs ist. Mack und Gregor-Dellin sprechen von zwei großen Dokumente[n] […], die das gesamte Leben Richard Wagners, mit Ausnahme einer kleinen, sehr bezeichnenden Lücke, vom ersten bis zum letzten Tag umgreifen und erzählen. Beide liegen in Cosima Wagners (anfangs noch: von Bülows) Handschrift vor: die Diktatniederschrift von Wagners Autobiographie »Mein Leben« und ihre eigenen Tagebücher.25

Cosimas Tagebucheinträge, die übrigens explizit an die Kinder, insbesondere an Siegfried adressiert sind, kreisen um den genialen Gatten und um ihr Verhältnis zu ihm, insofern auch um das Paar Cosima und Richard Wagner. Görner stellt daher an diesem Beispiel heraus, dass es Tagebücher gibt, in denen die »(Tages-) Impressionen von einem nahen Menschen ausgehen, der kraft seiner Persönlichkeit auf den Tagebuchschreiber einen nie nachlassenden Einfluß ausübt«.26 Die Tagebücher Cosima Wagners dokumentieren seiner Ansicht nach in krasser 24 Cosima Wagner, Die Tagebücher, 2 Bde., ediert und komm. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München 1976/77. 25 Dietrich Mack und Martin Gregor-Dellin: »Vorwort«, in: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 1 (Anm. 24), S. 5–16, hier: S. 6. 26 Görner, Das Tagebuch (Anm. 5), S. 67.

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Form, »wie die völlige Aneignung des ›Anderen‹ zur Selbstaufgabe führen kann. Das oder der Andere wird identisch mit dem Selbst.«27 Oder anders formuliert: Die für das ›einsam‹ geschriebene Tagebuch oft als essenziell angesehene Funktion der Selbst-Reflexion ist hier zwar gegeben, ist aber von der Reflexion über den Anderen im Paar ununterscheidbar geworden. Gibt es also einen wesentlichen oder nur einen kontingenten Unterschied zwischen diesem nur mit einer Feder geschriebenen Tagebuch und jenem des Ehepaars Fink-d’Albert, an dem zwar beide Partner in unterschiedlichen Gewichtungen aktiv mitgeschrieben haben, dessen primäre Funktion aber ebenfalls, wie Christine Fornoff-Petrowski in ihrem Beitrag zu diesem Band darlegt,28 die Dokumentation des Wirkens eines Genies ist? Und müssten nicht letztlich noch indirektere Formen der diaristisch fundierten Koproduktion ins Auge gefasst werden? Dafür argumentiert die Anglistin Ina Schabert, der der oben angeführte Band zur ›Bi-Textualität‹ gewidmet ist. Im Kapitel über »Schreibende Paare« in der nachaufklärerischen Zeit ihrer Literaturgeschichte aus Sicht der Gender-Forschung analysiert Schabert die Schreibbeziehung der Geschwister William und Dorothy Wordsworth, über deren möglicherweise inzestuöse Beziehung viel spekuliert worden ist: Die Texte, denen William seinen Ruhm verdankt, hat er weitgehend in der Zeit der Zweisamkeit mit Dorothy geschrieben oder konzipiert […] Dorothys Tagebücher liefern mit den Beschreibungen dessen, was sie mit ihm gemeinsam gesehen und erlebt hat, die Schlüsselsituationen und das konkrete Wortmaterial, aus dem zahlreiche seiner Gedichte (Levin zählt 35) entstehen […].29

Wiederum hat hier nur eine Person – und wieder ist es die Frau – Tagebuch geführt, aber gewissermaßen als ausführende Hand eines Paar-Subjekts: des in literarischer Symbiose lebenden Geschwisterpaars. Das sogenannte »GrasmereTagebuch«30 ist nicht nur Dokument gemeinsamen Lebens und Erlebens, sondern darüber hinaus Generator von poetischen Texten, deren Autorschaft freilich allein William zugesprochen wird. Die diaristische Praxis ist hier somit in andere literarische Praktiken des männlichen Partners eingebettet. 27 Ebd. 28 Vgl. im vorliegenden Band Christine Fornoff-Petrowski, Tagebuchschreiben im Duett: Die Selbstbildung und Selbstdarstellung in den Ehetagebüchern des Künstlerpaares Hermine und Eugen d’Albert, S. 147–162. 29 Ina Schabert, Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung, Stuttgart 1997, Kap. »Schreibende Paare«, S. 420–444, hier: S. 428. 30 Dorothy Wordsworth, Das Grasmere-Journal. Mit dem Alfoxden-Journal und dem Tagebuch einer Reise nach Hamburg, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Werner von Koppenfels, Mainz 2015.

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So unterschiedlich die hier genannten Paartagebücher nach Struktur, Inhalt und Paarkonstellation auch sein mögen, eines fällt auf: Die Entscheidung, gemeinsam Tagebuch zu führen, fällt in aller Regel genau im oder kurz vor oder nach dem Moment der Eheschließung, also dann, wenn zwei Menschen beschließen, sich künftig der Öffentlichkeit gegenüber nicht mehr als Einzelne, sondern als Paar zu präsentieren. Für die Geschwister Wordsworth gilt dies zwar nicht, doch immerhin beginnt das Tagebuch, ähnlich wie das der Hawthornes, kurz nach der Gründung eines gemeinsamen Haushalts in Grasmere im nord­ englischen Lake District. Dieser besondere Moment löst offensichtlich Fragen nach dem Verhältnis von Ich- und Wir bzw. Paar-Identität aus, ändert er doch in der Regel – zumindest gilt dies für frühere Zeiten, in denen mit der Eheschließung auch das gemeinsame Wohnen begann – fundamental das alltägliche Leben: Man wohnt nun zusammen, man teilt die Aufgaben auf, man weist einander Rollen zu, man entwickelt gemeinsame und nicht gemeinsame Praxen. Kurz: Ein komplexer Aushandlungsprozess kommt in Gang, der sowohl äußeres als auch inneres Leben betrifft. In dieser neuen Konstellation, die ja durch physische Kopräsenz der Partner gekennzeichnet ist und, folgt man den Überlegungen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher in ihrem vieldiskutierten Aufsatz »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz«,31 eher Formen der mündlichen Kommunikation begünstigen müsste, entsteht offenbar ein erhebliches Bedürfnis nach schriftlicher Kommunikation. Paradoxerweise arbeitet man also in einer Situation, die von räumlicher Nähe geprägt ist, gemeinsam an der Herstellung von Distanz durch Schrift. Diaristisches Schreiben als materialgebundene Praxis Meines Erachtens kann die Forschung zur Funktion von Paartagebüchern von den einander überlagernden Turns, die die Geisteswissenschaften in den letzten Jahren erlebt haben – performative turn, pragmatic turn, material turn – wichtige Impulse empfangen. Dies sei am Beispiel des Tagebuchs allgemein kurz erläutert. Stark raffend und notwendigerweise vereinfachend lassen sich folgende Stationen in der bisherigen Forschungsgeschichte des Tagebuchs unterscheiden:

31 Vgl. Peter Koch und Wulf Oesterreicher, »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte«, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43.

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1. Das Tagebuch als autobiographische Quelle Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren Tagebücher für die literaturwissenschaftliche Forschung nicht um ihrer selbst willen von Interesse, sondern wegen ihres Informationswertes, z. B. im Hinblick auf die Biographie eines Schriftstellers, Musikers, Künstlers und auf die Entstehungsumstände seiner Werke. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei Tagebücher ›herausragender Männer‹. 2. Das Tagebuch als literarische Kunstform In den 50er/60er Jahren wurde das Tagebuch als eine Form von Literatur bzw. als literarische Kunstform entdeckt und aufgewertet, wovon vor allem die oben erwähnte Einführung von Peter Boerner aus dem Jahr 1969 Zeugnis ablegt. Zunächst wurden ›echte‹ und fiktive Tagebücher unterschieden32, später dominierten Modelle, die die Unterscheidung zwischen ›authentisch‹ und ›fiktiv‹ verwerfen und stattdessen unterschiedliche Grade von Selbstfiktionalisierung oder Selbststilisierung im Tagebuch beschreiben.33 3. Das Tagebuch als Medium der Literalisierung und Individualisierung Tagebücher werden seit den 80er Jahren verstärkt unter medien­geschicht­ lichen,34 zugleich aber auch unter anthropologischen und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten untersucht. Die oben erwähnte Studie von Sibylle Schönborn ist repräsentativ für die Verschiebung des Interesses auf die Frage, welche Rolle Tagebücher im Literalisierungs- und Individualisierungsprozess des 18./19. Jahrhunderts gespielt haben. 4. Diaristisches Schreiben als materialgebundene Praxis Die oben genannten Turns sind auch an der Forschung im Bereich des sogenannten Life Writing35 nicht spurlos vorübergegangen. Tagebücher, aber auch Briefe und andere autobiographische Zeugnisse werden seit einiger Zeit nicht mehr primär als textuelle Produkte eines Schreibprozesses betrachtet, vielmehr rückt der Schreibprozess selbst als komplexe, jeweils an spezifische Ma32 So z. B. Albert Gräser, Das literarische Tagebuch. Studien über die Elemente des Tagebuchs als Kunstform, Diss. Saarbrücken 1955. 33 Vgl. etwa Jurgensen, Das fiktionale Ich (Anm. 4). 34 Vgl. z. B. Birgit Nübel, Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz, Tübingen 1994. 35 In der internationalen Forschung zu verschiedensten Formen des Schreibens über das eigene Leben oder das Leben anderer hat sich in letzter Zeit der Begriff des Life Writing etabliert. In der Definition des Oxford Centre for Life Writing bezieht er sogar mündliche Lebenszeugnisse mit ein: »Life-writing includes autobiography, memoirs, letters, diaries, journals (written and documentary), anthropological data, oral testimony, and eye-witness accounts.« Vgl. »What is Life Writing?«, in: [Webseite des] Oxford Centre of Life Writing. https://oxlifewriting.wordpress.com/what-is-lifewriting (abgerufen am: 14. Mai 2019).

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terialien und Techniken gebundene Praxis in den Fokus. So schlägt Pawel Rodak vor, bei der Untersuchung von Tagebüchern – er hat dabei vor allem Kriegstagebücher im Blick – generell zwischen textueller, materieller und pragmatisch-existentieller Dimension zu unterscheiden, also Tagebücher nicht nur als Texte zu analysieren, sondern auch deren spezifische Materialität (Trägermaterialien, Schreibwerkzeuge etc.) in den Blick zu nehmen. Außerdem müsse stets ihre Einbettung in die historisch einmalige Situation, die die jeweiligen Schreibhandlungen hervorbringt, reflektiert werden: »La notion de ›dimension existentielle et pragmatique‹ du journal de guerre nous permet de donner plus d’importance aux questions ›par qui ?‹, ›comment ?‹ et ›pour quoi ?‹ le journal est tenu.«36 Exemplarisch für diese Akzentverschiebung hin zu Materialität, Technik und Praxis des Schreibens ist in der deutschsprachigen Forschung das im Anschluss an Rüdiger Campe von Martin Stingelin weiterentwickelte und inzwischen anhand zahlreicher konkreter Beispiele breit ausdifferenzierte Konzept der ›Schreibszene‹, welches neben der sprachlichen Dimension des Schreibens ebenfalls auch dessen instrumentelle (die Technologien bzw. Materialien und Werkzeuge des Schreibens) und darüber hinaus dessen körperliche Dimension (gemeint sind die einzuübenden physischen Gesten des Schreibens, z. B. beim Schreiben mit Bleistift, Feder, Schreibmaschine, Computer, beim Kopieren oder beim Diktat) in den Blick nimmt.37

36 Pawel Rodak, »La guerre et l’écriture: sur les journaux personnelles de la II Guerre mondiale«, in: Kwartalnik Neofilologiczny, LV, 4 (2008), S. 361–371, hier: S. 362. 37 Auf der Webseite schreibszenen.net wird das Projekt wie folgt vorgestellt: »Die Literaturwissenschaft hat sich bislang weitgehend darauf beschränkt, die Geschichte des Schreibens aus der Perspektive seiner Semantik und, damit verbunden, der Rhetorik und Poetik zu behandeln. Schreiben aber setzt sich neben der Sprache und dem pragmatischen oder performativen Wissen, wie mit ihr umgegangen werden kann oder soll (das ist die Sprachlichkeit des Schreibens), unabdingbar aus zwei weiteren Elementen zusammen: Um die in der Sprache formulierten Gedanken festhalten zu können oder als Handlungselemente wirksam werden zu lassen, braucht man Schreibwerkzeuge, also eine Technologie (das ist die Instrumentalität des Schreibens), deren Benützung spezifische Gesten, das heißt ein Training voraussetzt (das ist die Körperlichkeit des Schreibens). Diese drei sich beim Schreiben gegenseitig bedingenden Elemente – Körperlichkeit, Instrumentalität und Sprachlichkeit - bilden gemeinsam eine Szene, auf der sich alle drei als Quelle möglicher Widerstände darstellen können, die im Schreiben überwunden werden müssen. Diese ›Schreibszene‹ stellt die Frage nach ihrem Rahmen, ihren Rollenverteilungen und -zuschreibungen und ihrer Regie.« Zum Konzept der Schreibszene und ihren konkreten Anwendungsmöglichkeiten vgl. auch Christine Lubkoll und Claudia Ohlschläger (Hg.): Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Freiburg i.Br., Berlin und Wien 2015.

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Es würde hier zu weit führen, auf die zahlreichen, einander häufig überlagernden und ergänzenden Untersuchungsmodelle und Analysekonzepte noch ausführlicher einzugehen. Ich möchte es daher zunächst bei diesem gerafften Überblick belassen und im Folgenden an drei Beispielen demonstrieren, unter welchen Perspektiven man den Zusammenhang von diaristischem Schreiben und Paarkonstruktion betrachten könnte, wenn man Paartagebücher nicht ausschließlich als Texte, sondern als – paarindividuelle – materialgebundene Praxen auffasst, dabei aber die diaristische Praxis nicht mit dem Schreibakt selbst gleichsetzt, sondern von einem umfassenderen Verständnis des Begriffs ›Schreibpraxis‹ ausgeht. Meiner Ansicht nach müssen nämlich, gerade wenn man nach dem Zusammenhang von Tagebuch und Paarkonstruktion fragt, auch das ›Vorfeld‹ und das ›Nachfeld‹ des Schreibens Gegenstand der Untersuchung werden. Damit ist gemeint, dass auch diejenigen Handlungen in den Blick kommen müssen, die dem Akt des Eintragens vorangehen, das Tagebuchschreiben also ermöglichen, initiieren und in eine bestimmte Form bringen, sowie auch die Handlungen, die zu seinem Ende führen und das Geschriebene möglicherweise nachträglich zurichten, indem beispielsweise der oder die überlebende Partner/ in es für eine Edition bearbeitet, um die Wahrnehmung des Anderen und der Paar-Beziehung in der Öffentlichkeit zu steuern. Beispiel 1: Italo Svevo und Livia Veneziani Was das ›Vorfeld‹ betrifft, so könnten im Hinblick auf den Zusammenhang von diaristischem Schreiben und Paarkonstruktion u. a. folgende Fragen gestellt werden: Wer von beiden fasst den Entschluss, ein Tagebuch anzulegen, und wer besorgt das Trägermedium, wer die Schreibutensilien? Welche Aussage hat dieses Medium selbst in seiner spezifischen Materialität? Ist mit der Anlage des Tagebuchs ein Auftrag verbunden, und wer erteilt ihn wem? Wird das Tagebuch mit einer ›Präambel‹ versehen und wer formuliert sie? Gibt es Paratexte, die mit der Einrichtung des Tagebuchs unmittelbar verbunden sind? Warum diese und ähnliche Fragen zu stellen gewinnbringend sein kann, möchte ich im Folgenden am Beispiel des von Italo Svevo verfassten »Diario per la fidanzata« erläutern. Kurz nach der Verlobung am 20. Dezember 1895 überreicht Livia Veneziani Italo Svevo, der aus einer österreichisch-jüdischen Familie stammt, ein in deutscher Sprache bedrucktes Kalenderbuch für das Jahr 1896 mit dem Titel »Blüthen und Ranken edler Dichtkunst«, das sie ihrerseits von einer Freundin zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, sowie einen goldenen Füllfederhalter.

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Abb. 1: Cover des Kalenderbuchs (Blüthen und Ranken edler Dichtung).

Veneziani verbindet das Geschenk mit einem klaren Auftrag: Der Bräutigam möge es verwenden, um »pensieri amorosi«38 darin niederzulegen, woraus bereits zu schließen ist, dass ihre Liebes- und Paarvorstellung romantisierenden Modellen folgt. Das Buch enthält tatsächlich u. a. Gedichte aus der deutschen Romantik, beispielsweise von Eichendorff und Mörike, aber auch Texte von heute vergessenen Dichtern. Es ist zudem mit Darstellungen junger Mädchen und Blumenmalereien im Geschmack der Zeit illustriert. Als Produkt des Buchmarktes der Jahrhundertwende ist das Kalenderbuch also eindeutig ›gegendert‹: Zielgruppe sind junge Frauen, denen es erbauliche Lektüre und zugleich Raum zur Niederschrift ihrer Gedanken bietet. Dass nun Veneziani dieses weiblich kodierte und bisher – von den gedruckten Texten und der an sie selbst gerichteten Widmung der Freundin abgesehen – völlig unbeschriebene Trägermedium zusammen mit einem goldenen Füllfederhalter ihrem künftigen Gatten übergibt, ist für sich genommen schon eine zur Deutung einladende Handlung: Das reine, weiße Buch wird von ihr zur Beschriftung durch den künftigen Ehemann 38 Italo Svevo, »[Diario per la fidanzata]«, in: Racconti e scritti autobiografici. Edizione critica con apparato genetico e commento di Clotilde Bertoni. Saggio introduttivo e Cronologia di Mario Lavagetto, ders., Milano 2004, S. 674–709, Kommentar S. 1355–1378.

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freigegeben, d. h. Veneziani macht das Buch zum Symbol ihrer Jungfräulichkeit und signalisiert zugleich ihre Bereitschaft, diese dem Bräutigam hinzugeben. Ihr Wille, sich künftig primär als Braut und Ehefrau zu definieren, wird dadurch noch bekräftigt, dass das Buch ursprünglich ein Geschenk ihrer Freundin an sie selbst war, also eine Mädchenfreundschaft bekräftigen sollte: Indem Veneziani das Geschenk nicht annimmt, sondern an den Geliebten weitergibt, macht sie die Übergabe bewusst zu einem Akt der Loslösung aus dem Kreis der Freundinnen und zu einem Abschied von ihrem alten Leben als ›unberührtem‹ Mädchen. Dass sie ein edles Schreibinstrument gleich mit überreicht und den Verlobten bittet, das Buch zärtlichen »pensieri amorosi« vorzubehalten, kann dabei als – möglicherweise unbewusster – Appell an Svevo verstanden werden, das Geschenk (ihres Körpers) mit der gebotenen Feinfühligkeit zu ›beschriften‹. Auch könnte man das biedermeierliche Sittsamkeit ausstrahlende Geschenk als den Versuch einer Domestizierung des bislang ungezügelt liebenden Bohémiens deuten. Ein Brief an die Braut vom 23. Dezember 1895, in dem Svevo das Geschenk erstmals schriftlich kommentiert, kann als Paratext zum Tagebuch gelten.39 Er macht deutlich, dass Svevo, der bisher ein bürgerlichen Tugendvorstellungen wenig entsprechendes Leben geführt hatte, die mit dem Geschenk verbundene implizite Botschaft verstanden hat, sieht er doch das Tagebuch als Chance, sich von seinem ›unreinen‹ Junggesellenleben frei zu schreiben: »Meine Livia, jetzt kann ich also dank Deines guten Einfalls meinen reinen Traum auf dem Papier verewigen! So rein! Ich habe Angst davor! So rein, daß ich tatsächlich manchmal zweifle ob es sich um Liebe handelt denn die Liebe habe ich in ganz anderer Gestalt erlebt.«40 Auf die Seite vom 2. Januar 1896 trägt er in deutscher Schreibschrift zunächst einen Gedanken des ungarischen Schriftstellers Joseph von Eötvös ein, den man als ›Präambel‹ zum Tagebuch deuten kann: »So innig zwei Menschen einander lieben mögen: sie können doch nicht vollständig in einander aufgehen. Nur Diejenigen werden sich stets nahe bleiben, welche fortwährend das Bedürfniss fühlen, sich einander zu nähern.«41 Das Zitat, das wie ein Motto vor den Einträgen steht, formuliert unmissverständlich Svevos Einspruch gegen die romantisierende Vorstellung von Liebe als Verschmelzung verwandter Seelen, welche das Trägermedium selbst transportiert, etwa in diesem Gedicht von Hermann Kleike: »Wie berührt mich wundersam / Oft ein Wort von dir, / Das 39 Von den Herausgebern der deutschsprachigen Ausgabe des Tagebuchs wird er daher auch den Einträgen vorangestellt. Italo Svevo, Ettore an Livia. Tagebuch der Verlobung eines Schriftstellers. Mit einer Einführung von John Gatt-Rutter, hg. und übersetzt von Hans Michael Hensel, Segnitz bei Würzburg 1999 (Edition Villa Segeniz), S. 29–32. 40 Ebd., S. 29. 41 Svevo, [Diario per la fidanzata] (Anm. 38), S. 674.

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Abb. 2: Seite aus dem Tagebuch (Italo Svevo, Diario per la findanzata).

von deiner Lippe kam / Und vom Herzen mir. // Was ist mein und was ist dein? / Ach, du weißt es nicht – / Wie aus dir in Lust und Pein / Meine Seele spricht!«42 Die unauflösliche Spannung zwischen Bindungswillen und Bindungsangst, die Svevos Tagebucheinträge durchziehen wird, lässt sich mithin schon den im Vorfeld stattgefundenen Handlungen und Schreibakten ablesen. Darüber hinaus manifestiert sie sich jedoch in den Einträgen selbst, und zwar zunächst inhaltlich, da Svevo die sexuell unerfahrene Adressatin geradezu lustvoll mit seinen erotischen Phantasien konfrontiert: »Come è cosa bella la violenza in amore. Sai perché tanto mi piace quella posizione che tu sfuggi? Intanto perché tu non ne vuoi sapere e che mi tocca farti violenza. […] Quando ti tengo fra le mie braccia, tutta, tutta, non poggiata che a me, ti sento più che mai mi preda.« 43 Darüber hinaus manifestiert sich die Spannung zwischen Svevos »reinem Traum« und der Realität seiner ›schmutzigen‹ Phantasien, die nicht mehr ausleben zu können er 42 Blüthen und Ranken edler Dichtung, ausgewählt von A. v. Wyl, Nürnberg o.J. (1895), unpag. Seite (14. Mai). 43 Svevo, [Diario per la fidanzata] (Anm. 38), S. 675. Übersetzung: »Wie schön ist die Gewalt in der Liebe. Weißt Du warum mir gerade die Situation, die Du scheust, so gut gefällt? Eben weil Du sie nicht erfahren willst und ich Dir Gewalt antun muß […] Wenn ich Dich ganz, ganz fest in meinen Armen habe, fühle ich Dich mehr denn je als meine Beute.« Svevo, Ettore an Livia (Anm. 39), S. 40.

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fürchtet, in der Materialität des Tagebuchs selbst: Anstatt mit blauer Tinte in Schönschrift »pensieri amorosi« einzutragen, was dem Geschenk des goldenem Füllfederhalters wohl entsprochen hätte, schreibt Svevo ungeniert über die vorgegebenen Schreibränder hinweg, respektiert die Daten nicht, variiert die Schriftgröße und besudelt einige der hinteren Seiten des Buches geradezu hemmungslos mit seiner unkontrollierten, ungestalten Schrift: Er schreibt einmal mit roter, einmal mit schwarzer Tinte und überschreibt immer wieder den gedruckten Text. Am Tagebuch selbst agiert der Schreiber somit aus, was die mit der Eheschließung verbundenen Erwartungen an ihn künftig ausschließen werden: ungebändigt seinen Lastern nachzugehen, dem des exzessiven Rauchens ebenso wie dem der von bürgerlichen Normen unbelasteten körperlichen Liebe. Die Einträge des Verlobten reichen vom 2. Januar bis zum 13. März. Am 2. September 1896 folgt ein letzter Eintrag, den Svevo jedoch bereits als Ehemann vornimmt: »Strano! Sono sposato da 1 m. e più e mi ritrovo identico con tutti i miei vizi. Ma fino a questo punto e non più oltre!«44 Beispiel 2: Robert und Clara Schumann Das ›Mittelfeld‹ – d. h. die Schreibaktivität im engeren Sinne – ist diejenige Phase der diaristischen Praxis, die die meisten Fragen aufwirft, wobei einige dieser Fragen an jedes Diarium gestellt werden müssen, andere sich hingegen ausschließlich dann ergeben, wenn ein Paar gemeinsam ein Tagebuch anlegt: Von wann bis wann wurde das Tagebuch geführt? In welcher Beziehung steht dieser Zeitraum zu Ereignissen im (gemeinsamen) Leben des Paars? Wer macht den ersten Eintrag? Welchem Rhythmus folgt das Schreiben? Gibt es einen regelmäßigen Wechsel in der Führung der Feder? Wie hoch sind zu welchem Zeitpunkt die Schreibanteile der jeweiligen Partner und wie verhält sich die Gewichtung zur ›Präambel‹? Schreibt möglicherweise einer der Partner auf Diktat des anderen?45 Zum Mittelfeld gehören weiterhin auch die Frage nach der direkten oder indirekten Adressierung des Tagebuchs sowie die nach dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit: Wird das Tagebuch, möglicherweise noch in 44 Svevo, [Diario per la fidanzata] (Anm. 38), S. 708. Übersetzung: »Sonderbar! Seit über 1 Monat bin ich verheiratet und immer noch derselbe mit allen meinen Lastern. Aber nur bis zu diesem Punkt und nicht mehr länger!« Svevo, Ettore an Livia (Anm. 39), S. 105. 45 Die Situation des Diktierens kann man, wie Michael Ott überzeugend dargelegt hat, ebenfalls als »Schreibszene« betrachten. Vgl. Michael Ott, »›Setze dich. Schreib.‹ Diktier-Szenen bei Schiller und Kleist«, in: Schreibszenen (Anm. 37), S. 191–213.

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unabgeschlossenem Zustand, anderen gezeigt? Zirkuliert es oder bleibt es geheimes Eigentum des Paares? Warum all diese Fragen von Interesse sind, wenn es um das Tagebuch als Medium von Paarkonzeptionen geht, lässt sich gut am Ehetagebuch von Robert und Clara Schumann aufzeigen. Es beginnt bekanntlich am 13. September 1840, also am ersten Tag des gemeinsamen Ehelebens und zugleich an Claras 21. Geburtstag. Den Aufschlag macht eindeutig Robert: Er hat das erste Heft beschafft; er ist es, der den ersten Eintrag schreibt; er ist es, der Programmatik und Regularien des Diariums verkündet: Alle acht Tage wechseln wir ab in der Führung des Secretariats; alle Sonntage (früh zum Caffee womöglich) erfolgt die Übergabe des Tagebuchs, wobei es keinem verwehrt ist, auch einen Kuß beizufügen. Das Geschriebene wird alsdann gelesen, im Stillen oder auch laut, je nachdem der Inhalt es verlangt, Vergessenes nachgetragen, Wünsche werden angehört, Anträge gestellt und bewilligt, und überhaupt der ganze Lebenslauf der Woche sorgfältig erwogen […].46

Den in der ›Präambel‹ verlangten wöchentlichen Wechsel halten die beiden jung Verheirateten genau 18 Wochen lang durch, wobei jedoch auch in diesen ersten Wochen bereits auffällt, dass die Einträge Claras in der Regel deutlich länger sind als die Roberts. Zu Beginn der 19. Woche kommentiert Clara in ironischem Ton die Abweichung vom Prinzip der Abwechslung: »Wider die Abrede ist es, daß ich diese Woche das Buch führe, doch wenn ein Mann eine Symphonie componirt, da kann man wohl nicht verlangen, daß er sich mit anderen Dingen abgiebt – muß sich doch sogar die Frau hintangesetzt sehen!«47 Es erübrigt sich fast, den Zusammenhang dieser schreibrhythmischen Auffälligkeit mit der Paarkonzeption zu kommentieren, denn es liegt auf der Hand, dass sich in diesem Bruch mit den Regularien der zentrale Konflikt im Leben des Ehepaars Schumann ausdrückt: Clara muss bald feststellen, dass ihrer Kunst nicht dieselbe Bedeutung eingeräumt wird wie der Roberts: Komponieren rangiert vor Klavierspielen und erst recht vor Tagebuchschreiben!48 Schon bei oberflächlicher Lektüre der Einträge fällt ein Schwanken im Gebrauch von Personalpronomen auf: Manche Einträge sind in der Ich-Form formuliert und könnten auch in einem alleine geschriebenen Tagebuch stehen: »D. 4. Noch immer bessert sich mein Unwohlsein nicht – meine Angst steigt von 46 Robert und Clara Schumann, Ehetagebücher 1840–1844, hg. von Gerd Nauhaus und Ingrid Bodsch, 2. Aufl. Bonn und Frankfurt a.M. 2013, S. 14. 47 Ebd., S. 57. 48 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Beatrix Borchard, Robert Schumann und Clara Wieck. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Weinheim und Basel 1985.

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Tag zu Tag. Ich bin melancholisch, und manche Sorgen quälen mich – gebe Gott, daß meine Besorgnisse nicht eintreffen! Meine große Liebe zum Robert macht, daß ich mich quäle […].«49 In ein Ehetagebuch geschrieben, schließt die Ich-Form die Du-Adressierung jedoch nicht aus, ist doch davon auszugehen, dass der Andere den Eintrag unmittelbar lesen wird. Andere Einträge wiederum wenden sich explizit an den Anderen, indem sie ihn anreden, so der erste Eintrag Roberts, der in seiner gesamten Anlage Briefcharakter hat, wie auch die ›Antwort‹ Claras, in der die formalen Briefmerkmale zwar zurücktreten, die briefähnliche Adressierung aber bleibt: »Ehe ich mit der neuen Woche beginne muß ich Dir, mein lieber Mann, doch gestehen, daß ich noch nie so glückliche Tage verlebt, als die letztvergangenen, und gewiß ich bin das glücklichste Weib auf Erden.«50 Wieder andere referieren auf den jeweils anderen Partner in der dritten Person, wie etwa der von der 39. und 40. Woche (6. bis 21. Juni): Robert componiert immerfort, hat 3 Sätze bereits beendet und ich hoffe er wird bis zu seinem Geburtstag fertig. Er kann mit Lust auf das vergangene Jahr und Sich zurückblicken, meine ich! man sieht, daß sich die Ehe doch nicht nachtheilig gezeigt hat – man sagt so oft, sie töte den Geist, benehme ihm jugendliche Frische! Mein Robert liefert doch gewiß den klarsten Gegenbeweis!51

Passagen wie diese lesen sich zunächst wie Berichte, enthalten aber im Subtext Kommentare zur Paarbeziehung: Clara wendet sich hier vehement gegen die zeittypische Ansicht, die Ehe könne sich negativ auf die Produktivkräfte des Mannes auswirken, sodass er notwendig Opfer bringe, wenn er heirate.52 Im selben Eintrag formuliert sie, nunmehr in der Ich-Form, dass das Gegenteil der Fall ist, denn nicht er, sondern sie zahle als Künstlerin den Preis für die so lang ersehnte Lebensgemeinschaft: »Mein Clavierspiel kommt wieder ganz hintenan, was immer der Fall ist, wenn Robert componirt. Nicht ein Stündchen im ganzen Tag findet sich für mich! Wenn ich nur nicht gar zu sehr zurückkomme! Das Partiturlesen hat jetzt auch wieder aufgehört, doch ich hoffe, nicht auf lange!«53 Eine Antwort auf diesen impliziten Appell bleibt aus, hat doch der komponierende Gatte bis auf Weiteres das Tagebuchschreiben eingestellt. Erst in der 43. 49 50 51 52

Ebd., S. 35. Ebd., S. 18. Ebd., S. 81. Vgl. dazu auch Claras Ehetagebucheintrag vom 18. Oktober 1840: »Daß Robert meint, jetzt Nichts schaffen zu können, und dies ihn schwermüthig stimmt, betrübt mich sehr. Denkt er nicht an das, was er geschaffen hat in dem vergangenen Jahr? Soll denn der Geist nicht auch einmal ruhen? Er bricht nachher mit um so größerer Gewalt hervor. Oder glaubst Du etwa, weil Du mich nun zur Frau hast, nun ginge es nicht mehr?« Ebd., S. 31. 53 Ebd.

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Woche greift er wieder zur Feder und liefert einen kleinen Reisebericht, in dem er den Konflikt zwar in doppeldeutigen Worten anklingen lässt, ihn jedoch im Lob auf die Ehefrau erstickt: »Klara mag manchen Seufzer, den ich nicht gehört, ausgestoßen haben; dann machten wir aber Alles durch Küsse wieder gut, wie denn Klara überhaupt eine Reisegesellschafterin ist, wie sie eine Lebensgefährtin ist, willig, heiter, nachsichtig, immer lieb und liebend.«54 Diese wenigen zitierten Einträge lassen erkennen, dass die Ehetagebücher der Schumanns verschiedene Gattungen wie auch verschiedene Formen des diarischen Schreibens miteinander verbinden: Zum einen changieren sie zwischen Tagebuch und Briefwechsel, zum anderen zwischen intimem Tagebuch und Chronik, enthalten sie doch fortlaufende Berichte über das Leipziger Musikleben. Darüber hinaus legt das Paar Rechenschaft über die in verteilten Rollen erzielten Ergebnisse seiner Produktivität ab – Kompositionen und Auftritte in öffentlichem wie privatem Rahmen werden regelmäßig verzeichnet, wobei es wiederum Clara ist, die den Hauptanteil an der Berichterstattung hat. Ob das Ehetagebuch tatsächlich, wie man zunächst wohl annehmen würde, als rein privates Medium gedacht war oder von einem oder gar von beiden zumindest halbbewusst bereits mit Blick auf ein Publikum geschrieben wurde, ist vielleicht nicht abschließend zu klären. Gerd Nauhaus hält es für denkbar, dass das Ehetagebuch »über den unmittelbaren Adressaten, Clara Schumann, hinaus auf ein imaginäres Publikum, ja vielleicht auf die ›Nachwelt‹ gemünzt« war, die ja das Paar bekanntlich »ganz wie ein Herz und eine Seele betrachten« sollte.55 Durch seine Formulierung suggeriert er allerdings implizit, dass Robert der Autor und Clara lediglich die Adressatin des Tagebuchs sei, womit Clara, deren Schreibanteile doch deutlich umfangreicher sind als die Roberts, die Autorschaft am Tagebuch beiläufig aberkannt wird. Beispiel 3: Nathaniel und Sophia Hawthorne Ins ›Mittelfeld‹ lassen sich im Übrigen auch Fragen nach Inhalt und Sprache einordnen. Schreiben die beiden Partner über die gleichen oder über unterschiedliche Themen? Unterscheiden sich die Einträge im Hinblick auf Sprache, 54 Ebd., S. 88. 55 Gerd Nauhaus, »Vorwort«, in: Robert Schumann, Tagebücher. Bd. III Haushaltsbücher, Teil 1: 1837– 1847, hg. von Gerd Nauhaus, Basel und Frankfurt a.M. 1982, S. 7–22, hier: S. 7. Mit »Nachwelt« referiert Nauhaus auf einen Brief Schumanns an Clara, in dem es heißt: »Wir geben dann auch Manches unter unseren beiden Namen heraus; die Nachwelt soll uns ganz wie ein Herz und eine Seele betrachten und nicht erfahren, was von Dir ist, was von mir ist.« (Brief an Clara Wieck, 13. Juni 1839, in: Briefwechsel Clara und Robert Schumann, Bd. 2, S. 571.)

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Stil und Rhetorik der Einträge? Die Relevanz dieser Fragen möchte ich im Folgenden am Beispiel von Sophia und Nathaniel Hawthorne erläutern, deren Ehetagebuch darüber hinaus eine besonders aufschlussreiche Nachgeschichte hat, sodass es sich lohnt, auch die nachträglich stattfindenden diaristischen Praxen an diesem Beispiel zu demonstrieren. Der amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne und seine Frau Sophia geb. Peabody legten etwa zur gleichen Zeit wie die Schumanns, nämlich 1842, das Jahr, in dem sie heirateten, ein gemeinsames Tagebuch an, welches sie allerdings nur 16 Monate lang weiterführten. Die Einträge der beiden Partner unterscheiden sich rhetorisch und stilistisch erheblich: Während Nathaniel seine täglichen Erlebnisse in Form von kunstvoll ausgestalteten kleinen Erzählungen niederlegt, berichtet Sophia in einem Mündlichkeit und Spontaneität suggerierenden Sprachgestus, wobei sie Rechtschreibung und Zeichensetzung stark vernachlässigt. So könnte Nathaniels fein elaborierte Naturschilderung im Eintrag vom 31. März 1843, wenn man vom Gebrauch des Präsens absieht, auch am Beginn einer fiktionalen Erzählung stehen: The first month of Spring is already gone; and still the snow lies deep on hill and valley; and the river is still frozen from bank to bank; although a late rein has caused pools of water to stand on the surface of the ice, and the meadows are overflowed into broad lakes. Such a protracted winter has not been known for twenty years at least.56

Sophias Schreibstil ist dagegen nicht von literarischem Anspruch geprägt, wie etwa der Eintrag vom 8. September 1842 zeigt: My dearest husband has gone to sail on the river, & it is quite early. The sun has not risen above our opposite hill & I think I will record a little of my beautiful life, my happiest, most enchanting life. (Little Kit sits on the opposite page of this book, purring very contentedly – & now & then putting her paw very gently on my pen) Those visitors who interrupted my dear husband in the above sentence, (O that they had come later) were Margaret & Mr Sam Ward.57

Diese Unterschiede lassen darauf schließen, dass das gemeinsam geführte Tagebuch nicht für beide Partner dieselbe Funktion hatte: Während Nathaniel eine spätere literarische Verwertung oder gar Veröffentlichung wohl bereits im Blick hatte, diente das Tagebuch Sophia primär der Verherrlichung des Ehemanns und des gemeinsamen Lebens in Concord. Dies wird noch deutlicher werden, wenn man das ›Nachfeld‹ des Schreibens in den Blick nimmt. Mit ›Nachfeld‹ ist 56 Ordinary Mysteries. The Common Journal of Nathaniel and Sophia Hawthorne 1842–1843, hg. von Nicholas R. Lawrence und Marta L. Werner, Philadelphia 2005, S. 152 f. 57 Ordinary Mysteries (Anm. 56), S. 129.

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die Phase gemeint, die der des Eintragens folgt, wobei auch die Frage, wer das Tagebuch aus welchen Gründen und zu welchem Zeitpunkt für abgeschlossen erklärt, zu interessanten Erkenntnissen führen kann. Folgende Fragen könnten mit Blick auf das Nachfeld gestellt werden: Wird Zensur geübt, wenn ja, von wem und mit welchem Ziel? Wird das Tagebuch verwertet, wenn ja, von wem und wofür? Wird das Tagebuch ediert? In welcher Form? In wessen Autorschaft? Wie wird das Tagebuch in den Paratexten der Editionen präsentiert? Welchen Einfluss hat die Editionsgeschichte auf die Wahrnehmung des Paars? Im Jahr 2005 erschien unter dem Titel Ordinary Mysteries. The Common Journal of Nathaniel and Sophia Hawthorne eine Faksimile-Ausgabe, die das Tagebuch erstmals als in gemeinsamer Autorschaft verfasstes Werk kenntlich macht. Bis dahin hatte es mehrere Editionen gegeben, die aber jeweils allein Nathaniel Hawthorne als Autor auswiesen, und dies aus einem klar zutage liegenden Grund: Die erste Editorin des Tagebuchs war nämlich niemand anders als Sophia selbst.58 Sie war es, die nach dem Tod des Ehemanns das Tagebuch für die Veröffentlichung vorbereitete oder besser: im Hinblick auf die Veröffentlichung zurichtete, im einfachen wie auch im übertragenen Sinn des Wortes. Auf geradezu brutale Weise schnitt sich Sophia Hawthorne bis auf wenige Einträge selbst aus dem Tagebuch heraus, indem sie Stellen schwärzte, Seiten herausriss und andere Seiten verklebte. Zu Recht sprechen die Herausgeber der Faksimile-Ausgabe von einem echten »Drama«, das Sophia durchlebte, als sie sich vor die Aufgabe gestellt sah, das einst private Tagebuch nach dem Tod Hawthornes in dessen öffentliches Œuvre zu inkorporieren: In selecting portions of the journal to publish while keeping other parts to herself, Sophia became entangled in an allegorical struggle displacing the earlier Eden fantasy of their honeymoon year – a posthumous collaboration embodying all the tensions accompanying the mediation of public and private worlds, letter and spirit, writing and editing. The drama of her struggle is recorded negatively in the changes and omissions she effected in her husband’s texts, and positively in the marks she made on the manuscript itself.59

Offensichtlich empfand es Sophia als unangemessen, das Tagebuch als Produkt gemeinsamer Schreibpraxis öffentlich zu machen. Der Übergang von der Privatheit zur Öffentlichkeit im Nachfeld des Schreibens geht also einher mit der Umformung eines miteinander lebenden und schreibenden Paars zu einem Paar, 58 Passages from the American Note-Books of Nathaniel Hawthorne, hg. von Sophia Hawthorne, Boston 1868. 59 Nicholas R. Lawrence und Marta L. Werner: »Allegories of Collaboration. The Common Journals of Nathaniel and Sophia Hawthorne«, in: Ordinary Mysteries (Anm. 56), S. 1–22.

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Abb. 3: Tagebuchseite mit Streichungen von Sophia Hawthorne (Ordinary Mysteries. The Common Journal of Nathaniel and Sophia Hawthorne 1842–1843.)

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Abb. 4: Verklebte Seite im Ehetagebuch der Hawthornes (Ordinary Mysteries. The Common Journal of Nathaniel and Sophia Hawthorne 1842–1843.)

in dem allein dem Mann Autorschaft zukommt, der Frau hingegen die Rolle der Verwalterin seines Ruhms. Inzwischen ist es den Editionsphilologen gelungen, einige der geschwärzten Stellen wieder lesbar zu machen und aus den Zusammenhängen weitgehend zu rekonstruieren, welche Ereignisse des Ehelebens Sophia gänzlich eliminieren wollte: Es handelt sich vor allem um Reflexionen zur ersten Schwangerschaft und das traumatische Erlebnis einer Fehlgeburt, um Klagen über ihre Einsamkeit bei längeren Abwesenheiten des Ehemanns sowie um Stellen, in denen Nathaniel auf erotische Situationen anspielt.60 Das Tagebuch wurde übrigens beendet, als Sophia erneut schwanger wurde. Die Editions- und Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs der Hawthornes kann hier nicht vollständig rekonstruiert werden.61 Erwähnt sei daher abschließend nur die 2014 erschienene deutsche Ausgabe des Tagebuchs, zu der Peter Handke das Vorwort beigesteuert hat. Sie trägt den Titel »Das Paradies der kleinen Dinge« und greift damit den Garten-Eden-Vergleich auf, den Nathaniel 60 Vgl. Alexander Pechmann, »Wir träumten vom Paradies. Nachwort«, in: Sophia und Nathaniel Hawthorne: Das Paradies der kleinen Dinge. Ein gemeinsames Tagebuch, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und hg. von Alexander Pechmann, mit einem Vorwort von Peter Handke, 2. Aufl. Salzburg und Wien 2014, S. 186–197, hier: S. 196 f. 61 Sie wird jedoch in der erwähnten Faksimile-Ausgabe Ordinary Mysteries ausführlich dokumentiert.

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mehrfach in Bezug auf das erste Ehejahr im Alten Pfarrhaus in Concord/Massachusetts verwendet. Im Klappentext wird Sophia per Zitat aus Nathaniels Einträgen gängigen Künstlerpaar-Stereotypen entsprechend als Muse ihres Ehemanns präsentiert, als Allegorie des Frühlings, die die »müde Seele« des Autors zu »erneuern« und »neu zu erschaffen« vermag: »Ich habe den Frühling geheiratet! – Ich bin der Ehemann des Monats Mai!«62 Auch dies ein Akt nachträglicher Paar-Konstruktion, in diesem Fall durch den Verlag. Fazit Konzeptionen von Partnerschaft und Paar-Sein konstituieren sich in verschiedensten Praktiken – man könnte an Foucaults Begriff der pratiques de soi anknüpfend von pratiques de couple sprechen –, von denen die des Tagebuchschreibens, wenn denn ein Paar sich überhaupt dazu entschließt, nur eine ist. Allerdings geht die diaristische Praxis, wie die oben analysierten Beispiele zeigen, keineswegs im Schreibakt auf, sondern stellt sich als ein komplexes Gefüge von paarindividuell entwickelten Handlungen und Verfahren dar, die zudem mit anderen pratiques de couple interagieren. Die diaristische Praxis übernimmt in jeder PaarKonstellation spezifische Funktionen: Sie kann der – wenigstens – schriftlichen Verwirklichung eines Symbiose-Traums dienen, wie er in Robert Schumanns ›Präambel‹ implizit evoziert wird, sie kann aber auch dem bewussten Ausagieren von Widersprüchen zwischen Bindungswunsch und Bindungsangst dienen, wie Svevos Tagebuch für die Verlobte zeigt. Das nachträglich zugerichtete Tagebuch der Hawthornes macht deutlich, dass die ›Arbeit am Paar‹ nicht durch den Tod eines der Partner an ihr Ende kommen muss, sondern ganz im Gegenteil manchmal erst im Nachfeld des Schreibens ihren Höhepunkt erreicht. Paartagebücher dienen ohne Zweifel in der Regel – zumindest der Intention nach – der Konstruktion und Reflexion einer Wir-Identität, was jedoch nicht ausschließt, dass in ihnen unterschiedliche Subjekt-Entwürfe mitunter disharmonisch aufeinanderprallen. Innere Widersprüche in den auf der Wortebene artikulierten Vorstellungen vom ›idealen Paar‹ werden dann besonders deutlich, wenn die konkreten Praktiken der Tagebuchführung – wie oft schreibt wer wieviel? – und die materiellen Grundlagen des Schreibens – wer nutzt welches Material auf welche Weise? – in den Fokus gerückt werden. So weisen allein die phasenweise ganz ausbleibenden Einträge Robert Schumanns auf den Grundkonflikt einer Künstlerehe hin, in der der Ehemann den von ihm selbst verkün62 Sophia und Nathaniel Hawthorne, Das Paradies der kleinen Dinge (Anm. 60), Klappentext.

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deten »Statuten unsres geheimen Eheordens«63 nicht gerecht zu werden vermag. Und Svevos Lust an der Verunstaltung der reinweißen Seiten eines Kalenderbuchs für junge Mädchen verrät einiges über seine Angst davor, dass sein männliches Selbst im Paar zum Verschwinden gebracht werden könnte. Zuletzt sei noch einmal an die oben gestellte Frage erinnert, ob Paartagebücher letztlich nichts anderes als Briefwechsel sind. Diese Frage lässt sich m.E. nicht pauschal beantworten. Manche Paartagebücher, so etwa die Ehetagebücher der Schumanns, enthalten viele Einträge, die ausgeprägten Briefcharakter haben, da sie explizit an die oder den Andere/n adressiert sind und zumindest phasenweise ein Hin und Her von ›Brief‹ und Antwort stattfindet, das der bekannten Definition des Briefs als eines »Gesprächs unter Abwesenden« durchaus entspricht – zumal ja die Einträge häufig zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden, da der oder die Andere tatsächlich räumlich abwesend ist. Doch auch wenn ein Paartagebuch sich weniger explizit an die Form des Briefwechsels anlehnt, wenn etwa über weite Strecken keine Du-Adressierung formuliert wird, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass es »primär für den Schreiber selbst bestimmt«64 ist, wie Boerner es für das ›einsame‹ Tagebuch postuliert hatte. Alle hier betrachteten Tagebücher sind in der ein oder anderen Form sowohl für den Schreiber oder die Schreiberin selbst als auch für den oder die Andere/n bestimmt. Sie beziehen sich in ihrer Autorschaft permanent auf ein Gegenüber und genügen damit der oben zitierten Definition von ›Bi-Textualität‹. Dennoch lässt sich keines der hier vorgestellten bi-textuellen Tagebüchern ohne Verluste als Briefwechsel beschreiben, allein schon deshalb nicht, weil die »auf ein Gegenüber bezogene Autorschaft« nicht unbedingt voraussetzt, dass beide Partner tatsächlich schreiben bzw., wie es der Standardform des Briefwechsels entspräche, sogar abwechselnd die Feder ergreifen. Vor allem aber spricht die Tatsache, dass das Material des Schreibens, insbesondere das zu diesem Zweck angelegte Heft oder Buch, integraler Bestandteil der jeweiligen diaristischen Praxis ist, dagegen, Paartagebücher ohne Weiteres mit Briefwechseln gleichzusetzen. Hinzu kommt weiterhin, dass sich Paare – sei es intentional oder ohne ­Absicht – in eine literarische Tradition einschreiben, sobald sie ein Tagebuch anlegen und es als solches bezeichnen und wahrnehmen. Ab diesem Moment nämlich ist das Schreiben notwendigerweise durch das Wissen um Gattungskonventionen präfiguriert, die sowohl die materielle und formale Ebene (Nutzung eines Buches oder Heftes statt einzelner Blätter, Datierung der Einträge, Streben nach Regelmäßigkeit) als auch die inhaltliche Ebene (Anlehnung an Konzept der Chronik, des Reiseberichts oder des ›Buches der Seele‹ und dem63 Robert und Clara Schumann, Ehetagebücher (Anm. 46), S. 14. 64 Peter Boerner, Tagebuch (Anm. 7), S. 13.

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entsprechende Auswahl der Gegenstände des Schreibens) betreffen. Pointiert könnte man deshalb formulieren: Wer sagt, dass er ein Tagebuch schreibt, der schreibt ein Tagebuch. Aufgabe der Forschung ist es, für jeden Einzelfall herauszuarbeiten, welche Gattungskonventionen bedient werden und mit welchen gebrochen wird bzw. wo Konventionen anderer Gattungen, etwa die des Briefs oder der Autobiographie, zugleich aufgerufen werden. Paartagebücher sind immer in mehrfacher Hinsicht Hybride, deren Partizipation an unterschiedlichen Gattungen, deren Einbettung in andere literarische und nicht-literarische PaarPraktiken und deren Oszillieren zwischen den Polen Ich, Du und Wir sie zu besonders faszinierenden Untersuchungsobjekten macht.

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»Bekannten Gesichtern wird bis auf 3 Meter Entfernung zugelacht.« Arbeitspaare und Elterntagebücher in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts

1907 wurden in Leipzig zwei Bücher herausgegeben, die sich in vielem ähnlich waren: Beide beschäftigten sich mit der Entwicklung von kleinen Kindern, beide waren auf Tagebuchaufzeichnungen aufgebaut – und beide waren in Co-Autor/ innenschaft von einem Ehepaar verfasst worden. Einerseits waren das die in Wissenschaftskreisen etablierten Clara und William Stern.1 Andererseits Gertrud und Ernst Scupin, ein Lehrer/innenehepaar, das bis dato nicht in die publizistische Öffentlichkeit getreten war.2 Die Bücher waren also in unterschiedlichen Kontexten entstanden, konnten aber beide reüssieren. In diesem Beitrag werden die zwei Projekte exemplarisch dazu herangezogen, um das Phänomen der Arbeitspaare in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts vorzustellen und in Verbindung mit dem auto/biografischen Genre3 der sogenannten Elterntagebücher zu bringen, also mit Aufzeichnungen, die Eltern über das Aufwachsen ihrer Kinder angefertigt haben.4 Zuvor soll die Geschichte der Aufschreibepraxis Elterntagebuch grundrissartig dargestellt werden: Solche Aufzeichnungen sind seit dem späten 18. Jahrhundert bekannt, ein frühes dokumentiertes Beispiel sind dabei die um 1795 begonnenen Notizen des damals 29-jährigen calvinistischen Theologen Fried-

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Clara und William Stern, Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Monographie über die seelische Entwicklung des Kindes, Leipzig 1907. 2 Ernst und Gertrud Scupin, Bubis erste Kindheit: Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre, Leipzig 1907. Aus dieser Publikation ist das titelgebende Zitat entnommen, S. 12. 3 Die Schreibweise ›auto/biografisch‹ wird hier im Anschluss an die feministische Soziologin Liz Stanley gebraucht, die in diesem Terminus alle Formen ›of writing a life‹ zusammengefasst hat. Vgl. Liz Stanley, The Auto/biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/biography, Manchester 1995. 4 Als popularwissenschaftlichen Überblick dazu: Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009.

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rich Adolf Krummacher (1767–1845). Laut dem Bericht seines Sohnes hatte der junge Vater dabei unter allem Getümmel in der Welt Ruhe und Humor genug [gefunden], um sich im Namen seines kleinen Erstgeborenen ein Tagebuch anzulegen, in welches alles, was sein Säuglingsleben berührte, wie geringfügig es auch war, sorgfältig eingetragen, namentlich aber die wahrgenommenen Fortschritte in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung unter feuriger Dankbezeugung zu Gott stark hervorgehoben wurden. Wann das Knäblein zuerst seine Eltern angelächelt, wie es dann ein in der Stube herumfliegendes Vöglein aufmerksam mit seinen Blicken verfolgt und dadurch seine Sehkraft documentiert, und sonderlich, wie es angefangen habe, an der Aussprache der schweren Worte: Mama und Papa zu studiren [sic!], dies alles stand in dem Büchlein.5

Dies alles sollte nun aber auch in dem Büchlein stehen – zumindest nach der zeitgenössischen Ansicht jener Pädagogen, die um 1800 solche Dokumentationen dezidiert propagiert haben. Der erste derzeit belegbare Aufruf wurde 1771 von dem ›universalgelehrten‹ Aufklärer August Ludwig von Schlözer (1735– 1809) lanciert – was auch der Anlass für das Vätertagebuch von Friedrich Adolf Krummacher gewesen sein soll.6 Schlözer formulierte dabei klare Vorgaben, wie ein Elterntagebuch zu schreiben sei: Jeder noch so kleine Entwicklungsschritt der Säuglinge sollte möglichst detailliert wiedergegeben werden, persönliche Kommentare (wie die »feurige Dankbezeugung zu Gott« des begeisterten Vaters Krummacher) hingegen unterbleiben. Die Autoren dieser in Auftrag gegebenen Protokolle könnten aktuell mit dem Begriff ›Citizen Scientists‹ bezeichnet werden. Die auf diese Weise gesammelten Daten wurden als Grundlagen für Forschungen über die (neu definierte) Lebensphase ›Kindheit‹ herangezogen, als Quellen für pädagogische, evolutionsbiologische und später insbesondere für psychologische und sprachwissenschaftliche Studien. Diese verschiedenen Richtungen der Kindheitsforschung waren dann – trotz ihrer inhaltlichen Unterschiede – seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre tatsächlich auch zum Großteil auf Elterntagebüchern aufgebaut.7 5 Zitat und Angaben zum Geburtsjahr des Autors nach Gebhardt, Die Angst (Anm. 4), S. 36. 6 Simone Austermann, Die »Allgemeine Revision«. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Bd. 32, Bad Heilbrunn 2010, S. 18, FN 15. 7 Dieses Thema ist wissenschaftshistorisch gut ausgeleuchtet worden u. a. auch in den in diesem Beitrag nicht weiter zitierten Publikationen: Pia Schmid, »Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung«, in: Einführungskurs Erziehungswissenschaft. 3. Einführung in die Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, hg. von Klaus Harney und Heinz-Hermann Krüger, Opladen 2006, S. 15–36; Uffa Jensen und Daniel Morat, »Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen in der

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Thematische und theoretische Pfade dieser Geschichte Während des langen Zeitraums seiner Verwendung hat sich der Weg dieses speziellen auto/biografischen Formats auch mit dem Phänomen der Arbeitspaare gekreuzt. In der Beschreibung von einzelnen Schlaglichtern ihrer gemeinsamen Geschichte lassen sich verschiedene thematische Pfade betreten, von denen zwei in die folgenden Richtungen gehen können: 1. Ein erster Pfad sind genretheoretische Überlegungen. Für die Auto/Biografieforschung und die Selbstzeugnisforschung sind diese Elterntagebücher aus vier Gründen bemerkenswert: Keine andere Form subjektiver (Selbst-)Dokumentationen stand so früh, so lange und so nachhaltig im wechselseitigen Einfluss mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Keine wurde von so vielen und verschiedenen Fächern wissenschaftlich ausgewertet. Bei keiner anderen wurden wissenschaftlich argumentierte Schreibanleitungen so stark akzeptiert und übernommen.8 Und keine wurde über einen so langen Zeitraum in Editionen veröffentlicht. Der letzte Aspekt ist insbesondere im Zusammenhang mit der Genrebildung auto/biografischer Formate durch Nachahmung bzw. »Überformung«9 interessant. Hier schließt wiederum die Frage an: Wer bzw. was ist das ›Selbst‹ in diesen Aufzeichnungen? Wer spricht bzw. schreibt hier was, wie und warum? Die Rezeptionen, die Übernahmen oder die Ablehnungen von zeitgenössischen Forschungskonjunkturen lassen sich in dieser Form diaristischer Aufzeichnungen also relativ direkt aufspüren. Ich schlage als Definition dafür daher das Begriffspaar »wissenschaftsgeleitete Elterntagebücher« vor. Auf einer Metaebene habe ich weiters die Bezeichnung »hergestellte Selbstaussagen« formuliert.10 2. Ein zweiter thematischer Pfad ist die Frage nach den jeweiligen historischen Akteur/innen: Wer hat hier wann was geforscht? Und wer hat die Quellangen Jahrhundertwende (1880–1930)«, in: Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, hg. von dens., München 2008, S. 11–34; Siegfried HoppeGraff und Hye-On Kim, »Tagebuchaufzeichnungen im Kontext. Varietäten einer traditionellen Methode der Kleinkindforschung«, in: Handbuch der Kleinkindforschung, 4. vollständig überarbeitete Auflage, hg. von Heidi Keller unter Mitarbeit von Annette Rümmele, Bern 2011, S. 820–844. 8 Diese Korrelation mit wissenschaftlichen Ansprüchen unterscheidet die Elterntagebücher von den zeitgenössisch ebenfalls populären Briefstellern. 9 Christiane Holm, »Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen«, in: @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, hg. von Helmut Gold, Christiane Holm, Eva Bös und Tine Nowak, Heidelberg 2008, S. 10–50, hier: S. 35. 10 Dieses Begriffspaar ist hergeleitet von den Formulierungen von Thomas Etzemüller von »hergestelltem und vorgefundenem Material« sowie den »spontanen und provozierten Selbstaussagen« von Peter Dudek. Thomas Etzemüller, Biografien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a. M. 2012, S. 81; Peter Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990, S. 198.

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lenbasis dafür angefertigt? Mit der Ausdifferenzierung und Etablierung von neuen Wissenschaftsrichtungen im Laufe des 19. Jahrhunderts gingen auch eine Professionalisierung sowie Institutionalisierung der Tätigkeit des Forschens einher. Diese hatten sich spätestens in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts durchgesetzt – was ein sukzessives Verschwinden der sogenannten Lai/innenforschung aus dem Wissenschaftsbetrieb bedeutet hat. Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel der Elterntagebuchforschung gut nachvollziehen. Daran geknüpft ist schließlich die Frage nach den geschlechterspezifischen Möglichkeiten der Teilhabe – womit der Bogen wieder zurückgespannt wäre zu den Arbeitspaaren. In der Chronologie der wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher war es aber noch nicht ganz so weit. Als Friedrich Adolf Krummacher um 1800 seinen kleinen Sohn Wilhelm observierte, handelte es sich dabei (ungeachtet der zeitgenössischen bürgerlichen Mütterideologie11) noch um eine Angelegenheit ausschließlich von Vätern. Väter als Autoren von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Im Rahmen des stark reglementierten (bürgerlichen) Liebeskonzepts12 seit dem 18. Jahrhundert wurde auch die »Gefühlshaltung«13 von Männern normiert. Vor der Folie der vielzitierten »polarisierten Geschlechtscharaktere« (Karin Hausen) ist dabei vielleicht überraschend, dass das Ideal hierbei nicht eine ›Gefühlslosigkeit‹ war, sondern vielmehr eine ›Kultivierung‹ der Gefühle der (bürgerlichen) Männer.14 Von ihnen war nicht gefragt, keine Gefühle zu haben, sondern die ›richtigen‹. Entsprechend erfuhr auch das Idealbild der ›Vaterliebe‹ zeitgebundene Normierungen.15 Ein Ausdruck davon war eben das Führen eines Vätertagebuchs. 11 Die (kritische) Historisierung und Kontextualisierung des Phänomens ›Mutterliebe‹ war eine der Problemstellungen der frühen Frauengeschichte. Als Überblick dazu u. a. Claudia Opitz, »PflichtGefühl. Zur Codierung von Mutterliebe zwischen Renaissance und Aufklärung«, in: Querelles, Bd. 7, 2002, S. 154–170. 12 Ingrid Bauer und Christa Hämmerle, »Liebe und Paarbeziehungen im ›Zeitalter der Briefe‹ – ein Forschungsprojekt im Kontext«, in: Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von dens., Göttingen 2017, S. 9–56. 13 Ann-Charlotte Trepp, »Gefühl oder kulturelle Konstruktion. Überlegungen zur Geschichte der Emotionen«, in: Querelles, Bd. 7, 2002, S. 86–103, hier: S. 95. 14 Dazu u. a. Ines Rebhan-Glück, »Gefühle erwünscht. Normiertes Liebeswerben in Verlobungskorrespondenzen aus den 1860er/70er Jahren?«, in: Liebe schreiben, hg. von Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (Anm. 12), S. 57–85. 15 Die Historisierung der Rolle der bürgerlichen Väter und Ehemänner ist einer der Schwerpunkte der aktuellen Geschichtsschreibung der Gefühle. Dazu u. a. James Marten, »Family Relationships«, in:

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Die geschlechterspezifische Zuordnung dieser Aufschreibepraxis galt zumindest für ihre wissenschaftsgeleiteten Versionen. Die popularen Formen, die parallel dazu im Alltag etabliert worden sind, waren inhaltlich freilich vielfältiger gestaltet.16 Und sie wurden von Vätern wie Müttern angefertigt, aber auch von Erzieherinnen oder Hauslehrern, wie einige inzwischen ausgewertete Beispiele aus dem Adel belegen.17 Für die Konstituierung der Form der wissenschaftsgeleiteten Vätertagebücher waren jedenfalls insbesondere die entsprechenden Initiativen des Aufklärers Joachim Heinrich Campe (1746–1818) richtungsweisend. Auch er hatte einen Aufruf gestartet und 1789 und 1790 jeweils die Auszüge von zwei Tagebüchern herausgegeben. Dabei sind Campes fachliche Kommentare als Fußnoten direkt in die Editionen eingefügt: Den 6ten Jul. [1786]. Als ich heute mit [dem Kind] spielte, und ihm etliche – (denn v i e l e halte ich nicht für gut *) neue Gegenstände vor die Augen brachte, sah es mich sehr aufmerksam an, lächelte, und lallte: ahn – ahn! Als ob es mir antworten wollte. […] *) Sehr richtig! Campe Den 14ten Jul. Jetzt will das Kind immer auf der Gasse, und unter Menschen seyn. Also […] G e s e l l s c h a f t s t r i e b . Wenn es unter andern Menschen ist, so lacht es bald gegen den, bald gegen jenen, wie wenn es sich ihren Beyfall, Liebe und Achtung zu erwerben suchen wollte. Folglich […] Tr i e b , s i c h a n d e r n g e f ä l l i g z u m a c h e n : o d e r Tr i e b z u r M e n s c h e n l i e b e *). […] *) Das wohl noch nicht; sondern nur erst sympatherisches [sic!] Mitgefühl bey den Ausdrücken froher oder widriger Empfindungen, welche das Kind in den Mienen, Blicken, Gebehrden und in dem Ton anderer Menschen wahrnimmt. Campe.18 A Cultural History of Childhood and Family, Bd. 5: In the Age of Empire, hg. von Colin Heywood, Oxford und New York 2010, S. 19–38. 16 Dazu u. a. Leonieke Vermeer, »›Cheerful Angels Looking Down on Us‹: Parental Emotions in Diaries about the Illness and Death of Infants and Young Children (1780–1880)«, in: Cher Philippe. A Festschrift for Philippe Lejeune. On the Occasion of his 80th Birthday. Essays on a Life, Life Writing and Autobiographical Theory, hg. von T. G. Ashplant, Clare Brant und Iona Luca, Amsterdam 2018, S. 57–150. Der Begriff ›populare Autobiographik‹ wurde geprägt von Bernd Jürgen Warneken, Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985. 17 Dazu u. a. Andreas Schulz, »Der ›Gang der Natur‹ und die ›Perfektibilität‹ des Menschen. Wissensgrundlagen und Vorstellungen von Kindheit seit der Aufklärung«, in: Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, hg. von Lothar Gall und Andreas Schulz, Stuttgart 2003, S. 15–39; hier: S. 30–31 und S. 37. Claudia Kollbach, Aufwachsen bei Hof. Aufklärung und fürstliche Erziehung in Hessen und Baden, Frankfurt a. M. 2009; Sheila Patel, Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis. Die Tagebücher der Maria Esterházy-Galántha (1809–1861), Geschichte und Geschlechter, Bd. 66, Frankfurt a.  M. 2015. 18 Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius, Vätertagebuch, 6. und 14. Juli 1786. Das Zitat ist entnom-

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Diese kommentierten Editionen waren also Erziehungsratgeber, medizinisches Handbuch und Entwicklungsroman in einem. Dass sie breit rezipiert wurden, zeigt nicht zuletzt der Umstand ihres Wiederabdrucks aus dem Jahr 1798. Wissenschafter als Autoren von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Die Form und Inhalte der wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher blieben während des 19. Jahrhunderts ziemlich unverändert, die Autoren ihrerseits Väter der gebildeten Schichten. Vielfach waren es auch die Wissenschafter selbst, die sich damit die Grundlagen für ihre eigenen Forschungen schufen. Ein berühmter Vertreter dieser Praxis war etwa der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882), der solche Beobachtungen über seinen 1839 geborenen Sohn William Erasmus angefertigt hat. Die darauf aufgebaute Veröffentlichung Biographische Skizze eines kleinen Kindes erschien erst 1877. Darwin scheint dem Datenmaterial offenbar entsprechend längerfristig Relevanz zugeschrieben und ihm nachhaltiges Vertrauen entgegengebracht zu haben.19 Besonders große Resonanz erfuhren aber die einschlägigen Publikationen des Evolutionsbiologen Wilhelm (William Thierry) Preyer (1841–1897). Er war promovierter Mediziner und seit 1869 der erste Ordinarius für Physiologie an der Universität Jena. Seine Notizen über den 1877 geborenen Sohn Axel Thierry waren die Quelle für seine 1882 in Leipzig veröffentlichte Studie Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren. Preyer beschäftigte sich darin mit den menschlichen Sinnen, die in der Studie aufgefächert wurden in das »Sehen«, »Hören«, »Fühlen«, »Schmecken« und »Riechen«, die »frühesten Organgefühle und Emotionen«, »Willensäußerungen« und »Ausbildung des kindlichen Verstandes unabhängig von der Sprache«. Das Buch avancierte zu einem Standardwerk der Kindheitsforschung, bis 1923 erschien es in neun Auflagen.20

men aus dem Wiederabdruck in: [o. A.] Ehrenfeld, Ferdinand’s [sic!] Ehrenfelds Jugendjahre. Ein Beitrag zur neuern Pädagogik. Zur Beherzigung für Eltern, Lehrer und Erzieher, welchen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt, Leipzig 1798, S. 409 f. [Hervorhebungen im Original]. 19 Der Artikel wurde, erweitert um einzelne erläuternde Fußnoten, neuerlich abgedruckt in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 20/1–2 (2005), S. 138–148. 20 Überblicke zu den Arbeiten von Wilhelm Preyer bieten u. a. Sabine Andresen, »Die Produktion von Wissen im Tagebuch. Eine historische Diskursanalyse über die Bedeutung von Tagebüchern für die Forschung über Kindheit und Jugend«, in: Erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Empirische Analysen zu Bildungs- und Erziehungsverhältnissen, hg. von Susann Fegter u. a.: Wiesbaden 2015, S. 75–88; Georg Eckardt, Kernprobleme in der Geschichte der Psychologie, Wiesbaden 2010, S. 200–

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1893 veröffentlichte Preyer Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, nebst Anweisungen für Eltern, dieselbe zu beobachten, was er als eine »Einführung« in seine Studie von 1882 verstand.21 Gleichzeitig richtete er darin auch einen Aufruf an sein Lesepublikum, Väter wie Mütter, ihrerseits Protokolle der Entwicklung ihrer Kinder anzufertigen und der Forschung zur Verfügung zu stellen.22 Damit waren nun also auch Frauen erstmals dazu aufgefordert, sich ebenfalls an diesem speziellen Dokumentationsprojekt zu beteiligen. Mütter als Autorinnen von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Der Schwenk von Wilhelm Preyer nun auch auf die Mütter ist aus geschlechter­ historischer Sicht hervorzuheben. Was ihn konkret dazu bewogen hat, kann an dieser Stelle nur spekuliert werden: Vermutlich sollten dadurch Informationen von möglichst vielen Kindern gesammelt werden. Vielleicht war es auch der pragmatische Grund, dass er bei der Dokumentation seines eigenen Sohnes bemerkt hatte, wie aufwändig ein solches Unternehmen eigentlich war? Für einen anderweitig Berufstätigen war es eigentlich nicht zu schaffen, wenn das Buch denn auch ernsthaft nach seinen umfangreichen Vorstellungen konzipiert sein sollte. Die Mütter waren ohnedies zuhause… Aber waren sie kompetent genug? Sicherheitshalber war der Aufruf jedenfalls mit sehr genauen Vorgaben versehen, wie ja auch bereits im Titel des Buches angekündigt wurde. Zudem appellierte Wilhelm Preyer, die Frauen sollten die Beobachtungen ihrer Kinder selbst anfertigen – und nicht etwa vom Dienstpersonal erfragen.23 Damit wurde ein klarer Hinweis auf den Personenkreis gegeben, der sich an dem kollektiven Erhebungsprojekt beteiligen sollte: Familien, deren Lebensstandard derart gestaltet war, dass er auch Hausangestellte miteinschloss. Gleichzeitig propagierte Preyer mit dieser Anweisung engere Eltern-Kind-Beziehungen im Gefüge von (klein-)bürgerlichen ›Kernfamilien‹. (Er selbst war im großbürgerlichen Kontext einer Industriellenfamilie aufgewachsen.) Damit wurde seine evolutionsbiologische Forschung nicht zuletzt mit gesellschaftspolitischen Ideen verknüpft. 205; Caroline Hopf, Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004, S. 65–72. 21 Wilhelm Preyer, Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, Leipzig 1893, Vorwort, o. S. 22 Miriam Gebhardt, »Mit Waage und Papier – Die Erfindung des modernen Elterntagebuchs«, in: Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, hg. von Janosch Steuwer und Rüdiger Graf, Göttingen 2015, S. 47–62, hier: S. 49– 50. 23 Gebhardt, Die Angst (Anm. 4) S. 50.

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Eine andere Interpretation, warum der renommierte Wissenschafter Wilhelm Preyer nun auch auf Mütter als Lieferantinnen von Rohdaten für seine Forschung rekurrierte, könnte sein, dass er damit auf die zeitgenössisch zwar langsam, aber doch zunehmend steigende Teilhabe von Frauen an schulischen und vereinzelt auch bereits an universitären Bildungsangeboten reagierte. So wurden etwa in den USA Ende des 19. Jahrhunderts erste psychologische Studien von Frauen veröffentlich,24 wobei jene von Milicent Washburn Shinn (1858–1940) auch in Europa, und hier insbesondere von Preyer, stark rezipiert worden ist. Sie hatte 1893 eine Arbeit zur Entwicklung von Säuglingen vorgelegt, die auf den Beobachtungen ihrer 1890 geborenen Nichte Ruth basierten und mit der sie 1898 schließlich als erste Frau an der University of California promoviert wurde.25 Das Fach, in dem Washburn Shinns Wissen universitär beglaubigt war, war die Psychologie. Diese war damals eine noch junge Forschungsrichtung, deren weltweit erste fachspezifische Institution erst 1879 von Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920) in Leipzig eingerichtet worden war.26 Das Beispiel der Psychologie zeigt also, dass Frauen ab dem späten 19. Jahrhundert insbesondere in den neuen Fachrichtungen die Möglichkeit hatten, wissenschaftlich tätig zu sein. Diese Felder waren noch nicht fix besetzt – und entsprechend offen. Mit den Frauen betraten schließlich auch die Arbeitspaare das Forschungsfeld. Zwei Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum wurden eingangs bereits kurz vorgestellt. Sie werden im folgenden zweiten Teil dieses Beitrags nun im Mittelpunkt stehen.

24 Margaret Floy Washburn (1871–1939) erhielt als erste Frau in den USA 1894 an der Cornell University in Ithaca (New York) ein PhD-Degree in Psychologie. Ihr Thema waren Mensch-Tier-Beziehungen. Elissa Rodkey, »Margaret Floy Washburn«, in: Psychology’s Feminist Voices (2010), http:// www.feministvoices.com/margaret-floy-washburn (abgerufen am: 16. Februar 2019). Katherine Carter Moore promovierte 1896 im Fach Kinderpsychologie, vgl. Werner Deutsch, »Nicht nur Frau und Mutter – Clara Sterns Platz in der Geschichte der Psychologie«, in: Psychologie und Geschichte 5/3–4 (1994), S. 171–182, hier: S. 175. 25 Milicent Washburn Shinn hatte ihre Ergebnisse 1893 erstmals öffentlich vorgestellt und mit dem Titel »Notes on the Development of a Child« bis 1899 dreimal herausgegeben. 1900 wurde die Studie unter dem Titel »The Biography of a Baby« schließlich als populärere Version in Boston/New York herausgebracht. Eine Neuauflage wurde 1985 herausgegeben. Elissa Rodkey, »Milicent Shinn«, in: Psychology’s Feminist Voices (2010), http://www.feministvoices.com/milicent-shinn (abgerufen am: 16. Februar 2019). 26 Die erste entsprechende Professur in Wien wurde erst 1922 gewidmet. Dazu u. a. Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922–1938, Wien 1995.

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Arbeitspaare und Elterntagebücher: Gertrud Scupin und Ernst Scupin Die 1907 veröffentlichte Publikation Bubis erste Kindheit von Gertrud Scupin (1880–1947) und Ernst Scupin entstand als direkte Reaktion auf den Aufruf von Wilhelm Preyer. Das Buch wurde zu einem Verkaufsschlager,27 1910 und 1931 folgten zwei Fortsetzungen.28 Das Paar lebte im schlesischen Breslau (Wrocław), beide hatten die Lehrer/ innenausbildung absolviert, 1904 wurden sie Eltern eines Sohnes. In den wissenschaftsgeleiteten Aufzeichnungen über dessen Aufwachsen wurde nun alles, was das Kind betraf, minutiös wiedergegeben. So bereits seine Geburt: 16. Mai 1904. Heute morgen 7 Uhr wurde unser kleiner Ernst Wolfgang geboren. Er verhielt sich mehrere Sekunden lang lautlos, erst ein energischer Klaps der Hebamme auf den unteren Teil seines Rückens bewog ihn zum ersten Schrei. Ans besonnte Fenster gebracht, kniff er sofort die Augen zusammen, öffnete sie aber gleich darauf weit, ließ also die Welt im Zweifel, ob er für Lichteindrücke schon empfänglich war. Auf Geräusche reagierte das Kind überhaupt noch nicht. Dagegen schnappte es, als es hungrig war, seitwärts in das Federbett hinein, strampelte die eingebundenen Händchen (eingebunden, weil das Kind sich das Gesicht zerkratzte) wieder frei und saugte gierig daran.29

Auffallend an diesem Bericht ist u. a., dass seine Verfasser/innen darin fast völlig in den Hintergrund treten. Beide Eltern kommen – zumindest in den Schilderungen der ersten Lebenstage ihres Kindes – im Text nicht als Akteur/innen vor. Sie werden weder als Betreuende des Säuglings vorgestellt, noch scheinen sie selbst in die Geburt involviert gewesen zu sein. Entsprechend ist nichts über den Zustand der Mutter zu erfahren, von ihr wird hier nur der (in dem Zusammenhang wohl als zentral identifizierte) Körperteil »Brust« genannt: 17. Mai. Das eine Auge klebte etwas zu, das andere wurde häufig weit geöffnet. Grellem Lampenlicht gegenüber kniff der Knabe die Augen zusammen. Der Gesichtssinn ist also intakt, ebenso das Gehör. Denn als das Kerlchen an der Brust lag und jemand laut spre-

27 Der jüngste »Reprint« wird seit 2018 auf der Website der südafrikanischen Firma Loot™ Online (Pty) Ltd. angeboten: https://www.loot.co.za/product/ernst-scupin-bubi-s-erste-kindheit/yxdk5812-g380 (abgerufen am: 16. Februar 2019). Bei dieser – und auch anderen Versionen – der Neuauflage ist Ernst Scupin jeweils als alleiniger Autor angegeben. 28 Ernst und Gertrud Scupin, Bubi im vierten bis sechsten Lebensjahre. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten sechs Lebensjahre, Leipzig 1910; Gertrud Scupin, Lebensbild eines deutschen Schuljungen; Tagebuch einer Mutter. Mit Abbildungen, Kinderzeichnungen und Schriftproben, Leipzig 1931. 29 Scupin und Scupin, Bubis erste Kindheit (Anm. 2), S. 1.

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chend hinzutrat, wandte es plötzlich den Kopf zur Seite, das Gesichtchen hatte dabei einen lauschenden Ausdruck, dann trank es beruhigt weiter.30

Trotz ihrer Ausführlichkeit geben diese hergestellten Selbstaussagen (bisher) also kaum Auskunft über den Kontext der Familie. Sie sind somit auch keine direkte sozialhistorische Quelle zum Thema Geburt oder für damit einhergehende praktische Fragen wie: Wer half bei der Entbindung und im Wochenbett? Wer führte in der Zwischenzeit den Haushalt? Wann war der berufstätige Vater zu Hause etc.? Während jede Regung des Kleinen ausführlich dokumentiert ist, sind die Aspekte im Zusammenhang mit seiner Pflege kaum oder nur indirekt belegt (wie etwa die Ausstattung des Bettchens, die Praxis des Einbindens etc.). Das änderte sich mit der zunehmenden Mobilität des kleinen Ernst Wolfgang. In der Dokumentation seines Aufwachsens wird schließlich auch das soziale Umfeld aufgerollt. Die Leser/innen lernen die Familienmitglieder kennen, die Haustiere, das Dienstmädchen, die Wohnsituation oder die Spielsachen: 15. Monat […] März 1905. Vater war frühzeitig fortgegangen. Auf die Frage: »Wo ist Vapo?« suchte das Kind in Vaters Bette. Als die Mutter laut »Emma« rief, sah es sofort nach der Türe, zu der das Dienstmädchen gewöhnlich ins Zimmer zu kommen pflegte. […] 21. Monat […] 7. Februar 1906 […] Ein Garnknäuel war unters Bett gerollt. Bubi rief: »da, mama bitte ball holn!« Da die Mutter nun mit der Hand den Ball nicht erreichen konnte, langte sie den Knäuel mittels Bubis Peitsche hervor, was den Jungen sichtlich sehr interessierte. Er warf nun absichtlich alle möglichen Gegenstände unters Bett und versuchte, sie mit dem Peitschenstock hervorzubekommen.31

Obwohl die Aufzeichnungen eigentlich zu einem anderen Zweck angefertigt wurden und einen sehr engen Fokus auf den Buben aufweisen, werden sie doch – quasi unbeabsichtigt – zu einem historischen Zeugnis, das erstaunlich detaillierte Informationen über das Alltagsleben einer mittelständischen Familie gibt, die in anderen Tagebüchern wahrscheinlich nur selten so ausführlich zu finden sind. Dabei wird in den episodenhaften Schilderungen auch indirekt deutlich, dass sie wohl hauptsächlich von der Mutter aufgeschrieben worden sind – der Vater war ja »frühzeitig fortgegangen«, vermutlich zur Erwerbsarbeit. Dennoch 30 Ebd. Vereinzelt werden im Folgenden Handlungen auch aktiv beschrieben (»Heute hörten wir plötzlich den im Wagen liegenden Kleinen hell auflachen; wir traten hinzu und folgten der Richtung seines Blickes: es waren im Winde schaukelnde Baumzweige, die seine Heiterkeit so erregt hatten«, S. 7). Zumeist ist der Text aber aus einer Außenperspektive verfasst (»Seit einigen Tagen macht die Mutter mit dem Knaben Sitzübungen; es geht überraschend gut.«, S. 8). 31 Scupin und Scupin, Bubis erste Kindheit (Anm. 2), S. 36; S. 83.

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firmiert er am Buchcover als erstgenannter Co-Autor und es ist im Buch nicht ausgewiesen, wer welche Passagen verfasst hat. Dass damit auf eine möglicherweise noch fragile Position von Gertrud Scupin als wissenschaftspublizierende Frau reagiert wurde, wäre eine mögliche Auslegung davon. Die Absichten ihres Schreibprojekts hat das Paar im Vorwort des Buches hingegen klar dargelegt: [Wir hatten uns] von vornherein den festen Plan gemacht, nur ganz einwandfrei festgestellte Tatsachen in unserem Tagebuch zu verzeichnen. Vorbildlich hierfür war uns der Klassiker der Kinderpsychologie, W. Preyer, dessen Buch […] die wertvollsten Anregungen und die geeignetsten Wege zur Anlage eines Tagebuches gibt. Unser Tagebuch macht nun durchaus keinen Anspruch darauf, irgendwelche Probleme der Kinderpsychologie zu lösen; wir wollen vielmehr mit der Veröffentlichung lediglich den berufenen Forschern einwandfreies Beobachtungsmaterial geben.32

Die Publikation der Scupins setzt sich aus mehreren Teilen zusammen: Der mit »Tagebuch« betitelte Hauptteil enthält auf 200 Seiten die fast täglich verfassten Berichte, datiert und überschrieben mit der jeweiligen Lebenswoche und dem Lebensmonat des Kindes. Dem ist eine Auswertung der Notizen angeschlossen, die sich in die fünf Abschnitte gliedert: »Die Unterscheidung der Farben« (18 Seiten), das »Verzeichnis der bis zum Ende des 3. Lebensjahres gebrauchten Worte« (acht Seiten), eine »[c]hronologische Übersicht« (19 Seiten), ein »Sachregister« (17 Seiten) sowie der Bildteil »Nachbildungen von Zeichnungen« (sieben Seiten), in dem die Entwicklung von »Bubis« Fertigkeiten im Zeichnen anhand eines letztendlich klar identifizierbaren ›Kopffüßlers‹ nachvollzogen werden kann. Gertrud und Ernst Scupin hatten zu ihrer Datensammlung also auch eine Analyse davon vorgelegt. Als »berufene Forscher« titulierten sie sich allerdings nicht. Damit unterschieden sie sich grundlegend von dem zweiten Arbeitspaar, das 1907 ebenfalls in Breslau (Wrocław) lebte und ebenfalls ein Fachbuch zum Thema Kindheit herausgegeben hat. Arbeitspaare und Elterntagebücher: Clara Stern und William Stern Clara und William Stern werden in der Wissensdatenbank Wikipedia als »Begründer[/innen] der entwicklungspsychologischen Tagebuchmethode« bezeich-

32 Ebd., S. III f.

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net.33 Aufgebaut ist dieser Ruhm auf der Publikation Die Kindersprache,34 die als »Meilenstein der Spracherwerbsforschung«35 firmiert. Das Buch basiert auf den Tagebuchaufzeichnungen, die Clara Stern (geb. Joseephy, 1877–1948) über ihre drei 1900, 1902 und 1904 geborenen Kinder Hilde, Günter und Eva angefertigt hat. Ihr Ehemann William Stern (1871–1938) hat diese dann sprachwissenschaftlich ausgewertet. Er zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bekanntesten Psychologen im deutschsprachigen Raum, u. a. wird der noch aktuell verwendete Begriff »Intelligenzquotient« (»IQ«) auf ihn zurückgeführt. Clara Stern und William Stern gingen also nach klar getrennten Arbeitsaufgaben vor, gleichzeitig wurde von William Stern ihre egalitäre Zusammenarbeit immer betont: An der Sammlung und Aufzeichnung des Beobachtungsmaterials von unseren Kindern hat C. STERN, an der Bearbeitung der psychologischen und sprachwissenschaftlichen Literatur W. STERN den größeren Anteil. Die eigentliche Abfassung ist […] Produkt gemeinsamer Arbeit.36

Sichtbar festgehalten wurde die Gleichberechtigung in der Konzeption der Koproduktion durch die jeweilige Erstnennung von Clara Stern als Autorin auf den Titelblättern der zwei gemeinsam veröffentlichten Bücher.37 Nach Überlieferung von Werner Deutsch gab es auch einen räumlichen Ausdruck: »Äußeres Zeichen hierfür ist ein gemeinsames Arbeitszimmer mit einem gemeinsamen Schreibtisch gewesen, das von den 3 Sternkindern, besondere Anlässe abgesehen, nicht betreten werden durfte.«38 33 34 35 36

https://de.wikipedia.org/wiki/Tagebuchmethode (abgerufen am: 16. Februar 2019). Stern und Stern, Die Kindersprache (Anm. 1). Deutsch, »Nicht nur Frau und Mutter« (Anm. 24), S. 173. Stern und Stern, »Vorbemerkung zur Monographie«, in: Die Kindersprache (Anm. 1), o. S. [Hervorhebungen im Original]. 37 Die zweite Studie »Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit. Mit einer farbigen Tafel« erschien 1909. Nach Werner Deutsch waren noch weitere vier gemeinschaftlich verfasste Monografien geplant, zu deren Umsetzung es aber nicht kam. Deutsch, »Nicht nur Frau und Mutter« (Anm. 24), S. 173. 38 Werner Deutsch, »Clara Stern: Als Frau und Mutter für die Wissenschaft leben«, in: Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, hg. von Sibylle Volkmann-Raue und Helmut Lück, Wiesbaden 2011, S. 101–115, hier: S. 113–114. Die Positionierung der Schreibtische beschrieben auch andere Forscher/innen, so etwa die Psychologin Charlotte Bühler (geb. Malachowski, 1893–1974): »Karl [Bühler fand gleich nach unserer Heirat, L.G.] eine sehr hübsche Wohnung in Schwabing, in der unsere zwei grossen Schreibtische im Wohnzimmer nebeneinander standen. Dies symbolisierte von Anfang an Karls Auffassung von unserer Beziehung. Es war, was wir in Amerika eine ›Companionship Marriage‹ nennen.« Charlotte Bühler, [»Selbstdarstellung«], in: Psychologie in Selbstdarstellungen, hg. von Ludwig J. Pongratz, Werner Traxel und Ernst G. Wehner, Bern 1972, S. 9−42, hier: S. 20 f.

»Bekannten Gesichtern wird bis auf 3 Meter Entfernung zugelacht.«

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Diese Inszenierung einer ›gleichwertigen‹ Arbeitsgemeinschaft ist insofern hervorzuheben, als sie es formalhierarchisch nicht war. William Stern hatte zu der Zeit in Breslau (Wrocław) eine universitäre Anstellung als Privatdozent inne und konnte seine Karriere zum außerordentlichen Professor kontinuierlich verfolgen. Er war international bestens vernetzt und maßgeblich an der Institutionalisierung des Fachs Psychologie in Deutschland beteiligt. Später dann auch am Aufbau der Universität Hamburg, wohin die Familie 1916 übersiedelte, als William Stern hier den Lehrstuhl für Psychologie übernahm.39 Clara Stern kam ihrerseits aus einem intellektuellen familiären Umfeld. Sie war die Cousine des Philosophen Walter Benjamin (1892–1940) und der Sozialforscherin Dora Benjamin (1901–1946).40 Selbst hatte sie keine akademische Bildung absolviert, stattdessen widmete sie sich der Datenerhebung für die Studien ihres Ehemannes. Immerhin betrieb sie dieses Projekt schließlich über 18 Jahre hinweg. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Clara Sterns wissenschaftlicher Beitrag nicht nur von William Stern, sondern auch von der Fachwelt anerkannt worden ist. Sie ist als einzige Frau in einer Skulptur dargestellt worden, die 1986 an der Universität Nijmegen in den Niederlanden zu Ehren von als wichtig erachteten Fachvertreter/innen errichtet wurde.41 Sie ist also auch fest in die fachhistorischen Genealogien eingeschrieben. Gleiche Methoden – unterschiedliche Positionen Der nachhaltigen Rezeption der Arbeit des Ehepaares Stern entspricht, dass auch viele Details ihrer Biografien bekannt sind. So ist über Clara Sterns Herkunftsfamilie weiters überliefert, dass diese wohlhabenden Bankiers in Berlin Grunewald waren. William Stern lernte sie während einer Fahrradtour kennen. Ihre Eltern seien wegen der sozialen Unterschiede erst gegen die Heirat gewesen, sie habe sich aber durchgesetzt. Auch die Lebensläufe ihrer Kinder sind gut dokumentiert. Alle drei waren als Erwachsene intellektuell tätig, ihr Sohn Günter Stern wurde dabei unter dem Namen Günter Anders als Philosoph bekannt.

39 Zu den biografischen Angaben der Mitglieder der Familie Stern sowie zur wissenschaftlichen Tätigkeit von William Stern siehe neben den Arbeiten von Deutsch u. a. Rebecca Heinemann, Das Kind als Person. William Stern als Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung 1900 bis 1933, Bad Heilbrunn 2016; James Lamiell, »Clara Stern«, in: Psychology’s Feminist Voices (2016), www.feminist voices.com/clara-stern (abgerufen am: 16. Februar 2019). 40 Vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Familien_Schoenflies_und_Hirschfeld (abgerufen am: 16. Februar 2019). 41 Deutsch, »Nicht nur Frau und Mutter« (Anm. 24), S. 171–173.

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Im Gegensatz dazu liegen zu den Lebensläufen des Ehepaares Scupin kaum Informationen vor. Obwohl ihre Publikationen in der fachhistorischen Forschungsliteratur präsent sind, war darin bislang nichts zu ihren persönlichen Hintergründen zu finden. Durch Hinweise des Pädagogen Siegfried HoppeGraff, der derzeit (2020) die Originalaufzeichnungen der Scupins bearbeitet, können an dieser Stelle erste biografische Angaben publiziert werden.42 Demnach war Gertrud Scupin im Posener Land aufgewachsen und hatte das Lehrerinnenexamen in Breslau (Wroclaw) abgelegt.43 Ob sie den Beruf auch ausgeübt hat, ist bislang offen. Zu Ernst Scupins Lebensdaten können rudimentäre Informationen auch aus den Inhalten der drei veröffentlichten Elterntagebücher erfahren werden, vieles ist aber weiterhin ungewiss.44 Gewiss ist hingegen, dass das Arbeitspaar Scupin sein erstes Buch publiziert hat, ohne darin auf die Forschungen des Arbeitspaares Stern Bezug zu nehmen.45 Die Möglichkeit, dass sie von den Tätigkeiten der jeweils anderen nichts wussten, obwohl beide in derselben Stadt lebten, ist eher unwahrscheinlich. Außerdem hatte William Stern im Fachgebiet inzwischen auch große Bekanntheit erlangt, was einschlägig Interessierten wohl kaum entgangen sein dürfte. Beide Bücher erschienen, wie erwähnt, zeitgleich in Leipzig, dem damaligen Zentrum der Fachdisziplin. Sie erschienen dabei aber bei zwei verschiedenen Verlagen: Die Sterns publizierten bei Johann Ambrosius (zumeist nur J. A.) Barth, die Scupins bei Th. Grieben, der bereits Wilhelm Preyer verlegt hatte. Möglicherweise standen hinter der gegenseitigen Ignoranz im Jahr 1907 auch einfach konkurrierende Publikationsinteressen. Um inhaltliche Konkurrenzen kann es jedenfalls weniger gegangen sein: Während das Buch von Gertrud und Ernst Scupin entwicklungspsychologisch ausgerichtet ist, handelt es sich bei jenem von Clara und William Stern um eine sprachwissenschaftliche Abhandlung. Wilhelm Preyers Arbeit über Die Seele des Kindes, die Scupin und Scupin als ihr Vorbild benannten, hatte klare Ansprüche eines Erziehungsratgebers. Stern und Stern verstanden ihre Publikationen nicht

42 Danke an Siegfried Hoppe-Graff (Leipzig) für diese Informationen per E-Mail am 9. Oktober 2016. 43 Bund der Vertriebenen (Hg.): Bedeutende Frauen aus dem deutschen Osten. Arbeitshilfe Nr. 66, Zusammengestellt und bearbeitet von Hans Dieter Handrack, Dortmund 1997, S. 20 f. 44 Informationen zum Geburtsjahr von Ernst Scupin sind bisher nicht vorhanden. Im Vorwort der dritten Publikation ist angegeben, dass er vom Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg eine Verletzung davontrug, an deren Spätfolgen er 1931 starb. Scupin, Lebensbild eines deutschen Schuljungen (Anm. 28), o. S. 45 Gerold Scholz, Von der Erforschung der eigenen Kinder zur Neuen Kindheitsforschung, Frankfurt a. M. 2000, http://grundschulforschung.de/GSA/Eigene.pdf, S. 1.

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auf eine solche Weise.46 Sie stellten die Entwicklung des kindlichen Sprechvermögens dar, Anweisungen, dieses zu beeinflussen, gaben sie dabei nicht.47 Fachliche Differenzen dürften es also nicht gewesen sein. Die gegenseitige Ausblendung könnte stattdessen als Ergebnis einer hierarchisierten Selbstpositionierung innerhalb des Forschungsbetriebes interpretiert werden. Diese Einschätzung lässt sich auf einen Seitenhieb stützen, den William Stern 1914 formuliert hat: [Es] m ö g e n s i c h z u w i s s e n s c h a f t l i c h e n A r b e i t e n , s e l b s t z u b l o ß e n Materialsammlungen für wissenschaftliche Zwecke, nur solche berufen fühlen, welche die durchaus notwendige psychologische S c h u l u n g b e s i t z e n […]. Nicht auf bloße Quantität, sondern auf einwandfreie zuverlässige Qualität des Materials kommt es der Forschung an.48

Zwar werden keine Namen genannt – es erscheint aber plausibel, dass hier (auch) das Arbeitspaar Scupin gemeint gewesen sein könnte. Vor dem Hintergrund solcher Attacken auf die Lai/innenforschung wird auch das vorne gebrachte Zitat von Gertrud und Ernst Scupin verständlicher, in dem sie sich geschickt auf den Doyen Wilhelm Preyer berufen – sich vorsichtshalber aber auch davon distanzierten, sich selbst als ›berufene Forscher‹ einzustufen. Diese Position stand inzwischen offenbar nur noch jenen Personen zu, die einen universitären Abschluss vorweisen konnten – wie William Stern. Oder Personen, die zumindest mit diesen zusammenarbeiteten – wie Clara Stern. Als möglicher Ausdruck für das forschende Selbstbewusstsein der Sterns könnte weiters gewertet werden, dass sie in ihrer Publikation von 1907 keine Edition der ihr zugrundeliegenden diaristischen Aufzeichnungen bereitstellten. Das Buch enthält ausschließlich deren Auswertung, nebst einer mit dem aktuellen Forschungsstand gespiegelten theoretischen Konzeption zum Thema Spracherwerb. Die Datengrundlage – die im Buch von Gertrud und Ernst Scupin den Hauptteil ausmacht – wurde von Clara und William Stern nicht offengelegt. 46 Nach Einschätzung von Werner Deutsch dürfte Clara Stern – parallel zu den sprachwissenschaftlichen Arbeiten – in die Publikation des Erziehungsratgebers »Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter einer Mutter« (Leipzig 1914) involviert gewesen sein. Deutsch, »Clara Stern« (Anm. 38), S. 108. 47 Die Analysen lauten etwa folgendermaßen: »Sehr bemerkenswert ist in [Hinsicht auf Farbbezeichnungen, L.G.] Hildes halbblau für ›lila‹. Hier ist ihr die eine Beziehung der fremden Farbe aufgegangen, aber sie erkennt doch schon, daß diese Beziehung nur die Hälfte des Eindrucks verwirklicht. dunkelweiß für die Zwischenfarbe ›grau‹ gibt wieder die beiderseitige Beziehung an.« Stern und Stern, Die Kindersprache (Anm. 1), S. 357 [Hervorhebungen im Original]. 48 William Stern, Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, Leipzig 1914, S. 10 [Hervorhebungen im Original].

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Der Ausschluss von wissenschaftlicher Teilhabe war jedenfalls spätestens seit der Zwischenkriegszeit nicht mehr (nur) nach der Kategorie Geschlecht organisiert. Durch die Öffnung der Gymnasien und (meisten) Universitätsstudien für Frauen gewann die Kategorie ›Profession‹ zunehmend an Gewicht.49 Der Platz für Lai/innen – Frauen wie Männer – wurde dabei eng. Clara Stern hat ihr Tagebuchprojekt nach dem Umzug nach Hamburg schließlich aufgegeben. Das wird wohl daran gelegen haben, dass ihre Kinder inzwischen Teenager bzw. junge Erwachsene geworden waren. Andere Gründe können die neue Position des Ehemanns als ordentlicher Professor und die damit einhergehenden Repräsentationspflichten gewesen sein50 – sowie die eben skizzierte Professionalisierungsentwicklung. Arbeitspaare und Elterntagebücher in der Zwischenkriegszeit Entsprechend dieser Veränderungen sind aus der Zwischenkriegszeit weitere forschende Paare bekannt, die ihren Status als Expert/innen in dem zu ihrer Zeit neuen (und weiten) Feld der (Kinder-)Psychologie auf Dokumentationen ihrer eigenen Kinder aufgebaut haben. Das waren etwa Rosa Katz (geb. Heine, 1885– 1976) und David Katz (1884–1953) aus Rostock, die zwischen Oktober 1925 und Oktober 1926 154 »Alltagsgespräche« mit ihren zwei kleinen Söhnen aufzeichneten.51 Die Analyse davon wurde 1928 vorgelegt.52 Mit Rosalie Alberta Rayner (1898–1935) und John B. Watson (1878–1958) kann ein prominentes Beispiel aus den USA genannt werden.53 Und auch von Marie Jahoda (1907– 2001) und Paul F. Lazarsfeld (1901–1976) aus Wien ist überliefert, dass sie ein Elterntagebuch über ihre 1930 geborene Tochter Lotte angefertigt haben sollen.

49 Zur Situation von ›Amateurinnen‹ am Beispiel der Geschichtswissenschaft siehe Sylvia Paletschek, »Die Geschichte der Historikerinnen. Zum Verhältnis von Historiografiegeschichte und Geschlecht«, in: Freiburger Frauenstudien 13/20 (2007), S. 27–49. 50 Deutsch, »Nicht nur Frau und Mutter« (Anm, 24), S. 177–180. 51 Elfriede Billmann-Mahecha, »Rosa Katz: Auf der Suche nach einer kulturpsychologischen Entwicklungspsychologie«, in: Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, 2. überarbeitete Auflage, hg. von Sibylle Volkmann-Raue und Helmut E. Lück, Wiesbaden 2011, S. 129–139. 52 David und Rosa Katz, Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Sozialpsychologie und Pädagogik, Berlin 1928. 53 Corinne Smirle, »Rosalie Rayner«, in: Psychology’s Feminist Voices (2013), www.feminist-voices.com/ rosalie-rayner (abgerufen am: 16. Februar 2019); Carla Duke u. a., »Contributions to the History of Psychology: LIX. Rosalie Rayner Watson: The Mother of a Behaviorist’s Sons«, in: Psychological Reports 65 (1989), S. 163–169.

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Selbst ausgewertet haben sie es nicht, Jahoda soll es stattdessen ihrer Professorin Charlotte Bühler zur Verfügung gestellt haben.54 Bei diesen verschiedenen Projekten können gewisse Ähnlichkeiten festgestellt werden: Alle waren weit weniger umfangreich als das von Clara und William Stern. Bei allen waren auch die beteiligten Frauen bestens ausgebildete Wissenschafterinnen. Sie waren zumeist in besser gestellten sozialen Kontexten aufgewachsen als ihre Partner – diese hatten aber jeweils eine höhere universitäre Position inne. Vielfach hatte ihre Beziehung auch als per se hierarchisches Professor-Studentin-Verhältnis begonnen. Das Spezifische der von Arbeitspaaren betriebenen Elterntagebuchforschung war nun, dass sie dabei Aspekte aus ihrem ›privaten‹ Leben (die Kinder) für ihre professionelle Arbeit nutzbar machten. Damit haben sie ihre Position als Paar in einer gewissen Weise doppelt ausgenützt (als Arbeitspaar und als Elternpaar), und diese auch gleichzeitig doppelt in eine Öffentlichkeit getragen. Insgesamt kamen Psycholog/innen seit den 1930er-Jahren zunehmend von der sogenannten Tagebuchmethode ab. Die methodische Kritik problematisierte genau die eben beschriebene Verschränkung: Die Autor/innen von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern könnten ›voreingenommen‹ sein, da es sich bei den Proband/innen ja zumeist um nahe Familienangehörige handle.55 Später wurden auch ethische Bedenken formuliert, die sich mit den Persönlichkeitsrechten der so detailliert dokumentierten Kinder beschäftigten.56 An die Stelle der Selbstzeugnisforschung traten quantifizierende Verfahren wie Fragebögen oder Experimente, Tagebuchaufzeichnungen galten nur noch zur Illustration brauchbar.57 Neben Konjunkturen in der Methodenwahl hatten in der Zwischenkriegszeit insbesondere die politischen Veränderungen Auswirkungen auf die Themen und Inhalte der psychologischen Forschung im deutschsprachigen Raum: Clara und William Stern, Olga und David Katz, Charlotte und Karl Bühler, Marie Jahoda 54 Kathrin Fromm, »Marie Jahoda«, in: Zeit Campus 6 (2010), Reihe »Studenten von früher«, Teil 25, www.zeit.de/campus/2010/06/ehemalige-jahoda (abgerufen am: 16. Februar 2019). Ob Charlotte und Karl Bühler selbst ebenfalls Aufzeichnungen über ihre zwei Kinder ausgewertet haben, ist nicht belegt. Lotte Schenk-Danzinger, die Assistentin von Charlotte Bühler, hat in ihren Erinnerungen zumindest davon berichtet, dass Bühler ein Tagebuch über ihre erstgeborene Tochter Ingeborg geführt habe. Lotte Schenk-Danzinger, »Erinnerungen an Karl und Charlotte Bühler – Die Bedeutung der Wiener Schule der Psychologie für die Pädagogik«, in: Die österreichische Reformpädagogik 1918–1939, hg. von Erik Adam, Graz 1981, S. 225–235, hier: S. 225. 55 Carol Magai und Susan H. McFadden, The Role of Emotions in Social and Personality Development: History, Theory and Research, New York 1995, S. 89. 56 Dazu u. a. Deutsch, »Clara Stern« (Anm. 38); Billmann-Mahecha, »Rosa Katz« (Anm. 51). 57 Dazu u. a. Till Kössler, »Die Ordnung der Gefühle. Frühe Kinderpsychologie und das Problem kindlicher Emotionen (1880–1930)«, in: Rationalisierungen, hg. von Jensen und Morat, S. 189–210.

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und Paul F. Lazarsfeld wurden seit 1933 von den Nationalsozialist/innen verfolgt. Sie erfuhren einen gewaltsamen Bruch ihrer Laufbahnen, ihrer Erwerbsund Veröffentlichungsmöglichkeiten und den Verlust ihrer bisherigen Lebensmittelpunkte. Im Exil hat niemand von ihnen die in Deutschland und Österreich betriebene Tagebuchforschung weitergeführt. Damit liegt hier schließlich auch ein Beispiel für den nicht mehr reparierbaren Einschnitt in die intellektuelle ›Produktionssphäre‹ vor, den der Nationalsozialismus in Deutschland, Österreich und in weiterer Folge in den besetzten Gebieten verursacht hat. Für die Sozial- und Geschlechtergeschichte sowie für die Auto/Biografieforschung belegen die verschiedenen Projekte der Elterntagebuchforschung jedenfalls eine spezifische Form der Wissen(schafts)-Kulturen ab 1800. Ab etwa 1900 waren hier für eine gewisse Zeit auch Arbeitspaare involviert, von denen einzelne große Bekanntheit damit erlangt haben. Genauso bekannt wurden dabei ihre Kinder, ihr Aufwachsen, ihr Reden, und ihr Lachen – »bis auf 3 Meter Entfernung«.58

58 Scupin und Scupin, Bubis erste Kindheit (Anm. 2), S. 12.

Thilo Neidhöfer

Vom Nutzen und Nachteil der Ehe für das ­Anthropologinnenleben Ehe und Feldforschung bei Margaret Mead

Die Unwahrscheinlichkeit romantischer Liebe Im Jahr 1936 bezeichnete der Anthropologe Ralph Linton in The Study of Man1 das Konzept der romantischen Liebe als eine Erfindung der Troubadoure des 13. Jahrhunderts in Europa, die geglaubt hätten, dass sie für Verheiratete unmöglich erreichbar gewesen sei. Nun gebe es durchaus in allen Gesellschaften gelegentliche »violent emotional attachments«2 zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts, aber wohl einzig die gegenwärtige amerikanische Kultur mache diese Art der romantischen Anziehung zur Grundlage einer Ehe. Ein anthropologischer Blick auf die Kulturen der Welt aber zeige, dass der amerikanische Weg im Grunde ein psychopathologischer Fall sei: Most groups regard them as unfortunate and point out the victims of such attachments as horrible examples. Their rarity in most societies suggests that there are psychological abnormalities to which our own culture has attached an extraordinary value just as other cultures have attached extreme values to other abnormalities. The hero of the modern American movie is always a romantic lover just as the hero of an old Arab epic is always an epileptic. A cynic might suspect that in any ordinary population the percentage of individuals with a capacity for romantic love of the Hollywood type was about as large as that of persons able to throw genuine epileptic fits.3

In Lintons sarkastischem Ton drückte sich seine anthropologische Gewissheit aus: Ausgerechnet den äußerst unwahrscheinlichen Fall romantischer Liebe zum gesellschaftlichen Ideal für das Statut der Ehe zu erheben, sei krankhaft. Im gleichen Jahr, als Lintons pessimistischer Blick auf dieses amerikanische Gesellschaftsideal erschien, heirateten dessen Kollegin und Kollege Margaret Mead

1 2 3

Ralph Linton, The Study of Man, New York 1936. Ebd., S. 175 Ebd., S. 175.

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und Gregory Bateson in Singapur.4 Sie befanden sich auf dem Weg nach Bali, um dort ihre erste gemeinsame Feldforschung zu unternehmen. Begonnen hatte ihre Beziehung drei Jahre zuvor auf Neu Guinea, wo Bateson bei den Iatmul, einem Kopfjägerstamm am Sepik, forschte. Mead war mit ihrem damaligen Ehemann Reo F. Fortune bei einem anderen Stamm, den Mundugumor, ganz in der Nähe. Sie besuchten Bateson in dem Dorf Kankanamun.5 Es entspannte sich eine Dreieckssituation mit intensiven, nächtelangen Gesprächen in einem kleinen Moskitozelt darüber, wie das Verhältnis von »culture« und »personality« sortiert sei, und welche Rolle »sex« und »temperament« (als angeborene Dispositionen) dabei spielten.6 Auch die Passbarkeit ihrer eigenen Anlagen für ihre persönlichen Beziehungen und die Ehe wurden vor dem Hintergrund ihrer anthropologischen Erkenntnisse diskutiert.7 Allmählich verschoben sich die gegenseitigen Sympathien und Bateson und Mead verliebten sich ineinander. Dieser Moment wurde von Mead in ihrer Autobiografie Blackberry Winter romantisch verklärt, und bot in der Folge Anlass für weitere, teilweise gefühlsbetonte Mystifizierungen.8 Die »violent emotional attachments«, die Linton als eine Anomalie auffasste, gingen bei Mead und Bateson einher mit einem »intellectual attachement« – und sie bildeten die Grundlage für ihre Ehe. Autobiografisch hob Mead die emotionale Verbindung auf eine theoretische Ebene und begründete sie anthropologisch. Angesichts der ähnlicheren »temperaments« zwischen ihr und Bateson war es folgerichtig, dass sie ein Paar wurden – die Romantik war rational: 4

Lintons Kulturpessimismus thematisierte Clyde Kluckhohn in einem Nachruf: »[…] his views about the immediate future of Western civilization were tinged with gentle pessimism.« Clyde Kluckhohn, Ralph Linton 1893–1953. A Biographical Memoir, Washington DC 1958, S. 246. 5 An Batesons Lehrer Alfred Radcliffe-Brown schrieb Mead, dass Bateson sie sehr wohlwollend empfangen und sie auf eine Expedition mitgenommen habe. Sie hätten sich aber »on the edge of his culture« befunden. Die ungeschriebene Regel, nicht im Gebiet anderer Anthropologen zu »wildern«, war auch für Mead, Fortune und Bateson selbstverständlich. Vgl. Mead an Radcliffe-Brown, 29. January 1933, Margaret Mead papers and South Pacific Ethnographic Archives, 1838–1996, (im Folgenden: Mead Papers) Box R1/Folder 6. 6 Bateson beschrieb die Situation in einem Brief an seine Mutter: »As anthropologists do, we began talking – and kept it up for 30 hours on end. The result has been a very odd party. Three garrulous anthropologists talking shop as hard as they could go, in the midst of tipsy New Guinea whites.« Bateson an Caroline Beatrice Bateson, 30. December 1932, zit. nach: David Lipset, Gregory Bateson. The Legacy of a Scientist, Englewood Cliffs 1980, S. 135. 7 Vgl. Margaret Mead, Blackberry Winter. My Earlier Years, New York u. a. 1995 [urspr. 1972], S. 219. 8 Vgl. ebd., S. 208–222; Jane Howard, Margaret Mead. A Life, London 1984, S. 154–166; Der Dokumentarfilm »Margaret Mead: An Observer Observed« stilisierte die Begegnung von Mead und Bateson nicht nur zu einem bedeutenden Ereignis für das Paar, sondern für die Anthropologie insgesamt. Vgl. Margaret Mead: An Observer Observed, USA 1996, Regie: Alan Berliner, 86 Min. Die biografischen Schilderungen Jane Howards über die Dreieckssituation inspirierten wiederum Lily King zu einem Roman, vgl. Lily King, Euphoria, New York 2014.

Vom Nutzen und Nachteil der Ehe für das Anthropologinnenleben

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As we discussed the problems, cooped together in the tiny eight-foot-by-eight-foot mosquito room, we moved back and forth between analyzing ourselves and each other, as individuals, and the cultures that we knew and were studying, as anthropologists must. Working on the assumption that there were different clusters of inborn traits, each characteristic of a particular temperamental type, it became clear that Gregory and I were close together in temperament – represented, in fact, a male and a female version of a temperamental type that was in strong contrast with the one represented by Reo.9

Der anthropologische Blick auf die Formen von Ehe konnte nicht nur nach Lehrbuch (Linton) bzw. Autobiografie (Mead) variieren, sondern auch nach der Frage, wie eine Ehe eigentlich angelegt sein sollte. Linton sah das Ideal einer Ehe in einer lebenslangen, heterosexuell-monogamen Verbindung zweier Menschen, die erst durch den Tod unterbrochen wird. Der Schlüssel zu einem solchen Eheglück sei in den meisten Gesellschaften nicht romantische Liebe, sondern »congeniality«.10 Mit dieser Art von interpersonalem Bindemittel allein gab sich Mead persönlich nicht zufrieden. Sie war drei Mal hintereinander mit Anthropologen verheiratet und entwarf ihre Ehen jeweils unterschiedlich. Während sie in ihrer ersten Ehe (1923–1928) mit dem Amerikaner Luther Sheeleigh Cressman zunächst noch ein Leben als Pastorenehefrau imaginierte (Cressman war vor seinem Anthropologiestudium bereits ordinierter Pastor) und ihre Feldforschung alleine betrieb, änderte sich dies in ihrer zweiten Ehe (1928–1936) mit dem Neuseeländer Reo Franklin Fortune, die als Forscherehe konzipiert war. Diese Verbindung war aber konflikthaft und von Rivalität geprägt. Erst mit ihrer dritten Ehe (1936–1950) mit dem Engländer Gregory Bateson schien Mead das Ideal einer AnthropologInnen-Ehe erreicht zu haben. Frei von Konkurrenzdenken, ohne Spannungen und mit perfekter Kollaboration im Feld erlebte sie »the perfect intellectual and emotional partnership«11 – so Mead in ihrer Selbstdeutung. Wenngleich diese Ehe am längsten der drei bestand, sie zerbrach schließlich. 1947 trennte sich das Paar. Diesen Bruch thematisierte Mead aber nicht explizit in ihrer Autobiografie, vielmehr kaschierte sie ihn. Und ein Blick in die privaten Korrespondenzen verrät, dass sich die Beziehung mit Bateson als viel krisenhafter darstellte, als Mead ihr Publikum autobiografisch informierte.12 Dennoch idealisierte Mead diese Partnerschaft. Das hatte auch mit ihrem Verständnis von an­ thro­pologischer Zusammenarbeit zu tun. In einem Entwurf ihrer Autobiografie 9 Mead, Blackberry Winter (Anm. 7), S. 216. 10 Vgl. Linton, The Study of Man (Anm. 1), S. 176. 11 Mead, Blackberry Winter (Anm. 7), S. 224. 12 Vgl. Margaret M. Caffrey und Patricia A. Francis (Hg.): To Cherish the Life of the World. Selected Letters of Margaret Mead, New York 2006, S. 114 f.

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notierte sie: »Until 1950, I had never collaborated with anyone except Gregory.«13 Mit Fortune habe sie sich im Feld zwar intellektuell ausgetauscht, aber ihre Arbeit war dennoch getrennt. Sie schrieben ihre Bücher alleine und die Themen wurden klar aufgeteilt. Die Romantik wurde von Rivalität überschattet.14 Mit Bateson hingegen habe es eine romantische wie harmonische Beziehung gegeben, intensive ethnografische Feldforschung und gemeinsame Publikationen. Mead hatte bestimmte ideale Vorstellungen von Ehe, die mit ihrer Lebenspraxis nur teilweise korrespondierten. Ihre eigene Erfahrung wiederum informierte ihr Schreiben über Ehe. Relativ spät in ihrem Leben formulierte sie auch, wie eine AnthropologInnen-Ehe konzipiert sein sollte. Diese Überlegungen bezogen sich auf die ethnografische Praxis, also die Feldforschung. Zwei Publikationen aus dem Jahr 1970 thematisieren das Verhältnis von Feldforschung, Paarbeziehung und Gender sehr unterschiedlich: Ihr Beitrag für den Band A Handbook of Method in Cultural Anthropology richtete sich (explizit) an ein Publikum männlichen Geschlechts und außer Mead gab es keine weitere Frau als Einzelbeiträgerin (zwei Frauen verfassten Beiträge als Koautorinnen). Der Band Women in the Field15 hingegen sammelte Erfahrungsberichte professioneller An­ thro­pologinnen und richtete sich an Frauen. So unterschiedlich Mead die jeweiligen Formate bediente (Handbuch bzw. Erfahrungsberichte) und entsprechendes Publikum adressierte (geschlechtsspezifisch), ist es aufschlussreich, diese Beiträge in ihrer Mischung aus pädagogischem Impetus und persönlicher Erfahrung (auch) autobiografisch zu lesen, um diese Wechselbeziehung zu erhellen und zu erörtern, wie Mead eine AnthropologInnen-Ehe konzipiert wissen wollte. Schließlich wird ein Blick auf ihre Auffassung zu der Anlage »moderner« Ehen diese Überlegungen ergänzen. Gefahren/Potenziale der Ehe für Anthropologen: »The Art and Technology of Field Work« Für den Methodenband verfasste Mead den Aufsatz »The Art and Technology of Field Work«16, in dem sie Ratschläge für angehende Anthropologen notierte. Unter der Überschrift »Personal Relations« widmete sie einen Abschnitt Über13 Vgl. »Autobiography«, Mead Papers (Anm. 5), S9/6. 14 Vgl. Lise M. Dobrin und Ira Bashkow, »›Arapesh Warfare‹: Reo Fortune’s Veiled Critique of Margaret Mead’s Sex and Temperament«, in: American Anthropologist 112/3 (2010), S. 370–383. 15 Vgl. Peggy Golde (Hg.): Women in the Field. Anthropological Experiences, Berkeley, Los Angeles und London 1970. 16 Margaret Mead, »The Art and Technology of Field Work«, in: A Handbook of Method in Cultural Anthropology, Garden City, hg. von Raoul Naroll und Ronald Cohen, New York 1970, S. 246–265.

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legungen zu dem Verhältnis von Ehe und Feldforschung. Zunächst, so Mead, solle man sich grundsätzlich vor der Feldforschung überlegen, ob man alleine oder mit einer arbeitenden bzw. nicht arbeitenden Frau, mit bzw. ohne Kinder ins Feld gehe. Dann könne man überlegen, wie diese Ehe in Hinblick auf die Feldforschungspläne konzipiert sein solle. So biete es sich unter gewissen Umständen an, eine geplante Ehe zu verschieben, falls die Frau nicht an Feldforschung interessiert sei oder man könne selbige beschleunigen, falls ein Kind erwartet werde. Auch habe es gewisse Vorteile, als Mann alleine ins Feld zu gehen, wie etwa ein leichterer Zugang zum Dorf, die einfachere Versorgung mit Essen oder der Umstand, dass ein einzelner Feldforscher schon allein aus Einsamkeit mehr Zeit mit den Dorfbewohnern verbringen werde.17 Aber es gebe eben auch einen entscheidenden Nachteil alleine zu forschen: »[…] the necessary requirement of maintaining a certain distance from every member of the village, a requirement that is crucial to the quality of the work […]«18 falle dem isolierten Feldforscher sehr viel schwerer. Auch könne die fehlende zwischenmenschliche Zuneigung und ausbleibender intellektueller Austausch belastend sein.19 Besser sei es, eine Ehefrau mit ins Feld zu nehmen, die im Idealfall gleich gut ausgebildet sei, aber über ergänzende Fähigkeiten und Interessen verfüge. Das intellektuelle Potenzial dieser Ehen für die Ergebnisse ethnografischer Forschung bewertete Mead als sehr hoch: »When such partnerships are successful, the adequacy of the material is multiplied not by the factor of two but something more like a factor of five.«20 Man könne sich gegenseitig ergänzen, methodisch wie auch insgesamt. Aber diese Beziehungen bergen in Meads Augen auch ein Gefahrenpotenzial: »Such partnerships are, however, emotionally expensive, make enormous demands upon each partner, and often use up relationships that might have lasted far longer under less exacting conditions.«21 Wo Mead die empirische Grundlage für diese Behauptung hernahm, wird nicht erklärt, aber es scheint plausibel, dass diese – wie auch weitere – Passagen autobiografisch motiviert sind. In diesem Abschnitt klang durch, was Mead selbst erlebt hatte. Die Intensität der Beziehung zu Bateson war in ihrer Wahrnehmung im Feld am größten. Den zweiten Teil von Blackberry Winter beendete sie mit einem Satz zu eben dieser Erfahrung: »I think it is a good thing to have had such a model, once, of what anthropological field work can be like, even if the model includes the kind of extra intensity in which a lifetime is condensed into a few short years.«22 17 Vgl. ebd., S. 252 f. 18 Ebd., S. 253. 19 Vgl. ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Mead, Blackberry Winter (Anm. 7), S. 240.

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Meads Verallgemeinerung, dass solche Beziehungen »oft« verheizt werden und unter weniger anspruchsvollen Bedingungen länger hielten, scheinen ebenso rein autobiografisch. Ihr Verweis auf die Intensität partnerschaftlicher ethnografischer Feldforschung als vermeintlichen Grund für die Belastung der Paarbeziehung deuten auf sie selbst und Bateson hin. Dazu passen auch ihre Ausführungen über Kinder. Es sei zu vermeiden, Kinder mit ins Feld zu nehmen bzw. dort zu gebären, die meisten Fieldtrips mit Kindern seien einfach zu ineffizient aufgrund ständiger Sorgen, etwa um deren gesundheitliche Versorgung. Aber ein weiterer – ein kultureller – Aspekt wiege noch viel schwerer: The more we know about the effect of early experience in forming the children’s minds and character, the less desirable it seems to expose a child to the massive, and very slightly correctable impact of a culture alien enough to repay anthropologically his parents’ sacrifice in living there.23

Mead spielte hier auf ihre ethnopathologischen Annahmen über die balinesische Kultur an, die sie und Bateson u. a. als schizoid verstanden.24 Unter keinen Umständen hätte sie ihr eigenes Kind dieser aussetzen wollen.25 Mead wurde 1926 mitgeteilt, keine Kinder bekommen zu können.26 In ihrer Ehe mit Bateson habe es aber wieder Hoffnung diesbezüglich gegeben, aber sie hatte während ihrer gemeinsamen Zeit auf Bali »several early miscarriages«27. Als Mead erfuhr, dass sie schwanger war, hielt sie sich schon wieder in den USA auf. Dennoch gab sie an späterer Stelle ihrer Autobiografie an, dass sie und Bateson es vom Geschlecht ihres Kindes abhängig machen wollten, wo sie sich niederlassen würden: »[…] if the baby were a boy, we would make our home in England, because the English did a better job of bringing up a boy; but if it were a girl, we would live in the United States, where girls are better off.«28 Sie ließ aber nicht erkennen, wann diese Entscheidung gefallen sein soll, und Batesons akademische Berufsaussichten spielten in ihren Überlegungen, wo sie gemeinsam leben wollten, immer wieder eine zentrale Rolle.29 In Bateson sah Mead eine intellektuelle Instanz und war bereit, ihre Karriere und Leben an seine 23 Mead, The Art and Technology of Field Work (Anm. 16), S. 254. 24 Vgl. Gregory Bateson und Margaret Mead, Balinese Character. A Photographic Analysis, New York 1942, S. 47 f. 25 Hingegen hätte sich Mead durchaus vorstellen können, ihr Kind am Sepik in Neu Guinea zu gebären. Vgl. Howard, Margaret Mead. A Life (Anm. 8), S. 216. 26 Vgl. Mead, Blackberry Winter (Anm. 7), S. 244. 27 Ebd., S. 246. 28 Ebd., S. 257. Die erkennbaren Widersprüche in ihrer Autobiographie werden in diesem Text nicht nivelliert, sondern als Teil ihrer Selbstinszenierungsstrategie verstanden. 29 Vgl. Mead an John Dollard, July 26, 1936, Mead Papers (Anm. 5) N5/4.

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berufliche Position anzupassen.30 Dennoch betonte Mead in ihrer Autobiografie, dass sie sich nach der Feldforschung mit Bateson als unabhängig empfand. Sie habe über ausreichend Reputation für einige Jahre und ethnografisches Material für ein ganzes Leben verfügt. Ein professioneller Status indes habe ihr nie irgendetwas bedeutet. Und für den Fall, dass Bateson in Cambridge einen Posten bekommen hätte, wären jegliche »feminine aspirations« dort ohnehin bedeutungslos.31 Gefahren/Potenziale der Ehe für Anthropologinnen: »Women in the Field« Feminität spielte wiederum im Feld eine wichtige Rolle. Zwischen Mead und ihrer Freundin und Kollegin Jane Belo gab es eine besondere Beziehung. Belo brachte Mead auf die Idee, auf Bali zu forschen. Als sie dort aber zusammentrafen und Belo Teil des Forschungsteams von Mead und Bateson wurde, etablierte sich eine Art Lehrerin-Schülerin-Verhältnis zwischen den beiden Frauen. Mead leitete Belo an, wie sie ethnografisch zu arbeiten hatte, korrigierte sie fortlaufend und es entstanden Spannungen.32 Diese hatten auch mit Bateson zu tun, der sich in Belo verliebte. In einem Brief adressierte Belo diesen Konflikt und kam auf Meads vermeintlichen Neid auf ihre Weiblichkeit. Mead würde aggressiv reagieren, wenn sie Belo etwa in neuen Kleidern sehe und sich ihr gegenüber besonders dominant verhalten, insbesondere wenn Bateson auch zugegen sei.33 Mead antwortete Belo, sie umgebe sich einfach gerne mit schönen Frauen und sie möge Belo dann besonders gerne, wenn sie schön aussehe und entsprechend zurecht gemacht sei. Aggressiv reagiere sie, wenn es um Kritik an ihrer (Belos) Arbeit gehe, weil sie sich dann nicht zurückhalte. Und Bateson, so Mead, erfreue sich ebenso an schönen Frauen. Sie habe sich eher darum gesorgt, dass Belo sich verantwortlich fühle aufgrund von Batesons Verhalten: »[…] just because Gregory gave you the kind of response that any normal man with eyes would.«34 Mead antwortete Belo ausführlich und vor allem erklärend. Und damit schien sie alle Konfliktpunkte zu entkräften. Die Spannungen während ihrer gemeinsamen Zeit auf Bali aber bestanden fort.

30 Vgl. Mead an Helen Lynd, February 6, 1937, Mead Papers (Anm. 5) N5/5. 31 Vgl. Mead, Blackberry Winter (Anm. 7), S. 252. 32 In Meads Nachlass findet sich ein eigener Ordner mit »Plans, notes, and comments on work of Jane Belo«, vgl. Mead Papers (Anm. 5) N12/8. 33 Vgl. Jane Belo an Mead, undatiert [1939], Mead Papers (Anm. 5) R7/12. 34 Mead an Jane Belo, February 2, 1939, Mead Papers (Anm. 5)R7/12.

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Vor diesem Hintergrund liest sich Meads Aufsatz für den Band Women in the Field, den sie schlicht »Field Work in the Pacific Islands, 1925–1967«35 betitelte, in einem etwas anderen Licht. Mead wurde hier, im Gegensatz zu ihrem Beitrag für das Anthropologiehandbuch, direkter autobiografisch. Zum einen fügte sie längere Auszüge aus Briefen, die sie während ihrer unterschiedlichen Feldforschungsaufenthalte schrieb, in den Text ein. Zum anderen finden sich auch in den anderen Passagen diese Bezüge, weil Mead selten in abstrakter, verallgemeinernder Form schrieb, sondern auf ihre eigene Feldforschung Bezug nahm. Gegen Ende des Artikels stellte sie Überlegungen zu der Rolle von Geschlecht, Alter und Aussehen der Feldforscherin an. Tatsächliche Schönheit, so Mead, sei weniger bedeutend als die Einstellung, welche eine Frau gegenüber ihrem Aussehen habe. Und je nach Körpergröße und äußerer Erscheinung böten sich unterschiedliche Vorteile im Feld an, die man erkennen müsse. Hier nimmt Mead eine zweifache Typisierung von Feldforscherinnen vor, wobei sie sich selbst in beiden der genannten wiederfinden dürfte: Women field workers may be divided into those with deeply feminine interests and abilities, who in the field will be interested in the affairs of women, and those who are, on the whole, identified with the main theoretical stream of anthropology in styles that have been set by men. Women with feminine interests and especially an interest in children are also likely to marry and so are less likely to go into the field except when accompanying their husbands.36

Daher, so Mead weiter, habe man in der Praxis einerseits Frauen, die sich eher den »femininen« Angelegenheiten widmen, mit ihren Ehemännern arbeiten und wenn eher vorrübergehend Feldforschung betreiben würden. Andererseits habe man Frauen, die eher maskulin orientiert und unabhängig seien, die von Babys generell gelangweilt seien, alleine arbeiten und männliche Informanten im Feld nutzen würden.37 Auch hier machte Mead nicht kenntlich, worauf sie ihre Verallgemeinerungen stützte, aber dass sie das Aussehen von Feldforscherinnen sowie vermeintlich feminine bzw. maskuline Interessen thematisierte, ging auf ihre eigene Erfahrung im Feld zurück. Der Beitrag hat freilich eine pädagogische Komponente, Mead schrieb für (angehende) Anthropologinnen. Dennoch fällt ihr Blick auf Feldforscherinnen zunächst seltsam grob aus. Generell sei Feldforschung für Frauen einsamer als für Männer, sie seien verwundbarer im Feld, eher von schlechten Nachrichten (Krankheit, Tod) und den unterbrochenen Bezie35 Vgl. Margaret Mead: »Field Work in the Pacific Islands, 1925–1967«, in: Women in the Field. Anthropological Experiences, hg. von Peggy Golde (Anm. 15), S. 293–331. 36 Ebd., S. 323. 37 Vgl. ebd.

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hungen zu Hause betroffen, was wiederum dazu führe, dass sie im Feld eher verwahrlosen, krank und depressiv werden oder die Feldforschung vorzeitig abbrechen würden. Hinzu käme noch der Druck durch Professoren, die möglicherweise ohnehin bezweifelten, ob Frauen jemals echte Anthropologinnen werden könnten, oder die sich betrogen fühlten, wenn eine angehende Anthropologin es wage, zu heiraten oder ein Kind zu bekommen. Insgesamt würden Alter, sexuelle Erfahrung, Familienstand, erwartete Mutterschaft sowie bio-soziologische Faktoren für Frauen eine bedeutendere Rolle spielen.38 So düster Meads Blick auf die ›einsame‹ Feldforscherin ausfällt, umso euphorischer klingt ihr Plädoyer für eine partnerschaftliche Feldforschung. Mit der richtigen Kombination steigere sich das Erkenntnispotenzial erheblich. So stellte sie mit fast den gleichen Worten wie in ihrem anderen Aufsatz fest: Ein passendes Team, insbesondere wenn es unterschiedlichen Geschlechts sei, »will be able to do, not twice, but four or five times as much work as one person working alone.«39 Während sie in ihrem Beitrag für das Handbuch auf das Gefahrenpotenzial einer AnthropologInnen-Ehe hinwies, welches sie in der Intensität einer Paarbeziehung im Feld und den negativen Auswirkungen auf selbige sah, verlagerte sie ihre Kritik für den Beitrag in Women in the Field auf die Geschlechterrollen und besonders auf die benachteiligte Rolle von Frauen in einer Forscherehe – und damit auch auf eine Kritik an Männern: It would take more than the fingers of both hands to count the cases where the price of continued marriage has been the consent of the wife trained in anthropology to complete intellectual obliteration, selfless typing, proof-reading, the making of bibliographies.40

Mead betonte, sie wolle hier keine Pauschalverurteilung von Anthropologen als Ehemänner vornehmen, aber es sei auch nicht zu ignorieren, dass Ehen zwischen Anthropologen eben besonders anfällig für jene Launen sozial kultivierter Einstellungen von Männern seien, welche die von ihnen unabhängigen intellektuellen Betätigungen ihrer Ehefrauen nicht ertragen könnten.41 AnthropologInnen-Ehen, in denen Frauen eigene intellektuelle Ambitionen verfolgten, seien sowohl besonders gefährlich als auch besonders bereichernd. Die schlimmsten Fälle seien jene, in denen die Partnerschaft mit hohen romantischen Hoffnungen begann und dann in einem Desaster enden, bei dem der Ehemann dann mit einer anderen Partnerin weiterarbeite, sich die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit aus der vorangegangenen Partnerschaft aneigne, ohne 38 Vgl. Mead, Field Work in the Pacific Islands (Anm. 35), S. 323 ff. 39 Ebd., S. 326. 40 Ebd. 41 Vgl. ebd.

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diese aber entsprechend zu würdigen. Mead betonte, sie spreche hier explizit nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus der von vielen anderen Feldforscherinnen. Wahrscheinlich berge keine andere »endogame« Ehe so viele Gefahren wie eine AnthropologInnen-Ehe. Gerade durch eine besonders enge Zusammenarbeit im Feld ließen sich hinterher unmöglich die einzelnen Beiträge der jeweiligen Partner auseinanderrechnen: »And it may also be added the kind of marital accord that sustains a lifetime of shared field work may be of so involved a quality that one member of a team who worked so perfectly in step cannot survive the death of the other.«42 Auch diese Passage liest sich wie eine Selbstbeschreibung, insbesondere wenn man Meads eigene Definition von »lifetime«43 in Blackberry Winter zugrunde legt, wonach sich eine solche in einigen wenigen Jahren verdichten könne – wie mit Bateson. Und auch ihre Enttäuschung über den Beziehungsabbruch klingt durch. Sie bereute, dass die gemeinsame und von ihr als enorm ertragreich bewertete Feldforschung und anschließende gemeinsame Arbeit mit dem Material nicht weiter mit Bateson fortgesetzt werden konnte.44 Dazu passt das unmögliche, bildhafte ›Überleben‹ des Partners. Mit Bateson verband Mead enorme Hoffnungen, die existenziell in einem weiten Sinne klangen – für sie selbst wie für die Anthropologie. Nach dem Ende ihrer Feldforschung 1939 schien sich ihre Ehe in einem krisenhaften Moment zu befinden: I realise45 so keenly that all my hopes for the future of anthropology are bound up with you, that without you I see no one who can lead it; no one! I think Brown has shot his bow, I know Boas has, Ruth is no leader, and God knows I’m not. It’s not just because I Love you; I can imagine going on with anthropology with you in the world even if you didn’t love me anymore, but were there to criticize and lead. Everytime [sic] I open my mouth in a discussion, I want to turn and ask you: »Is that formulated right?« »How would you say it?« I’ve realized my dream so entirely of having someone whom I can wholehearted[ly] follow. No single human being deserves the luck that I have had, to combine lover, husband and father of my baby, with the most exciting mind, the most perfect cooperation in work, and the kind of intellectual leadership in my own field that I crave. Perhaps it needed a war, sent by the Gods to right such an outrageous balance, in my favour.46

Bateson ging 1939 nach England, in der Hoffnung seine anthropologische Expertise für die Verteidigung seines Heimatlandes gegen die Nazis anbringen zu 42 43 44 45 46

Ebd., S. 327. Vgl. Mead, Blackberry Winter (Anm. 7), S. 240. Vgl. »Autobiography«, Mead Papers (Anm. 5) S9/6. Mead beginnt britisch, danach verwendete sie die amerikanische Schreibweise. Mead and Bateson, September 16, 1939, zit nach: Margaret M. Caffrey and Patricia A. Francis (Hg.), To Cherish the Life of the World (Anm. 12), S. 112 f.

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können.47 Mead ließ er offenbar im Unklaren darüber, ob und wann er wieder zurückkommen würde.48 In Cambridge knüpfte er Kontakte zu anderen Intellektuellen mit ähnlichen Absichten.49 Er blieb erfolglos und sein früherer Psychologieprofessor Frederic Charles Bartlett riet ihm, wieder in die USA zurückzugehen und mit Mead zusammen an dem Bali-Material zu arbeiten. Bateson telegrafierte seiner Frau am 7. Dezember 1939, dass er beantragt habe, wieder nach New York kommen zu können. Am darauffolgenden Tag erfuhr er von Mead, dass ihre gemeinsame Tochter geboren wurde.50 Über die Dynamiken anthropologischer Paarbeziehungen reflektierte Mead auch in Hinblick auf die Kultur, in welcher gemeinsame Feldforschung betrieben wurde. Diese könne schlimmstenfalls eine Ehe durchaus aus dem Gleichgewicht bringen, wenn sie durch den ständigen und engen Kontakt Unterschiede in den »temperaments« der jeweiligen Partner zu stark hervorbringe.51 So wie jedes Kind durch sein Geschlecht und seine Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede hinsichtlich seines »temperaments« zu jeweils einem der Elternteile eine Ehe verkompliziere, sei auch das ganze Dorf zu verstehen, das ethnografiert werde. Wenn es intensiv beobachtet und Beziehungen zu den Bewohnern etabliert werden, könne das Dorf die latenten Antagonismen in der Paarbeziehung verstärken. Das treffe zu einem gewissen Grad auf jede AnthropologInnen-Ehe zu, hebe sich aber insbesondere in solcher Feldforschung hervor, die sich mit »personality and culture« befasse, wie Meads eigene. An dieser Stelle wurde sie durch einen direkten Verweis auf ihre eigene Feldforschung explizit autobiografisch. Gerade solche Feldforschung, die sich mit klinischer Arbeit in Psychologie oder Psychiatrie befasse, beanspruche den Anthropologen als ganze Person. Aber im Gegensatz zu einem Psychologen könne der Anthropologe im Feld sich nicht wieder zurückziehen, sondern sei rund um die Uhr gefordert, im Feld und auch außerhalb. Das intensiviere alle zwischenmenschlichen Beziehungen.52 So grob 47 Als sich zuvor abzeichnete, dass die Professur in Cambridge nicht mehr infrage kam, versuchte Bateson sich und Mead bei Radcliffe-Brown, der nach seiner Rückkehr aus Chicago 1937 in Oxford lehrte, unterzubringen. In Erwartung eines Babys gebe es eine Dringlichkeit in Hinblick auf die Zukunftsplanung, so Bateson. Sie hätten sich bereits nach Möglichkeiten in Oxford umgehört, »turning our eyes that way in hope that we might find employment under your wing«. Bateson an Alfred Radcliffe-Brown, June 4, 1939, Mead Papers (Anm. 5) O2/2. Er könnte sich eine Stelle mit minimaler Lehrverpflichtung vorstellen, weil sie das Bali- und Iatmul-Material für mindestens vier bis sechs Jahre beschäftigen werde. Vgl. ebd. 48 Vgl. Mead an Ruth Benedict, December 1, 1939, Mead Papers (Anm. 5) B1/7. 49 Vgl. Peter Mandler, Return from the Natives. How Margaret Mead Won the Second World War and Lost the Cold War, New Haven und London 2013, S. 46 ff. 50 Vgl. Howard, Margaret Mead. A Life (Anm. 8), S. 216. 51 Vgl. Mead, Field Work in the Pacific Islands (Anm. 35), S. 327. 52 Vgl. ebd., S. 328.

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Mead zu Beginn das Bild von Frauen im Feld zeichnete, umso detaillierter erscheint es am Ende des Beitrages – auch weil er autobiografischer wurde. Sie empfahl schließlich ihr eigenes Leben im Feld auf Bali als exemplarisches Modell für eine anthropologische Feldforscherin. Die besondere Intensität einer Feldforschung als Ehepaar, wie Mead sie mit Bateson erlebt habe, in der eine ganze Lebenszeit zu wenigen Jahren ›kondensierte‹, sei auch für andere Frauen erreichbar: For those women who enjoy intense involvement at every level, all the time, night and day, anthropological field work as a member of a team whose members one loves is undoubtedly one of the best ways of cheating time and compounding delight and of living several lives in the course of one lifetime. Each culture so lived is a separate whole life.53

Gefahren/Potentiale moderner Ehen: Empfehlungen einer Anthropologin Mit unterschiedlicher Gewichtung hinsichtlich des Geschlechts und insbesondere der Rolle der Frau plädierte Mead in den Artikeln für eine gemeinsame Feldforschung als AnthropologInnen-Ehepaar. Dies ging auf ihre eigene Erfahrung zurück. Die in beiden Beiträgen postulierte Vervier- bzw. Verfünffachung der Qualität bzw. Quantität der Forschungsergebnisse als Ehepaar, bezieht sich auf ihre Zeit mit Bateson. Diese schien für Mead das Idealmodell partnerschaftlicher Feldforschung darzustellen, nicht nur retrospektiv, wie die Korrespondenzen aus dem Feld nahelegen. Allerdings gibt es in ihren autobiografischen Deutungen Wider­sprüche in Bezug auf die ursprüngliche Anlage dieser Beziehung. In einem Entwurf ihrer Autobiografie notierte Mead, dass sie sich der wahrscheinlichen Endlichkeit auch dieser Ehe von Anfang an bewusst war: As we had flown from Java to Singapore to be married, in 1936, Gregory had said if it lasts a year it will be worth it. More realistically than many women who had been married before, I knew that any marriage could end – that we had now to think of marriage as terminable.54

In einem Beitrag für The Nation 1953 erkannte Mead das Gefahrenpotenzial einer amerikanischen Durchschnittsehe in dem Verhältnis von gesellschaftlichem Wandel und Erwartungen an die Ehe. Seit dem Zweiten Weltkrieg habe sich eine neue Form der Ehe entwickelt, die von größerer Offenheit, Klarheit 53 Ebd., S. 329. 54 »Autobiography«, Mead Papers (Anm. 5), S9/6.

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und gemeinsamem Austausch geprägt sei.55 Die grundlegende Gefahr für den Erfolg einer solchen Ehe liege im »timing«. Frauen, die mit 21 heirateten, könnten, selbst wenn sie vier Kinder bekämen, damit rechnen, dass diese »well off their hands« seien, wenn sie selbst 40 Jahre alt seien. Und sie dürften erwarten, mit etwa 50 Großmutter zu werden. Und dann kämen aber noch 25 Jahre, die wie eine dunkle Wolke über den Müttern hingen, weil sie sähen, wie ihre Kinder neue Freiheiten genießen würden. Schließlich säßen sich zum ersten Mal zwei Eheleute, deren Paarbeziehung bisher auf die Kindererziehung ausgerichtet gewesen sei, alleine am Esstisch gegenüber: Here the lack of complexity in their relationship, the lack of erotic sophistication in the male, who has substituted the demand that his wife show ‘normal sex feeling’ for any demand on himself for elaboration of love-making manners, begin to show. The male technique which depends on zest and urgency rather than upon sophistication and attentiveness is likely to flag altogether, or to cause him to turn to younger women who show him, as a minor, the lost spring-like vigor of youth. Women who have learned to combine sex and motherhood with an ego-driven search for success are restless and disconnected, feel unwanted and rudderless.56

Daher liege die Herausforderung einer modernen Ehe im letzten Lebensdrittel, und damit auch in der Gestaltung einer Kameradschaft. Die Möglichkeit, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, so Mead, liege in der historischen amerikanischen Antwort überhaupt: »change«.57 Das bedeutete: ein neuer Job für den Ehemann, eine neue »community« für die Ehefrau, neue Freunde usw. Hier schien Mead in ihrem Rat für die amerikanische Familie wieder näher an Ralph Lintons Plädoyer einer »congeniality« als Bindemittel einer Ehe zu sein, zumindest, wenn es um das letzte Lebensdrittel ging. Aber auch die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von romantischer Liebe und Ehe in den USA beantwortete sie Mitte der 1960er Jahre ähnlich wie Linton 30 Jahre zuvor, nämlich mit dem Hinweis auf ihre Unwahrscheinlichkeit sowie psychopathologische Zustände der Liebenden: Im November 1965 erreichte Mead via Redbook, dem Frauenmagazin für das sie seit 1962 eine monatliche Kolumne schrieb, eine Leserinnenfrage.58 Der Psychologe Ernest van den Haag, so die Leserbriefschreiberin, hätte behauptet, dass »marriage and romantic love don’t mix«, es würde unausweichlich unglücklich enden. Ob sie, Mead, glaube, das sei wahr. Roman55 Vgl. Margaret Mead, »Modern Marriage. The Danger Point«, in: The Nation (31. Oktober 1953), S. 348–350, hier: S. 349. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 350. 58 Vgl. Margaret Mead, in: Margaret Mead. Some Personal Views, hg. von Rhoda Metraux, New York 1979, S. 20 ff. Es sind keine Namen zu den Fragen der Leserinnen verzeichnet.

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tische Liebe in ihrer reinsten Form, so antwortete Mead, werde äußerst selten erfahren. Wäre das nicht so, könnten die Gesellschaften so gar nicht funktionieren. Im Grunde sei eine Person, die in extremer romantischer Liebe versunken sei von der geliebten Person besessen, verzweifelt unglücklich in ihrer oder seiner Abwesenheit und gleichgültig gegenüber Alltäglichem. Es sei ein Geisteszustand, der eine maßlose Überschätzung der geliebten Person bedeute.59 Trennung würde als eine Form von Tod empfunden werden, und »[…] the death of both lovers is preferable to permanent separation.«60 Und es seien auch nicht die traditionellen Verhalten von »romantic courtship«, welche eine Ehe erschweren, sondern »[…] it is the lack of real relationship between ideal and reality, word and deed, that leads to self-delusion, unrealizable expectation and bitter disappointment.«61 Um diesen möglichen Enttäuschungen aufgrund unterschiedlicher Erwartungshaltungen zu begegnen und dennoch das Statut der Ehe aufrecht zu halten, plädierte Mead etwa ein Jahr später an gleicher Stelle für ein zweistufiges Ehemodell. Junge Paare würden zunächst eine »individual marriage« eingehen, in der sie sich zwar zueinander bekennen, sich aber ebenso ausprobieren und diese Verbindung ohne negative Folgen wieder auflösen könnten (wobei allerdings Kinderlosigkeit ein notwendiges Kriterium sei). Dieses Ehemodell könnte dann, so es sich bewährt hätte, in eine lebenslange »parental marriage« überführt werden, die auf das Gründen einer Familie ausgerichtet war.62

59 Ebd., S. 20. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 22. 62 Vgl. Margaret Mead, »Marriage in Two Steps – A Proposal«, in: A Way of Seeing, hg. von ders. und Rhoda Metraux, New York 1970, S. 163–172.

Christine Fornoff-Petrowski

Tagebuchschreiben im Duett Selbstbildung und Selbstdarstellung in den Ehetagebüchern des ­Musikerpaares Hermine und Eugen d’Albert

Der Komponist Eugen d’Albert heiratete insgesamt sechs Mal. Als 1895 – kurz nach der Hochzeit – seine dritte Ehefrau Hermine Finck dem Komponisten Johannes Brahms vorgestellt werden sollte, soll dieser in einer Weinlaune ausgerufen haben: »Ach, D’Albert heiratet ja doch noch einige Mal, die dritte Frau überspring’ ich!«1. So (oder ähnlich) wird es an verschiedenen Stellen erzählt.2 Die Authentizität des Ausspruchs ist – wie könnte es bei Anekdotischem anders sein – nicht weiter belegt. Und dennoch bringt der Kern dieser Erzählung wesentliche Aspekte des Blickes auf Eugen d’Albert als Musiker und Ehemann, aber auch auf die Musikerehe im Allgemeinen auf den Punkt:3 Die Anekdote hebt mit der vielfachen Verheiratung und der Unterstellung weiterer nachfolgender Eheschließungen »anti-bürgerliche Charakterzüge des Aus­nahme­künst­ lers«4 d’Albert hervor und trägt damit zu dessen Inszenierung als Genie bei. Gleichzeitig illustriert sie den Unterhaltungswert sowie das kontroverse Potential von Musikerehen. Letzteres zeigte auch eine umfassende Untersuchung des Phänomens ›Musikerehe‹ im langen 19. Jahrhundert.5 Deutlich mehr Musikerinnen und Musi1 2 3 4 5

So Johannes Brahms in den Mund gelegt bei: Ludwig Karpath, Lachende Musiker. Anekdotisches von Richard Wagner, Richard Strauss, Liszt, Brahms, Bruckner, Goldmark, Hugo Wolf, Gustav Mahler und anderen Musikern, München 1929, S. 41. Vgl. Die Bühne, Nr. 10, Jg. 2 (15. Jän. 1925), S. 5; Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 11539 (6. März 1932), S. 6; Wilhelm Raupp, Eugen d’Albert. Ein Künstler- und Menschenschicksal, Leipzig 1930, S. 114; Charlotte Pangels, Eugen d’Albert. Wunderpianist und Komponist, Zürich 1981, S. 164. Vgl. zum historiographisch-biographischen Umgang mit Musiker-Anekdoten ausführlich den Band Anekdote – Biographie – Kanon, hg. von Melanie Unseld und Christian von Zimmermann, Köln, Weimar und Wien 2013. Melanie Unseld, »Eine Frage des Charakters? Biographiewürdigkeit von Musikern im Spiegel von Anekdotik und Musikgeschichtsschreibung«, in: Anekdote – Biographie – Kanon (Anm. 3), S. 3–18, hier: S. 14. Siehe hierzu ausführlich Christine Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe. Ein Phänomen der bürgerlichen Musikkultur, Wien, Köln und Weimar [2021, Druck in Vorb.], ebenfalls wie vorliegender Band unter dem Dach des DFG-Projekts »Paare und Partnerschaftskonzepte in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts« entstanden.

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ker, als die wenigen, heute gut bekannten wie Robert und Clara Schumann oder Alma und Gustav Mahler, lebten in Künstlerehen und traten offen als solche in Erscheinung. Eugen d’Albert schloss in der Zeit um 1900 allein vier Künstlerehen: mit den Pianistinnen Teresa Carreño (1892–1895) und Friedericke Jauner (1913–1921), der Schauspielerin Ida Fulda (1910–1913) sowie eben der Sängerin Hermine Finck (1895–1910). Gleichzeitig wurde in zahlreichen zeitgenössischen Quellen die Ehe zwischen Musikern und Musikerinnen als problematisch beschrieben. Sowohl die Rolle der Künstlerin als Ehefrau, als auch des Künstlers als Ehemann und die Aufgaben und Herausforderungen einer »Künstlerehefrau« wurden breit diskutiert.6 Oben erwähnte Anekdote ist ein Ausschnitt aus der Fülle dieser Äußerungen, der – in diesem Fall auf humorvolle Weise – zum Ausdruck bringt, dass auch die Eheschließung von Hermine und Eugen d’Albert Teil einer öffentlichen Aushandlung der Musikerehe war. Hermine Finck und Eugen d’Albert lernten sich am Hoftheater in Weimar kennen. Sie war ausgebildete Sängerin und als Hofopernsängerin angestellt, er hatte in London, Wien und zuletzt bei Franz Liszt in Weimar studiert, wirkte bereits seit einigen Jahren sehr erfolgreich als Konzertpianist und war Hofkapellmeister in Weimar. Als sich das Paar kennenlernte, hatte sich Eugen d’Albert gerade von seiner zweiten Ehefrau, der ebenfalls sehr erfolgreichen Pianistin Teresa Carreño, getrennt. Wenige Tage nach der Scheidung im Herbst 1895 heirateten Hermine Finck und Eugen d’Albert. Hermine d’Albert trat von ihrer Stellung als Hofsängerin in Weimar zurück und begleitete ihren Mann auf dessen Konzertreisen. Sie gab ihre Karriere als Sängerin allerdings nicht ganz auf, erschien aber viel seltener in der Öffentlichkeit und wenn, dann fast ausschließlich mit den Kompositionen ihres Mannes.7 1909 wurde die Tochter Violante geboren und wenige Monate später kam es zur Trennung des Paares. 1910 heiratete Eugen d’Albert dann seine vierte Ehefrau Ida Fulda. Mit 15 Ehejahren war die Ehe mit Hermine d’Albert die längste, die Eugen d’Albert führte.8 Aus den gemeinsamen Jahren von 1895 bis 1910 sind 19 Tagebücher im Gesamtumfang von über 3700 Seiten überliefert. Sie wurden kontinuierlich über fast den ganzen Zeitraum der Ehe geführt und dokumentieren das Leben und die Kontakte der d’Alberts, die gut in der deutschsprachigen Musikszene vernetzt waren. Es handelt sich dabei um ein außergewöhnliches Quellenkonvolut, 6 7 8

Vgl. ebd. Zu den von Eugen d’Albert für Hermine d’Albert komponierten Liedern der Liebe siehe in diesem Band: Christine Fornoff-Petrowski, Anerkennung oder Verurteilung als Künstlerehepaar? Eine Spurensuche rund um Eugen d’Alberts Liederzyklus Lieder der Liebe op. 13, S. 201–217. Wilhelm Raupp, Eugen d’Albert (Anm. 2); Charlotte Pangels, Eugen d’Albert (Anm. 2); Art. »Finck, Hermine«, in: Großes Sängerlexikon, Bd. 2, hg. von Karl-Josef Kutsch und Leo Riemens, 4. Aufl., München 2003, S. 1459.

Tagebuchschreiben im Duett

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denn die Tagebücher führten Eugen und Hermine d’Albert gemeinsam (wobei besonders in den ersten Jahren Hermine d’Albert die meisten Einträge verfasste). Wie in einem Duett wechseln die Stimmen sich ab, legen sich übereinander und kommunizieren miteinander. Beispielsweise mit Ergänzungen oder Korrekturen: Häufiger war es Hermine d’Albert, die beim Schreiben offenbar die Namen, Orte oder Titel von Opern und Theaterstücken nicht parat hatte und eine Lücke ließ, die Eugen d’Albert später füllte. Teilweise korrigierte er Namen oder Daten ihrer Eintragungen und etwas seltener berichtigte er auch ihre Grammatik. Außerdem gibt es einige ganz direkte Reaktionen, bei denen einer der Ehepartner schreibend auf die Einträge des jeweils anderen einging, darauf antwortete oder etwas richtigstellte. Im Folgenden möchte ich nun die Aushandlung der Ehe der d’Alberts im Medium ihrer Tagebücher untersuchen und beschreiben, wie sich das Paar zu zeitgenössischen Vorstellungen von der Musikerehe positionierte. Dabei werde ich insbesondere die Besonderheiten des Genres Ehetagebuch und die damit verbundenen Praktiken (dialogisches Schreiben, gegenseitiges Lesen und bearbeiten etc.) in den Blick nehmen, um so der Funktion der Tagebücher für das Ehepaar näher zu kommen. Schreiben als Paar: Zur Funktion der Ehetagebücher Die Ehetagebücher der d’Alberts bieten reichlich Material für unterschiedliche Untersuchungen. Mir geht es an dieser Stelle darum, dem »Schreiben als Paar« auf die Spur zu kommen: Wie wirkte das diarische Schreiben bei der Aushandlung der Rollen innerhalb der Ehe der d’Alberts und welche Funktion übernahm es bei der Gestaltung der Ehe als Künstlerehe? Was für ein Bild ihrer eigenen Ehe entwarfen die d’Alberts in den Tagebüchern, welche (Selbst)bilder von sich als Ehefrau und Ehemann? Stephen Greenblatt hat sich im Kontext der Renaissance-Literatur mit der Selbstbildung im Prozess des Schreibens befasst. Er beschreibt »Self-Fashioning« als ein Phänomen, welches sich in der Literatur als Wechselwirkung zwischen geschriebenen Texten und dem sozialen Leben zeige: [Self-fashioning] functions without regard for a sharp distiction between literature and social life. It invariably crosses the boundaries between the creation of literary characters, the shaping of one’s own identity, the experience of being molded by forces outside one’s control, the attempt to fashion other selves.9 9

Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 2007, S. 3.

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Das Konzept basiert auf der Annahme, dass Menschen im Prozess des Schreibens ihr Selbst formen. Dabei werden Individuen durch ihr kulturelles Umfeld beeinflusst. Sie nehmen aber mit der Produktion von literarischen Texten auch aktiv am Prozess der Gestaltung der Kultur teil und an der Formung der Identität anderer. Die Literaturwissenschaftlerin Katharina Lunau integriert das Konzept des Self-Fashioning im Anschluss an Greenblatt in ihre Analyse des diarischen und literarischen Schreibens des französischen Autors und Kunstsammlers Henri-Pierre Rochés. Dabei zeigt sie, dass sich dieses Phänomen auch bis in die Moderne verfolgen lässt. Zudem macht sie deutlich, dass die Grenzen zwischen diarischem und literarischem Schreiben fließend sind und der Prozess des SelfFashioning auch das Tagebuchschreiben betrifft, welches »als ideales Instrument der Selbstanalyse und Selbsterkundung«10 erscheine. In ihrem Artikel über das Tagebuch in der Encyclopedia of Life-Writing weist Rachel Cottham ebenfalls auf die Funktion der Selbstbildung im diarischen Schreiben hin: The diarist continually rereads and amends his or her text […]. Text and context (reader and writer) remain in continuity, and this contributes to a pronounced drift and regeneration of meaning. The self, both lived and written, is fashioned and maintained through a continual process of self-adjustment – or self-editing – directed by writing and reading of the self by itself.11

Dieser Prozess des Schreibens und Wieder-Lesens des Geschriebenen betrifft auch in besonderem Maße Ehetagebücher. Hier findet die Festschreibung von Bedeutung in einem dialogischen Prozess statt, an dem beide Diaristen partizipieren: Sowohl Ehefrau als auch Ehemann sind zugleich Lesende und Schreibende. Das bedeutet, dass beide die eigenen Einträge schreiben, lesen und ggf. bearbeiten. Zusätzlich lesen sie auch die Einträge des Partners/der Partnerin und greifen unter Umständen ergänzend oder korrigierend ein. Damit erhalten die einzelnen Einträge auch etwas Adressiertes (ähnlich wie bei einem Brief ), denn das Mitlesen der/des Anderen ist Teil des Konzepts. Zwar richten sich die Einträge nicht unbedingt explizit an die andere Person, im Schreiben ist sie als zukünftig Lesende dennoch zwangsläufig präsent. Dieser Umstand hat mit Sicherheit einen großen Einfluss darauf, was und wie geschrieben wird und die einzelnen Beiträge haben immer – wenn auch implizit – den Aspekt der Anspra-

10 Vgl. Katharina Lunau, L’homme personnage: literarisches self-fashioning und Strategien der Selbstfiktionalisierung bei Henri-Pierre Roché, Hamburg 2010, S. 81. 11 Rachel Cottham, »Diaries and Journals: General Survey«, in: Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms, Bd. 1, hg. von Margaretta Jolly, London und Chicago 2001, S. 268.

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che des Partners oder der Partnerin. Auf diese Weise ergibt sich eine dialogische Struktur, wenngleich es auch kein konkretes Gespräch geben muss. Eng geführt auf den Prozess der Selbstbildung bedeutet das, dass auch dieser im Ehetagebuch eine dialogische Komponente erhält. Es ist eben nicht eine Person, die in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Umfeld schreibend die eigene Identität formt, sondern dieser Prozess findet auf drei Ebenen statt: Erstens gestalten die Diaristen ihr jeweils eigenes Selbst, indem sie über sich selbst, ihre Gefühle, Vorstellungen und Wünsche schreiben. Zweitens partizipieren sie an der Identitätsbildung ihres Ehepartners und nehmen Einfluss auf diese. Wenn beispielsweise im konkreten Fall von Hermine und Eugen d’Albert der Ehemann die Wünsche und Vorstellungen der Ehefrau antizipiert, konstruiert er ihre Identität. Hier erhält die Praxis des Wiederlesens und Korrigierens eine besondere Bedeutung: Die Ehefrau liest die Beschreibung ihrer (zugeschriebenen) Identität durch ihren Mann, reagiert darauf und integriert seine Konstruktion in ihre eigene Selbstbildung. Die dritte Ebene betrifft die Identität oder Konstruktion der Partnerschaft. Indem die Partner über ihre Ehe schreiben, das Gelesene kommentieren und ergänzen, handeln sie ihre Vorstellungen von Ehe und Geschlechterrollen aus. Hierbei integrieren sie – um noch einmal an Greenblatt anzuschließen – die von der Gesellschaft außerhalb ihrer Kontrolle liegenden und an sie heran getragenen Vorstellungen, wirken durch ihre Darstellung und ihr Schreiben aber wiederum in die Gesellschaft zurück. – Insbesondere, wenn eine spätere Nutzung der Tagebücher von weiteren Personen wie bei den d’Alberts durchaus intendiert war, worauf ich noch zurückkommen werde. Damit ist eine weitere Funktion angesprochen, die Ehetagebücher mit anderen Selbstzeugnissen wie allein verfassten Tagebüchern, Autobiografien oder Briefen teilen, nämlich die Selbstdarstellung.12 In Bezug auf die historische Entwicklung des Tagebuchs resümiert Lunau, dieses habe sich »in den letzten zweihundert Jahren von einem Instrument der Selbsterkenntnis zu einem Medium der stilisierten Selbstdarstellung«13 entwickelt. Auch Sybille Schönborn stellt fest, dass das Tagebuch spätestens seit den Tagebuchveröffentlichungen von Johann Caspar Lavater14 als Medium der Selbstdarstellung genutzt wurde: »Seine vielrezipierten Tagebücher werden zum Modell für eine allgemeine Praxis schriftlicher 12 Vgl. zur Selbstdarstellung in Selbstzeugnissen: Kaspar von Greyerz, Hans Medick und Patrice Veit (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quelle (1500–1800), Köln 2001; Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person: Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen 2005 (Querelles: Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 10). 13 Katharina Lunau, L’homme personnage (Anm. 10), S. 84. 14 Johann Caspar Lavater, Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst, Leipzig 1771.

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Selbstinszenierungen (Goethe, La Roche, von der Recke).«15 Für das 19. Jahrhundert weist Schönborn auf eine sehr heterogene Nutzungspraxis hin: Es kann als Hybridform mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung Funktionen des ›Journal intime‹, des Arbeitstagebuchs, Notizbuchs, der Aphorismen- und Ideensammlung, der Alltags- und Gegenwartschronik, der Selbstdarstellung von Politikern, Künstlern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vereinen.16

Dies trifft auch auf die Ehetagebücher der d’Alberts zu. Diese enthalten sowohl die Funktion der Selbstkonstruktion(en), wurden als Arbeitstagebuch oder Chronik und zur Selbstdarstellung genutzt. Selbstbildung(en) im Kontext der Künstlerehe Sowohl in Eugen als auch in Hermine d’Alberts Einträgen zentriert sich alles in den Tagebüchern um ein Kernthema: Der geniale Künstler Eugen d’Albert und sein Kampf um Anerkennung als Komponist. Dies äußert sich einerseits in der detaillierten und chronistischen Dokumentation der beruflichen Karriere und der damit verbundenen Tätigkeiten. Andererseits zeigt sich dies auch in der Art und Weise, wie die d’Alberts ihre Ehe und ihre jeweiligen Rollen darin an diesem Kernthema ausrichteten. Eugen d’Albert feierte als Pianist europaweit Erfolge, fühlte sich aber als Komponist nicht ausreichend wahrgenommen. Bereits auf den ersten Seiten des Tagebuches nehmen die Berichte über Eugen d’Alberts kompositorische Arbeit einen prominenten Platz ein. Während des gemeinsamen Urlaubs des noch nicht verheirateten Paares in der Schweiz dokumentiert Hermine Finck fast täglich detailliert den Fortschritt der Oper Gernot, wie am 22. August 1895: Die V. Scene, bis zu den Worten: »Nun so diene dem Knecht als König« – hat Eugen trotz Indisposition heute zu Stande gebracht.17

Auch den künstlerischen Fortschritt ihres Verlobten vermerkte sie wenige Tage später im Tagebuch: 15 Sibylle Schönborn, »Tagebuch«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin und New York 2007, S. 576. Vgl. auch Sibylle Schönborn, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999, S. 247 f. 16 Schönborn, Tagebuch (Anm. 15), S. 576. 17 Hermine d’Albert am 22. Aug. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), in: 19 Tagebücher von Eugen und Hermine d’Albert, 1895–1909, Depositum des Archivs der Berliner Philharmoniker im Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin, Signatur: A Alb 1.

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Sechste Scene ist heute beendigt worden. Nachmittags haben wir Lieder studiert u. den ersten Akt von »Ghismonda« durchgenommen u. gleich darauf sahen wir uns die VI Scene des II Aktes »Gernot« an u. zu der Ansicht gekommen, daß von »Ghismonda« bis zu »Gernot« wieder ein ganz gewaltiger Fortschritt zu beobachten ist.18

Einträge wie diese, die festhalten wann, was und in welcher Stimmung Eugen d’Albert komponierte, ziehen sich wie ein Leitmotiv durch alle Tagebücher, wie auch in einem deutlich späteren Beispiel aus dem Tagebuch Nummer 14, diesmal geschrieben von Eugen d’Albert: Sehr gut gearbeitet u. große Fortschritte in der Partitur gemacht (bis zum Eintritt Ottavios in der Duellszene). Herrlicher Tag.19

Auch seine Auftritte als Pianist wurden in den Tagebüchern festgehalten und bewertet, wie zum Beispiel im Tagebuch aus dem Jahr 1897: Der Erfolg im Concert mit Eugens Klavierkonzert war der enthusiastischste, den ich in England bisher erlebt hatte. Auch mit dem Weberschen riss er das Publikum zu lautem Beifallsjubel hin, aber seine Composition hatte noch beßer gefallen. Man war allgemein in Entzücken über sein Conzert u. eine Menge Menschen kamen in’s Künstlerzimmer, um ihm das zu sagen. Gespielt hat er ganz wundervoll!20

In diesem Eintrag dokumentierte Hermine d’Albert die Erfolge ihres Mannes sowohl als Pianist als auch als Komponist. Andere Themen, die sich um Eugen d’Alberts Wirken als Komponist rankten, waren Verhandlungen mit Agenten, Veranstaltern, Herausgebern und Librettisten. Außerdem spielte die Aufnahme beim Publikum und die Besprechung seiner neuen Opern eine große Rolle in den Tagebüchern. Jeweils zum Jahresende verfasste Hermine d’Albert einen kleinen Jahresrückblick und äußerte Wünsche und Hoffnungen für das neue Jahr. Hier sieht man besonders gut, wie auch sie in ihren Einträgen den Fokus auf Eugen d’Alberts Erfolge legte. Ein Beispiel ist ihr Eintrag zur Jahrhundertwende an Silvester 1899: Sie dankte zunächst Gott für Gesundheit und ihre glückliche Ehe sowie anschließend auch für die zunehmende Anerkennung ihres Mannes als Komponist und den Erfolg seiner Oper Die Abreise21. Dann betete sie für Eugen d’Albert: 18 19 20 21

Hermine d’Albert am 27. Aug. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 17). Eugen d’Albert am 1. Juni 1906, Tagebuch 14 (1906), (Anm. 17). Hermine d’Albert am 20. Mai 1897, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17). Eugen d’Albert, Die Abreise. Musikalisches Lustspiel in einem Aufzuge. Dichtung von A. von Steigentesch bearbeitet von Ferdinand Graf Sporck, Leipzig 1898.

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Gott gebe es, daß er bald die Anerkennung finden möchte, die er so wohl verdient u. nach der er mit der ganzen Gluth seiner schönen Künstlerseele lechzt. Gott gebe aber auch, daß sein Genie nicht durch materielle Sorgen beengt od. gar erdrückt werden solle.22

Mit den materiellen Sorgen bezog sie sich auf die Notwendigkeit, Geld als Konzertpianist verdienen zu müssen. Abgesehen von guten Wünschen für ihre Familie dreht sich der gesamte Eintrag um Eugen d’Alberts Karriere. Andere mögliche Themen wie Freundschaften, Reisen, Umzüge oder Eugen d’Alberts Kinder aus den ersten Ehen erwähnte Hermine d’Albert nicht. Auch ihre eigene Karriere scheint nicht wichtig genug gewesen zu sein, um in diesem Jahresrückblick zu erscheinen. Auch Hermine d’Alberts Auftritte als Sängerin wurden in den Tagebüchern vermerkt. Allerdings waren diese seltener und hatten nicht den gleichen Stellenwert wie Eugen d’Alberts Konzerte. Dies wird deutlich in einem Eintrag im Dezember 1896, in dem sie von einem ihrer gemeinsamen Auftritte berichtete: Der Erfolg war ein riesenhafter. Namentlich Eugen jubelten sie immer wieder heraus u. überreichten ihm einen Kranz. Ich mußte wieder Eugen’s Schmetterling zugeben, Eugen schenkte als Zugabe Chopin’s Walzer.23

Hermine d’Albert schrieb hier zwar auch über ihren eigenen Erfolg (Zugabe), betonte aber gleichzeitig die größere Publikumswirkung ihres Ehemannes. An anderer Stelle hielt sie ebenfalls die Gewichtung der künstlerischen Autorität fest, indem sie ihren Mann als bewertende Instanz nannte: Wir Beide sind sehr befriedigt aufgewacht. Auch die Kritiken sind gut u. kann ich – von Eugen zu reden ist ja überflüßig – mit meinem Erfolg zufrieden sein, über den namentlich Eugen so stolz und glücklich.24

Dieses auf Eugen d’Albert hin ausgerichtete Autoritätsverhältnis zeigte sich auch in der Aushandlung der Rollen bzw. der eigenen und jeweils zugeschriebenen Rollen und Identitäten als Ehemann und Ehefrau. Die Formung der Beziehung der d’Alberts knüpfte zunächst an den Diskurs zur bürgerlichen Ehe an.25 Wie viele Zeitgenossen gingen sie von der dem Mann untergeordneten Rolle der Ehefrau aus.26 Der Prozess der Aushandlung im Medium des Tagebuchs, 22 23 24 25

Hermine d’Albert am 31. Dez. 1899, Tagebuch 5 (1899), (Anm. 17). Hermine d’Albert am 8. Dez 1896, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17). Hermine d’Albert am 15. März 1904, Tagebuch 11 (1904), (Anm. 17). Einen guten Überblick über den Diskurs zur Ehe im 19. Jahrhundert gibt Regina Mahlmann mithilfe der Analyse zeitgenössischer Eheratgeber: Regina Mahlmann, Psychologisierung des »Alltagsbewußtseins«: Die Verwissenschaftlichung des Diskurses über Ehe, Opladen 1991, S. 90–116. 26 Vgl. zu Geschlechterrollen und dem Ideal der bürgerlichen Ehe im 19. Jahrhundert u. a.: Karin

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bzw. der dialogische Aspekt und appellative Charakter der Einträge wird besonders in den direkt aufeinander reagierenden Textstellen deutlich: In einem Eintrag vom 20. August 1895 kommentierte Eugen d’Albert den ersten Streit, den das Paar hatte. Dabei erwähnte er, dass er die Gefühle seiner Frau verletzt habe und schrieb: Gott möge uns die Kraft geben, die Schwächen in unseren Charakteren unter Controlle zu halten. Es ist ein Verbrechen, wenn wir uns auch nur eine Stunde gegenseitig unglücklich machen.27

Hermine d’Albert entgegnete direkt darauf: Die Kränkungen von Eugen waren garnicht so schlimm u. hätten nicht diese üblen Folgen gehabt, wenn ich nicht wieder einmal überempfindlich gewesen wäre u. statt auf mein Zimmer, auf das seine gegangen wäre. Auch ich bete zu Gott, mir die Kraft zu geben, gegen diesen Fehler in meinem Charakter energisch anzukämpfen, damit nie wieder etwas ähnliches vorkomme u. wir immer glücklich bleiben.28

Während Eugen d’Albert hier von »unseren Charakteren« schrieb, ging Hermine d’Albert nur auf ihren eigenen Charakter ein, den sie für ihre Ehe verbessern wolle. Sie stellte die Schuld bei sich selbst fest und beendete den Eintrag damit, ihrem Ehemann in Zukunft »nur glückliche Stunden u. Minuten«29 bereiten zu wollen. Die Notwendigkeit der Verhaltensänderung bezog sie nur auf sich selbst und orientierte sich dabei an den zeitgenössischen Rollenerwartungen an eine bürgerliche Ehefrau. Die Vorstellung von der in Liebe ihrem Ehemann ergebenen und abhängigen Ehefrau und der geistigen Überlegenheit des Mannes bestätigte sich das Paar zudem gegenseitig im März 1897. Hermine d’Albert schrieb: Wie furchtbar traurig muß es doch für eine liebende Frau sein, deren Mann durch seinen Beruf Jahr aus u. ein den ganzen Tag von zu Hause fern gehalten ist. Kein Wunder, wenn solche Frauen, die dabei keine höhere Intereßen haben auf Dummheiten verfallen.30

Hausen, »›…eine Ulme für das schwanke Efeu‹. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert«, in: Bürgerinnen und Bürger, hg. von Ute Frevert, Göttingen 1988, S. 87; Ute Frevert, »Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert«, ebd., S. 17– 48. Eng geführt auf den Diskurs zur Künstlerehe siehe auch bei Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe (Anm. 5). 27 Eugen d’Albert am 20. Aug. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 17). 28 Hermine d’Albert am 20. Aug. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 17). 29 Ebd. 30 Hermine d’Albert am 10. März 1897, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17).

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Eugen d’Albert antwortet hierauf direkt: – die Langeweile brütet bekantlich die Laster aus und Damen langweilen sich leicht, weil ihre Gehirnsubstanz eine so geringe ist.31

Eugen d’Albert fungierte damit als Familienoberhaupt und war für die finanzielle Versorgung (z. B. mit Hilfe der ungeliebten Konzertreisen) zuständig. Hermine d’Alberts Aufgabe war es, sich (und ihren Charakter) nach ihrem Mann zu richten und im privaten Bereich zu wirken. Letzteres wird in einem weiteren Dialog deutlich. Im gleichen Monat beschrieb Hermine d’Albert ihre Eifersucht gegenüber einer der Klavierschülerinnen ihres Mannes: Sie hat es gut. Was er ihr alles sagt, was sie alles von ihm lernen kann, das sah ich heute, wo ich bei der Stunde sein durfte. Ich will mich garnicht beklagen, er hat ja so wenig Zeit, es macht mich nur immer so traurig, wenn ich sehe, daß Andere sich in der Sonne seines genies sonnen dürfen u. ich nebenbei stehen muß, u. doch auch so lern- u. wißbegierig bin. Das Talent der Kleinen ist eben so enorm, daß es ihn viel mehr interessiert wie meines.32

Eugen d’Albert widersprach daraufhin vehement: Da hat Hermine gar nicht recht. Sie will nicht verstehen, daß in meiner Behandlung des Talents der Kleinen ich eine Pflicht der Welt gegenüber zu erfüllen habe, was bei Hermine nicht der Fall ist, die Ausbildung ihres Talents ist unsere Privatsache und bringt keine Verantwortung mit sich, da H. nicht in die Oeffentlichkeit will.33

Er stellte es als Tatsache und selbstverständlich fest, dass Hermine d’Albert auf ihre Karriere verzichtete. In ihrem Eintrag klingt dies allerdings ganz anders, und auch in anderen Äußerungen von ihr scheinen immer wieder durchaus eigene künstlerische Ambitionen durch. Während sie sich selbst damit auch – zwar zaghaft – als Künstlerin positionierte, wies Eugen d’Albert ihr in diesem Eintrag die Rolle der bürgerlichen Ehefrau zu, deren Kunstausübung »unsere Privatsache« sei. Besonders interessant ist es, dass er dabei von ihrem Willen schrieb. Hier wird deutlich, inwiefern der Prozess der Selbstbildung im Ehetagebuch erweitert wird: Eugen d’Albert stellte im Schreiben den von ihm gewünschten Willen seiner Frau fest und hatte so einen aktiven Anteil an ihrer Selbstbildung. Hermine d’Alberts schreibende Auseinandersetzung und Stellungnahme mit der ihr zugeschriebenen Rolle erfolgte wenige Tage darauf:

31 Eugen d’Albert am 10. März 1897, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17). 32 Hermine d’Albert am 30. März 1897, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17). 33 Eugen d’Albert am 30. März 1897, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17).

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Ich muß mich immer noch daran gewöhnen, daß ich für die [Welt] nichts mehr zu bedeuten habe u. mein Glück nur in dem von Eugen zu beruhen hat. Gegen ihn habe ich die erste Pflicht u. er wäre auf ’s Neue unglücklich wenn er wieder eine Künstlerin u. keine Frau hätte.34

Die Beziehungskonzeption der d’Alberts ging damit über das Konzept der bürgerlichen Ehe hinaus. In ihrem bereits zitierten Eintrag an Silvester 1899 und in vielen anderen Einträgen bezeichnete Hermine d’Albert ihren Mann als Genie. Diese und verschiedene weitere Äußerungen der Ehepartner weisen darauf hin, dass sich die d’Alberts als Künstlerehe verstanden, beziehungsweise Hermine d’Albert die Rolle der sich selbst für das Genie zurücknehmenden Künstlerehefrau zuschrieben. Dieses Konzept taucht im Diskurs zur Künstlerehe immer wieder auf. Es knüpft an das im 19. Jahrhundert und bis heute wirkmächtige Bild des komplizierten, teilweise egozentrischen Künstlers an:35 Die Ehefrau sollte dabei besonders einfühlsam sein und sich den speziellen Bedürfnissen ihres Künstlerehemannes anpassen. Sie sollte Verständnis für den schwierigen Charakter haben, außerdem selbst über so viel Kunstverständnis verfügen, dass sie ihren Ehemann auch in seiner Kunstausübung verstehen könne. Dabei sollte sie selbst aber nicht zu ambitioniert sein und sich ganz in den Dienst der Kunst ihres Ehemannes stellen.36 In einem Eintrag vom Oktober 1897 zeigte Hermine d’Albert genau diesen Spagat, indem sie ihre eigene künstlerische Position deutlich machte, dabei aber ihre Rolle hinter dem Genie ihres Mannes akzeptierte: Nach einem Theaterbesuch beschrieben beide Partner ihre durchaus unterschiedlichen Perspektiven auf das neue Theaterstück John Gabriel Borkman37 von Henrik Ibsen. Hermine d’Albert verfasste eine sehr ausführliche Rezension, in der auch ihre eigene Profession und Bühnenerfahrung deutlich wird. Mithilfe der Handlung des Theaterstückes positionierte sie sich aber als Befürworterin der untergeordneten Rolle der Ehefrau. So stellte sie fest, die weibliche Protagonistin vernachlässige »ihre einzige u. höchste Pflicht, als Weib ihrem Mann das Unglück ertragen u.

34 Hermine d’Albert am 2. April 1897, Tagebuch 3 (1896–97), (Anm. 17). 35 Zum Künstler- und Geniebild des 19. Jahrhunderts vgl. u. a. Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007; Ute Frevert, »Der Künstler«, in: Der Mensch des 19. Jahrhunderts, hg. von ders. und Heinz-Gerhard Haupt, Essen 2004, S. 292–323; Ernst Kris, Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M. 1890. 36 Vgl. hierzu Christine Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe (Anm. 5). 37 Henrik Ibsen, John Gabriel Borkman. Skuespil i fire akter, København 1896.

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teilen zu helfen«38. Damit betont sie, es sei die Aufgabe der Frau, ihren Mann bedingungslos und selbstlos zu unterstützen. Das Hauptthema der Ehetagebücher war Eugen d’Alberts Karriere als Komponist, die sowohl von ihm selbst, als auch von Hermine d’Albert dokumentiert wurde und mit der sich beide offenbar identifizierten. Daran orientierte sich auch die Ausgestaltung der Künstlerehe des Paares: Die Selbstbildung beider Partner, die gegenseitige Charakterisierung und die Ausformung der Partnerschaft basierten auf einem Modell der Künstlerehe, in dem das Genie – in diesem Fall der Komponist d’Albert – im Zentrum steht und durch die Ehefrau – Hermine d’Albert – mit musikalischem Fachverständnis unterstützt wird. Selbstdarstellung als Komponist und Künstlerpaar mit den Ehetagebüchern Die Tagebücher dienten nicht nur als Medium der Aushandlung dieser Ehekonzeption und des Genie-Bildes von Eugen d’Albert, sondern auch als dokumentierende Chronik. Diese Funktion der Dokumentation des Genies war dem Ehepaar vermutlich beim Schreiben bewusst, was von der Selbstbildung zur Selbstdarstellung des Ehepaares führt. Um zu verstehen, warum die d’Alberts auch ein Interesse daran hatten, mit den Tagebüchern auf das Bild von ihrer Künstlerehe und damit das des Komponisten Einfluss zu nehmen, ist es wichtig, den Blick zunächst noch einmal auf die öffentliche Wahrnehmung Eugen d’Alberts in Bezug auf seine Ehen und Scheidungen zu richten. Spätestens seit der Beziehung zu der Pianistin Teresa Carreño war Eugen d’Albert das Interesse an seinem Liebesleben bewusst. Noch vor der offiziellen Hochzeit im Juni 1892 entstand das Gerücht von der Verheiratung des Paares. Im Oktober 1891 hatten Carreño und d’Albert ein Haus in Coswig gekauft und lebten dort mit ihren Kindern.39 Das führte offenbar zu der Vermutung, das Paar habe geheiratet. So meldeten im Dezember 1891 verschiedene Zeitschriften mit Bezug auf eine Notiz in den Dresdner Nachrichten die angebliche Hochzeit. Dabei zeigte sich bereits eine gewisse Häme, wenn beispielsweise die Montags-Revue aus Böhmen die Meldung mit der Überschrift »Getheiltes Leid«40 versah und wie auch die Signale für die musikalische Welt41 die bisherigen Scheidungen beider Partner aufzählte42, oder die Neue Zeitschrift für 38 Hermine d’Albert am 14. Okt 1897, Tagebuch 4 (1897–98), (Anm. 17). 39 Siehe hierzu die Tagebucheinträge Teresa Carreños, wiedergegeben bei Marta Milinowski, Teresa Carreño. »by the grace of God«, New Haven 1940, S. 218. 40 »Getheiltes Leid«, in: Montags-Revue aus Böhmen (21. Dezember 1891), S. 6. 41 Vgl. Signale für die musikalische Welt, Nr. 73, Jg. 49 (Dezember 1891), S. 1161. 42 Eugen d’Albert war zu diesem Zeitpunkt geschieden von seiner ersten Ehefrau Louise d’Albert, geb.

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Musik in den Personalnachrichten von einer Erwiderung d’Alberts berichtete: »An die ›Dresdn. Ztg,‹ schreibt Herr d’Albert einen Brief, der kein Desaveu enthält. Der gefeierte Künstler klagt nur, daß sein Privatleben berührt sei. Aber das ist bei Künstler [sic] doch unvermeidbar.«43 Auch von der Scheidung von Teresa Carreño, beziehungsweise der Verheiratung mit Hermine Finck im Jahr 1895 berichteten die Zeitungen. Die Zeitschrift Das Vaterland bezeichnete die »Scheidung einer berühmten Künstlerehe« als »das Sensationsereigniß der Woche«.44 In den Meldungen vom Prozess wurde vor allem betont, dass d’Albert als schuldiger Teil aus der Verhandlung gegangen war,45 »wegen böswilligen Verlassens seitens des Ehemannes«46. In einigen Artikeln wurde außerdem berichtet, dass »d’Albert ohne äußeres Anzeichen irgendeiner Empfindung, Frau Carreno in Thränen schwimmend und sichtlich erregt«47 das Gerichtsgebäude verlassen hätten. Als kurz darauf die Hochzeit mit Hermine Finck bekannt gegeben wurde, dominierte die schnelle Wiederverheiratung und die Anzahl der Eheschließungen Eugen d’Alberts die Nachrichten, so habe die Sängerin die »Ehre und das Vergnügen, des Virtuosen dritte Frau zu sein«48. Dieses Interesse am Privatleben Eugen d’Alberts, beziehungsweise die Skandalfreude begleitete den Komponisten – und damit auch seine Ehefrauen – bis zu seinem Tod in Riga.49 Es schlug sich in verschiedenen Gerüchten50 und Anekdoten nieder, die die Wahrnehmung d’Alberts zu Lebzeiten (und bis heute) Salingré. Teresa Carreño hatte eine Ehe mit dem Geiger Émile Sauret und eine Ehe mit dem Sänger Giovanni Tagliapietra hinter sich. 43 Neue Zeitschrift für Musik, Nr. 52, Bd. 87, Jahrgang 58 (30. Dez. 1891), S. 568. 44 Beiblatt zu: Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie, Nr. 274, Jg. 36 (6. Okt. 1895), S. I. 45 Vgl. Berliner Gerichtszeitung, Nr. 117, Jg. 44 (3. Okt. 1895), S. 2; Grazer Tageblatt, Nr. 274, 5. Jg. (4. Okt. 1895), S. 4; Neue Zeitschrift für Musik, Nr. 41, Bd. 91, Jg. 62 (9. Okt. 1895), S. 443. 46 Signale für die musikalische Welt, Nr. 48, Jg. 53 (Okt. 1895), S. 763. 47 Berliner Gerichtszeitung (Anm. 45); vgl. auch: Beiblatt zu: Das Vaterland (Anm. 44); Signale für die musikalische Welt (Anm. 46). 48 Die Redenden Künste, Nr. 6, 1895/96 (30. Okt. 1895), S. 201. Vgl. auch Signale für die musikalische Welt, Nr. 50, Jg. 53 (Okt. 1895), S. 795; Neues Wiener Journal, Nr. 710 (6. Okt. 1895), S. 4. 49 Anlässlich seines letzten Scheidungsverfahrens und des kurz darauf erfolgten Todes gab es einige Berichte: Salzburger Wacht, Nr. 251, Jg. 33 (2. Nov. 1931), S. 4; Linzer Tages-Post, Nr. 253 (2. Nov. 1931), S. 2; Neue Freie Presse, Nr. 24192 (20. Jan. 1932), S. 7; Salzburger Volksblatt, Nr. 16 (21. Jän. 1932), S. 9; Oleg Berting, »Eine Tasse Tee mit Eugen d’Albert«, in: Sächsischer Kurier. Illustrierte Tageszeitung, Nr. 31 (6./7. Febr. 1932); Oleg Berting, »Die große Sensation im Scheidungsprozess Eugen d’Alberts«, in: Neues Wiener Journal, Nr. 13726 (7. Febr. 1932), S. 10–11. 50 Beispielweise musste sich die Cellistin Beatrice Harrison 1913 gegen das Gerücht wehren, nach gemeinsamen Auftritten mit Eugen d’Albert dessen zukünftige fünfte Ehefrau zu werden (vgl. Signale für die musikalische Welt, Nr. 45, 5. Nov. 1913, S. 1662–1663), Hilde d’Albert musste 1925

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maßgeblich prägten. Kurz nach dem Tod des Künstlers fasste die österreichische Kronenzeitung die »d’Albert=Anekdoten« zusammen: Eine Reihe von Anekdoten hatte d’Alberts Vermählungen zum Gegenstand. So wurde erzählt, daß ein Freund, dem d’Albert seine dritte Frau vorstellen wollte, entgegnete: »Die überspring’ ich.« – Als Weingartner nach einer Scheidung sich wieder vermählte, habe d’Albert sich geäußert: »Mich holt er doch nicht ein, der Monogamist.« – d’Alberts dritte Frau war die Klaviervirtuosin Teresa Carreno. Da jeder der beiden Eheteile auf wochenlange Konzertreisen ging, war von einem Heim keine Rede, um so weniger als eheliche und voreheliche Kinder vorhanden waren. Zankwesen herrschte unter den beiden Gatten. Einmal rief die Gattin zornig: »Eugen, deine Kinder und meine Kinder prügeln unsere Kinder!«51

Dass auch zu Lebzeiten Witze über den Komponisten und seine Ehen gemacht wurden, berichtet Edith Stargardt-Wolff, deren Eltern Louise und Hermann Wolff in Berlin die Konzertagentur Wolff führten und gut mit Eugen d’Albert bekannt waren. Ihre Mutter habe entschieden, die vierte Frau d’Alberts, die Schauspielerin Ida Fulda, nicht zu empfangen: »Sie wollte, wie sie prophetisch sagte, die nächste überspringen.«52 Von ihrem Vater zitiert Stargardt-Wolff die zum Ende eines Musikfestes in Weimar ausgesprochene Verabschiedung »Geschieden muß sein, wie d’Albert sagt«53 und Alfred Grünfeld soll den Komponisten mit den Worten »Nehmen Sie sich in acht, d’Albert, die Neunte ist mit Chor!«54 vor weiteren Eheschließungen gewarnt haben. Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmung des Künstlers – die auch Eugen und Hermine d’Albert nicht verborgen geblieben sein dürfte – ist es nachvollziehbar, dass das Paar mit den Ehetagebüchern zunächst eine Basis schuf, auf der eine (künstlerisch ernsthafte) Auseinandersetzung mit dem Wirken Eugen d’Alberts in seinem Sinne möglich sein würde. Genauso, wie es möglicherweise ein verstärktes Bedürfnis hatte, die eigene Beziehung als ideale Künstlerehe darzustellen und sie als Voraussetzung für das Schaffen des Komponisten zu legitimieren. Dabei bekräftigte die Gestaltung der Künstlerehe Eugen d’Alberts Status als ›genialen Komponisten‹, indem sie auf ein im Diskurs um die Künstlerehe

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richtigstellen, nicht bereits von ihrem Mann geschieden worden zu sein (vgl. Neues Wiener Journal, Nr. 11264 (31. März 1925), S. 9). Illustrierte Kronen-Zeitung (Anm. 2). Edith Stargardt-Wolff, Wegbereiter Großer Musiker. Unter Verwendung von Tagebuchblättern, Briefen und vielen persönlichen Erinnerungen von Hermann und Louise Wolff, den Gründern der Konzertdirektion 1880–1935, Berlin 1954, S. 131. Ebd., S. 127. Hermann Wolff verstarb im Jahr 1902. Damit fiele dieser Ausspruch vermutlich in die Zeit der Ehe mit Hermine d’Albert. Ebd., S. 132.

Tagebuchschreiben im Duett

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häufig beschriebenes Bild rekurrierte. Letzteres benannte – wie bereits angerissen – die von Hermine d’Albert gelebte Kombination aus Fachverständnis und Bereitschaft der eigenen Zurücknahme der Künstlerehefrau als Bedingung für die glückliche Ehe eines Künstlers.55 Damit vermittelten die Ehetagebücher das Bild von Eugen d’Albert als Genie, das genau einer solchen Ehefrau bedürfe, um komponieren zu können. Dies transportierten nicht nur – wie beschrieben – die einzelnen Beiträge, sondern auch die Praktik der als Chronistin agierenden Ehefrau. Das Wirken Cosima Wagners als Hüterin des Erbes ihres Mannes und dessen Chronistin war in der zeitgenössischen Musikkultur deutlich sichtbar56 und galt möglicherweise auch für die d’Alberts als Vorbild, zumal das Ehepaar mit Siegfried Wagner befreundet war. Die Art und Weise, wie die Tagebücher geschrieben wurden, bekräftigt die Vermutung einer bewussten Selbstdarstellung durch das Ehepaar. Sie deutet an verschiedenen Stellen darauf hin, dass Hermine und Eugen d’Albert eine spätere Nutzung durch Dritte im Sinn gehabt haben könnten. So schreiben beide über den jeweils anderen nicht in der zweiten Person, wie in einem Brief, sondern in der dritten Person, wie in einem Bericht. Ein weiterer Hinweis sind die zahlreichen Schwärzungen. Leider ist nicht überliefert, wer diese vorgenommen hat. Möglich wäre, dass die gemeinsame Tochter, über die die Tagebücher ins Archiv gelangten, diese vorher zensierte. Tatsächlich arbeitete Wilhelm Raupp in seiner Biografie mit Ausschnitten aus den Tagebüchern. Möglich wäre daher auch, dass Eugen d’Albert selbst die Zensur vornahm, als er diese dem Biografen zur Verfügung stellte. Der letzte Eintrag weist jedenfalls deutlich darauf hin, dass das Paar die Tagebücher nicht nur für die eigene Erinnerung verfasste: Die Einträge, welche jetzt bis Mitte Juli erfolgen sind alle ausschließlich von meiner Hand und deßhalb habe ich sie herausgetrennt. Ich versichere dies auf Ehrenwort. Eugen d’Albert.57

Diese Versicherung ist offensichtlich nicht für Hermine d’Albert geschrieben worden, sondern für einen externen Leser. Mit seinem Ehrenwort und der Unterschrift garantierte Eugen d’Albert die Authentizität und damit die Originalität des Autographs. Die Ehetagebücher der d’Alberts erfüllten verschiedene Funktionen. Im Rahmen der eigenen und gegenseitigen Selbstbildung wirkten sie als Medium der 55 Vgl. ausführlich dazu die Kapitel Verzicht auf die eigene Karriere und Spiegelung I: Eugen und Hermine d’Albert in Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe (Anm. 5). 56 Vgl. Gesa Finke, »Inszenierungs- und Erinnerungsstrategien. Cosima Wagner als Witwe«, in: Wagner - Gender - Mythen, hg. von Christine Fornoff und Melanie Unseld, Würzburg 2015 (Wagner in der Diskussion, Bd. 13), S. 145–162. 57 Eugen d’Albert, undatiert, Tagebuch 19 (1908–09), (Anm. 17).

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Christine Fornoff-Petrowski

Ausgestaltung der Künstlerehe: einer Verbindung aus Genie und dem Genie ergebener Künstlergattin. Damit bezog sich das Paar auf den zeitgenössischen Diskurs zur Künstlerehe und integrierte dort etablierte Wissensordnungen in die Beziehungskonzeption. In der Annahme einer späteren Rezeption dienten die Tagebücher nicht zuletzt auch der Verortung der Ehe innerhalb des Diskurses und damit der Darstellung der Künstlerehe und Eugen d’Alberts als Komponisten-Genie.

Selbst | Inszenierungen

Anja Zimmermann

Bilder von Paaren Der Fall Krasner/Pollock

Einer geschlechterkritisch informierten Kunstgeschichte galten Paare bereits früh als »ideologische Konstruktion«.1 Bereits Ende der 90er Jahre beschrieb die Kunsthistorikerin Annegret Friedrich die »fatalen Konsequenzen […] zu denen das Denken in Paarstrukturen führen kann«, darunter z. B. allerlei »heterosexistische Zumutungen«.2 Angesichts eines Ausstellungs- und Publikationsbetriebs, in dem »das Paar« bis heute publikumswirksam als vermeintlich überzeitliche Doppelfigur kreativer Produktivität auftritt, ist es durchaus angeraten, die kritisch-distanzierten Einschätzungen der Geschlechterforschung nicht als erledigt abzuhaken.3 Denn noch immer werden traditionelle Erzählungen vom großen Künstler und seiner selbstredend weiblichen Muse fortgeführt. Eingebunden sind solche Erzählungen meist in die von der Kunstgeschichte lange geschätzten Frage des ›Einflusses‹, die sich in den kunsthistorischen Paarerzählungen oft fast ausschließlich auf die Frage konzentriert, wer sich an wem künstlerisch orien1

Annegret Friedrich, »Biographik im Doppelpack – einige polemische Bemerkungen zur Konjunktur des Künstlerpaares«, in: FrauenKunstWissenschaft 25 (1998), S. 6–15, hier: S. 13. 2 Ebd. 3 Weitere Beispiele für einige der Ausstellungen und Veröffentlichungen, die sich in den letzten Jahren des Themas angenommen haben: Sandor Kurthy und Ellen Landau (Hg.), Ausst.-Kat. Lee Krasner – Jackson Pollock, Künstlerpaare – Künstlerfreunde, 21.11.1989 – 4.2.1990 (Kunstmuseum Bern), Bern 1989; Kunstforum International: Befreiung zur Partnerschaft, Bd. 106, 1990; Kunstforum International: ›Male Couple‹ oder: der Künstler und sein Frauenopfer, Bd. 107, 1990; Whitney Chadwick, Signif icant Other: Creativity & Intimate Partnership, London 1993; Renate Berger (Hg.), Liebe macht Kunst: Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2000; Mark Gilbourne und Ulf Meyer zu Küningsdorf (Hg.), Double Act – Künstlerpaare, München u. a. 2007; Valeska von Rosen, Künstlerpaare anders: Die künstlerischen Anfänge der ›Malertöchter‹ und die Formung ihres Image. Prospero Fontana & Lavinia Fontana, Orazio Gentileschi & Artemisia Gentileschi, Heidelberg 2008; Tanja Buchholz, Von Genies und Musen: Künstlerpaare des 20. Jahrhunderts in bildender Kunst, Literatur und Theater, Göttingen 2009; Barbara Schaefer (Hg.), Ausst.-Kat. Künstlerpaare – Liebe, Kunst und Leidenschaft, 31.10.2008–8.2.2009, Ostfildern 2008 (Wallraff-Richartz-Museum. Köln); Ingried Brugger (Hg.), Ausst.-Kat. Liebe in Zeiten der Revolution. Künstlerpaare der russischen Avantgarde, 14.10.2015–31.1.2016, Heidelberg und Berlin 2015 (Bank Austria Kunstforum, Wien); Jenny Schrödl u. a. (Hg.), Kunst-Paare: Historische, ästhetische und politische Dimensionen, Berlin 2017; Karin Orchard (Hg.), Ella Bergmann-Michel und Robert Michel: Ein Künstlerpaar der Moderne: der Nachlass Robert Michel und Ella Bergmann-Michel, Köln 2018.

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tierte. Implizit damit verbunden ist die Frage nach ›Qualität‹: die Frage danach, wer von beiden das Genie sei.4 Während die kritische Forschung zum Paar in der Kunst, die weiter unten noch ausführlicher vorgestellt wird, solche Stereotypen inzwischen vielfach belegt hat, sind Bilder von Paaren innerhalb der kritischen Paarforschung bislang überraschend wenig berücksichtigt worden. Dabei spielen Visualisierungen eine, wenn nicht die entscheidende Rolle dabei, wie über Paare in der Kunst verhandelt wird. Das Zu-Sehen-Geben des Künstlerpaars konturiert und konstruiert die Einschreibung des jeweiligen Künstlerpaars ins kunsthistorische Narrativ. Ein Künstlerpaar ›ergibt‹ sich dabei nicht von selbst, weil etwa zufälligerweise zwei Menschen, die Künstler*innen sind, ein Paar werden. Vielmehr muss die Kunstgeschichte das Künstlerpaar erst in Bild-Text-Arrangements herstellen, in denen Werke und Körper auf ganz bestimmte Art aufeinander bezogen werden oder indem zum Beispiel auf ebenso spezifische Weise Abbildungen einzelner Kunstwerke mit Abbildungen kombiniert werden, die das Paar zeigen. Diese Arrangements sind weder voraussetzungs- noch folgenlos. Einerseits bauen sie auf traditionellen Vorstellungen des Zusammenhangs von Geschlecht und Kreativität auf.5 Andererseits tragen sie selbst dazu bei, dass sich bestimmte Auffassungen über das Verhältnis von künstlerischem Schaffen und Geschlechterdifferenz festigen. In beiderlei Hinsicht ist von einem asymmetrischen Bezug auszugehen: Während Männlichkeit und Künstlerschaft in einem affirmativen Verhältnis stehen, bestimmt ein großer Teil westlicher Ästhetik und Kunsttheorie weibliche Künstlerschaft als problematisch.6 Anders formuliert: Während die Fähigkeit von männlichen Künstlern, ›große‹ Kunst zu schaffen in der Theorie der Kunst und ihrer Geschichte niemals infrage gestellt wurde, wurden Künstlerinnen oft kritisch beäugt. So diskutierten Theoretiker wie Karl Scheffler (Die Frau und die Kunst, 1908) oder Hans Hildebrandt (Die Frau als Künstlerin, 1928) Anfang des 20.  Jahrhunderts intensiv darüber, ob Frauen überhaupt Künstlerinnen sein könnten oder ob es ihnen nicht – bedingt durch ihr Geschlecht – grundsätzlich

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Zur Kritik des Geniebegriffs aus Perspektive kunsthistorischer Geschlechterforschung vgl.: Kathrin Hoffmann-Curtius und Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997. 5 Vgl. hierzu: Maike Christadler, Kreativität und Geschlecht: Giorgio Vasaris ›Vite‹ und Sofonisba Anguissolas Selbst-Bilder, Berlin 2000. 6 Carola Muysers, »Institution und Geschlecht: Die Kunstgeschichte der Künstlerin als Theoriebildung«, in: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, hg. von Anja Zimmermann, Berlin 2006, S. 181–204, sowie: Ruth Nobs-Greter, Die Künstlerin und ihr Werk in der deutschsprachigen KunstGeschichtsschreibung, Zürich 1984.

Bilder von Paaren

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an Fähigkeit mangle, ›große‹ Kunst zu produzieren.7 Dieses, in der kunstgeschichtlichen Geschlechterforschung durch eine Fülle an Einzelstudien belegte Ungleichgewicht in der kulturellen Wahrnehmung der kreativen Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern hat auch Auswirkungen auf die Konstellation des Künstlerpaars.8 Wenn es sich um ein heterosexuelles Paare handelt (die erdrückende Mehrzahl an kunstgeschichtlicher Literatur widmet sich vornehmlich Frau-Mann-Beziehungen, blendet homosexuelle Beziehungen aus und fällt damit unter die anfangs erwähnten »heterosexistischen Zumutungen«), dann ist diesem Zusammenschluss von vornherein die geschilderte Asymmetrie eingeschrieben. Krasner/Pollock: ein Künstlerpaar der Moderne Asymmetrien in der Art und Weise, wie der weibliche und der männliche Teil eines heterosexuellen Künstlerpaars jeweils Teil des kunsthistorischen Kanons wird, lassen sich auf einer offensichtlichen Ebene schon allein am Umfang der ihnen zukommenden Aufmerksamkeit festmachen. Paare, bei denen der weibliche Part mehr davon bekommt, d. h. größere, häufigere Ausstellungen, höhere Preise auf dem Kunstmarkt erzielt, eine größere Anzahl an wissenschaftlicher Literatur anstößt etc., sind die Ausnahme.9 Bei manchen Künstlerpaaren scheint die Aufmerksamkeit recht ausgewogen verteilt, vor allem bei denjenigen, die gemeinsam Kunst produzieren, z. B. bei Anna und Bernhard Blume oder auch Bernd und Hilla Becher. So interessant und wichtig diese und ähnliche Beobachtungen sind10, so bilden sie doch nicht das Ziel des vorliegenden Textes, in dem es weder um den Nachweis einer ›unzureichenden‹ Würdigung des künstlerischen Beitrags von Künstlerinnen geht, die Teil eines Künstlerpaares sind, noch um den Beleg, wo diese im Detail ›weniger‹ (Aufmerksamkeit, Geld, Ausstellungen) als ihre männlichen Partner bekamen. Mein Beitrag zielt vielmehr 7 Karl Scheffler, Die Frau und die Kunst. Eine Studie, Berlin 1908; Hans Hildebrandt, Die Frau als Künstlerin, Berlin 1928. 8 Exemplarisch seien hier genannt: Anette Dorgerloh und Annegret Rittmann (Hg.): »Femme Fatale: Entwürfe«, FrauenKunstWissenschaft 19 (1995); Birgit Münch u. a. (Hg.), Künstlerinnen: neue Perspektiven auf ein Forschungsfeld der Vormoderne, Petersberg 2017. 9 Etwa bei Marina Abramović und ihrem (ehemaligen) Partner Ulay. Vgl. etwa repräsentative coffee table books wie: Kristine Stiles, Marina Abramovic, London 2008; Ausst.-Kat. The artist is present, hg. von Klaus Biesenbach, New York 2010 (Museum of Modern Art, New York, 14.3.-31.5.2010). 10 Vgl. die aufschlussreiche Studie von Künstlerinnen auf dem Kunstmarkt: Kathrin Hassler, Kunst und Gender. Zur Bedeutung von Geschlecht für die Einnahme von Spitzenpositionen im Kunstfeld, Bielefeld 2017.

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auf die oben erwähnten Verhandlungs- und Produktionsorte des Künstlerpaars im Bild, also auf die Frage, wie dort das entsteht, was die Kunstgeschichtsschreibung als ›Künstlerpaar‹ beschreibt, wie der Begriff des Künstlerpaars die Art und Weise beeinflusst, in der über Kunst nachgedacht wird und wie sich die beschriebenen Asymmetrien der Geschlechter in und über Bilder fortsetzen – womöglich aber auch subvertiert werden können. Beginnen wir mit einer Fotografie aus den 50er Jahren, die ein Künstlerpaar zeigt: Jackson Pollock und Lee Krasner (Abb. 1). Zu sehen ist Jackson Pollock, Hauptakteur des abstrakten Expressionismus, und seine Frau, Lee Krasner, ebenfalls Malerin. Oder, noch einmal: Lee Krasner, eine der »einflussreichsten Künstlerinnen des abstrakten Expressionismus«11 zusammen mit ihrem Mann, Jackson Pollock, ebenfalls »bedeutender Vertreter des abstrakten Expressio­nis­ mus«12. Oder, ein drittes Mal: das Künstlerpaar Krasner und Pollock, beide wichtige Vertreter*innen des abstrakten Expressionismus. Oder: Zu-Sehen-Gegeben wird das Paar im Rahmen des Covers eines Ausstellungskatalogs, der »Künstlerpaare« und »Künstlerfreunde« ankündigt.13 Die Sprache setzt den Rahmen, in dem die beiden Personen die Bühne betreten, und bestimmt so maßgeblich das kunsthistorische Narrativ. Unterschiedliche Formulierungen weisen Orten unterschiedliche Bedeutung zu und setzen die beiden Personen in jeweils unterschiedlich gewichtete Beziehung zueinander. Diese zunächst womöglich wenig spektakulär anmutende Erkenntnis soll hier explizit gemacht werden, weil sie insbesondere beim Blick auf Fotografien leicht in Vergessenheit gerät, aber für visuelle Repräsentationen eines Paares ebenso wie für semantische gilt. Gleichwohl wird Fotografien, die für Künstlerpaare der Moderne eine wichtige Rolle spielen, zugeschrieben, das Leben des Paars besonders wahrheitsgetreu dokumentieren zu können. Gerade Fotografien erfüllen nicht selten die Funktion, über den sogenannten Alltag eines Paares, darüber, wie es jenseits der Kunstproduktion als Paar agierte, Auskunft geben zu können. Sie erscheinen auf dem Frontispiz von Kunstbänden, als Rahmung und visuelle Einleitung ins Thema. Auch wenn Fotografien von Künstlerpaaren als Dokument einer künstlerischen Praxis verstanden werden, wie etwa im Fall von Atelierfotografien, wird ihnen, wie bereits erwähnt, in der kunsthistorischen Paarliteratur selten dieselbe kritische Aufmerksamkeit entgegengebracht wie den Kunstwerken und dies, obwohl sie großen Anteil an den Deutungen der Kunstwerke haben. Ihre scheinbare Beiläufigkeit verführt dazu, sie einer Lesart 11 https://de.wikipedia.org/wiki/Lee_Krasner (abgerufen am: 17. Dezember 2019). 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Jackson_Pollock (abgerufen am: 17. Dezember 2019). 13 Kurthy und Landau (Hg.), Ausst.-Kat. Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfreunde (Anm. 3).

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Abb. 1: Katalogcover 1989: Pollock und Krasner treten als Paar auf – allerdings ist nur er als Künstler sichtbar. Krasner schaut zu.

der Evidenz einzuverleiben, in der die Fotos immer schon zu belegen scheinen, was der wissenschaftliche (Katalog-)Text behauptet. Die hier abgebildete Fotografie (Abb. 1) ist Teil eines vergleichsweise großen Konvoluts an Fotografien, die der Fotograf Hans Namuth am Wohn- und Arbeitsort von Krasner und Pollock in Springs, Long Island, anfertigte.14 Die Mehrzahl dieser Fotografien zeigen Pollock, meist bei der Arbeit an seinen großformatigen Leinwänden, die er am Boden liegend mit Farbe versah. Doch es gibt auch eine Reihe von Bildern, auf denen sowohl Pollock als auch Krasner 14 Carolyn Kinder Carr, Hans Namuth Portraits, Washington 1999; Michael Schreyach, »Intention and Interpretation in Hans Namuth’s Film, Jackson Pollock«, in: Forum for Modern Language Studies 48/4 (2012), S. 437–452; Francis V. O’Connor, »Hans Namuth’s Photographs of Jackson Pollock as Art Historical Documentation«, in: Art Journal 39/1 (1979), S. 48; Paul Schimmel (Hg.), Ausst.Kat.: Out of Actions: Zwischen Performance und Objekt, Ostfildern 1998 (MAK, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, 17.06–06.09.1998).

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dargestellt sind und einige wenige, auf denen nur Lee Krasner zu sehen ist. In der Literatur wurden und werden fast ausschließlich jene Fotografien Namuths intensiv genutzt, die Pollock bei der Arbeit an seinen Bildern zeigen und sie wurden, anders als der Rest der Fotografien, als ernstzunehmender, eigenständiger Beitrag der Deutungsgeschichte von Pollocks Werk analysiert.15 So wurde gezeigt, inwiefern ein Verständnis des abstrakten Expressionismus als ›direkter Ausdruck‹ des Inneren des Künstlers mit den Fotografien Namuths zusammenhängt, die die dramatische Interaktion von Künstler und Leinwand in einer Fülle von Einzelfotografien reproduzieren, die auf Bewegung und Aktion hin ausgerichtet sind. Auf strukturell vergleichbare Weise funktionieren jedoch auch die anderen, in der Forschung bislang hauptsächlich in illustrierender Funktion verwendeten Fotografien, die Pollock und Krasner zusammen zeigen. Auch in und mit ihnen werden Deutungen der Werke beider Künstler*innen produziert. Vor allem aber wird durch sie die Figur des Künstlerpaars als zentraler Begriff dieser Deutungen wirksam: Auf den Bildern erkennen wir die Bedeutung des Paares in Hinblick auf den künstlerischen Prozess auf eine eingängige Weise; in BildText-Arrangements werden dadurch Erzählungen über den Zusammenhang von Paar und Kreativität in Gang gesetzt, die ohne visuelle Unterfütterung kaum funktionieren würden. Besondere Auswirkungen hat diese Bilderpolitik16 auf den weiblichen Part des Paares, in diesem Fall Krasner. Ihre Künstlerinnenschaft wird auf eine Weise in und durch ihr Teil-eines-Paar-Seins bestimmt, wie das bei Pollock nicht der Fall ist. Anne Wagner hat in ihrer exemplarischen Untersuchung der Lebenswege dreier Künstlerinnen der Moderne, darunter auch Lee Krasner, festgestellt, dass »some brand of marriage – as long as it was marriage to an artist – emerges as a circumstance central to artistic success for women«.17 Diese für Frauen in anderer Weise als für Männer wirksamen Effekte einer Paarkonstellation, in der der Partner ebenfalls Anspruch auf künstlerischen Ruhm erhebt, lassen sich nicht zuletzt mit Fotografien wie der hier abgebildeten in Zusammenhang bringen. So unternahm das Kunstmuseum Bern 1990 eine mehrteilige Ausstellungsreihe, die dem Thema Künstlerpaare gewidmet war.18 Eine der Ausstellungen 15 Vgl. Paul Schimmel (Hg.), Ausst.-Kat. Out of Actions (Anm. 14). 16 Nicht im Sinne einer voluntaristischen Lenkung oder gar ›Verschwörung‹, sondern in Hinblick auf politische und soziale Wirkungen und Effekte von Bildern. Vgl. z. B. Linda Hentschel, Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008; Ulrich Johannes Schneider, »Bilderpolitik. Michel Foucault (1927–1984)«, in: Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Portraits, hg. von Jörg Probst, Frankfurt a. M. 2009, S. 117–136. 17 Anne M. Wagner, Three Artists (Three Women). Modernism and the Art of Hesse, Krasner, and O’Keeffe, Berkeley u. a. 1996, S. 11. 18 Kurthy und Landau (Hg.), Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfreunde (Anm. 3).

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beschäftigte sich mit Krasner und Pollock und machte dabei ausgiebigen Gebrauch von den zahlreichen Fotografien des Paares, so auch beim hier gezeigten Coverbild des Katalogs. Der in der Fotografie dokumentierte Gegensatz zwischen der Bewegungslosigkeit Krasners und der extremen Bewegung Pollocks ist insofern nicht ganz unbedeutend, bedenkt man die oben erwähnte Rolle, die die Visualisierung von Agilität und Performativität des Malvorgangs in Hinblick auf die Deutung des Abstrakten Expressionismus als direktem Ausdruck von Gefühl, Emotion und Spontaneität hatte. Krasner fällt durch dieses Titelbild aus dieser Narration visuell heraus. Es ist, nahegelegt durch die Fotografie, Pollock, der als Künstler des Abstrakten Expressionismus ›aus dem Inneren‹ zu schaffen vermag, Gefühle nicht ›ausdrückt‹, sondern gleichsam unmittelbar auf die Leinwand zu übertragen weiß. Und es ist Krasner, die ihm dabei zunächst einmal nur zusieht. Ein Kunstwerk Krasners ist auf dem Cover des Katalogs folglich auch nicht zu sehen. Visuell wird damit eine Denkfigur befördert, die sich auch in der Literatur zu diesem Paar findet, z. B. wenn Krasners und Pollocks künstlerische Verdienste wie folgt kontrastierend charakterisiert werden: »Krasners Schaffen offenbart eine enge Bindung an die europäischen Traditionen […].« Pollocks Werk scheint »sich hingegen in erster Linie aus sich selbst heraus zu entwickeln«.19 Es sind hier subtile Hierarchisierungen, Zuweisungen von Bedeutung und Lesarten künstlerischer Werke wirksam, die – das sei hier noch einmal explizit betont – weder einer eindeutigen Strategie folgen noch im Sinne einer gezielten Abwertung weiblicher Kunstproduktion von den Beteiligten ›eingesetzt‹ werden. Das bedeutet, dass bestimmte Wirkungen des kunsthistorischen Narrativs vom Paar, das hier als Teil einer Bild-Text-Struktur untersucht wird, weder ›beabsichtigt‹ noch unbedingt als solche überhaupt erkannt werden mussten. Gerade der Berner Katalog, dessen Cover einen malenden Pollock und eine daneben sitzende Krasner zeigte, hatte sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, die Tatsache, »dass das künstlerische Werk der Frau während der Zeit ihrer Beziehung oder während des ganzen Lebens« gegenüber dem Werk ihres männlichen Gefährten »im Hintergrund steht« zu problematisieren.20 Der Katalog wollte dem etwas entgegensetzen und das Werk Krasners gezielt ins kunsthistorische Rampenlicht rücken. Bereits die ersten Abbildungen zeigen daher konsequent Arbeiten von beiden. Anstatt von einer einseitigen Beeinflussung Krasners durch Pollock auszugehen, spricht der Katalog von »gegenseitige[r] Bereicherung« und einem »Dialog«.21 19 Barbara Schaefer (Hg.), Ausst.Kat. Künstlerpaare. Liebe, Kunst und Leidenschaft (Anm. 3), S. 336. 20 Kurthy und Landau (Hg.), Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfreunde (Anm. 3), S. 11. 21 Ebd., S. 9.

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Fraglich jedoch ist, inwieweit damit ein für Künstlerinnen problematisches Konstrukt aufgebrochen werden kann, durch das sie zwar die Möglichkeit erhalten, mit ihrem künstlerischen Werk sichtbar zu werden, aber zugleich auch auf eine Weise als Teil eines Paares wahrgenommen werden, die für männliche Künstler keine Rolle spielt. Auch in besagtem Katalog, der sich um eine stärkere Beachtung Krasners bemüht, treten beide zwischen dem Pol des »Genie[s| Pollocks« und Krasners »Rolle der Zweiten, der Helferin« auf, die diese jedoch »freiwillig gewählt« habe.22 Die Rede von der »Freiwilligkeit«, mit der sich Krasner in die subalterne Rolle der »Zweiten« gefügt habe, verschleiert jedoch die vielfältigen strukturellen Bedingungen, die zu dieser (Selbst-)Positionierung geführt haben mögen, wenn es denn so gewesen sein sollte, bzw. blendet die Wirkungen solcher Beschreibungen auf die Wahrnehmung der künstlerischen Arbeit Krasners aus. Herstellung eines Paares in zwei (und noch mehr) Bildern: ein Beispiel Wie aber werden Fotografien genau eingesetzt, um im genannten Sinn ein Paar ›herzustellen‹? Und inwiefern ›zeigen‹ die Fotografien nicht einfach, was ›war‹, sondern sind ›bestechliche‹ Quellen, wenn es um die Rekonstruktion von Leben und Werk eines berühmten Künstlerpaars geht?23 Dazu lohnt es sich, einen intensiveren Blick auf Auswahl, Platzierung und Kommentierung erwähnter Fotografien zu werfen, um zu erkennen, inwiefern durch diese Komponenten eine bestimmte Paarerzählung in Gang gesetzt wird, die so, aber auch ganz anders hätte ausfallen können – ein Beispiel für den Versuch einer ganz anderen Rahmung werde ich am Ende dieses Beitrags vorstellen. Zunächst soll es aber um vielfach reproduzierte und daher besonders wirksame Erzählmuster gehen, die aus zwei Künstler*innen ein Künstlerpaar machen. Gleich auf den allerersten Seiten des Berner Katalogs sind zwei Fotografien einander gegenübergestellt, die einmal Pollock, einmal Krasner zeigen (Abb. 2). Beide kannten sich zum Zeitpunkt der Aufnahmen der jeweiligen Fotografie noch nicht, waren also auch (noch) kein Paar. Die linke Fotografie zeigt den ca. 16-jährigen Pollock auf dem elterlichen Hof, rechts ist eine Fotografie Krasners als junge Studentin der Hofmann Art School zu sehen. Die linke Fotografie, Pollock, wurde jedoch in einem wichtigen Punkt gegenüber dem Original verändert: Sie ist im Katalog seitenverkehrt abgebildet. Pollock blickt nun also nach rechts statt, wie in der ursprünglichen Fotografie, nach links. Dieser Kunstgriff 22 Ebd., S. 12. 23 Vgl. allgemein zum Dokumentationsanspruch von Fotografien: Renate Wöhrer (Hg.), Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin 2015.

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Abb. 2: Auftritt des Paares Pollock/Krasner – das zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gar keines war.

war nötig, damit Pollock zu Krasner ›hinüberblickt‹ und sich nicht von ihr ›abwendet‹. Krasner und Pollock werden so – indem sie sich in der Anordnung der Fotografien im Katalog vermeintlich ansehen – visuell zu einem Paar, das es, historisch gesehen, (noch) gar nicht gab. Das making of des Paares Pollock/Krasner stützt sich aber noch auf eine weitere Bild-Text-Kombination, die den Unterbau traditioneller kunsthistorischer Wissensproduktion bildet: der Werkvergleich, der in der sogenannten »Doppelprojektion« zum Standard kunsthistorischer Vorträge und Vorlesungen avancierte.24 Hier verdoppelt ein solcher Werkvergleich gleichsam die Paarkonstellation, 24 Vgl. Costanza Caraffa (Hg.), Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte, Berlin 2009; Barbara Schrödl, »Die Kunstgeschichte und ihre Bildmedien. Der Einsatz von Fotografie und Film zur Repräsentation von Kunst und die Etablierung einer jungen akademischen Disziplin«, in: Sicht-

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Abb. 3: Wie aus Bildern Paare und aus Paaren Bilder werden: Gegenüberstellung zweier Werke von Pollock und Krasner.

um die es im Buch insgesamt geht, denn jeweils zwei Werke werden, dem in der Gegenüberstellung der beiden Portraitfotos etablierten Bildmuster folgend, auf jeweils einer Seite oder auf einer Doppelseite einander gegenübergestellt. Es findet sich übrigens kaum eine Publikation über Paare in der Bildenden Kunst, die nicht von diesem Bildschema Gebrauch machen würde; aus Künstlerpaaren werden Bilderpaare und umgekehrt. Den Auftakt der Werkdopplungen im Berner Katalog machen zwei Selbstbildnisse, links eines von Krasner, rechts eines von Pollock. Beide Arbeiten stammen aus dem Jahr 1930 und in der Dopplung erscheinen sie, ähnlich wie die beiden Portraitfotos zu Beginn des Buches, wiederum als imaginärer Anfangspunkt der künstlerischen Paarwerdung – imaginär auch hier, denn 1930 kannten sich Krasner und Pollock noch nicht und waren folglich auch kein Paar. Die Zusammenstellung der beiden Selbstbildnisse legt jedoch einen gemeinsamen künstlerischen Anfangspunkt des jeweiligen Werks nahe, der mit dem ersten Selbstportrait zugleich auch eine sich erst in der Zukunft erfüllende Paarkonstellation miteinschließt (Abb. 3). Auch in den weiteren Zusammenstellungen wird dieses Muster beibehalten. So werden, geordnet nach Sujets wie Natur, Akt oder Darstellungen von Industriearchitektur, auf den folgenden Seiten immer jeweils zwei Werke, einmal von Krasner und einmal von Pollock, einander gegenübergestellt. Die Doppelpräsentationen der Werke, die konsequent auf visuelle Ähnlichkeiten hin ausgewählt sind, erfüllen vor allem eine Funktion: Sie entfachen und befriedigen zugleich bei den Betrachtenden das Verlangen nach der Suche von Einflüssen, Ähnlichkeiten und Qualität. Die hier über Kunstwerke hergestellte Paarkonstellation, barkeit und Medium: Austausch, Verknüpfung und Differenz naturwissenschaftlicher und ästhetischer Bildstrategie, hg. von Anja Zimmermann, Hamburg 2005, S. 151–168.

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Abb. 4: Krasner mit Ehemann – obwohl dieser schon lange nicht mehr lebt, wird sie immer noch als Teil eines (Ehe-)Paars präsentiert.

bei der Bildpaare für das Künstlerpaar stehen, funktioniert jedoch nur über Ausblendung anderer ›Paare‹ und Beziehungen, z. B. zu Werken anderer Künstler*innen, mit denen beide in Austausch standen. Auch Netzwerke sind im Kosmos des Paares hier nicht vorgesehen. Der Reiz des Bildpaars der Werke, das als Spiegel und Konstruktionsfläche des realen Paares dient, liegt gerade in der Eröffnung eines scheinbar zwanglosen Hin- und Hergleitens zwischen beidem, ohne dass deren Verhältnis analytisch geklärt werden müsste. Schnell können daher aus den Bilderszenarien ›Szenen einer Ehe‹ werden, wie z. B. in einer Geschichte der Zeitschrift ARTnews aus dem Jahr 1981 (Abb. 4). Zu dieser Zeit ist Pollock bereits seit über zwanzig Jahren tot. Das Cover des Heftes vermittelt jedoch den Eindruck eines immer noch bestehenden, wenn auch distanziert nebeneinanderstehenden Paares; Krasner buchstäblich in der Ecke, mit dem Rücken zur Wand. Unterstützt wird diese Wahrnehmung durch eine Bild-Text-Kombination, denn die Formulierung ›Szenen einer Ehe‹ verweist auf Ingmar Bergmans gleichnamigen Film und legt allein schon dadurch eine komplizierte Beziehung nahe. Warum Krasner, eine Künstlerin, die wie im Text zu lesen ist, Einzelausstellungen in San Francisco und im New Yorker MoMA bestreitet, vor allem über ihre damals bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegende Ehe berichten soll, bleibt zunächst unklar. Dieser merkwürdige

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Umstand lässt sich nur dadurch erklären, dass die künstlerische Leistung von Frauen in heterosexuellen Paarkonstellationen zu einem signifikanten Teil erst durch das – auch visuell etablierte – Narrativ des Paares überhaupt sichtbar werden kann. Denn die vermeintliche Erzählung Krasners über ihre Ehe bildet hier die Voraussetzung, um über ihr Werk sprechen zu können. Und dies, das sei noch einmal angemerkt, Jahrzehnte nachdem die Ehe durch den Tod Pollocks beendet war. Paarkonstellation als Bedingung und Möglichkeit von Künstlerinnenschaft Könnte man aber nicht auch entgegenhalten, dass Krasner noch Jahre nach Pollocks Tod von dessen Berühmtheit profitierte? Dass ihre Karriere durch ihre Ehe mit dem berühmten Maler befördert wurde? Dass wir es, so betrachtet, mit einer glücklichen und für alle Beteiligten positiven Situation zu tun haben? Durch die Überschrift dieses Abschnitts scheint eine solche Lesart durchaus plausibel. Tatsächlich aber muss genau andersherum argumentiert werden. Denn die Art und Weise, in der eine Künstlerin wie Krasner Teil der Kunstgeschichtsschreibung wird, legt nahe, dass ihre künstlerische Arbeit, d. h. Krasner als Künstlerin, in den kunsthistorischen Erzählungen immer nur aus der Perspektive der Paarbeziehung ins Bild rückt und dadurch eine Wahrnehmung ihrer Leistungen jenseits der Paarerzählung erschwert wird. Um dies zu verstehen, hilft ein Blick auf weitere Atelierfotografien und ihre Nutzung in den Texten über Krasner und Pollock. Atelierfotografien gelangten in der Moderne und vor allem in der Kunst nach 1945 längst über den Status eines ergänzenden oder illustrierenden Beiwerks hinaus und sind stattdessen zu einem eigenen Genre geworden, das für die Deutung der Werke eine wichtige Rolle spielt.25 In den Atelierbildern des Künstlerpaars verbinden sich visuell jene beiden Sphären, um die das Paarthema nicht nur in der Kunstgeschichte kreist, nämlich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Paar- und dem Künstler-Sein, d. h. dem Zusammenhang zwischen Partnerschaft und Künstlerschaft, wie ihn auch der erwähnte Artikel der Zeitschrift ARTNews forcierte. Beide Aspekte scheinen im gemeinsamen Atelierfoto visuell in eins gebracht, indem es suggeriert, den genannten Zusammenhang immer schon visuell belegen zu können. Es ist dabei auffällig, dass sich die Atelier-Literatur zu den Künstlerpaaren der Moderne zum Großteil auf den männlichen Part konzentriert. Auch für 25 Michael Diers (Hg.), Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform, Berlin 2010 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 7).

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Abb. 5: Pollock als »Privatmann« …

Pollock und Krasner liegen, entsprechend der Wirkung und Rezeption beider, wesentlich mehr Fotografien vor, die im Atelier Pollocks aufgenommen wurden. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Paarthema dort keine Rolle spielen würde; es wird implizit mitverhandelt. So erschien 1978 eine Publikation mit dem Titel L’Atelier de Jackson Pollock, die eine Auswahl von Fotografien Namuths mit Texten von Pollock, einem Interview mit Krasner (nota bene zum Thema Pollock), sowie zwei kunsthistorische Essays enthält. Der Titel des Buches, Das Atelier Jackson Pollocks, verheißt nicht nur Einblicke in den Arbeitsort des Künstlers, sondern beschwört gleichsam Zugang zum kreativen Prozess selbst. »Künstlerateliers als Kunstprogramm« hat Ekkehard Mai diese Verbindung von künstlerischer Werkstatt und ästhetischer Programmatik genannt.26 Der Verbindung beider dienen Fotografien, wie sie auch in L’Atelier de Jackson Pollock versammelt sind. Zwei Besonderheiten zeichnen sie aus. Zum einen sind es keineswegs nur Atelierbilder, die gezeigt werden, sondern auch noch eine ganze Reihe von an-

26 Ekkehard Mai, »Künstlerateliers als Kunstprogramm – Werkstatt heute«, in: Das Kunstwerk 37 (1984), S. 7–44.

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deren Themen und Szenen, die Pollock und/oder Krasner dezidiert außerhalb des Ateliers zeigen (Abb. 5). So sehen wir Pollock z. B. in seinem Auto, einem Ford Model T, oder ›einfach‹ in der Wiese sitzend. Zweitens ist das Atelier Jackson Pollocks ganz offensichtlich auch der Ort, an dem Krasner auftaucht, ein Ort also, an dem Pollock als Teil eines Künstlerpaars zu sehen gegeben wird. Alle diese Bilder erzählen Geschichten über den Künstler zwischen produktiver Tätigkeit im Atelier und dem sogenannten alltäglichen Leben auf dem Land und führen Künstler-Sein zugleich auf und vor. In den Fotografien wird Künstlerschaft damit zur Anschauung als etwas gebracht, das sich in Handlungen, an konkreten Orten, in bestimmten Situationen ereignet und als etwas, das sich gerade nicht nur an der Existenz eines Kunstwerks ablesen lässt. Zum »Atelier Jackson Pollocks« gehört dabei offensichtlich auch Lee Krasner. Sie taucht im Buch an mehreren Stellen auf. Zunächst in einer Fotografie aus der Serie der Atelierbilder, die Namuth in Pollocks Atelier gefertigt hatte, diesmal jedoch ohne Pollock. Auch unter den erwähnten ›Alltagsfotografien‹ finden sich mehrere, auf denen Krasner zu sehen ist (Abb. 6). Was aber ist die Funktion dieser Fotografien Krasners in einem Buch über Pollocks Atelier? Und warum wurden gerade diese ausgewählt? Die These lautet, dass die Einbindung der Fotografien Krasners zugleich die Figur des Paares in die Repräsentation Pollocks integriert. Andersherum funktioniert dies jedoch nicht, d. h. die visuelle Beglaubigung des Paar-Seins hat für Krasners professionelle Wahrnehmung andere Auswirkungen als für Pollocks. ›Krasner-im Bild‹ stellt eine Art visuellen Resonanzboden für Pollocks KünstlerSein dar, das in den Fotografien seines Schaffens bezeugt wird. Dadurch aber, dass Krasner hier konsequent gerade nicht als Künstlerin, also z. B. in ihrem Atelier, sondern als Gefährtin des Künstlers gezeigt wird, ist ein Erzählmuster aktiviert, das in popularisierter Form in Publikationen zum Thema Künstlerpaare bis heute gewinnbringend ausgeschlachtet wird. Als Beispiel hierfür sei auf einen erst vor einigen Jahren erschienen Bildband mit dem bezeichnenden Titel Er, ich & die Kunst: Die Frauen der Künstler verwiesen.27 Mit dem saloppen Et-Zeichen und der Verwendung des Wortes »ich« wird suggeriert, »die Frauen« berichteten unmittelbar selbst private Details ihrer Beziehung zu den Großen der Kunst. Die sogenannten Frauen der Künstler, von denen hier die Rede ist, sind dabei, ebenso wie Krasner, übrigens nicht selten selber Künstlerinnen, z. B. Charlotte Berend-Corinth, was in der genannten Publikation aber nicht sichtbar wird. Stattdessen sind die Frauen Frauen und die Männer sind Künstler (weshalb es 27 Ulrike Halbe-Bauer und Brigitta Neumeister-Taroni, Er, ich & die Kunst: Die Frauen der Künstler, Stuttgart 2010.

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Abb. 6: … und als Teil des Paares Pollock-Krasner.

ein Buch mit dem Titel Sie, ich & die Kunst: Die Männer der Künstlerinnen wohl nie in die Buchhandlungen schaffen wird). Denn nicht nur hier scheint zu gelten: Es gibt bei Künstlerpaaren die großen Künstler, die nichts ›sind‹, sondern etwas ›tun‹ und ihre weiblichen Gefährtinnen, die nichts ›tun‹, aber dafür etwas ›sind‹: z. B. ›geliebtes Modell‹, ›Partnerin‹ oder, wie eh und je, ›Muse‹, wie sie das Inhaltsverzeichnis des Bandes jeweils auflistet. Dieses Beispiel führt auf besonders krasse Weise einige der Stereotypen und Mythen vor Augen, mit denen auf anderer Ebene auch die seriösere Kunstgeschichtsschreibung des Künstlerpaares zu kämpfen hat, wenn sie ein Narrativ anstrebt, das Fragen des Einflusses abschütteln möchte und stattdessen eher nach »kreativer Ergänzung«28, »kreativer Bereicherung« oder dem ebenfalls beliebten »Dialog«29 fragt, andererseits aber doch unfreiwillig Geschlechtermythen bedient, durch die Künstlerinnen auffällig anders als Teil eines Paares wahrgenommen werden als ihre männlichen Gefährten.

28 Buchholz, Von Genies und Musen (Anm. 3), S. 58. 29 Sandor Kurthy: »Künstlerpaare – Künstlerfreunde«, in: Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfeunde, hg. von dems. und Ellen Landau (Anm. 3), S. 9–12, hier: S. 9.

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Abb. 7: Eine der seltenen Fotoserien Hans Namuths, die Lee Krasner in ihrem Atelier zeigen: Inszenierung eines Verschwindens hinter Bildern.

Dies wird noch deutlicher, wenn wir uns jene Fotografien Hans Namuths ansehen, die in Krasners Atelier aufgenommen wurden und die Künstlerin dort mit ihren Werken zeigen. Diese ausgesprochen selten reproduzierten Fotografien sind, so ist anzunehmen, nicht dazu geeignet, in vergleichbarer Art einen Künstlermythos zu bedienen wie jene, die Pollock zeigen (Abb. 7). Anders als bei Pollock steht bei der Repräsentation Krasners in ihrem Atelier nicht der kreative Prozess im Vordergrund, der bei den Fotografien, die Pollock zeigen, um den sich im Raum bewegenden Körper des Künstlers kreiste, sondern ganz im Gegenteil scheint hier eher das Verschwinden der Künstlerin in ihrem Werk visualisiert zu werden. Auf einigen der Bilder ist Krasner zwar noch zwischen den von ihr gemalten Bildern, die sie später zerstörte, zu sehen. Doch scheint die Künstlerin zugleich auch zwischen ihnen zu verschwinden, bis hin zum Bild im ersten Register, auf dem ihr Körper fast vollständig von der Leinwand bedeckt ist. Das Atelierfoto, das die Performanz des Künstler-Seins in der Moderne so maßgeblich mitbestimmt, hält, so lässt sich daher konstatieren, für Künstlerpaare geschlechtsspezifische Modi bereit. Die Erzählungen über künstlerische Größe,

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Leistung, aber auch Tragik ereignen sich maßgeblich in und über Bilder, in denen die Konstellationen zwischen dem Werk, dem Paar-Sein und der künstlerischen Einzelleistung justiert werden. Für die bildenden Künstlerinnen der Moderne war das Paar-Sein dabei durchaus nicht ungefährlich. Ihre Möglichkeiten, sich dem Kanon einzuschreiben, war umrahmt und begrenzt durch die hier vorgestellten Muster, in denen die Kunstgeschichte Bilder und Texte über ihre Held*innen produziert. Während für Pollock das Paar-Sein in dem hier vorgestellten Beispiel über Fotografien scheinbar umstandslos in die Repräsentation seiner Künstlerschaft eingebettet ist, indem einige wenige Fotografien Lee Krasner zeigen – aber wohlgemerkt eben gerade nicht als Künstlerin, sondern als »Frau an seiner Seite« – stellt sich die Situation bei Krasner anders dar. Ihr Status als Teil des Paars Krasner/Pollock findet visuell größtenteils jenseits ihrer Künstlerschaft statt. Fotografien, die sie bei der Arbeit an ihren Bildern zeigen, datieren vor allem aus der Zeit vor Pollock bzw. aus der Zeit nach seinem Tod. Zugespitzt lässt sich formulieren: Er wird durch sie Teil eines Paares und bleibt trotzdem unabhängiges Genie; sie ist schon immer der andere Teil eines Paares, wie die von ihr zirkulierenden Repräsentationen dies nahelegen: angefangen von den Einzelportraits, die Krasner in Pollocks Atelier zeigen, über Fotografien, die beide dezidiert außerhalb des Ateliers als Paar vorführen bis hin zu den Atelierbildern Krasners, in denen sie förmlich hinter den Gemälden verschwindet, die sie bald darauf zerstören wird. Künstler*innenkritik am Künstlerpaar So sehr Teile der Kunstgeschichtsschreibung und ihrer Bildproduktion stillschweigend dazu beitragen, dass der Blick auf das Künstlerpaar Geschlechterhierarchien reproduziert, so deutliche Wege finden Künstler*innen, diese Erzählmuster zu demaskieren und dekonstruieren.30 Die schwedische Comiczeichnerin Liv Strömquist zeichnet 2019 einen Comic über Krasner, der den Titel Jackson Pollocks Frau trägt (Abb. 8).31 Eingeleitet mit einem ganzseitigen Titelblatt, auf dem zwischen locker verteilten blattartigen Formen die Buchstaben gleich einem Vexierbild zu verschwinden drohen, verschwindet auch in der Formulierung ›Jackson Pollocks Frau‹ diejenige, um die es eigentlich geht: Lee Krasner. Strömquist bearbeitet in dem Band I’m Every Woman, in dem sich der Beitrag zu Krasner findet, eine ganze Reihe von berühmten Paaren und ihren Mythen. Von Picasso und »seinen 30 Eine Vielzahl an Beispielen finden sich in: Schrödl u. a. (Hg.), Kunst-Paare (Anm. 3). 31 Liv Strömquist, I’m every Woman, Berlin 2019, S. 69–74.

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Abb. 8: Liv Strömquists Comic über »Jackson Pollocks Frau« nimmt die asymmetrische Rezeption der Künstlerin kritisch auf (2019).

Frauen« (»Frauen umschwärmten Picasso wie Fliegen einen alten Brie«32) bis hin zu Yoko Ono (und John Lennon). Strömquist legt den Fokus auf die Effekte eines männlichen Geniemythos, dessen sich Künstlerinnen nicht bedienen konnten, der aber gerade dadurch Einfluss auf ihr eigenes künstlerisches Schaffen hat. Seinen unterschiedlichen Auswirkungen auf Pollock und Krasner geht Strömquist in mehreren Einzelbildern nach: Sei es eine Ausstellungssituation, in der Pollock in der Bildmitte steht, versehen mit einem durch einige Striche angedeuteten Heiligenschein, während Krasner am Bildrand »Schnittchen« anbietet (Abb. 9), sei es, indem die Arbeitsorte und -weisen der beiden Künstler*innen bildlich hierarchisiert werden (Abb. 10). In einem weiteren Bild schwebt Pollock über der Leinwand (die strichartigen Heiligenscheinabbreviaturen des vorangehenden Bildes tauchen hier in Form von Bewegung anzeigenden Linien neben Pollock wieder auf ). In der unterhalb rechts abgeteilten Ecke kniet Krasner, vor schwarzem Hintergrund, über einer kleinformatigen Arbeit. Zwei Sprechblasen machen die unterschiedliche Wertung deutlich: »Verdammt, wird das GUT!!!« ruft Pollock aus seinem überdimensionierten Mund; »Verdammt, ist das SCHLECHT!!!« macht Krasner ihre 32 Strömquist, I’m Every Woman (Anm. 31), S. 14.

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Abb. 9: Die unterschiedlichen Rollen des Paares Pollock/Krasner aus der Sicht der ComicZeichnerin Liv Strömquist (2019).

Abb. 10: Alternative Bilder des Künstlerpaars als Teil der Dekonstruktion des Geniemythos (2019).

eigene Arbeit nieder. Erst nach dem Tod Pollocks zieht Krasner in Pollocks große Atelierscheune, arbeitet dort und wird in den kommenden Jahren als Künstlerin zunehmend sichtbar, was in Strömquists Comic in einem eigenen Panel thematisiert wird. Der Titel des Comics, »Jackson Pollocks Frau«, der auf die Fallstricke der Situiertheit einer Künstlerin in einer heteronormativen Paarkonstellation hinweist, korrespondiert überraschend direkt mit der zeitgenössischen Wahrnehmung der Künstlerin: So bestritten Pollock und Krasner 1949 unter dem Titel »Artists: Man and Wife« gemeinsam eine Ausstellung in der New Yorker Sidney Janis Gallery. Die parallele Präsentation, die aus dem Ehepaar ein Künstlerpaar und vice versa machte, förderte schon damals eine Rezeptionshaltung, die auf einen hierarchisierenden Vergleich aus war. Die von Strömquist

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satirisch zugespitzte Rolle Krasners ist somit historisch belegbar, wie folgendes Zitat aus dem Ausstellungskatalog zeigt: There is also a tendency among some of these wives to ›tidy up‹ their husbands’ styles. Lee Krasner (Mrs. Jackson Pollock) takes her husband’s paints and enamels and changes his unrestrained, sweeping lines into neat little squares and triangles.33

Das Interesse an Paaren in der bildenden Kunst muss daher gekoppelt sein mit einer Analyse der Wirkungen und Effekte von Paarerzählungen, die angesichts ihrer vielfältigen Verstrickungen in geschlechtsspezifische Erzählmuster über Genialität, künstlerische Kreativität und Originalität niemals ›neutral‹ sind. Gerade die Kunstgeschichte ist immer wieder einem Paarbegriff gefolgt, der weitgehend außer Acht ließ, dass »Paarkonzepte und –praktiken […] kulturell und historisch variabel«34 sind. Das führte dazu, dass, wie im hier vorgestellten Beispiel, in Paargeschichten problematische Deutungsmuster künstlerischer Qualität und Kreativität immer wieder aktualisiert werden. Zu zeigen, dass dies nicht nur in Texten über die Künstlerpaare passiert, sondern maßgeblich über Bilder, Bildkomposition, -auswahl und Präsentation, war Anliegen dieses Textes.

33 G.T.M [Gretchen T. Munson]: »Man and Wife«, in: Art News (Oktober 1949), zit. n. Anne Middleton Wagner, Three Artists (Three Women) (Anm. 17), S. 126. 34 Schrödl u. a., »Vorwort«, in: Kunst-Paare (Anm. 3), S. 7–18, hier: S. 13.

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»Wir spielten im Leben Komödie und waren Menschen nur auf der Bühne« Kunst und Leben in Inszenierungen eines Musiker-Paares

Die Sopranistin Galina Višnevskaja und der Cellist Mstislav Rostropovič gehören zu den bekanntesten Musiker-Paaren der klassischen Musikszene des 20. Jahrhunderts. Sie waren nicht nur in ihren jeweils eigenen Bereichen höchst erfolgreich – Višnevskaja als Solosängerin des Bolschoi-Theater, die ab den 1960er Jahren auch zunehmend auf westlichen Opern- und Konzertbühnen gastierte, Rostropovič als weltweit gefragter Cellist und Dirigent –, sondern sie traten auch gemeinsam auf: in Liederabenden Višnevskajas mit Rostropovič am Klavier, in Opernaufführungen, die sie sang und er dirigierte, oder gelegentlich in Stücken für Sopran und Violoncello, die Komponistenkollegen dem Paar sozusagen auf den Leib schrieben. Die Geschichte ihrer Ehe wird vielfach als Amour fou zwischen zwei gegensätzlichen und sich musikalisch doch perfekt ergänzenden Charakteren erzählt.1 Als sowjetische Künstler, die nicht nur mit den kulturellen Größen ihrer Zeit, sondern auch mit den politischen Machthabern verkehrten, die schließlich 1974 nach Repressalien wegen ihres Eintretens für Aleksandr Solženicyn die Sowjetunion verließen und 1978 offiziell ausgebürgert wurden,2 wurden sie zudem zu Kristallisationsfiguren der (nicht nur musikalischen) Zeitgeschichte.3 Dass sich das Leben dieses Musiker-Paars zu einem Opernstoff bearbeiten ließe (bzw. als solcher gelesen wurde und wird), deutet schon der Teaser an, der der deutschen Ausgabe von Višnevskajas Autobiographie vorangestellt ist. Unter 1

Vgl. etwa Mstislaw und Galina Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben, aufgezeichnet von Claude Samuel, Bern u. a. 1985. Orig.: Claude Samuel, Entretiens avec Mstislav Rostropovitch et Galina Vichnevskaïa sur la Russie, la musique, la liberté, Paris 1983. Weiter dazu siehe unten, S. 187–190 2 Vgl. dazu Galina Rasina, »Ideologisch entartete Elemente«. Dokumentation zur Ausbürgerung von Mstis­law Rostropowitsch und Galina Wischnewskaja aus der ehemaligen UdSSR (1974–1978), Berlin 1996. 3 Višnevskajas Autobiographie erschien 1984 zunächst in englischer Sprache unter dem Titel Galina: A Russian Story, die französische Übersetzung verallgemeinert Višnevskajas Geschichte unter dem Titel Galina: histoire russe vollends zur russischen Geschichte an sich. Vgl. Galina Višnevskaja, Galina: A Russian Story, San Diego u. a. 1984; Galina Višnevskaja, Galina: histoire russe, Paris 1985.

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dem Titel Galina lesen wir: »Sie war die Primadonna assoluta des BolschoiTheaters. Mit ihrem Mann Mstislaw Rostropowitsch ging sie in den Westen. In diesem Buch erzählt sie ihr dramatisches Leben.«4 Berufsbiographische Eckdaten, Figurenkonstellation, zentraler Konflikt und dramatischer Ton scheinen damit gesetzt. Und tatsächlich gibt es eine Oper, die sich explizit auf Višnevskajas Autobiographie beruft, die 1996 in Lyon uraufgeführte Oper Galina des französischen Komponisten Marcel Landowski. »La lutte pour la liberté, toujours menacée, mon amitié et mon admiration pour deux artistes exceptionnels m’ont dicté cet ouvrage«, wird der Komponist im Programmheft der Uraufführung zitiert.5 Blickt man ins Rollenverzeichnis der Oper, so erlebt man allerdings zunächst eine Überraschung: Zwar sieht Landowski nicht weniger als drei VišnevskajaFiguren vor – »Galina« als Kind von sechs Jahren, als Kind von zehn Jahren und schließlich als erwachsene Sängerin.6 Rostropovič aber sucht man in der Besetzungsliste der Oper vergebens. Sollte Landowski in einer in weiten Teilen biographischen Oper wirklich auf den ›natürlichen Antagonisten‹, den Partner der Hauptfigur, verzichtet haben? Eine solche Entscheidung liefe konträr zu den Genreregeln der Oper, die traditionell meist ein Gleichgewicht zwischen zu Paaren zusammengefassten Frauen- und Männerstimmen herstellt. Sie wäre auch innerhalb des Musikgeschichtstheaters7 insgesamt höchst unüblich, das im Gegenteil seinen musikhistorischen Protagonistinnen und Protagonisten häufig fiktive Figuren zugesellt, um eben dieses stimmliche Gleichgewicht (und die 4 Galina Višnevskaja, Galina, Bergisch Gladbach 1986, S. 3 (Titelblatt). 5 Geneviève Lièvre, »Galina. D’un autoportrait à un spectacle«, in: Galina/Marcel Landowski. Programmheft, hg. von Marie-Noël Boissier, Redaktion: Geneviève Lièvre, Opéra de Lyon 1996, S. 7–13, hier: S. 11: »Der Kampf um die stets bedrohte Freiheit, meine Freundschaft und Bewunderung für zwei außergewöhnliche Künstler haben mich zu diesem Werk inspiriert.« 6 Vgl. »Distribution«, in: Marcel Landowski, Galina. Opéra en 2 Actes et 15 Tableaux. Musique et livret de Marcel Landowski. Partition d’orchestre. Livret d’aprés »Galina«, de Galina Vichnevskaïa, Paris 1994, n. pag. 7 Als »Musikgeschichtstheater« bezeichne ich jede Form von Musiktheater, das Musikgeschichte thematisiert, also Musik, Theater und Geschichtserzählung verknüpft. Das schließt unter anderem biographische Stücke über Musikerinnen und Musiker ein. Denn einerseits betrachte ich Biographien als eine Form von Geschichtsschreibung mit einem bestimmten, nämlich auf das Leben historischer Akteurinnen und Akteure gerichteten Erkenntnisinteresse. Andererseits sind biographische und allgemeiner historiographische Elemente im Musikgeschichtstheater ohnehin kaum zu trennen, wie am Beispiel von Landowskis Oper Galina noch deutlich werden wird. Vgl. zum Konzept »Musikgeschichtstheater«: Anna Langenbruch, »Wenn Geschichte klingt. Musikgeschichte auf der Bühne als geschichtstheoretischer Impuls«, in: Klang als Geschichtsmedium. Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung, hg. von ders., Bielefeld 2018 (Musikgeschichte auf der Bühne 1), S. 73–98 sowie insgesamt die Arbeiten der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe »Musikgeschichte auf der Bühne« an der Universität Oldenburg, https://uol.de/musikgeschichte-auf-der-buehne/.

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Möglichkeit einer Liebesintrige) zu gewährleisten, selbst wenn dies der historische Stoff nicht hergibt. Bei näherer Betrachtung ist Rostropovič in Landowskis Oper dann doch präsent, nur nicht als Figur, sondern – als Cellostimme. Dieses »Violoncelle Slava«8 tritt bereits in der Ouvertüre in musikalischen Dialog mit der von jenseits der Bühne ertönenden Stimme der Galina-Figur (als erwachsene Sängerin). Landowski komponiert also ein Musiker-Paar, er stellt in seiner Oper die spezifische Klang-Gestalt der musikalischen Akteure in den Mittelpunkt. Dabei ist Galina für Landowski in gewisser Weise nur die letzte in einer Reihe von Kompositionen für Višnevskaja und Rostropovič. Bereits 1978 hatte er das Konzert für Sopran, Violoncello und Orchester Un enfant appelle…, 1981 dann die Konzertoper La Prison für das Paar verfasst. Im Folgenden interessiere ich mich für die unterschiedlichen musikkulturellen ›Bühnen‹, die Višnevskaja und Rostropovič als Paar bespielten: Für ihre gemeinsamen Interviews und Konzert- oder Opernauftritte, dafür, wie sie über­ einan­der sprachen und schrieben, wie sie miteinander agierten, und schließlich für das komponierte Paar aus Cellist und Sängerin. Višnevskaja und Rostropovič werden insofern für mich zum Paradebeispiel eines »Kunst-Paares«, also eines Konzepts, das »das Künstler*innenpaar und das Paar als Gegenstand und Motiv ästhetischer Auseinandersetzung« zu integrieren sucht,9 allerdings mit einer musikalischen Spezifik: Denn an ihrem Beispiel lässt sich nicht nur untersuchen, wie Musiker-Paare in verschiedenen Medien und Situationen inszeniert werden und sich zugleich selbst inszenieren, sondern auch, welche Rolle musikalischer Klang, gemeinsame musikalische Aufführungen und die kompositorischen Ideen eines Dritten dabei spielen. Im Gespräch: Paar-Konstruktionen im Interview Über zweieinhalb Jahre führte der französische Musikkritiker und Publizist Claude Samuel Gespräche mit Galina Višnevskaja und Mstislav Rostropovič, Gespräche, in denen er sie zu ihren Ansichten über Musik und Musiker, zu ihren Erfahrungen in der Sowjetunion und auch zu ihrem Leben als Musiker-Paar 8 Vgl. Landowski, Galina. Opéra en 2 Actes et 15 Tableaux (Anm. 6), S. 1. »Slava/Slawa« war als Diminutiv von Mstislaw die freundschaftliche Standardanrede für Rostropovič. Vgl. z. B. auch die russischsprachige Paar-Biographie von Tamara Grum-Gržimajlo, Slava i Galina: simfonija žizni, Moskau 2007. 9 Vgl. zu diesem Konzept: Jenny Schrödl, Magdalena Beljan und Maxi Grotkopp, »Vorwort«, in: Kunstpaare. Historische, ästhetische und politische Dimensionen, hg. von dens., Berlin 2017, S. 7–18, hier: S. 11.

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befragte.10 Schon im Vorwort weist der Interviewer auf die Klangebene dieser Gespräche hin, die – anders als etwa die Oper, könnte man ergänzen – die Buchausgabe nicht abbilden könne und die insofern der Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser überlassen bliebe: »Die Klangfarben der einzelnen Gespräche muß der Leser sich zusätzlich ausmalen; sie waren heftig, ironisch, leidenschaftlich. Zwei stürmische Temperamente, die ihre Meinung hinausschreien, das ist keine Kammermusik, das sind die brausenden Klänge eines Symphonieorches­ ters.«11 Aus diesen meist gemeinsam, gelegentlich auch einzeln geführten Interviews lassen sich die wesentlichen Konturen herausarbeiten, die die Wahrnehmung von Višnevskaja und Rostropovič als Paar prägen. Da ist zunächst ihre Konstruktion als Gegensatz-Paar, eine Konstruktion, die Samuel bereits im Vorwort zu seinem Interview-Band anlegt, wenn er beschreibt, wie er Višnevskaja und Rostropovič auf ihren Gastspielreisen in Paris erlebt habe: »Galina blieb stets zurückhaltend, unergründlich liebenswürdig, während Slawa, jedermann stürmisch um den Hals fallend, sich sofort mit leidenschaftlichem Interesse in den Dialog stürzte […].«12 Diese Polarität von aufeinander bezogenen, aber gegensätzlichen Charakteren zieht sich sowohl explizit als auch implizit durch den gesamten Band. Explizit etwa in einer Selbstbeschreibung Višnevskajas, die in eine kontrastierende Charakterisierung ihres Mannes mündet und aus diesem Gegensatz das Gelingen ihrer Ehe ableitet: GW: […] Ich bin von Natur aus ein Individualist. Selbst am Bolschoi, wo ich zu dieser riesigen Truppe gehörte, war ich eigentlich immer allein. Ich kam zu den Proben, sang die Vorstellung und ging sofort nach Haus. CS: Das Gegenteil von Slawa… GW: Ja, er hat ein anderes Naturell. Er braucht Gesellschaft und Partner. Er liebt es, zu einer Gruppe zu gehören […]. Das alles hält uns im Gleichgewicht. Ich frage mich, wohin es geführt hätte, wäre mein Mann solch ein Individualist wie ich. Und hätte Slawa eine Frau geheiratet, die wie er immer Gesellschaft um sich braucht, wären beide wahnsinnig geworden!13

Hier begegnen uns also ganz explizit die einzelgängerische, disziplinierte, zurückhaltende Sängerin und der kommunikative, spontane, extrovertierte Cellist, Persönlichkeitsentwürfe, die auch implizit immer wieder aufscheinen, wenn die beiden Musiker ihre jeweilige Arbeitsweise beschreiben, wenn sie einander wi-

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Rostropowitsch und Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben (Anm. 1). Ebd., S. 9–10. Ebd., S. 7. Ebd., S. 203–204.

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dersprechen und diskutieren, also auch dialogisch gegensätzliche Positionen einnehmen.14 Zugleich erzählt man die Geschichte ihrer Ehe als exemplarische Amour fou: »Die Fama berichtet vom Abenteuer einer Liebe auf den ersten Blick und der unmittelbar folgenden Verehelichung. Ist das nun eine Legende?«, fragt Claude Samuel, woraufhin Višnevskaja und Rostropovič versichern: »GW: Nein. Alles, was darüber geschrieben wurde, entspricht voll und ganz der Wahrheit. MR: Ich könnte beim besten Willen auch nichts anderes berichten. Allerdings habe ich bemerkt, daß die Menschen mit zunehmendem Alter ihre Geschichte gern verschönern.«15 Zusammenfassen lässt sich das Grundmuster, auf dem die PaarKonstruktion von Višnevskaja und Rostropovič aufruht, also in der sprichwörtlichen Idee sich anziehender Gegensätze. Für die Frage nach Paaren in Kunst und Wissenschaft besonders interessant ist nun die durchaus widersprüchliche Rolle, die der Musik für die Paar-Beziehung zugeschrieben wird. Claude Samuel zum Beispiel greift auf ein wohlbekanntes Stereotyp zurück, wenn er bezogen auf Višnevskajas und Rostropovičs rasche Heirat fragt, ob »diese Harmonie so schnell zustande [gekommen sei], weil Sie beide Musiker waren?«16 Samuel schließt hier also soziale Harmonie mit musikalischer kurz und knüpft damit an ein gängiges Motiv im Diskurs über Musiker-Paare an. Višnevskaja verneint dies jedoch entschieden: »Die Musik hatte damit nichts zu tun. Er hatte mich noch nie singen und ich ihn noch nie spielen hören. Erst ein halbes Jahr nach unserer Eheschließung haben wir einander zum erstenmal gehört.«17 Rostropovič schränkt dagegen ein: »Immerhin, wären wir nicht Musiker gewesen, hätten wir auch andere Charakterzüge gehabt. Insofern hat die Kunst doch eine entscheidende Rolle gespielt.«18 Insbesondere Višnevskaja trennt also sehr genau zwischen der Bewunderung für sie als Sängerin bzw. für ihn als Cellist, die zum jeweiligen beruflichen Alltag des Paares gehört, und der Liebe, die privat zwischen zwei Menschen entsteht. Noch plastischer liest sich das in ihrer Autobiographie: »Trotz unserer Blitzheirat erlebten wir keine unangenehmen Überraschungen miteinander«, heißt es dort. »Und weil wir einander nie auf der Bühne gesehen hatten, spielte die Kunst in unserer Partnerschaft keine wesentliche Rolle. Im Gegenteil: weitab vom Theaterglanz und -glimmer konnte sich eine rein menschliche Beziehung entfalten und die echten, ursprünglichen Wesenszüge von uns beiden zutage fördern.«19 Diese 14 Vgl. ebd., insb. Kap. 1, S. 11–33. 15 Ebd., S. 34. 16 Ebd., S. 35. 17 Ebd., S. 35–36. 18 Ebd., S. 36. 19 Višnevskaja, Galina (Anm. 4), S. 149.

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klare Absage an die Kunst als Partnerschaftsstifterin mag bei einem MusikerPaar zunächst überraschen. Sie scheint mir aber für Višnevskaja eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen, nämlich die Abgrenzung ihrer Bühnenpersönlichkeit von ihrem Selbstkonzept jenseits der Bühne. An anderer Stelle in ihrer Autobiographie schreibt sie: Wenn man wie ich seit seinem siebzehnten Lebensjahr auf der Bühne steht und ständig von Verehrern umgeben ist, gewöhnt man sich daran, die Männer ganz allgemein als eine Art notwendiger und vertrauter Kulisse anzusehen. Für mich waren sie vornehmlich dazu da, mir Blumen zu überreichen, nach der Vorstellung Komplimente zu machen und sich auf der Straße nach mir umzudrehen.20

Von dieser Schar von Bewunderern einer Operndiva grenzt sie Rostropovič und sich selbst ab, indem sie unterstreicht, dass ihre jeweiligen musikalischen Leistungen mit dem Beginn ihrer Paarbeziehung nichts zu tun gehabt hätten. Bildlich gesprochen holt sie damit sich und ihren Mann als Musiker von der Bühne und gleichzeitig als Privatpersonen aus der Kulisse. Diese gedachte Spannung zwischen Privatperson und Bühnenfigur, zwischen Leben und Theater, ist nicht nur konstitutiv für die Paar-Erzählung Višnevskajas und Rostropovičs, sie spielt auch eine Rolle, wenn die Sängerin im Rückblick über ihr Leben in der Sowjetunion berichtet: »Wir fangen erst an zu leben«, bemerkt sie im bereits zitierten Interview mit Claude Samuel und fährt fort: In Rußland lebten wir nur unserer Kunst, wie ich schon sagte. Ich hatte das Theater, Slawa sein Cello und das Konservatorium; jeder ging seinem Beruf und seinen künstlerischen Neigungen nach. Dort gaben wir unsere Emotionen weiter, dort konnten wir aufrichtig sein. Slawa kann auf dem Cello alles ausdrücken, was er will, und das war ihm damals eine sehr große Genugtuung. Ich lebte im Alltag sehr zurückgezogen, viel stärker als mein Mann; aber auf der Bühne, da hielt ich mich schadlos! Heute leben wir unser Leben. Dort war unser Leben ein einziges Theater: die verkehrte Welt. Wir spielten im Leben Komödie und waren Menschen nur auf der Bühne.21

Višnevskaja kehrt hier die Vorzeichen zwischen »Leben« und »Theater« gewissermaßen um: Auf das politische Umfeld bezogen erscheint nun die Bühne als eigentliche Plattform des Menschlichen, Emotionalen und Aufrichtigen. Noch komplexer wird das Spiel mit dem Gegensatzpaar Leben und Kunst, wenn es um gemeinsame Auftritte des Musiker-Paares geht.

20 Ebd., S. 137. 21 Rostropowitsch und Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben (Anm. 1), S. 97.

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Musikalische Akteure: Zusammen auf der Bühne Wenn Musiker-Paare gemeinsam auftreten, eine private also durch eine musikalische Partnerschaft auf der Bühne flankiert und ausgestellt wird, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben (und damit ein klassisches Problem nicht nur der Musiker-Biographik)22 in besonderer Form. Ohnehin sind »Interpreten von Musik bereits im Moment des Musizierens einer hochgradigen Überformung (auch) durch biographische Modelle ausgesetzt, da jeder Bericht über einen Konzertauftritt oder eine Opernaufführung bereits diese Bilder und Rollenerwartungen mittransportiert.«23 Das Publikum »weiß, daß Sie verheiratet sind…«, wie Samuel im Gespräch mit Višnevskaja und Rostropovič konstatiert. »Das ist uns bewußt«, entgegnet Višnevskaja und Rostropovič ergänzt: »Wir ziehen es aber nie in Betracht.«24 Letzteres scheint jedoch vor allem für Rostropovič selbst zu gelten, denn Višnevskaja setzt sich in ihrer Autobiographie ausführlich mit dem gemeinsamen Musizieren als Musiker-Paar auseinander. »Für uns beide spielte sich die Kunst auf einer anderen, vom Privaten getrennten Ebene ab«, schreibt sie beispielsweise. »Wenn wir uns dort aber begegneten, ließen sich die Dinge längst nicht so leicht und einfach an wie im persönlichen Bereich. Intolerant, individualistisch im jeweils eigenen Metier, war es gewiß für uns beide ganz gut, daß wir in den ersten Jahren unserer Ehe nur selten gemeinsam auftraten und uns damit begnügten, uns gegenseitig zu hören.«25 Kunst wird hier nachgerade zum Hindernis, zum potentiellen Konfliktherd für die private Partnerschaft, und dies in mehr als einer Hinsicht. Denn nicht nur prallten im Zusammenspiel, wie Višnevskaja beschreibt, potentiell unterschiedliche künstlerische Ansichten aufeinander, durch die häufigen Tourneen und vielfältigen Verpflichtungen als einzelne Musiker begegnete sich das Ehepaar häufig monatelang gar nicht, was wiederum auf Dauer dazu führte, dass sie nun doch »ein ganzes Repertoire für gemeinsame Auslandsreisen [ausarbeiteten] – einfach, um öfter beieinander zu sein.«26 Gleichzeitig versuchte anscheinend vor allem Višnevskaja, ihre eigene berufliche Sphäre – insbesondere ihre Arbeit am Bolschoi-Theater – vehement gegen ihren Mann zu verteidigen: »Es war wirklich nur, um Galina und ihrer Kunst noch näher zu sein, daß ich mich als ihr Begleiter versuchte«, versichert Rostropovič im Interview. 22 Vgl. dazu etwa: Joachim Kremer, Wolf Hobohm und Wolfgang Ruf (Hg.), Biographie und Kunst als historiographisches Problem, Hildesheim u. a. 2004. 23 Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u. a. 2014, S. 32. 24 Rostropowitsch und Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben (Anm. 1), S. 41. 25 Višnevskaja, Galina (Anm. 4), S. 149. 26 Ebd., S. 301–302.

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Wer hätte auch gedacht, daß die einzige Person, die mir wirklich den Krieg erklärte und mich mit allen Kräften vom Bolschoi fernhalten wollte, eben diese Galina war! Und ihre Proteste waren von Weinkrämpfen begleitet, wie es sich für eine temperamentvolle Frau gehört! GW: Nein, es war ganz anders: Kein Mensch hat ihm je geglaubt. Alle waren überzeugt, ich hätte Slawa ans Theater geholt, ihn hingeschleift… CS: Und warum wollten Sie verhindern, daß er ans Bolschoi kam? GW: Weil ich dort meinen Platz hatte und nicht wollte, daß er sich in mein Berufsleben einmischt.27

Hier wird offensichtlich, wie schwierig es ist, Beruf und Privatleben eines Musiker-Paars getrennt zu betrachten, und zwar hinsichtlich der Fremd- genauso wie hinsichtlich der Selbstwahrnehmung. Dass die Sphären »Kunst« und »Leben« eng verflochten sind, in ständiger Wechselwirkung stehen und in ihrem Gleichgewicht immer wieder neu austariert werden müssen, gilt im Falle von Višnevskaja und Rostropovič für die gemeinsame Alltagspraxis, die durch eine engere musikalische Zusammenarbeit überhaupt erst ermöglicht werden soll, es gilt für die Frage, wie dabei gleichzeitig die berufliche Eigenständigkeit gewahrt werden kann, und es gilt auch für den Weg vom gemeinsamen Probenprozess zum Zusammenspiel auf der Bühne. Wenn sie Letzteres beschreibt, greift Višnevskaja wieder auf das Modell des Gegensatz-Paares zurück: So aber gerieten wir uns schon bei der ersten Hälfte des Programms in die Haare, waren am Tag vor dem Auftritt zerstritten wie Hund und Katze und am nächsten Morgen noch wütend aufeinander. Ohne ein Wort zu wechseln, machten wir uns auf den Weg zum Konzertsaal und schworen heilige Eide, nie wieder gemeinsam aufzutreten. Auf der Bühne aber, schon bei den allerersten Takten, gingen wir ganz in der unauflöslichen Einheit der Musik auf und verschmolzen mit ihr. Warum es jedesmal so kommen mußte, weiß ich nicht. Wir suchten wohl eine andere Form des Dialogs, weil wir vor dem Publikum ja weder streiten noch uns die jeweiligen Standpunkte vorhalten konnten und ein Rauslaufen oder Türenknallen undenkbar war. Diesen Dialog führten wir in der Sprache der Musik, und er half uns, unsere Probleme zu klären, Fragen zu stellen und Antworten zu geben, ohne uns zu unterbrechen.28

Hier spielt die Sängerin nun also selbst mit einem Kausalverhältnis von sozialer und musikalischer Harmonie, nicht als Beziehungsstifterin, wie Samuel es unterstellt hatte, sondern als Erklärungsmodell dafür, wie sich ein konfliktträchtiger Probenprozess erst auf der Bühne musikalisch in Wohlgefallen (sprich: Wohlklang) auflöst. Denn der Konflikt des Paares, der aus der unterschiedlichen 27 Rostropowitsch und Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben (Anm. 1), S. 39–40. 28 Višnevskaja, Galina (Anm. 4), S. 302–303.

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Art und Weise resultiert, sich Musik zu erarbeiten, lässt sich, so schildert es Višnevskaja, nicht sprachlich lösen, sondern lediglich musikalisch, durch die »andere Form des Dialogs«, die die jeweilige Komposition vorgibt, und durch den Verhaltenskodex des Bühnenauftritts. In gewisser Weise ist es diese Idee des Dialogs »in der Sprache der Musik«, die Marcel Landowski komponiert, wenn er für Višnevskaja und Rostropovič schreibt. »… eine andere Form des Dialogs«: (Für) Musiker-Paare komponieren Die ebenso biographisch wie historiographisch orientierte Oper Galina (1996) ist nur der Endpunkt in einer Reihe von Kompositionen, mit denen Marcel Landowski die Sängerin und den Cellisten adressierte. Die beiden vorangegangenen Stücke waren im Auftrag der Interpreten entstanden: Bereits 1978 schrieb der Komponist im Auftrag von Rostropovič für Višnevskaja das Konzert für Sopran, Violoncello und Orchester Un enfant appelle…,29 bei der Konzertoper La Prison (1981) handelt es sich dann um ein gemeinsames Auftragswerk des MusikerPaars.30 Insbesondere Rostropovič war die Erweiterung des Cello-Repertoires durch zeitgenössische Komponisten sehr wichtig und er sah Interpretinnen und Interpreten dabei in der Verantwortung: »Gute Komponisten muß man anflehen, in Demut vor sie hintreten. Man muß sie dazu bringen zu schreiben… egal was, aber schreiben müssen sie!«31 Entsprechend häufig wurden sowohl er als auch Galina Višnevskaja zum Kompositionsanlass, zu Widmungsträgern oder Auftraggebern und arbeiteten im Kompositionsprozess teilweise auch direkt mit den Komponisten zusammen.32 Nicht zuletzt schufen sie auf diese Weise auch die Voraussetzungen für eine Fortsetzung ihres oben beschriebenen »musikalischen Dialogs«. Dass die besonderen Fähigkeiten von Interpretinnen und Interpreten Komponistinnen und Komponisten inspirieren und zum Schreiben animieren, ist prinzipiell nicht ungewöhnlich. Außergewöhnlich ist jedoch das Repertoire, zu dem Višnevskaja und Rostropovič als Musiker-Paar motivierten, insbesondere die ganz auf das Zusammenspiel von Stimme und Violoncello ausgerichteten Kompositionen Marcel Landowskis: »Elles répondent à une situation précise«, wie Jean-Maurice de Montremy schreibt, »la personnalité vocale peu commune 29 Vgl. O.A., Notice. Concerto pour soprano, violoncelle et orchestre. »Un enfant appelle, loin, très loin…«, in: Un Enfant appelle…/ Marcel Landowski. Dossier documentaire [Auszug], in: Centre de documentation de la musique contemporaine, Paris, Signatur: DD CDMC03267. 30 Vgl. J.-M. de Montremy: o.T., in: ebd. 31 Rostropowitsch und Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben (Anm. 1), S. 129. 32 Das ist etwa für Galina Višnevskaja und Marcel Landowski belegt, vgl. ebd., S. 76.

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de la soprano russe et la ›présence‹ non moins exceptionnelle du violoncelliste. Dans les deux cas, la musique n’est pas composée dans l’absolu selon les exigences de forme ou de rhétorique. Elle s’adapte, au contraire, à des êtres humains afin d’exprimer une action dramatique.«33 In Un enfant appelle… haben wir es dabei zunächst mit einer Reihung aus drei Liedern für Sopran und Orchester und zwei solistischen Zwischenspielen für Violoncello zu tun, die sich, will man im Bild des musikalischen Dialogs bleiben, als zweimalige Folge von Rede und Gegenrede verstehen lassen. An das dritte Lied schließt sich dann, als eine Art Coda, ein Duett an, das Stimme und Violoncello synthetisierend zusammenführt. In La Prison dagegen sind Sopran und Violoncello von Beginn an musikalisch eng verflochten: Die Sopranistin (»Elle«) und der Cellist (»Lui«) verkörpern ein Paar in der Auseinandersetzung mit einem Dritten,34 einem repressiven staatlichen System, symbolisiert durch das Schlagwerk (»La police«, im dritten Satz auch »Le temps«). Zwischen diesen mehr oder weniger abstrakten Figuren entwickelt sich ein Kurzdrama, das aus dem Warten auf die Verhaftung (1. Satz: L’attente), dem polizeilichen Verhör (2. Satz: L’interrogatoire) und dem zähen Vergehen der Zeit im Gefängnis (3. Satz: La prison) besteht. Dass sich die Musik Landowskis nicht rein formal entwickele, sondern zwei konkreten Menschen anpasse, wie Montremy bemerkt, gilt für La Prison also in mehrfacher Hinsicht: Das Stück ist auf die musikalischen Fähigkeiten seiner Interpreten genauso zugeschnitten wie auf ihre Biographie. Dabei geht es nicht darum, dass Landowskis Konzertoper tatsächlich Situationen aus dem Leben von Višnevskaja und Rostropovič schildern würde (das ist nicht der Fall), sondern dass sich das Stück als abstrakter Kommentar zur sowjetischen Zeitgeschichte hören lässt, der durch die Widmungsträger und Uraufführungsinterpreten biographisch konkretisiert und beglaubigt wird: Wenn sich die weibliche Hauptfigur im Verhör vorstellt als »Maria Christa née Svoboda citoyenne du monde«35 wird sie religiös aufgeladen (als Marienfigur), sie wird durch den Geburtsnamen »Svoboda«, der in den meisten 33 J.-M. de Montremy: o.T., in: Un Enfant appelle… (Anm. 30), S. 1: »Sie reagieren auf eine ganz bestimmte Situation: die außergewöhnliche stimmliche Persönlichkeit der russischen Sopranistin und die nicht weniger bemerkenswerte ›Präsenz‹ des Cellisten. In beiden Fällen ist die Musik nicht im Absoluten komponiert, nach den Erfordernissen der Form oder der Rhetorik. Im Gegenteil passt sie sich den Menschen an, um eine dramatische Handlung auszudrücken.« 34 Nach Renate Berger ist gerade diese Figur des Dritten konstitutiv für die Konstruktion eines Paares, als »flexible Instanz […], die das Paar als Paar herausfordert«, vgl. Renate Berger, »Leben in der Legende«, in: Liebe Macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, hg. von ders., Köln u. a. 2000, S. 1–34, hier: S. 2. Vgl. auch den Beitrag von Jenny Schrödl in diesem Band: Jenny Schrödl, 2 + 1. Zur Figur des Dritten in Paarkonstellationen der Performancekunst, S. 235–249. 35 Marcel Landowski, La Prison. Récit Musical et Dramatique pour Soprano, violoncelle solo, flûte, trois trompettes, percussion et orchestre à cordes, Paris 1983, S. 25–26: »Maria Christa, geborene Svoboda, Weltbürgerin«.

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slawischen Sprachen »Freiheit« bedeutet, geographisch in Russland oder Osteuropa verortet und zugleich als von Geburt an unabhängiger Geist gekennzeichnet. Zudem wird sie als »Weltbürgerin« und damit indirekt als Staatenlose tituliert.

Notenbeispiel 1: Marcel Landowski, La Prison, 2. Satz: L’Interrogatoire, T. 14-18 (Partiturauszug).

Vor allem Letzteres schließt die musikalische Figur mit ihrer Uraufführungsinterpretin kurz, lag doch Višnevskajas eigene Ausbürgerung aus der Sowjetunion zum Zeitpunkt der Uraufführung (1983) erst fünf Jahre zurück. Diese biographische Koinzidenz dürfte in der öffentlichen Wahrnehmung noch sehr präsent gewesen sein und versieht die scheinbar fiktionale Opernfigur mit faktualen Bedeutungsschichten. Gleiches gilt für die männliche Hauptfigur – das Violoncello – dem Landowski im Verhör eine nahezu identische Selbstpräsentation zuschreibt:

Notenbeispiel 2: Marcel Landowski, La Prison, 2. Satz: L’Interrogatoire, T. 40-44 (Partiturauszug).

Obwohl 25 Takte zwischen den beiden solistischen Passagen liegen, konstruiert Landowski das Musiker-Paar hier als klangliche Einheit, die auch ohne die zugehörige Erläuterung »comme elle, son identité« in der Partitur musikalisch hörbar ist. Subtil unterscheidet er dabei den tatsächlichen Text der Sängerin (»citoyenne«) im durchgehenden Achtelrhythmus vom nur vorgestellten Text des Cellisten (»citoyen«), bei dem auf zwei Achtel eine Viertelnote folgt. Die Figuren »Elle« und »Lui« bleiben also durch die musikalische Imitation des Sprachrhythmus selbst dort erkennbar, wo es im musikalischen Dialog gar keine Sprache gibt. Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten verwundert es nun nicht mehr, dass Landowski auch in der auf Višnevskajas Autobiographie fußenden Oper Galina auf ein ähnliches Prinzip zurückgreift und Višnevskaja als Sängerin, Rostropovič

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als Cellostimme konzipiert. Das mag u. a. damit zusammenhängen, dass Višnevskaja und Rostropovič zum Uraufführungszeitpunkt der Oper noch lebten und im Musikleben nach wie vor aktiv waren: Višnevskaja hatte zwar ihre Bühnenkarriere beendet, ist aber im Programmheft der Oper als Beraterin aufgeführt,36 Rostropovič konzertierte nach wie vor, sowohl als Cellist als auch als Dirigent. In dieser Situation die am Beispiel des von Claude Samuel geführten Interviews beschriebenen Versatzstücke der Paarkonstruktion aufzugreifen, die sich für eine Inszenierung der Liebesbeziehung Višnevskajas und Rostropovičs in operntypischer Manier anbieten würden – das Gegensatz-Paar z. B. für ein Streitduett nach dem Modell der Bravourarie, die Amour fou als Ausgangspunkt einer Liebesszene – wäre von beiden Musikern wohl kaum goutiert und im Extremfall als Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte gedeutet worden. Zwar wird das Verhalten einer Sängerin grundsätzlich häufig mit dem von Opernfiguren assoziiert, Samuel etwa kommentiert Višnevskajas Reaktion auf ihre Ausbürgerung in der improvisierten Pressekonferenz, die das Paar aus diesem Anlass veranstaltete: »Galina hatte sich zur Tigerin gewandelt, zeternde Tosca, tödlich getroffene Leonore.«37 Aber von diesem assoziativen Verweis auf das Opernrepertoire, um den Leserinnen und Lesern eine bestimmte Situation emotional plastisch vor Augen zu führen, hin zur Ausdeutung und Umsetzung einer ganzen Biographie im Sinne der Operntradition ist es ein weiter Schritt. Obwohl das Musiker-Paar, wie beschrieben, an der Konstruktion und medialen Inszenierung seines Partnerschaftskonzepts durchaus aktiv beteiligt war, wäre eine Lebensgeschichte als Theater insbesondere für Višnevskaja, die Leben und Theater wie oben beschrieben häufig als Gegensätze versteht, wohl vor allem eines gewesen: »verkehrte Welt«.38 Denn nicht nur Operntradition und Opernpraxis wirken sich darauf aus, wie in diesem Genre vergangene Wirklichkeit inszeniert werden kann, ein historischer (in diesem Falle: autobiographischer) Stoff gibt dafür auch eigene Regeln vor. Das Verhältnis der Regelsysteme von Kunst und Geschichtsschreibung muss daher immer wieder neu austariert werden. Für dieses Problem eröffnet die bereits etablierte Zusammenarbeit mit Višnevskaja und Rostropovič dem Komponisten Landowski eine interessante Lösung: Indem er den musikalischen Dialog zwischen Sängerin und Violoncello in den Mittelpunkt seiner Oper stellt, kann er ein konzertant bereits erprobtes Modell in die Geschichtserzählung hinein fortführen. Zugleich legt dies einen höheren Abstraktionsgrad in der biographischen Darstellung auf der Bühne 36 Vgl. Galina/Marcel Landowski. Programmheft (Anm. 5), Einlegeblatt mit Besetzung, 4 S., n.pag. 37 Rostropowitsch und Rostropowitsch, Die Musik und unser Leben (Anm. 1), S. 8. 38 Ebd., S. 97.

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nahe. Durchaus operntypische körperliche Liebesszenen etwa, die die realen Vorbilder der Protagonisten hätten in Verlegenheit bringen können, lassen sich so elegant vermeiden. Im Verhältnis zu Un enfant appelle… und La Prison stellt Galina damit gleichzeitig eine Konkretisierung und eine Abstraktion dar: Einerseits macht die Oper explizit, was prinzipiell in den beiden vorangegangenen Stücken bereits unterschwellig angelegt war: die biographischen und zeitgeschichtlichen Bezüge zu Višnevskaja und Rostropovič. Dabei rückt sie zugleich jedoch die musikalische Komponente der Zusammenarbeit Landowskis mit dem Musiker-Paar ins Implizite. Denn der Komponist schreibt hier zwar ein etabliertes konzertantes Modell fort, aber für andere Interpreten.39 Der klangliche Bezug auf Višnevskajas charakteristische Stimme und Rostropovičs nicht minder prägnanten Celloton wäre also in der Aufführung erst herzustellen, könnte aber, je nach ästhetisch-historiographischem Konzept der Opernproduktion, natürlich genauso programmatisch verfremdet werden. Abschließend seien zwei Beispiele herausgegriffen, um zu demonstrieren, wie Landowski diesen musikalischen Dialog in der Oper konkret gestaltet. Schon in der Ouvertüre kommen Sängerin und Violoncello ins Gespräch. Dabei sind sie, anders als in den meisten folgenden Szenen, beide auf die Klangebene reduziert, denn die Stimme der Galina-Figur erklingt hier aus dem Off. »O Patria, o ­patria« intoniert die Sängerin eine Passage aus Verdis Aida, in der die Hauptfigur den Verlust ihres Vaterlandes besingt.40 Landowski deutet damit gleichzeitig das Ende der Oper – den Heimatverlust des Musiker-Paares, das nach Repressalien die Sowjetunion verlässt – und ein zentrales Moment in Višnevskajas Karriere an – das erfolgreiche Vorsingen am Bolschoi-Theater, bei dem die Sängerin mit dieser Arie reüssierte.41

39 Dass die Suche nach einer geeigneten Sängerin für die Galina-Figur der Uraufführung nicht ganz einfach war, deutet Alain Bouchet auf einer Feier zu Ehren Marcel Landowskis an, vgl.: Alain Bouchet, »Séance solennelle de l’Académie des Sciences, Belles Lettres et Arts de Lyon. Réception de M. Marcel Landowski à l’Opéra à l’occasion de la création de son opéra, Galina« [16. März 1996], in: Mémoires de l’Académie des sciences, belles-lettres et arts de Lyon, 3. Serie, Bd. 51, Lyon 1996, S. 109–111, hier: S. 111. Diesen Part übernahm schließlich die amerikanische Sopranistin Gwynne Geyer. Der Solo-Cellist ist dagegen in der Besetzungsliste der Uraufführung nicht eigens aufgeführt, was erstaunlich ist angesichts der Tatsache, dass das »Violoncelle Slava« in Landowskis Oper sogar eigene solistische Szenen zu bestreiten hat. Möglicherweise hat der erste Cellist des Lyoner Opernorchesters, Jean-Luc Bourré, diese Aufgabe übernommen. Vgl. Galina/Marcel Landowski. Programmheft (Anm. 5), Einlegeblatt mit Besetzung, 4 S., n.pag. 40 Im Original: »O patria mia, o patria mia, mai più ti rivedrò!«, aus der Arie O patria mia der Aida, in: Giuseppe Verdi, Aida, 3. Akt. 41 Vgl. Višnevskaja, Galina (Anm. 4), S. 69–76.

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Notenbeispiel 3: Marcel Landowski: Galina, Akt 1, Ouvertüre, T. 9-18 (Partiturauszug).

Rhythmisch bleibt Landowskis Aida-Adaption zunächst nah am Original, wobei er den Text reduziert und etwas anders verteilt. Sobald das solistische Cello einsetzt, geht das ausgedehnte »Patri-aaa« der Sängerin in die Vokalise »Ah« über, ein Verfahren, das Landowski in der Oper immer wieder einsetzt. Dadurch gleicht er die beiden Stimmen des musikalischen Zwiegesprächs einander an und stellt die von Višnevskaja beschriebene »andere Form des Dialogs«, also das Miteinandersprechen jenseits der Sprache, ins Zentrum. Dabei zerdehnt er in Takt 14–15 die Sechzehntel-Koloratur des Verdi’schen Originals auf eine Länge von zwei Takten und blendet die Arie damit gleichsam aus, während das Schlagwerk – schon in La Prison ein Symbol für die repressiven staatlichen Autoritäten – die Stimmen sukzessive übertönt. Auch das Cello setzt mit einem Zitat ein – mit dem Beginn der Suite Nr. 1 in G-Dur für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach (BWV 1007). Im Jahr zuvor hatte Rostropovič eine Gesamteinspielung der Bach’schen Cellosuiten vorgelegt.42 Zudem lässt sich dieses Zitat als Verweis auf den ›Mauerfall‹ und damit als indirekter Kommentar zum für die zeitgeschichtliche Dimension der Oper so zentralen Ost-West-Konflikt hören, denn nur wenige Tage nach Öffnung der Berliner Mauer hatte Rostropovič in einem spontanen und medial weltweit verbreiteten Auftritt am Checkpoint Charlie Auszüge aus Bachs Cellosuiten gespielt.43 42 Mstislav Rostropovich, J. S. Bach: Suites pour violoncelle, EMI music international, 1995 (Aufgenommen 1991 in Vézelay (Frankreich), Basilique Sainte-Madeleine). 43 Vgl. z. B. den kurzen Videozusammenschnitt in der Sendung No comment des Senders Euronews auf der Internetplattform YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=FiwXUJJjL6g (abgerufen am:

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Diese erste Exposition der beiden Protagonisten wird durch die Klanggewalt des Schlagwerks beendet: »La voix de Galina et le Violoncelle de Slava sont engloutis par la percussion«, heißt es in der Partitur.44 Eine Frauenstimme aus dem Off kommentiert (gesprochen): »c’est au petit jour qu’on vint te prendre«,45 auch dies viel eher eine Assoziation an das Warten auf die Verhaftung aus La Prison als ein biographischer Bezug. Daran schließt sich ein freier Dialog von Stimme und Violoncello an:

Notenbeispiel 4: Marcel Landowski: Galina, Akt 1, Ouvertüre, T. 25-35 (Partiturauszug).

Dieser Dialog folgt musikalisch zunächst einem Frage-Antwort-Prinzip: Die Phrase des Soprans wird durch das Cello aufgenommen und variiert, woraufhin sich die Sängerin wieder einschaltet und beide Stimmen in Takt 29 ganz kurz parallel geführt werden, bevor sie sich in ihren Bewegungsmustern wieder abwechseln und ergänzen. Beinahe scheint diese Passage als musikalisches Bild für Višnevskajas oben zitierte Deutung der gemeinsamen Auftritte des MusikerPaares:

5. April 2019). In diesem musikalisch schlecht geschnittenen Video spielt Rostropovič Auszüge aus den Suiten Nr. 2 in d-moll, BWV 1008 (Sarabande) und Nr. 3 in C-Dur, BWV 1009 (Bourrée I). Der französische Sender Antenne 2 übertrug in seiner Nachrichtensendung A2 Le Journal de 13H am 11. November 1989 live einen kurzen Ausschnitt von Rostropovičs Auftritt (den Beginn der Sarabande aus der Suite Nr. 3 in C-Dur, BWV 1008), vgl. Institut national de l’audiovisuel, https:// www.ina.fr/video/CAB89047741/ (abgerufen am 5. April 2019). 44 Landowski, Galina. Opéra en 2 Actes et 15 Tableaux (Anm. 6), Takt 16. 45 Ebd., Takt 20–22.

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Auf der Bühne aber, schon bei den allerersten Takten, gingen wir ganz in der unauflöslichen Einheit der Musik auf und verschmolzen mit ihr. […] Wir suchten wohl eine andere Form des Dialogs […]. Diesen Dialog führten wir in der Sprache der Musik, und er half uns, unsere Probleme zu klären, Fragen zu stellen und Antworten zu geben, ohne uns zu unterbrechen.46

Dass Landowski diese Passage aus Višnevskajas Autobiographie kannte, steht außer Frage. Ob er sich an dieser Stelle darauf bezieht oder kompositorisch an seine etablierte Zusammenarbeit mit den beiden Musikern selbst anknüpft, bleibt offen. Das Paarkonzept, das seiner Oper zugrunde liegt, ist jedenfalls weniger das des Gegensatzpaares oder der Amour fou, sondern viel eher das von Višnevskaja und Rostropovič als musikalischen Dialogpartnern auf der Bühne. (Für) Musiker-Paare zu komponieren, heißt eben auch, deren musikalisches Handeln wieder in Musik zu übersetzen. Die Inszenierung eines musikalischen Dialogs im Leben setzt sich damit auf der Opernbühne fort.

46 Višnevskaja, Galina (Anm. 4), S. 302–303.

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Anerkennung oder Verurteilung als Künstlerehepaar? Eine Spurensuche rund um Eugen d’Alberts Liederzyklus Lieder der Liebe op. 13 (Link zur Aufnahme: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/paare-in-kunst-und-wissenschaft. Code: Dw4T6u8)

Ein Auftritt des Künstlerehepaares Eugen und Hermine d’Albert am 30. Mai 1896, anlässlich der 32. Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Leipzig vom 28. Mai bis zum 1. Juni, veranlasste Otto Sonne1 – Redakteur der Zeitschrift Die Redenden Künste – zu einer verbalen Ohrfeige: Hat der »Musikverein« wirklich keine bedeutendere Sängerin auftreiben können als Frau d’Albert III.? Oder war nicht vielleicht die Dame nur in ihrer Eigenschaft als Gattin des berühmten und einflussreichen Pianisten, nicht aber infolge ihrer künstlerischen Qualitäten dazu ausersehen worden, die Besucher des Musikfestes in zwei Konzerten zu unterhalten? Was Frau d’Albert zum besten [sic] gab, stand durchgängig auf dem Niveau der Mittelmässigkeit, ja sogar zum Teil dilettantischer Natur: weder Stimmmaterial noch Bildung, weder Deklamation noch Vortragskunst geben dieser Sängerin das Recht, die Zuhörer mit 11 – sage und schreibe elf – Liedern zu langweilen und durch unreine Intonation und beständiges Detonieren das Gehör zu beleidigen. Da wir ja so arm an bedeutenden Liederkompositionen sind, so wies das Programm an erster Stelle fünf »Lieder der Liebe« von Eugen d’Albert auf. D’Albert ist als Komponist eine unerfreuliche Erscheinung: unselbständig, unnatürlich, gedankenarm und unausstehlich prätentiös; für die grelle Talmileidenschaft, die aufdringliche und doch unsagbar flache und triviale Sinnlichkeit seiner Liebeslieder von Frau d’Albert, deren Äusseres sowohl wie ihr Vortrag ein stark orientalisches Gepräge trägt, nicht ungeeignet; jedoch der duftigen Poesie eines Peter Cornelius, dessen Tonsprache ganz keusche Reinheit und warme Innerlichkeit atmet, war sie in keiner Weise gewachsen. Herr d’Albert begleitete meisterlich: leider das einzige Lob, das ihm bei dieser Gelegenheit gespendet werden kann.2

1

Otto Sonne (*1864) war von 1895 bis 1897 Redakteur der Leipziger Zeitschrift Redende Künste und später Chefredakteur der Leipziger Illustrierten Zeitung. 2 Otto Sonne, »Die XXXII. Tonkünstlerversammlung in Leipzig. II. (Böhmische Kammermusik; Russisches Konzert; Matinee bei Martin Krause; »Hänsel und Gretel«; Aufführungen im Konservatorium.)«, in: Die Redenden Künste, Bd. 2, Nr. 38 (10. Juni 1896), S. 1153–1155, hier: S. 1153.

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Im Zentrum der Kritik stand hier Eugen d’Alberts Liederzyklus Lieder der Liebe, ein Werk, das heute in gedruckter Form nur schwer auffindbar, geschweige denn auf dem Programm von Konzerten zu finden ist. Aufgrund eines erhaltenen Notenexemplars in der Bibliothek des Mozarteums in Salzburg und dank der für diesen Band produzierten Tonaufnahme an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ist es aber nun möglich, sich einen umfassenden Eindruck von der Komposition zu machen.3 Bevor anhand der überlieferten Quellen rund um die vermutliche Uraufführung die – offenbar schwierige – Rezeptionsgeschichte des Liederzyklus und deren Bedeutung für das Künstlerehepaar d’Albert nachvollziehbar gemacht werden soll, einige knappe Bemerkungen den Liedern der Liebe. Lieder der Liebe op. 13 Bei den Liedern der Liebe4 handelte es sich um Eugen d’Alberts Opus 13 und damit seine zu dem Zeitpunkt des von Sonne rezensierten Konzertes neueste Liedersammlung. Sie besteht aus fünf Nummern mit den Titeln Im Garten, Ohne Dich, Sonne und See, Serenade und Letzter Wille. Die Texte stammen von Friedrich Halm (Pseudonym für Eligius Franz Joseph Freiherr von Münch-Bellinghausen, 1806–1871), wobei sich d’Albert recht freimütig aus von Halms Gedichtsammlungen bediente. Insgesamt gibt es drei Gedichtbände von Friedrich Halm: Gedichte, Neue Gedichte und Neueste Gedichte,5 Letzterer aus dem Nachlass publiziert. Alle drei Bände enthalten ein Kapitel mit ›Liedern der Liebe‹. Hier finden sich insgesamt 63 Gedichte zum Thema, die offenbar keiner Sortierung oder Dramaturgie folgen, im Gegensatz beispielsweise zu Adelbert von Chamissos sehr populärem und vielfach vertontem, bereits 1830 publizierten Zyklus Frauenliebe und Leben.6 In Halms Gedichtbänden stehen nur die drei Texte Ohne Dich, Sonne und See sowie Letzter Wille tatsächlich in der Kategorie Lieder der 3

Sopran: Xinzi Hou, Klavier: Gregor Hanke. Einstudierung: Rannveig Braga-Postl, Tontechnik und Aufnahmeleitung: Martin Shi, Link zur Aufnahme: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/ paare-in-kunst-und-wissenschaft (Code: Dw4T6u8). 4 Eugen d’Albert, Lieder der Liebe von Friedrich Halm, in Musik gesetzt für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op. 13, Berlin [1896]. Die Liedtexte sind im Folgenden der Notenausgabe entnommen. 5 Friedrich Halm, Gedichte, in: Friedrich Halm’s Werke, Bd. 1, Wien 21856, S. 183–263 (Erste Auflage: Friedrich Halm, Gedichte, Stuttgart und Tübingen 1850); Ders., Neue Gedichte, in: Friedrich Halm’s Werke, Bd. 7, Wien 1864, S. 40–60; Ders., Neueste Gedichte. Nachlaß, in: Friedrich Halm’s Werke, Bd. 9, hg. von Faust Pachler und Emil Kuh, Wien 1872, S. 44–69. 6 Adelbert von Chamisso, Frauen-Liebe und Leben, Liederzyklus, Berlin 1830.

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Liebe7, während Im Garten und Serenade in einem Kapitel mit dem Titel Auf der Wanderung8 erschienen. Alle fünf Lieder handeln aber – wie es der Titel des Zyklus nahelegt – von der Liebe. An den Anfang setzte Eugen d’Albert mit dem Titel Im Garten (Nr. 1)9 ein eher unbeschwertes Liebeslied (Es-Dur) mit einem leichten über die zweite zur letzten Strophe leitenden Spannungsaufbau. Gesangsstimme und Klavierbegleitung sind – passend zum Text – in der ersten Strophe (Takt 3–13) zunächst volksliednah und einfach gestaltet. Ich poch’ an deiner Thüre, Feinsliebchen, tritt heraus, und was da blüht und duftet, komm, bind’ es mir zum Strauss.

In der zweiten Strophe spiegelt sich die Aufzählung der verschiedenen Blumen musikalisch in einem aufwärtssteigenden Motiv, das auf den dramatischen Höhepunkt des Gedichtes in der letzten Strophe hinführt. Narcissen und Reseden, und Flieder sei darin, und Veilchen blau und Tulpen und duftender Jasmin. Nimm Alles, nur nicht Rosen, und das aus gutem Grund’, die pflückt’ ich von deinen Wangen, die pflückt’ ich von deinem Mund!

Unterstützt durch Crescendo und Ritardando wird in der dritten Strophe schließlich die inhaltliche Pointe (»die pflückt’ ich von deinen Wangen«) hervorgehoben, die letzten vier Takte kehren danach zu der ruhigen Stimmung der ersten Strophe zurück. Das Lied Ohne Dich (Nr. 2)10 bildet hierzu einen starken Kontrast. Es steht in As-Dur, womit durch die Reihenfolge der Lieder zunächst das Gefühl entsteht, es würde in der Subdominante beginnen. Dieses Spannungsgefühl setzte sich auch in der sehr unruhigen von Sechzehntel-Bewegungen dominierten Klavierbegleitung fort, was ebenfalls durch die Vortragsanweisung »Sehr bewegt, mit 7 Halm, Neueste Gedichte (Anm. 5), S. 47, 60, 66. 8 Halm, Gedichte (Anm. 5), S. 45–46. 9 d’Albert, Lieder der Liebe (Anm. 4), S. 2–3. 10 Ebd., S. 4–7.

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glühender Leidenschaft.«11 unterstützt wird. Auch inhaltlich unterscheidet sich das zweite Lied stark vom ersten. Hier ist nichts mehr von der Leichtigkeit des Verliebtseins zu spüren. Stattdessen geht es um die Angst vor Verlust und die Abhängigkeit von der geliebten Person, ohne die die eigene Existenz nicht denkbar ist: Ich fühl’s, so oft von dir ich gehe, dass Nichts ich wäre ohne dich, dass ich nur leb’ in deiner Nähe, und mich verzehre ohne dich! Wie heiss auch meine Seele glühe, ihr Brand verlodert ohne dich, und welcher Keim in mir erblühe, er welkt und modert ohne dich! Aus dir strömt Fülle mir und Segen, und Wüste bin ich ohne dich, und wie der Bach, gebricht’s an Regen, im Sand verrinn’ ich ohne dich! Du gibst den Inhalt meinem Leben, ein leeres Buch nur ohne dich, du weckst und krönst am Ziel mein Streben, das Qual und Fluch nur ohne dich! Mir werden Siege Niederlagen und Glück Verderben ohne dich, ich kann mit dir das Höchste wagen, und kann nur sterben ohne dich!

Weniger verzweifelt, eher melancholisch ist der Eindruck von Sonne und See (Nr. 3)12. Der Text spielt mit einer Analogie zwischen Natur und Seelenzustand. So beschreibt die erste Strophe eine friedliche Idylle der Zweisamkeit: Blau glänzt der See im gold’nen Sonnenschein, als ob der Fluth der Himmel sich vermähle, und wie der See strahlt klar und hell und rein im Glanze deines Blickes meine Seele!

11 Ebd., S. 4. 12 Ebd., S. 8–9.

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Die hier dargestellte Reinheit und Unschuld setzt Eugen d’Albert musikalisch mit der Tonart C-Dur, einer einfachen Melodie und ruhiger Klavierbegleitung um. Mit Beginn der zweiten Strophe verändert sich die Stimmung allerdings. Der Text verlässt nun die Idylle und beschreibt mit Hilfe der Metaphern von Wolken und Nacht den Einfluss negativer Elemente auf den Seelenzustand und in Konsequenz die Notwendigkeit der Errettung aus diesem Zustand durch die Liebe des Gegenübers: Doch birgt die Sonne trüber Wolken Nacht, so färbt der See sich grau, grau meine Seele, drum strahl’ nur, liebes Aug’, in alter Pracht, dass nicht der Seele Himmelblau mir fehle.

Diese Dynamik findet sich auch in der musikalischen Umsetzung wieder: Die Harmonik entfernt sich weit vom tonalen Zentrum C-Dur und bewegt sich den Quintenzirkel abwärts in die B-Tonarten hinein. Chromatik in der Singstimme, Dissonanzen und die tiefe Lage der rechten Hand (überwiegend in der kleinen Oktave) musikalisieren den Eindruck eines Abgrundes. Schließlich wird in der Singstimme die Erlösung mit einer Sexte (»drum Strahl’ mir«, Takt 23) angekündigt und durch die Auflösung der B-Tonarten in die bekannte Melodie in C-Dur zurückgeführt. In Serenade (Nr. 4)13 ist wiederum nichts von der Schwere oder Melancholie der letzten beiden Nummern zu finden. Im Gegenteil vermittelt das Stück im 6/8-Takt einen beschwingten und tänzerischen Eindruck. Die Melodie ist heiter und eingängig und hat durch viele Punktierungen etwas Schwingendes. Die Klavierbegleitung besteht aus wandernden Basstönen in der linken Hand, während die rechte Hand mit zahlreichen Vorhalten von Dreiklang zu Dreiklang springt und damit ebenfalls den tänzerischen Charakter unterstützt. Zusammen mit dem Text ergibt sich in der ersten Strophe die Stimmung eines verspielten Flirts: Ihr blauen Augen, gute Nacht! Schliesst euch zu holden Träumen, auf dass ihr hell und frisch erwacht, wenn golden sich die Wolken säumen; ihr blauen Augen, gute Nacht! Gute Nacht!

Die zweite Strophe ist musikalisch etwas ruhiger gestaltet, die Vorhalte in der Begleitung werden hier durch wiegende Achtel-Bewegungen in der rechten Hand ersetzt. Auf diese Weise wird der intimere Inhalt (»ihr roten Lippen«) des Textes aufgegriffen: 13 Ebd., S. 10–13.

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Ihr rothen Lippen, gute Nacht! Wenn Sterne sich am Himmel zeigen, Schliesst ja den Kelch der Rose Pracht; so schliesst auch euch zu holdem Schweigen, ihr rothen Lippen, gute Nacht! Gute Nacht!

Die letzte Strophe kehrt schließlich zum Stil der ersten Strophe zurück und lässt das Lied beschwingt enden: Du holdes Antlitz, gute Nacht! Wer würde Tagesglanz vermissen, wenn hell noch deine Schönheit wacht; drum birg dich tief im weichen Kissen, du holdes Antlitz, gute Nacht! Gute Nacht!

Anstatt mit diesem heiteren Stück beendet Eugen d’Albert den Liederzyklus schließlich mit dem Lied Letzter Wille (Nr. 5)14. Sowohl auf textlicher als auch auf musikalischer Ebene handelt es sich hier um das düsterste Lied der Sammlung und auch das einzige, das in (e-)Moll steht. Die unbehagliche Stimmung wird in den ersten vier Takten, entsprechend der ersten Strophe des Gedichtes, durch eine eintönige Melodieführung und eine chromatisch abfallende Kadenz aus Moll- und verminderten Dreiklängen erzeugt. Im weiteren Verlauf des Liedes (Strophen 2–6) wechselt die Singstimme zwischen Chromatik und großen Intervallsprüngen (Quinten, Septimen, Oktaven), was dem Lied einen suchenden, unsteten Charakter gibt und es wenig eingängig macht. Auch auf der textlichen Ebene sind es düstere Gedanken, mit denen sich das lyrische Ich beschäftigt: Wenn einst der Tod an mein Lager tritt, drei Stücke gib in den Sarg mir mit: Geraniumblüthe brennend roth, wie meine Lieb’ war bis zum Tod; ein duftend Röslein auch leg’ hin, wild wachsend wie mein freier Sinn; ein Lorbeerzweig lieg’ auch dabei, ein Zweig nur, dass kein Kranz es sei!

14 Ebd., S. 14–15.

Anerkennung oder Verurteilung als Künstlerehepaar?

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Dann setz’ an meinen Sarg dich hin, und weine, dass ich gestorben bin; und sprichst du dann: Wie der, wie der, so liebt mich Niemand auf Erden mehr! Dann ist mein Tagewerk gethan, dann schwingt mein Geist sich himmelan!

In der letzten Strophe kehrt das Lied zunächst zur ruhigeren Melodie und Begleitung der ersten Strophe zurück. Auch auf der Ebene des Textes kommt das lyrische Ich zur Ruhe, das »Tagewerk« ist vollbracht und ist zugleich eine Metapher für das erreichte Lebenswerk, an dessen Ende die Erlösung durch den Tod steht. Dies greift ebenfalls die Melodie auf, die sich in einer Sexte nach oben schwingt und schließlich nach E-Dur auflöst. Damit ist das Ende des Zyklus sehr ähnlich, wie bei Robert Schumanns berühmter Chamisso-Vertonung.15 Auch hier handelt das letzte Lied vom Tod des Ehemannes. Im Gegensatz zu Schumann verweist d’Albert allerdings nicht musikalisch auf einen Lebenskreislauf, der in der nächsten Generation weitergeführt wird.16 In Letzter Wille ist das Ende definitiver: Hier wird besonders die Exklusivität der Liebesbeziehung hervorgehoben. Der geliebte Partner soll nach dem Tod des lyrischen Ichs keine neue Liebe finden, erst die Bestätigung dessen führt schließlich zur Erlösung aus der unheilvollen Stimmung von Text und Musik. Betrachtet man den Liederzyklus insgesamt, fällt auf, dass es zwar in allen Liedern um die Liebe geht, die Art und Ausprägung dieser Liebe variiert allerdings stark: Sie reicht von der leichten und unkomplizierten Schwärmerei (Im Garten, Serenade) bis hin zur völligen Hingabe oder Abhängigkeit und dem alleinigen Besitz (Ohne Dich, Sonne und See, Letzter Wille). Diese Kontraste finden sich auch in den Kompositionen wieder, was den Zyklus abwechslungsreich macht, aber auch den Eindruck von Zerrissenheit oder Uneindeutigkeit entstehen lässt. Davon ungeachtet war es Eugen d’Albert offenbar wichtig, den Zyklus dezidiert als Liebeslieder zu charakterisieren. Das zeigt sich darin, dass er seinen ganzen Zyklus unter dieses Motto stellte, obwohl, wie bereits erwähnt, zwei der ausgewählten Lieder nicht aus Halms gleichnamigem Gedichtzyklus veröffentlicht worden waren. Darüber hinaus kennzeichnete d’Albert die Lieder der Liebe 15 Robert Schumann, Frauenliebe und Leben op. 42, hg. von Clara Schumann, Leipzig 1885 (Robert Schumanns Werke, Serie VIII). 16 Vgl. ausführlicher hierzu: Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln, Weimar und Wien 2014, S. 154–160.

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als persönliche Liebesäußerung, indem er die Sammlung »Meiner Hermine zum 21. October 1895«17 und damit zum Hochzeitstag widmete. Vermutlich handelte es sich allerdings nicht um ein direktes Hochzeitsgeschenk, wie es der d’Albert-Biograph Wilhelm Raupp darstellt.18 Die sehr ausführlichen Schilderungen von der Hochzeit im gemeinsamen Tagebuch von Hermine d’Albert erwähnen kein solches Geschenk, was angesichts ihrer sonst sehr genauen Beschreibungen der Kompositionen ihres Mannes verwundert.19 Dagegen berichtete Hermine d’Albert wenige Tage nach der Hochzeit, dass »Eugen drei seiner Lieder in’s Reine schrieb u. zu einem derselben eine neue Begleitung machte.«20 Einen Tag später notierte sie: »Eugen componierte das vierte Lied, ich schrieb Briefe.«21 Es ist sehr gut möglich, dass es sich hierbei um den Liederzyklus handelte und Eugen d’Albert diese seiner Frau nachträglich zum Geschenk machte. Gleichwohl markierte er den Zyklus deutlich als Liebesäußerung und Hochzeitsgeschenk. Zudem verwies er durch ausgerechnet die Widmung von Liedern auf den Status seiner Frau als Sängerin und positionierte seine Ehe damit als Künstlerehe. Im Februar 1896 erschien der Liederzyklus (mit Widmung) im Verlag Bote & Bock in Berlin.22 Uraufführung des Liederzyklus und erste gemeinsame Schritte als Musikerehepaar Bei oben erwähntem Tonkünstlerfest drei Monate später wurden die Lieder vermutlich durch das Künstlerpaar uraufgeführt. Wie aus den Ehetagebüchern hervorgeht, hatten sich die d’Alberts recht kurzfristig zur Teilnahme entschieden, da sie während der Veranstaltung eigentlich auf Konzertreise in England waren. Anfang Mai notierte Hermine d’Albert jedoch: Wir stehen in lebhaftem Depeschenwechsel mit Herrn v. Bronsart wegen unserem Mitwirken beim Tonkünstlerfest in Leipzig. Erst wollte es sich nicht machen, da wir am 17 Ebd., [Titelblatt]. 18 Vgl. Wilhelm Raupp, Eugen d’Albert. Ein Künstler- und Menschenschicksal, Leipzig 1930, S. 110. 19 Vgl. hierzu ausführlicher ebenfalls in diesem Band: Christine Fornoff-Petrowski, »Tagebuchschreiben im Duett: Die Selbstbildung und Selbstdarstellung in den Ehetagebüchern des Künstlerpaares Hermine und Eugen d’Albert«, S. 147–162. 20 Hermine d’Albert am 26. Okt. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), in: 19 Tagebücher von Eugen und Hermine d’Albert, 1895–1909, Depositum des Archivs der Berliner Philharmoniker im Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin, Signatur: A Alb 1. 21 Hermine d’Albert am 27. Okt. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20). 22 Vgl. Musikalisch-literarischer Monatsbericht über neue Musikalien, musikalische Schriften und Abbildungen, Nr. 2 (Febr. 1896), S. 77.

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2. Juni wieder zum recital [sic] hier sein müßen, aber durch die Verschiebung der Conzerte ist es nun doch möglich geworden, daß wir beide mitwirken.23

In den Tagen darauf stellte das Paar die Programme für die Konzerte unter ihrer Mitwirkung zusammen, zuletzt jenes für die Kammermusik am 30. Mai. Während sie sich am 9.  Mai noch unsicher waren24, hielt Hermine d’Albert am 11. Mai fest: »Wir haben uns entschloßen, daß nicht [Georg] Anthes, wie wir erst beabsichtigten, sondern ich Eugen’s neue Lieder als eine Nummer in der Kammermusik singe.«25 Von dieser Bemerkung abgesehen, sind in den Tagebüchern keine Überlegungen zum Programm, beziehungsweise Äußerungen über die Intention bei der Auswahl zu finden. Aus den Berichten zum Tonkünstlerfest ist aber ersichtlich, dass die d’Alberts den eigenen Liebesliedern die sechs Brautlieder von Peter Cornelius zur Seite stellten. Auch wenn in den Tagebüchern hiervon nichts zu lesen ist, ist es angesichts der Lebensumstände des Paares wohl sehr unwahrscheinlich, dass diese Programmwahl und die Entscheidung für Hermine d’Albert als Interpretin zufällig und nicht mit einer bestimmten Intention verbunden waren. Zum Zeitpunkt besagter Tonkünstlerversammlung war das Künstlerpaar seit gerade sechs Monaten verheiratet, ebenso kurz lag Eugen d’Alberts Scheidung von der Pianistin Teresa Carreño zurück. Diese und die schnelle Wiederverheiratung innerhalb eines Monates mit der Sängerin Hermine Finck hatten für wenig positive öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt.26 Verstärkend kam hinzu, dass der Veranstaltungsort – die Stadt Leipzig – in unmittelbarer Nähe zu Coswig und im erweiterten Umfeld der Stadt Berlin lag, beides Schauplätze der Ehe und Scheidung des Paares Carreño-d’Albert. Coswig (bei Dresden) war der gemeinsame Wohnort des Paares mit seinen Kindern gewesen, Berlin derzeitiger Lebensmittelpunkt Teresa Carreños, Ort vieler gemeinsamer Konzerte und schließlich der Scheidung des Paares. Durch den räumlich wie zeitlich geringen Abstand waren die Ereignisse rund um Scheidung und Hochzeit sehr präsent. Im Oktober 1895 hatten ebenfalls Die Redenden Künste noch von der stattgefundenen Hochzeit Eugen d’Alberts berichtet, nicht ohne auf den Umstand der dritten Eheschließung hinzuweisen und mehr oder minder subtil die Sympathien für die letzte, beziehungsweise neue Ehefrau deutlich zu machen:

23 24 25 26

Hermine d’Albert am 8. Mai 1896, Tagebuch 2 (1896), (Anm. 20). Vgl. Hermine d’Albert am 9. Mai 1896, Tagebuch 2 (1896), (Anm. 20). Hermine d’Albert am 11. Mai 1896, Tagebuch 2 (1896), (Anm. 20). Vgl. hierzu ausführlicher ebenfalls in diesem Band: Fornoff-Petrowski, Tagebuchschreiben im Duett (Anm. 19).

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Die Künstlerin hat die Ehre und das Vergnügen, des Virtuosen dritte Frau zu sein; die erste war Gretchen Salingré, die Tochter des bekannten Berliner Possendichters, die zweite Teresa Carreno, die geistvolle Pianistin, eine bemerkenswerte Beauté.27

Offenbar wollte das Ehepaar d’Albert nun mit seinem Auftritt beim Tonkünstlerfest die Gelegenheit nutzen, um auf positive Weise auf die neue und glückliche Verbindung als Künstlerpaar aufmerksam zu machen. Dass gemeinsame Auftritte nicht nur unter künstlerischen Gesichtspunkten beurteilt wurden, hatte das Paar – insbesondere Hermine d’Albert – bereits Anfang des Jahres schmerzlich erfahren. Am 10. Januar 1896 fand im Saal der Singakademie in Berlin ein Konzert von Eugen d’Albert statt. Mitwirkende waren Johannes Brahms, der seine von d’Albert gespielten Klavierkonzerte dirigierte, und Hermine d’Albert, die eine Arie aus Beethovens Fidelio vortrug. Bereits bei der öffentlichen Hauptprobe am Tag zuvor ließ das Berliner Publikum die Künstlerin offenbar seine ablehnende Haltung spüren, wie Hermine d’Albert zutiefst verletzt im Ehetagebuch festhielt: Keine Hand rührte sich anfangs, dann begannen einzelne Hände schüchtern mich zu empfangen. Ich sang nun unter kolossaler Aufregung ganz gut, nun auch nicht so wie ich unter normalen Verhältnißen gekonnt hätte. Eugen u. Brahms waren sehr zufrieden, die Freunde begeistert. Nach Schluß der Arie wurde ich nur zwei mal hervorgerufen. Das hatte ich nicht erwartet. Daß man mir mit Vorurteil anfangs zuhören würde, wußte ich aber daß man meine Leistung nicht objektiv anerkannte, - das überraschte mich u. machte mich natürlich sehr traurig. Während Eugen das B-Dur Conzert spielte, saß ich in der Ecke am Eingang lauschte seinem herrlichen Spiel u. weinte mich aus, denn er sollte auf keinen Fall von meinem Schmerz etwas merken, er hatte wahrlich Aufregung genug, u. was kann er für ein rachesüchtiges boshaftes Weib, für eine oberflächliche, hohle, seichte Welt, die nur zu gern das Schlechte glaubt u. ungerecht verurteilt? – Man glaubt eben, ich sei die Veranlaßung zur Scheidung gewesen, so hat »Sie« es ausgesprengt u. natürlich u. selbstverständlich begegnet man mir nun mit Antypathie.28

Auch vom Konzert berichtete Hermine d’Albert von »Todenstille [sic] mit der ich begrüßt wurde«29 und ihrem und Eugens Ärger im Anschluss daran über die Rezensionen der »Tintenbuben mit ihren Bosheiten«30. Tatsächlich nahmen die privaten Umstände des Ehepaares einen großen Raum in den Konzertberichten ein, wie besonders im Berliner Tageblatt vom 11. Januar: 27 28 29 30

Die Redenden Künste, Nr. 6, 1895/96 (30. Okt. 1895), S. 201. Hermine d’Albert am 9. Jan. 1896, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20). Hermine d’Albert am 10. Jan. 1896, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20). Hermine d’Albert am 11. Jan. 1896, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20).

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Es ist in diesem Falle unmöglich, das persönliche Gebiet ganz zu meiden, weil sonst einzelne Momente im Verlauf des gestrigen Abends unverständlich bleiben würden. Es giebt [sic] Leute, welche meinen, Brahms habe der neuen Ehe d’Alberts den musikalischen Segen ertheilen und diesen so dort rehabilitieren wollen, wo sein Ansehen einigermaßen gelitten hatte. Im Grunde genommen geht ja das Privatleben des Künstlers das Publikum im Konzertsaal nichts an; da aber einmal die Ehescheidung d’Alberts und seine Neuvermählung von schädlichem Einfluß auf die Stimmung selbst vieler seiner früheren Freunde gewesen ist, wäre es eine unangebrachte Delikatesse, die Angelegenheit, die doch in Aller Munde ist, nicht zu berühren.31

Die Rehabilitation durch Brahms – intendiert oder nicht – sei bei Eugen d’Albert aufgegangen, dem das Publikum zunehmend wärmer begegnet sei, obwohl der Pianist seine Frau am Konzert beteiligt habe. Diese allerdings wurde sehr kalt empfangen und keineswegs besonders freundlich entlassen. Vielleicht wäre es bei der einmal herrschenden Stimmung taktvoller gewesen, wenn sie sich gestern nicht hätte hören lassen, um so mehr, da ihr Können und ihre künstlerische Bedeutung an die ihres Gemahls nicht entfernt heranreicht. Sicher war es nicht übermäßig zartfühlend, daß sie gerade die Arie »Abscheuliche, wo eilst Du hin?« aus Beethovens »Fidelio« zum Vortrag gewählt hatte, also einen Gesang zum Preise der Gattenliebe und Gattentreue. Das sah beinahe aus wie Provokation, und darauf antwortete das Publikum mit Zurückhaltung.32

Sowohl der Auftritt generell als auch die künstlerische Qualität und die Programmwahl wurden hier an den privaten Verhältnissen des Ehepaares gemessen. Möglicherweise erhofften sich die d’Alberts nun von ihrem Auftritt auf dem Tonkünstlerfest, die Berichterstattung über sich ins Positive zu wenden. Nach dem Konzert in Berlin dürfte ihnen zumindest bewusst gewesen sein, dass die Auswahl von Brautliedern und eigens komponierten und zur Hochzeit gewidmeten Liedern der Liebe nicht unkommentiert bleiben würde. Und tatsächlich reagierte die Presse in ihren Rezensionen des Konzertes von der Tonkünstlerversammlung auf die Darstellung als Künstlerehepaar. Vermutlich allerdings nicht auf die Weise, die sich das Ehepaar erhofft hatte. So ließ der Redakteur Otto Sonne in der oben ausführlich zitierten Rezension kaum ein gutes Haar an dem Künstlerehepaar. Wie bereits bei dem Konzert im Januar wurden private Details mit künstlerischer Leistung verbunden und ergaben einen bunten Blumenstrauß aus Kritikpunkten: Auf moralischer Ebene erinnerte Sonne daran, dass Hermine d’Albert bereits die dritte Ehefrau des Künstlers sei, 31 »Ein Brahms-Abend«, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Jg. 25, Nr. 18 (11. Jan. 1896), [S. 2]. 32 Ebd.

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was in der Form »Frau d’Albert III.« vor allem für sie abwertend wirkte. Weiter auf der privaten Ebene unterstellte er ihr das Engagement nur aufgrund ihres Ehemannes und verknüpfte damit seine musikalische Kritik: Gesang, Stimme und Vortragsweise seien nicht gut, die Auswahl von elf Liedern langweilig. Eugen d’Albert wurde vor allem in Bezug auf seine künstlerische Leistung bewertet, Liedkompositionen als generell überflüssig und er selbst als furchtbarer, unselbständiger und künstlicher Komponist dargestellt. Noch konkreter ging Otto Sonnes Wiener Kollege Theodor Helm in seinem Bericht für die Österreichische Musik- und Theaterzeitung auf die privaten Umstände und vermuteten Intentionen des Künstlerehepaares ein: Was die deutschen Gesangsnummern des Concertes anbelangt, so schienen sich in diesen Hr. d’Albert und seine dritte Gattin als ein besonders glückliches Ehepaar vorstellen zu wollen, denn die beiden machten uns zuerst mit einem neuen Cyklus von Eugen d’Alberts »Lieder der Liebe« bekannt, welche die bräutlichste Stimmung athmen, denen sie später gleichsam als deren Ergänzung die berühmten wunderbar edlen Brautlieder von Peter Cornelius folgen liessen. […] Ob sich in Eugen und Hermine d’Albert endlich die rechten Künstlerseelen zusammengefunden haben oder ob da bald wieder eine Scheidung erfolgt? Man muss es eben mit Bezug auf das unstete Temperament des wunderlichen kleinen Kraftvirtuosen abwarten.33

Generell hatten die Interpretin und der Komponist in den Rezensionen auf das Konzert auch auf der künstlerischen Ebene einen schweren Stand. Über die Qualität des Gesangs war sich die Kritik uneinig: Teilweise wurden Hermine d’Alberts Leistungen gelobt34, manche Rezensenten bemerkten dagegen Unsicherheiten in der Intonation35, Otto Sonne warf ihr gar Mittelmäßigkeit und Dilettantismus vor. Diese teilweise grundlegende Kritik an Hermine d’Alberts Gesangskünsten verwundert, da die Sängerin vor ihrer Eheschließung sehr gute Rückmeldungen und wohl nicht zu Unrecht die Anstellung als Hofopernsängerin in Weimar erhalten hatte.36 Die Lieder der Liebe kamen beim Publikum offenbar nicht besonders gut an, vor allem im Vergleich mit den Brautliedern von 33 Theodor Helm, »Die 32. Tonkünstler-Versammlung des Allgem. deutschen Musikvereines in Leipzig. (28. Mai bis incl. 1. Juni 1896)«, in: Österreichische Musik- und Theaterzeitung, Jg. 8, Nr. 25 (1. Juli 1896), S. 1–4, hier: S. 2. 34 Deutsche Kunst- und Musikzeitung, Jg. 23, Nr. 13 (1. Juli 1896), S. 170; Bernhard Vogel, »Die Leipziger Tonkünstlerversammlung des ›Allg. Deutschen Musikvereins‹. (Schluß)«, in: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 63, Bd. 92, Nr. 26 (24. Juni 1896), S. 313–314, hier: S. 313. 35 Vgl. Vogel, Die Leipziger Tonkünstlerversammlung des ›Allg. Deutschen Musikvereins‹ (Anm. 34); Helm, Die 32. Tonkünstler-Versammlung des Allgem. deutschen Musikvereines in Leipzig (Anm. 33). 36 Vgl. u. a. Meldungen in der Zeitschrift Signale für die Musikalische Welt: Zu einem Schülerkonzert der Lehrerin Auguste Götze ( Jg. 48, Nr. 72 (Dez. 1890), S. 1140), anlässlich ihrer Anstellung in

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Peter Cornelius wurden sie als zu künstlich bewertet. Am besten gefielen der Kritik die Lieder Im Garten und Serenade. Die anderen drei wurden als »etwas gesucht«37 und »mit den melodischen wie harmonischen Geschraubteiten geradezu unausstehlich«38 bezeichnet. Otto Sonne verglich die Lieder schließlich mit Falschgold und attestierte ihnen eine »unsagbar flache und triviale Sinnlichkeit«39. Einzig die Begleitung durch Eugen d’Albert wurde rundweg positiv bewertet. Auffällig ist, dass besonders die Rezensionen, die auch auf die privaten Verhältnisse des Ehepaares Bezug nahmen, beziehungsweise mehr oder weniger deutlich diese auch zum Gegenstand der Kritik erhoben, hart mit den künstlerischen Leistungen der d’Alberts ins Gericht gingen. Offenbar provozierte die Programmgestaltung des Künstlerpaares diese Rezeptionsweise. Sollten Eugen und Hermine d’Albert tatsächlich – wie es auch Rezensent Theodor Helm vermutete – die Intention gehabt haben, mit diesem Auftritt und der Bekanntmachung der Lieder der Liebe auf positive Weise auf die Wahrnehmung von sich als Künstlerpaar einzuwirken, muss dieser Versuch wohl als gescheitert betrachtet werden. Die Reaktionen gegen Hermine d’Albert waren ähnlich abweisend wie bei dem Berliner Konzert zu Jahresbeginn, zudem erfuhr Eugen d’Albert als Komponist eine harsche Zurückweisung. Was bedeutete dieser erneute Rückschlag für das Künstlerehepaar d’Albert? Interessanter Weise ist davon – ganz im Gegenteil zu den Kommentaren zum Berliner Konzert – nichts in den Tagebüchern zu lesen. Das ist durchaus ungewöhnlich, da Hermine und Eugen d’Albert häufig über in ihren Augen ungerechtfertigt schlechte Reaktionen auf Konzerte in den Tagebüchern berichteten. Stattdessen vermittelt Hermine d’Alberts Beschreibung des Auftritts ein völlig anderes Bild: Die Kammermusik verlief ausgezeichnet. Ich war noch ruhiger als gestern u. sang, wie auch Eugen sagte, ausgezeichnet. Die Leute, darunter Schuck, Bronsart’s, Nickisch, die Böhmen, La Mara u. Frl. Götze waren ganz entzückt. Letztere sagte, noch keine ihrer Schülerinnen habe ihr Lieder so zu Dank gesungen. Die übrigen Damen waren über das letzte von Eugen’s Lieder derartig gerührt, daß ihnen die Thränen kamen. Ich war so glücklich, daß Eugen mit meiner Interpretation so zufrieden war, u. daß alles so gut vorüber gegangen ist.40

Weimar ( Jg. 50, Nr. 25 (März 1892), S. 391), bei einem Gastkonzert in Baden-Baden ( Jg. 52, Nr. 14 (Febr. 1894), S. 218). 37 Helm, Die 32. Tonkünstler-Versammlung des Allgem. deutschen Musikvereines in Leipzig (Anm. 33). 38 Vogel, Die Leipziger Tonkünstlerversammlung des ›Allg. Deutschen Musikvereins‹ (Anm. 34). 39 Sonne, Die XXXII. Tonkünstlerversammlung in Leipzig (Anm. 2). 40 Hermine d’Albert am 30. Mai 1896, Tagebuch 2 (1896), (Anm. 20).

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Offenbar unterschieden sich die eigene Wahrnehmung und die Rückmeldung von Freunden und Bekannten deutlich von den Konzertberichten der Presse. Dies allein wäre kein Grund zur Verwunderung. Irritierend ist jedoch, dass nach diesem Bericht die Lieder der Liebe oder besagtes Konzert mit keinem Wort mehr in den Tagebüchern erwähnt werden. Auch nach Erscheinen der verschiedenen Kritiken finden sich keine Bezugnahmen darauf in den Tagebüchern. Zwar reisten die d’Alberts direkt nach der Tonkünstlerversammlung wieder nach England, es ist aber doch sehr unwahrscheinlich, dass ihnen die Reaktionen auf die Konzerte gänzlich entgingen, zumal sie ja offenbar mit der Wahl ihres Programmes auf eine – wenn auch positivere – öffentliche Wahrnehmung abgezielt hatten. Zudem sind in den Tagebüchern in den folgenden Ehejahren verschiedene Auftritte von Hermine d’Albert mit Liedern ihres Mannes festgehalten, die Titel der Lieder der Liebe sind allerdings nicht darunter.41 Allem Anschein nach blieb auch – abgesehen von einer Übersicht neu erschienener Lieder im Verlag Bote & Bock für 189642 – nach dem Konzert eine gezielte Werbung für Eugen d’Alberts op. 13 aus.43 Schutz eines persönlichen Werkes? Nach dem Auftritt bei der Tonkünstlerversammlung wurde es offenbar ruhig um die Lieder der Liebe. Auch heute sind die Noten kaum oder nur schwer auffindbar.44 Ein Erklärungsansatz für das ›Verschwinden‹ der Lieder wäre dieser: In den Monaten nach der Hochzeit von Hermine und Eugen d’Albert ist in den Tagebüchern einerseits immer wieder von dem Glück zu lesen, was beide durch die Eheschließung und damit die Legitimierung ihres Zusammenseins empfanden. Vor der Hochzeit mussten des Anstandes halber Hermines Familienmitglieder als Begleitpersonen erbeten werden, was teilweise komplizierte Planung erforderte, weil die Schwestern sowie Hermines Mutter extra anreisen mussten. Unter Umständen konnte dies auch bedeuten, dass sich das Paar aufgrund fehlender Anstandspersonen nicht sehen konnte:

41 Dokumentiert sind u. a. op. 3, 9, 15, 17, 18, 19, 21. 42 Signale für die Musikalische Welt, Jg. 54, Nr. 65 (11. Dez. 1896), S. 1040. 43 Im März hatte es in der Signale für die Musikalische Welt noch eine große Werbung gegeben: Signale für die Musikalische Welt, Jg. 54, Nr. 25 (27. März 1896), S. 400. 44 Abgesehen von einem Reprint in den USA ist mir nur ein Exemplar bekannt, das sich in der Bibliothek des Mozarteums in Salzburg befindet. Antiquarisch habe ich bisher kein Exemplar finden können.

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Wie ich nun so stickte u. mir das Wiedersehen von morgen ausmalte, kam eine Depesche, Anna könnte erst Dienstag Abend kommen. Trostlos u. verzweifelt sprang ich zur Post u. telegraphierte, daß Mama od. Frau Rotke Kommen möchten, depeschierte auch an mein Goldlieb. […] Mein Lieb hat furchtbare Sehnsucht gleich mir u. weiß, während er den Brief schreibt noch nichts von der drohenden Gefahr unseres Wiedersehens. […] Mama depeschierte, auf jeden Fall käme Jemand.45

Außerdem bedeutete es wenig Privatsphäre für das frisch verliebte Paar, wenn es beispielsweise von Hermines Mutter und Schwester in die Ferien begleitet wurde.46 Umso größer war die Erleichterung am Tag nach der Scheidung von Teresa Carreño, als die Verlobung erfolgen und das Paar sich auch öffentlich zusammen zeigen konnte: Am Mittwoch Abend kam mein Lieb aus Berlin an, Das glückliche Gefühl, uns nun endlich auch vor den Augen der Welt angehören zu dürfen, war unbeschreiblich schön. Wir waren am Donnerstag den ganzen Tag über allein, da Anna wieder nach Weimar zurückkehren mußte, u. genoßen den Tag denn auch mit vollen Zügen u. in schönster, ruhiger Seelenstimmung.47

Nach der Hochzeit notierte Hermine d’Albert immer wieder, wie glücklich beide seien, endlich als Ehepaar zusammen leben zu dürfen. Andererseits musste sich das Paar auch gegen erhebliche Widerstände durchsetzen. Dies war zum einen Eugen d’Alberts Scheidung, deren Verhandlung in der Öffentlichkeit für die ganze Familie belastend war. So berichtete Hermine d’Albert von einer Notiz im Badeblatt: [Am] Sonntag d. 6. Oktober fuhren wir mit Mama nach Berlin, woselbst uns die gedrückte Stimmung der Familie bei unserem Empfang auffiel. Ich erfuhr dann auch, daß Dr. Pohl eine boshafte Notiz, die über Eugen’s Ehescheidung in der Frankfurter Zeitung gestanden, abgedruckt hatte u. damit der ganzen Familie u. uns einen bösen Streich gespielt hat. […] Eugen regte sich natürlich auch entsetzlich auf u. den ganzen Vormittag überlegte man sich was geschehen könnte […]. Die Stimmung war infolge dessen, in den folgenden Tagen ebenfalls, eine sehr gedrückte.48

Hinzu kam ein Rechtsstreit zwischen Hermine d’Albert und dem Intendanten des Weimarer Hoftheaters, Hippolyt von Vignau, der dem Paar Sorgen bereitete. Dieser forderte eine Konventionalstrafe von der ehemaligen Hofopernsängerin 45 46 47 48

Hermine d’Albert am 28. Sept. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20). Vgl. Hermine und Eugen d’Albert, 13. Aug.-12. Sept. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20). Hermine d’Albert am 3. Okt. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20). Hermine d’Albert, 6.-7. Okt. 1895, Tagebuch 1 (1895–96), (Anm. 20), Hervorh. i. O.

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wegen Vertragsbruchs im Zusammenhang mit ihrer Entlassung von der Weimarer Hofbühne. Die Nachricht über den gewonnenen Prozess erhielten die d’Alberts erst Anfang Juli 1896.49 Für weiteren Ärger sorgte die Weimarer »Kapellmeisterkrise«, die – neben der bevorstehenden Hochzeit – sicherlich auch ein Grund für Hermine Fincks Abschied von der dortigen Bühne war. Diese bestand aus einer Verwicklung verschiedener Akteure des Weimarer Hoftheaters, u. a. Hans von Bronsart (Generalintendant), Hippolyt von Vignau (nachfolgender Generalintendant), Eduard Lassen (Hofkapellmeister), Eugen d’Albert (nachfolgender Hofkapellmeister) sowie Agnes und Bernhard Stavenhagen (Hofopernsängerin und nachfolgender Hofkapellmeister). Dabei ging es vereinfacht gesagt um die Nachfolge auf den Posten Eduard Lassens, die sowohl d’Albert als auch Stavenhagen für sich beanspruchten. Schlussendlich zog Eugen d’Albert den Kürzeren und verließ Weimar.50 In den Tagebüchern ist immer wieder von der Frustration in Zusammenhang mit diesen Ereignissen zu lesen, so wie dem Gefühl, Opfer von Intrigen gewesen zu sein. Das Glücksgefühl über die Zweisamkeit ging damit mit dem Gefühl der Ablehnung des Komponisten und des Ehepaares d’Albert einher. Daher wäre es möglich, dass sich die Eheleute dazu entschlossen die Lieder der Liebe quasi aus der Schusslinie der Kritik zu nehmen. Es ist jedenfalls zu vermuten, dass diese – als Hochzeitsgabe – dem Paar persönlich etwas bedeuteten. Darauf verweist auch die etwas bissige Bemerkung des Rezensenten Helm, Hermine d’Albert habe die Künstlichkeit der Lieder nicht empfunden und »den ganzen Cyklus mit innigstem Ausdrucke wie ein persönliches Erlebnis«51 gesungen. Die zum Teil gehässige und sehr harte Kritik war somit sicherlich verletzend und es würde nicht verwundern, sollten der Komponist und die Sängerin entschieden haben, auf weitere Aufführungen zu verzichten und den persönlichen Liederzyklus zu schützen. Dies würde auch die fehlende Erwähnung der Konzertrezensionen in den Tagebüchern erklären. Auf diese Weise konnten sie zumindest aus ihrer eigenen Geschichtsdokumentation die negativen Stimmen zum Opus 13 ausklammern. Ob die Kritik der Zeitgenossen an den fünf Liedern der Liebe als berechtigt anzusehen ist, bleibt nun den Lesenden und Hörenden selbst zur Bewertung überlassen. Fest steht jedoch, dass in den Kritiken zum Konzert deutlich mehr als nur eine neu erschienene Liederkomposition verhandelt, beziehungsweise rezensiert wurde. Sicherlich ging es auch um die Beurteilung der Qualität des Werkes und Beobachtungen zur Publikumsreaktion. Zudem ging es aber um die 49 Vgl. Hermine d’Albert am 7. Juli 1896, Tagebuch 2 (1896), (Anm. 20). 50 Vgl. hierzu ausführlicher die Übersicht über Ereignisse und beteiligte Personen bei: Dirk Haas, Oper, Konzert und Orchester am Weimarer Hoftheater 1857 bis 1908, Hamburg 2015, S. 275–296. 51 Helm, Die 32. Tonkünstler-Versammlung des Allgem. deutschen Musikvereines in Leipzig (Anm. 35).

Anerkennung oder Verurteilung als Künstlerehepaar?

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Abstrafung eines – nach den gängigen Idealvorstellungen – unmoralisch handelnden Paares, dem hier ganz deutlich die Grenzen des bürgerlichen Anstands gezeigt wurden. Möglicherweise spielten außerdem private Sympathien eine Rolle, Musikkritiker und Interpreten und Interpretinnen verkehrten durchaus auch privat in den gleichen Kreisen. Somit geben die Umstände der Uraufführung einen ganz speziellen Einblick in die Selbstdarstellungsstrategien von Musikerehepaaren und die Schwierigkeiten, mit denen sich das Künstlerpaar d’Albert konfrontiert sah. Auffällig ist darüber hinaus, dass die recht offenkundigen Bestrebungen, sich als Künstlerehepaar positiv in der Öffentlichkeit zu positionieren, die im Umfeld der Uraufführung der Lieder der Liebe dokumentiert werden konnten, im starken Kontrast zu den Äußerungen über Hermine d’Alberts Rolle als Künstlerehefrau in den Tagebüchern stehen. Hier hatte sowohl sie selbst als auch Eugen d’Albert vermehrt darauf hingewiesen, ihre Aufgabe sei nicht die der Künstlerin, sondern »nur seine Gattin.«52 Offenkundig war die Ehekonzeption und die Zuweisung der jeweiligen Rollen zu Beginn der Beziehung noch weitaus beweglicher, als sie es in späteren Jahren war.

52 Hermine d’Albert am 27. Okt. 1897, Tagebuch 4 (1897–98), (Anm. 20), Hervorh. i.O. Vgl. hierzu ausführlicher ebenfalls in diesem Band: Fornoff-Petrowski, Tagebuchschreiben im Duett (Anm. 19).

Konstellationen, Familien, Netzwerke

Sigrid Nieberle

Geschliffene Biographeme Paarkonstellationen im autobiographischen Musikerinnennachlass am Beispiel von Margarethe Quidde und Aline Valangin

Mit einem Ding Der US-amerikanische Spielfilm Cast Away (Robert Zemeckis, USA 2000) erzählt von einer ungewöhnlichen Paarkonstellation. Chuck, gespielt von Tom Hanks, strandet als einziger Überlebender eines verunglückten Frachtflugzeugs an einer einsamen Insel. Dieser postmoderne Crusoe organisiert sein Überleben, indem er weder resigniert noch die soziale Isolation akzeptiert. Stattdessen freundet er sich mit Wilson, einem alten Volleyball, an, dem er ein Gesicht gegeben hat, mit dem er sich unterhält und der – jenseits einer sexuellen Fetischisierung – sein verlässlicher Partner in den vielen Jahren der Einsamkeit werden soll. Wilson jedoch fällt von jenem Floß, mit dem Chuck letztlich seiner Rettung entgegenschwimmt. Die tragische Abschiedsszene der beiden wird mit aufwändigen filmischen Mitteln gestaltet; Schnittfrequenz und -tempo wachsen an. Der point of view, von dem aus das Publikum das Unvermeidliche betrachtet, ist bemerkenswert gewählt, denn der Bildausschnitt wird halb unterhalb und halb oberhalb der Wasseroberfläche verortet, als würden die Zuschauer die Perspektive Wilsons übernehmen können. Die geschliffene optische Linse der Kamera wird auch deshalb wahrnehmbar, weil sich die glitzernde Wasseroberfläche darin bricht. Diese Kameraeinstellung provoziert die Reflexion der eignen Zuschauerposition, denn das geschliffene Glas der Linse ermöglicht die unmögliche Teilhabe am Untergang. Es handelt sich zum einen um den viel zitierten »Schiffbruch mit Zuschauer«,1 von dem diese Filmsequenz erzählt, und zum anderen um die intensive Beziehung zwischen einem Menschen und einem anthropomorphisierten Dingobjekt. Was die fiktionale Erzählung im Spielfilm als eine tragische Geschichte des Scheiterns mit allen verfügbaren ästhetischen Codes inszeniert, lässt sich als abstrakte Aussage im Diskurs auch in historischem Archivmaterial finden: Paarkonstellationen jenseits bürgerlicher Geschlechterrollen, die erst durch die Dis1 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979.

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kursivierung und in Verbindung mit einem geschliffenen Biographem sichtbar werden. Während dem Filmpublikum eine technisch diffizil eingesetzte Kameralinse nahelegt, was von einer solchen kristallinen Brechung der Perspektive auf die ungewöhnliche Paarkonstellation zu halten ist, stoßen wir im historischen Diskurs auf einen Diamanten und eine Kristallschüssel. Sie spielen für die Rede über das eigene Scheitern zweier Musikerinnen insofern eine wichtige Rolle, als sie die gebrochene Perspektive nicht technisch vermitteln, sondern symbolisch überhöhen. Ein Blick in die nachgelassenen Archivalien zweier ausgewählter Musikerinnen der Moderne, die bisher weder systematisch noch mit vergleichendem Blick ausgewertet wurden, bieten interessante Parallelen: So gleichen sich ihre überlieferten Lebensläufe in jenen Punkten, die ihre Bildungschancen und die auf die Gattin reduzierte Frauenrolle betreffen; sie teilen auch die Probleme, sich im Musikbetrieb als autonome Künstlerin zu professionalisieren. Schließlich – das wird der Beitrag hauptsächlich entfalten – ist auch ihr Schreiben über das eigene Leben vergleichbar. Insbesondere die Aussagen, die rückblickend ihr Scheitern zur Sprache bringen, sind es wert, genauer analysiert zu werden. Margarethe Quiddes großbürgerliches Leben Margarethe Jacobson (1858-1940)2 war eine Tochter des Augenarztes Julius Jacobson, der sein Fach maßgeblich geprägt und 1870 die Königsberger Universitäts-Augenklinik begründet hat. Jacobson hatte eine Nichte der bedeutenden Berliner Salonnière Henriette Herz, die Wiener Opernsängerin Hermine Haller, geheiratet und führt mit seiner Familie in der ostpreußischen Universitätsstadt ein reges musikalisches wie akademisches Leben. Gemeinsam mit ihrer Schwester Johanna, die bereits als junge Frau versterben sollte, studiert Margarethe in den 1880er Jahren in Berlin Klavier und Komposition bei Woldemar Bargiel und Cello bei Robert Hausmann. Die Schwestern Jacobson profitieren von der Dankbarkeit der wohlhabenden Patienten des erfolgreichen Vaters in Königsberg. Sie werden in die besten Häuser eingeladen und wohnen großbürgerlich. 2

Biographische Informationen enthalten die Einträge in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff. Stand vom 25.04.2018: https://mugi.hfmt-ham burg.de/artikel/Margarete_Quidde.html (abgerufen am: 1. Februar 2021); Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Online-Lexikon des Sophie Drinker Instituts, hg. von Freia Hoffmann, Stand: 2014: https://www.sophie-drinker-institut.de/quidde-margarethe (abgerufen am: 1. Februar 2021), sowie der Wikipedia-Eintrag https://de.wikipedia.org/wiki/Margarethe_Quidde (abgerufen am: 1. Februar 2021).

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Regelmäßig musizieren sie z. B. im Streichtrio an Bratsche und Cello mit Pablo de Sarasate an der Geige oder mit Joseph Joachim im Quartett. Ihren ersten Auftritt absolviert Margarethe in Vertretung von Robert Hausmann 1877 im Potsdamer Palast Barberini mit einem Kammermusikabend; das zweite Konzert gibt sie gemeinsam mit ihrer Schwester Johanna.3 In den Ferien 1880 nimmt Margarethe Unterricht bei Alfredo Piatti in Cadenabbia am Comer See; nach dessen Tod, so verspricht er es ihr in einem schwärmerischen Briefwechsel, soll sie sein Cello erhalten. (Dieses Versprechen wird sehr wahrscheinlich nicht eingelöst).4 Nachdem Margarethe 1882 den jungen Assistenten in der Königsberger Geschichtswissenschaft, Ludwig Quidde, geheiratet hat, geht sie mit ihm nach München. Dort entfaltet sie über 60 Jahre lang ihre vielfältigen Talente: Sie konzertiert regelmäßig kammermusikalisch sowohl am Cello als auch am Klavier (vor allem mit Kompositionen von Bargiel, Beethoven und Brahms); sie schreibt zahlreiche Artikel zum Kultur- und Musikleben in der Münchner Freien Presse und vermutlich auch zu Themen der Vivisektion und Patientenrechte, die zuletzt Ludwig Quidde zugeschrieben wurden;5 sie engagiert sich für die Frauenrechtsbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg; sie unterstützt ihren Ehemann, der 1927 den Friedensnobelpreis erhält und wegen seiner politischen Ämter ständig auf Reisen ist. Viele Jahre führt sie im Münchner Stadtteil Schwabing einen kammermusikalischen Salon mit Gästen aus aller Welt.6 Die Ehe mit Ludwig hält zwar offiziell bis zu ihrem Tod am 25. April 1940. Jedoch hat sich ihr Ehemann bereits Jahre zuvor mit seiner Sekretärin und der gemeinsamen Tochter zusammengefunden und war mit ihnen vor den Nationalsozialisten in die Schweiz geflüchtet.7 Margarethe – sowohl durch ihre Ehe mit dem als Demokrat nun verfolgten Quidde als auch aufgrund ihrer jüdischen Herkunftsfamilie stark gefährdet – bleibt in München zurück und kümmert sich um ihre kranke Schwester Gertrud. Sie ist durch ihre sogenannte arische Ehe mit Ludwig offenbar sogar vor Verfolgung geschützt. In ihrem letzten Lebensjahr 3 Vgl. die autobiographischen Notizen, Programmzettel und Rezensionen in Margarethe Quiddes Nachlass im Münchner Literaturarchiv Monacensia. 4 Vgl. Carlos Prieto, The Adventures of a Cello, rev. ed., transl. by Elena C. Murray, Austin/Texas 2011, S. 39ff., sowie den Zeitungsartikel »Die Geschichte eines berühmten Cellos« anlässlich des Todes von Piatti in der Münchner Allgemeinen Zeitung vom 19. September 1902, der sich im Nachlass der Quiddes in der Monacensia befindet. Die Autorschaft des Artikels ist unklar. 5 Andreas Frewer, »Das Recht auf Gesundheit in der Praxis. Von der Forschung zur internationalen Therapie«, in: Das Menschenrecht auf Gesundheit. Normative Grundlagen und aktuelle Diskurse, hg. von Andreas Frewer und Heiner Bielefeldt, Bielefeld 2016, S. 93–124, hier S. 99. 6 Umfangreiche Gästebücher und Notizen zum Repertoire sind im Nachlass erhalten. Das Haus in der Gedonstraße 4 wird 1921 verkauft; in ihren letzten Lebensjahren wohnt Margarethe mit der unverheirateten Schwester Gertrud in der Ohmstraße 17. 7 Vgl. Karl Holl, Ludwig Quidde (1858-1941). Eine Biographie, Düsseldorf 2007, S. 514, 568-579.

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schreibt ihr Ludwig Quidde und unterbreitet ihr verschiedene Vorschläge, ihr einsames und von Altersarmut geprägtes Leben zu verbessern. Sie kommentiert mit: »Naiv.«8 Aline Valangins intellektuelle Existenz Eine in mancherlei Hinsicht vergleichbare Musikerinnenbiographie ergibt sich aus den Lebensdaten von Aline Valangin (1889-1986).9 Geboren wird sie mit dem adligen Familiennamen Ducommun-Ditignon-de Valangin; mit bürgerlichem Namen heißt sie später Ducommun-Rosenbaum; veröffentlichen wird sie unter dem Namen Valangin. Sie wächst in Vevey am Genfer See auf; noch in ihren Kinderjahren übernimmt ihr Vater die Stadtapotheke in Bern, wohin die Familie umzieht. Ihr Großvater ist der Friedensnobelpreisträger Eli Ducommun, der mit jenem Preis 1902 geehrt wird. Mütterlicherseits bewirtschaftet die Familie ein großes Gut in der Nähe von Thun, auf dem Aline ihre Liebe zu Pflanzen und Tieren entwickelt. Sie heiratet 1917 gegen den vehementen Widerstand ihrer Mutter den russisch-jüdischen Migranten Wladimir Rosenbaum, der sich als Anwalt in Zürich niederlässt; dort führen beide einen bedeutenden Salon. Später kaufen sie den Palazzo La Barca in den Tessiner Alpen, wo sie weiterhin ein offenes Haus führen und während der Zeit des Nationalsozialismus auch Emigranten aus Deutschland Zuflucht vor Verfolgung bieten. Aline Valangin galt am Klavier als eine der begabtesten Schülerinnen ihrer Generation. Als Enkelschülerin von Ferruccio Busoni gibt sie zunächst allen Anlass zu der Hoffnung, dass aus ihr eine erfolgreiche Konzertpianistin werden könnte. Als sich dieses Lebensziel wegen eines Haushaltsunfalls zerschlägt, orientiert sie sich an der Psychoanalyse, absolviert eine Lehranalyse bei C.G. Jung und lässt sich als Therapeutin nieder. Außerdem beginnt sie zu schreiben und publiziert eine ganze Reihe recht erfolgreicher belletristischer wie musikpädagogischer und -essayistischer Bücher. Ab den 1920er Jahren interessiert sie sich stärker für die Musik der Moderne und besucht Veranstaltungen der Internationalen Gesellschaft für neue Musik. Ihrem Ehemann wird die Anwaltslizenz entzogen, weil er immer wieder politisch umstrittene Migranten in die Schweiz bringt; er zieht sich als Antiquar nach Ascona zurück. Nachdem Rosenbaum sie für eine jüngere Frau, mit der er Kinder haben konnte, verlassen hat, lernt sie 1933 den Zwölftonmusiker und Schönberg-Schüler Wladimir Vogel kennen. 8 9

Brief Ludwig Quiddes an Margarethe Quidde, 30. Januar 1940. Nachlass im Münchner Literaturarchiv Monacensia. Vgl. Holl, Ludwig Quidde (Anm. 7), S. 578. Peter Kamber, Geschichte zweier Leben. Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, Zürich 2000.

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1954 heiratet sie Vogel, der sie jedoch abermals wegen einer Geliebten verlässt. 1964 lässt sie sich wieder scheiden. Aline lebt fortan schreibend in Ascona, ist textilkünstlerisch tätig (u.a. mit Hans und Sophie Arp) und stirbt 1986 im Alter von 97 Jahren. Auto/Biographische Narrative der Künstlerin Die Rahmendaten der beiden Lebensläufe ähneln sich auf den ersten Blick, obwohl Margarethe Quidde mehr als dreißig Jahre älter ist als Aline Valangin und jene sie um mehr als 40 Jahre überlebt. Es verbindet sie jedoch das Scheitern an einer früh gesetzten Lebensaufgabe: Weder realisieren sie ihre vielversprechenden Musikerinnenkarrieren noch führen sie ein den bürgerlichen Maßstäben genügendes Familienleben der musikalisch ausgebildeten höheren Töchter, das sie traditionell auf ihre Verpflichtungen als Gattin und Mutter beschränken hätte können. Sie bleiben kinderlos und werden von ihren Ehemännern verlassen, die Kinder mit jeweils jüngeren Partnerinnen haben. Darüber hinaus sind ihre auto/biographischen Erzählungen insofern in denselben Kontexten zu verankern, als sie die prägenden Diskurse des beginnenden und späteren 20. Jahrhunderts aufrufen: Pazifismus, Tierrechte, Reformbestrebungen, Frauenemanzipation, Musikbetrieb, jüdische Herkunft, Exil. Die Archivmaterialien in den Nachlässen zeigen, wie stark die beiden Weltkriege und der Faschismus ihre Lebensläufe, ihre Entscheidungen und Einstellungen gegenüber Europa prägten. Bertha von Suttner, die tragische Aktivistin des Pazifismus, traf sowohl Alines Großvater vor dem Ersten Weltkrieg als sie auch den Salon Margarethes danach besuchte. Zugespitzt ließe sich formulieren: Die Moderne mit ihren Verwerfungen bricht in diese adeligen und großbürgerlichen Lebensentwürfe ein, die noch stark den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verpflichtet waren. Aline Valangin äußert sich an einer Stelle ihrer Erinnerungen darüber, wie froh sie war, dass ihr pazifistischer Großvater den Ersten Weltkrieg nicht mehr erleben musste; auch der hochbetagte Ludwig Quidde, der sich für eine friedliche und demokratische Gesellschaft engagiert hatte, und seine Frau hatten dem faschistischen System der Nationalsozialisten nichts mehr entgegenzusetzen. Die wichtigste Parallele zwischen den beiden Künstlerinnen wurde bereits erwähnt: Zwei außerordentlich begabte junge Musikerinnen müssen von ihren ursprünglichen Plänen einer Konzertkarriere abrücken. Sie scheitern beide an ihrer Professionalisierung als Musikerin: als Pianistin und als Cellistin. Dieses Scheitern sublimieren sie zum einen mit sozialem Engagement in den Bereichen weiblicher Caritas: Valangin lässt sich zur Psychoanalytikerin ausbilden, vernetzt und fördert Künstlerinnen und Künstler und engagiert sich darüber hinaus als

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Fluchthelferin; Quidde entfaltet zahlreiche Aktivitäten als Salonnière, Vorsitzende der Münchner Mozart-Gesellschaft, konzertierende Musikerin in Veranstaltungen der Münchener Frauenvereine und als Mitglied der Gesellschaft gegen Vivisektion. Vor allem aber fokussieren sich beide auf das Schreiben und Netzwerken. Valangin war zweifellos die etabliertere Autorin von beiden; Margarethe Quidde hat für kurze Zeit viel und rasch publiziert, vorrangig im Rezensionswesen für die Münchner Freie Presse und in jungen Jahren ein Pamphlet über den Festspielbetrieb in Bayreuth.10 Davon abgesehen hat auch sie später ihr eigenes Leben recht detailliert dokumentiert, viele Gäste- und Repertoirelisten angelegt und eine ausführliche und hochfrequente Briefkorrespondenz geführt. Bei Margarethe Quidde sehen wir eine starke Affinität zur chronikalen Schriftlichkeit und den damit gegebenen Möglichkeiten der Selbstaussage und EgoDokumentation. Aline Valagin hat neben ihren Romanen in zahlreichen autobiographischen Texten ihren Lebensweg in einigen Variationen nacherzählt. Sie wählte für ihre Ego-Dokumentation – gleichsam autofiktional – das Format der Memoiren und des Interviews. Daran fallen besonders die episodische Narration zufälliger Begegnungen und naiver Welterkundung auf. Für diesen Teil ihres Schreibens wäre der Werk-Begriff ebenso verfehlt wie für Quiddes zerstreute und fragmentarische Anläufe autobiographischen Erzählens.11 Angesichts der Nachlassmaterialien stellt sich die Frage, welche diskursiven Prozesse sich daran ablesen lassen. Das Narrativ des Scheiterns liegt für einen postmodernen Zugriff auf das umfangreiche biographische und autobiographische Material beider Autorinnen nahe. Erst etwa seit den 1970er Jahren etablierte sich in Literatur und Film ein biographisches Modell der Devianz, das die Narrative des Heroischen und des hegemonialen Denkens ablöste. Die jeweilige Abweichung von Idealen und Normen kann sich erst im Laufe der Erzählung herausstellen; sie wird entwickelt und nicht mehr als Stigma vorangestellt bzw. vorausgesetzt. Eine wichtige Rolle für den deutschsprachigen und US-amerikanischen Kontext spielte dabei die Debatte um die Psychiatriereform und eine gesamtgesellschaftliche Neubewertung von Alterität. Wie bereits Helmut Scheuer ausführlich erläuterte, verabschiedet sich die Biographik von Kohärenz, linearer Erzählweise und Zentralisierung auf eine Hauptfigur, arbeitet vielmehr 10 Vgl. [Anonym]: »Ketzereien aus dem Bayreuther Heiligtum«, in: Münchner Freie Presse, 1896. In späteren Jahren hat Margarethe Quidde die Münchner Mozart-Gesellschaft geleitet. 11 Vgl. die Überlegungen zur transitorischen und archivalischen Schriftlichkeit in Cornelia Bartsch, »Werk- und Werkverzeichnis im digitalen Medium als ›translation memoriae‹«, in: Musik­ (vermittlung) und Gender(forschung) im Internet. Perspektiven einer anderen Musikgeschichtsschreibung, hg. von Beatrix Borchard, Regina Back und Elisabeth Treydte, Hildesheim u. a. 2016, S. 117– 145.

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mit Fragmentierung, Dezentralisierung und temporaler Digression.12 Auch die Erzählperspektiven setzen nicht länger auf auktoriale Vermittlungsinstanzen in der Narration, sondern auf multiperspektivisches Erzählen, das Innenschau und Brechungen einzelner Sichtweisen ermöglicht. Für die Musikkultur bedeute dieser Wandel zunehmend den Verlust heroischer und phantastischer WunderkindBiographien, in der Wissenschaft sogar den Rückzug auf chronikale Tabellen und ein Aussetzen des biographischen Erzählens.13 Scheitern ist das Narrativ einer Produktivität auf Umwegen und deshalb auf diese Optionen der Reflexion und Projektion angewiesen. Das eigene ›Untergehen‹ und ›Umherirren‹ sind äußerst anfällig für rhetorische Figuren, die neue Erfahrungs- und Bildbereiche sublimativ erschließen; zugleich sind sie Voraussetzung für die eigene Transformation, die aus der Verfehlung erwächst.14 Im Zuge dieser Entwicklung gibt es jedoch auch gegenläufige Prozesse zu beobachten: Ähnlich wie in der Autorschaftsdebatte durchkreuzt der biographisch handelnde Feminismus mit seinen revisionistischen Ansätzen sowohl die alten als auch die neuen Narrative des Biographischen. Das Narrativ der ›Emanzipation‹ verhandelt Autonomie und Freiheitsbegriffe, wobei es ganz offensichtlich nicht auf alle Frauen in gleicher Weise und zu allen Zeiten angewendet werden kann. Einzelne Narrateme jedoch – etwa die Abkehr vom determinierenden Elternhaus, die Liebe zum abwesenden Vater, die aggressiven Konflikte mit der Mutter, der Eintritt in eine (finanziell) selbständige Existenz, die Rückeroberung eines eigenen Namens und eine Zurückweisung der Wünsche des Ehemanns, die Infragestellung von Opferrollen und dergleichen mehr – finden sich in höherer oder niedriger Frequenz und in Variation in nahezu jeder feministischen Frauenbiographie. Es geht um Bewältigung, Selbstbehauptung und Überwindung eines defizitären weiblichen Subjekts, das seit der Empfindsamkeit in komplementärer Binarität mit dem männlichen Partner gedacht wird. In der feministischen Historiographie wurden vor allem auch Frauenfiguren wiederentdeckt, die sich als Vorbilder für die eigene Generation eigneten und das Verschweigen oder Vergessen der historischen Akteurinnen wieder wettmachen sollten. In das Raster eines stets verbesserungswürdigen Geschichtsbildes wollte man jene Figuren eintragen, die nicht gerade das Scheitern, die eigene Fehlbar12 Helmut Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979. Eindrückliches Beispiel ist die Hölderlin-Biographie von Peter Härtling, die auf der Grenze zur Fiktionalisierung mit temporalen Digressionen und Perspektivenwechsel operiert: Peter Härtling, Hölderlin. Ein Roman, Köln 1976. 13 Vgl. Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln, Wien und Weimar 2014, S. 403 ff. 14 Vgl. zuletzt Burkhard Wolf, »Sein und Scheitern. Zur Metakinetik des Schiffs«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 14/3 (2020), S. 5–20.

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keit oder Schuld repräsentierten.15 Der Verweis auf das Unterdrückungssystem und die hegemonialen Prozesse des patriarchalen Machterhalts entlasteten die Heldinnen der Frauengeschichte. Biographeme Nicht jede Akteurin der Geschichte wäre mit einem solchen heroischen Narrativ einverstanden, in die das Genre des Emanzipationsroman sie zu pressen versucht.16 Möglichkeiten, einen alternativen Umgang zu suchen, eröffnet zum einen die Fragmentierung der Lebensgeschichten, die keine biographische Entelechie zu rekonstruieren erlauben;17 zum anderen führt die Dezentralisierung dazu, nicht mehr eine Akteurin in den Mittelpunkt zu stellen, sondern vielmehr deren Beziehungsgeflechte. Die Forschung zu Paaren und Paarkonstellationen geht häufig von bestehenden Paarbindungen aus oder versucht, deren Zustandekommen nachzuzeichnen. Aus einer Protagonistin zwei zu machen, verlangt nach einer Definition dieser Zweiheit. Allerdings liegt gerade darin die Schwierigkeit für schreibende Paare oder auch einzelne Partner: Die Uneindeutigkeit und Komplexität dieser Art von Autorschaft (nämlich der des schreibenden Paares) ergibt sich aus der Bandbreite und Uneinheitlichkeit des Paarstatus. Es gibt Paare, die nur und ausschließlich in textuellen Zusammenhängen als Paar erschienen, und es gibt Liebes- und Ehepaare, die sich über das Schreiben als Paar definieren und bei denen der Schriftwechsel konstitutiver Bestandteil der Partnerschaft ist. Letztere verhandeln im Schreiben ihre Beziehung und damit auch Machtverhältnisse: Sie konstruieren den Partner oder die Partnerin in Pygmalion-gleichem Schöpfungsgestus als Adressaten der eigenen Schrift und müssen sich dabei der eigenen auktorialen Autorität vor der Bedrohung eines konkurrierenden Rivalen versichern. Auf diese Weise wird die gängige Vorstellung von Autorschaft als eines autonomen Aus-sich-selbst-Schaffens, das traditionell männlich semantisiert ist, prekär. Autorschaft und »Paarigkeit« scheinen einander auszuschließen.18 15 An der Historiker*innendebatte der 1980er Jahre über Denunziantinnen im Nationalsozialismus lassen sich diese kritischen Punkte in sehr verdichteter Form beobachten. 16 Vgl. den Roman von Eveline Hasler, Aline und die Erfindung der Liebe, Zürich 2000. 17 Vgl. Anita Runge, »Geschlechterdifferenz in der literaturwissenschaftlichen Biographik. Ein Forschungsprogramm«, in: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, hg. von Christian Klein, Stuttgart und Weimar 2002, S. 113–128; Beatrix Borchard, »Lücken schrei­ ben. Oder: Montage als biographisches Verfahren«, in: Biographie schreiben, hg. von Hans Erich Bödeker, Göttingen 2003, S. 211–241. 18 Barbara Schaff, Sabine Schülting, Annegret Heitmann und Sigrid Nieberle (Hg.), Bi-Textualität. Inszenierungen des Paares, Berlin 2001, S. 15.

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Die Komplexität nimmt zu, wenn keine etablierten Autoren*innen fokussiert werden, sondern sporadische Schreiberinnen von Ego-Dokumenten, Journalistinnen, Briefeschreiber*innen. Hinzu kommen weitere methodische Fragen, wenn es gilt, hetero- und homonormative Definitionen des Paares als konventionelle Dyaden zu öffnen und Geschwisterbeziehungen und Freundschaften in den Radius der Betrachtung einzuschließen. Zurückgewendet auf die beiden oben angeführten Beispiele bedeutet es, einige Besonderheiten zu berücksichtigen. Wenn man den autobiographischen Skizzen Margarethe Quiddes folgt und in ihrer zufälligen Bedeutungsgenerierung ernst nimmt, so ist daran auffällig, dass am Anfang ihrer Erinnerungen die Schwester Johanna als Musikerinnenkollegin und Vorbild steht; am Ende ihres Lebens kümmert sie sich wiederum um ihre jüngere Schwester Gertrud in München und verzichtet darauf, sich selbst in das sichere Schweizer Exil zu bringen. Zu diesen Lebensabschnitten liegt eine stark asymmetrische Quellenlage vor, weil nur zehn Briefe der Künstlerin aus dem Jahr 1940 überliefert wurden, während die Exiljahre vor allem durch die sonst anscheinend vollständig erhaltenen Briefe ihres Mannes dokumentiert sind und somit eine einseitige Perspektive liefern. Das Reisebuch, das Margarethe ihrem Mann zum 70. Geburtstag bastelt, zeigt in unverhohlener Offenheit, wie einsam sie in ihrer Ehe gewesen sein muss; dennoch scheint Ludwig Quidde im Alter und trotz der Entfernung ihr wichtigster ›Lebensmensch‹ geblieben zu sein. Bei Aline Valangin ist die Abkehr von den Geschwistern nicht zu übersehen. Sie schreibt davon, wie ihre Mutter »ihr zweites Kind«, und eben nicht, wie sie selbst ein Geschwister bekommen hat. Die Bezugsdyade besteht ganz überwiegend mit der Mutter, mit der Valangin bis zu deren Tod schwere Konflikte austrägt. Die Ehemänner spielen temporäre Rollen, obgleich sie streckenweise sehr präsent und einflussreich sind – etwa für die Nachreifungsprozesse der jungen Aline in ihrer ersten Ehe mit »Ro«, wie sie Rosenbaum in der Koseform nennt. Eine immer wieder erzählte Episode in verschiedenen autobiographischen Textkonvoluten19 betrifft eine lebensgefährliche Situation beim Bergsteigen, die bereits am ersten Tag der Begegnung mit Rosenbaum entsteht. Er rettet sie in gewisser Weise mit klaren Anweisungen vor dem Absturz und verliebt sich angeblich deshalb in sie, weil sie auch im Angesicht des Abgrunds nicht schreit und ihre Angst offenbar vollständig unterdrücken kann. Auch Wladimir Vogel ist ein Ideengeber und Lehrer; durch ihn intensiviert sie ihre Beschäftigung mit 19 Ausgewertet wurden Aline Valangin, Interview mit mir selbst. Typoskript, 264 S., undatiert; Tagebuch 1933/34 (Traumtagebuch nach C.G. Jung), 109 S. mit unpag. Zusatz; Erinnerungen, undat., 257 S.; Bernd H. Stappert, Gespräche mit Aline Valangin, im Bestand des Schweizerischen Sozialarchivs Zürich.

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der Musik der Moderne derart, dass sie selbst eine kleine Serie von kompositorischen Einführungsbüchern veröffentlicht. Man könnte in ihrer unprätentiösen Schilderung der Trennungen jeweils den Eindruck gewinnen, dass die Ehen mit beiden Männern episodisch angelegt sind; die traditionell empfindsam-romantischen Paarmodelle scheinen hier jedenfalls nicht zum Tragen kommen. Sehr viel stärker treten die Probleme mit der Mutterfigur auf, die sie im Rahmen ihrer Psychoanalyse mit C.G. Jung bearbeitet. Hierzu sind Traumtagebücher erhalten, zu denen sich jedoch weitere laienhafte psychoanalytische Spekulationen verbieten. Vorläufig ließe sich bis hierher zusammenfassen: Die Paarkonstellationen der beiden Fallbeispiele sind temporär und vielfältig. Sie reichen über die sozialen Konventionen hinaus: nicht nur im Hinblick auf den Bruch mit Normen der Monogamie, sondern vor allem über das starke Hervortreten familialer binärer Bindungen, die für die jeweiligen Entwicklungsphasen der Künstlerinnen entscheidend waren. Eine Bearbeitung und Rekonstruktion der Lebensläufe und Motive allein vor dem Hintergrund ihrer ehelichen Paarbindungen erscheint nicht sinnvoll. Dafür nehmen die Bindungen zu Schwestern, Mutter, Lehrern und Freunden einen zu unmittelbaren Einfluss auf die künstlerischen Aussagen der Autorinnen. Durch die fragmentarische Überlieferung eines heterogenen Textkorpus im Nachlass und deren episodische Ausgestaltung (abgebrochen, abgeschrieben, neu angesetzt, doppelt und in Varianten erzählt) kann keine kohärente und lineare Betrachtungsweise angewendet werden. Es erscheint deshalb günstig, erneut auf Roland Barthes Konzept der Biographeme zurückzukommen, das die kleinsten Einheiten biographischer Erzählung beschreibt, sporadische und gleichzeitig verdichtete Symbole episodischer Narrative. Leben können für Barthes nicht nur in ihrer modernen Kontingenz als heterogenes Material erfasst werden, sondern prinzipiell keine kohärenten und zielgerichteten Verläufe nehmen. Das Biographem ist zerstreut, diskontinuierlich, non-linear angeordnet. Allerdings handelt es sich bei Biographemen um keine gestörte oder zerstörte Kohärenz, wie in dem erwähnten, von Scheuer skizzierten Paradigmenwechsel post/moderner Biographik;20 Biographien waren immer schon von jenen verdichteten Symbolen episodischer Narrative geprägt und strukturiert. Das zeigt sich deutlich in der Essaysammlung Sade, Fourier, Loyola, in der Barthes versucht, die Biographien dieser Dichter und Denker neu zu ordnen und zu erzählen. Die viel zitierte Stelle aus dem Band von 1971 lautet in der deutschen Übersetzung:

20 Scheuer, Biographie (Anm. 12).

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Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich dank eines freundlichen und unbekümmerten Biographen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf ›Biographeme‹, reduzieren würde […]; ein durchlöchertes Leben, so wie Proust es in sein Werk einfließen ließ, oder ein Film der alten Art, wo jede Rede fehlt und wo der Bilderfluss […] wie bei einem wohltuenden Schluckauf, durch das kaum wahrnehmbare Schwarz des Zwischentitels, jenes unbekümmerte Eindringen eines anderen Signifikanten, unterbrochen wird: Sades weißer Muff, die Blumentöpfe Fouriers, die spanischen Augen von Ignatius.21

Diese anderen Signifikanten, die Barthes aus der Zerlegung und Neuanordnung der einzelnen Biographien gewinnt und strukturierend als Zwischenüberschriften nutzt, ergeben eine kontingente Reihe von Einzeleindrücken und Episoden, die nicht austauschbar sind (Leben und Werk, Geburt – Heirat – Tod). Die Gliederung der Viten geht aus den Materialien selbst hervor, vermeidet Normierung und Konvention und würdigt den einzelnen Signifikanten, der andere in seiner Bedeutung determinieren soll: Die Blumentöpfe Fouriers sind jene Pflanzgefäße, zwischen denen er tot zusammengesunken und aufgefunden worden war. Nun handelt es sich bei Barthes zwar um eine homosoziale Welt, die mit diesen exemplarischen Figuren entsteht; männlichen Akteuren werden Objekte zugeordnet, die an männliches Begehren geknüpft sind. Sexuelle und damit auch sublimatorische Aspekte treten zutage, die einen Übergang vom kulturhermeneutischen Auftrag der Biographie – der Memoria und der Darstellung des Exzeptionellen – hin zur Fiktionalisierung andeuten. Sieht man von dieser genderkritischen Frage ab, bleibt die Möglichkeit, so zu tun, als ob das Prinzip der Biographeme auch auf die hier thematisierten Beispiele für die Musikerinnenbiographie zu übertragen wäre. Was fände also eine »freundliche und unbekümmerte Biographin«, die das Leben von Margarethe Quidde »auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf ›Biographeme‹, reduzieren würde«22? Bei Margarethe Quidde, geborene Jacobson, ist ein wichtiges Biographem sicherlich ihr Tononi-Cello, das ihr der Vater auf Anraten Piattis gekauft hat. Sie notiert autobiographische Erinnerungen an ihre erste Cello-Stunde und an ihr erstes Quartett mit Joachim in Berlin als Cellistin. Auffällig ist ein autobiographischer Versuch, der auf der zweiten Seite abbricht und den Titel trägt: »Eine diamantene Hochzeit. Erinnerungen einer alten Musikerin«. Dieses Jubiläum 21 Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt a. M. 1986, S. 13. Erinnert sei in diesem Kontext auch an Julian Barnes Erzählung Flaubert’s Parrot (London 1984). 22 Nach Barthes, Sade, Fourier, Loyola (Anm. 21), S. 13.

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feiert sie nicht mit Ludwig Quidde, sondern mit ihrem Cello. »An meinem 69. Geburtstag, vor einigen Wochen, feierte ich meine diamantene Hochzeit mit meinem geliebten Cello«, heißt es in einem Manuskript.23 Aus diesem Dokument und einer weiteren Erinnerungsnotiz zur »erste[n] Cello-Stunde« wird ersichtlich, dass die Vorstellung einer Hochzeit nicht weit hergeholt ist, weil das zu ihrem neunten Geburtstag vom Vater geschenkte Cello als eine große jungenhafte Puppe verkleidet worden war: Das Instrument hatte sie sich – genauso wie eine Puppe – lange gewünscht, und mit ihm ging sie nach der Demaskierung ihres »Puppen-Jungen«, wie sie schreibt, eine lebenslange Bindung ein. 1927 schreiben ihre Freundinnen aus dem Kammermusikkreis in München einige Gedichte auf diese besondere Hochzeit. Die erste Begegnung des Kindes mit der Puppe wird in eine Verlobung umgedeutet; aus den Dokumenten tritt eine vergnügte Ernsthaftigkeit hervor. Das Cello wird partnerschaftlich besetzt und anthropomorphisiert; es hat ein langes Leben an der Seite seiner Besitzerin und wird seinerseits biographisiert. Gerade weil ihr Alfredo Piatti sein Stradivarius-Cello versprochen hatte, es aber vermutlich nicht erwartungsgemäß den Weg zu Margarethe Quidde, sondern in das Berliner Haus der Mendelssohns genommen hat (die Tochter hatte es verkauft),24 stieg das eigene Cello im (emotionalen) Wert und erinnerte seine Besitzerin doch immer wieder an dieses uneingelöste Versprechen des einflussreichen Lehrers. Während bei Margarethe Quidde diese diamantene Hochzeitsfeier mit einem Cello in den Ego-Dokumenten besonders auffällt, taucht in Valangins Erzählungen eine Kristallschüssel auf, die ebenfalls als Biographem beschrieben werden kann. Ihr kommt entscheidende Bedeutung für das gesamte Leben der Pianistin zu. Aline Ducommun ist noch nicht lange mit Rosenbaum verheiratet, als sie in der Küche Kompott kocht und es noch sehr heiß in eine Kristallschüssel einfüllt. Sie hantiert mit der Schüssel und hört plötzlich ein leises Geräusch. Dann läuft das Blut, die Sehne ihres Daumens war vom gebrochenen Glas durchtrennt worden. Im Interview mit Bernd Stappert verknappt Valangin das Geschehen folgendermaßen: »Frau Valangin, 1917 haben sie dann Wladimir Rosenbaum geheiratet in Zürich. Wie hat sich dieses gemeinsame Leben entwickelt? Sie hatten doch eine mögliche Karriere als Pianistin vor sich.« […] »Ja, aber die hab ich mir doch eben kaputt gemacht: Dort hab ich mal zum Mittagessen ein Kompott gekocht, in eine Kristallschale getan, gehört, daß es klick gemacht hat, ging damit zum Fenster, die Schale fiel auseinander und schlug mir

23 Nachlass Ludwig Quidde, Teilnachlass Margarethe Quidde, Literaturarchiv München Monacensia. 24 Vgl. den Zeitungsartikel in Anm. 4.

Geschliffene Biographeme

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die Sehne entzwei. Ich ging nicht sofort zum Arzt, die Sehne war zurückgegangen, es war eine unschöne Sache. Und die Karriere als Pianistin war natürlich sofort außer Frage.«25

Den Ärzten gelingt es nicht mehr, die Sehnenenden ohne Narbenbildung wieder zu verbinden, so dass die Ausbildung zur Konzertpianistin mit diesem Unfall beendet war. Lakonisch erwähnt sie dieses Ereignis auch in ihren Erinnerungen, als wäre es keine weitere Aufmerksamkeit wert. Dabei beeinflusst es ihren gesamten Lebensentwurf, denn – anders als Ludwig Quidde, der Margarethe ihre Karriere untersagte – hatte der Ehemann sie in ihrem Tun und Wollen unterstützt. Rosenbaum ist noch im hohen Alter sehr stolz auf seine Exfrau und ihr großes pianistisches Können. Während Ludwig Quidde seiner Frau abforderte, sehr kleine konzertierende Brötchen zu backen und nur in der Münchner guten Gesellschaft aufzutreten – überwiegend zu wohltätigen Zwecken –, scheitert Valagins Karriere an einem Haushaltsunfall, der die junge Ehefrau in der Küche ereilt. Die Kristallschüssel bricht und strukturiert das Licht, das sehr viel später auf dieses Ereignis fallen sollte. Der Diamant, der als Symbol für den 60. Hochzeitstag aufgerufen wird und eine lebenslange Bindung an ein partnerschaftlich besetztes Musikinstrument beschreibt, kann in gleicher Weise als eine kunstvolle Verdichtung elementarer Stofflichkeit gelesen werden: ein Stein, der das Licht streut und unterschiedlichste Schatten wirft. Diese Funktion, das Licht zu brechen, das in der Narration auf dessen Bedeutung fallen soll, erinnert noch einmal an die Kameralinse, die den Blick auf das glitzernde Meer erlaubt, auf dem Chuck und Wilson fortan getrennt voneinander dem Untergang bzw. der Rettung entgegentreiben. Mit Barthes Biographemen eröffnet sich nicht nur die Möglichkeit, Paarkonstellationen zwischen Ding und Mensch zu fokussieren und zu benennen; auch die fragmentierte Biographie lässt sich damit gliedern, wie es die Autorinnen selbst tun. Interessant erscheint überdies die Chance, hier die neuere Forschung zur Materialität und Objektwelt mit einem Fokus auf Paarbindung und Sozialität anzuschließen. Sowohl die emotionale Aufladung einzelner Objekte als auch deren semantisches und symbolisches Potential stehen damit zur Diskussion.

25 Bernd Stappert, Gespräche mit Aline Valangin, Typoskript, Zürich, Schweiz, Schweizerisches Sozialarchiv, Teil 1, Ar 301.7, S. 16 f.

Jenny Schrödl

2+1 Zur Figur des Dritten in Paarkonstellationen der Performancekunst

Auch in der Performancekunst treten verschiedene Künstler*innenpaare in Erscheinung, man denke etwa an VALIE EXPORT und Peter Weibel, Yoko Ono und John Lennon, Gilbert & George, Marina Abramović und Ulay, EVA & ADELE, Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens, Diane Torr & Jane Czy­ zselska, deufertundplischke u. v. a. Die Performancepaare teilen mit anderen Künstler*innenpaaren aus Malerei oder Literatur das Merkmal, dass sie aus zwei Menschen bestehen, die gemeinsam arbeiten und in einer Liebesbeziehung sind.1 Darüber hinaus kennzeichnet sie im Besonderen, dass sie sich selbst und oftmals auch ihre Zweierkonstellation zum Gegenstand ihrer Kunst erheben. Bekanntlich rückt die sich in den 1960er Jahren etablierende, noch relativ junge Kunstform Performance den Körper und damit das performende Selbst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung und zwar abseits traditioneller Vorstellungen theatraler Darstellungen und Schauspielstile.2 Wenn zwei Menschen im Rahmen einer Performance auftreten, dann setzen sie damit auch immer die duale und intersubjektive Konstellation mit in Szene, wobei die (Liebes-)Beziehung zum Gegenstand und Thema der Performance werden kann, aber nicht muss. Trotz der relativen Häufigkeit von Paaren (und von Duos3 generell) in der Performancekunst, ist es auffällig, dass diese in der Theaterwissenschaft sowie in den 1 Vgl. zu diesem relativ engen Begriff des Künstlerpaares: Karoline Künkler, »Das kreative Duo als ästhetische Form. Zur gemeinschaftlichen Selbstgestaltung von Abramović/Ulay und Gilbert & George«, in: Künstlerpaare – Liebe, Kunst und Leidenschaft, hg. von Barbara Schaefer und Andreas Bluhm, Ostfildern 2008, S. 364–374. 2 Zum Begriff der Performancekunst: Sandra Umathum, »Performance«, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart und Weimar 2014, S. 248–251. 3 Die Begriffe ›Paar‹ und ›Duo‹ weisen durchaus Überschneidungen auf und werden oft synonym gebraucht, dennoch gibt es auch wesentliche Differenzen: Während das ›Paar‹ zumeist mit dem ›Liebespaar‹ in Verbindung gebracht wird, ist das Konzept des Duos weitaus mehrdeutiger und offener angelegt. Duos können unterschiedliche Beziehungsformen umfassen, z. B. Freundschaften, Geschwisterbeziehungen, Eltern-Kind-Beziehungen oder Arbeitsbeziehungen. Darüber hinaus werden als Duos Zweierkonstellationen bezeichnet, die sich einer genauen Einordnung in diese paradigmatischen und konventionalisierten Formen von Beziehungen gerade entziehen. Bei solchen Duos ist es eben nicht klar, ob es sich um Freund*innen, Kolleg*innen, Verwandte oder alles zusam-

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Performance Studies bislang kaum eine Rolle spielen. Das Forschungsinteresse richtet sich vielmehr auf das Solo auf der einen Seite und auf das Kollektiv auf der anderen Seite.4 Zudem scheinen gerade mit dem Paar/Liebespaar gewisse Vorurteile (der Konventionalität oder Hegemonie) einherzugehen, mit denen man die avantgardistische Kunstform weitaus weniger assoziiert. Dabei setzen sich viele der Performancepaare ganz bewusst mit Vorstellungen und Bildern hegemonialer Zweisamkeit auseinander, und zwar sowohl in affirmativer als auch in subversiver Weise. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass in vielen künstlerischen Arbeiten die Figur des/der Dritten eingesetzt bzw. diese explizit wahrnehmbar gemacht wird. Zu denken ist etwa an Marina Abramović & Ulays Performance Three (1978), bei der sie zusammen mit einer Schlange auftreten, an EVA & ADELEs Serien an Polaroids, auf denen sie als Paar mit einem Zuschauer/einer Zuschauerin abgebildet sind (seit 1989), oder an Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens’ Hochzeitserie Love Art Laboratory (2005–2011), bei der sie nicht nur sich selbst (wiederholt) heiraten, sondern als dritte Instanz auch die gesamte Umwelt und Natur. Meine folgenden Überlegungen stellen die Kategorie und Figur des/der Dritten in Paarkonstellationen der Performancekunst in den Mittelpunkt der Diskussion und verfolgen anhand der drei erwähnten Beispiele die Fragen danach, welche Erscheinungsformen, Funktionen und Bedeutungen die Dritten erhalten und welche Auswirkungen sie in Bezug auf die Zweierbeziehungen haben. Dabei gehe ich von der These aus, dass Dritte ambivalente Figuren darstellen, die sowohl ordnungsstörend als auch ordnungsstiftend auftreten können, obgleich diese beiden Seiten nicht immer zugleich oder in gleichem Maße wirksam sind, sondern mal die eine oder die andere dominieren kann. Während die störende oder subversive Funktion von Dritten in Theorie wie Praxis der letzten Jahrzehnte eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren hat und gerade die Performancekunst oftmals mit Subversion und Kritik assoziiert wird, so muss bei genauerer Betrachtung gerade das Gegenteil festgestellt werden: Dritte erhalten hier auch, neben ihrer subversiven Funktion, die Funktion des Gesetzes und der Herstellung einer Ordnung. Teilweise konstituieren Dritte das Paar überhaupt erst als Paar.

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men bzw. nichts davon handelt. In der Performancekunst seit den 1960er Jahren bis zur Gegenwart finden sich zahlreiche solche Duos, bei denen es eben gerade um eine Offenheit der Kategorisierung oder um eine Nicht-Einordbarkeit der Beziehung zwischen zwei Menschen geht. In der Forschung ist der Begriff des ›Duos‹ allerdings bislang wenig beachtet, auch eine Differenzierung zum ›Paar‹ wird nur selten vorgenommen. (Vgl. Jenny Schrödl, »Paare, Duos, Doppelgänger. Zweierbeziehungen und Gender in der Performancekunst«, in: Kunst-Paare. Historische, ästhetische und politische Dimensionen, hg. von ders., Magdalena Beljan, Maxi Grotkopp, Berlin 2017, S. 87–109, insbes. S. 97ff.) Vgl. genauer zu diesem Befund: Jenny Schrödl, Magdalena Beljan und Maxi Grotkopp, »Vorwort«, in: Schrödl u. a., Kunst-Paare (Anm. 3), S. 7–18, hier: S. 10.

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Theorien um Figuren des Dritten ›Dritte‹ spielen in geistes-, kultur- und kunstwissenschaftlichen Theoriebildungen des 20. und 21. Jahrhunderts eine herausragende Rolle, etwa im Poststrukturalismus, Postkolonialismus, in den Gender Studies oder in der Psychoanalyse. Gleichzeitig haben Figuren des Dritten eine lange Tradition in der abendländischen Mythologie, Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Theater und Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Neu am Auftauchen und Verhandeln des/der Dritten im 20. und 21. Jahrhundert ist eine zentrale Verschiebung in der Gewichtung, die, in Anlehnung an Albrecht Koschorke, als Verschiebung von einer Ausnahmeerscheinung zur Norm oder zum Normalen beschrieben werden kann. In seinen Überlegungen zum Dritten als neuem Paradigma der Kulturwissenschaft beschreibt Koschorke, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein Dritte durchaus in Betracht gezogen und verschiedentlich imaginiert wurden, etwa als »Mischung und Bastardisierungen binärer Zurechnungskategorien, groteske Missbildungen, monströse Zwittergeschöpfe und -welten«5, sie bildeten aber dennoch Ausnahmen. Das 20. Jahrhundert hingegen stelle den »Ausnahmezustand auf Dauer«6. Damit verschiebt sich auch die westliche Epistemologie, die im Sinne eines binären Systems lange das abendländische Denken dominierte. Die Epistemologie des Binären konnte das Dritte immer nur als Übergang, Mittler oder Verbindung zur höheren Einheit denken, nicht aber als eigenständige Größe.7 Dies verändert sich nun im 20. Jahrhundert, in dem der/die Dritte nicht mehr als Abweichung oder Übergang verstanden wird, sondern eher – wie etwa beim Konzept der ›Hybridität‹8 – »als Signum einer paradoxen, weil nicht mehr normierbaren ›Normalität‹ der (Post-)Moderne«9. Mit dem/der Dritten werden stets verschiedene Figuren verbunden, die immer auch auf die Zweizahl und Binarität bezogen bleiben: So ist beispielsweise die Figur des Trickster10 eine in verschiedenen Kulturen und Zeiten auftretende 5 Albrecht Koschorke, »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften«, in: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, hg. von Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer und Alexander Zons, Frankfurt a. M. 2010, S. 9–31, hier: S. 13. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., S. 9. 8 Vgl. zum Konzept der ›Hybridität‹ u. a.: Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000; Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997; Nestor Garcia Canclini, Hybrid cultures. Strategies for entering and leaving modernity, Minneapolis und London 2005; Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005. 9 Koschorke, Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften (Anm. 5), S. 14. 10 Der Begriff des Trickster wurde zunächst für indianische Götter und tierische Gestaltenwandler in

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doppeldeutige Figur des Bösen, Streitlustigen und Hinterhältigen, die aber gleichzeitig die Möglichkeit der Befriedung und einen Grund zur Hoffnung bietet.11 Auch die Figur des Boten, des Mediums ist nicht nur eine neutrale Vermittlungsinstanz zwischen Sender und Empfänger, sondern beansprucht einen gänzlich eigenen Status und vermag die Botschaft und die duale Beziehung zu verändern. Eine weitere Figur des Dritten ist der Rivale, der sich in eine duale (Liebes-)Beziehung mischt und diese stört. Zugleich stiftet er aber die Beziehungsform und ist im Sinne eines triangulären Begehrens immanenter Teil der Begehrens- und Liebesordnung.12 Wie anhand dieser drei Beispielfiguren (und es gibt noch weitaus mehr) von Dritten deutlich wird, ist für dritte Figuren – durch Attribute wie Wandlungsfähigkeit, Doppel- und Mehrsinnigkeit, Vermischungen des Nicht-Zusammengehörigen u. a. – stets eine Ambivalenz kennzeichnend, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kulturen mit divergenten Wertungen unterlegt wurde und wird: Dritte gelten als Irritationen, Störungen, ja sogar Subversionen gegenüber herrschenden Normen und von Binarismen (schwarz/weiß, männlich/weiblich, jung/alt etc.) auf der einen Seite, aber auch als ordnungsstiftend und Normen zur Geltung bringend auf der anderen Seite. In diesem Sinne formuliert auch Koschorke, dass »der/die/das Dritte eine sowohl produktive als auch prekäre Größe [ist].«13 In vielen theoretischen Ansätzen zum Dritten dominiert die eine oder die andere Seite bzw. werden diese mit unterschiedlichen Wertungen belegt, z. T. denunziert, abgewertet und ausgeschlossen – oder eben bejubelt und verehrt. Ein Beispiel für die ordnungsstörende und subversive Dimension ist die (positiv besetzte) Figur des »Transvestiten« bei Marjorie Garber oder von »Travestie/Drag« bei Judith Butler.14 So schreibt etwa Garber: »Für mich ist deshalb einer der wichtigsten Aspekte des Transvestismus die Weise, in der er die allzu leichtgewichtigen Vorstellungen von Binarität in Zweifel zieht und die Kategorien von Nordamerika gebraucht (z. B. der Coyote) und wird inzwischen weltweit für ambivalente Figuren des Trickreichen, Trügerischen, aber eben auch Heilsbringenden verwendet. »Einige Trickster sind mächtige Götter (oder Heilige) wie Eshu Elegba, denen gehuldigt und geopfert wird; die meisten Tricksterfiguren sind Kulturheroen einer fluktuierenden Vorzeit, in deren Gestalt Menschen und Tiere ihre heutigen Zuschreibungen noch ›in statu nascendi‹ durch Verwandlungen, Streiche, Täuschungen und Dilettantismus jeder Art austauschen konnten«. (Vgl. Erhard Schüttpelz, »Der Trickster«, in: Die Figur des Dritten, hg. von Eßlinger u. a. (Anm. 5), S. 208–224, hier: S. 212–213.) 11 Vgl. ebd., S. 209. 12 Vgl. Andreas Kraß, »Der Rivale«, in: Die Figur des Dritten, hg. von Eßlinger u. a. (Anm. 5), S. 225– 237. 13 Koschorke, Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften (Anm. 5), S. 28. 14 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, insbes. S. 202 ff.

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›weiblich‹ und ›männlich‹ in Frage stellt«15. Die ordnungsstiftende Dimension der dritten Instanz wird beispielsweise in der Psychoanalyse bei Jacques Lacan herausgestellt, wenn er die ›symbolische Ordnung‹ oder das ›Symbolische‹ als Drittes neben Realem und Imaginärem konzipiert, mit der Sprache, Bedeutung, Ordnungen, Normen oder Regeln verbunden sind. Die Mutter-Kind-Dyade etwa öffnet sich erst hin zum Sozialen und Gesellschaftlichen durch das Hinzutreten des Dritten, hier der Figur des Vaters, der für die symbolische Ordnung steht und die gesellschaftliche Ordnung und Gesetze einführt und hervorbringt.16 »Der Dritte ist dann derjenige, der zu dieser Beziehung hinzutritt und diese modifiziert im Hinblick auf die Sozialität, die von der dyadischen Beziehung allein nicht ermöglicht wird.«17 Nicht selten unterhält die Figur des Dritten eine strukturelle Affinität zum Konzept des Anderen, zur Alterität. In jeder binären Opposition gibt es einen übergeordneten, als höherwertig qualifizierten Term des Einen und einen untergeordneten, als minderwertig disqualifizierten Term des Anderen. Wie Theorien aus Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Feminismus, Gender oder Queer Studies zeigen, vermag dieser zweite Terminus aber den ersten Terminus und die damit verbundenen Attribute zu stören und zu unterlaufen und so die Machtasymmetrie und Hierarchie umzukehren oder gar aufzulösen. In diesem Sinne einer Störung oder Subversion überlagern sich Andere und Dritte zum Teil (sind aber nicht identisch), wie auch Claudia Breger in Bezug auf Weiblichkeit (als das ›zweite‹, andere Geschlecht) feststellt: Das ›zweite‹/andere Geschlecht (Beauvoir) überlagert sich im europäischen Denken insoweit mit dem Dritten, als die binäre Ordnung (nicht nur) des Geschlechts durch jene strukturelle Asymmetrie gekennzeichnet ist, die der Poststrukturalismus ins Zentrum seines Denkens gestellt hat: Dem Pol des (›männlichen‹) Einen – der Identität – steht die (Nicht-)Identität des (›weiblichen‹) Anderen gegenüber. Als ›Doppeltes‹ wird es zu dem dritten Element […]: Mit Ce sexe qui n’en pas un, der explizit feministisch gewendeten chora, die das Reich des Symbolischen unterläuft […].18

Von einer Überlagerung von Anderer/Dritter geht auch Thomas Bedorf in seinen Überlegungen zum Dritten bei Freud, Lacan und Levinas aus. Er versteht 15 Marjorie Garber, Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt a. M. 1993, S. 22 f. 16 Vgl. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1972, S. 487 f. 17 Thomas Bedorf, »Der Dritte als Scharnier zwischen Ethischem und Politischem – Sozialphilosophische Überlegungen«, in: http://www.uni-konstanz.de/figur3/scripte/archiv/BedorfBK-25–11–03.pdf (abgerufen am: 25. November 2003), S. 4. 18 Breger, »Gender Studies«, in: Eßlinger u. a., Die Figur des Dritten (Anm. 5), S. 35–48, hier: S. 36 f.

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den Dritten dabei durchaus als Anderen, der aber zugleich »einen Mehrwert aufweist, der sich nicht auf seine Andersheit reduzieren läßt.«19 Das Dritte spielt in unterschiedlichen künstlerischen und kulturellen Bereichen der Literatur, Bildenden Kunst, Theater, Performance, Film oder Fernsehen bis heute eine wichtige Rolle, etwa in Form verschiedener Figuren wie Monster, Transvestiten, Konkurrenten, Cyborgs, Geister, Mensch-Tier-Hybriden u. v. a. Ebenso bedeutsam sind trianguläre Strukturen, die zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmenden, zwischen Kunstwerk und Rezipient noch eine dritte Instanz umfassen, welche als »anonyme Ordnungsinstanz«20 zum Ich-Du-Verhältnis hinzukommt. Für den zeitgenössischen Umgang mit dem/der Dritten ist kennzeichnend, dass er/sie einen eigenständigen Status erhält und zumeist affirmativ betrachtet wird. Oftmals spielt dabei der Gedanke der Subversion und ordnungsstörenden Dimension eine wichtige Rolle; gleichzeitig sollte die ordnungsstiftende Dimension des/der Dritten nicht unbeachtet bleiben. In meiner folgenden Analyse wird es um drei Paare aus der Performancekunst gehen, die sich mit einem/einer Dritten inszenieren, deren Funktion manchmal in die eine, manchmal in die andere Richtung ausschlägt und z. T. gerade in der Ambivalenz bedeutsam ist. Marina Abramović und Ulay: Dritte als ordnungsstiftende Instanzen Abramović und Ulay gehören zu den berühmtesten Paaren der Performancekunst. Von 1976–1988 arbeiteten und lebten sie zusammen als Liebes- und als Künstler*innen-Paar, in einer von außen wahrgenommenen »Synchronizität von Privatleben und Beruf.«21 In den Performancearbeiten Relation Works (1976– 1979), die zirka 20 Performances umfassen,22 treten die beiden zumeist zu zweit in nüchternen, nahezu leeren Räumlichkeiten (Atelier, Galerie, Museum o. ä.) und in formalen Arrangements auf und vollziehen, z. T. nackt einfache Handlungen wie gehen, sitzen, gegeneinander laufen, schreien u. a., die oftmals wiederholt, auf Dauer gestellt und bis zur Erschöpfung ausagiert werden. Sie stellen damit grundlegende »Fragen nach dem Verhältnis von zwei Körpern in Raum 19 Bedorf, Der Dritte als Scharnier (Anm. 17), S. 8. 20 Vgl. André Eiermann, Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009, hier: S. 20. 21 Friedemann Malsch, »Kämpfer und Liebende. 12 Jahre Marina Abramović/Ulay«, in: Kunstforum 106 (1990), S. 228–245, hier: S. 229. 22 Vgl. zur Übersicht der Arbeiten mit kurzen Beschreibungen von Abramović/Ulay: Thomas ­McEvilley, Art, Love, Friendship. Marina Abramovic and Ulay, New York 2010, S. 49–55.

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und Zeit.«23 Dabei ist charakteristisch für die Arbeiten der beiden, dass sie keine psychologischen Charaktere, keine Emotionen oder Geschichten darstellen, die auf eine Paarbeziehung verweisen würden – die Beziehung zwischen ihnen wird in einem körperlich energetischen Sinne ausagiert, ohne dass sie konkrete Aussagen über sich oder ihre Beziehung treffen würden. Ja, man könnte sogar sagen, dass, obgleich Abramović/Ulay auch einen eigenen Mythos um ihr Paarsein und ihre Liebe geschaffen haben,24 sie zugleich in vielen Arbeiten der Relation Works nicht als klassisches Liebespaar auftreten oder erkennbar werden. Im Vordergrund steht vielmehr die Hervorbringung und Aushandlung einer viel weiter gefassten Relationalität zwischen zwei Agierenden durch physische, mentale, stimmliche, räumlich-zeitliche oder affektive Vollzüge, die oft weit entfernt sind von psychologischen Mustern oder konventionellen Codes von Liebenden oder romantischen Beziehungen, z. T. werden diese Codes und Symboliken aber auch miteinbezogen. Oder noch einmal anders gewendet: Es geht um Beziehungen in einem viel weiteren Sinn als es die Liebesbeziehung zu umfassen vermag. Nach Friedemann Malsch sind die Performances der Relation Works Teil eines »größeren Rahmens, eines Projekts, das die Untersuchung der Beziehungen auf formaler, sinnlicher und sozialer Ebene zum Ziel hat.«25 In diesem eher umfassenden Sinne einer Beziehungsforschung via Performancekunst gibt es auch einige Arbeiten, die gewissermaßen die Ordnung des Paares, die Norm des heterosexuellen Liebespaares mitaufrufen, konstituieren und verhandeln – und dies sind meines Erachtens besonders Performancearbeiten, in denen Dritte auftreten und zwar vor allem in ihrer ordnungsstiftenden Rolle und Funktion, wie ich im Folgenden anhand der Performance Three (1978) zeigen möchte. In der Performance Three (1978, Wiesbaden) tritt neben Abramović und Ulay zusätzlich eine Schlange auf. Die Performance dauerte zwei Stunden und lässt sich wie folgt beschreiben: Die beiden Performer*innen blasen immer wieder in leere Flaschen und erzeugen einen vibrierenden Ton, der die Schlange anlocken soll. Die Schlange soll sich dabei zwischen einer der beiden Geräuschquellen ent-

23 Maxi Grotkopp, »Work Love Not War! Performance-Paare in den 1960er und 1970er Jahren«, in: Schrödl u. a., Kunst-Paare (Anm. 3), S. 54–70, hier: S. 65. 24 Der Mythos um ihre Liebe und ihr Paarsein bezieht sich auf verschiedene Elemente (wie der gleiche Geburtstag oder die gleiche Haarspange, die sie bei ihrem ersten Treffen trugen, die ähnliche Physiognomie oder die ähnliche Kunst- und Lebensphilosophie u. a.), die von dem Paar wiederholt in einer Narration ›schicksalhafter Begegnungen‹ hervorgebracht wurden und so einen Beziehungsmythos konstituierten. (Vgl. Malsch, Kämpfer und Liebende (Anm. 21), S. 229 f.) Dabei lässt sich auch ein Paarverständnis von Abramović und Ulay ablesen, das geprägt ist durch ein partnerschaftliches, gleichberechtigtes Konzept, welches die Ähnlichkeiten und Analogien betont. 25 Malsch, Kämpfer und Liebende (Anm. 21), S. 231.

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scheiden.26 Dazu bewegen sich die beiden Performer*innen robbend auf dem Boden wie Schlangen; Abramović hält ihren Kopf wiederholt dicht an den Schlangenkopf und blickt ihr in die Augen. Ulay erzeugt durch einen gespannten Draht noch zusätzlich eine Vibration, die die Schlange anlockt. Zum Thema wird in der Performance das Verhältnis von Mensch und Tier in Form verschiedener Elemente der Anähnlichung an die Schlange durch Imitation ihrer Bewegung, der Erzeugung der Töne und Vibrationen zur Kontaktaufnahme, durch die unmittelbare Begegnung mit dem Tier (das Ansehen, kurzes Berühren, aufeinander Zubewegen und Zurückweichen etc.). Die Kommunikation mit einem als gleichberechtigten Partner ausgewiesenen Gegenüber tritt hier in den Vordergrund. Gleichzeitig lässt sich die Performance – wie der Titel selbst ankündigt – als ein Auftritt des Dritten verstehen. Zunächst einmal stellt die Schlange selbst eine Figur des Dritten dar. Schlangen haben in verschiedenen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten eine »Vielzahl teils widersprüchlicher Symbolbedeutungen«27, die sie fast zu einer Idealfigur des Dritten machen. In zahlreichen Mythen ist die Schlange der Erde zugehörig (hat aber auch eine besondere Beziehung zum Wasser), sie vertritt den Drachen und ist damit Widersacherin des Himmels. »Die Schlange bringt/verursacht den Tod: in afrikanischen Mythen; im Gilgameschepos raubt sie dem Helden das Lebenskraut; in der biblischen Schöpfungsgeschichte (1 Mos 3) ist sie ein Bild der Sünde und des durch sie verursachten Todes.«28 Gleichzeitig ist die Schlange aber auch Symbol des Heilens, Zeichen des Lebens und der Sexualität. »Schließlich ist die Schlange auch Symbol der Klugheit (Mt 10,16; Nietzsche) und geheimen Wissens (Schatzhüter!) und Bild einer im Menschen latent vorhandenen psychischen Kraft (Yoga).«29 Abramović und Ulay arbeiten auch in anderen Performances mit Tieren (in Kaiserschnitt mit einem Pferd, 1978, Wien) und Abramović tritt in späteren Soloarbeiten erneut mit Schlangen auf (Dragon Heads, 1990, Glasgow), wobei die Symbolik der Tiere eine wichtige Rolle einnimmt. Wie Helge Meyer herausstellt, ist die Schlange eines der beliebtesten Tiere von Abramović – seiner Ansicht nach will sie den Tieren, die durch negative Konnotationen des Christentums besetzt seien, »ihre ursprünglich positive Assoziation zurückgeben und die Furcht vor diesen Tieren überwinden.«30 Die furchtlose Kontaktaufnahme und 26 Vgl. dazu die Beschreibung der Performance von Abramović/Ulay in: McEvilley, Art, Love, Friendship (Anm. 22), S. 53 f. 27 Manfred Lurker (Hg.), Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1988, S. 629–630, hier: S. 629. 28 Ebd., S. 630. 29 Ebd. 30 Helge Meyer, »Tiere in der Performancekunst. Zusammenfassung«, in: http://www.performanceart-research.de/texts/tiere_in_der_performancekunst.pdf (abgerufen am: 12. März 2019), S. 1–8, hier: S. 6.

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Kommunikation mit dem Tier ebenso wie die gleichberechtigte und achtsame Form der Beziehung unterstreichen diese Intention der Künstler*innen. Gleichzeitig treten aber nicht nur die Performer*innen in eine bestimmte Beziehung zu der Schlange und belegen sie mit bestimmten Bedeutungen, sondern die Schlange bestimmt auch umgekehrt die Beziehung der beiden Perfor­ mer*innen. Sie erscheint in der Performance als ordnungsstiftende I­ nstanz, die die Ordnung des (heterosexuellen) Liebespaares aufruft und hervorbringt: Als Symbol steht die Schlange nicht nur für die Sünde/Tod auf der einen Seite und für Sexualität/Leben auf der anderen Seite, sondern im Kontext der alttestamentarischen Geschichte vom Paradies (und der Vertreibung daraus) steht sie auch für die Konstitution des, wenn man so will, ersten heterosexuellen Paares der abendländischen Kulturgeschichte, für Adam und Eva. Die Schlange bringt eine ganz bestimmte, heteronormative Ordnung der Beziehung zwischen zwei Menschen hervor. In der Performance Three kann diese Geschichte mit den Performer*innen Abramović/Ulay in einen assoziativen Zusammenhang gebracht werden, auch wenn sie sonst nichts dafür tun, als intimes Paar oder gar als Adam und Eva zu erscheinen. Dass bei der Performance aber ein gewisses Bewusstsein vom Paarsein mitspielte, darauf verweist auch der Tag, der 30. November 1978, an dem die Performance gezeigt wurde. Es ist der gemeinsame Geburtstag von Abramović und Ulay, der in ihrer eigenen Paargeschichte eine ganz zentrale Rolle einnimmt, mit Ähnlichkeit/Gleichheit, schicksalhafter Fügung und seelischer Verwandtschaft verbunden ist. Der besondere Tag und der Auftritt der Schlange als dritte Figur in der Performance Three legen also einen bestimmten Assoziationsraum des Paares nahe. EVA & ADELE mit Dritten und als Dritte Die Figur des/der Dritten als ordnungsstiftende Instanz spielt auch bei dem Künstler*innenpaar EVA & ADELE eine wichtige Rolle. EVA & ADELE sind ein Künstler*innenpaar aus Berlin, das seit Anfang der 1990er Jahre bis heute (2019) zusammenlebt und -arbeitet. Bekannt sind sie vor allem durch ihre weltweiten Auftritte auf Kunstmessen und -shows, wo sie immer im Partnerlook und mit einem Lächeln im Gesicht in extravaganten, oft rosafarbenen Kleidern auftauchen. Der Partnerlook spielt dabei bereits auf ihre Beziehung als Paar an, auch ein gewisser, eher verhaltener, aber dennoch anwesender Austausch von Zärtlichkeiten (Händchenhalten, Köpfe aneinanderlegen, Berührungen, Küsse etc.) weist auf die intime Beziehung der beiden hin. Dabei sind sie geschlechtlich und sexuell schwer einzuordnen, worauf ich später noch genauer eingehen werde. Ein Teil ihrer künstlerischen Arbeit besteht darin, dass sich beide mit Passantinnen oder

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Besucherinnen von Kunstmessen, Vernissagen, Museen etc. fotografieren lassen. Die Fotos sammeln sie anschließend, stellen sie aus, bearbeiten sie als Vordrucke für Zeichnungen, Druckarbeiten oder Gemälde. Besonders eindrücklich ist bei diesem Künstler*innenpaar, dass Leben und Kunst, Werk und Person eine unauflösliche Einheit einzugehen scheinen. Für EVA & ADELE ist nämlich der beschriebene Auftritt in identischen Kostümen kein Auftritt im Rahmen einzelner Veranstaltungen, sondern sie machen dies jeden Tag, ob sie nun in den Supermarkt oder auf eine Vernissage gehen. Sie sind, wie es Paolo Bianchi beschreibt, ein »Lebenskunstwerk«31, sie sind selbst das Werk: »Where ever we are is museum« sagen EVA & ADELE. »Ihre Kunst«, so beschreibt es Hans-Joachim Müller, »ist nicht etwas, das man machen kann oder nicht machen kann, heute vielleicht und morgen vielleicht und übermorgen nicht. Zur ihrer Kunst gibt es keine Alternative. Keine Freizeit von ihr, keine Privatheit neben ihr.«32 Wenn ihre Kunst auch vornehmlich auf das Paarsein von EVA & ADELE rekurriert, ihre künstlerischen Skulpturen, Kostüme, Gemälde oder Fotografien primär auf die Zweiheit Bezug nehmen, so sind doch auch immer wieder andere Personen oder Objekte in den Arbeiten zu sehen, die neben dem Paar auftauchen und die als Dritte verstanden werden können. Besonders offensichtlich ist dies bei den bereits erwähnten Fotografien und Polaroids mit Besucher*innen oder Zuschauer*innen, die u. a. in der Installation CUM-POLAROIDS (2012, Krakau) ausgestellt wurden.33 Auf den Fotografien sind immer EVA & ADELE zu sehen mit einer (oder mehreren) weiteren Person(en), welche die Instanz des/der Dritten übernimmt und zwar im Sinne einer ordnungsstiftenden Funktion: Diese Zuschauer*innen verweisen meines Erachtens nämlich als Dritte auf den Kontext, den Rahmen oder die Ordnung der Kunst. Erst durch diese dritten Personen werden EVA & ADELE gewissermaßen zu einem ›Kunst-Paar‹34 und zu einem Kunstwerk: Ihr Tun, das, was sie machen, nämlich als Paar in extravaganten Kleidern im Partnerlook auf Kunstevents zu erscheinen, wird so überhaupt erst zur Kunst. Die zentrale Prämisse verschiedener postmoderner Ästhetiken – von der relationalen Ästhetik bis hin zur Ästhetik des Performativen – ist, dass das künstlerische Ereignis (ob Theateraufführung, Performance, Gemälde oder Videoin­ stallation) erst dann ein solches wird, wenn dieses von einem Publikum wahrge31 Vgl. Paolo Bianchi, »Lebenskunst: Gastarbeit zwischen Kunst und Leben«, in: Kunstforum 142 (1998), S. 44–49. 32 Hans-Joachim Müller, »Eva & Adele«, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, hg. von Detlef Bluemler, München 2010, S. 2–8, hier: S. 2. 33 Einige dieser Polaroids sind auf der Webseite von EVA & ADELE zu finden: http://www.evaadele. com/views.html (abgerufen am: 13. März 2019). 34 Vgl. zum Begriff des ›Kunst-Paares‹ auch in Abgrenzung bzw. Erweiterung zum ›Künstler-Paar‹: Schrödl u. a., Vorwort (Anm. 4), insbes. S. 10–11.

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nommen und zentral (mit-)bestimmt wird. Erst in diesem Zusammenspiel von Objekt und Subjekt konstituiert sich Kunst. Und durch die sie wahrnehmenden Personen, welche die Fotografie bezeugt und gleichermaßen spiegelt, werden EVA & ADELE von einem privaten Paar zu einem öffentlichen Kunst-Paar. Der/die Dritte spielt aber noch in weiteren Arbeiten von EVA & ADELE eine wichtige Rolle, etwa in der Fotoreihe Family Portrait (1992), die in der retrospektiven Gesamtschau ihres Werks L’Amour du Risque in der Stiftung Olbricht Berlin (27.04.–27.08.2018) erneut zu sehen war.35 Die Reihe umfasst Fotografien, auf denen private, bürgerlich anmutende Interieurs, Häuser oder Gärten zu sehen sind, vor oder in denen Kleinfamilien, Paare oder Einzelpersonen posieren. Auf den Bildern erscheinen zudem EVA & ADELE in rosa Lackkleidern, mit rosa Flügeln auf den Rücken und mit einer Erdkugel zwischen sich. Manchmal stehen sie neben den Personen, manchmal in weiterer Entfernung in oder über der Landschaft. Hier wird auf verschiedenen Ebenen mit dem/der Dritten gespielt, der/die je nach Perspektive anders in Erscheinung tritt: Zunächst können EVA & ADELE selbst als Dritte verstanden werden, worauf auch ihre Darstellung als Engel (Boten zwischen Himmel und Erde) hinweist. Dritte sind sie, ähnlich wie Engel, besonders aufgrund ihres geschlechtlich-sexuellen uneindeutigen Status, der sich der binären Ordnung entzieht bzw. hegemonialen Normen von Zweigeschlechtlichkeit und eindeutiger Hetero- oder Homosexualität entgegensteht. Denn EVA & ADELE unterlaufen, trotz vestimentärer Betonung von Weiblichkeit, eine eindeutige Geschlechtlichkeit – besonders die Glatze, aber auch die Größe, Statur und Stimme Evas verwirren eine kohärente weibliche Geschlechtsidentität.36 Damit irritieren sie auch die sexuelle Identität ihrer Beziehungsform; sie sind ebenso als homosexuelles, heterosexuelles und als transsexuelles Paar lesbar – eine mehrdeutige, fluide, widersprüchliche sexuelle Identität, die in unserer Kultur nicht anerkannt, ja nicht intelligibel ist. In diesem Sinne sind EVA & ADELE auf den Fotografien im Sinne von Dritten als Störfaktoren lesbar, welche die teilweise deutlich abgebildete heteronormative Ordnung des Paares und der Familie sowie das gutbürgerliche Milieu irritieren, auch wenn sie in ihrer engelsgleichen Erscheinung wenig bedrohlich wirken. Ihre subversive Kraft besteht gewissermaßen aus Freundlichkeit, wie sie selbst betonen. Umgedreht können aber auch die Personen, Paare und Familien gegenüber EVA & ADELE als Dritte interpretiert werden, womit wieder stärker die ord35 Einige der Fotografien sind im Ausstellungskatalog abgebildet. Vgl. Eva & Adele, L’Amour du Risque, Berlin 2018, S. 82–83. 36 Vgl. Jenny Schrödl, »Re-Produktionsmaschine Paar? Dekonstruktionen von Beziehungsbildern in der Gegenwartskunst«, in: Re/Produktionsmaschine Kunst: Kategorisierungen des Körpers in den darstellenden Künsten, hg. von Friedemann Kreuder, Ellen Koban und Hanna Voss, Bielefeld 2017, S. 301–312, hier: S. 304 f.

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nungsstiftende Funktion hervortritt. Vor dem Hintergrund der auf den Fotos dargestellten bürgerlichen, primär weißen, zumeist heteronormativen Subjekt-, Paar- und Familienkonstellationen lassen sich EVA & ADELE selbst in diese normativen Kontexte und in diesem Sinne als konventionelles, romantisches Liebespaar einordnen.37 Annie Sprinkle & Elizabeth M. Stephens: Dreier-Hochzeiten Auch bei meinem letzten Beispiel, dem Künstlerinnenpaar Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens, geht es verstärkt um die ambivalente Funktion von Dritten. Die US-amerikanischen Künstlerinnen leben und arbeiten seit über einem Jahrzehnt zusammen und befassen sich in zahlreichen künstlerischen Arbeiten und Projekten mit dem Thema Liebe und Sexualität. Ihr Projekt namens Love Art Laboratory38, welches von 2005 bis 2011 andauerte und sich an Linda Montanos Seven Year Circle orientierte, umfasst im Wesentlichen PerformanceHochzeiten zwischen Sprinkle und Stephens, aber auch weitere künstlerische Aktivitäten, wie Installationen, Workshops, Walks, Symposien etc., welche alle um das Thema Liebe kreisen. Sie selbst beschreiben ihr Projekt wie folgt: We, Elizabeth M. Stephens and Annie M. Sprinkle, are an artist couple committed to doing projects that explore, generate, and celebrate love. […] Each year we orchestrate one or more interactive performance art weddings in collaboration with various national and international communities, then display the ephemera in art galleries. Our projects incorporate the colors and themes of the chakras, a structure inspired by Linda M. Montano’s 14 Years of Living Art.39

Diese Performancehochzeiten, die jedes Jahr an einem anderen Ort und mit unterschiedlichen Farben, Equipment und Personen gefeiert wurden, hatten einen real-politischen Auslöser, nämlich das Verbot aus dem Jahr 2005 für homosexuelle Paare, in Kalifornien zu heiraten. Entgegen dieses Verbots (und entgegen Homophobie und LGBT-Diskriminierung generell) setzen sie ihr Projekt und eignen sich das zentrale Ritual heterosexueller Paare, die Hochzeit, an, verschieben aber auch dessen Bedeutung durch die iterative Form. Bekanntlich heiratet man (eigentlich) nur einmal, Sprinkle und Stephens tun dies aber immer 37 EVA & ADELE inszenieren sich durchaus selbst als romantisches Liebespaar, indem sie etwa eine Paar-Biographie erschaffen oder körperlich-emotionale Intimität und Liebe explizit ausstellen. (Vgl. ebd., S. 305.) 38 https://loveartlab.ucsc.edu/ (abgerufen am: 22. August 2019). 39 Ebd.

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wieder erneut. Auf den ersten Blick ist auch hier das Paar selbst als Drittes zu verstehen, ähnlich wie bei EVA & ADELE. Sprinkle und Stephens stören als lesbisches Paar, das Mitte der 2000er Jahre heiratet, die damals herrschende Ordnung und Norm. Gleichzeitig affirmieren sie damit aber auch die Ordnung des heterosexuellen Paares, bestätigen das romantische Ritual der Hochzeit und füllen so in der Rolle des Dritten wiederum eine doppelte Funktion aus. Andererseits gehen die Hochzeitperformances von Sprinkle und Stephens nicht in der Heirat zweier Menschen auf, sondern sie heiraten zusätzlich immer noch die Natur,40 die ebenfalls die Rolle des/der Dritten übernimmt. Ihr Konzept spiegelt sich auch in der Bezeichnung der Hochzeiten als »ecosex weddings«41 wider, wobei sie Ökosexualität/Ecosex folgendermaßen beschreiben: »1: A person that finds nature sensual, sexy. 2: A new sexual identity. 3: Person who takes the earth as their lover. 4: A term used in dating, i.e. metrosexual.«42 Zum (Hochzeits-)Paar kommt also eine dritte Instanz hinzu und dieses Dritte scheint nun wieder primär hegemoniale Vorstellungen von Hochzeiten, von Paaren als Zweiheiten und von an Menschen gebundene Sexualität zu unterlaufen und zu stören. Während sich Sprinkle und Stephens mit dem Modell der Hochzeit eine bürgerliche Vorstellung von Zweiheit/Paaren aneignen und damit immer auch ein Stück weit das Modell und die Norm affirmieren, wird dieser Prozess durch die Heirat einer weiteren, dritten Instanz wieder gestört. Oder anders ausgedrückt: Sprinkle und Stephens werden durch die Hochzeit(en) mit dem/der Dritten wieder weitaus ›queerer‹. Paare und Dritte: ein Resümee Die drei Beispiele aus der Performancekunst haben unterschiedliche Konstellationen zwischen Paaren und Dritten gezeigt. Mal nehmen dritte Figuren (wie die Schlange bei Abramović/Ulay oder die Zuschauenden bei EVA & ADELE) eine ordnungsstiftende Funktion ein. Er/sie operiert dann als jemand, »der die dyadischen Objektbeziehungen transformiert und für gesellschaftliche Ansprü40 So wird jeder Hochzeit ein Element der Natur zugeordnet, beispielsweise die »blaue Hochzeit« (2009) als »Hochzeit mit dem Himmel« oder die »lila Hochzeit« (2010) als »Hochzeit mit dem Mond« (u. a.). Diese Elemente tauchen in den jeweiligen Hochzeiten als Symbole, in Farben, auf Kleidungsstücken etc. auf, ebenso wie Orte und Tageszeiten danach ausgewählt werden (z. B. wurde die Hochzeit mit dem Mond in der Nacht durchgeführt.) Vgl. dazu Bilder und Videos der jeweiligen Hochzeiten, z. B.: https://loveartlab.ucsc.edu/2016/06/21/blue-wedding-to-the-sky-video-andphotos/ (abgerufen am: 22. August 2019). 41 http://sexecology.org/ecosex-weddings/ (abgerufen am: 22. August 2019). 42 https://loveartlab.ucsc.edu/2016/06/23/sexecological-research/ (abgerufen am: 22. August 2019).

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che aufnahmebereit macht.«43 Die dritte Figur öffnet aber nicht nur die Zweierbeziehung quasi von innen für eine soziale Ordnung, sondern er/sie lässt die Zweiheit auch von außen betrachtet in eine bestimmte Ordnung (des Paares) einsortieren. Figuren des Dritten machen – wie der Begriff des Mediums bereits nahelegt – sichtbar bzw. erkennbar. So lassen sich Abramović/Ulay durch die Schlange und ihre Symbolik als heterosexuelles Paar einordnen, ebenso wie EVA & ADELE durch die Rezipierenden als Kunst-Paar erkennbar werden usw. Neben ihrer ordnungsstiftenden Funktion umfassen Dritte auch störende oder subversive Funktionen gegenüber herrschenden Ordnungen (des Paares im Besonderen wie von Binarismen allgemein), was sich etwa in der Figur EVA & ADELE selbst zeigt, die als geschlechtlich-sexuelle Dritte hegemoniale Normen von Zweigeschlechtlichkeit und Hetero- sowie Homosexualität aufbrechen und infrage stellen; oder Sprinkle und Stephens, die mit ihren wiederholten Hochzeiten der Natur konventionelle Modelle von Zweisamkeit und romantischen Ritualen kritisch befragen und verändern. Wie deutlich wurde, spielen beide Aspekte – die ordnungsstiftende und ordnungsunterlaufende Funktion – von Dritten oftmals zusammen, obgleich mal die eine oder mal die andere mehr zu überwiegen scheint. In Bezug auf die Paarkonstellationen wurden zudem zwei Modelle von Dritten deutlich: Einerseits können Zweierrelationen als eine in sich geschlossene Einheit erscheinen, zu der etwas Drittes von außen hinzukommt, andererseits können die Paare aber auch selbst als Dritte auftreten, bestimmte Paarkonstellationen sind selbst Figuren des Dritten. Der/die/das Dritte verweist auf eine konstitutive Brüchigkeit, ja Fragilität des Paares, die es dem ersten Anschein nach nicht hat. Denn in unserer Kultur gelten Paare (und damit verbunden: binäre Systeme und Kategorien) weitgehend als stabile, ordnungsstiftende Einheiten, allen voran (wohl immer noch) das heterosexuelle Paar aus Mann und Frau. Dennoch erscheint die Einheit der Zweiheit intrinsisch unsicher und muss vielleicht gerade deshalb beständig reproduziert und geschützt werden. Diese Unsicherheit markiert der/die/das Dritte als von außen kommende Figur ebenso wie Paare, die als Dritte auftreten. Bezieht man den zu Beginn des Aufsatzes entwickelnden Gedanken einer sich verändernden Epistemologie in der westlichen Welt von einem binären zu einem triangulären System und Denken auf Paarkonstellationen, so lassen sich Paare in Zukunft vielleicht ebenfalls stärker als trianguläre Gefüge denken. Auch dieses Denken von Paaren und Dritten ist an sich nicht neu: »Das Paar wiederum ist nicht denkbar ohne Bezug auf ein Drittes: Ich-Du-Wir, wir und die Welt, ErSie-Es«44, stellte bereits Renate Berger im Horizont ihrer Untersuchung von 43 Bedorf, Der Dritte als Scharnier (Anm. 17), S. 11. 44 Renate Berger, »Leben in der Legende«, in: Liebe Macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert,

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Künstlerpaaren vom ausgehenden 19. bis zum 20. Jahrhundert fest. Allerdings scheint der Status des Dritten in Bezug auf das Paar, nimmt man die zu Beginn erörterte epistemologische Wende ernst, ein anderer geworden zu sein: Dritte sind aus dieser Perspektive nicht mehr nur als Übergang oder punktuelle Störung denkbar, sondern behaupten eben einen ganz eigenen Status mit und innerhalb der Paarkonstellation. Dieses Ernstnehmen des/der Dritten als eigenständiger Figur ermöglicht nicht nur viele verschiedene Formen von sozialen, emotionalen, körperlichen oder sexuellen Beziehungen, oder ein anderes Denken von Beziehungen überhaupt, sondern beinhaltet auch die prinzipielle Einsicht und Haltung, dass das, wer oder was (Liebes-)Paare sind (oder nicht sind), nie vollständig feststeht, sondern immer in Veränderung begriffen ist.

hg. von ders., Köln 2000, S. 1–34, hier: S. 2.

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Paarkonstruktionen, Familienkonstellationen und ­Netzwerke um Salka und Berthold Viertel Paarwerdung – Familienhintergrund – Geschlechterverhältnisse Anfang Dezember 1916 begegneten der 31-jährige Dichter und Regisseur Berthold Viertel (1885–1953) und die 27-jährige Salka Steuermann (1889–1978) einander zum ersten Mal im Wiener Café Bauernfeld. Salomea Sara (genannt: Salka) Steuermann war damals (seit 1913) als Schauspielerin unter dem Künstlerinnennamen Mea Steuermann an der Neuen Wiener Bühne – einem kleinen, innovativen Theater – engagiert. Berthold Viertel war auf Fronturlaub. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der ihn als einen der wenigen ausgebildeten Reserveoffiziere zuerst nach Serbien und dann nach Galizien brachte, hatte er sich an der sozialdemokratischen Wiener Freien Volksbühne als moderner Regisseur zeitgenössischer Dramatik einen Namen gemacht. Viertel, einer der engsten Freunde des Satirikers Karl Kraus und auch über den Kraus-Kreis hinaus in der Wiener Kulturszene bestens vernetzt, wurde seiner zukünftigen Frau durch Ellen Geyer-Neustädter vorgestellt, die als eine der ersten Regisseurinnen selbst eine Persönlichkeit des Theatermilieus war.1 Der beiderseitige familiäre Bezug zu Galizien, den der in Wien geborene Berthold Viertel durch den Krieg gerade erst entdeckte, brachte die beiden einander rasch nahe. Er war fasziniert von Steuermanns großbürgerlich-jüdischer Familie, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben der galizischen Kleinstadt Sambor mitgestaltete, von dem offenen Haus (Wychylowka) und von dem Zweitgeborenen Eduard Steuermann (1890–1964), der sich als SchönbergSchüler zum Komponisten und Pianisten entwickeln konnte: »›Zwölftonmusik in Sambor…‹ wiederholte er immer wieder kopfschüttelnd.«2 Vor allem Berthold Viertel beschrieb die erste Begegnung mehrfach als »schicksalshaft […] – ein gebieterischer Hinweis auf die große Ergänzung wirkte sofort«.3 Auch Salka Viertel erinnerte sich, dass er sie bereits beim Abschied am ersten Abend als Paar, ja als Ehepaar sah: 1 2 3

Hilde Haider-Pregler, Überlebenstheater. Der Schauspieler Reuss, Wien 1998, S. 19. Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz. Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2011, S. 111. Berthold Viertel, Arbeits- und Notizheft, o. D. [1929], 69.3143/44, K26, A: Viertel, DLA »[…] daß

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»Sie wissen, dass ich Sie heiraten werde.« Ich lachte: »Sie sind doch schon verheiratet.« »Meine Frau und ich leben getrennt«, sagte er ruhig. »Ich liebe jemanden«, sagte ich. »Das macht nichts. Ich werde Sie doch heiraten.«4

Berthold Viertel, der Sohn eines erfolgreich ins Bürgertum aufgestiegenen Möbelhändlers, positionierte sich bereits als Gymnasiast als anti-bürgerlich.5 Er ordnete sich dementsprechend einer »Opposition in Leben und Kunst« zu, wie sie für ihn die Kreise vorwiegend männlicher Intellektueller und Künstler um den Dichter Peter Altenberg und eben Karl Kraus repräsentierten.6 In diesen Kreisen wurde viel über die sogenannte »sexuelle Frage« nachgedacht – Prostitution, Homosexualität und Geschlechterhierarchien wurden diskutiert. Es ging um einen Kampf gegen die bürgerliche Sexualmoral, um eine Enttabuisierung des Sexuellen und in Folge um »sexuelle Emancipation«. 7 In diesem Sinne setzte sich etwa Karl Kraus für eine vom Strafrecht zu entkoppelnde, außereheliche Sexualität sowie für die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz ein. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Männer zum einen der Annahme von einer »natürlichen« Unterschiedlichkeit der Geschlechter und den Vorstellungen von »polaren, komplementären Geschlechtscharakteren« verhaftet blieben, die damals breiten gesellschaftlichen Konsens fanden. Frauen galten dabei als ›natürliche‹, instinktive Wesen, denen die ›männliche‹ Domäne des Geistes verschlossen blieb – die ›polygame Frauennatur‹ wurde nach und gegen den die Debatten prägenden Philosophen Otto Weininger sogar zum Ideal dieser Kreise:8 »Denn die Natur hat dem Weib die Sinnlichkeit als den Urquell verlie-

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wir uns getroffen haben, darin liegt so viel Bestimmung, daß alles andere daneben schweigen muß« schrieb er bereits kurz vor der Hochzeit an seinen Vater (Berthold Viertel an Salomon Viertel, 13.02.1918, o., NK 20, A: Viertel, DLA). In dem Romanfragment Der Hilferuf, das stark unter dem Einfluss eines modischen Okkultismus stand, beschrieb er ebenfalls die Schicksalshaftigkeit der Begegnung. Die auf Salka Viertel basierende Olga Zimmermann war eine »antike Frau«, die »nicht in diese Zeit« passte. (Berthold Viertel, Der Hilferuf, o. D., o., K10 und Berthold Viertel, Arbeits- und Notizheft, o. D., 69.3143/92, K26, A: Viertel, DLA) Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 113. Vgl. die Kapitel »Jugendliche Kulturanarchisten« und »Sexuelle Emancipation« in: Katharina Prager, Berthold Viertel. Eine Biografie der Wiener Moderne, Wien, Köln und Weimar 2018, S. 197–208 und S. 245–267. Vgl. Katharina Prager, »Dichter gegen die Zeit – Karl Kraus und die ›kritische Moderne‹«, in: Traditionen der Wiener Moderne. Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, hg. von Wilhelm Hemecker, Cornelius Mitterer und David Österle, Berlin 2017, S. 84–101. Vgl. das Kapitel »Sexuelle Emancipation« in: Prager, Berthold Viertel (Anm. 5), S. 245–267. Vgl. Nike Wagner, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt a.

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hen, an dem sich der Geist des Mannes Erneuerung hole.«9 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die gleichzeitig stattfindenden Kämpfe um Mädchenbildung und Universitätszugang für Frauen, um eine Reorganisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung und um das Frauenwahlrecht dieser Szene im Wesentlichen fernstanden und die Frauenaktivist*innen im Gegenteil oft verhöhnt wurden. Es gibt allerdings Indizien, dass Berthold Viertel hier (jedenfalls zeitweise) doch anders und vielleicht sogar weiter dachte. 1912 ging er eine »weiße Ehe« mit Margarete Ružička, einer Doktorin der Chemie ein, die er als »Gleichgesinnte […] im Kritischen« in seinem Kampf um »sexuelle Emancipation« kennengelernt hatte. Er beschrieb diese Verbindung als ein partnerschaftliches Abkommen »auf Grund einer neuen Ethik, die das Sexuelle ausschliesst und beiden Gatten in diesem Punkt die Freiheit lässt.«10 Es scheint, dass es hier darum ging, einer Frau den Schutz einer Alibi-Ehe zu bieten, um bürgerlich nicht akzeptierte Beziehungen leben zu können. Im Kreis um Sigmund Freud taucht ein weiteres Beispiel für eine solche Verbindung auf.11 Über die Gründe und Hintergründe dieser Praxis ist nur Spekulation möglich, da die Quellen spärlich sind, etwa von Viertels erster Ehefrau gar keine Äußerung dazu überliefert ist und sich ihre Spur schließlich ganz verliert.12 Fest steht, dass Berthold Viertel gerade um die Zeit, als er Salka Steuermann kennenlernte, aufgrund seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg diese Ideen wieder zu verwerfen begann: Die Frage der Zeit nahm eine Allzumenschliche – vielleicht ihre eigenartigste – Wendung in der Frauenfrage. Nachgeborene mögen staunen, daß wir plötzlich mit solcher Dringlichkeit, so methodisch und so radikal, nach dem Weibe zu fragen […] begannen; […]. Erst ging es um Gleichberechtigung; die Epoche suchte in der Frau den Menschen, und zwar den modernen Menschen. Da fand sie die Hysterika. Aber bald wurde diese M. 1982; Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien und München 1985; Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, hg. von Christian Wagenknecht, Berlin 1987 (Karl Kraus. Schriften, Bd. 1); Karin Hausen, »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹«, in: Sozialgeschichte, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 368–393. 9 Karl Kraus, »Der Prozeß Riehl«, in: Die Fackel 211 (13. November 1906), S. 27. 10 Berthold Viertel, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o., NK12, A: Viertel, DLA. 11 Vgl. Peter Singer, Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien, Hamburg 2003. 12 Grete Viertel brachte sich nach der Scheidung von Berthold Viertel im Jänner 1918 erst 1930 nochmals in Erinnerung, als sie 30.000 österreichische Goldkronen an ausständigen Alimentationszahlungen von Viertel forderte. Anfang 1937 meldete sie sich aus der einstmals gemeinsamen Wohnung in der Florianigasse nach Katowice in Polen ab (Meldedaten Grete Viertels, WStLA). In der Verlassenschaftsabhandlung nach Berthold Viertel (BG Innere Stadt, A4/6:6A 709/53) scheint auf, dass sie am 29. September 1953, also vier Tage nach Viertel, in Wien verstarb (WStLA).

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Oberflächenbewegung […] durchbrochen von einem vulkanischen Stoß tieferer, heißerer Schichten. Den modernen Menschen hatte das Weib, das ihm glich, nicht genug gefreut. Ein Müssen riss ihn hin zum Gegensatz. Man suchte bald, mit tragischer Besessenheit, die elementare Frau, die absolute Frau, die Frau überhaupt.13

Eine solche »absolute Frau« meinte Berthold Viertel nun im Dezember 1916 gefunden zu haben. Von romantischer ›Schicksalshaftigkeit‹ und einem ›irrationalen‹ Bemühen um die Rettung geschlechtlicher Identitäten getrieben,14 heirateten die beiden tatsächlich am 30. April 1918, wenige Wochen nachdem seine erste Ehe geschieden worden war in der Wiener Synagoge in der Seitenstettengasse: »Berthold und ich traten gleichzeitig auf den Teppich unter dem Baldachin«,15 schrieb Salka Viertel über die Hochzeit und implizierte damit jedenfalls im Rückblick, dass sich in dieser Ehe zwei gleich ›starke‹ Partner gegenüberstanden. Auch Salomea Steuermann war geprägt von der ›modernen‹ Ordnung der Geschlechterverhältnisse, in der Frauen der Natur mehr als der Kultur verbunden sein sollten und damit im Gegensatz zu Männern als emotional, schwach und passiv galten. Ein relevantes Vorbild in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität war, wie sie später festhielt, ihre Mutter Auguste Steuermann (geb. Amster, 1867–1953), die mit 21 Jahren eine arrangierte Ehe mit dem um 15 Jahre älteren Rechtsanwalt Joseph Steuermann (1852–1932) eingegangen war, obwohl sie eigentlich Opernsängerin hatte werden wollen und sogar in Wien Gesang studiert hatte. Als Frau des Bürgermeisters ›verlagerte‹ sie ihre Talente in die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens von Sambor und pflegte in ihrem Haus eine für Neues offene Atmosphäre. Während sie ihren Söhnen Eduard und Zygmundt (genannt »Dusko«, 1898–1943) genug Freiheiten gewährte, um professioneller Musiker und Fußballer zu werden, waren für Salka und ihre jüngere Schwester Ruzia (1891–1973) keine systematische Ausbildung oder Berufslaufbahn vorgesehen. Ihre Pläne, Schauspielerinnen zu werden, wurden nicht unterstützt – sie sollten heiraten. Mit 17 Jahren hatte sich Salka Steuermann tatsächlich verlobt, nachdem ihr der für sie vorgesehene Anwalt Stanislaus Höniger unerwartet sympathisch war. Die Vorgaben ihrer Familie, der sie zeitlebens eng verbunden blieb, wurden also erfüllt, bis es zu einer tragischen Wendung kam und Höniger im November 1907 verstarb. In Folge setzte Salka Steuermann ihre Ideen durch 13 Berthold Viertel, »Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit«, in: Dichtungen und Dokumente, hg. von Ernst Ginsberg, München 1956, S. 240. 14 Begriffe, die Viertel immer wieder verwendete, so u. a. in einem Brief an seinen Vater: Berthold Viertel an Salomon Viertel, 13.02.1918, o.S., NK 20, A:Viertel, DLA. 15 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 121.

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und ließ sich in Wien und an diversen deutschsprachigen Theatern zur Schauspielerin ausbilden. Zwischen 1908 und 1916 gewann sie als Künstlerin an den Bühnen von Teplitz-Schönau, Zürich, Berlin und Wien mit eigenem Einkommen doch eine gewisse Unabhängigkeit und konnte sich Freiräume abseits des Elternhauses schaffen – wenn auch verbunden mit neuen Abhängigkeiten und Abwertungen. Bemerkenswert offen schrieb sie später von sexuellen Erfahrungen, Zuschreibungen und Belästigungen in diesem Kontext.16 Als sie im Dezember 1916 in Wien Berthold Viertel kennenlernte, beendete sie gerade eine längere Affäre mit dem verheirateten Bildhauer Alexander Jaray, die sie als Beginn ihres Kampfes »gegen den Feudalismus der Liebe«17 beschrieb. Trotz und auch aufgrund dieser Hintergründe war Salka Viertel eine durch den amerikanischen Stil18 beeinflusste ›moderne Frau‹, die in Sachen Ausbildung, Berufstätigkeit, partnerschaftlicher Sexualität und Kameradschaftsehe ganz andere Ideen als ihre Elterngeneration lebte: So war es selbstverständlich, dass Salka Viertel weiterhin ihren Beruf als Schauspielerin ausübte, auch wenn das für das Ehepaar über viele Jahre hin ein getrenntes Leben in verschiedenen Städten bedeutete. Ebenso selbstverständlich war aber, dass Salka Viertel den Familienalltag organisierte und die gemeinsamen Kinder betreute. Unausgesprochen entwickelte sich die »schicksalshafte Verbindung« der Viertels rasch zu einer »offenen« Ehe, da vor allem Berthold Viertel weiterhin an seinen im Theatermilieu auch relativ selbstverständlichen Praktiken »sexueller Libertinage« festhielt. Für Salka Viertel war das vorerst schockierend, doch bald nahm sie sich selbst Freiheiten heraus und hatte 1923 in Hamburg eine Liebesbeziehung mit dem Kunsthistoriker Ludwig Münz.19 Noch unter dem Eindruck des ersten »Betrugs« ihres Mannes hatte sie um 1922 in ein Notizbuch geschrieben: Meine geliebten Söhne Hans und Peter! […] zu Euch komme ich mit meinem grossen Schmerz. […] Wenn ihr einmal dieses Buch lesen werdet – werde ich nicht mehr sein […]. Ich sehe Euch groß und männlich nebeneinanderstehen dies kleine Buch in den Händen haltend! […] Ja meine Einzigen! Söhne! Ich wollte Euch kleine Seelen als 16 Ebd., S. 64–78. 17 Ebd., S. 95. 18 Vgl. Johanna Gehmacher: »›Die moderne Frau‹: Prekäre Entwürfe zwischen Anspruch und Anpassung«, in: Die helle und die dunkle Seite der Moderne: Festschrift für Siegfried Mattl zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Schwarz und Ingo Zechner, Wien 2014, S. 152–161. 19 Diese Darstellung basiert auf einer detaillierteren Beschreibung in: Katharina Prager, »›Amerika ist trotz allem grossartig‹ - Die transkulturellen Leben und autobiografischen Praktiken der Familie Viertel«, in: Biografien und Migrationen. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG 29/2018/3), hg. von Johanna Gehmacher, Klara Löffler und Katharina Prager, Innsbruck 2018, S. 37–57.

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Männer zur Welt bringen – alles was in mir stark und männlich ist nahm ich zusammen um Euch zu gebären. Ich bin zu sehr Weib und weiß zu sehr wie schwer es ist und wie leidvoll so Frau zu sein wie ich es bin – darum wollte ich das Liebste was in mir wuchs nicht auch Frau werden lassen. Meine großen Söhne, Ihr lacht über mich?20

Gerade aufgrund des getrennten Lebens und Arbeitens des Paares in verschiedenen Städten ist die Paarbeziehung in Briefen ab etwa 1918 und bis zu Berthold Viertels Tod 1953 sehr gut dokumentiert. Die frühen Briefe des Paares, die zwischen dem in der heutigen Westukraine gelegenen kleinen Ort Kolendziany, wo Berthold Viertel stationiert war, und Wien/Sambor hin und her gingen sind allerdings, Salka Viertels eigenen Angaben zufolge, verloren gegangen.21 Vermutlich wären diese Briefe der ersten beiden Jahre eine ebenso hochinteressante Quelle gewesen wie jene der folgenden 35 Jahre, in denen die Viertels nicht nur das sie umgebende Kulturleben in Österreich, Deutschland und später Hollywood detailliert beschrieben, sondern eben auch die eigene Beziehung und Vorstellungen voneinander eingehend reflektierten. 1923 verwirklichten sich Berthold und Salka Viertel einen beruflichen Traum, indem sie in Berlin erstmals zusammenarbeiteten und das Ensemble Truppe als genossenschaftliches, avantgardistisches Theater begründeten. Berthold Viertel war dabei selbstverständlich Direktor. Das idealistische Unternehmen konnte sich in Zeiten der Hyperinflation nicht durchsetzen und löste sich schon im März 1924 wieder auf. Die Viertels gingen mit hohen Schulden aus dem Experiment heraus und es folgten finanziell und gesundheitlich schwierige Jahre. Im Sommer 1927 nahm Berthold schließlich ein Angebot der Fox Corporation an, als Drehbuchautor und Regisseur nach Hollywood zu gehen – ohne seine Familie allzu sehr in die Entscheidung einzubinden: Europäer*innen waren im Hollywood der Stummfilmära gefragt, und es gab die Möglichkeit, rasch viel Geld zu verdienen. Diese Auswanderung nach Amerika war vorerst eigentlich als Aufenthalt von höchstens drei Jahren geplant, um sich wirtschaftlich zu sanieren. Salka Viertel fehlten erstmals berufliche Möglichkeiten. Ihre Versuche, als Filmschauspielerin zu arbeiten, scheiterten nicht nur am Aufkommen des Tonfilms, sondern auch daran, dass ihr Alter und Aussehen nicht den Standards Hollywoods entsprachen. Sie fühlte sich zur »film-wife« degradiert.22 Interessant ist 20 Salka Viertel, [Beiges Notizbuch 1922], Juni 1922, o., K 05, A: Viertel, DLA. 21 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 114. Wieder wird hier mit Bezugnahme auf die frühen Briefe eine schicksalshafte Zusammengehörigkeit beschworen: »Später entdeckten wir, dass wir die gleichen Gedanken und die gleichen Worte im gleichen Augenblick schrieben.« 22 Vgl. Katharina Prager, »Berthold Viertel – A Migration Career and No Comeback in Exile«, in: Quiet Invaders Revisited, Biographies of Twentieth Century Immigrants to the United States, hg. von Günter Bischof, Innsbruck u. a. 2017, S. 103–114.

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auch, dass Salka Viertel hier mit dem Ende ihrer Karriere als Schauspielerin auch ihren Künstlerinnennamen Steuermann – zugleich der Name ihrer Herkunftsfamilie – aufgab und fortan unter dem Namen ihres Mannes lebte. Das Jahr 1928 brachte eine in den Briefen gut dokumentierte Ehekrise, in der Geschlechterverhältnisse neu reflektiert wurden. Salka Viertel wehrte sich dagegen, dass Berthold Viertel sie als »Stammesmutter« und »Riesin« wahrnahm, um seine »Sehnsucht nach kleinen Mädchen haben zu können.«23 Sie beklagte ihre mangelnde Bildung und auch das Geschlechtermodell Wiens um 1900, in dessen Dichotomien sie aber weiterhin dachte: Ach, Berthold, wie leid ist es mir, dass ich so unwissend bin – dass mein Blut so viel stärker ist als mein Geist – ach warum bin ich eine Frau – eine so frauenhafte Frau. Es gibt eine Welt die ich immer nur von außen schmerzlich anstarren kann – und schuld daran sind die Männer. Erinnerst Du Dich wie Du und [Ludwig] Münz glücklich immer meinen Mangel an »Intellekt« gepriesen habt? Aber mit Gefühl und Sinnlichkeit ist einem nicht viel geholfen im Leben. Es hätte aus mir etwas werden können!24

Auch Berthold Viertel kehrte in seinen Notizbüchern zu Otto Weininger zurück, der – in seinem Werk den misogynen Bildungs- und Wissenschaftskanon komprimierend und ergänzend – seine Generation geprägt hatte: Nach W.[eininger] hat zum Beispiel Salka mehr Genie als Talent. […]. Wäre sie ein Mann geworden, wäre sie ein großer Schöpfer gewesen. Ihre Tragik ist, als Frau geboren worden zu sein – und zwar als Frau von so echter, tiefer, elementarer Weiblichkeit. Sie ist zu reich begabt, nach beiden Seiten hin. […] Dadurch wurde sie einer der großartigsten und merkwürdigsten Menschen, die ich je gesehen habe.25

Salka Viertels Salon Abseits dieser Selbst- und Fremdzuschreibungen in Briefen zeichnete sich hier auch lebensgeschichtlich ein bald folgender, deutlicher Bruch ab: Salka Viertel etablierte sich in den nächsten Jahren in einem neuen Berufsfeld und machte Karriere als Drehbuchautorin für Greta Garbo-Filme. Sie hatte die persönliche Freundschaft zu Metro Goldwyn Mayers bestbezahltem Star Greta Garbo zum Einstieg nutzen können, bewies aber rasch, dass sie nicht nur den Herausforderungen des Drehbuchschreibens gewachsen war, sondern sich als Interessensvertreterin der 23 Salka Viertel an Berthold Viertel, 4. September 1928, 78.907/3, K45, A: Viertel, DLA. 24 Salka Viertel an Berthold Viertel, 7. Februar 1933, 78.911/5, K45, A: Viertel, DLA. 25 Berthold Viertel, Arbeits- und Notizheft, o. D. [1929], 69.3143/44, K26, A: Viertel, DLA.

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Garbo auch eine einflussreiche Position im Filmbetrieb zu sichern wusste. Mit ihrem Gehalt unterhielt sie nun die gesamte Familie inklusive ihres (ab 1936 oft arbeitslosen) Ehemannes. Zur selben Zeit ging sie auch eine etwa zehn Jahre andauernde Verbindung mit dem um 24 Jahre jüngeren Gottfried Reinhardt ein und kaufte 1933 das Haus in der Mabery Road 165, das die Familie seit 1929 mietete, um im drohenden »Weltgewitter« eine »Ecke« zu haben »wo man seinen eigenen Spinat fressen kann«.26 Ähnlich wie Salkas Elternhaus wurde dieses Haus in den folgenden beiden Jahrzehnten zum familiären Zentrum und zugleich zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt Hollywoods und des deutschsprachigen Exils, in dem Salka und Berthold Viertels Netzwerke aufeinandertrafen. In zeitgenössischen Quellen wie auch in späteren Erinnerungen ist dieser Treffpunkt häufig als Salon wahrgenommen und beschrieben worden. Dabei gingen die Bezeichnungen von dem konkreten Begriff27 bis zu den für die Salonkultur typischen hybriden Umschreibungen, etwa »Sunday afternoons«.28 Im Europa des 18./19. Jahrhundert waren Salons zweifellos paradigmatische Orte des kulturellen Austauschs und der Netzwerkbildung,29 doch wie gelangte der Transfer dieser kulturellen Praktik in der Mitte des 20.  Jahrhunderts an die nordamerikanische Westküste? Das früheste und möglicherweise auch prägendste Vorbild für ihren Salon erlebte Salka Viertel während ihrer Kindheit und Jugend auf dem großbürgerlichen Anwesen der Familie Steuermann – der »Wychylowka« –, wo ihre Mutter Auguste ebenfalls zu regelmäßigen Geselligkeiten einlud. Bezeichnenderweise wie ihre Tochter 40 Jahre später in Santa Monica sonntagnachmittags.30 In ihren nicht-publizierten Erinnerungen beschreibt Auguste Steuermann die Geselligkeiten in ihrem Haus auf folgende Weise:

26 Brief Salka Viertels an Berthold Viertel, 11. April 1933, 78.911/2, K34, A: Viertel, DLA; Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 253. 27 Berthold Viertel an Salka Viertel, 19.5.1935, DLA 78.865/7; Marta Feuchtwanger, An Émigré Life: Munich, Berlin, Sanary, Pacific Palisade, interviewt von Lawrence M. Weschler, Vol. III, Los Angeles 1976, S. 1188, 1190; Christopher Isherwood, Lost Years. A Memoir 1945–1951, London 2000, S. 70 f. 28 Salka Viertel, The Kindness of Strangers, New York u. a. 1969, S. 139. Zur Problematik der Verwendung des Begriffs »Salon« als Quellen- bzw. Analysebegriff vgl. Brunhilde Wehinger, »Der Salon. Ein Model kultureller Begegnungsräume weiblicher Prägung«, in: Brennpunkte kultureller Begegnungen auf dem Weg zu einem modernen Europa. Identitäten und Alteritäten eines Kontinents, hg. von Cornelia Klettke und Ralf Pröve, Göttingen 2011, S. 203–212, hier: S. 205. 29 Edward Timms, Dynamik der Kreise, Resonanz der Räume. Die schöpferischen Impulse der Wiener Moderne, Weitra 2013. 30 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 33.

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Da mein Mann im politischen Leben der Stadt eine grosse Rolle spielte, kehrten die angesehensten Leute der Stadt und der Adel der Umgebung, sowie viele bedeutende Persönlichkeiten, Universitätsprofessoren u.s.w., aus der benachbarten Hauptstadt Lemberg oft und gern in unserem Hause ein und so unbescheiden es klingt, in unserem Hause konzentrierte sich das gesellschaftliche Leben der Stadt.31

Ebendiese im Hause Steuermann gepflegten kulturellen Praktiken des gehobenen Bildungsbürgertums hebt der Schriftsteller Carl Zuckmayer (ein Freund des Ehepaars Viertel) in seinem Vorwort zu Salka Viertels Autobiographie hervor: Wychylowka war der Nabel der Welt. […], ihr [Salka Viertels] Vater war ein großer Herr im Lande und auch von den Nichtjuden als solcher anerkannt; das lag weniger in seinem Vermögen begründet als an der im Hause Wychylowka angestammten und gepflegten Kultur. Es war nicht die hybride Kultur der Emporkömmlinge oder der »Oberklasse«, sondern die des beseelten Lebens, die echte Bildung, welche immer musisch gestimmt, liberal und weltaufgeschlossen ist.32

Ihr Aufwachsen in einem offenen, großbürgerlichen Haus33 bildete vermutlich die Basis für Salka Viertels gesellschaftliche Aktivitäten in Santa Monica. Nicht zu unterschätzen sind jedoch ferner die Eindrücke, die Viertel während ihrer Zeit als Schauspielerin in verschiedenen europäischen Großstädten wie Wien, Dresden, Düsseldorf oder Berlin sammelte. In all diesen Städten existierte noch in den 1910er/20er Jahren eine lebendige Salonkultur, die unter anderem auch von Viertels späteren Salongästen erlebt und/oder gestaltet worden war. In den 1910er Jahren lebte sie etwa mit ihrem Bruder Eduard Steuermann in Berlin, wo beide regelmäßig zu den Sonntagsgeselligkeiten des Komponisten Ferruccio Busoni und seiner Frau Gerda eingeladen waren. Viertel bemerkt hierzu in ihrer Autobiographie: In ihrem großen Salon versammelten sich internationale Berühmtheiten, die Hochfinanz und junge Musiker. Busoni ging von Gruppe zu Gruppe, gefolgt von drei kleinen, buckligen Damen, die hoffnungslos in ihn verliebt und unentwegt aufeinander eifersüchtig waren.34

31 Auguste Steuermann, o. T., o. O. 1943, Akademie der Künste Berlin, Michael-Gielen-Archiv 347 (Familiana). 32 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz. Ein Leben mit Stars und Dichtern des 20. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 8. 33 Vgl. zum Konzept des »ganzen Hauses« auch den Aufsatz von Melanie Unseld im selben Band. 34 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 90.

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Durch das Netzwerk um Busoni lernten die Geschwister Steuermann auch Eduards späteren Lehrer und Salkas späteren Salongast Arnold Schönberg in Berlin kennen. 20 Jahre später führte Salka Viertel schließlich selbst ihr eigenes offenes Haus in Santa Monica. Zunächst stammten die Gäste wie Johnny Weissmüller, Ben und Ad Schulberg, Ernst Lubitsch, Tallulah Bankhead, Wilhelm Dieterle und Greta Garbo überwiegend aus der Filmbranche Hollywoods, in der das Ehepaar Viertel – anfangs vor allem Berthold Viertel – begann, sich beruflich zu etablieren.35 Ab Mitte der 1930er Jahre kamen vermehrt in Europa politisch, religiös sowie ethnisch Verfolgte, die meisten von ihnen Künstler*innen oder Intellektuelle, nach Los Angeles und erhofften sich Sicherheit und ein finanzielles Auskommen. Auch wenn die sich rasant entwickelnde Filmindustrie den Ankommenden – Schauspieler*innen, Schriftsteller*innen, Komponisten, Musiker*innen – berufliche Anknüpfungspunkte bot, konnten sich tatsächlich nur Wenige dauerhaft etablieren. Die im Nachhinein häufig als »émigré community«36 bezeichneten Geflüchteten, stammten vorwiegend aus mitteleuropäischen Großstädten wie Wien, Berlin, München, London und Paris. Sie waren im 19. Jahrhundert geboren, hatten in unterschiedlichen Staatsformen, sowohl in Monarchien als auch in Demokratien, gelebt und die Salonkultur Europas persönlich erfahren und gestaltet, unter ihnen: Maria und Aldous Huxley, Hanns und Louise Eisler, Helene Weigel, Ruth Berlau und Bert Brecht, Charlie Chaplin, Katja und Thomas Mann, Nelly und Heinrich Mann, Lion und Marta Feuchtwanger, Arnold und Gertrud Schönberg, Liesl und Bruno Frank, Theodor W. und Gretel A ­ dorno oder Helene Thimig und Max Reinhardt.37 In den Nachlässen und autobiographischen Schriften dieser Salongäste findet Viertels offenes Haus als zentraler Treffpunkt meist eine besondere Erwähnung.38 Da Salka Viertel mit ihrer Familie bereits seit 1928 in Los Angeles lebte und in den 1930er Jahren enge berufliche und persönliche Verbindungen zu zentralen Akteur*innen der Filmindustrie Hollywoods besaß,39 fungierte ihr Salon 35 Vgl. etwa Katharina Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« Salka Viertel – ein Leben in Theater und Film, Wien 2007, S. 111 f., S. 118. 36 Vgl. etwa Feuchtwanger, An Émigré Life (Anm. 27), S. 1260. Wie den Oral History-Berichten Marta Feuchtwangers zu entnehmen ist, war »émigré community« eine Bezeichnung, die der Kreis auch selbstreferenziell benutzte. 37 Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35), S. 124. 38 Etwa Feuchtwanger, An Émigré Life (Anm. 27), 1190 f.; Theodor W. Adorno, Briefe an die Eltern. 1939–1951, Frankfurt a. M. 2003, S. 118 (Brief vom 08.01.1942); Louise Eisler Fischer, Begegnungen. Nur so Geschichten über berühmte Männer [Fragmente], o. O., o. D., S. 6 f., AdK Berlin (Sammlung Eisler-Fischer-Louise 123). 39 Etwa zum Produzenten Irving Thalberg oder zum Produzenten und Leiter der Paramount-Studios

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ebenfalls als Ort des kulturellen Austausches und der Netzwerkbildung zwischen den Neuankommenden und etablierten Filmschaffenden sowie zwischen Künstlerinnen und Künstlern diverser Sparten.40 Diese Offenheit und das Unprätentiöse, trotz der zahlreichen prominenten Gäste, spiegelt sich in der Aussage Marta Feuchtwangers: »[…] she had something which you would call a salon, only it was without any pretension. Everybody liked to be there; everybody felt immediately at home. It was not very elegant, but very well – the house was with much taste.«41 Die Bedeutung von Salka Viertels Person innerhalb dieses Netzwerks beschreibt Theodor W. Adorno in einem Brief an seine in New York lebenden Eltern: Salka Viertel ist, wie Ihr wißt [sic], die Schwester von Eduard Steuermann und hier in einer sehr großen Position bei der Filmindustrie, script writer für die Garbo bei MGM, sehr berühmt und einflußreich und so etwas wie ein gesellschaftliches Zentrum der Hollywooder Intellektuellen.42

Eine besondere Attraktion in Viertels Salon war, sowohl für die Amerikaner*innen als auch für die ankommenden Europäer*innen, ihre, in Adornos Brief erwähnte, enge Freundin und Kollegin Greta Garbo. Die beiden Schauspielerinnen lernten sich kurz nach der Ankunft der Viertels in Hollywood kennen43 und ab 1932 verband sie, neben und auch als Folge der engen Freundschaft, die bereits erwähnte für beide Seiten entscheidende und gewinnbringende berufliche Zusammenarbeit. In einem weiteren Brief beschreibt Adorno seinen ersten Eindruck der Filmdiva bei einem Treffen im Hause Viertel: Es war außer der Familie (mit der alten Frau Steuermann) nur noch eine sportlich angezogene Dame da, die mir vage bekannt vorkam. Es fiel mir nur auf, daß Salka ihr zwar unseren Namen, nicht aber ihren nannte, woraus ich entnahm, daß sie so berühmt sein müsse, daß sie erwartete, wir wüßten ohnehin wer es ist. Erst nach dieser Überlegung erkannte ich sie als die Garbo. Sie war nett und freundlich und blieb lange – während sie der amerikanischen Westküste B.P. Schulberg, vgl. Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35), S. 111. 40 Dieser kulturelle Austausch umfasste nicht nur Europa und Nordamerika, sondern schloss auch Südamerika mit ein. In einem Tagebucheintrag beschreibt Christopher Isherwood etwa, wie er während einer Geselligkeit bei den Viertels den Auftritt von zwei peruanischen Tänzern und einem Gitarristen erlebte: »As a group they were incredibly beautiful. […] The dances had an airy uncanny birdlike authority.« Tagebucheintrag vom 30.06.1950, in Christopher Isherwood, Diaries, Vol. I: 1939–1960, hg. von Katherine Bucknell, London 1996, S. 425. 41 Feuchtwanger, An Émigré Life (Anm. 27), S. 1188. 42 Brief Theodor W. Adornos an Theodor Ludwig Wiesengrund und Maria Cavelli-Adorno vom 08.01.1942, Adorno, Briefe an die Eltern (Anm. 38), S. 118 f. 43 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 195.

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aus einer fast pathologischen Menschenscheu, im allgemeinen jede Gesellschaft verläßt, in der ihr neue Gesichter begegnen. Sie ist schön, […] sehr affektiert und wahrscheinlich nicht allzu geistig, vorsichtig ausgedrückt – macht den Eindruck eines Menschen, der sich angestrengt bemüht, dem eigenen Nimbus einigermaßen gerecht zu werden.44

Während Greta Garbo als Magnet für das prominente Renommee des ViertelSalons sorgte, war eine weitere zentrale Figur im Salonnetzwerk Salka Viertels zeitweiliger Lebensgefährte Gottfried Reinhardt – Sohn Max Reinhardts und Else Heims. Durch seine Kontakte in die Filmstudios, zunächst als Regie- und Produktionsassistent, später als Produzent, war es ihm wie Salka Viertel möglich, für die aus Europa ankommenden Künstler*innen Verbindungen zum Arbeitsmarkt in Hollywood herzustellen.45 Die spezielle Art der Geselligkeit, die innerhalb des Salons generiert wurde,46 stellte für die europäischen Emigrant*innen nicht zuletzt eine Reminiszenz an ihre geographische und soziokulturelle Heimat dar. Berthold Viertel nennt die Geselligkeiten etwa 1940 in einem Brief »den Hafen der Heimatlosen«47. Sie erlebten eine erlernte und vertraute kulturelle Praktik und die damit verbundenen Wertvorstellungen in der neuen und ungewohnten Umgebung Kaliforniens, deren Werte und Praktiken für viele eine Herausforderung darstellte. Der britische Schriftsteller Christopher Isherwood, der in den 1940er/50er Jahren als Untermieter bei Viertel lebte, fasst die Atmosphäre der Geselligkeit aus einem europäischen Blickwinkel zusammen: All sorts of celebrities came to the house, not because Salka made the least effort to catch them but because they wanted to see her and to be with their own friends, who were also her guests. Actually, Salka was a somewhat self-effacing hostess. She greeted newcomers warmly and got them involved in conversation with earlier arrivals, then she disappeared into the kitchen to see how things were going. I remember her most vividly at this moment of greeting; she was strikingly aristocratic and unaffected. Her posture, the line of her spine and neck, was still beautiful; you could believe that she had been a great actress. I think most of her visitors were sincerely fond of her but perhaps they tended to take her for granted.48 44 Brief Theodor W. Adornos an Theodor Ludwig Wiesengrund und Maria Cavelli-Adorno vom 08.02.1944, Adorno, Briefe an die Eltern (Anm. 38), S. 244 f. 45 Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35), S. 212. 46 Zu den speziellen Charakteristiken von Salongeselligkeiten vgl. Peter Seibert, »Der literarische Salon – ein Forschungsüberblick«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1993), S. 159–220, hier: S. 160 f. 47 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 327. 48 Isherwood, Lost Years (Anm. 27), S. 70 f. An anderer Stelle berichtet Isherwood auch durchaus kritisch über die Geselligkeiten bei Salka Viertel. Der in diesem Zitat positiven Hervorhebung der

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Für die amerikanischen Gäste hingegen besaßen Salon und Salonnière etwas Exotisches, was vom Ehepaar Viertel bemerkt und in ihren Briefen reflektiert wurde. Salka Viertel berichtet 1931 etwa: »Der Eindruck den ich hier auf Menschen mache ist wirklich erstaunlich.«49 Und Berthold Viertel schreibt im Juli 1934 zum selben Thema: »Und Du? Wie bist Du geworden? Man sagt, dass Du groß und stark bist, daß Du den Rahmen sprengst, den Rahmen von Hollywood.«50 Die Filmwissenschaftlerin Gertraud Steiner fasst diese Eindrücke zusammen und sucht gleichzeitig nach ihren Wurzeln, wenn sie schreibt: »Ihr ›Alte Welt‹-Charme, der aus einer versunkenen Welt, der Bourgeoisie Galiziens stammte, das damals zur österreichisch- ungarischen Monarchie gehörte, verliehen ihr zweifellos ein besonderes Flair, das sonst in Hollywood nicht zu finden war.«51 Berthold Viertel beobachtete den Salon seiner Frau zumeist aus der Ferne. Um ein berufliches Auskommen als Regisseur und Schriftsteller zu finden, und vermutlich auch um der Hollywooder Gesellschaft zu entfliehen, lebte Viertel zwischen 1930 und 1950 vorwiegend in New York oder London. Nur selten, meist über die Sommermonate, war er in Santa Monica anwesend.52 Aus nachträglichen Berichten wird deutlich, dass es ihm, wie vielen europäischen Emigran­ten im kalifornischen Exil, schwer fiel sich einzuleben und er die stark kapitalistische Ausrichtung der Hollywooder Filmbranche ablehnte. Der Musikwissenschaftler Hans Bunge entlockte dem Komponisten Hanns Eisler in einem Interview: »Das war in diesem trübsinnigen, ewigen Frühling von Hollywood. Da sagte ich Brecht kurze Zeit als wir uns wieder zusammenfanden in Amerika: Das ist der klassische Ort wo man Elegien schreiben muss!«53 Und weiter: »Man leidet ja in diesem ungeheuerlichen ozeanischen Klima an einer fehlenden Konzentration. Brecht beklagte sich auch gesundheitlich, es wäre ihm alles zu lau und zu milde und es gäbe keine Unterschiede zwischen den Jahreszeiten und diese ewige Blumenblüherei war ihm auch schon zum Kotzen. Er war ganz verbittert darüber.«54 bunten Durchmischung der Gäste (»all sorts of celebrities came to the house«) widerspricht er beispielsweise in einem Tagebucheintrag vom 24.12.1939, in dem er sich beklagt: »[i]f only Salka wouldn’t invite so many people, all so ill-assorted, […]« Christopher Isherwood, Diaries (Anm. 40), S. 62. 49 Salka Viertel an Berthold Viertel, 15.09.1931, DLA 78.909/4. 50 Berthold Viertel an Salka Viertel, Juli 1934, DLA 78.864/13. 51 Gertraud Steiner, »Wien – Hollywood. Aspekte des kulturellen Transfers am Beispiel von Erich von Stroheim, Josef von Sternheim und Salka Viertel-Steuermann«, in: Filmkunst 154 (1997), S. 25. 52 Prager, »Amerika ist trotz allem grossartig« (Anm. 19), S. 12 ff. 53 2. Gespräch Eisler-Bunge (Wortaufnahme), o.O., 13.4.1958, AdK Berlin, Sammlung Eisler 7266. 54 Ebd.

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Eisler gesteht im selben Interview, dass Berthold Viertel ganz besonders in Kalifornien gelitten haben muss: »Berthold Viertel der außerordentliche Regisseur und Dichter von Rang, dem ging es ganz hunde-elend in Hollywood. Das war ganz entsetzlich!«55 In einem Brief an seine Frau reflektiert Viertel seine Inkompatibilität mit dem System in Hollywood sehr sachlich: »Offenkundig bin ich der Brutalität dieser Maschine, der Mentalität dieser Maschinenmenschen nicht gewachsen, nicht fähig, mich durchzusetzen.«56 Obwohl Berthold Viertel demzufolge in Santa Monica selten persönlich anwesend war, wurde er bezeichnenderweise dennoch von seiner Frau und dem Salonnetzwerk als Hausherr und (abwesender) Gastgeber betrachtet. So bat ihn beispielsweise seine Frau anlässlich des 70. Geburtstags Heinrich Manns, der bei den Viertels in der Mabery Road gefeiert wurde, von New York aus ein Telegramm zu schicken, um die Gäste willkommen zu heißen:57 BIN STOLZ UND GLÜCKLICH HEINRICH MANN ZU SEINEM SIEBZIGSTEN GEBURTSTAG IN UNSEREM HAUSE WILLKOMMEN HEISSEN ZU DÜRFEN DEN GROSSEN KÜNSTLER UND CHARAKTER DEN VORKÄMPFER EINER WAHREN DEMOKRATIE DER IN FRÜHER VORAUSSICHT DIE AKTIVIERUNG DES GEISTES GEFORDERT HAT DEM ER IN LEBEN UND WERK UNBEIRRBAR TREU GEBLIEBEN IST STOP DAFÜR GEBÜHRT IHM MIT ALLEN GUTEN WÜNSCHEN UNSERE VEREHRUNG UND DANKBARKEIT STOP BEDAURE DASS MIR NICHT VERGÖNNT IST IM KREISE DER FREUNDE ZU SEIN DIE HEINRICH MANN HEUTE FEIERN = BERTHOLD VIERTEL.58

Die Feier von Heinrich Manns 70. Geburtstag in Salka Viertels Wohnzimmer scheint ein einschneidendes Erlebnis in der émigré community gewesen zu sein, das sowohl im Nachhinein künstlerisch rezipiert wurde, etwa in der Filmdokumentation Die Manns – Ein Jahrhundertroman (2001) von Heinrich Breloer59 oder im Theaterstück Tales from Hollywood (1983) von Christopher Hampton60, als auch von verschiedenen Beteiligten in ihren Erinnerungen an die Exilzeit exponiert – meist stark anekdotisch – hervorgehoben wurde.61 Auch Salka Viertel beschreibt die Episode in ihrer Autobiographie ausführlich: 55 Ebd. 56 Berthold Viertel an Salka Viertel, 16.4.1933, DLA 78.862/18. 57 Vgl. Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 333. 58 Telegramm Berthold Viertel, Western Union Telegramm NY nach SM 2h44pm, 2.5.1941, DLA 78.873/9. 59 Die Manns – Ein Jahrhundertroman, Filmdokumentation, Regie: Heinrich Breloer, Erscheinungsjahr: 2001 (Eintrah in der IMDb: https://www.imdb.com/title/tt0250573/?ref_=ttep_ep_tt, abgerufen am: 2. Oktober 2020). 60 Christopher Hampton, Tales from Hollywood. A Play, London 1983, S. 31 f. 61 Etwa Feuchtwanger, An Émigré Life (Anm. 27), S. 1192 f.; Eisler Fischer, Begegnungen (Anm. 38),

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Die Gäste erschienen pünktlich, nur Bertholds Willkommens-Telegramm ließ auf sich warten. Bruno Frank drängte mich, einige Worte zu sprechen, doch ich wollte lieber bis nach der Suppe warten. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Rede gehalten. Schließlich erhob ich mich; es war keine brillante Rede, aber sie hatte den Vorzug der Kürze. Ich wußte, daß nach dem Hauptgang Bruno Frank und Lion Feuchtwanger sprechen wollten und flüsterte Walter [Salka Viertels Hausangestellter] zu, mit dem Servieren fortzufahren, doch er deutete diskret auf Thomas Mann, der aufgestanden war und sich seine Brille aufsetzte. Dann zog er ein umfangreiches Manuskript aus der Brusttasche seines Smokings hervor und begann zu lesen. Ich schätze es auf mindestens 15 Seiten. […] Wir hatten kaum Zeit, auf Heinrich Manns Wohl zu trinken, als er schon aufstand, seine Brille aufsetzte und ebenfalls ein dickes Manuskript hervorholte. Zuerst dankte er mir für den Abend, dann wandte er sich an seinen Bruder und zollte ihm hohes Lob für seinen mutigen Kampf gegen den Faschismus. […] Das Roastbeef war zu stark durchgebraten, doch alle waren hungrig und niemand stoß sich daran. Bruno Franks und Lion Feuchtwangers Reden waren kurz und heiter. […] Gegen Ende des Diners stand Marta Feuchtwanger auf, erhob ihr Glas und brachte einen Toast aus, auf die Frau, die Heinrich Mann das Leben gerettet hat. […] Es war wunderbar von Marta, das zu sagen, denn niemand von den Sprechern hatte daran gedacht, Nelly zu erwähnen. […] Als wir den Tisch verlassen hatten, kam Bertholds Telegramm. Ich las es vor, und Heinrich Mann meinte, man solle dem abwesenden Hausherrn [sic] gemeinsam Grüße schicken. Während sich alle versammelten, um zu unterschreiben, sagte ich Bruno Frank, wie rührend und herrlich ich die Huldigung fände, die die beiden Brüder Mann einander gezollt hätten. »Ja«, lächelte Bruno. »Solche Essays schreiben sie alle zehn Jahre und lesen sie einander vor …«62

Dass bei den Elogen auf Heinrich Mann seine Frau Nelly übergangen wurde, wie die Erzählung Salka Viertels suggeriert,63 erscheint eher unwahrscheinlich und mag mit ihrer zugespitzten, stark literarisierten Form des Schreibens in Zusammenhang stehen. Im handschriftlichen Manuskript dieser Tischrede jedenfalls reflektiert Heinrich Mann die Bereitwilligkeit seiner Frau, ihm ins Exil zu folgen, und dankt ihr dafür.64 Auch wenn die Feier des 70. Geburtstags keine genuine Salongeselligkeit war, zeigt sie dennoch exemplarisch, wie selbstverständlich die émigré community S. 6 f.; Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 332 f. 62 Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz (Anm. 2), S. 332 f. 63 Ebd. vgl. auch Feuchtwanger, An Émigré Life (Anm. 27), S. 1193. 64 »Man ist an Gedenktagen dankesfroh, darum will ich nicht unbedankt lassen die Frau, die mich im Glück kennen lernte, aber in das Exil ist sie mit gefolgt und teilt das Geschick mit mir. […] ich sprach soeben von meiner Frau.« Heinrich Mann, Tisch-Rede bei Frau Viertel am 02. Mai 1941, Santa Monica 1941, 1, AdK Berlin (Sammlung Mann-Heinrich 400).

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Salka Viertels Haus als zentralen Treffpunkt nutzte und wie fest verankert dieser Ort in den Erinnerungen der Beteiligten war. Berthold Viertels Netzwerke Ein etwas anderer »Sonntag bei Salka« war auch ein Treffen, das am 1. August 1943 in der Mabery Road stattfand. Es ging um die Abfassung einer Stellungnahme zur Gründung des Nationalkomitees für ein Freies Deutschland in Moskau. Bertolt Brecht notierte dazu in seinem Tagebuch: Abends kommen bei Viertels zusammen: Thomas Mann, Heinrich Mann, Feuchtwanger, Bruno Frank, Ludwig Marcuse, Hans Reichenbach und ich. In vier Stunden wurde folgendes entworfen: In diesem Augenblick, da der Sieg der alliierten Nationen näher rückt, halten es die unterzeichnenden Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler deutscher Herkunft für ihre Pflicht, folgendes öffentlich zu erklären: Wir begrüßen die Kundgebung der deutschen Kriegsgefangenen und Emigranten in der Sowjetunion, die das deutsche Volk aufrufen, seine Bedrücker zu bedingungsloser Kapitulation zu zwingen und eine starke Demokratie in Deutschland zu erkämpfen.  Auch wir halten es für notwendig, scharf zu unterscheiden zwischen dem Hitlerregime und den ihm verbundenen Schichten einerseits und dem deutschen Volke andererseits. Wir sind überzeugt, daß es ohne eine starke deutsche Demokratie einen dauernden Weltfrieden nicht geben kann. Thomas Mann       Heinrich Mann       Lion Feuchtwanger       Bruno Frank       Bertold Brecht    Berthold Viertel    Hans Reichenbach    Ludwig Marcuse  Den ersten Satz fügte Thomas Mann hinzu. Er fand die Erwähnung der Sowjetunion etwas bedenklich. Das letzte Mal, wo ich ihn gesehen habe, im Februar, sagte er, einen Teller mit Sandwiches haltend: »Ich wollte, die Russen wären vor den Alliierten in Berlin.« Nachher erfuhr ich, daß er an diesem Nachmittag auf dem russischen Konsulat eine Gratulationsrede für die Rote Armee auf eine Platte gesprochen hatte und traktiert worden war. Jetzt überzeugte ihn Bruno Frank, daß die Nichterwähnung des Moskauer Kommitees nur komisch wäre, so wandte sich die Debatte zu dem Begriff »verbundene Schichten«, wobei Thomas »Mitschuldige«, Heinrich »Trusts« vorschlug. Am Ende stimmten alle der obigen Fassung zu, und Thomas verlas sie befriedigt unten, vor den Frauen.65 65 Bertolt Brecht, Werke. Journale 2. 1941–1944, Bd. 27, hg. von Werner Hecht, Berlin und Frankfurt a. M. 1995, S. 161; vgl. Alexander Stephan, Im Visier des FBI. Deutsche Exilschriftsteller in den Akten amerikanischer Geheimdienste, Stuttgart 1995, S. 125. Auch diese Begebenheit im Hause Viertel wurde sehr pointiert in Christopher Hamptons Theaterstück Tales from Hollywood verarbeitet. Vgl. Hampton, Tales from Hollywood (Anm. 60), S. 73 ff.

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Geschlechtertrennung, wie sie Salka Viertel auf den Partys in Hollywood beklagte, wird an dieser Stelle auch in Exilkreisen sichtbar.66 Im Gegensatz zu den gemischten Salonrunden manifestierte sich hier eines jener männlich geprägten beruflichen und politischen Netzwerke, denen Berthold Viertel zeitlebens verbunden war. Ab etwa 1906 war es Viertel durch Karl Kraus (aber auch gegen diesen geistigen Vater, der sich den Ritualen des Networking öfter verweigerte und lebenslange Feindschaften pflegte) gelungen, sich in der deutschsprachigen Kulturszene extrem gut zu vernetzen. Von Wien bis Berlin war Berthold Viertel mit der (vornehmlich männlichen) Avantgarde gut bekannt, sogar befreundet. Rilke und Kafka suchten ihn in Prag auf, er lebte mit seiner Familie bei der Lebensreform-Community in Hellerau, er kannte die wesentlichen Akteure der bayrischen Räterepublik (Kurt Eisner, Gustav Landauer, Ernst Toller), er verkehrte in den innovativsten Berliner Kreisen um die Geschwisterpaare Mendelssohn, Mann, Wedekind, er überzeugte die jungen (Film-)Stars der Weimarer Republik, mit ihm ein Theater zu gründen, und er wurde von Literatur- und Filmgrößen wie Stefan Zweig und Friedrich Wilhelm Murnau gefördert. Um das zu erreichen, war zum einen Persönlichkeit, Charme aber vor allem auch Pflege der Kontakte notwendig – und tatsächlich spricht Berthold Viertel immer wieder von der »rasende[n] Postarbeit, die mir auferlegt ist, und deren Misslingen meine ganze Zukunft gefährden würde«, von Besuchen, Gesprächen etc.67 Zum anderen brauchte es für jemanden wie Viertel, dessen sich mühsam hocharbeitende Eltern keine bürgerliche Geselligkeit gepflegt hatten, eine Ehefrau, die die Praktiken ebendieser Geselligkeit versiert beherrschte. Schon in den ersten erhaltenen Briefen des Paares ging es darum, einander beruflich zu beraten und sich über verschiedene gesellschaftliche Strukturen füreinander oder für Dritte einzusetzen.68 Abseits des Lebens der drei Söhne waren Eindrücke von Personen, Freundschaften, Zusammentreffen, Gespräche und berufliche Verhandlungen das wesentliche Thema der Korrespondenz des Paares. Berthold Viertel setzte sich immer wieder für die Schauspielkarriere seiner Frau ein und sie unterstützte ihn vielfach in seinen beruflichen Aktivitäten – dafür gibt es allerlei Belege in Korrespondenz und Texten der beiden. Mit der Entscheidung, nach Hollywood zu gehen, die für Salka Viertel ein jedenfalls vorläufiges Ende ihrer beruflichen Laufbahn bedeutete, wurde ihr Einsatz für ihn vorerst intensiver. In einem Brief kurz vor der Abreise bat Berthold Viertel sie etwa mit dem Fox-Produzenten Julius Außenberg in seiner Sache Kontakt aufzunehmen: 66 Viertel, The Kindness of Strangers (Anm. 28), S. 134. 67 Berthold Viertel an Salka Viertel, 01. August 1927 und o.D. [August 1927], 78.856/9 und 78.856/12, K34, A: Viertel, DLA. 68 Berthold Viertel an Salka Viertel, 31. Dezember 1918, 78.856/1, K34, A: Viertel, DLA.

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Es wäre sogar gut, wenn Du schon jetzt Außenberg schriebest, wie sehr Du ihm dankst, daß er mir die große Amerika-Chance gibt – daß Du aber etwas besorgt bist, weil mir keine Regie gesichert ist! Ich glaube, Du könntest ihm das so schreiben, wie Du es empfindest – Du wirst schon den richtigen Ton finden. Natürlich muss man sich an seinen Ehrgeiz wenden – er, der Mann, der alles erreicht, müsste noch dieses durchsetzen im gemeinsamen Interesse!69

Anfang 1930 waren es sicherlich auch Salka Viertels Freundschaften mit den Frauen und Familien der Hollywood-Produzenten, die es Berthold Viertel ermöglichten, für fast alle namhaften Studios in den USA zu arbeiten. Es gelang ihm dabei allerdings nicht, sich als Filmregisseur einen Namen zu machen, und seine Filme sind heute vergessen, teilweise sogar verloren. Nach vier Jahren in Hollywood hatte Berthold Viertel 1932 allerdings das dringende Bedürfnis, nach Europa zurückzukehren, wo er doch insgesamt mehr Anerkennung erfahren hatte. Der Tod seiner Mutter und die lebensbedrohliche Krankheit seines Vaters boten Anlass für diese Reise. Auch erhoffte er sich als Hollywoodregisseur eine gute Aufnahme in der europäischen Filmszene. Materielle Unabhängigkeit hatte er nach Fehlinvestitionen und der Weltwirtschaftskrise von 1928 nicht erreichen können. In Berlin erlebte Viertel vor Ort die nationalsozialistische Machtübernahme und konnte sich in Folge als Regisseur in London – bei der Gaumont British – etablieren. Hier gelang es ihm – auch auf Basis von längerfristigen Beziehungen zu der Schauspielerin Beatrix Lehmann und zur Schriftstellerin Anna Gmeyner –, neue Netzwerke aufzubauen und an seine alten Freundschaften anzuknüpfen. Seine ferne Ehefrau, die sich beruflich und privat in den USA etablierte, empfand er als »gone Hollywood«70 und beschrieb sie später als »ein Genie der Emotion, deren schauspielerisches Ingenium sich ins Leben gekehrt hat«.71 Solche Zuschreibungen sind interessant, speziell vor dem Hintergrund, dass Salka Viertels Hollywoodkarriere zu dieser Zeit zunehmend die seine überstrahlte. Immer mehr war er auf ihre Netzwerke in der Filmbranche, die sich durch ihre Verbindung mit Gottfried Reinhardt noch weiter verzweigten, angewiesen, besonders als er 1939 nach einigen Jahren in Großbritannien, wo seine Aufenthaltsgenehmigung nicht erneuert wurde, wieder in den USA Zuflucht suchen musste. 69 Berthold Viertel an Salka Viertel, August 1927, 78.856/8, K34, A: Viertel, DLA. 70 Berthold Viertel: Kindheit eines Cherub. Autobiographische Fragmente, hg. von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser, Wien 1991 (Studienausgabe, Bd. 2), S. 259. 71 Telegramm Salka Viertels an Berthold Viertel am 13. November 1931, DLA. Das Thema »Gone Hollywood« bleibt aktuell – vgl. dazu auch Briefe Berthold Viertels an Salka Viertel am 24. April 1933 und am 16. Juni 1939, DLA.

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Viertel war zwar klar, dass er kein »Hitlerflüchtling« im engeren Sinn des Wortes war, weil er Deutschland, schon Jahre bevor eine Emigration für ihn lebensnotwendig geworden wäre, verlassen hatte, Englisch gelernt und sich Verdienstmöglichkeiten und Netzwerke geschaffen hatte. Auf der anderen Seite glichen ihn der Verlust seiner europäischen Lebenswelt und seine zunehmend schwierigen Existenzbedingungen den anderen Exilant*innen immer mehr an. Spätestens ab 1936 hatte er zunehmend Probleme, finanziell gesicherter Arbeit nachzugehen und Salka Viertel wurde zur Familienernährerin. Diese ausbleibenden beruflichen Erfolge kompensierte Berthold Viertel durch eine enge Anbindung an die politisch organisierte Exilcommunity. Er bezeichnete sich als Exilanten honoris causa.72 Zurecht: Schon in London war er aufgrund seiner transnationalen Erfahrungen zu einem wesentlichen, hochgeschätzten Netzwerker der österreichischen und deutschen Exilant*innen-Community geworden, unter anderem, weil er es verstand, »gemeinsame kulturelle Interessen wahrzunehmen, ohne sich über die Unterschiede einfach hinwegzusetzen«.73 Auch in den USA engagierte er sich in zahlreichen Institutionen und Initiativen des Exils und beteiligte sich am Entwurf von Konzepten für eine demokratische Neugestaltung Europas nach dem Krieg. Konstantin Kaiser fasste diese Aktivitäten folgendermaßen zusammen: Die Besonderheiten Viertels brachten auch mit sich, dass er innerhalb des deutschsprachigen Exils in England und in den USA eine nicht unerhebliche Mittlerrolle spielen konnte. Durch die Filmarbeit in Hollywood und London war er nicht nur mit der englischen Sprache vertraut – er hatte gute Kenntnisse der Kultur des Exillandes und war mit vielen englischen und amerikanischen Künstlerinnen und Künstlern auch persönlich bekannt […]. In den USA stellte er durch sein häufiges Pendeln zwischen New York und Kalifornien Verbindungen zwischen den Emigrationen der West- und der Ostküste […]. »Sein Herz war«, wie Ernst Fischer sagte, »links, wohin es gehört«, doch blieb er für Liberal-Konservative ebenso ein Gesprächspartner wie für Sozialisten und Kommunisten. […] Es nimmt daher nicht wunder, dass er an etlichen Initiativen des Exils, sich kulturell und politisch zusammenzuschließen, maßgeblich beteiligt war. […].74 72 Berthold Viertel, o.T. [Tätigkeit als Regisseur], o.D., o., K19, A: Viertel, DLA. 73 Berthold Viertel, Das graue Tuch. Gedichte, hg. von Konstantin Kaiser, Wien 1994 (Studienausgabe, Bd. 3), S. 405–408. 74 Konstantin Kaiser, Berthold Viertel (1885–1953). Österreichische Literatur in Exil, Universität Salzburg 2002, http://www.literaturepochen.at/exil/l5024.pdf. (abgerufen am: 13. Februar 2019). Vgl. dazu auch: Johann Holzner, »Kulturphantasien in Debatten des Exils« bzw. Helmut G. Asper, »Berthold Viertel und der Council for a Democratic Germany«, in: Traum von der Realität, hg. von der Theodor-Kramer-Gesellschaft, Wien 1998, S. 170–180 bzw. S. 181–194; Gunther Nickel (Hg.), Literarische und politische Deutschlandkonzepte. Beiträge zu einer Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Evangelischen Akademie Tutzing, Göttingen 2004 (Zuckermayer-Jahrbuch

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Viertel gehörte in Europa unter anderem dem ›Freien Deutschen Kulturbund‹ und der ›Ligue pour l’Autriche vivante‹ an. In den USA schloss er sich der ›German-American Writers Association‹, der ›Tribüne für Freie Deutsche Kunst und Literatur in Amerika‹ sowie dem ›AuroraVerlag‹ an. Er beteiligte sich am ›Council for a Democratic Germany‹ und engagierte sich publizistisch in der Monatszeitschrift ›Austro American Tribune‹. Vielfach handelte es sich hier um reine Männernetzwerke, die anders als Salka Viertels Salon viel stärker zweckorientiert und auf konkrete politische Agitationen ausgerichtet waren, oder auch ausgelegt auf die Gründung und Förderung professioneller Institutionen, etwa eines Verlags oder einer Zeitschrift.75 Einige der hier agierenden, oft prominenten Männer kannte Berthold Viertel bereits seit seiner Jugend im Wien um 1900 – etwa Stefan Zweig, Oskar Kokoschka und Ernst Waldinger. In diesen Netzwerken war auch – bei aller Offenheit, die Berthold Viertel hier sicher zurecht attestiert wird – eine gewisse Abgrenzung zueinander notwendig. Trotz der Institutionalisierung blieb diese Arbeit nicht zuletzt aufgrund der beschränkten Öffentlichkeit der Exil-Community vorwiegend von ideellem Wert und wenig lukrativ, wie Berthold Viertel selbst resümierte: Was ich sonst an Arbeit leiste: für die Austrian American Tribune; für den Council, ein Vortrag letzten Sonntag, eine Round Table Conference im Januar etc. ist leider alles unentgeltlich, mag aber Zukunftswert haben. Wo man wirklich gewünscht wird, u. zwar so, wie man ist, da will man sich nicht entziehen. Das ist menschlich, hoffe ich.76

Die Personen, die in der Mabery Road ein und aus gingen und sich in den Exil­ institutionen um Viertel vernetzten, waren oftmals dieselben und so blieben die Viertels etwa auch durch Gespräche mit denselben Menschen in Verbindung: Unterhalte Dich mit Brecht, der am Sonntag, d. 26 in Santa Monica eintrifft, über die politische Lage im Allgemeinen u. über die russische Diplomatie im besonderen, er hat einen klaren Überblick, hat in NY viele Leute gesprochen. Es war wirklich ein Genuss, mit ihm zu sprechen.77

Abseits seines durchaus arbeitsintensiven Einsatzes in Debatten, Vereinigungen, Veranstaltungen und Verlagen schrieb Berthold Viertel in New York – und zeit7); Ursula Langkau-Alex und Thomas M. Ruprecht (Hg.), Was soll aus Deutschland werden? Der Council for a Democratic Germany in New York 1944–1945. Aufsätze und Dokumente, Frankfurt a. M. 1995 (Quellen und Studien zur Sozialgeschichte, Bd. 15); Friedrich Pfäfflin (Hg.), Tribüne und Aurora. Wieland Herzfelde und Berthold Viertel. Briefwechsel 1940–1949, Mainz 1990. 75 Anzumerken ist allerdings, dass auch Salka Viertel sich in einigen solcher Organisationen, wie etwa dem European Film Fund, engagierte. 76 Berthold Viertel an Salka Viertel, 15. November 1944, 78.877/9, K35, A: Viertel, DLA. 77 Berthold Viertel an Salka Viertel, 24. März 1944, 78.876/5, K35, A: Viertel, DLA.

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weise in Hollywood – »auf Spekulation« Filmskripte. Nach einer Serie von beruflichen Misserfolgen und gescheiterten Projekten war er allerdings zumeist auf die finanzielle Unterstützung Salka Viertels angewiesen, der es ab 1943 beruflich ebenfalls zunehmend schlechter ging: Die Zeiten des Weltstars Greta Garbo waren vorüber und Salka Viertel hatte sich durch ihr antifaschistisches Engagement in der Filmindustrie verdächtig gemacht. Sie drängte ihren Mann allerdings nicht, Geld zu verdienen. Weiterhin Weininger’schen Kategorien vom männlichen Genie verhaftet, ermahnte sie ihn eher, sein »Werk« zu pflegen. Und tatsächlich dichtete Berthold Viertel – abseits seiner vergessenen Filme – zwischen 1939 und 1948, zwischen London, Santa Monica, New York und Vermont immer wieder sein »Exil«. 1941 erschien der erste der beiden Gedichtbände, die als Viertels wichtigster Beitrag zur deutschen Exilliteratur angesehen werden. Mit Viertels Wiederentdeckung in den späten 1980er Jahren hatte dieses Werk ebenso zu tun wie sein später Erfolg als Regisseur am Wiener Burgtheater. Berthold Viertel konnte die eng-geknüpften gesellschaftlichen Verbindungen mit denselben Personen interessanterweise für seine späte Karriere als Regisseur in Europa nach dem Krieg nutzen. Sein Männernetzwerk, das, wie gezeigt, Teil des Salonnetzwerks seiner Frau war, sicherte ihm nach 1945 Film- und Theaterangebote aus Tel Aviv, Berlin, Dresden, München und Wien. Sie ermöglichten ihm mehrfach Einladungen als Regisseur an das von Bertolt Brecht und Helene Weigel geführte Deutsche Theater in Berlin. Vor allem aber war er unter der Intendanz von Salka Viertels Schwager Josef Gielen am Wiener Burgtheater tätig und schlug hier bis 1953 seine »Theaterschlachten«, errang »Kulissensiege« und versammelte noch einmal eine »Viertel-Truppe« um sich.78 Während sich Salka Viertel zunächst mit Bravour in die gesellschaftlichen und beruflichen Verhältnisse in Hollywood einfügen konnte, an denen Berthold Viertel und möglicherweise auch ihre Ehe scheiterte, fiel es ihm viel leichter als ihr, sich in die europäische Nachkriegsordnung einzupassen. K/Ein Paar? Bezeichnenderweise profitierte im Nachhinein Berthold Viertel deutlich mehr von den gesellschaftlichen Aktivitäten und Netzwerken seiner Frau als sie selbst. Mehr noch: Gerade wegen ihrer gesellschaftlichen Tätigkeiten innerhalb der émigré community und ihrer Freundschaft zu und Unterstützung von Bertolt Brecht und Hanns Eisler bei deren Befragungen durch das House on Un-Ameri78 Prager, »Amerika ist trotz allem grossartig« (Anm. 19), S. 91 f.

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can Activities Committee (HUAC) 1948, wurde Salka Viertel und das Haus in der Mabery Road als ein Zentrum der Exilgemeinschaft erkannt und ab 1942 vom FBI überwacht.79 Womit die Kehrseite des exotischen Nimbus ihrer Person und des »besondere[n] Flair[s]« ihres Salons80 sichtbar wird: Das Befremden, der US-amerikanischen Gesellschaftskreise, die nicht mit der Künstler*innen-Branche Hollywoods in Verbindung standen, in Hinblick auf die Lebensgestaltung und -praktiken einiger Mitglieder der émigré community. Diese Vorbehalte werden in den FBI-Akten der Viertels explizit. Hier geben die unmittelbaren Nachbar*innen in Santa Monica an, wenig Kontakt zur Familie zu haben und beschreiben die Lebensumstände im Haus als »a ›mess‹«,81 womit sowohl auf die außerehelichen Partnerschaften von Salka und Berthold Viertel, als auch ihre Verbindungen in die gay community Hollywoods Bezug genommen wurde.82 Diese Vorbehalte gegenüber den im Viertel’schen Haus dominierenden linksliberalen politischen Einstellungen und den dementsprechenden Lebensentwürfen führten zu den Vorwürfen kommunistischer Gesinnung und damit zur Ausspionierung durch den amerikanischen Geheimdienst. Salka Viertel vermutete nach den Befragungen Brechts und Eislers, auf der Black- bzw. Greylist der Hollywood-Autor*innen zu stehen, denn es gelang ihr nicht mehr, als Drehbuchautorin Engagements für Filmprojekte in Hollywood zu bekommen.83 Mitte der 1950er Jahre waren ihre finanziellen Schwierigkeiten so gravierend, dass sie das Haus in der Mabery Road an den Regisseur und Produzenten John Houseman verkaufen musste. Dieser bemerkt hierzu: By the midfifties the great era of Salka’s »salon« was over. So was her privileged position at MGM […]. Most of her celebrated émigrés who had used her house as their meeting place during and after the war had returned to Europe. Many of her friends and neighbours […] had been driven to Europe by the witch hunt.84

79 FBI-Akten Berthold Viertel/Salka Viertel 24.1.1942–18.5.1955. 80 Steiner, Wien – Hollywood (Anm. 51), S. 25. 81 FBI-Akten Berthold Viertel/Salka Viertel 12.2.1943. 82 Ebd. und 18.4.1945. Der homosexuelle Schriftsteller Christopher Isherwood wohnte zeitweilig als Untermieter in der Mabery Road; ferner gab es immer wieder Spekulationen, dass Salka Viertel und Greta Garbo nicht nur eine Freundschaft, sondern ebenso eine Liebesbeziehung verband. Zur Beziehung von Greta Garbo und Salka Viertel vgl. auch Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35), S. 127–220. 83 Salka Viertel an Berthold Viertel, 1.8.1953, DLA 78.919/10; Vgl. auch Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35), S. 251 ff. 84 John Houseman, Unfinished Busines. A Memoir, London 1986, S. 336.

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Sie selbst lebte zeitweise zur Miete in ihrem ehemals eigenen Haus, in kleineren Wohnungen in Los Angeles oder bei Freunden. Erst 1960 kehrte sie, auch aufgrund ihrer finanziellen Probleme, wieder dauerhaft nach Europa zurück.85 Als klischiertes historisches Narrativ würde sich bei den Viertels vermutlich das faszinierende Scheitern ihrer Lebensgemeinschaft eignen. Sie wohnten selten zusammen, arbeiteten selten zusammen und wurden vermutlich auch deshalb in der Historiographie seltener als Paar, als viel häufiger innerhalb ihrer jeweiligen Netzwerke als eigenständige, starke Persönlichkeiten beschrieben.86 Die Konzeption ihrer Partnerschaft, die im Lauf der Jahre immer stärker einer »weißen Ehe« entsprach,87 sowie ihr Verständnis von Familie als »ganzes Haus« im Sinne einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft machen es schwierig, die Geschichte eines Künstlerpaares zu beschreiben. Bei den Viertels ist weder das narrative Modell des Genies und der Künstlermuse anwendbar noch das einer genuinen Arbeitspartnerschaft, und dennoch sind ihre Lebenswege über 30 Jahre eng miteinander verwoben und ist das Paar, folgt man ihrer Diskussion in ihren Briefen, auch emotional eng verbunden. Ihre Scheidung verstanden sie schließlich weniger als ein Scheitern ihrer Beziehung, als vielmehr als eine Transformation.88 So schrieb Berthold Viertel seiner Frau 1947, nachdem sie bereits mehrfach in Briefen die Vor- und Nachteile einer Scheidung diskutiert hatten: »Unsere Ehe war das Herzstück meines Lebens.«89 Und Salka Viertel schrieb ihrem Mann 1948 unmittelbar nach der Scheidung: Am 20ten war die Scheidung. Lieber Berthold jetzt sind wir geschieden. […] Ich habe für Institutionen wie Ehe und Besitz sehr wenig Gefühl, wie Du weißt. Vor 30 Jahren als ich Deine Frau wurde, tat ich es mit dem heiligen, besten Vorsatz, dass unsere Beziehung 85 Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35), S. 260. 86 Etwa Prager, »Amerika ist trotz allem grossartig« (Anm. 19); Thomas Blubacher, Paradies in schwerer Zeit. Künstler und Denker im Exil in Pacific Palisade: Thomas Mann, Vicky Baum, Salka Viertel, Lion Feuchtwanger, Max Reinhardt u.  v.  a., München 2011; Prager, »Ich bin nicht gone Hollywood!« (Anm. 35); Sieglinde Flieder-Lorenzen, Marta Feuchtwanger, Nelly Mann, Salka Viertel – 3 Schriftstellerehefrauen im Exil 1933–1945, Bonn Univ.-Dis 2003; Steiner, Wien – Hollywood (Anm. 51); Maria Klanska, »Emanzipationswege galizischer Jüdinnen im 20. Jahrhundert. Zu den Autobiographien von Ella Schapira, Mischket Liebermann, Helene Deutsch und Salka Viertel«, in: Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich, hg. von Mark H. Gelber u. a., Tübingen 1996, S. 141– 162; Irene Jansen, Berthold Viertel. Leben und künstlerische Arbeit im Exil, New York u. a. 1992; Siglinde Bolbecher, Viertels Welt – der Regisseur, Lyriker, Essayist Berthold Viertel, Wien 1988; Bruce Cook, »Salka Viertel. Sundays in Mabery Road«, in: Affairs of the Mind. The Salon in Europe and America from the 18. to the 20. Century, hg. von Peter Quennell, Washington 1980, S. 153–165. 87 Vgl. Prager, Berthold Viertel (Anm. 5), S. 262. 88 An dieser Stelle kommt erneut das zu Beginn diskutierte Lebens- und Partnerschaftsmodell der »weißen Ehe« oder offenen Partnerschaft Berthold Viertels zum Vorschein. 89 Berthold Viertel an Salka Viertel, 20.2.1947, DLA 78.880/4.

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Carola Bebermeier und Katharina Prager

eine einzigartige, ungewöhnliche und tief ehrliche sein wird. Ich habe Dich immer innig geliebt und werde es auch immer tun, ob ich Deine Frau bin oder nicht. Wir haben ein Leben aneinander gehalten und zueinander gehalten. Das wird sich nicht ändern und es ist ganz egal, was auf dem Papier steht. Es ist gut[,] dass es war[,] und es ist in Ordnung[,] wie es geworden ist. Die Ehe mit der Liesel90 wird in vielen Dingen besser sein als die Ehe mit mir, aber unsere Freundschaft, unsere Verwandtschaft bleibt unlösbar. Ich bin Deine Schwester geworden.91

90 Bei »Liesel« handelt es sich um Berthold Viertels dritte Ehefrau, die Schauspielerin Elisabeth Neumann-Viertel (1900–1994). 91 Salka Viertel an Berthold Viertel, 27.1.1948, DLA 78.918/1.

Annkatrin Babbe

Geigenausbildung als »Familiensache« Josef Hellmesberger d. Ä. als Geigenlehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Kein Musiker in Wien, der ihm nicht ein Stück seines Künstlerthums verdankte […]. Kein wahrer Kunstfreund in Wien, dessen Kunstsinn nicht im Hellmesberger-Quartett die erste Nahrung gezogen hätte, da gestählt, gebildet und für das Höchste empfänglich geworden wäre. Kein Kunstinstitut in Wien, das nicht einen Theil seiner Mitarbeiter von dem Geiste, von der Schule Hellmesberger’s herleitet, kein Institut, dem nicht die Silberfäden seines Spiels eingewirkt waren, Musiker bildend für die Nacheifernden. Wenn man von dem feinen Mattglanz, von der Biegsamkeit und Weichheit des Wiener Orchesters spricht – meine Freunde, liegt nicht der Hauch Hellmesberger’schen Geistes darüber? Ihm aber wehten diesen Hauch die Classiker an. Und mit Stolz dürfen wir es künden: der Feuerkern, aus dem die Gefühlswärme in unsere großen Instrumentalkörper überströmte, ist immer unser bescheidenes Zöglingsorchester gewesen, welches Hell­ mes­berger’s Lust und Freude war. Kein Orchester der Welt, in welches von da aus nicht wenigstens Funken hinübergesprungen wären. […] Die Jüngeren unter Ihnen haben von Director Hellmesberger, den die letzten Jahre nicht mehr in seiner Vollkraft sahen, nur noch sagen gehört, aber auch das muß Ihnen gesagt sein: Wenn Sie selbst nicht mehr von ihm Lehren, persönliche Anregung und persönliche Anspornung empfingen, Sie nehmen doch unbewußt Geist von seinem Geiste auf, er hat Theil an Ihrem Künstlerwesen durch vielartige, Ihnen vielleicht verborgene Beziehungen, welche in Ihren Lehrern, mit Ihren Lehrern und sei’s auch nur neben Ihren Lehrern sich von ihm zu Ihnen hinüberzuspinnen. […] Die Schüler in diesem Hause kommen und gehen und wandern in die Welt. Was erlernbar ist in der Kunst, wird Ihnen mit auf den Weg gegeben und Sie leiten es fort durch Beispiel und Lehre. Je nach Empfänglichkeit nehmen Sie aber auch etwas Unsichtbares, Unsagbares hier an und tragen es geheimnisvoll weiter. Dieses Unerklärbare ist’s, was dem hier gebildeten Künstler auf dem ganzen Erdenrunde erschließt […]. Es ist der echte, bewegliche Sinn für das Schöne in den gewaltigsten und zartesten Gestaltungen, das rechte feine Hören, Hinhören, Erlauschen, Erfassen und Wiedergeben, der glatte, leicht beschwingte Bogenstrich des Geistes, der zarte Anschlag der Empfindung, eine Art Familiensinn für’s Schöne. Diesen Familiensinn haben Ihre Meister, haben Sie, haben wir Alle von Hellmesberger oder, wie wir ihn darum lieber nannten, von Papa Hellmesberger übernommen. Wie

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Annkatrin Babbe

man dazu gelangte, läßt sich freilich im Einzelnen nicht zeigen, aber den Wegzug kann man überblicken.1

Josef Hellmesberger (1828–1893) erfährt eine breite Würdigung in diesem genretypisch pathetisch gehaltenen Nekrolog. Robert Hirschfeld (1857–1914), von 1881 bis 1899 Lehrer für Musikästhetik am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, hatte ihn ebenda im Rahmen einer Gedenkfeier am 4. November 1893 in Anwesenheit von Kollegium und Studierenden vorgetragen. Der Nachruf fügt sich ein in eine Reihe von Ehrungen des Musikers, die einstimmig dessen prominente Position im Wiener Musikleben unterstreichen. Mit der Person Hellmesberger wird hier wie dort ein Knotenpunkt des Wiener Musiklebens im 19. Jahrhundert entworfen, an dem zentrale Fäden der Kammer- und Orchestermusik, der Musikliebhaberkultur, der Violinästhetik und vor allem der Ausbildung im Fach Violine zusammenlaufen. Und tatsächlich agierte der Musiker als Teil eines umfangreichen Netzwerks aus Künstlerinnen und Künstlern, Konzertveranstaltern und Intendanten, Vertretern aus Politik und Wirtschaft, Musikschriftstellern sowie Mäzeninnen und Mäzenen aus aristokratischen Häusern. Mit Blick auf diese Netzwerkbildungen um Hellmesberger soll im Folgenden diskutiert werden, inwiefern der Musiker auf der Basis seiner exponierten Stellung in der Wiener Musikkultur für die Studierenden als Vermittler fungierte und ihnen Handlungsräume2 eröffnen konnte resp. eröffnet hat. Auf den Handlungsräumen und –möglichkeiten der Studierenden, die innerhalb der benannten Netzwerkkonstellation konstituiert wurden, liegt der Fokus.3 Nicht unbeachtet bleiben kann dabei das familiale Netzwerk Josef Hellmesbergers: zum einen, weil mit den Geigern Georg Hellmesberger d. Ä. (1800–1873), Josef Hellmesberger d. Ä. (1828–1893) und Josef Hellmesberger d. J. (1855– 1907) im 19. Jahrhundert drei Generationen dieser Familie am Konservatorium 1

Robert Hirschfeld, Josef Hellmesberger †. Nachruf, gesprochen vor den Lehrern und Schülern des Conservatoriums in der Vortrags-Uebung am 4. November 1893, Wien Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Sign.: 4566/53. 2 Raum wird, Martina Löw (Raumsoziologie, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 2017) folgend, relational verstanden und ist entsprechend als ebenso physisches wie mentales, symbolisches bzw. soziales Konstrukt zu fassen. Es handelt sich demnach um »eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert. […] Raum und Körper sind verwoben.«, ebd., S. 131. Handeln gestaltet sich folglich als raumproduzierend, gleichzeitig strukturieren Räume ihrerseits das Handeln. 3 In der Lenkung des Blicks auf die Handlungen und Handlungspotentiale individueller und kollektiver Akteurinnen und Akteure besteht, so formulieren es Morten Reitmayer und Christian Marx (»Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft«, in: Handbuch Netzwerkforschung, hg. von Christian Stegbauer und Roger Häußling, Wiesbaden 2010, S. 869–880, hier: S. 870), »einer der wesentlichen Erträge der Verwendung von Netzwerkansätzen in der Geschichtswissenschaft.«

Geigenausbildung als »Familiensache«

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in Wien lehrten und hier sowie im urbanen Musikleben einen exponierten Platz einnahmen, und zum anderen, weil der Karriereweg von Josef Hellmesberger d. Ä. und auch seine Lehrtätigkeit eng auf den familiären Kontext rückbezogen war.4 Ziel des vorliegenden Beitrages ist es entsprechend, zunächst das Netzwerk um Josef Hellmesberger d.  Ä. samt der Bedeutung des familialen Kontextes nachzuzeichnen,5 sodann die zentrale Stellung des Musikers im Netzwerk um Konservatorium und Konzertleben zu erfassen und schließlich einige der Handlungsräume zu skizzieren, die sich für die Studierenden ergaben. Josef Hellmesberger d. Ä.: Knotenpunkt in der Wiener Musikkultur Den Impuls zur Frage nach der Netzwerkbildung um Josef Hellmesberger d. Ä. samt den Implikationen für Studierende und Absolventinnen und Absolventen bildet die Beobachtung, dass viele der Studierenden Hellmesbergers später Eingang in die Wiener Orchester sowie das Kollegium am Konservatorium gefunden haben. Offenbar war ihre Einbettung in das spezifische soziokulturelle Beziehungssystem am Ausbildungsinstitut Voraussetzung für ihre weiteren (beruflichen) Handlungsmöglichkeiten.6 Die Zugehörigkeit zum bzw. die Einbettung in das soziale Beziehungsnetzwerk um Josef Hellmesberger d. Ä. ermöglichte oder erleichterte den Studierenden den Zugriff auf Hilfe- bzw. Unterstützungsleistungen sowie auf materielle und immaterielle Ressourcen innerhalb des Kontaktnetzes und erschloss ihnen so ansonsten unwahrscheinliche Handlungschancen.7 Oder anders formuliert: In den Geigenklassen Hellmesbergers bzw. über die Zugehörigkeit zur ›Hellmesberger-Schule‹8 gelangten die Studierenden an soziales Kapital, verstanden als die 4

Otto Biba und Ingrid Fuchs: »Die Emporbringung der Musik«. Höhepunkte aus der Geschichte und aus dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien [Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Ausstellungssaal des Musikvereins-Gebäudes 5. November bis 22. Dezember 2012], Wien 2012, S. 30. 5 Die Annäherung erfolgt unter Verwendung von Ansätzen und Einzelverfahren der Netzwerkanalyse, greift dabei auf Argumentationsfiguren und Grundannahmen der Netzwerktheorie zurück, erhebt aber nicht den Anspruch einer Netzwerkanalyse im strengen sozialwissenschaftlichen Sinne. 6 Siehe Thomas Vordermayer, Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959), Berlin und Boston 2015, S. 16. 7 Jeroen Weesie, Albert Verbeek und Henk Flap, »An Economic Theory of Social Networks«, in: Modellierung sozialer Prozesse, hg. von Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch, Bonn 1991, S. 623– 662; Boris Holzer, Netzwerke. Einsichten – Vielsichten, 2. Aufl., 2006, S. 14. 8 Mit der Idee der »Hellmesberger-Schule« scheint in der zeitgenössischen Presse ein vielbemühter Topos auf, in dem sich diverse Narrative überlagern. Es wird ein personeller Zusammenhang, ein Netzwerk konturiert, das sich um Josef Hellmesberger d. Ä. als Zentrum ausbildet. (Siehe Annka-

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Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; […] es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.9

Soziales Kapital in diesem Sinne lässt sich als eine instrumentell nutzbare, individuelle, jedoch nicht unabhängig von Personen verfügbare Ressource verstehen.10 Sein Umfang hängt von der Ausdehnung des Netzes tatsächlich mobilisierbarer Beziehungen ab und ist zugleich auf das ökonomische, kulturelle oder symbolische Kapital der damit erreichbaren Personen bezogen. Hellmesberger besetzte langfristig ebenso verantwortungsvolle wie entscheidungsmächtige Posten und nahm damit eine wichtige Position an der Schnittstelle verschiedener Handlungsräume im Wiener Musikleben ein. Hierüber wiederum konnte er eine Vielzahl von Beziehungen mobilisieren, die ihrerseits ein hohes Maß an Ressourcen bereithielten. Für seine Studierenden konnte er so zu einem wichtigen Vermittler von Sozialkapital werden.11 Dass aber die Zugehörigkeit zum Netzwerk der Hellmesberger-Schule allein nicht egalitäre Teilhabe am Kapital garantiert hat, erklärt sich aus der ungleichen Verteilungsstruktur der verschiedenen Ressourcen und ist des Weiteren abhängig von der Anzahl der Personen im egozentrierten Netzwerk sowie von der Bereitschaft zur Kooperation und Beziehungsstärke.12 Die Darstellung des Netzwerkes erfolgt entlang eines deskriptiv-analytischen Zugangs und stützt sich auf den klassischen Netzwerkbegriff James C. Mitchells. Dieser definiert soziale Netzwerke als »a specific set of linkages among a defined set of persons, with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used to interpret the social behaviour of the persons involved.«13 Gegenstand der Analyse sind entsprechend die sozialen Beziehungen, die in einem allgemeinen Sinne nach Max Weber als »aufeinander trin Babbe, »›Kein Musiker in Wien, der ihm nicht ein Stück seines Künstlerthums verdankt‹: Die Schule Hellmesberger und die Wiener Musikkultur«, in: Konservatoriumsausbildung von 1795 bis 1945, hg. von ders. und Volker Timmermann, i. V.) 9 Pierre Bourdieu, »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Soziale Ungleichheiten, hg. von Reinhard Kreckel, Göttingen 1983 (Soziale Welt 2), S. 183–198, hier: S. 190 f. (Hervorhebungen im Original). 10 James S. Coleman, »Social Capital in the Creation of Human Capital«, in: American Journal of Sociology 94 (1988), S. 95–120; James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge und London 1990. 11 Holzer, Netzwerke. Einsichten – Vielsichten (Anm. 7), S. 18. 12 Mark Granovetter, »Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness«, in: American Journal of Sociology 91 (1985), S. 481–510, hier: S. 491. 13 James C. Mitchell, »The concept and use of social networks«, in: Social Networks in Urban Situations.

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gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer«14 verstanden werden und persönliche ebenso wie unpersönliche Beziehungen sowie konstante und sporadische Kontakte gleichermaßen einschließen.15 Bei den am Konservatorium beobachteten Netzwerken handelt es sich um persönliche, sich wiederholende sowie stabile und erwartbare Beziehungsmuster. Erst in ihnen können sich reziproke Erwartungshaltungen und damit auch Sozialkapital etablieren. Familie Hellmesberger Anhand biographischer Stichpunkte sollen zunächst die Geiger der Familie Hellmesberger vorgestellt werden – mit einem Fokus auf ihrer zentralen Verortung in dem dichten Netzwerk zwischen Konservatorium und städtischem Musikleben. Rezeptionsanalytische Ausführungen sind mit der Absicht vorangestellt, das historische Narrativ erkennbar zu machen, das um das familiale Netzwerk der Hellmesberger-Familie existierte. Als Robert Maria Prosl 1947 die erste und bislang auch einzige Monographie über die Familie Hellmesberger publizierte, warb das Salzburger Tagblatt mit folgenden Worten: »Das Wien der sogenannten guten alten Zeit ersteht vor uns und in seinem Mittelpunkt die Geschichte der Familie Hellmesberger, einer Familie, deren Name wohl mit der alten Stadt am Donaustrand, ihrer Kultur, ihrer Musik, ihrer Kunst ewig verbunden bleiben wird.«16 Eine ähnlich zentrale Bedeutung wird der Familie im Kontext einer biographischen Skizze Josef Hellmesbergers d. J. zugeschrieben, die 1941 in der Wiener Volks-Zeitung erschien: »Wien und der Name Hellmesberger sind eng und unlöslich miteinander verknüpft.«17 Im Neuen Wiener Tagblatt ist nicht zuletzt die Rede von der »Dynastie der Hellmesberger«18. Weiter verweist das Blatt auf die »Geschichte der Wiener Musikerfamilie Hellmesberger, die im vorigen Jahrhundert dem Musikleben unserer Stadt einen prägnanten Stempel aufdrückte«19. Darstellungen dieser Art sind exemplarisch für die Rezeption der Hellmesberger-Familie in der Analysis of Personal Relationships in Central African Towns, hg. von dems., Manchester 1969, S. 1–50, hier: S. 2. 14 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, 5., revidierte Auflage, Tübingen 1980, S. 13. 15 Holzer, Netzwerke. Einsichten – Vielsichten (Anm. 7), S. 9. 16 Salzburger Tagblatt (20. Dezember 1947), S. 8. 17 Volks-Zeitung [Wien] (05. April 1941), NP. 18 Neues Wiener Tagblatt (14. Januar 1945), NP. 19 Ebd.

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(vornehmlich österreichischen) Presse20 vor allem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Vokabeln wie Dynastie bzw. Musiker-Dynastie und dem Rekurs auf die ›Familie‹ statt auf einzelne Akteure, wird schon hier auf das verwobene Wirken von Familienmitgliedern, auf ein familiales Netzwerk, verwiesen. Dass eben dieser Topos einer Musikerfamilie, die prominent im urbanen Musikleben platziert war und dieses zugleich grundlegend prägte, auch Eingang in den späteren musikhistoriographischen Diskurs fand, zeichnet sich nicht zuletzt an dem entsprechenden Eintrag in der Musik in Geschichte und Gegenwart ab. Hierin schreibt Marion Linhardt: »Die Familie Hellmesberger prägte neben der StraußDynastie und der Familie Fahrbach das Wiener Musik- und Theaterleben seit der Biedermeierzeit.«21 Interessant ist zu bemerken, dass das Narrativ der zentral mit dem Wiener Kulturleben verknüpften Musikerfamilie vor allem eines der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Retrospektiv, nicht bereits zu Lebzeiten der Akteure, wird ein Bedeutungsrahmen geschaffen, der eine historische Relevanz der Musiker als kollektive Akteure generiert und dabei zugleich auf den Topos der Musikstadt Wien verweist. Ein Blick auf die Akteure, die diesem familialen Netzwerk zugeordnet werden, offenbart die Selektivität des angewandten Familienbegriffs. Totum pro parte steht das Etikett der »Familie« Hellmesberger vor allem für drei Geiger, nämlich Josef Hellmesberger d. Ä., dessen Vater Georg Hellmesberger d. Ä. und Sohn Josef Hellmesberger d. J. – Musiker aus drei Generationen also, die als Geigenlehrer, Kammer- und Orchestermusiker sowie als Dirigenten wesentlichen Einfluss nehmen konnten. Wohl im Sinne einer kohärenten Historiogra20 Grundlage dieser Ausführungen ist eine umfangreiche Auswertung der (vornehmlich österreichischen) Tages- und Fachpresse über die Datenbank ANNO (AustriaN Newspapers Online) der Österreichischen Nationalbibliothek (http://anno.onb.ac.at/index.htm, abgerufen am: 25. Januar 2019). Lokale Tageszeitungen: Wiener Zeitung (1780–heute; seit 1848 als Tageszeitung), Die Gegenwart. Politisch-literarisches Tagblatt (1845–1848), Fremden-Blatt (1847–1919), Die Presse (1848– 1896), Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie (1860–1911), Wiener Sonn- und Montags-Zeitung (Wochenblatt, 1863–1867), Neue Freie Presse (1864–1939), Neues Wiener Tagblatt (1867–1945), Deutsche Zeitung (1871–1907), Illustrirtes Wiener Extrablatt (1872–1828), Neuigkeits Welt-Blatt (1874–1943), Deutsches Volksblatt (1889–1922); Feuilletonistische Zeitschriften: Der Humorist (1837–1862; 1880–1926), Neue Wiener Musik-Zeitung (1852–1860), Blätter für Musik, Theater und Kunst (1855–1873), Figaro. Humoristisches Wochenblatt (1857–1919), Der Zwischen-Akt. Organ für Theater, Kunst und Musik (1859–1871), Wiener Salonblatt (1870–1938), Deutsche MusikZeitung (1874–1902), Die Lyra (1876–1909), Österreichische Kunst-Chronik (1878–1912), Österreichische Musik- und Theaterzeitung (1888–1899); überregionale Blätter: Neue Zeitschrift für Musik [Mainz] (1834–1991), Signale für die musikalische Welt [Leipzig] (1843–1941), Illustrirte Zeitung [Leipzig] (1843–1944), Musikalisches Wochenblatt [Leipzig] (1870–1910). 21 Marion Linhardt, »Hellmesberger«, in: MGG Online (2016ff.), hg. von Laurenz Lütteken, https:// www.mgg-online.com/mgg/stable/14072 (abgerufen am: 16. Februar 2019).

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phie des Violinspiels werden andere Familienmitglieder ausgeklammert, ohne dabei die Auswahlkriterien wie die Instrumentenwahl, das Geschlecht o. ä. transparent zu machen.

Abb. 1 Mitglieder der Familie Hellmesberger im 19. Jahrhundert.

Besonders anschaulich wird dies an der Person Georg Hellmesbergers d.  J. (1830–1852). Der Sohn von Georg Hellmesberger d. Ä. und Bruder von Josef Hellmesberger d. Ä. war ebenfalls Geiger, konnte indes nicht so erfolgreich wie Vater und Bruder im Wiener Musikleben Fuß fassen und wird innerhalb historiographischer Überblicke in der Presse weitgehend ausgespart. Auch Ferdinand Hellmesberger (1863–1940), Sohn von Josef Hellmesberger d. Ä. wurde zu Lebzeiten von der Presse kaum als Teil der ›Musikerfamilie‹ erwähnt. Als Cellist erfüllte er per Instrumentenwahl eine der entscheidenden Voraussetzungen, die familiäre Violintradition zu repräsentieren, nicht. Sein Name sicherte aber auch ihm öffentliche Aufmerksamkeit. Vor allem sein Tod bot Anlass für Retrospektiven auf die ›Familientradition‹ um Josef Hellmesberger d. Ä. sowie dessen Vater und Sohn. Weitgehend unbeachtet in den Pressebeiträgen zur ›Familie‹ Hellmesberger bleiben daneben die weiblichen Familienmitglieder, die auch in weiteren Quellen meist nur auf ihre genealogische Position als Mütter, Ehefrauen oder Töchter reduziert bleiben. Bislang fehlen biographische Informationen über Anna Hellmesbeger, geb. Mayerhofer († 1867), die Mutter Josef Hellmesbergers d.  Ä. Ein weitgehender Forschungsbedarf betrifft auch die Biographie der Schauspielerin Rosa Hellmesberger, geb. Anschütz (1830–1909), die 1851 Josef Hellmesberger d. Ä. heiratete. Auch die gemeinsamen Töchter Rosita (* 1856) und Emilie (* 1870) wurden als Schauspielerinnen bekannt, haben in die Historiographie bisher jedoch keine Aufnahme gefunden.22 22 Das Österreichische Biographische Lexikon verweist unter dem Eintrag zum Schauspieler Fritz Herz (1867–1945) außerdem auf dessen Ehefrau Maria (1867–1940), die ebenfalls eine Tochter von Josef und Rosa Hellmesberger gewesen sein soll und wie Mutter und Schwestern als Schauspielerin aktiv gewesen sei. Anders als bei Rosita und Emilie Hellmesberger fehlen Quellen, die diese genea-

 

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Umso interessanter erweist sich vor diesem Hintergrund die Frage, warum Georg Hellmesberger d. J. nicht ebenso als Bestandteil der familiär geprägten Traditionslinie rezipiert wurde. Per Geschlecht, Familienzugehörigkeit und Instrumentenwahl verfügte er über die hier relevanten Kategorien der öffentlichen Rezeption. Sein früher Tod allein scheint keine hinlängliche Begründung für den Ausschluss aus der Traditionslinie zu sein, wenn man bedenkt, dass der Musiker außerhalb Wiens sehr wohl als Geiger erfolgreich tätig war – nicht zuletzt an seiner 1850 erfolgten Ernennung zum Königlichen Konzertmeister in Hannover23 wird dies ablesbar. Violinspiel als Familientradition Mit der Absicht, die über Jahrzehnte hinweg überlieferte Vorstellung einer Familientradition des Violinspiels nachzuvollziehen, und mit dem Bewusstsein für die hohe Selektivität richtet sich das Augenmerk an dieser Stelle auf die drei Geiger Josef Hellmesberger d. Ä., Georg Hellmesberger d. Ä. und Josef Hellmesberger d. J. Im Rahmen eines kollektiv-biographischen Überblicks liegt der Fokus aber vor allem auf Josef Hellmesberger d. Ä. Früh bei seinem Vater ausgebildet, lassen sich seit 1841 gemeinsame öffentliche Auftritte mit dem Bruder Georg nachvollziehen,24 die sich bald zu einem beliebten Phänomen im Wiener Musikleben entwickelten. Anders als sein Bruder trat Josef Hellmesberger d. Ä. parallel dazu schon erfolgreich als Solist in Erscheinung und fand in der zeitgenössischen Presse überaus beifällige Resonanz. 1849 gründete er mit dem Geiger Matthias Durst (1815–1875), Carl Heissler (1823–1878) als Bratschisten und dem Cellisten Karl Schlesinger (1813–1871) das Hellmesberger-Quartett, das sich mit der Etablierung von Kammermusikkonzerten in Wien große Verdienste erwarb und insbesondere über sein Repertoire, aber auch das jahrzehntelange Wirken wesentlichen Einfluss auf die Kammermusiktradition in Wien (und darüber hinaus) ausübte. Als Primarius gehörte Josef Hellmesberger dem Ensemble bis 1887 an und wurde hierin von seinem Sohn Josef Hellmesberger d.  J. abgelöst. Zwei Jahre nach Gründung des Hellmesberger-Quartetts, 1851, übernahm Josef Hellmesberger d. Ä. die künstlerische Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde und stand nicht nur den Gesellschaftskonzerten als Dirigent vor, sondern war auch Direklogische Beziehung belegen. Auch in der zeitgenössischen Presse lässt sich ihre Wirksamkeit nicht nachvollziehen. Siehe ÖBL 1815–1950, Bd. 2, Lfg. 9, 1959, S. 295. 23 Fremden-Blatt (15. März 1850). 24 Siehe z. B. Österreichisches Morgenblatt [Wien] (24. März 1841).

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tor des vom Verein getragenen Konservatoriums. Hier besetzte er gleichzeitig eine Professur für Violine. Auch darin hatte er seinen Vater zum Vorbild: Georg Hellmesberger d. Ä. hatte bereits am Konservatorium bei Josef Böhm (1819– 1821) studiert, dem die Begründung der institutionalisierten ›Wiener Violinschule‹ zugeschrieben wird.25 1821 wurde er als Böhms Substitut eingestellt und später zum ordentlichen Professor ernannt. Er trug, so formuliert es Robin Stowell, wesentlich dazu bei, dass sich schon im frühen 19. Jahrhundert eine Wiener Geigerschule etablieren konnte,26 und löste zugleich Musiker wie Böhm und Josef Mayseder (1789–1863) als führende Geiger in der Stadt ab.27 Hier wird eine Traditionslinie aufgezeigt, die in der zeitgenössischen Presse vielfach bemüht wird und auch in Texten wie jenem eingangs zitierten Nekrolog von Hirschfeld oder auch bei dem Biographen Prosl in pathetischen Worten zur Sprache kommt. Prosl schreibt: »Der Geist der alten Wiener Geigerschule, den Vater Georg von seinem Lehrmeister Böhm übernommen hatte, ging auf den Sohn über und wirkt auch heute noch fort.«28 Ergänzend zu seinen bereits umfangreichen Aufgaben wurde Josef Hellmesberger d. Ä. 1855 Mitglied des Hof­ opernorchesters, wo sein Vater als Dirigent angestellt war, und übernahm hier 1860 die Konzertmeisterstelle. Auch bei den Wiener Philharmonikern war er nicht der erste Geiger aus seiner Familie. Sein Vater war Mitbegründer des Orchesters und hatte den Posten des 1. Kapellmeisters inne. 1863 wurde Josef Hellmesberger erster Violinist der Hofkapelle, der Georg Hellmesberger ebenfalls angehörte. In den 1870er Jahren wurde er zunächst zum Vizehofkapellmeister und kurz darauf zum Hofkapellmeister ernannt. 25 Siehe Christine Hoppe, »Das Spezifische im Allgemeinen? Auf der Suche nach dem Lehrer Joseph Böhm in Techniken, Lehrmethoden, Lehrwerken und Widmungskompositionen seiner Schüler«, in: Konservatoriumsausbildung von 1795 bis 1945, hg. von Annkatrin Babbe u. Volker Timmermann (Anm. 8). 26 Damit soll nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass in Wien bereits eine weit zurückreichende Geschichte des Violinspiels existierte. Siehe z. B. Hans Sittner, »Zur Tradition der Wiener Geigerschule«, in: Violinspiel und Violinmusik in Geschichte und Gegenwart. [Bericht über den internationalen Kongreß am Institut für Aufführungspraxis der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz vom 25. Juni bis 2. Juli 1972], hg. von Vera Schwarz, Wien 1975 (Schriftenreihe des Instituts für Aufführungspraxis der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz in Verbindung mit der Gesellschaft für Forschungen zur Aufführungspraxis), S. 132–141. 27 Robin Stowell, »The nineteenth-century bravura tradition«, in: The Cambridge Companion to the Violin, hg. von dems., Cambridge und New York 1992 (Cambridge Companions to Music), S. 72. 28 Robert Maria Prosl, Die Hellmesberger. Hundert Jahre aus dem Leben einer Wiener Musikerfamilie, Wien 1947, S. 46; Rudolf Hopfner, »Die Geige. Spiel, Technik und Pädagogik in Wien«, in: »Der Himmel hängt voller Geigen«. Die Violine in Biedermeier und Romantik (Katalog zur Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien in Kooperation mit der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Kunsthistorisches Museum 14.04.–25.09.2011), hg. von Sabine Haag, Bergkirchen 2011, S. 33–40, hier: S. 39.

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Schon die Länge der Aufzählung bildet das hohe Arbeitspensum ab, dem der Musiker kaum mehr nachkommen konnte und das er schließlich reduzierte, indem er nach dem Studienjahr 1878/79 seine Professur am Konservatorium niederlegte. Die Direktion behielt er noch bis 1893 inne. Retrospektiv hatte Josef Hellmesberger, so fasst es Hans Sittner zusammen, »die höchsten Ämter des Musiklebens in Wien in sich vereint, und zwar schon in sehr jungen Jahren und dazu noch durch verhältnismäßig lange Zeit.«29 Auffällig sind die Parallelen zur Vita seines Vaters, die sich zugleich in der Laufbahn seines Sohnes fortsetzen. Josef Hellmesberger d. J. erhielt Unterricht von seinem Vater. Er war als Student am Konservatorium eingeschrieben und wurde 1878 als Professor in die Geigenabteilung berufen. Mit ihm wirkten nunmehr drei Generationen der Familie in Folge am Konservatorium und machten die dortige Geigenausbildung zu einer Art ›Familienunternehmen‹. Auch darüber hinaus waren seine Wege eng mit jenen von Vater und Großvater verknüpft: Schon als 15-Jähriger war er als 2. Violinist in das Quartett seines Vaters eingetreten (das er ab 1887 als Primarius leitete). 1873 wurde auch er Mitglied des Hofopernorchesters. Nach einer Unterbrechung durch den Militärdienst trat er 1878 als Sologeiger in die Hofkapelle und in das Hofopernorchester ein. Im Jahr 1890 folgte die Ernennung zum Hofkapellmeister der Wiener Hofkapelle, außerdem zum Kapellmeister am Ringtheater. In der Nachfolge Gustav Mahlers übernahm er für die Jahre 1901 bis 1903 die Leitung der Philharmonischen Konzerte. Geigenausbildung als ›Familiensache‹ Die Karrierewege der drei Familienmitglieder durchziehen nicht nur ganz zentral das Wiener Musikleben zwischen Konservatorium, Quartettmusik, Hofkapelle, Hofoper und den Wiener Philharmonikern, sondern waren hierin auch noch eng aufeinander bezogen. Ihre Beteiligung an den hier entscheidenden Netzwerkbildungen soll im Anschluss an Robin Stowell – der Georg Hellmesbergers Anteil an der Etablierung einer Wiener Geigerschule unterstreicht30 – erfasst werden. Anhand der personellen Besetzung der Geigenabteilung etwa kann die Konstitution eines Netzwerks gezeigt werden, das sich von außen als weitgehend undurchlässig erweist und als Effekt die konzentrierte Vermittlung von Spieltechniken und Klangidealen begünstigt: Zu nennen ist nicht nur die Berufung der drei Geiger der Familie Hellmesberger in das Kollegium, sondern auch die kontinuierliche Besetzung von Lehrstellen mit ehemaligen Studierenden dieser Musiker. 29 Sittner, Zur Tradition der Wiener Geigerschule (Anm. 26), S. 139. 30 Stowell, The nineteenth-century bravura tradition (Anm. 23), S. 72.

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Geigenausbildung als »Familiensache«

Lehrende

Anstellungszeitraum

Ausbildung bei

Georg Hellmesberger sen.

1821–1867

Josef Böhm

Josef Hellmesberger sen.

1851–1879

Georg Hellmesberger d. Ä.

Carl Heissler

1853–1878

Georg Hellmesberger d. Ä., Matthias Durst, ­Josef Böhm

Karl Thalmann

1863–1870

Josef Böhm

Anton Thalmann

1867–1877

Josef Böhm

Jakob Dont

1872

Georg Hellmesberger d. Ä., Josef Böhm

Matthias Durst

1872–1875

Georg Hellmesberger d. Ä., Josef Böhm

Carl Hofmann

1875–1880

?

Sigmund Bachrich

1878–1899

Josef Böhm, Josef Hellmesberger d. Ä.

Jakob Moritz Grün

1877–1908

Gustav Ellinger (Budapest), Josef Böhm

Josef Maxintsak

1878–1908

Josef Hellmesberger d. Ä.

Josef Hellmesberger jun.

1879–1902

Josef Hellmesberger d. Ä., Georg Hellmesberger d. Ä.

Arnold (Josef) Rosé

1893–1901

Carl Heissler (Enkelschüler von Georg Hellmesberger d. Ä.)

Theodor Schwendt

1897–1898

Josef Hellmesberger d. J.

Julius Egghard

1897–1909

Carl Heissler (Enkelschüler von Georg Hellmesberger d. Ä.)

Karl Prill

1897–1909

Joseph Joachim (Enkelschüler von Josef Böhm)

Tab. 1: Geigenlehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde Wien (1851–1900).

16 Geigenlehrer unterrichteten zwischen 1851 und 1900 am Konservatorium in Wien. Im Jahr 1851 wurde das Ausbildungsinstitut, das drei Jahre zuvor im Zuge der Revolutionsereignisse geschlossen werden musste, wiedereröffnet. Josef Böhm hatte noch vor der Schließung aufgrund gesundheitlicher Probleme seine Position niedergelegt. Georg Hellmesberger d. Ä. behielt seinen Posten. Zusammen mit seinem Sohn Josef Hellmesberger zeichnete er nun für die Geigenausbildung am Konservatorium verantwortlich. Laut Instruktion wurden die Lehrenden von der Gesellschaft der Musikfreunde berufen, deren Vorstand sich aus Musikliebhabern, nicht aus professionellen Musikern, zusammensetzte. Das Konservatoriumspersonal war in seiner Arbeit entsprechend den Musikliebhabern verpflichtet. Bei aller Kritik, die ob dieser strukturellen Verfasstheit laut wurde – Georg und Josef Hellmesberger scheinen ihre Personalpolitik in der Violinabteilung weitgehend unbeschränkt betrieben zu haben; das legt auch die konsequente Berufung ehemaliger Studierender in das Kollegium nahe. Ein Ausschnitt: 1853 wurde mit Carl Heissler (1823–1878) ein Schüler von Georg Hellmesberger d. Ä. sowie von Josef Böhm eingestellt. Damit befanden sich drei

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Geigenlehrer am Konservatorium, die eine ganz ähnliche Ausbildung erfahren hatten und innerhalb des nächsten Jahrzehnts den Unterricht in ihrer Abteilung allein bestritten. Erst 1863 wurde mit Karl Thalmann (Lebensdaten unbekannt) eine weitere Stelle besetzt und damit ein Geiger aus derselben Ausbildungstradition aufgenommen, schließlich hatte auch Thalmann bei Böhm studiert. In den nächsten Jahrzehnten setzte sich diese Personalpolitik mit der bevorzugten Berufung von Geigern, die bei Böhm, Georg Hellmesberger d. Ä., Josef Hellmesberger d. Ä. oder Josef Hellmesberger d. J. studiert hatten, fort. Von den zwölf Lehrkräften, die bis zum Ende des Jahrhunderts in das Kollegium aufgenommen wurden, waren sechs Absolventen der Klassen der drei Hellmesberger. Drei weitere waren Enkelschüler der genannten Lehrer. Personal Geigenabteilung

Opernorchester / Wiener Philh.

Hofkapelle

Georg Hellmesberger d. Ä.





Josef Hellmesberger d. Ä.





Carl Heissler





Karl Thalmann





Anton Thalmann

HellmesbergerQuartett





Jakob Dont



Matthias Durst





Carl Hofmann



Sigmund Bachrich



Jakob Moritz Grün



Josef Maxintsak







Josef Hellmesberger d. J.







Arnold (Josef) Rosé





Theodor Schwendt







Julius Egghard







Karl Prill



• • •

Tab. 2: Personelle Kontinuität im Wiener Musikleben.

Die personelle Kontinuität entlang der Lehrtradition setzt sich auch im Wiener Musikleben fort und zeigt damit, wie weitreichend das Netzwerk und die hiermit verbundenen Handlungsmöglichkeiten waren. Josef Hellmesberger d. Ä., sein Vater Georg Hellmesberger d. Ä. und sein Sohn Josef Hellmesberger d. J. waren nicht nur am Konservatorium, sondern auch im Musikleben in die verwaltungstechnischen und organisatorischen Belange vor allem der Orchester eingebunden,

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in denen sie Posten mit Entscheidungsmacht besetzten.31 Wirft man vor diesem Hintergrund einen Blick auf die Besetzungslisten der Wiener Klangkörper, fällt auf, dass sich hier mit wenigen Ausnahmen sämtliche Namen jener Geiger wiederfinden, die dem Lehrerkollegium angehörten und in der hier betrachteten Ausbildungslinie verortet sind. Auch das Hellmesberger-Quartett setzte sich zu einem Großteil aus dem Kollegium der Geigenabteilung vom Wiener Konservatorium und damit aus dem Schülerkreis der Hellmesbergers zusammen. Geigerinnen im Netzwerk Josef Hellmesberger d. Ä. hat in den fast drei Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit am Konservatorium 155 Geigerinnen und Geiger ausgebildet. Von ihnen fanden 26 Geiger nach ihrem Studium bei den Wiener Philharmonikern eine Anstellung und waren entsprechend auch Mitglieder des Opern- bzw. Staatsopernorchesters. Es fällt auf, dass nur Absolventen, nicht aber Absolventinnen Zutritt zu diesen Handlungsräumen fanden. Dieser Ausschluss von Geigerinnen deckt sich mit ihrer im Verhältnis geringeren Präsenz und ihren restriktiven Handlungsrahmen im öffentlichen Musikleben. Nicht nur in Wien, sondern auch darüber hinaus galt es im musikkulturellen Diskurs noch Mitte des 19. Jahrhunderts bekanntermaßen als weitverbreiteter Konsens, dass das Geigenspiel (trotz einiger Ausnahmen von öffentlich auftretenden Geigerinnen) eine Männerdomäne sei.32 Hartnäckig wurden differierende Handlungsräume für Musikerinnen und Musiker (immer wieder neu) konstituiert, die nicht zuletzt bei der Instrumentenwahl ansetzen.33 Dass Autoren wie der richtungsweisende Carl Ludwig Jun31 Siehe auch Clemens Hellsberg, Demokratie der Könige. Die Geschichte der Wiener Philharmoniker, Wien, Zürich und Mainz 1992, S. 24 f. 32 Eine umfassende Darstellung von Wahrnehmungs- und Denkmustern, die das Instrumentalspiel von Frauen zwischen 1750 und 1850 reglementierten, liefert Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. und Leipzig 1991. 33 Ebd. sowie Freia Hoffmann und Volker Timmermann, »Einleitung«, in: Quellentexte zur Geschichte der Instrumentalistin im 19. Jahrhundert, hg. von dens., Hildesheim, Zürich und New York (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 77), S. 7–20, S. 7. Die Prämissen des Handelns, mit denen sich Instrumentalistinnen vor dem Hintergrund dieser Zuschreibungen konfrontiert sahen, wurden bereits erforscht, namentlich in der Arbeit von Freia Hoffmann, Instrument und Körper (Anm. 34); Untersuchungen zum Handlungsrahmen dezidiert von Geigerinnen hat zuletzt Volker Timmermann vorgelegt: »…wie ein Mann mit dem Kochlöffel«. Geigerinnen um 1800, Oldenburg 2017 (Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 14). Als relevante Beiträge zur Geschichte der Professionalisierung von Geigerinnen sei auch verwiesen auf den Sammelband von Carolin Stahrenberg und Susanne Rode-Breymann, »… Mein Wunsch ist, Spuren zu hinterlassen…«. Rezeptions- und Berufsgeschichte von Geigerinnen, Hannover 2011 sowie die Arbeit von Kay Dreyfus, Margarethe

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ker (1784) keine Einzelmeinungen repräsentierten, ihre Haltungen gegen eine weitgefächerte Instrumentenwahl von Frauen vielmehr wirkmächtige Argumentationsmuster boten, wird ablesbar an der zeitgenössischen Rezeption der Instru­ mentalistinnen in den Periodika: Wie ein roter Faden zieht sich eine ablehnende Haltung gegenüber Geigerinnen durch die Konzertbesprechungen in der Tagesund Fachpresse vor allem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch, wenn »ein Umdenken der Kritiker in den 1830er Jahren, auf breiterer Front dann im Zusammenhang mit den Auftritten der Schwestern Teresa und Maria Milanollo in den 1840er Jahren«34 zu verzeichnen ist und sich in den folgenden Jahrzehnten eine steigende Präsenz von Geigerinnen im Wiener Musikleben abzeichnet, bleibt die Unterrepräsentanz und der Ausschluss aus professionellen Theaterund Konzertorchestern35 sowie den männlich geführten Kammermusikensembles bestehen. Auch die Hellmesberger-Schülerinnen fanden weder in die Wiener Orchester noch in das Hellmesberger-Quartett Zugang – für sie führte der Weg im Netzwerk in diese Richtung auch über den Knotenpunkt Josef Hellmesberger nicht weiter. Am Konservatorium indes hatten sie eine vergleichbare Ausbildung und ähnliche Entfaltungsmöglichkeiten wie ihre Kommilitonen vorgefunden. Geigerinnen und Geiger erhielten den Verordnungen, Prüfungsprogrammen und Presseberichten zufolge eine Ausbildung entlang eines Curriculums, durften gleichermaßen an öffentlichen Produktionen sowie Wettbewerben teilnehmen und konnten mit dem Diplom das gleiche Qualifikationsniveau erreichen.36 Das Konservatorium erscheint dabei als geschützter Rahmen, in dem Geigerinnen eine hochqualifizierte und -qualifizierende Ausbildung bei renommierten Lehrern erhielten und sich ähnlich wie ihre Kommilitonen entfalten und ausprobieren konnten. Außerhalb der Ausbildungsinstitution aber waren die Grenzen für sie wesentlich enger und undurchlässiger gesteckt. Unabhängig von den persönlichen Beziehungsstrukturen wurden so entlang des Geschlechts im Netzwerk Grenzen und Zugänge, Inklusion und Exklusion Engelhardt-Krajanek und Barbara Kühnen, Die Geige war ihr Leben. Drei Frauen im Portrait, Strasshof 2000 (Frauentöne 4). 34 Volker Timmermann, »…wie ein Mann mit dem Kochlöffel« (Anm. 35), S. 20. 35 In Europa war es nach derzeitigem Kenntnisstand das Londoner Queen’s Hall Orchestra unter der Leitung von Henry Wood, das sich als erstes Orchester zur Saison 1913/1914 gegenüber Instrumentalistinnen öffnete. Der Musical Herald schreibt: »Of the ladies chosen by Sir Henry Wood for the Queen’s Hall Orchestra four will play the violin and two the viola. They will receive the same pay as the men. The six were selected from fifty applicants. It was the increase of the band to 110 members that gave Sir Henry Wood the opportunity of admitting women, which he had advocated for twenty years.« (The Musical Herald (1933), Nr. 788, S. 327). 36 Grundverfassungs-Statut des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (§. 22 der Gesellschaftsstatuten vom 26. Februar 1869), Wien [1869], §. 73., S. 16.

Geigenausbildung als »Familiensache«

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sowie Durchlässigkeiten ausgeprägt. Absolventinnen wie Eugenie Epstein, Theresine Seydel und Helene Lechner verschaffte Josef Hellmesberger d. Ä. jedoch die Möglichkeit zu Gastauftritten mit seinem Quartett. Inklusive der Genannten finden sich unter den 35 Gastmusikerinnen und Gastmusikern, die sich in den Programmen des Quartetts (bis 1887) nachweisen lassen, 15 Absolventinnen und Absolventen aus der Klasse Josef Hellmesbergers. Letztlich zeigt die Beschreibung der Netzwerke um die Hellmesberger-Geiger zwischen Konservatorium und Musikleben, wie konsequent hier eine personelle Kontinuität geschaffen wurde, die retrospektiv zum Narrativ der Familientradition bzw. einer Wiener Geigerschule verdichtet werden konnte. Die Mitglieder dieses Netzwerks profitierten wesentlich von dem hier vorhandenen sozialen Kapital, das wiederum Grundbedingung für die Teilhabe am Traditionsprozess war. Der Eintritt in die Wiener Geigerschule, die in der Folge von Josef Böhm, über Georg Hellmesberger, dessen Sohn und Enkel, dann über Carl Heissler und weitere fortgesetzt wurde, machte die Studenten zu legitimen Nachfolgekandidaten für das Kollegium in der Geigenabteilung sowie für die Wiener Klangkörper. Ihre Zugehörigkeit zur Schule Hellmesberger suggerierte – sowohl über die Weitergabe bestimmter Spieltechniken und Klangideale als auch über den personellen Zusammenhang an sich – die Sicherung der Tradition der Wiener Geigerschule.37 Wenn die mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien heute unter dem Slogan »Unsere Vergangenheit ist auch unsere Zukunft« den »Wiener Streicherklang und die klassisch-romantische Interpretationstradition« zur »Grundlage« der Ausbildung im Konzertfach Streichinstrumente, Gitarre und Harfe erklärt, zugleich die Pflege des »spezifischen Wienerischen Musizierstils«38 bewirbt und sich auf einen Lehrkörper beruft, »der aus namhaften internationalen Solisten, Konzertmeistern und SoloStreichern der berühmten und traditionsreichen österreichischen Orchester – allen voran der Wiener Philharmoniker und der Wiener Symphoniker – und Kammermusikern von Weltrang besteht«39, wird hier eine Traditionslinie aufgerufen, die sich eng auf die institutionalisierte Geigenausbildung im 19. Jahrhundert und eben auch die Ausbildungstradition um Josef Hellmesberger d. Ä., seinen Vater und Sohn, rückbezieht. 37 Klangästhetische Überlegungen in Bezug auf das Narrativ der »Wiener Geigerschule« wurden in dem vorliegenden Beitrag ausgeklammert. Sie werden eingehender erörtert in der entstehenden Dissertation der Autorin zur »Geigenausbildung bei Josef Hellmesberger d. Ä. am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien«. 38 Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Institute. Fritz Kreisler Institut für Konzertfach Streichinstrumente, Gitarre und Harfe, https://www.mdw.ac.at/421 (abgerufen am: 21. Februar 2019). 39 Ebd.

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Familien-Netzwerke und musikalische ­Wissensproduktion Die Familien Kiesewetter und Ambros

Voraussetzungen und Zusammenhänge: Paar – Familie – Netzwerke Musik- und Wissenschaftspaare sind Teil von oft weitverzweigten familialen und amikalen, kollegialen und ständischen, regionalen bis internationalen, religiösen und anderen Netzwerken. Sie sind es (wie alle Menschen) durch Lebensumstände, aber auch im Speziellen, weil Kunst und Wissenschaft nicht durch eine einzelne Tätigkeit entstehen, sondern in Praxisbündeln, in Geflechten von Praktiken. Kunst und Wissenschaft sind hochgradig arbeitsteilige Felder: Kein Musikstück erklingt, weil nur ein Mensch es komponiert hat,1 und Wissenschaft entsteht nicht in individueller Isolation, sondern durch Austausch2 und in »einer Wirklichkeit anonymer Zulieferung und hierarchisch verdeckter Koproduktion«;3 Wissensproduktion ist nicht denkbar ohne Diskussion und ohne die sozialen Orte des Wissens, Sammelns/Archivierens, Nachdenkens und Kommunizierens. Jene Praxisbündel verteilen sich – sichtbar oder unsichtbar – auf mehr als ein Individuum: auf (Arbeits)Paare und deren unmittelbares Um1

Vgl. dazu Bernhard R. Appel, »Sechs Thesen zur genetischen Kritik kompositorischer Prozesse«, in: Musiktheorie 20 (2005), S. 112–122; Ina Knoth, Paul Hindemiths Kompositionsprozess Die Harmonie der Welt: Ambivalenz als Rhetorik der Ernüchterung, Mainz u. a. 2016 (Frankfurter Studien. Veröffentlichungen des Hindemith Instituts Frankfurt 14); Susanne Rode-Breymann, »Überlegungen zum Konzept ›kulturellen Handelns‹«, in: »La cosa è scabrosa«. Das Ereignis »Figaro« und die Wiener Opernpraxis der Mozart-Zeit, Köln, hg. von Carola Bebermeier und Melanie Unseld, Weimar und Wien 2018 (Musik – Kultur – Gender 16), S. 21–30. 2 Auf theoretischer Ebene hat Ludwik Fleck hierzu grundlegend veröffentlicht (vgl. etwa Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. und kommentiert von Sylwia Werner und Claus Zittel, Berlin 2011). Für die Musikwissenschaft siehe auch Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth und Anna Langenbruch (Hg.), Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen, Bielefeld 2016. 3 Julika Griem: »Gemeinsam schreiben?«, in: KWI-BLOG, https://blog.kulturwissenschaften.de/gemeinsam-schreiben (abgerufen am: 09.  März 2020). DOI: https://doi.org/10.17185/kwiblog/20200309–0648; vgl. auch im vorliegenden Band im Beitrag von Vera Viehöver der Hinweis auf kooperatives Schreiben, S. 87–113

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feld, aber auch auf professionell-kollegiale Netzwerke. Gute Vernetzung und ein möglichst reibungsloses Ineinandergreifen der Tätigkeiten befördern Ergebnisse in Kunst und Wissenschaft. Ein Opernhaus bringt nur unter diesen Prämissen eine Premiere auf die Bühne, ein Konservatorium kann nur so junge Menschen ausbilden, ja selbst eine Monographie entsteht nicht in der absoluten Isolation. So sind die sozialen Strukturen weitaus grundsätzlicher an den Prozessen von Kunst und Wissenschaft beteiligt, als es (Musik)Geschichtsschreibung mit weithin gängigen Konzepten von künstlerischer/intellektueller Individualität und alleiniger Autorschaft zu beschreiben gewohnt ist. Betrachtet man Produktionsbedingungen von Kunst und Wissenschaft, ist es daher ein notwendiger Schritt, die Kreise der Akteure und Akteurinnen in ihrer Vernetztheit zu betrachten.4 Paare in Kunst und Wissenschaft als Nucleus eines Netzwerkes in den Fokus zu nehmen, ist hierbei ein wichtiger Schritt. Ebenso wichtig aber scheint es, das Paar seinerseits nicht zu isolieren. Gerade das Emblem des ›idealen Paares‹, wie es im 19.  Jahrhundert gepflegt wurde, scheint einer konzeptuellen Isolation Vorschub zu leisten. Denn das Paar als ›Einsiedelei zu zweit‹, wie es im bürgerlichen 19.  Jahrhundert beliebt war darzustellen,5 ist seinerseits eine Prägeformel, die weder mit Arbeits- und Schaffensprozessen noch mit konkreten familialen Lebensumständen allzu viel zu tun hatte.6 Anders gesagt: Kein Paar agiert(e) ohne sein Umfeld, aber dort, wo es als solches besonders markant öffentlich sichtbar (gemacht) wurde, gerieten andere Strukturen, insbesondere die Strukturen weit vernetzter familialer Arbeits- und Lebensgemeinschaften, in den Hintergrund. Um hierfür nur ein weithin bekanntes Beispiel aufzurufen, genügt der Blick auf das ›ideale‹ Musikerpaar des 19. Jahrhunderts, Clara und Robert Schumann. So stark die beiden als solches von den Zeitgenossen wahrgenommen wurden, so intensiv und diskursiv sie ihre künstlerische und persönliche Paarbeziehung er4

Vgl. dazu grundsätzlich auch Ansätze der historischen Netzwerkforschung: Marten Düring, Ulrich Eumann, Martin Stark und Linda von Keyserlingk (Hg.), Handbuch Historische Netzwerkforschung. Grundlagen und Anwendungen, Berlin 2016. 5 Vgl. dazu Christine Fornoff-Petrowski, Künstler-Ehe. Ein Phänomen der bürgerlichen Musikkultur, Wien, Köln und Weimar [2021, Druck in Vorb.]. 6 Anregungen, familiale Konstellationen historisch-kritisch und differenziert in den Fokus zu nehmen, kommen aus der interdisziplinären Familienforschung, u. a.: Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 1999; Stephanie Coontz, »Historical Perspectives on Family Studies«, in: Journal of Marriage and Family 62/2 (2000), S. 283– 297; Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003; Albrecht Koschorke u. a., Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, München 2010; Inken Schmidt-Voges (Hg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850, Köln, Weimar und Wien 2010; Christina von Braun, Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte, Berlin 2018.

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und gelebt haben,7 von ihrer Lebensrealität und ihrer künstlerischen Identität her waren sie (neben den umfangreichen amikalen und kollegialen Netzwerken) Teil einer weitverzweigten, mehrgenerationellen Musikerfamilie, eine Konstellation, die insbesondere Clara Schumann intensiv und professionell – etwa im Austausch mit ihrem Halbbruder, dem Komponisten und Pädagogen Woldemar Bargiel – pflegte.8 Das Unterrichten innerhalb des weiteren Familienkontextes gehörte dabei ebenso dazu wie das Begleiten und Fördern der musikalischen Karrieren durch das eigene etablierte Netzwerk, das Kommunizieren des Familienzusammenhangs als pianistische ›Schule‹ u. a. m. Gerade aber das Paar Schumann lässt auch erkennen, dass das Modell des Musikerpaares in jenem Moment besonders erfolgreich (d. h. auch besonders öffentlichkeitswirksam) wurde, als sich innerhalb des Familiendiskurses der Fokus auf die isolierte Kleinfamilie nach den Modellen von Wilhelm Heinrich Riehl oder Friedrich Engels verschob. Anders gesagt: In jenem Moment, in dem Akteure wie Riehl und andere die bürgerliche Kleinfamilie argumentativ stärkten, wurde auch die Wahrnehmung von Musiker_innen als Ehepaar favorisiert, ohne die dahinterliegenden Netzwerkstrukturen zu berücksichtigen. Das ›Haus‹ als Ort musikalischer Wissensproduktion Dass bei Fragen der Vernetztheit von Akteurinnen und Akteuren der unmittelbare familiale Raum in den Blick fällt, hängt zumindest bis ins 19. Jahrhundert wesentlich damit zusammen, dass vor der Phase der Akademisierung der Berufe die Familie vor allem eine Ausbildungs- und Arbeitsgemeinschaft darstellte,9 mithin ein Ort, an dem Heranwachsende »durch die Praxis« lernten, wobei 7 8 9

Vgl. dazu Beatrix Borchard, Robert Schumann und Clara Wieck. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Weinheim und Basel 1985. Vgl. dazu den Beitrag von Beatrix Borchard im vorliegenden Band sowie ausführlich auch Elisabeth Schmiedel und Joachim Draheim, Eine Musikerfamilie im 19. Jahrhundert. Mariane Bargiel, Clara Schumann, Woldemar Bargiel in Briefen und Dokumenten, 2 Bde., München 2007. Philipp Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1975 (frz. Original: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960); Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013; Claudia Opitz, »Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ›ganzen Hauses‹«, in: Geschichte und Gesellschaft 20/1 (1994), S. 88–98; Andreas Gestrich, Art. »Haus, ganzes«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, hg. von Friedrich Jaeger, Stuttgart und Weimar 2005, Sp. 2016–2018; spezifischer im Kontext der Musik siehe auch Melanie Unseld, »Musikerfamilien. Kontinuitäten und Veränderungen im Mikrokosmos der Musikkultur um 1800«, in: Beethoven und andere Hofmusiker seiner Generation. Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bonn, 3.–6. Dezember 2015, hg. von Birgit Lodes, Elisabeth Reisinger und John D. Wilson, Bonn 2018 (Musik am Bonner kurfürstlichen Hof 1), S. 25–54.

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»diese Praxis […] nicht an den Grenzen eines bestimmten Berufes halt [machte], und zwar schon deshalb nicht, weil es damals und noch lange Zeit keine Grenzen zwischen Beruf und Privatleben gab; die Abgrenzung des Berufslebens – übrigens ein ziemlich anachronistischer Ausdruck – brachte die Abspaltung des Privatlebens mit sich, mit dem es zuvor vermischt gewesen war.«10 Diese Beschreibung von Philipp Ariès betraf keineswegs ausschließlich Bauern- und Handwerkerfamilien, sondern auch Musiker- und Theaterfamilien, Gelehrtenfamilien u. a. Gerade am Beispiel Letzterer ist dabei auch deutlich erkennbar, dass von einer Grenze auch im konkret räumlichen Sinne nicht gesprochen werden kann: Orte für wissenschaftliche Diskurse waren neben den (exklusiven) Universitäten auch die (inklusiven) Häuser der Gelehrten selbst, wo u. a. auch Studenten als Gäste oder Kostzöglinge ein- und ausgingen, wo aber auch Töchter, institutionell von akademischer Bildung weitestgehend ausgeschlossen, an gelehrten Diskursen (auch im Sinne einer Arbeitserziehung) partizipieren konnten.11 Das ›Haus‹ in diesem Sinne ist als sozialer Ort des intellektuellen und künstlerischen Austauschs zu verstehen, dessen soziale Durchlässigkeit größer war als in Bildungsinstitutionen wie Universitäten und Akademien, und deren Status als Ort der Ausbildung und Professionalisierung (nicht nur der Geselligkeit) nicht genug betont werden kann.12 Es gibt daher den Rahmen für familiale, amikale und kollegiale, dauerhafte und temporäre Konstellationen ab, die musikalische Praxis und musikbezogenes Wissen vor der Institutionalisierung von Musikausbildungsstätten ermöglichten, die aber durch diesen Prozess keineswegs abgelöst 10 Ariès, Geschichte der Kindheit (Anm. 9), S. 505. 11 Zum Beispiel der Göttinger Universitätsfamilien und der Partizipation der Töchter an den wissenschaftlichen (und künstlerischen) Diskursen ebenda: Melanie Unseld, »Medea auf der Récamière. Transformation zwischen Text, Musik und Performanz im Melodram um 1800«, in: Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), SprachMedienWelten. Wissen und ­Geschlecht in Musik* Theater* Film* (mdw Gender Wissen 8), Wien, Köln und Weimar, S. 83–111. Zum Beispiel der englischen Gelehrten- und Musikerfamilie Burney: Melanie Unseld, »›… training […] at his father’s hands and at those of the musical community that surrounded these families‹. Musikerfamilien als Ort der Ausbildung und Professionalisierung«, in: Ina Knoth (Hg.), Musik und die Künste in der englischen Frühaufklärung/Music and the Arts in England, c. 1670–1750, Dresden 2020, S. 33-56. DOI: https://doi.org/10.25366/2020.112. 12 Vgl. dazu, unterschiedliche Milieus betrachtend: Dorinda Outram, »Familiennetzwerke und Familienprojekte in Frankreich um 1800«, in: Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Theresa Wobbe, Bielefeld 2003, S. 73–79; Martin Gierl, »Johann Christoph Gatterer und die Grenzen historiographischer Wissenschaftlichkeit im 18. Jahrhundert«, in: Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in gelehrten Milieus der Vormoderne, hg. von Martin Mulsow und Frank Rexroth, Frankfurt a. M. und New York 2014, S. 387–412.

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wurden. Im Gegenteil: Das ›Haus‹ war auch im ›langen‹ 19. Jahrhundert ein sozialer Ort der Musikpraxis und Wissensproduktion, und zwar weit umfangreicher, auch professioneller, als mit der Vorstellung von Hausmusik als einer ›privaten‹ Angelegenheit verbunden wird. Die Vorstellung einer Privatheit – eng verbunden mit dem Ehe- und Familiendiskurs des bürgerlichen 19. Jahrhunderts (Riehl u. a.) – nimmt eine Grenzziehung zur Öffentlichkeit an, die den Praktiken in einem ›Haus‹ im oben genannten Sinne nicht entspricht. Vielmehr ist Familie, verstanden als Ort der musikbezogenen Ausbildung und der musikalischen Wissensproduktion, nicht unweit der Idee von Akademien und Konservatorien zu denken. Letztere profilierten sich im 19. Jahrhundert verstärkt als Organisationen professioneller Musikerausbildung,13 während sich die (bürgerliche) Idee von Familie ins Private zurückzog, womit sich die Art der Institutionalität veränderte, insbesondere schärfer gegeneinander abgegrenzt wurde. Das ›Haus‹ Kiesewetter und Ambros Wenn das bislang Gesagte mit seiner verallgemeinernden Tendenz als allzu grobmaschig erscheinen mag, soll im Folgenden die Familie Kiesewetter/Am­ bros als Ort der musikalischen Wissensproduktion in den Fokus genommen werden. Dass in der mehrgenerationellen Betrachtung dabei immer wieder Musikerpaare und wissenschaftlich-musikalische Paare aufscheinen, macht erkennbar, wie eng die Zusammenhänge von Paar, Familie und Netzwerken auch in diesem Fall waren. Zur Anwendung kommt dabei der Begriff vom ›Haus‹ nicht nur, weil er in Quellen immer wieder auftaucht, sondern weil er im oben genannten Sinne treffend umschreibt, was die Familie Kiesewetter/Ambros in ihren musikalischen und wissenschaftlichen Praktiken über Generationen hinweg auszeichnete. Dass die Familie Kiesewetter/Ambros hierbei nicht als Ausnahmeer13 Mit dem Begriff der Organisation werden hier Institutionen gefasst, die nicht im allgemeineren Sinne geregelte Formen menschlichen Zusammenlebens meinen, sondern bestimmte, durch Regeln/ Reglements/Statuten stabilisierte Einrichtungen, die unter einem distinkten Namen auftreten und ein (gesellschaftliches) Ziel verfolgen. Vgl. zum Institutionellen u. a. auch Peter Strohschneider, »Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur«, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion, hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. 2001, S. 1–26. Ich danke Ina Knoth für ihre Anregungen zur differenzierten Verwendung der Begriffe im musikhistorischen Umfeld (Ina Knoth, »Reflecting on ›(pre-/post-/sub-/beyond/hybrid)institutionality‹«, unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Workshops des Forschungsprojekts Musical Crossroads. Transatlantic Cultural Exchange 1800–1950, Panel »Conceptualization of the terms ›Institutionalität‹ and ›Vorinstitutionalität‹«, Wien 28. November 2019).

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scheinung zu verstehen ist, wird dort mit wenigen Hinweisen zur Sprache kommen, wo ähnliche Strukturen, ›Häuser‹ oder Arbeitsweisen zu beobachten sind. Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850), ältester Sohn eines Kreisphysicus, der im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung bei Gerhard van Swieten14 promoviert worden war, studierte Jura, war im Staatsdienst tätig (u. a. als Hofrat des Hofkriegsrates) und zugleich einer der zentralen Akteure des Wiener Musiklebens. Mit professionellem Selbstverständnis15 entwickelte er, in immer wieder wechselnden Konstellationen, eine Vielzahl von Ideen und Aktivitäten, die Musik (der Vergangenheit) und Musikkultur (der Gegenwart) in Beziehung setzen:16 Konzerte veranstalten und selbst musizieren, Musik sammeln, Organisationen der Musikpflege initiieren, etablieren, unterstützen, Musikgeschichte schreiben, Archive aufbauen etc. Er war mit Jakobine, geb. Cavallo (1773–1843) verheiratet, das Paar hatte sechs Kinder.17 »…bei Hofrat Kiesewetter« war in diesem Kontext eine geläufige Bezeichnung sowohl für einen Ort als auch für einen sozialen Raum, in dem neben anderen Geselligkeitsformen insbesondere und intensiv Musik gepflegt wurde. Julius Schneller schilderte in einem Brief an Anton Prokesch von Osten 1830 das gesellig-musikalische Interagieren: Kiesewetters Haus, Herr und Frau, und Irene’s holde verbindende Kraft kenne ich, als wäre ich bei allen Abenden gegenwärtig gewesen. Wie zart und stark das liebe Mädchen spielte, wie gerührt und erfreut der liebe Vater zuhörte, wie sinnig und geschäftig die gute Mutter alles ringsum ordnete […]. Baron Schönsteins wunderbare Stimme mit dem kraftvollen und geistreichen Vortrage […]; aber alles Vortreffliche wird überboten durch die Gefälligkeit, womit er die ganze Reihe Schubertscher Lieder sang […].18 14 Vater des Diplomaten, Juristen und Präfekt der Wiener Hofbibliothek Gottfried van Swieten (1734–1803), der vergleichbare Praktiken der Musikpflege in Wien unternahm, wie später Raphael Georg Kiesewetter: Sammlung alter Musik, Initiativen der Musikaufführung, Förderung etc. 15 Professionell ist hier im Sinne der Expertise, nicht im Sinne des ökonomisch notwendigen Berufs zu verstehen. Vgl. dazu auch Unseld, »… training […] at his father’s hands and at those of the musical community that surrounded these families« (Anm. 11). 16 Herfrid Kier, Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus, Regensburg 1968; ders., »Musikalischer Historismus im vormärzlichen Wien«, in: Die Ausbreitung des Historismus über die Musik. Aufsätze und Diskussionen, hg. von Walter Wiora, Regensburg 1969, S. 55–72. 17 Laut NDB hatte das Ehepaar Kiesewetter drei Töchter und drei Söhne. Die Familiendokumente (Ambros, Splitternachlass, ÖNB) verzeichnen zwei Töchter (Therese, verh. mit Alois Edler v. Kremer, und Irene Kiesewetter), das ÖML verzeichnet außerdem den Sohn Karl (1801–1854), der – wie seine Schwester Irene – zum Freundeskreis um Franz Schubert gehörte. 18 Julius Schneller, Brief an Anton Prokesch von Osten, Freiburg/Br., 23. November 1830, zit. nach Ingeborg Harer, »Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) – ›eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens‹«, in: Musik im Zusammenhang. Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag, hg. von Klaus Aringer, Christian Utz und Thomas Wozonig, Wien 2019, S. 257–277, hier: S. 271.

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Neben Raphael Georg Kiesewetter findet in den Quellen insbesondere die Tochter Irene Kiesewetter (1809–1872) als Akteurin eines weiten musikbezogenen Netzwerkes Erwähnung.19 Sie galt als herausragende Pianistin (»eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens«20) und war u. a. im Schubert-Kreis aktiv. 1832 heiratete sie den (ebenfalls im Schubert-Kreis um die Grazer Pianistin und Salonière Marie Pachler21 engagierten) Juristen, Diplomaten, Reiseschriftsteller und Orientexperten Anton Graf Prokesch von Osten und führte an wechselnden Orten einen musikalischen Salon. Auch in ihrem Haus war die Idee einer künstlerisch-wissenschaftlichen Geselligkeit omnipräsent, »beinahe täglich [wurde] in Wien musiziert, im Hause Kiesewetter und Prokesch sowie in anderen Salons«22, zu denen sich zusätzlich zum Familien- und Freundeskreis Kollegen und durchreisende Gäste aus Kunst, Politik, Wissenschaft in beständig wechselnden Konstellationen gesellten. Häufig ergaben sich unter den Musizierenden stabile, kontinuierliche Musik-Partnerschaften, die die jeweilige Familie zu einem Teil ebenso engmaschiger wie ähnliche Interessen verfolgender Netzwerke machte, aber auch wechselnde musikalische Konstellationen, insbesondere dann, wenn durchreisende Musikerinnen und Musiker zu Gast waren. Der älteste Sohn des musisch-wissenschaftlichen Ehepaares Prokesch von Osten,23 Anton (1837– 1919), führte ein solches ›Haus‹ weiter. Er hatte 1861 die Schauspielerin Friederike Goßmann (1838–1906) geheiratet,24 deren Mutter und Schwester ebenfalls Opernsängerin/Schauspielerin waren. 19 Vgl. Ingeborg Harer, Art. »Irene Kiesewetter«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff., online unter https://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/ Irene_Kiesewetter.html, letztes Update 18. September 2018, (abgerufen am: 11. August 2020) sowie Harer, Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) (Anm. 18). 20 Johann Baptist Jenger in einem Brief an Marie Pachler, Wien, 29. Jänner 1828, zit. nach: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, gesammelt und erläutert von Otto Erich Deutsch, Kassel und Basel 1964, S. 486–487, hier: S. 486. 21 Ingeborg Harer, Art. »Pachler, Familie«, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_P/Pachler_Familie.xml (abgerufen am: 11. August 2020). 22 Harer, Irene Kiesewetter verh. Prokesch-Osten (1811–1872) (Anm. 18), S. 260. 23 Das Ehepaar hatte fünf Söhne und eine Tochter, wobei nur der älteste Sohn Anton sowie die Tochter Irene (1841–1898) das Erwachsenenalter erreichten (siehe Harer, Art. »Irene Kiesewetter« (Anm. 19). Vgl. hingegen die Angaben in biographiA (drei Söhne, eine Tochter): Ilse Korotin (Hg.), biographfiA. Lexikon österreichischer Frauen, Bd. 2, Wien, Köln und Weimar 2016, S. 1639. 24 Friederike (»Fifi«) Prokesch von Osten, geb. Goßmann, trat nach ihrer Verheiratung nur noch sporadisch (ehrenamtlich) als Schauspielerin auf. In der gemeinsamen Villa des Ehepaares in Gmunden richtete sie einen Raum der Memoria ihres Erfolgs als Schauspielerin ein (»Grillenzimmer«). Siehe Curt von Zelau, »Bei der Grille. Ein Besuch in Gmunden«, in: Bohemia. Ein Unterhaltungsblatt, Beilage zu Nr. 278 (7. Oktober 1875), S. 3–4.

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Die Verbindungen der Familie Kiesewetter/Prokesch/Ambros in die Kreise der Wiener Orientalistik sind für sich genommen wiederum bezeichnend, wird hier doch exemplarisch und relativ konkret erkennbar, wie musikalische Wissens­ produktion im ›Haus‹ stattfand: Vater Kiesewetter arbeitete für seine Studie Die Musik der Araber eng mit dem Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall und seinem Schwiegersohn Anton Prokesch von Osten zusammen; die Studie war gewissermaßen das Ergebnis eines (mindestens) dreijährigen, kontinuierlichen, (modern gesprochen) interdisziplinären Experten-Austauschs.25 Über seine eigene Vernetztheit in Wiener Musikkreise berichtet Hammer-Purgstall übrigens in seinen Erinnerungen, u. a. von regelmäßigen Besuchen bei den Abendgesellschaften »im Hause der Freiin von Krufft«, einer ausgezeichneten Pianistin26 und, »Mutter meines Freundes[27], wo öfter Ignaz Sonnleithner die Gesellschaft 25 Diese Zusammenarbeit wird in der Publikation explizit ausgewiesen, indem Joseph von HammerPurgstall ein Vorwort verfasste und die gesamte Studie Prokesch von Osten gewidmet ist, der von Kiesewetter im Widmungstext nicht nur als »Wanderer des Ostens« bezeichnet wird, sondern explizit auch als »geehrte[r] und theure[r] Schwiegersohne«. (vgl. Raphael Georg Kiesewetter, Die Musik der Araber, Leipzig 1842 [Widmungsblatt, o.S.]). Hammer-Purgstall erwähnt im Vorwort, wie er mit dem »verehrten Freund« Kiesewetter zusammengearbeitet hat: Nachdem er »in den Wörterbüchern keine genaue Belehrung« gefunden habe, sei er in laufenden Gesprächen mit Kiesewetter auf »Belehrung und Erklärung« gekommen: »Ich nahm […] meine Zuflucht zu dem, durch seine musikalischen Schriften […] rühmlichst bekannten Hrn. Hofrath Kiesewetter, und bat ihn, die arabischen, persischen und türkischen Werke über arabische, persische und türkische Musik, die ich besitze, oder die mir zugänglich, mit mir zu durchgehen, damit der Inhalt derselbst nicht sowohl mir dem Orientalisten (der ein Laie in der Musik), als ihm zur Förderung europäischer Kunde vom musikalischen Systeme der obgenannten drei Völker, verständlich werden möge. Die Schwierigkeit dieser Arbeit war keine geringe, und ohne die persönliche Freundschaft und unermüdliche Geduld des Hrn. Hofrathes Kiesewetter wäre es mir wohl nie gelungen, […] die nothwendigsten Kunstwörter zu verstehen […]. In dem Maasse als wir unsere musikalisch-philologischen Sitzungen bis in’s dritte Jahr fortgesetzt, fielen mir die Schuppen vom Auge, und ich gewann, durch meines verehrten Freundes Belehrung und Erklärung, wenigstens das philologische Verständnis der von uns gemeinschaftlich durchgearbeiteten achtzehn Werke.« ( Joseph von Hammer-Purgstall, »Vorwort«, in: Ebd., S. VII-XII, hier: S. VII-VIII.) Auch Kiesewetter seinerseits berichtet vom gemeinsamen Arbeiten in seinem Vorwort: »Ein als Philolog, Geschichtsschreiber und Dichter durch mannigfaltige und grosse Werke längst berühmter Gelehrter […] – der verdienstvolle Freiherr von Hammer-Purgstall – macht mir im J. 1839 das Erbieten, die bei uns in Wien vorfindlichen Handschriften über die Musik der Orientalen mit mir durchzugehen; und wirklich hatte er die ausserordentliche Gefälligkeit, im Verlauf zweier Winter, anderthalb Dutzend […] Handschriften […] mir vorzulesen, deren Inhalt zu erklären und mit mir zu besprechen.« Ebd., S. XVI. 26 Anna Maria von Krufft, geb. Freiin von Haan, s. Constant Wurzbach, Art. »Krufft, Nikolaus Freiherr von«, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 13, Wien 1865, S. 276–278. 27 Nikolaus von Krufft, der eine politische Laufbahn als Staatskanzleirat in der Regierung Metternich einschlug, zugleich aber auch als Komponist in Erscheinung trat, u. a. mit mehreren Lied-Drucken. Vgl. dazu Gundela Bobeth, »Lieddedikationen an den Wiener Adel. Zur Bedeutung und Neukontextualisierung der Gattung ›Lied‹ vor Schubert«, Vortrag, Beethoven-Geflechte. Networks an Cul-

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durch Vorträge höchst witzig unterhielt, der jüngere Sohn, Nikolaus, mit selbstkomponierten Liedern, die er auf dem Fortepiano vortrug, Beifall erntete oder die jüngere Schwester Justine die Früchte ihrer lyrischen Muse vorlas.«28 Auch hier also ein ›Haus‹ im oben genannten Sinn, übergenerationeller Ausbildungsund Begegnungsraum, ausgehend von der pianistisch ausgebildeten Mutter und mit Gästen wie dem Juristen und Musikförderer Ignaz Sonnleithner,29 der selbst einem zutiefst mit der Wiener Musikkultur verbundenen ›Haus‹ entstammte, in dem sich der Orientalist Prokesch-Osten seinerseits musikalische Expertise aneignen konnte, auch wenn er sich im Vorwort zu Kiesewetters Musik der Araber in paratextuell üblicher Bescheidenheitsgeste als »Laie« tituliert. Und während sich die konkrete Anzahl der auf diese Weise verbundenen ›Häuser‹ noch beträchtlich erweitern ließe, ist schon hier anzumerken, dass auch in der Ambros-Linie der Familie eine Affinität zur Orientalistik erkennbar werden wird. Mit der jüngsten Schwester von Raphael Georg Kiesewetter, der pianistisch ausgebildeten Karoline Kiesewetter (1786–1873), setzte sich der Familienzweig der böhmischen Familie Ambros fort: August Wilhelm Ambros war der Sohn tures of Memory. Internationale und interdisziplinäre Tagung zum Beethoven-Jahr 2020, Wien, 19.–22. Mai 2020 (online-Konferenz), (Druck in Vorb.). 28 Joseph von Hammer-Purgstall, Erinnerungen aus meinem Leben: 1774–1852, hg. u. bearbeitet von Reinhart Bachofen von Echt, Wien und Leipzig 1940, S. 26. Hammer-Purgstall berichtet nicht nur von eigenen Musik-Studien, sondern auch von anderen musikalischen Gesellschaften, die er aufmerksam besuchte, darunter auch die Akademien bei dem Wiener Musiksammler Franz Bernhard Ritter von Keeß: »Im Winter war ich fleißiger Besucher der musikalischen Abende bei Hofrat von Keess, dessen älterer Sohn mein Schulkamerad im Theresianum gewesen, wo sich ein gewählter Kreis musikliebender Männer und Frauen und einiger zwanzig Fräulein zusammenfand. Diesen letzten besang ich in einem für jede mehr oder minder schmeichelhaftem Gedichte, das ich die ›Kaaba der Mädchen‹ betitelte. Es ward nie gedruckt, wohl aber das auf ›Die musikalischen Gesellschaften bei Herrn Hofrat Franz Georg Edlen von Keess‹ in acht Strophen. Dieses wurde in der Gesellschaft verteilt sowie bei der ersten Aufführung von Haydns ›Schöpfung‹ bei Fürst Schwarzenberg meine darauf verfaßten und seitdem im ersten Jahrgang des musikalischen Taschenbuches ›Orpheus‹ aufgenommenen Verse.« (Ebd., S. 34). 29 Ignaz von Sonnleithner war Sohn des Juristen und Komponisten Christoph Sonnleithner. Ignaz’ Bruder Joseph war Buchverleger, Beamter, Archivar und Schriftsteller. Er gab nicht nur den Wiener Theater-Almanach heraus, sondern schrieb auch Libretti (darunter Fidelio, vertont von Ludwig van Beethoven), darüber hinaus engagierte er sich in der Gründungsphase der Gesellschaft der Musikfreunde, deren erster Sekretär er war. Unter den Kindern von Ignaz von Sonnleithner waren seine Tochter Johanna (Pianistin), Anna Franziska (ebenfalls Klavier spielend, verheiratet mit Wenzel E. J. Grillparzer und Mutter des Dichters Franz Grillparzer), sowie Leopold, der ebenfalls Jurist und Musiker war, Konzerte im Hause seines Vaters organisierte, zum Schubert-Kreis gehörte und Schubert bei der Veröffentlichung seiner Lieder unterstützte. Vgl. Alexander Rausch, Art. »Sonnleithner, Familie«, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_S/ Sonnleithner_Familie.xml (abgerufen am: 29. Mai 2020).

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von Karoline Kiesewetter und Wenzel Andreas Ambros (1790–1856). August Wilhelm heiratete Therese (oder Theresia) Jäger, und von den acht überlebenden Kindern dieser Ehe schlugen drei eine künstlerische Karriere ein (Marie und Irene als Musikerinnen, Raphael als Maler und Orientreisender), wobei Marie ihrerseits eine Musikerehe einging, sie heiratete den aus einer Musikerfamilie stammenden Komponisten Salvatore Auteri-Manzocchi (1845–1924).30 Dass Marie gelegentlich als »Mitarbeiterin«31 ihres Mannes bezeichnet wird, lässt auf ähnliche Arbeitskonstellationen schließen, wie sie im Haus Kiesewetter/Ambros seit mehreren Generationen angelegt waren, und die sich auch darin widerspiegeln, dass Irene Schlemmer-Ambros als Sängerin Kompositionen ihres (zumindest in Prag noch nicht allzu bekannten) Schwagers auf ihre Konzertprogramme setzte.32 Der Familienzweig Ambros war zunächst in Prag ansässig und, wie es in der Prager Zeitung Bohemia 1896 berichtet wurde, hier insbesondere durch den Salon von August Wilhelm Ambros bekannt: Schon gegen Ende der Vierziger-Jahre war Ambros entschieden in auswärtigen Kunstkreisen die meistbekannte Persönlichkeit Prags, und kein durchreisender Musiker versäumte es ihn zu besuchen. Leute, die etwa mit Schumann, Mendelssohn, Hiller, Liszt oder Robert Franz in Verkehr treten wollten, bedienten sich in der Regel seiner Vermittlung. Die geistvollen Aperçus, womit er seine Rede würzte, das ausgebreitete Wissen, worüber er gebot, die Selbständigkeit seines Urtheils mitten im Meinungskampfe der Parteien schufen ihm ein sehr bedeutendes Ansehen, so daß, als er 1872 unsere Stadt verließ, mit ihm eine allgemein anerkannte Autorität verloren ging, wie sie Prag – in dieser Art wenigstens – seither nicht wieder gehabt hat.33

30 Liliana Panella, Art. »Auteri-Manzocchi, Salvatore«, in: Dizionario Biografico degli Italiani, online unter http://www.treccani.it/enciclopedia/salvatore-auteri-manzocchi_(Dizionario-Biografico) (abgerufen am: 11. August 2020). Mitglieder der Familie Auteri-Manzocchi waren u. a. als Sänger_innen und Librettisten tätig. 31 Marcello Conati und Sergio Martinotti, Art. »Auteri-Manzocchi, Salvatore«, in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart und New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1999, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg-2online-1com-1004790gz04c9.han.onb.ac.at/mgg/stable/18329 (abgerufen am: 11. August 2020). 32 »Kammermusik. Montag, den 16. […] findet im Sophieninselsaale der zweite diesjährige Gesellschaftsabend für die Mitglieder des Kammermusikvereines statt, in welchem die Concertsängerin (Altistin) Frau Irene Ambros-Schlemmer aus Pest, Schülerin der Gesangsmeisterin Frau Marchesi, und der Pianist und Compositeur Hr. Julius Zellner aus Wien mitwirken werden. Erstere wird eine Cantate von Marcello und Lieder von Brahms, Liszt und Auteri-Manzocchi vortragen […].« Prager Tagblatt (13. März 1885), S. 4. 33 R. B.: »Ambrosiana«, in: Bohemia. Beilage Nr. 1 (1. Jäner [sic] 1896), S. 1–3, hier: S. 1.

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Auch in den Erinnerungen seiner Tochter Irene spielte Ambros’ musikalischer Salon34 eine herausragende Rolle: als Begegnungs- und Ausbildungsort insbesondere der musikalisch hochbegabten Töchter Marie und Irene, die beide professionelle Sängerinnen wurden: Als Tochter des berühmten Musikhistorikers August Wilhelm Ambros erhielt ich natürlich die sorgfältigste musikalische Erziehung. Ich erinnere mich nicht, daß es jemals eine Zeit gegeben hätte, in der ich nicht mit Musik vollauf beschäftigt gewesen wäre. Meine früheste Jugend ist voll von Erinnerungen an die bedeutendsten Persönlichkeiten des damaligen Musiklebens, was bei der prominenten Stellung meines Vaters im Musikleben Prags und Wiens eigentlich nur selbstverständlich ist. In unserem Hause verkehrte alles, was im Musikleben Rang und Namen hatte. Ich nenne nur Bülow, Hans Richter, Sophie Menter, Johannes Brahms und vor allem Liszt. Von letzterem bleibt mir eine Szene unvergeßlich. Er kam eines Tages zu uns, als weder Vater noch Mutter zu Hause waren, ging ins Musikzimmer, öffnete das Klavier und rief uns Kinder hinein. Mitten in seinem Spiel kehrte mein Vater zurück und beeilte sich, Liszt zu begrüßen. Dieser brach sein Spiel ab und sagte lächelnd: »Ich habe den Kindern etwas aus meiner ›Heiligen Elisabeth‹ vorgespielt.«35

Seine erstgeborenen Töchter schlugen beide musikalische Karrieren ein, Marie als Sopranistin, Irene als Altistin, Gesangspädagogin und Professorin am Wiener Konservatorium bzw. der Akademie für Musik und darstellende Kunst, mithin an jener Ausbildungsinstitution, die ihr Großonkel, Raphael Georg Kiesewetter, zu gründen mitinitiiert hatte. Vermittlung und Gesangspädagogik hatte sich in dieser Ambros-Generation stärker akademisiert, Grundlage dafür war eine enge Verbindung von Gesang, Historie bzw. (Musik)Wissenschaft, die nicht nur das ›Haus‹ Kiesewetter geprägt hatte, sondern sich bis in das pädagogische Selbstverständnis der Wiener Professorin Schlemmer-Ambros fortsetzte. Stärker ausgeprägt (als im Kiesewetter’schen ›Haus‹) zeigt sich in der Ambros34 Dieser Salon wurde dezidiert nicht von Therese, sondern von August Wilhelm Ambros selbst geführt. Martina Procházková vermutet, dass – zumindest in den literarischen und politischen Salons Prags – eine starke Geschlechterseparierung existierte (Martina Procházková, Der literarische Salon. Ein Vergleich zwischen Prag und Wien, unpubl. Diplomarbeit zur Erlangung des Magister-Grades der Philosophie, Leopold-Franzens Universität Innsbruck, Innsbruck 2000). Und auch die Studie von Bonnie Lomnäs, Erling Lomnäs und Dietmar Strauß geht von einem starken Netzwerk von Männern in den Prager Salons allgemein, und dem Prager Davidsbund im Besonderen aus (siehe Bonnie Lomnäs, Erling Lomnäs und Dietmar Strauß, Auf der Suche nach der poetischen Zeit: Der Prager Davidsbund: Ambros, Bach, Bayer, Hampel, Hanslick, Helfert, Heller, Hock, Ulm: Zu einem vergessenen Abschnitt der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Saarbrücken 1999, hier bes. Bd. 1, S. 35–71). Ich danke Anja Bunzel für diesen Hinweis. 35 [Anonym]: »Bei der Meisterin der Ivogün. Gespräch mit Professor Irene Schlemmer-Ambros«, in: Neues Wiener Journal (17. Mai 1924), S. 5–6.

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Familie die Komponente der bildenden Kunst: bei August Wilhelm eher historisch-theoretisch, bei seinem Sohn Raphael, der bei Hans Makart studierte, praktisch. Raphael Ambros war als Maler auf orientalische Sujets spezialisiert, was wiederum dort eine professionelle Schnittstelle zur Kiesewetter-Linie bildet, wo sich das Interesse für den Orient, wie oben angedeutet, ebenfalls ausgeprägt und mit zentralen Akteuren der Orientalistik in Österreich verbunden hatte. Dieser erste Einblick in die Familie Kiesewetter/Ambros mag vorläufig genügen, um zu erkennen zu geben, dass Familie hier nicht als bürgerliche Denkform einer Klein- oder Kernfamilie verstanden wird, die Orte der Musik- und Wissens­produktion entsprechend nicht in ›öffentlich‹ und ›privat‹ separiert, und auch die Frage der Ausbildung nicht in ›professionell‹/›nicht-professionell‹ ­getrennt, sondern entlang den Bedingungen des Familialen als Ausbildungsund Arbeitsraum diskutiert werden. Dazu gehört, dass das ›Haus‹ Kiesewetter/ Ambros – zumindest in den ersten hier betrachteten Generationen – nicht als Rückzugsort und Privatissimum zu verstehen ist, sondern als offener, und mit weiteren, ähnlich agierenden ›Häusern‹ vernetzter Ort der Wissens- und Kunstproduktion. Das ›Haus‹ als Akademie »Im Jahre 1816 begann er seine Sammlung von Partituren alter Musik, wobei ihn hauptsächlich einige damals in Italien lebende musikalische Freunde thätig unterstützten […]. Dabei war sein Haus durch 30 Jahre so zu sagen die Akademie der alten Musik in Wien, wo jährlich einige Male, gewöhnlich im Advent, in der Fastenzeit und besonders in der Charwoche die Meisterwerke eines Palestrina, Allegri, Vittoria, Carissimi, Scarlatti, Jomelli, Durante, Pergolese, Lotti, Caldara, Sebastian Bach, Graun u.v.A. aufgeführt wurden.«36 Wenn in Constant Wurzbachs biographischem Lexikon Raphael Georg Kiesewetters Musikprofession beschrieben wird, klingt jene oben beschriebene Vorstellung eines ›Hauses‹ als Ort des Austauschs und der Ausbildung deutlich durch. Dass Wurzbach von der Sache her Kiesewetters Haus mit einer Akademie gleichsetzt, also mit einer Organisation, die für kontinuierliche Forschung, Archivierung und Aufführung alter Musik einsteht und die im Wien des Jahres 1816 so noch nicht existierte, 36 Constant Wurzbach, Art. »Kiesewetter Edler von Wiesenbrunn, Raphael Georg«, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 11, Wien 1864, S. 252–256, online unter: https://austriaforum.org/web-books/kategorie/lexika/wurzbach-lexikon (abgerufen am: 11. August 2020), hier: S. 252 (Hervorhebung: M.U.).

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ist bezeichnend. Das ›Haus‹ übernimmt hier jene Funktionen, die wenig später in Wien durch Organisationen der Akademisierung von Musik und Wissenschaft etabliert wurden: Die 1814 entwickelten Statuten der Gesellschaft der Musikfreunde benannten mit der Gründung eines Konservatoriums, der Sammlung bzw. des Archivs und einer kontinuierlichen Konzertreihe just jene drei Felder, die zuvor in Kiesewetters Haus stattfanden, und 1817 wurde unter Leitung von Antonio Salieri jene Singschule tatsächlich eröffnet, die als Vorläuferinstitution des Konservatoriums, der (zunächst k. k., dann Staats-)Akademie und damit auch der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien gilt. Wurzbach stellt damit das ›Haus‹ Kiesewetter als Ort dar, an dem die dort initiierten Praktiken identisch sind mit denen der genannten nachfolgenden Institutionen, und der damit als unmittelbarer Vorläufer ebendieser fungierte. Dieser Akademisierungsprozess, an dem Kiesewetter selbst aktiv teilnahm37 und der neue Namen und Begriffe für ähnliche Praktiken einführte, fußt insgesamt auf der Idee einer professionellen Auseinandersetzung mit (der Geschichte) der Musik, die in Kiesewetters Haus praktiziert wurde. Solche Praktiken zu erlernen, war Teil des Arbeits- und Ausbildungsraumes ›Haus‹, und basierte auf einem professionellen Selbstverständnis, das der Kultursoziologe Andreas Reckwitz als Praktiken professioneller Disziplinierung mitsamt der Herausbildung von Kompetenzen und Disziplinierungsstrategien als Voraussetzung von professioneller Souveränität beschreibt: Ein solches »rechtschaffende[s], die Persönlichkeit als ganze, d. h. auch private Anteile beinhaltendes Arbeitssubjekt« stand dabei nicht nur für sich selbst, sondern war Teil des ›Hauses‹ und darüber hinaus im ständigen Kontakt mit weiteren ›Häusern‹, die in intensivem und kontinuierlichem Austausch in das gemeinsame Handeln eingebunden wurden.38 Auf diese Weise wurde im ›Haus‹ Kiesewetter Musik gesammelt und archiviert, Musik ausgewählt und aufgeführt, gehört, über Musik (und die Notwendigkeit guter musikalischer Ausbildung) kommuniziert etc., ohne dass die Tatsache, dass diese Praktiken im Haus stattgefunden haben, diese zu Praktiken des Privaten gemacht hätten. Zugleich aber war das Haus de facto Lebensraum der an diesen Aktivitäten beteiligten Familienmitglieder. So wird plausibel, wenn Ingeborg Harer über die Ausbildung Irene Kiesewetters schreibt, dass in einem so gedachten Haus musikbezogene Ausbildung auch dort stattfand, wo sie in 37 So war er etwa 1821–1843 Vizepräsident der Gesellschaft der Musikfreunde. Detaillierte Informationen zu Kiesewetters Tätigkeiten finden sich bei Kier, Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850) (Anm. 16). 38 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 121.

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Quellen nicht mehr greifbar wird: »Das Haus Kiesewetter war im Wien der 1820er-Jahre einer der wichtigsten Treffpunkte für die Musikwelt. Über Irene Kiesewetters musikalische Ausbildung gibt es keine Informationen. Es fehlen jegliche Hinweise bei wem, wann und wo sie ihren wohl fundierten Klavierunterricht erhalten haben könnte. Die beste Schulung erhielt sie wohl durch die Musikabende in ihrem Elternhaus.«39 Das ›Haus‹ Kiesewetter war freilich kein Ort, an dem sich ein Beruf im modernen Sinne ausüben ließe, und zwar weder für Raphael Georg Kiesewetter noch für seine Tochter Irene, zumal beide keine (akademische) Musikausbildung und Spezialisierung erhalten hatten, wie sie dann im Laufe des 19. Jahrhunderts sowohl für Wissenschaftler als auch für Musikerinnen und Musiker üblich wurden. Zwar wird der Beruf des Vaters Kiesewetter in den einschlägigen Lexika mit Musikgelehrter oder –historiker angegeben (»gelehrter Musik­schrift­stel­ ler«40/1864, »hochgeschätzter Musikgelehrter«41/1882, »Musikhisto­r iker«42/ 1965, »Musikforscher«43/2003),44 doch all das war er eben so wenig von Berufswegen wie die Tochter Pianistin. Raphael Georg Kiesewetter und Irene Prokesch von Osten unternahmen ihre musikbezogenen Aktivitäten nicht als ›Beruf‹, aber doch mit professionellem Elan und der im ›Haus‹ erlebten Form der Professionalisierung45, vor allem einem Selbstverständnis als Experte bzw. Expertin. Mit Reckwitz könnte man sagen: Raphael Georg Kiesewetter war als »Arbeitssubjekt« Musikgelehrter; mit ähnlicher Grundhaltung war Irene Kiesewetter, verh. Prokesch von Osten Pianistin. Die folgende Generation sah sich dann, wie noch 39 Harer, Art. »Irene Kiesewetter« (Anm. 19). 40 Wurzbach, Art. »Kiesewetter Edler von Wiesenbrunn, Raphael Georg« (Anm. 36), S. 252. 41 Carl Ferdinand Pohl, Art. »Kiesewetter, Raphael Georg«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 15, Leipzig (1882), S. 731–733, hier: S. 731. 42 [Anonym], »Kiesewetter von Wiesenbrunn, Raphael Georg«, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL), Bd. 3, Wien 1965, S. 327–328. 43 Herfrid Kier, Art. »Kiesewetter, Raphael Georg«, in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart und New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 2003, online veröffentlicht 2016, https:// www-1mgg-2online-1com-1004790w00229.han.onb.ac.at/mgg/stable/47068 (abgerufen am: 11. August 2020). 44 Auch August Wilhelm Ambros zeichnet eine multiple Professionalität aus: Wie sein Onkel war er studierter Jurist, arbeitete im Staatsdienst ( Justizministerium), galt aber bereits zu seinen Lebzeiten als (Musik)Wissenschaftler, war als Professor am Konservatorium tätig und fungierte als Lehrer (für Kunstgeschichte) von Erzherzog Rudolf. 45 Hier bezieht sich der Begriff auf den »zeitlichen Prozess, der […] auf der individuellen Ebene […] den […] Prozess der Qualifizierung und die Erlangung von Professionalität durch eine Fachkraft« meint. Vgl. Gudrun Ehlert, Art. »Professionalisierung«, in: socialnet Lexikon online, https://www. socialnet.de/lexikon/Professionalisierung, letztes Update 15. Oktober 2019, (abgerufen am: 11. August 2020).

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zu zeigen sein wird, bereits mit einem anderen Professionalitätsbegriff konfrontiert. Bezeichnend für diese Form des nicht berufsmäßigen, aber hoch professionalisierten Künstler- und Gelehrtentums ist, dass die Felder, die im ›Haus‹ Kiesewetter dazu genutzt, gepflegt, weiterentwickelt und nicht zuletzt auch verknüpft wurden, vielfältig waren: Neben Musik/Musikausbildung und der Herausbildung musikhistorischer und –historiographischer Expertise finden sich auch Jura/Diplomatie/Politik,46 Orientalistik und Literatur. Auch das durch Geselligkeiten geförderte gesellschaftliche Engagement, Wissens- und Kulturvermittlung und sowohl orale wie literate Formen der Kommunikation sind omnipräsent. Professionelle Musikpraxis im Haus: Eine Quelle gibt Einblick Das ›Haus‹ Kiesewetter als offenen, übergenerationellen Ausbildungsort und als Ort der Begegnung und des Austauschs zu verstehen, rückt auch die regelmäßigen Konzerte in den Fokus: Hier sollten nicht nur die gesammelten Partituren zum Klingen gebracht werden, um sich eine klangliche Vorstellung vergangener Musik machen zu können, sondern auch jungen Musikerinnen und Musikern Möglichkeiten des Auftretens gegeben werden. Diese Konzerte wiederum wurden dokumentiert, allerdings nicht als Teil einer Familiengeschichte (Musik im Hause der Familie Kiesewetter), sondern – und hier werden die »Grenzen zwischen Beruf und Privatleben« im Sinne Ariès’ sichtlich ungültig – um sie geradezu aktenkundig, d. h. auch historisierbar zu machen. Im ›Haus‹ Kiesewetter fanden seit 1816 und bis 1838 kontinuierlich, dann noch bis 1842 sporadisch Historische Hauskonzerte statt. An ihnen lässt sich exemplarisch ablesen, wie passgenau solche Ereignisse mit einer Vorstellung von ›Haus‹ korrelieren, wenn man dieses als Ort von Arbeits- und Ausbildungszusammenhängen, als Ort musikbezogener Wissensproduktion denkt, mit Akteurinnen und Akteuren als Interessensgemeinschaft, die Familie nicht allein verwandtschaftlich versteht. In der Wienbibliothek werden Notizen47 von Aloys Fuchs verwahrt, die mit dem 21. April 1841 datiert sind. Fuchs, als Beamter im Hofkriegsrat, Mitar46 Raphael Georg Kiesewetter war zunächst Kanzlist in der Kriegskanzlei der Reichsarmee, ab 1807 dann Rat des Hofkriegsrates zu Wien. Die beiden Söhne Guido und Julius verfolgten militärische Laufbahnen. Angaben nach Othmar Wessely, Art. »Kiesewetter, Raphael« in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S.  597  f. online unter https://www.deutsche-biographie.de/pnd118722239. html#ndbcontent (abgerufen am: 11. August 2020) und Wurzbach, Art. »Kiesewetter Edler von Wiesenbrunn, Raphael Georg« (Anm. 36). 47 Wienbibliothek im Rathaus, Inv.-Nr. 177.415, Autor: Aloys Fuchs.

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beiter von Kiesewetter und dessen Musikleidenschaft insbesondere auch als ausgewiesener Musiksammler teilend,48 hielt in diesen Notizen Details der Konzerte im Hause Kiesewetter retrospektiv fest: wann sie stattfanden, was aufgeführt wurde, wer daran beteiligt war, wer sie leitete etc. Die Gesamtkonzeption, so Fuchs, habe »Hofr. K[iesewetter inne,] welcher diese Aufführungen blos alleine in der Absicht unternommen hat, um die Fortschritte und allmähliche Ausbildung […] zu versinnlichen«.49 Mit dem Hinweis auf Ausbildung waren nicht nur die Ausübenden gemeint, sondern durchaus auch alle anderen Beteiligten, die auf diese Weise eine (akustische) Vorstellung von Musikgeschichte erhielten. Diese Idee, Musikgeschichte auch hörend zu vermitteln, begegnet später – das sei an dieser Stelle vorweggenommen – im Ambros-Familienzweig wieder. Weiter heißt es in Fuchs’ Notizen: »Der weibliche Chor […] (Soprani u[nd] Alti) besteht aus den Gesangsschülerinnen der höhern Classe des hiesigen Conservatoriums unter der unmittelbaren Leitung ihrer Lehrerin, Fräulein Nanette Fröhlich, und die Solostimmen wurden in der letzteren Zeit den Privat-Schülerinnen der Letzterenn, so wie von […] ihrer Schwester Josephine Fröhlich ausgeführt.«50 Damit ist ein weiterer Kreis benannt, der im Haus Kiesewetter Teil jener Ausbildung »in der Praxis« wurde: Namentlich erwähnt wird zunächst die Sängerin, Gesangspädagogin und Pianistin Anna (Nanette) Fröhlich,51 die selbst als Veranstalterin von Konzerten tätig war, wie Irene Kiesewetter dem Schubert-Kreis angehörte und ab 1814 in der neu gegründeten Gesellschaft der Musikfreunde als »Ausübendes Mitglied« aktiv war, sowohl als Mitwirkende bei den musikalischen Veranstaltungen als auch als Gesangslehrerin am dortigen Konservatorium: »Ueberhaupt dürften die vier Schwestern Fröhlich für die Kunst, namentlich für den Gesang, mehr gewirkt haben als so manche Europa=berühmte Amazone von der Kehle, und wurden in dankbarer Anerkennung ihrer regen Theilnahme, ihrer unermüdlichen Bestrebungen für diese classischen Concerte von allen Mitgliedern dieses Kunstvereines als die Stützen desselben betrachtet und bewundert.«52 Neben Anna Fröhlich sind hier die Schwestern Katharina, Barbara und Josephine genannt, insbesondere Letztere 48 Andrea Harrandt, Art. »Fuchs, Aloys Anton«, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www. musiklexikon.ac.at/ml/musik_F/Fuchs_Aloys.xml (abgerufen am: 11. August 2020). 49 Harrandt, Art. »Fuchs, Aloys Anton« (Anm. 48). 50 Aloys Fuchs, »Notizen«, Wienbibliothek im Rathaus, Inv.-Nr. 177.415, S. [1]. 51 Ingeborg Harer, Art. »Anna Fröhlich«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff., online unter http://mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Anna_Fröhlich, letztes Update 17. April 2018, (abgerufen am: 11. August 2020). 52 Aloys Fuchs, »Aus Wien« [Bericht über Hauskonzerte bei Raphael Georg Kiesewetter], in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und die Wissenschaft 4 (1842), S. 311–312.

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war eine international anerkannte Konzert- und Bühnensängerin, vor allem Schubert- und Rossini-Interpretin, komponierte außerdem für die Konzerte im Hause Sonnleithner, ein Name, der bereits im Hause Krufft begegnet war, und gehörte ebenfalls zum Kreis um Franz Schubert.53 Die Kreise, die sich auf diese Weise mit den Schwestern Fröhlich als zentralen Akteurinnen abbilden lassen, beinhalten Namen, Räume, Genres und Ideen, die eng mit den bislang betrachteten Netzwerken sowohl institutionell (Gesellschaft der Musikfreunde, Konservatorium, Wiener Gesangsausbildung etc.) als auch ästhetisch (Lied, Schubert, Grillparzer, Sonnleithner etc.) und räumlich (Salon, Zirkel, Haus, Konzertsaal/ Theaterbühne) verbunden sind. Die musikbezogenen Praxisbündel, die hier im Detail zu beobachten wären, umfassen dabei neben Musik komponieren, einstudieren und aufführen auch das Unterrichten, Diskutieren, Beschreiben, Archivieren und Historisieren von Musik. Und mögliche Grenzen solcher Praktiken sind zumindest fluide: Was ist Profession, was Expertentum, was Laientum? Wer definiert dies und in welchem Verhältnis steht die Ausbildung hierzu? Was heißt Öffentlichkeit, viel schwieriger noch: Was heißt privat in einem ›Haus‹ wie dem der Familie Kiesewetter, in dem Konzerte wie Akademien veranstaltet wurden? Dass solche Grenzen modernen Perspektiven geschuldet sind, wird an einem weiteren Detail der Quelle deutlich. Neben den inhaltlichen Informationen wird an den Notizen von Aloys Fuchs erkennbar, dass die 1841 aufgeschriebene Dokumentation über eine langjährige Konzert-Praxis berichtet und zugleich versucht, diese nicht im Sinne von persönlichen Erinnerungen, sondern nach historiographischen Maßgaben festzuhalten. Es sind keine Memoiren – einem um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus gängigen Genre54 –, sondern akribische Protokolle: Hierzu gehören eine übersichtliche Gliederung, die Fixierung der beteiligten Akteurinnen und Akteure, aber auch eine gewisse Detailgenauigkeit, die in den Marginalien deutlich wird, die auf weitere Bearbeitung des Textes schließen lassen: »Hier sind die Namen der Komponisten anzuführen, und alphabethisch geordnet herzusetzen, welche ich in dem ** mit NB bezeichnet habe. AF«55 Tatsächlich erschienen die Notizen, leicht modifiziert, bereits 1842 in den Jahrbüchern des Deutschen Nationalvereins für Musik und die Wissenschaft. Die (noch) aktuelle Konzert-Praxis im 53 Ingeborg Harer, Art. »Josephine Fröhlich«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff., online unter http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Josephine_Fröhlich, letztes Update 17. April 2018, (abgerufen am: 11. August 2020). 54 Vgl. dazu Melanie Unseld, »Wer erinnert, wie und warum? Erinnerungen von Zeitgenossen über Musikerinnen und Musiker«, in: Zeitzeugen der Musik, hg. von Elisabeth Schmierer, Lilienthal (Druck in Vorb.). 55 Fuchs, »Notizen« (Anm. 50).

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Haus Kiesewetter wurde mithin durch Fuchs, selbst Teilnehmer dieser Praxis und als Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde mit Fragen des Archivierens bestens vertraut, für die Geschichtsschreibung fixiert, aus dem kommunikativen Gedächtnis gelöst und zu einer Quelle transformiert. Aus der ›Haus‹-MusikPraxis wird dokumentierte Geschichte. Unter den Sängerinnen taucht im Übrigen noch ein weiterer Name auf: ­Mathilde Graumann, die als Schülerin bei den Historischen Hauskonzerten im ›Haus‹ Kiesewetter sang. Sie heiratete den Bariton Salvatore Marchesi. Das Sänger-Ehepaar hatte eine gemeinsame Tochter, Blanche Marchesi, die ebenfalls Sängerin wurde, insbesondere im Konzertfach auftrat und als Pädagogin erfolgreich war (zu ihren Schülerinnen zählte Nellie Melba). Mathilde Marchesi verfolgte eine internationale Karriere und war darüber hinaus Gesangsprofessorin, u. a. am Wiener Konservatorium, jener Singschule, der sie entstammte, und unterrichtete auch privat, wobei Irene Schlemmer-Ambros zu ihren Schülerinnen zählte. »Ich stamme aus einer Musikerfamilie«: Die Perspektive von Irene Schlemmer-Ambros Als Irene Schlemmer-Ambros 1933 nach ihrer Herkunft gefragt wurde, sagte die damals 80-Jährige: »Ich stamme aus einer Musikerfamilie«.56 SchlemmerAmbros scheint hier eine Vorstellung vom ›Haus‹ in Anschlag zu bringen, die deutlich an das von Wurzbach so genannte ›Haus‹ Kiesewetter anschließt. Weder geht es um eine Kernfamilie im engeren, blutsverwandtschaftlichen Sinne, sondern um Konstellationen von Familie, Geselligkeit, Kollegen- und Freundeskreis bis hin zum Institutionellen, immer aber explizit mit der Idee des Familialen als Ausbildungsraum verbunden. Schlemmer-Ambros schreibt: 56 C. M.: »Achtzigjährige Lieblingsschülerin der Marchesi über Liszt«, in: Neues Wiener Journal (26. November 1933), S. 11–12. Dass Schlemmer-Ambros dabei den Begriff der Musiker- nicht den der Gelehrtenfamilie verwendet, ist nachdenkenswert, denn obgleich ihr Großonkel Raphael Georg Kiesewetter als mäßiger Flötist und leidlicher Bassist aktenkundig geworden ist und ihr Vater Wilhelm Ambros auch Klavier gespielt hat, sind es insbesondere die Frauen der Familie, die als Musikerinnen in Erscheinung traten. Da Irene Schlemmer-Ambros nicht direkt auf diese weibliche Genealogie Bezug nimmt, ist von einem Musikbegriff auszugehen, der alle bei den Geselligkeiten gepflegten musikbezogenen Praktiken (Praxisbündel) in Betracht zieht: Als Musikerfamilie hat damit für Schlemmer-Ambros auch das Elternhaus gegolten, in dem Musiker_innen wie Franz Liszt, Clara Schumann u. a. zur ›Familie‹ gehörten und in dem Musik nicht nur komponiert und interpretiert, sondern auch diskutiert, historisiert, archiviert und unterrichtet wurde. Zugleich sucht Schlemmer-Ambros mit dieser Formulierung Anschluss an eine bürgerliche Musizierpraxis: »Wie in vielen kunstliebenden Bürgerfamilien der damaligen Zeit fanden sich auch bei uns Künstler und künstlerisch hochstehende Dilettanten zu gemeinsamem Musizieren zusammen« (ebd.).

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Die eigentliche Schule aber, die mir Musik zum Lebenselement machte, ist doch das Vaterhaus gewesen. Zu unserem Freundeskreis gehörte Klara Schumann, die mir nicht nur als Musikerin, sondern auch durch ihr menschlich anziehendes, von Lauterkeit erfülltes Wesen überaus großen Eindruck machte. Außerdem verkehrte Hans v. Bülow in unserem Hause, die berühmteste Pianistin Sophie Menter, Julius Epstein, der noch junge und unbekannte, zu jener Zeit schwer ringende und in ärmlichen Verhältnissen lebende Komponist Friedrich Smetana sowie der bereits auf der Höhe seiner Berühmtheit stehende Johannes Brahms. Besonders freundschaftlich war aber Franz Liszt meinem Vater zugetan. Er ist oft Gast in unserem Hause gewesen und hatte auch für uns Kinder viel übrig. Wenn er spielte, liebte er es, uns als Publikum um sich zu haben.57

Im Vordergrund dieser Rückschau der 80-jährigen Gesangsprofessorin steht das Vaterhaus als gründliche, allgemeine, ästhetische Schulen übergreifende Ausbildungsstätte. Diese pädagogische Haltung verfolgte Schlemmer-Ambros als Lehrende selbst, wenngleich sie kein eigenes ›Haus‹ dafür führte, sondern diese Idee nunmehr im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien verwirklichte. Das Narrativ einer Musikerfamilie als Ausbildungsstätte wurde im Übrigen kontinuierlich auch in Rezensionen über Schlemmer-Ambros’ Auftritte bemüht. Die gesanglichen Fähigkeiten wurden immer wieder auf den familialen Kontext rückbezogen (»[…] so gibt der väterliche Name auch der Sängerin Frau Schlemmer-Ambros ein freundliches Geleite. Die Tochter unseres unvergeßlichen Musikhistorikers und Kritikers Dr. Ambros hat zwar nicht […] die Stimme ihres Vaters geerbt – zum Glück, denn Ambros hatte keine – wol aber das musikalische Talent, die gründliche Bildung, das feine Verständniß«58), anders übrigens als bei ihren Kollegen, die vermehrt durch den Hinweis auf berufliche Positionen charakterisiert wurden: »Fr. Schlemmer-Ambros (die Tochter des großen Musikgelehrten A. W. Ambros) und die Herren Steger und Stehlen (der tüchtige Chormeister des hiesigen Singvereines und Sänger des ›Landgrafen‹) […].«59 Ihr Großonkel war aktiv an jenem Prozess beteiligt, die musikalische Ausbildung in Wien zu professionalisieren und entsprechende Ausbildungsstätten zu initiieren; ihr Vater war umgeben von professionellen Musikerinnen und Musi57 Ebd. 58 »Sie erfreute ein gewähltes Publicum im Saale Ehrbar durch ihre wohlklingende Altstimme, deren ausgezeichnete Schulung es ohneweiters erklärt, daß diese Sängerin auch als vortreffliche Gesangslehrerin gerühmt wird.« Neue Freie Presse (7. Dezember 1886), S. 2. 59 Joh[ann] Batke: »Correspondenzen […] Pressburg«, in: Neue Zeitschrift für Musik (28. März 1884), S. 153–154, hier: S. 153. Die Tatsache, dass sich bei weiblichen Familienmitgliedern die öffentliche Sichtbarkeit des Musikerfamilien-Zusammenhangs häufiger zeigt als bei männlichen, lässt sich auch an der Familie Dussek zeigen, vgl. dazu Unseld, Musikerfamilien. Kontinuitäten und Veränderungen im Mikrokosmos der Musikkultur um 1800 (Anm. 9).

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Abb. 1: Plakatankündigung, Sammlung Ambrosiana/ÖNB, Musiksammlung.

kern, die im ›Haus‹ Ambros nicht zuletzt auch für eine hervorragende musikalische Bildung der Töchter sorgten. Für Letztere aber stellte sich die Frage der Professionalität anders dar als für die (Groß-)Elterngeneration. Der Vater ermöglichte seinen beiden musikalischen Töchtern zwar eine exzellente Ausbildung ›im Haus‹, wollte sich aber »nie mit dem Gedanken befreunden, uns eine künstlerische Laufbahn einschlagen zu lassen«, erinnerte sich Irene SchlemmerAmbros. »Trotzdem unser Vater mich und meine musikalisch hochbegabte, über eine wunderschöne Sopranstimme verfügende Schwester Marie durch erste Meister unterrichten ließ«, sprach er sich gegen eine professionelle Sängerinnen-Laufbahn für seine Töchter aus: »›Ich kenne‹, pflegte er zu sagen, ›die Schattenseiten jeder künstlerischen Karriere zu gut, als daß ich wünschen könnte, euch ausübende Künstlerinnen werden zu sehen!‹ Ich mochte in dieser Beziehung vielleicht nicht ganz seiner Meinung sein und setzte deshalb auch nach meiner Vermählung mit dem Primararzt Dr. Josef Schlemmer die Gesangstudien bei Mathilde Marchesi fort.«60

60 C. M., »Achtzigjährige Lieblingsschülerin der Marchesi über Liszt« (Anm. 56), S. 11–12. Zur Ehe von Marie Ambros vgl. oben, S. 300.

Familien-Netzwerke und musikalische Wissensproduktion

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Eine Quelle in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek allerdings gibt darüber Auskunft, dass Ambros die berufliche Karriere der Töchter zumindest tolerierte. Das Plakat, das einen Vortrag von Ambros annonciert, dokumentiert eine Praxis, die noch einmal auf jene Praxis rekurriert, die im Hause Kiesewetter so beständig wie wirkmächtig etabliert worden war, und die Ambros bereits auch in seiner Prager Zeit erfolgreich gepflegt hatte: musikalisch-historische Wissensvermittlung und das Hörenlassen jener Musik, über die gesprochen wird: »Frau Irene Schlemmer-Ambros und Frl. Marie Ambros haben den zur Erläuterung der Vorlesung dienenden Gesangsvortrag der Arien von Monteverde [sic], Cavalli, Salvatore Rosa und A. Scarlatti freundlichst übernommen« (s. Abb. 1). Beschwiegene Familie: Der einsame Wissenschaftler Wenn auch im Zusammenhang mit Irene Schlemmer-Ambros immer wieder ihr (musiko)familialer Zusammenhang öffentlich wird, fallen bei ihrem Vater deutlich stärker Beschweigungstendenzen im Zusammenhang mit dem Familialen ins Gewicht. Dass im MGG-Artikel über Ambros diese von der Tochter so emphatisch hervorgehobene Musikerfamilien-Konstellation nicht erwähnt wird, ist angesichts des lexikographisch konzipierten biographischen Modells für einen Musiker bzw. Musikgelehrten61 noch vergleichsweise erwartbar. Die Deutlichkeit aber, mit der Ambros als Wissenschaftler aus der Familientradition einer umfassenden Praxis der musikbezogenen Wissensproduktion herausgeschrieben und geradezu vereinzelt wird, ist auffallend – und spiegelt zugleich eine historio­ graphische Überzeugung im Sinne Treitschkes wider. Eine letzte Quelle sei hierzu aufgerufen. Graf Ferdinand Peter Laurencin d’Armond veröffentlichte 1877, ein Jahr nach Ambros’  Tod, ein »Memento zu seinem 61. Geburtstag«, das noch im gleichen Jahr gedruckt wurde.62 Es ist ein Text mit auffallend hagiogra61 Die Idee eines für Musikerlexika vorgesehenen Modells geht im deutschsprachigen Raum auf Ernst Ludwig Gerber zurück und entwickelt schon hier geschlechterdivergente Modelle. Dazu Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln, Weimar und Wien 2014, S. 92–100. 62 F. P. Laurencin [Graf Ferdinand Peter Laurencin d’Armond]: Dr. A. W. Ambros. Ein Memento zu seinem 61. Geburtstag. Gedenkfeier für A. W. Ambros, veranstaltet vom Wiener Cäcilien-Verein 7. Dezember 1877, Wien [1877], in der Sammlung Ambrosiana, Miscellanea 84/I (2), ÖNB Musiksammlung. Zum Verhältnis der Musikkritiker Ambros und Laurencin vgl. auch Markéta Štědronská, »A. W. Ambros and F. P. G. Laurencin: Two Antiformalistic Views on the Viennese Musical Life of the 1870s?«, in: Musicologica Austriaca online, http://www.musau.org/parts/neue-article-page/view/23 (abgerufen am: 11. August 2020).

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phischer Attitüde, selbst wenn man ihm eine memoriale Funktion konzediert. Ambros wird vollständig autark, geradezu isoliert dargestellt, nichts wird über seine Netzwerke, seinen Prager Salon oder gar seine in der Musikkultur präsente Familie berichtet. Hinzu kommt die Darstellung seiner Tätigkeiten mit einem deutlichen Hang zum Gebrauch von Superlativen: »Ambros war in des Wortes vollständigstem Sinne ein Alleswisser und Alleskönner im grossen Bereiche, im Weltall des Kennens- und Könnenswerthen.«63 Und: »Innerhalb der sehr weit, ja man möchte beinahe sagen in’s Unendliche gezogenen Grenzpunkte dieses Strebens pflegen denn einer genauen Beobachtung unserer geistigen Daseins- und Thatenvorgänge sehr häufig Erscheinungen aus dem Gebiete der Künstler-, Forscher- und Gelehrtenwelt entgegenzutreten, deren geistestypische Gestalt kaum treffender bezeichnet werden kann, als indem man so geartete Wesen Allköpfe oder Universalgenies nennt.«64 Damit ist jener Begriff gefallen, der den Grund für die das Familiale betreffende Beschweigestrategie abgibt: Das Konzept des Genies, hier auf den Wissenschaftler angewandt, sah weder Ehepartner noch Familie vor, kannte kaum Netzwerke. Und so bleibt jene für die musikbezogene Wissensproduktion so substantielle Geselligkeit, die das ›Haus‹ Ambros über Jahrzehnte hinweg ausgezeichnet hatte, ebenso außen vor wie die Familie.

63 Laurencin, Dr. A. W. Ambros (Anm. 62), S. 4. 64 Ebd., S. 3.

Abbildungsverzeichnis

Henrike Rost Abb. 1: Charlotte und Ignaz Moscheles im Jahr 1854 (Privatbesitz). Abb. 2: Die »Familien-Caricatur« von Rudolf Lehmann in Charlotte Moscheles’ Stammbuch (Privatbesitz).

Vera Viehöver Abb. 1: Blüthen und Ranken edler Dichtung, ausgewählt von A. v. Wyl, Nürnberg o.J. (1895). Abb. 2.: Italo Svevo, Diario per la f indanzata. Introduzione di Gabrielle Contini, Trieste 1987. Abb. 3: Ordinary Mysteries. The Common Journal of Nathaniel and Sophia Hawthorne 1842– 1843, hg. von Nicholas R. Lawrence und Marta L. Werner, Philadelphia 2005, S. 188. Abb. 4: Ordinary Mysteries. The Common Journal of Nathaniel and Sophia Hawthorne 1842– 1843, hg. von Nicholas R. Lawrence und Marta L. Werner, Philadelphia 2005, S. 248.

Anja Zimmermann Abb. 1: Cover des Ausst.-Kat. Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfreunde, hg. v. Sandor Kurthy und Ellen Landau, 21.11.1989 – 4.2.1990 (Kunstmuseum Bern), Bern 1989. Abb. 2: Ausst.-Kat. Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfreunde, hg. v. Sandor Kurthy und Ellen Landau, 21.11.1989 – 4.2.1990 (Kunstmuseum Bern), Bern 1989. Abb. 3: Ausst.-Kat. Lee Krasner – Jackson Pollock: Künstlerpaare – Künstlerfreunde, hg. v. Sandor Kurthy und Ellen Landau, 21.11.1989 – 4.2.1990 (Kunstmuseum Bern), Bern 1989. Abb. 4: ARTNews, Vol. 80, Nr. 11, Dezember 1981. Abb. 5: Rosalind Krauss: L’Atelier de Jackson Pollock, Fotografien Hans Namuth, Paris 1978. Abb. 6: Rosalind Krauss: L’Atelier de Jackson Pollock, Fotografien Hans Namuth, Paris 1978. Abb. 7: Hans Namuth: Lee Krasner in ihrem Atelier in Springs, 1950, Kontaktbogen, aus: Anne Middleton Wagner: Three Artist (Three Women), Berkeley u. a. 1996, S. 162. Abb. 8: Liv Strömquist: I’m Every Woman, Berlin 2019, S. 69. Abb. 9: Liv Strömquist: I’m Every Woman, Berlin 2019, S. 70. Abb. 10: Liv Strömquist: I’m Every Woman, Berlin 2019, S. 70.

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Abbildungsverzeichnis

Anna Langenbruch NB 1: Marcel Landowski, La Prison. Récit Musical et Dramatique pour Soprano, violoncelle solo, flûte, trois trompettes, percussion et orchestre à cordes, Paris 1983. NB 2: Marcel Landowski, La Prison. Récit Musical et Dramatique pour Soprano, violoncelle solo, flûte, trois trompettes, percussion et orchestre à cordes, Paris 1983. NB 3: Marcel Landowski, Galina. Opéra en 2 Actes et 15 Tableaux. Musique et livret de Marcel Landowski. Partition d’orchestre. Livret d’aprés »Galina«, de Galina Vichnevskaïa, Paris 1994. NB 4: Marcel Landowski, Galina. Opéra en 2 Actes et 15 Tableaux. Musique et livret de Marcel Landowski. Partition d’orchestre. Livret d’aprés »Galina«, de Galina Vichnevskaïa, Paris 1994.

Annkatrin Babbe Abb. 1: Mitglieder der Familie Hellmesberger im 19. Jahrhundert, © Ann-Kathrin Babbe.

Melanie Unseld Abb. 1: ÖNB/Wien, Sign. Misc.84 MUS MAG (Sammlung Ambrosiana).

Personenregister Abramović, Marina 9, 167, 235, 236, 240–243, 247, 248 Adler, Jeremy 77 Adorno, Gretel 260 Adorno, Theodor W. 260–262 Alkemeyer, Thomas 56, 57, 62 Allegri, Gregorio 302 Altenberg, Peter 252 Ambros, August Wilhelm 299–301, 304, 308, 309, 311, 312 Ambros, Irene, s. Schlemmer-Ambros, Irene Ambros, Marie 300, 301, 310, 311 Ambros, Raphael 302 Ambros, Wenzel Andreas 300 Amster, Auguste, s. Steuermann, Auguste Anders, Günter, s. Stern, Günter Anderson, Jane 9 Andresen, Sabine 120 Angelis, Marcello de 48 Anguissola, Sofonisba 166 Anna Amalia, Herzogin von SachsenEisenach und Weimar 79 Anschütz, Rosa, s. Hellmesberger, Rosa Anthes, Georg 209 Appel, Bernhard R. 27, 291 Appiani, Giuseppina 45 Ariès, Philipp 293, 294, 305 Aringer, Klaus 296 Arnim, Bettina von 79 Arnold, Hans, s. Ray-Atkinson, John Ascoli, Albert Russell 41 Ashplant, T. G. 119 Asper, Helmut G. 269 Aurnhammer, Achim 70 Außenberg, Julius 267, 268 Austermann, Simone 116 Auteri-Manzocchi, Salvatore 300 Bach, Johann Sebastian 198, 302

Bachofen von Echt, Reinhart 299 Bachrich, Sigmund 285, 286 Baldassarre, Antonio 35, 39, 41, 45, 48 Bankhead, Tallulah 260 Banti, Alberto M. 41, 49 Bär, Ute 27 Barezzi, Antonio 46, 47 Barezzi, Margerita 34 Bargiel, Adolph 20 Bargiel, Cäcilie 20 Bargiel, Clara, s. Schmiedel, Clara Bargiel, Clementine 20, 22, 26 Bargiel, Clementine, jun. 21 Bargiel, Eugen 20 Bargiel, Herman 21 Bargiel, Mariane 19–21, 25, 293 Bargiel, Woldemar 20, 21, 23, 25, 26, 28, 222, 223, 293 Barth, Johann Ambrosius 128 Barthes, Roland 230, 231, 233 Bartlett, Frederic Charles 143 Bashkow, Ira 136 Bateson, Caroline Beatrice 134 Bateson, Gregory 134–139, 142–144 Batke, Johann 309 Bauer, Ingrid 118 Baum, Vicky 273 Beauvoir, Simone de 9 Becher, Bernd 167 Becher, Hilla 167 Beci, Veronika 10 Bedorf, Thomas 239, 240, 248 Beer, Jacob Meyer, s. Meyerbeer, Giacomo Beer, Michael 59–61 Beethoven, Ludwig van 33, 65, 210, 211, 223, 293, 298, 299 Beljan, Magdalena 12, 187, 236 Bellini, Vincenzo 33, 41, 42 Bellotto, Francesco 41, 42 Belo, Jane 139

316 Bendemann, Lida 19 Benedict, Ruth 143 Benetka, Gerhard 122 Benjamin, Dora 127 Benjamin, Walter 127 Berend-Corinth, Charlotte 178 Berger, Renate 165, 194, 248 Bergmann-Michel, Ella 165 Berlau, Ruth 260 Berliner, Alan 134 Bernard, Caroline 10 Berting, Oleg 159 Bertoni, Clotilde 101 Bethe, Katja 87 Beulwitz, Karoline von 73 Bhabha, Homi 237 Bianchi, Paolo 244 Biba, Otto 277 Biesenbach, Klaus 167 Billmann-Mahecha, Elfriede 130, 131 Bischof, Günter 256 Bischoff, Michael 88 Blubacher, Thomas 273 Bluemler, Detlef 244 Bluhm, Andreas 235 Blume, Anna 167 Blume, Bernhard 167 Blumenberg, Hans 221 Bobeth, Gundela 298 Bode, Wilhelm 73 Bodsch, Ingrid 105 Boerner, Peter 89–91, 98, 112 Böhm, Joseph 283, 285, 286, 289 Bohm, Arnd 70, 71 Boisits, Barbara 39, 63 Boissier, Marie-Noële 186 Bolbecher, Siglinde 268, 273 Bolz, Sebastian 291 Bordoni, Faustina 9 Bös, Eva 117 Bouchet, Alain 197 Bourdieu, Pierre 278 Bourré, Jean-Luc 197 Boy-Ed, Ida 69

Personenregister

Brahms, Johannes 29, 147, 210, 211, 223, 300, 301, 309 Brant, Clare 119 Braun, Christina von 292 Braun, Peter 11 Braungart, Georg 92 Brecht, Bert(olt) 260, 263, 266, 270–272 Breger, Claudia 239 Breloer, Heinrich 264 Bronfen, Elisabeth 237 Bronsart, Hans von 208, 213, 216 Bruckner, Anton 147 Brugger, Ingried 165 Brunner, Otto 293 Buchholz, Tanja 165, 179 Budde, Gunilla 56, 57, 62 Budden, Julian 37 Bühler, Charlotte 126, 131 Bühler, Ingeborg 131 Bühler, Karl 126, 131 Bülow, Hans von 301, 309 Bunge, Hans 263 Bunzel, Anja 301 Burdorf, Dieter 78 Burney, Charles (Familie) 294 Busoni, Ferruccio 224, 259, Busoni, Gerda 259 Butler, Judith 238 Caffrey, Margaret M. 135, 142 Cahn, Herbert A. 82 Cahn, Peter 30 Caldara, Antonio 302 Campe, Joachim Heinrich 119 Campe, Rüdiger 99 Canclini, Nestor Garcia 237 Canetti, Franzos zu 273 Capuzzo, Ester 41, 44, 48 Caraffa, Costanza 173 Carissimi, Giacomo 302 Carl, Christiana Friederica 20 Carl, Emilie 20 Carrara, Angiolo 35

Personenregister

Carreño, Teresa 148, 158–160, 209, 210, 215 Carter Moore, Katherine 122 Casu, Antonio 41, 44, 48 Cavalli, Francesco 311 Cavallo, Jakobine 296 Cavelli-Adorno, Maria 261, 262 Cavour, Camillo Benso di 50 Cazzulana, Elena 41, 54 Cella, Franca 39 Celletti, Rodolfo 44 Chadwick, Whitney 165 Chamisso, Adelbert von 202, 207 Chaplin, Charlie 260 Chopin, Frédéric 23, 62, 154 Christadler, Maike 166 Christo 9 Chung, Juliet 10 Chusid, Martin 37 Cirelli, Camillo 47 Clément, Catherine 49 Close, Glenn 9 Cocalis, Susan L. 70 Cohen, Ronald 136 Colaux, Stéphanie 10 Coleman, James S. 278 Coletti, Vittorio 41 Colombati, Claudio 48 Colvin, Sarah 77, 81 Conati, Marcello 39, 42, 43, 300 Contini, Gabrielle 313 Conze, Werner 253 Cook, Bruce 273 Coontz, Stephanie 292 Cornelius, Peter 201, 209, 212, 213 Cottham, Rachel 150 Cressman, Luther Sheeleigh 135 Crowly, Joss 10 Curie, Marie 9, 10 Curie, Pierre 9, 10 Czyzselska, Jane 235 d’Albert, Eugen 10, 13–15, 96, 147–162, 201–217

317 d’Albert, Hermine 10, 13–15, 96, 147– 149, 151–161, 201, 202, 208–217 d’Albert, Hilde 159 d’Albert, Louise 158 d’Albert, Violante 148 Damm, Sigrid 69 Danziger-van Embden, Rachel 30 Daolmi, Davide 39 Darwin, Charles 120 Darwin, William Erasmus 120 Davies, Fanny 26 Defert, Daniel 88 Dellevie, Caroline 59 Dellevie, Frederika 58 Dellevie, Nanette, s. Valentin, Nanette Dellevie, Serena, s. Embden, Serena Deloget, Delphine 10 Deufertundplischke 235 Deutsch, Helene 273 Deutsch, Otto Erich 297 Deutsch, Werner 122, 126, 127, 129–131 Diers, Michael 176 Dieterle, Wilhelm 260 Dietrick, Linda 71, 72, 77 Dillenius, Friedrich Wilhelm Jonathan 119 Dobrin, Lise M. 136 Dollard, John 138 Donizetti, Gaetano 41, 42 Donndorf, Adolf von 28 Dont, Jakob 285, 286 Dorgerloh, Anette 167 Döring, Luise von 82 Draheim, Joachim 20, 23, 25, 26, 293 Dreyfus, Kay 287 Dudek, Peter 117 Ducommun, Eli 224 Ducommun(-Rosenbaum), Aline, s. Valangin, Aline Ducommun-Ditignon-de Valangin, Aline, s. Valangin, Aline Duke, Carla 130 Dulong, Franz Henri von 13 Dulong, Magda von 13

318 Düntzer, Heinrich 71, 78 Durante, Francesco 302 Düring, Marten 292 Durst, Matthias 282, 285, 286

Personenregister

Eckardt, Georg 120 Egghard, Julius 285, 286 Egyptien, Jürgen 70 Ehlert, Gudrun 304 Ehrenfeld, Ferdinand 120 Eiermann, André 240 Eisler, Hanns 260, 263, 264, 271, 272 Eisler (Fischer), Louise 260, 264 Eisner, Kurt 267 Ellmeier, Andrea 294 Ellsmore, Caroline Anne 33, 35, 37, 42 Embden, Adolph 58, 59, 63 Embden, Charlotte 55, 58, 63, 64 Embden, Henriette 63 Embden, Moritz 63 Embden, Serena 58, 59 Engelhardt-Krajanek, Margarethe 288 Engels, Friedrich 293 Eötvös, Joseph von 102 Epstein, Eugenie 289 Epstein, Julius 309 Epstein, Michael 10 Escudier, Leon 44 Escudier, Marie 44 Esser, Hartmut 277 Eßlinger, Eva 237–239 Esterházy-Galántha, Maria 119 Etzemüller, Thomas 16, 117 Eumann, Ulrich 292 Eva & Adele 235, 236, 243–248 Ewald, Francois 88 Export, Valie 235 Eyvasov, Yusif 10

Feuchtwanger, Lion 260, 265, 266, 273 Feuchtwanger, Marta 258, 260, 261, 264, 265, 273 Feyl, Renate 30 Finck, Hermine, s. d’Albert, Hermine Finke, Gesa 161 Fischer, Ernst 269 Fischer, Helene 10 Fischer-Lichte, Erika 235 Flap, Henk 277 Fleck, Ludwik 291 Flieder-Lorenzen, Sieglinde 273 Floy Washburn, Margaret 122 Fontana, Lavinia 165 Fontana, Prospero 165 Förster-Stahl, Heidemarie 80 Fortune, Reo Franklin 134–136 Foucault, Michel 88, 111, 170 Fraisse, Geneviève 53 Francis, Patricia A. 135, 142 Frank, Bruno 260, 265, 266 Frank, Liesl 260 Franz, Robert 300 Frege, Livia 89 Freist, Dagmar 56, 57, 62 Freud, Sigmund 239, 253 Frevert, Ute 155, 157 Fricke, Harald 92 Friedrich, Annegret 165 Fröhlich, Anna (Nanette) 306, 307 Fröhlich, Barbara 306, 307 Fröhlich, Josephine 306, 307 Fröhlich, Katharina 306, 307 Fromm, Kathrin 131 Fuchs, Aloys Anton 305–308 Fuchs, Ingrid 277 Fulda, Ida 148, 160 Fürth, Robert 253

Fabbri, Paolo 41, 42 Faisst, Clara 29 Fasbender, Christoph 78 Fechner, Clementine 21, 24 Fegter, Susann 120

Gall, Lothar 119 Garbe, Christine 81 Garber, Marjorie 238, 239 Garbo, Greta 257, 258, 260–262, 271, 272 Gardner, Viv 52

Personenregister

Gatterer, Johann Christoph 294 Gatt-Rutter, John 102 Gebhardt, Miriam 115, 116, 121 Gehmacher, Johanna 255 Gelber, Mark H. 273 Gentileschi, Artemisia 165 Gentileschi, Orazio 165 Gerber, Ernst Ludwig 311 Gerber, Mirjam 89 Gerhard, Anselm 33, 41, 43, 51 Gestrich, Andreas 292, 293 Geyer, Gwynne 197 Geyer-Neustädter, Ellen 251 Ghanbari, Nacim 87 Ghibellino, Ettore 79 Gielen, Josef 271 Gierl, Martin 294 Gilbert & George (Gilbert Prousch und George Passmore) 235 Gilbourne, Mark 165 Ginsberg, Ernst 254 Gioberti, Vincenzo 44, 49 Giorgio, Michela De 53 Gmeyner, Anna 268 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 69–71, 73–83, 152 Gold, Helmut 117 Golde, Peggy 136, 140 Goldmark, Karl 147 Goltschnigg, Dietmar 63 Goncourt, Edmond 90, 91 Goncourt, Jules 90, 91 Görner, Rüdiger 88, 90–92, 95 Gossett, Philipp 40 Goßmann, Friederike, s. Prokesch von Osten, Friederike Götze, Auguste 212, 213 Graf, Rüdiger 121 Granovetter, Mark 278 Gräser, Albert 98 Graumann, Mathilde, s. Marchesi, Mathilde Graun, Carl Heinrich 302 Greenblatt, Stephen 149–151

319 Greger, Luise 30 Gregor-Dellin, Martin 95 Greyerz, Kaspar von 151 Grieben, Th. 128 Griem, Julika 291 Grillparzer, Franz 299, 307 Grillparzer, Wenzel E. J. 299 Grimm, Jakob 75 Grimm, Wilhelm 75 Grosse, Louis 25 Grotkopp, Maxi 12, 187, 236, 241 Grubmüller, Klaus 92 Grumach, Renate 80 Grum-Gržimajlo, Tamara 187 Grün, Jakob Moritz 285, 286 Grünfeld, Alfred 160 Grunsky, Karl 77 Gualerzi, Giorgio 41 Guillebon, Jeanne-Claude Denat de, s. Jeanne-Claude Günther, Ursula 36, 44 Gutjahr, Ortrud 70, 71 Haag, Ernest van den 145 Haag, Sabine 283 Haan, Anna Maria Freiin von, s. Krufft, Anna Maria von Haas, Dirk 216 Habermas, Rebekka 292 Hahn, Barbara 19 Hahn, Reuben 59 Hahn, Reynaldo 59 Haider-Pregler, Hilde 251 Halbe-Bauer, Ulrike 11, 178 Halm, Friedrich 202, 203, 207 Hämmerle, Christa 118 Hammer-Purgstall, Joseph von 298, 299 Hampton, Christopher 264, 266 Handke, Peter 110 Handrack, Hans Dieter 128 Harer, Ingeborg 296, 297, 303, 304, 306, 307 Harney, Klaus 116 Harrandt, Andrea 306

320 Harrison, Beatrice 159 Hasse, Johann Adolph 9 Hassler, Kathrin 167 Haupt, Heinz-Gerhard 157 Hausen, Karin 118, 155, 253 Häußling, Roger 276 Hawthorne, Nathaniel 94, 97, 107–111, 313 Hawthorne, Sophia 94, 97, 107–111, 313 Haydn, Joseph 299 Hecht, Werner 266 Hegeler, Anna 29 Heim, Else 262 Heine, Charlotte, s. Embden, Charlotte Heine, Heinrich 58, 63 Heine, Henry 63 Heine, Rosa, s. Katz, Rosa Heinemann, Rebecca 127 Heissler, Carl 282, 285, 286, 289 Heitmann, Annegret 12, 94, 228 Hellmesberger, Anna 281 Hellmesberger, Emilie 281 Hellmesberger, Ferdinand 281 Hellmesberger, Georg, d. Ä. 276, 280– 286, 289 Hellmesberger, Georg, d. J. 281, 282 Hellmesberger, Josef, d. Ä. 15, 275–289 Hellmesberger, Josef, d. J. 276, 279, 280, 282, 284–286 Hellmesberger, Rosa 281 Hellmesberger, Rosita 281 Hellsberg, Clemens 287 Helm, Theodor 212, 213, 216 Hemecker, Wilhelm 252 Henneberg, Krystyna von 41 Hensel, Fanny 66 Hensel, Hans Michael 102 Hentschel, Linda 170 Herder, Caroline 73 Herder, Johann Gottfried 73, 98 Herz, Fritz 281 Herz, Henriette 222 Herzfelde, Wieland 270 Herzogenberg, Elisabeth von 19, 29

Personenregister

Herzogenberg, Heinrich von 19, 29 Hesse, Eva 170 Hettche, Walter 69, 70 Heywood, Colin 119 Hiemer, Franz Carl 65 Hildebrandt, Hans 166, 167 Hiller, Ferdinand 300 Hindemith, Paul 291 Hirschfeld, Robert 276, 283 Hobohm, Wolf 191 Hodde-Fröhlich, Stefanie 24–26 Hoffmann, Freia 222, 287 Hoffmann-Curtius, Kathrin 166 Hofmann, Carl 285, 286 Holm, Christiane 117 Holzer, Boris 277–279 Holzner, Johann 269 Höniger, Stanislaus 254 Hopf, Caroline 121 Hopfner, Rudolf 283 Hoppe, Christine 283 Hoppe, Clara 29 Hoppe, Vinzenz 87 Hoppe-Graff, Siegfried 117, 128 Houseman, John 272 Howard, Jane 134, 138, 143 Hugo, Victor 42–44 Hummel, Johann Nepomuk 59 Huxley, Aldous 260 Huxley, Maria 260 Huyssen, Andreas 88 Ibsen, Henrik 157 Ingrisch, Doris 294 Isherwood, Christopher 258, 261–263, 272 Ivogün, Maria 301 Jaeger, Friedrich 293 Jagemann, Karoline 79 Jäger, Therese/Theresia 300 Jahoda, Marie 130, 131 Jancke, Gabriele 151 Jannidis, Fotis 87

Personenregister

Jansen, Irene 273 Japp, Uwe 81 Jaray, Alexander 255 Jauner, Friedericke 148 Jawaschew, Christo Wladimirow, s. Christo Jeanne-Claude 9 Jenger, Johann Baptist 297 Jensen, Uffa 116, 131 Joachim, Amalie 11 Joachim, Joseph 11, 19, 23, 29, 223, 231, 285 Jolly, Margaretta 150 Jomelli, Niccolò 302 Jones, Peter Ward 94 Joost, Ulrich 70 Joseephy, Clara, s. Stern, Clara Junker, Carl Ludwig 287 Jurgensen, Manfred 88, 98 Kaden, Christian 19 Kafka, Franz 267 Kaiser, Konstantin 268, 269 Käppeli, Anne-Marie 53 Karl August, Herzog von SachsenEisenach und Weimar 79, 80 Karpath, Ludwig 147 Katz, David 130, 131 Katz, Olga 131 Katz, Rosa 130, 131 Keeß, Franz Bernhard Ritter von 299 Keeß, Franz Georg Edler von 299 Keil, Richard 66 Keil, Robert 66 Kelber, Moritz 291 Keller, Heidi 117 Kellermann, Karina 70 Kellner, Beate 294 Kerman, Joseph 33, 37 Keyserlingk, Linda von 292 Kier, Herfried 296, 303, 304 Kiesewetter, Guido 305 Kiesewetter, Irene, s. Prokesch von Osten, Irene Kiesewetter, Jakobine 296

321 Kiesewetter, Julius 305 Kiesewetter, Karl 296 Kiesewetter, Karoline 299, 300 Kiesewetter, Raphael Georg 296–299, 301–306, 308 Kiesewetter, Therese 296 Kim, Hye-On 117 Kinder Carr, Carolyn 169 King, Lily 134 Klanska, Maria 273 Klassen, Janina 20, 23 Klauß, Jochen 69 Kleike, Hermann 102 Kleist, Heinrich von 104 Klettke, Cornelia 258 Kluckhohn, Clyde 134 Knebel, Karl Ludwig von 79, 80 Knoth, Ina 291, 294, 295 Koban, Ellen 245 Koch, Peter 97 Köckritz, Cathleen 27 Kohut, Adolph 25 Kokoschka, Oskar 270 Kolesch, Doris 235 Kollbach, Claudia 119 Koppenfels, Werner von 96 Kord, Susanne 69, 70, 71, 80 Korotin, Ilse 297 Koschorke, Albrecht 92, 237, 238, 292 Kössler, Till 131 Krasner, Lee 14, 165, 167–184, 313 Kraß, Andreas 238 Kraus, Karl 251–254, 267 Krause, Jens-Uwe 292 Krause, Martin 201 Krauss, Rosalind 313 Kräuter, Julia 13 Kreckel, Reinhard 278 Kremer, Alois Edler von 296 Kremer, Joachim 191 Kreuder, Friedemann 245 Krieger, Verena 157 Kris, Ernst 157 Kroll, Mark 57

322 Krufft, Anna Maria von 298 Krufft, Nikolaus Freiherr von 298 Krüger, Heinz-Hermann 116 Krummacher, Friedrich Adolf 116, 118 Kuh, Emil 202 Kühlmann, Wilhelm 70 Kühnen, Barbara 288 Künkler, Karoline 235 Kurthy, Sandor 165, 168, 170, 171, 179, 313 Kurz, Otto 157 Kutsch, Karl-Josef 148 Kuyper, Elisabeth 29 La Mara, s. Lipsius, Marie La Roche, Sophie 152 Lacan, Jacques 239 Lafont, Charles Philippe 59 Lagrange, Jacques 88 Lamiell, James 127 Lamping, Dieter 92 Landau, Ellen 165, 168, 170, 171, 179, 313 Landauer, Gustav 267 Landowski, Marcel 186, 187, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 314 Langkau-Alex, Ursula 270 Laplanche, Jean 239 Lassen, Eduard 216 Laurencin d’Armond, Graf Ferdinand Peter 311, 312 Lavagetto, Mario 101 Lavater, Johann Caspar 77, 79, 80, 151 Lawrence, Nicholas R. 108, 109, 313 Laysiepen, Frank Uwe, s. Ulay Lazarsfeld, Lotte 130 Lazarsfeld, Paul F. 130, 132 Le Rider, Jacques 253 Lechner, Helene 289 Leggewie, Veronika 55 Lehmann, Beatrix 268 Lehmann, Henri 58 Lehmann, Leo 58 Lehmann, Rudolf 58, 64, 65, 313

Personenregister

Lejeune, Philippe 119 Lennon, John 9, 10, 182, 235 Leo, August (Léo, Auguste) 58, 62 Leo, Sophie 58, 62 Leopold, Silke 44, 48 Lepper, Marcel 87 Leser, Rosalie 27 Levi, Hermann 19 Levinas, Emmanuel 239 Lieb, Ludger 295 Liebermann, Mischket 273 Lièvre, Geneviève 186 Linhardt, Marion 280 Linné, Carl von 80 Linton, Ralph 133–135, 145 Lipsius, Marie 30, 213 List, Elise 19 List, Emilie 19 Liszt, Franz 147, 148, 300, 301, 308–310 Litzmann, Berthold 26, 27, 29 Lodes, Birgit 293 Lomnäs, Bonnie 301 Lomnäs, Erling 301 Loster-Schneider, Gudrun 81 Lotti, Antonio 302 Löw, Martina 276 Lubitsch, Ernst 260 Lubkoll, Christine 99 Luca, Iona 119 Lück, Helmut E. 126, 130 Lunau, Katharina 150, 151 Lurker, Manfred 242 Lütteken, Laurenz 280, 300, 304 Lynd, Helen 139 Mack, Dietrich 95 Magai, Carol 131 Mahler, Alma 10, 148 Mahler, Gustav 10, 147, 148, 284 Mahlmann, Regina 154 Mai, Ekkehard 177 Makart, Hans 302 Malachowski, Charlotte, s. Bühler, Charlotte

Personenregister

Malsch, Friedemann 240, 241 Mandler, Peter 143 Mann, Heinrich 260, 264–266 Mann, Katja 260 Mann, Nelly 260, 265, 273 Mann, Thomas 260, 265, 266, 273 Manzoni, Alessandro 43, 53, 54 Marchesi, Blanche 308 Marchesi, Mathilde 300, 308, 310 Marchesi, Salvatore 308 Marcuse, Ludwig 266 Mariani, Angelo 52 Marica, Marco 49 Marica, Marvin 49 Marius, Benjamin 237 Marten, James 118 Martinotti, Sergio 300 Martus, Steffen 70 Marx, Christian 276 Mattl, Siegfried 255 Maxintsak, Josef 285, 286 Mayerhofer, Anna, s. Hellmesberger, Anna Mayseder, Josef 283 McEvilley, Thomas 240, 242 McFadden, Susan H. 131 Mead, Margaret 14, 133–146 Medici, Mario 44 Medick, Hans 151 Meichsner, Anna von 27 Melba, Nellie 308 Mendelssohn Bartholdy, Cécile 94 Mendelssohn Bartholdy, Fanny, s. Hensel, Fanny Mendelssohn Bartholdy, Felix 55, 56, 63, 94, 300 Menter, Sophie 24, 301, 309 Metraux, Rhoda 145, 146 Meyer, Helge 242 Meyer, Ulf 165 Meyerbeer, Giacomo 59, 60, 63 Michel, Robert 165 Middleton Wagner, Anne 184, 313 Milanollo, Maria 288

323 Milanollo, Teresa 288 Milinowski, Marta 158 Miller, Lee 9 Mitchell, James C. 278 Mitterauer, Michael 292 Mitterer, Cornelius 252 Moennighoff, Burkhard 78 Möller, Eberhard 22 Montano, Linda M. 246 Montemorra, Roberta 49 Monteverdi, Claudio 311 Montremy, Jean-Maurice de 193, 194 Morat, Daniel 116, 131 Morsch, Anna 30 Moscheles, Charlotte 13, 55–67, 313 Moscheles, Felix 56 Moscheles, Ignaz 13, 55–67, 313 Mozzoni, Anna Maria 53 Müller, Hans-Joachim 244 Müller, Jan-Dirk 92 Müller-Harang, Ulrike 81 Müller-Hermann, Johanna 29 Mulsow, Martin 294 Münch, Birgit 167 Münch-Bellinghausen, Eligius Franz Joseph Freiherr von, s. Halm, Friedrich von Munson, Gretchen T. 184 Münz, Ludwig 255, 257 Murnau, Friedrich Wilhelm 267 Muysers, Carola 166 Namuth, Hans 169, 170, 177, 178, 180, 313 Naroll, Raoul 136 Nauhaus, Gerd 22, 25, 27, 105, 107 Netrebko, Anna 10 Nettersheim, Christoph 10 Neukomm, Sigismund 66 Neumann-Viertel, Elisabeth 274 Neumeister-Taroni, Brigitta 11, 178 Nghi Ha, Kien 237 Nickel, Gunther 269 Nickisch, Arthur 213

324 Nietzsche, Friedrich 242 Nobel, Alfons 69 Nobs-Greter, Ruth 166 Noeske, Nina 23, 222, 297, 306, 307 Novalis 87 Nowak, Tine 117 Nübel, Birgit 98 O’Connor, Francis V. 169 O’Keeffe, Georgia 170 Obermeier, Karin 70 Oellers, Norbert 77 Oesterreicher, Wulf 97 Ohlschläger, Claudia 99 Ono, Yoko 9, 10, 182, 235 Opitz, Claudia 118, 293 Orchard, Karin 165 Orelli, Matthias von 35 Österle, David 252 Ott, Michael 104 Ottner, Carmen 33 Otto, Regine 73 Outram, Dorinda 294 Pachler, Faust 202 Pachler, Marie 297 Pailer, Gaby 70–72, 77, 78, 80, 81 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 302 Paletschek, Sylvia 130 Panella, Liliana 300 Pangels, Charlotte 147, 148 Parker, Roger 40 Patel, Sheila 119 Patriarca, Silvana 49 Patterson, Martha H. 53 Pauls, Birgit 40 Paulsson, Hugo 13 Pavarani, Marcello 44 Peabody, Sophia, s. Hawthorne, Sophia Pechmann, Alexander 110 Pergolesi, Giovanni Battista 302 Perrot, Michelle 53 Petersen, Julius 83 Pfäfflin, Friedrich 270

Personenregister

Phillips-Matz, Mary Jane 35, 36, 46, 47 Picasso, Pablo 181, 182 Pixis, Johann Peter 59, 60 Pohl, Carl Ferdinand 215, 304 Pollock, Jackson 14, 165, 167–184, 313 Pongratz, Ludwig J. 126 Pontalis, Jean-Bertrand 239 Preyer, Axel Thierry 120 Preyer, Wilhelm (William Thierry) 120– 123, 125, 128, 129 Prill, Karl 285, 286 Probst, Jörg 170 Procházková, Martina 301 Prokesch von Osten, Anton (Sohn) 297 Prokesch von Osten, Anton (Vater) 296– 299 Prokesch von Osten, Friederike („Fifi“), geb. Goßmann 297 Prokesch von Osten, Irene, geb. Kiesewetter 296, 297, 303, 304, 306 Promies, Wolfgang 70 Prosl, Robert Maria 279, 283 Pröve, Ralf 258 Pryce, Jonathan 9 Quennell, Peter 273 Quiel, Hildegard 29 Radcliffe-Brown, Alfred 134, 143 Radnitzky, Emmanuel, s. Ray, Man Raff, Joachim 30 Rampone, Giorgio 41 Rasina, Galina 185 Raupp, Wilhelm 147, 148, 161, 208 Rausch, Alexander 299 Rauscher, Michael 16 Ray, Man 9 Ray-Atkinson, John 10 Rayner (Watson), Rosalie Alberta 130 Rebhan-Glück, Ines 118 Reckwitz, Andreas 57, 303, 304 Redniss, Lauren 10 Reed, T. J. 77 Reich, Nancy 20, 22

Personenregister

Reichenbach, Hans 266 Reinhardt, Gottfried 258, 262, 268 Reinhardt, Max 260, 262, 273 Reisinger, Elisabeth 293 Reitmayer, Morten 276 Rescigno, Eduardo 45, 47 Revers, Peter 296 Rexroth, Frank 294 Richter, Elke 69, 72 Richter, Hans 301 Ricordi, Giulio 38, 54 Riehl, Wilhelm Heinrich 293, 295 Riemens, Leo 148 Rilke, Rainer Maria 267 Rittmann, Annegret 167 Rochés, Henri-Pierre 150 Rodak, Pawel 99 Rode-Breymann, Susanne 287, 291 Rodkey, Elissa 122 Romani, Pietro 45 Romano, Carlo 44 Rosa, Salvatore 311 Rosé, Arnold ( Josef ) 285, 286 Rose, Ferrel 70 Rosen, Valeska von 165 Rosenbaum, Alexander 69, 72 Rosenbaum, Wladimir 224, 229, 232, 233 Rosselli, John 47 Rossini, Gioachino 41, 43, 307 Rostagno, Antonio 44, 49 Rostropovič, Mstislav 14, 185, 186, 188– 200 Rostropowitsch, Galina, s. Višnevskaja, Galina Rousseau, Jean Jacques 98 Rudolf, Erzherzog von Österreich 304 Rudorff, Luise 79, 80 Ruf, Wolfgang 191 Rümmele, Annette 117 Runge, Anita 228 Runge, Björn 9 Ruprecht, Thomas M. 270 Rutherford, Susan 33, 37, 48, 50, 52 Ružička, Margarete 253

325 Saar, Martin 88 Sabatini, Angelo G. 41, 44, 48 Salieri, Antonio 303 Salingré, Gretchen 210 Salingré, Louise, s. d’Albert, Louise Samuel, Claude 185, 187–192, 196 Sartoris, Claudio 36 Sartre, Paul 9 Sauret, Émile 159 Scarlatti, Alessandro 311 Scarlatti, Domenico 302 Schabert, Ina 96 Schaefer, Barbara 165, 171, 235 Schaff, Barbara 94, 228 Schapira, Ella 273 Schardt, Charlotte von, s. Stein, Charlotte von Scheffler, Karl 166, 167 Schenk, Eduard von 60 Schenk-Danzinger, Lotte 131 Scherer, Stefan 81 Schiller, Friedrich 43, 70, 73, 77, 80, 81, 104 Schimmel, Paul 169, 170 Schindler, Alma, s. Mahler, Alma Schings, Hans Jürgen 92 Schlechtriemen, Tobias 237 Schlegel, Friedrich 87, 88 Schlemmer, Josef 310 Schlemmer-Ambros, Irene 300, 301, 308–311 Schlesinger, Karl 282 Schlözer, August Ludwig von 116 Schmid, Pia 116 Schmid-Reiter, Isolde 44 Schmidt, Franz 33 Schmidgall, Gary 37 Schmidt-Beste, Thomas 55, 94 Schmidt-Voges, Inken 292 Schmiedel, Clara 21 Schmiedel, Elisabeth 20, 23, 25, 26, 293 Schmierer, Elisabeth 307 Schneider, Ulrich Johannes 170 Schneller, Julius 296

326 Scholz, Gerold 128 Schönberg, Arnold 260 Schönberg, Gertrud 260 Schönborn, Sibylle 92, 98, 151, 152 Schreyach, Michael 169 Schrödl, Barbara 173 Schubert, Franz 296, 297, 298, 299, 307 Schubert, Giselher 19 Schulberg, Ad 260 Schulberg, Ben 260, 261 Schülting, Sabine 94, 228 Schulz, Andreas 119 Schumann, Clara, geb. Wieck 9–11, 19–31, 90, 94, 104, 105, 107, 112, 148, 207, 292, 293, 308, 309 Schumann, Elise 21 Schumann, Eugenie 21, 22, 26 Schumann, Ferdinand 22 Schumann, Julie („Julchen“) 22 Schumann, Marie 21, 22, 29 Schumann, Robert 9, 10, 11, 23–29, 90, 94, 104, 105, 107, 111, 112, 148, 207, 292, 293, 300 Schüttpelz, Erhard 238 Schwarz, Vera 283 Schwarz, Wolfgang 255 Schwarz-Danuser, Monika 66 Schweikert, Uwe 33, 41, 43, 51 Schweitzer, Doris 237 Schwendt, Theodor 285, 286 Scupin, Ernst Wolfgang 115, 123–125, 128, 129, 132 Scupin, Gertrud 115, 123–125, 128, 129, 132 Sdzuj, Reimund B. 70 Segeberg, Harro 70 Seibert, Peter 262 Senici, Emanuele 33, 44 Servadio, Gaia 36, 37, 42, 47 Seta, Fabrizio della 49 Seydel, Theresine 289 Shakespeare, William 149 Shinn, Milicent Washburn 122 Sibelius, Jean 90

Personenregister

Siegfried, Christina 26 Silbereisen, Florian 10 Simon, Ralf 81 Singer, Peter 253 Singh, Sikander 78 Sittner, Hans 283, 284 Skelton, Geoffrey 11 Slak, Manja 13 Smart, Mary Ann 33, 40 Smetana, Bedřich (Friedrich) 309 Smirle, Corinne 130 Solženicyn, Aleksandr 185 Sonne, Otto 201, 202, 211–213 Sonnleithner, Anna Franziska 299 Sonnleithner, Christoph 299 Sonnleithner, Ignaz 298, 299 Sonnleithner, Johanna 299 Sonnleithner, Joseph 299 Sonnleithner, Justine 299 Sonnleithner, Leopold 299 Sonnleithner, Nikolaus 299 Spohr, Dorette 13 Spohr, Louis 13 Sporck, Ferdinand Graf 153 Sprinkle, Annie 235, 236, 246–248 Stahrenberg, Carolin 287 Stanley, Liz 115 Stargardt-Wolff, Edith 160 Stark, Martin 292 Stavenhagen, Agnes 216 Stavenhagen, Bernhard 216 Štedronská, Markéta 311 Steffen, Therese 237 Stegbauer, Christian 276 Steigentesch, August Ernst von 153 Stein, Charlotte von 14, 69–83 Stein, Felix von 72, 74–76, 79 Stein, Carl von 80 Steiner, Gertraud 263, 272, 273 Stein-Kochberg, Felix Freiherrn von 72 Stephan, Alexander 266 Stephens, Elizabeth M. 235, 236, 246– 248 Stern, Clara 14, 115, 122, 125–131

Personenregister

Stern, Eva 126 Stern, Günter 126, 127 Stern, Hilde 126, 129 Stern, William 14, 115, 125–129, 131 Sternheim, Josef von 263 Steuermann, Auguste 254, 258, 259, 261 Steuermann, Eduard 251, 254, 259–261 Steuermann, Joseph 254 Steuermann, Mea, s. Viertel, Salka Steuermann, Ruzia 254 Steuermann, Salka (Salomea Sara), s. Viertel, Salka Steuermann, Zygmundt 254 Steuwer, Janosch 121 Stiles, Kristine 167 Stingelin, Martin 99 Stirponi, Santa 46 Stockhorst, Stefanie 87 Stockinger, Claudia 81 Stockinger, Waltraud, s. Export, Valie Stolz, Teresa 33, 36, 53 Stowell, Robin 283, 284 Strauß, Dietmar 301 Strauss, Richard 147 Strepponi, Camillo 47 Strepponi, Giuseppina 13, 33–48, 50–54 Stroheim, Erich von 263 Strohschneider, Peter 295 Strömquist, Liv 181–183, 313 Svevo, Italo 95, 100–104, 111, 112, 313 Swales, Martin 77 Swieten, Gerhard van 296 Swieten, Gottfried van 296 Szabó-Knotik, Cornelia 63 Tagliapietra, Giovanni 159 Thalmann, Anton 285, 286 Thalmann, Karl 285, 286 Thimig, Helene 260 Timmermann, Volker 278, 283, 287, 288 Timms, Edward 258 Tobbens, Irene 52 Toller, Ernst 267 Torr, Diane 235

327 Tours, Hermine 21 Traxel, Werner 126 Treitschke, Wilhelm von 311 Trepp, Ann-Charlotte 118 Troitzsch, Klaus G. 277 Tromlitz, Georg Christian Gotthold 20 Tromlitz, Johann Georg 20 Tromlitz, Mariane 20, 27 Ulay 9, 167, 235, 236, 240–243, 247, 248 Ulbrich, Claudia 151 Ulbrich, Franz 72, 75–77 Umathum, Sandra 235 Utz, Christian 296 Valangin, Aline 15, 221, 224–226, 229, 232, 233 Valentin, Nanette 58 Valentin, Sebastian 58 Vasari, Giorgio 166 Veit, Patrice 151 Veneziani, Livia 95, 100–102 Verbeek, Albert 277 Verdi, Giuseppe 13, 33–52, 54, 197, 198 Verdi, Giuseppina, s. Strepponi, Giuseppina Verdi, Icilio 34 Verdi, Margerita, s. Barezzi, Margerita Verdi, Virginia 34 Vermeer, Leonieke 119 Viertel, Berthold 15, 251–274 Viertel, Grete 253 Viertel, Hans 255 Viertel, Peter 255 Viertel, Salka 15, 251–274 Viertel, Salomon 252, 254 Vignau, Hippolyt von 215, 216 Višnevskaja, Galina 14, 185–200, 314 Vittoria, Tomas Luis de 302 Vittorio Emanuele II., König von Sardinien-Piemont (ab 1861 von Italien) 50 Vogel, Bernhard 212, 213 Vogel, Wladimir 224, 225, 229

328 Voigt, Henriette 89 Volkmann-Raue, Sibylle 126, 130 Vollhardt, Friedrich 92 von der Recke, Elisa 152 Vordermayer, Thomas 277 Voss, Hanna 245 Vulpius, Christiane 69, 73, 76 Wagner, Anne M. 170, 184, 313 Wagner, Cosima 11, 95, 161 Wagner, Eva 11 Wagner, Nike 252 Wagner, Richard 11, 63, 95, 147 Wagner, Siegfried 161 Waldinger, Ernst 270 Walkensteiner-Preschl, Claudia 294 Wallenborn, Markus 79 Walters, Michael 40 Ward, Margaret 108 Ward, Sam 108 Warneken, Bernd Jürgen 119 Warstat, Matthias 235 Watson, John B. 130 Weaver, William 37 Weber, Carl Maria von 65, 153 Weber, Max 278, 279 Wedekind, Erika 267 Wedekind, Frank 267 Weesie, Jeroen 277 Wehinger, Brunhilde 258 Wehner, Ernst G. 126 Weibel, Peter 235 Weigel, Helene 260, 271 Weima, Klaus 92 Weininger, Otto 252, 253, 257, 271 Weissmüller, Johnny 260 Wendt, Matthias 27 Wenk, Silke 166 Wentzlaff, Paul-Gerhard 73 Werner, Marta L. 108, 109, 313 Werner, Sylwia 291 Weschler, Lawrence M. 258

Personenregister

Wessely, Othmar 305 Wieck, Alwin 20, 21, 22, 27, 28 Wieck, Cäcilie 24 Wieck, Clara, s. Schumann, Clara Wieck, Clementine 25 Wieck, Friedrich 20, 21, 24, 25, 27, 28 Wieck, Gustav 20 Wieck, Mariane 20 Wieck, Marie 21, 22, 24–28 Wieland, Christoph Martin 98 Wiesengrund, Theodor Ludwig 261, 262 Willemer, Marianne von 79 Wilson, John D. 293 Winckelmann, Johannes 279 Wintzer, Elisabeth 30 Wiora, Walter 296 Wischnewskaja, Galina, s. Višnevskaja, Galina Wobbe, Theresa 294 Wöhrer, Renate 172 Wolf, Hugo 147 Wolff, Hermann 160 Wolff, Louise 160 Wolitzer, Meg 9 Wood, Sir Henry 288 Woodmansee, Martha 87 Wordsworth, Dorothy 96 Wordsworth, William 96 Wozonig, Thomas 296 Wundt, Wilhelm Maximilian 122 Wurm, Mary 29 Wurzbach, Constant 298, 302–305, 308 Wuthenow, Ralph-Rainer 91 Wyl, A. von 103, 313 Zechner, Ingo 255 Zelau, Curt von 297 Zimmermann, Christian von 147 Zittel, Claus 291 Zons, Alexander 237 Zuckmayer, Carl 259 Zweig, Stefan 55, 267, 270