Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit [1 ed.] 9783428525157, 9783428125159

Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines internationalen Symposiums von Juristen, Theologen und Historikern, das

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Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783428525157, 9783428125159

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Historische Forschungen Band 89

Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit Herausgegeben von

Christoph Strohm Heinrich de Wall

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit

Historische Forschungen Band 89

Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit

Herausgegeben von

Christoph Strohm Heinrich de Wall

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-12515-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines internationalen Symposiums zum Thema „Jurisprudenz und Konfession in der Frühen Neuzeit“, das vom 12. bis 14. Oktober 2006 in der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden stattgefunden hat. Veranstaltet wurde es von der Johannes-Althusius-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit einem an der Johannes a Lasco-Bibliothek angesiedelten und im Rahmen des Forschungsprogramms „Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus“ durchgeführten Forschungsprojekt über „Recht und Jurisprudenz im Bereich des reformierten Protestantismus 1550-1620“. Ziel war es, im interdisziplinären Austausch Antworten auf die Frage zu finden, ob und, wenn ja, in welcher Weise konfessionelle Orientierungen in der Jurisprudenz Niederschlag gefunden haben. Damit soll ein Beitrag zur neueren Konfessionalisierungsforschung geleistet werden. Hier hat man die wichtige Rolle, welche die sich formierenden Konfessionen bei der Entstehung der frühmodernen Staatenwelt gespielt haben, hervorgehoben. Naturgemäß steht die den drei hauptsächlichen Konfessionen gemeinsame Funktion einer Sozialdisziplinierung, mentalen Kontrolle und Verdichtung von Staatlichkeit im Zentrum des Interesses. Auf diesem Hintergrund ist nun zu fragen, ob bei aller funktionalen Gleichheit nicht doch auch charakteristische Unterschiede der lutherischen, reformierten und tridentinisch-katholischen Konfession in ihrem Beitrag zur Formierung der Moderne festzustellen sind. Die Stiftung Niedersachsen, das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie die Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek haben das Symposium finanziert. Für Mithilfe an der Fertigstellung des Bandes zu danken ist stud. theol. et phil. Michael Becker (Heidelberg) und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hans-Liermann-Instituts für Kirchenrecht in Erlangen, die die Texte in die endgültige Form gebracht, die Korrekturen gelesen und das Register erstellt haben. Dem Verlag Duncker und Humblot danken wir für die großzügige Betreuung und die Aufnahme in die Reihe „Historische Forschungen“.

Heidelberg/Erlangen, im Mai 2008 Christoph Strohm Heinrich de Wall

Inhaltsverzeichnis Christoph Strohm Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen – Fragestellungen, methodische Probleme, Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Isabelle Deflers Konfession und Jurisprudenz bei Melanchthon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralf Frassek „Diese Meinung ist recht“ – Die Konstituierung eines evangelischen Eherechts in Kursachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Hattenhauer Was die Reformatoren vom Recht sangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Maissen Souveräner Gesetzgeber und absolute Macht. Calvin, Bodin und die mittelalterliche Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robert von Friedeburg Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente in der frühen Neuzeit (1523 – 1668): Konfessionen, klassische Verfassungsvorbilder, Naturrecht, direkter Befehl Gottes, historische Rechte der Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Dieter Wyduckel Konfession und Jurisprudenz bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Katharina Odermatt Konfessionelle Einflüsse auf das Berufs- und Amtsverständnis in Althusius’ „Politica“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Diego Quaglioni Judaism and religious toleration in Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Christian Hattenhauer Johannes Althusius, Petrus Ramus und die Systematisierung der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Lucia Bianchin Zensur und Reformierte Jurisprudenz in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

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Inhaltsverzeichnis

Massimo Meccarelli Ein Rechtsformat für die Moderne: Lex und Iurisdictio in der spanischen Spätscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Mathias Schmoeckel Die Sünde des Naturrechts aus römisch-katholischer Sicht – Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Christoph Link Herrschaftsbegründung und Kirchenhoheit bei Hugo Grotius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Merio Scattola Jakob Lampadius und die Auseinandersetzung um die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Heinrich de Wall Theorien der Herrschaftsbegründung und Konfession – zum Zusammenhang von Luthertum und theokratischer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Detlef Döring Wirkungen des konfessionellen Denkens auf das juristische Werk Samuel von Pufendorfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Mitarbeiterverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen – Fragestellungen, methodische Probleme, Hypothesen Von Christoph Strohm, Heidelberg

A. Fragestellungen Die Gegenwart ist bestimmt von einer konfliktreichen Begegnung verschiedener Kulturen. Charakteristisch ist, dass sich mit dem Westen und der islamisch geprägten Welt zwei Kulturen begegnen, in denen Religion eine signifikant unterschiedliche Rolle spielt. Während der Islam in augenfälliger Weise das öffentliche Leben bestimmt, wird Kirche und Religion in Mitteleuropa nur an einzelnen Stellen in der Öffentlichkeit sichtbar. Gerade die Eliten leben hier heute weitgehend säkularisiert. Das Gespräch zwischen den Kulturen bzw. das Ringen um die zukünftige weltweite Werte- und Institutionenbildung kann nur gelingen, wenn die Vertreter der westlichen Zivilisation auskunftsfähig darüber sind, welche Rolle Religion und Konfession diesbezüglich in der europäischen Geschichte gespielt haben. Das macht die Frage nach den Einflüssen weltanschaulich-konfessioneller Faktoren auf die Rechtsentwicklung in der Frühen Neuzeit gerade heute aktuell. Auch aus historiographischen Gründen im engeren Sinne legt sie sich nahe. Heinz Schilling, Wolfgang Reinhard und andere haben unter dem Leitbegriff „Konfessionalisierung“ die zentrale Rolle beschrieben, welche die sich formierenden Konfessionen bei der Entstehung der frühmodernen Staatenwelt spielen.1 Lutherische, reformierte und römisch-katholische Konfession haben da-

__________ 1

Vgl. die Darstellung der umfangreichen durch Schillings und Reinhards Thesen ausgelösten Diskussion in: Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002. Knapp skizziert finden sich die kritischen Einwände und weiterführenden Überlegungen zur Konfessionalisierung als Leitparadigma der Frühneuzeitforschung in: Thomas Kaufmann, Einleitung: Interkonfessionalität, Transkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfes-

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Christoph Strohm

nach in gleicher Weise ihren Beitrag zu Sozialdisziplinierung und Verdichtung von Staatlichkeit geleistet. In der Konfessionalisierungsdebatte steht der Aspekt der funktionalen Gleichheit ganz im Vordergrund. Angesichts offenkundiger Unterschiede in den Wirkungen auf einzelne Kulturbereiche wie zum Beispiel die bildende Kunst und die Musik ist auch nach den unterschiedlichen Wirkungen der konfessionellen Orientierung in den einzelnen Kulturfeldern zu fragen. Die Arbeit der Juristen ist hier nicht nur deshalb ein besonders interessantes Thema, weil sie eine zentrale Rolle bei der Formierung der frühmodernen Staatenwelt spielten, sondern auch weil sie qua Profession entkonfessionalisierend zu wirken hatten, indem sie Konflikte religiös begründeter, unbedingter Wahrheitsansprüche rechtlich einzugrenzen suchten.2 In der Althusius-Forschung ist die Frage, welchen Einfluss – wenn überhaupt – die calvinistisch-reformierte Orientierung auf dessen juristisches bzw. politologisches Werk hatte, eine Schlüsselfrage. Nach den profilierten Antwortversuchen Erik Wolfs und Peter Jochen Winters’ auf der einen und Carl Joachim Friedrichs sowie vieler weiterer Forscher auf der anderen Seite, wird sie auch heute noch kontrovers beantwortet. Wenn der reformiert-konfessionelle Einfluss verneint wird, bleibt die Vielzahl der Bibelstellenverweise sowie der signifikante Bezug auf reformierte Theologen und calvinistischmonarchomachische Texte erklärungsbedürftig. Wenn der Einfluss bejaht wird, muss der Sachverhalt erklärt werden, dass die Bibelstellenverweise vielfach nur additive Funktion haben und worin ein spezifisch calvinistisch-reformierter Einfluss im Unterschied zu lutherischen oder römisch-katholischen Prägungen konkret besteht.3

__________ sionalisierungsthese, in: Kaspar von Greyerz u.a. (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese (SVRG 201), Gütersloh 2003, S. 9-15; vgl. auch Heinrich Richard Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (EdG 12), München 1992. 2 Vgl. auch die aus der Perspektive des Rechtshistorikers formulierte kritische Anfrage an das Konfessionalisierungsparadigma in der jüngeren Forschung: Michael Stolleis, Religion und Politik im Zeitalter des Barock. „Konfessionalisierung“ oder „Säkularisierung“ bei der Entstehung des frühmodernen Staates?, in: Dieter Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 25), Wiesbaden 1995, S. 23-42. 3 Vgl. den Antwortversuch in: Christoph Strohm, Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Frederik S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603-2003 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 131), Berlin 2004, S. 71-102.

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Der Ertrag der Konfessionalisierungsforschung im Blick auf die spezifischen Kulturwirkungen der Konfessionen ist gegenwärtig noch unklar.4 Einerseits hat sie zu einer neuen Bewertung der Bedeutung der Konfessionen in der Frühneuzeitforschung geführt, andererseits ist das Spezifische der einzelnen Konfessionen in den Kulturwirkungen unklarer denn je. Die sozialgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten, die nicht die Konfessionalisierung als Leitparadigma der Frühneuzeitforschung vertreten, scheinen noch kritischer gegenüber der Hypothese spezifischer Kulturwirkungen der einzelnen Konfessionen im Allgemeinen und des reformierten Protestantismus im Besonderen zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Max Weber und Ernst Troeltsch mit ihren Hypothesen zu einem charakteristischen Beitrag des calvinistisch-reformierten Protestantismus zur Gestaltwerdung der westlichen Zivilisation die Diskussion beherrscht. Anfang des 21. Jahrhunderts ist davon nicht mehr viel übrig geblieben.5 So kommt der Autor der neuesten umfangreichen Geschichte des reformierten Protestantismus, Philip Benedict, zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob der reformierte Protestantismus einen besonderen Beitrag zum Werden der modernen Demokratie geleistet hat, letztlich negativ zu beantworten ist.6 Hingegen hatte die vor fünfzig Jahren erschienene, wirkungsreiche Gesamtdarstellung John T. McNeills „The History and Character of Calvinism“ noch die Bedeutung calvinistisch-monarchomachischer Widerstandslehren und presbyterial-synodaler Kirchenleitungsmodelle für die Ausbreitung der modernen Demokratie betont.7 Die Versuche, sozialgeschichtlich fundiert Mentalitäts__________ 4 Gesichtspunkte im Blick auf die Jurisprudenz bietet: Christoph Strohm, Recht und Jurisprudenz im Reformierten Protestantismus 1550-1650, in: ZRG.KA 92 (2006), S. 453-493; ders., Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte bei Heidelberger Juristen, in: ders./Joseph S. Freedman/Herman J. Selderhuis (Hg.), Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert. Beiträge zum internationalen Symposium vom 19. bis 21. November 2004 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (SuR.NR 31), Tübingen 2006, S. 325358; ders., Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2008. 5 Zu Weber vgl. zuletzt Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005; zu Troeltsch vgl. Christoph Strohm, Nach hundert Jahren. Ernst Troeltsch, der Protestantismus und die Entstehung der modernen Welt, in: ARG 99 (2008), (im Druck). 6

Vgl. Philip Benedict, Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven/London 2002, S. 533-537. 7

Vgl. John T. McNeill, The History and Character of Calvinism, New York 1954.

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oder Kultur-prägende Wirkungen der Konfessionen aufzuweisen, führten bislang zu eher begrenzten Ergebnissen.8 Zugleich geht man in anderen Zusammenhängen mehr oder weniger unreflektiert von einer negativen Wirkung theologischer Lehren oder religiöser Prägungen aus. Es seien nur die vielzitierte lutherische Untertanenmentalität und die Auffassung von der Mitschuld des traditionellen christlichen Antijudaismus am rassisch motivierten Antisemitismus des 20. Jahrhunderts erwähnt. Bestimmte Befunde im Bereich der Rechtswissenschaften in der Frühen Neuzeit und weit darüber hinaus zwingen dazu, konfessionelle Aspekte zur Erklärung heranzuziehen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Rechtswissenschaft – wie auch die Geschichtswissenschaft – in Deutschland klar protestantisch dominiert. Der große Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) ist nur ein besonders illustres Beispiel in einer langen Reihe von protestantischen Juristen in Deutschland – und zwar protestantisch in einem auch religiös durchaus sehr profilierten Sinne.9 In der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts fällt der signifikante Anteil protestantischer bzw. reformierter Juristen an der Ausbreitung der Reichspublizistik bzw. der Entstehung und Etablierung des ius publicum als Disziplin an den juristischen Fakultäten auf.10 Unter den Gründen für die geradezu explosionsartige Zunahme von Schrifttum „de iure publico“ um die Jahrhundertwende, die Schaffung von Lehrstühlen des öffentlichen Rechts und die Etablierung des ius publicum als einer eigenständigen Disziplin an den juristischen Fakultäten muss man auch spezifische mentale Dispositionen, Ideen und Milieus im Bereich des Protestantismus berücksichtigen. Es bildeten sich konfessionsspezifische Semanti-

__________ 8 Vgl. aber z.B. für den Bereich der bildenden Kunst: Jens Baumgarten, Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560-1740), Hamburg/München 2004. 9 Zuletzt hat dies Joachim Rückert in einem Vortrag auf dem Symposium zum 65. Geburtstag von Michael Stolleis am 21./22. Juli 2007 herausgestellt („Religiöses und Unreligiöses bei Savigny“). Vgl. auch Alfred Dufour, La religion du Savigny, in: Persona y derecho 24 (1991), S. 49-67. 10 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, S. 122. 248; vgl. ders., Reformation und öffentliches Recht in Deutschland, in: Der Staat 24 (1985), S. 51-74; wiederabgedr. unter dem Titel „Glaubensspaltung und öffentliches Recht in Deutschland“ in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt a.M. 1990, S. 268-297; siehe auch unten S. 30 mit Anm. 78.

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ken heraus, die sich förderlich auf die Rechtsentwicklung ausgewirkt haben – oder eben hemmend. Schließlich macht eine weitere historiographische Tendenz eine erneute Untersuchung der Bedeutung der Konfession für das Werk reformierter bzw. protestantischer Juristen notwendig. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Geschichtswissenschaft von dem Vorurteil eines katholischen Modernitätsdefizits beherrscht.11 Der Katholizismus galt als rückständig und entsprechend gering war sein Beitrag zur Formierung der westlichen Zivilisation einzuschätzen. Diese Sicht ist in den letzten Jahrzehnten zu Recht korrigiert worden.12 Nun besteht aber die Gefahr, dass das Pendel in die andere Richtung ausschlägt und die Frage eines Modernitätsdefizits in Folge der tridentinischjesuitischen Re-Formierung des Katholizismus, zum Beispiel im Umgang mit

__________ 11 Vgl. u.a. Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Wien s.a.; Heinrich von Treitschke, Luther und die deutsche Nation [1883], in: ders. (Hg.), Historische und politische Aufsätze, Bd. 4, Leipzig 1920, S. 8 ff.; vgl. ferner die abgedruckten Auszüge in: Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen (1955) 21970, S. 41-52; vgl. zum Ganzen auch Axel Gotthard, Preußens deutsche Sendung, in: Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg i. Br. 2004, S. 321-369. 12 Grundlegend: Wolfgang Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10 (1983), S. 257-277; im Blick auf die wirkungsreichen Thesen Ernst Troeltschs vgl. Luise Schorn-Schütte, Ernst Troeltschs ‚Soziallehren‘ und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation (Troeltsch-Studien, 6), Göttingen 1993, S. 133-151, hier: 138: „Gemeint ist die Troeltschs Grundannahme korrigierende Erkenntnis, daß alle drei Konfessionen an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert im Bündnis mit den erstarkenden Territorialherren gegen das Beharrungsvermögen der ständischen Partikulargewalten (vor allem Städte und Landstände) eine entwicklungsverändernde Rolle spielen konnten. Und andererseits konnten alle drei Konfessionen im Bündnis mit den ständischen Kräften gegen die auf Zentrierung von Herrschaft drängenden Landesherrn aktiv sein. Diese Erkenntnis belegt: es gibt keine wesensmäßig ‚modernisierend‘ wirkende Konfession. Sowohl das Luthertum als auch der Katholizismus und das Reformiertentum haben sich, abhängig von der je konkreten historischen Situation, mit den Veränderungen anstrebenden oder mit den am Hergebrachten festhaltenden politischen Kräften verbunden. Sowohl das Luthertum als auch Katholizismus und Reformiertentum konnten modernisierungsfördernd ebenso wie modernisierungshemmend auftreten. Die Richtung der politischen Wirkung der Konfessionen ist demnach kontingent, nicht wesensmäßig!“

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dem Augsburger Religionsfrieden,13 nicht mehr ausreichend klar thematisiert wird.14 Schließlich ist einer weniger auffälligen, aber doch grundlegenden Entwicklung bewusst zu begegnen. Angesichts des Rückgangs der Bedeutung von Religion und Konfession in der Gegenwart im Allgemeinen und in den Biographien der Forschenden im Besonderen wird deren Stellenwert auch in der historischen Forschung geringer gewichtet. Sichtbar wird das unter anderem am Vergleich der Artikel der seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erscheinenden Neuen Deutschen Biographie mit denen der in den Jahren 1873 bis 1912 verfassten Allgemeinen Deutschen Biographie. So berichtet zum Beispiel der 1999 gedruckte Artikel der Neuen Deutschen Biographie über den Straßburger Juristen und ersten Inhaber des CodexLehrstuhls an der dortigen Akademie, Georg Obrecht, dass dieser während seines Jurastudiums in Frankreich als Protestant von den Wirren der Bartholomäusnacht 1572 „überrascht“ worden und nach Straßburg zurückgekehrt sei.15 In dem 1887 erschienenen Artikel der Allgemeinen Deutschen Biographie hatte es noch wie folgt geheißen: „Durch die Verfolgungen, von welchen die Protestanten unmittelbar nach der Bartholomäusnacht (vom 23. auf 24. August 1572) in ganz Frankreich bedroht waren, gerieth O. zu Orleans in dringende Lebensgefahr und mußte mit Zurücklassung seiner werthvollen Büchersammlung nach der Heimath flüchten. Niedergeschlagen dort angelangt, trug er sich mit dem Gedanken die kriegerische Laufbahn einzuschlagen.“16 Hier entsteht nicht nur ein anderer Eindruck von dem Einschnitt, den das unmittelbare persönliche Miterleben der Massaker an den Protestanten Frankreichs im Leben dieses als lutherisch geltenden Straßburger Juristen bedeutet hat. Es wird auch ein inhaltlich hoch relevanter Aspekt klarer: Obrecht hat in __________ 13 Vgl. dazu genauer Christoph Strohm, Konfessionsspezifische Zugänge zum Augsburger Religionsfrieden bei lutherischen, reformierten und katholischen Juristen, in: Heinz Schilling/Heribert Smolinski (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555: Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Augsburg 21. bis 25. September 2005 (SVRG 206), Gütersloh 2007 [auch: Münster 2007], S. 127-156. 14 Dies gilt u. a. für die die Frühe Neuzeit behandelnden Bände der Neuausgabe des Gebhardt-Handbuchs (vgl. Maximilian Lanzinner, Konfessionelles Zeitalter 1555-1618, in: Rolf Häfele [Hg.], Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Stuttgart 2001, S. 1-203). 15 Vgl. François Joseph Fuchs, Art. Obrecht, Georg, in: NDB 19 (1999), S. 404 f., hier: 404. 16 August Ritter von Eisenhart, Art. Obrecht, Georg, in: ADB 24 (1887), S. 114-116, hier: 114.

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Straßburg als einer der ersten überhaupt Vorlesungen über das öffentliche Recht gehalten und damit für die Entstehung und Etablierung der Disziplin des öffentlichen Rechts in Deutschland eine gewisse Rolle gespielt. Aus seiner Biographie lässt sich vermuten, dass er angesichts der Lebensbedrohung in den Massakern an den Protestanten Frankreichs auch das in diesem Zusammenhang entstandene monarchomachische Schrifttum genau wahrgenommen hat. Insofern legt sich die Schlussfolgerung nahe, dass hier ein bislang nicht ausreichend gewürdigter Einfluss auf die Entwicklung der Staatsrechtslehre in Deutschland anzunehmen ist.

B. Methodische Probleme Die Erforschung weltanschaulich-konfessioneller Aspekte im Werk reformierter und natürlich auch lutherischer oder katholischer Juristen steht vor gewichtigen methodischen Problemen. Das erste methodische Problem resultiert aus der Schwierigkeit, in der zweiten Hälfte des 16. und den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts überhaupt klare Grenzen zwischen den Konfessionen zu ziehen. Besonders im Blick auf das Verhältnis von lutherischer und reformierter Konfession ist das letztlich nicht möglich. Die einzige Möglichkeit in dieser Hinsicht wäre, die Unterschrift unter die lutherische Konkordienformel von 1577 zum Maßstab zu machen. Dies trifft aber nur auf einen Teil der lutherischen Territorien zu, und man würde beträchtliche Teile des melanchthonianisch gesinnten Luthertums zum konfessionellen Niemandsland erklären. Für die Rechtsentwicklung so wichtige Hochschulen wie Altdorf, aber auch Helmstedt17 würden herausfallen. __________ 17

Im Jahre 1583 war Herzog Julius von dem Einigungswerk der Konkordie zurückgetreten. Der neue Herzog Heinrich Julius gab systematisch der humanistischen gegenüber der orthodoxen Richtung den Vorzug. So berief er 1589 den berühmten Humanisten Johannes Caselius (bis 1613 in Helmstedt) und in den folgenden Jahren andere Gleichgesinnte in die philosophische Fakultät, so dass diese aufblühte. In den Jahren 1614 bis 1654 verkörperte Georg Calixt, dessen Betonung der Bedeutung der Werke neben dem Glauben ihm den Vorwurf calvinistischer Tendenzen einbrachte, den Geist der Hochschule (zu den ersten Jahrzehnten der Universität Helmstedt vgl. Peter Baumgart, Die Anfänge der Universität Helmstedt, Habil. Schrift FU Berlin 1964; ders., Universitätsautonomie und landesherrliche Gewalt im späten 16. Jahrhundert. Das Beispiel Helmstedt, in: ZHF 1 (1974), S. 23-53; ders., Universitäten im konfessionellen Zeitalter: Würzburg und Helmstedt, in: ders./Notker Hammerstein (Hg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, 4), Nendeln (Lie.) 1978, S. 191-215; Merio Scattola, Gelehrte Philologie vs. Theologie: Johannes Caselius im Streit mit den Helmstedter Theologen, in: Herbert Jaumann (Hg.), Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus.

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Die von dem melanchthonianisch-reformiert gesinnten Prokanzler Philipp Camerarius seit 1581 über vierzig Jahre lang geleitete Nürnberger Hohe Schule in Altdorf zeigt, wie wichtig gerade diese nicht unter dem unmittelbaren Diktat eines Bekenntnisses stehenden Hochschulen für die Rechtsentwicklung gewesen sind.18 Man hätte nicht europäische Koryphäen wie Hugo Donellus, Scipio Gentili, den ebenfalls aus Westeuropa stammenden Hubert Giphanus, der freilich einer der zunehmenden Wechsler zwischen den Konfessionen geworden ist, oder Konrad Rittershusius berufen können. Bereits das traditionelle Etikett „kryptocalvinistisch“ für das Altdorfer Milieu oder die melanchthonianisch orientierten Kreise um Philipp Camerarius nimmt die lutherische Konkordienformel zum entscheidenden Maßstab. Auf reformierter Seite ist die innerkonfessionelle Pluralität noch stärker zu gewichten, da schon die beiden Zentren Zürich und Genf bzw. deren erste Protagonisten Zwingli und Calvin deutliche Unterschiede in ihrer theologischen Ausrichtung zeigen. Auch ist der Stellenwert der Bekenntnisse im Vergleich zu den lutherischen Kirchen geringer, da der Maßstab allein die Heilige Schrift sein sollte. Die späten und thematisch sehr zugespitzten Abgrenzungen der Dordrechter Synode von 1618/19 taugen jedenfalls noch weniger als entscheidender Maßstab als die Konkordienformel. Auch im Blick auf den Katholizismus ist von einer großen Pluralität auszugehen, die erst im Zuge der jesuitisch-tridentinischen Re-Formierung des Katholizismus weitgehend verlorengegangen ist. Unter den Juristen zeigt sie sich in charakteristischer Weise am Umgang mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555. Auf der einen Seite des Spektrums stehen kaiserliche Juristen wie insbesondere der 1521 geborene Johann Ulrich Zasius, der einen entscheidenden Anteil am Zustandekommen des Religionsfriedens hatte. Dessen geistige Herkunft ist wie die seines berühmten Vaters Ulrich Zasius durch humanistisch-erasmianisches Gedankengut geprägt. Im Jahre 1542 hatte Zasius sogar einen Ruf an die reformierte Universität Basel erhalten.19

__________ The European Republic of Letters in the Age of Confessionalism (Wolfenbütteler Forschungen, 96), Wiesbaden 2001, S. 155-181; Markus Friedrich, Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004, vgl. auch Werner Kundert, Katalog der Helmstedter juristischen Disputationen, Programme und Reden 1574-1810, Wiesbaden 1984. 18 Vgl. Wolfgang Mährle, Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575-1623) (Contubernium, 54), Stuttgart 2000, S. 35-38.

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Seit etwa 1546 in den Diensten des römischen Königs Ferdinand, vertrat er diesen als Gesandter auf dem Augsburger Reichstag und sorgte hier maßgeblich für die Überwindung der innerkatholischen Widerstände gegen einen Religionsfrieden mit den als häretisch angesehenen Protestanten.20 Zasius sah sich als Vermittler nicht nur zwischen kaiserlichen und fürstbischöflichen Positionen, sondern auch zwischen katholischen und evangelischen Standpunkten. Gleichwohl findet sich auch bei ihm die gemeinkatholische Auffassung, dass der gesamte Religionsfriede eigentlich gegen das göttliche bzw. kanonische Recht verstoße, da die meisten Bestimmungen gegen Gott, gegen den Papst und alle Billigkeit seien, und man dem lediglich um der Vermeidung des drohenden Krieges willen zustimmen müsse.21 Gerechtigkeit scheint auch einem ursprünglich in der humanistischen Jurisprudenz und im Zivilrecht geschulten Juristen wie Zasius ohne Geltung des kanonischen Rechts unmöglich. Und das Interesse an der Fortgeltung der „Germania sacra“ verhindert auch bei ihm jeden Kompromiss in der Debatte um den Geistlichen Vorbehalt.22

__________ 19

Zu ihm vgl. Walter Goetz, Art. Zasius, Johann Ulrich, in: ADB 44 (1898), S. 706708. Im Juni 1542 wurde der unter anderem in Padua zivilrechtlich Geschulte als Professor codicis [zum Februar 1543] an die reformierte Universität Basel berufen, ohne jedoch die Stelle faktisch anzutreten (zu den Gründen vgl. Rudolf Thommen, Geschichte der Universität Basel 1532-1632, Basel 1889, S. 159 f.; Edgar Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1460-1960, Basel 1960, S. 195; Karl Mommsen, Katalog der Basler juristischen Disputationen 1558-1818. Aus dem Nachlaß hg. v. Werner Kundert [Ius commune. Sonderhefte, 9], Frankfurt a.M. 1978, S. 93). 20

Angesichts der Frage der Suspension der geistlichen Gerichtsbarkeit mahnte er die Vertreter der geistlichen Fürsten, die Verhandlungen nicht gleich daran scheitern zu lassen (vgl. Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden [RST 148], Münster 2004, S. 41; vgl. auch ebd., S. 36 f. 43. 51 f.). 21 Vgl. das Schreiben Zasius’ an den römischen König Maximilian am 5.6.1555, zit. in: Sigmund Adler, Der Augsburger Religionsfriede und der Protestantismus in Österreich, in: Max Pappenheim u.a. (Hg.), Festschrift Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag, Weimar 1910, S. 251-277, hier: 263; vgl. auch Bernd Christian Schneider, Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches (JusEccl 68), Tübingen 2001, S. 170 f. Anm. 108; weitere kritische Urteile Zasius’ über die Protestanten und ihre Neigung zu „conspirationes“ bei: Gotthard, Religionsfrieden (Anm. 20), S. 274; zu Zasius’ Wirken gegen Kurfürst Friedrich III. in der Herrschaftszeit Maximilians II. vgl. August Kluckhohn, Friedrich der Fromme, Kurfürst von der Pfalz, der Schützer der reformirten Kirche 1559-1576, Nördlingen 1879, S. 219. 22

Vgl. die Zitate und Belege bei: Gotthard, Religionsfrieden (Anm. 20), S. 144 f.

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Auf der anderen Seite des Spektrums katholischer Juristen ist der auf dem Reichstag 1555 als Kanzler des Augsburger Bischofs Otto Truchseß von Waldburg agierende Konrad Braun zu platzieren.23 Braun hatte in den zwanziger Jahren in Tübingen nicht nur Jurisprudenz, sondern auch Theologie studiert und dann bis zu seinem Tod im Jahre 1563 neben seinen Tätigkeiten am Reichskammergericht und als Rat bzw. Kanzler verschiedener katholischer Herrscher auch zahlreiche Schriften theologischen bzw. kirchenhistorischen Inhalts verfasst.24 Sein hier entfaltetes kontroverstheologisches Programm bestimmte auch das Wirken als Jurist.25 Wie sein Landesherr konnte er dem Augsburger Religionsfrieden nicht zustimmen und hat er die grundsätzlichen Bedenken durch zahlreiche Protestationen von Beginn der Verhandlungen an zum Ausdruck gebracht.26 Wenige Jahre zuvor hatte er in den Schriften „De haereticis“ und „De seditionibus“ die Reformation als politische Rebellion klassifiziert und ihr gegenüber eine strenge Durchsetzung des Ketzerrechts auch mit Gewaltmaßnahmen gefordert.27 Entsprechend war es ihm in Augsburg nicht möglich, mehr __________ 23 Vgl. die grundlegende Studie: Maria Barbara Rößner, Konrad Braun (ca. 14951963) – ein katholischer Jurist, Politiker, Kontroverstheologe und Kirchenreformer im konfessionellen Zeitalter (RST 130), Münster 1991; mit offenkundiger Sympathie für Braunsche Positionen (!): Remigius Bäumer, Konrad Braun und der Augsburger Religionsfriede, in: Winfried Aymans/Anna Egler/Joseph Listl (Hg.), Fides et ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, Regensburg 1991, S. 283-301; vgl. ferner Nikolaus Paulus, Dr. Konrad Braun. Ein katholischer Rechtsgelehrter des 16. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 14 (1893), S. 517-548; Ferdinand Siebert, Zwischen Kaiser und Papst. Kardinal Truchseß von Waldburg und die Anfänge der Gegenreformation in Deutschland, Berlin 1943, S. 142-151; Remigius Bäumer, Konrad Braun, in: Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 5 (KLK 48), Münster 1988, S. 117-136; Christine Roll, Das Zweite Reichsregiment: 1521-1530 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, 15), Köln u.a. 1996, S. 460 f. 24 Vgl. die Auflistung der gedruckten und ungedruckten Schriften Brauns in: Rößner, Braun (Anm. 23), S. 343-353. 25

Die von ihm propagierte Reform der katholischen Kirche bestand für ihn wesentlich in der konsequenten Bekämpfung der (lutherischen) Ketzer. Ferner betonte er die umfassende, lediglich durch dogmatisierte Glaubensentscheidungen begrenzte Jurisdiktionsgewalt des Papstes. Eine Erläuterung seines kontroverstheologischen Programms gibt Braun in der Widmungsrede zum Traktat „De imaginibus“ (Mainz 1548). 26 27

Vgl. die Belege in: Rößner, Braun (Anm. 23), S. 270-278. 287.

Vgl. Konrad Braun, Libri sex, de haereticis in genere, Mainz 1549; ders., De seditionibvs libri sex, rationibvs et exemplis ex omni doctrinarvm et authorum genere locupletati, Mainz 1550.

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als einen zeitlich eng begrenzten Aufschub der Anwendung des Ketzerrechts zuzugestehen.28 Ohne jede Bereitschaft zum Kompromiss war er ferner bei der Suspension der geistlichen Gerichtsbarkeit in den evangelischen Gebieten, dem Zugeständnis eines landesherrlichen ius reformandi und der Anerkennung der protestantischen Verwendung der Kirchengüter nach dem Stichjahr 1552.29 Die fundamentale Opposition gegen die Augsburger Ausgleichsregelungen folgt nicht nur aus einem an der überragenden Jurisdiktionsgewalt des Papstes ausgerichteten Kirchenverständnis,30 sondern insbesondere aus der als grundlegend für das Reich und das Reichsrecht angesehenen Einheit von Papst, Kaiser und Reich. Im Zuge der jesuitisch-tridentinischen Konfessionalisierung wurden die Auffassungen Brauns zur Mehrheitsmeinung. Das zweite methodische Problem betrifft die konfessionelle Identifizierung. Es gibt einzelne Juristen, die sich explizit zu einer bestimmten konfessionellen Ausrichtung gehalten haben oder durch ihre Kommunikationszusammenhänge eindeutig einzuordnen sind. Unter den klar calvinistisch-reformierten Juristen könnte man neben Althusius zum Beispiel Donellus31 oder auch Hermann Vultejus nennen, der schon durch seinen Vater in diese Richtung gelenkt wurde, in Genf studiert hat und dann beim Übergang der Universität Marburg zum reformierten Protestantismus unter Landgraf Moritz dem Gelehrten 1605 eine wichtige Rolle gespielt hat.32 Andere haben klar reformierte Prägungen, sind __________ 28 Braun hat im Jahre 1548 die Auffassung, dass mit Häretikern und Schismatikern keine Bündnisse geschlossen werden dürfen, in einer Schrift „De legationibus“ eingehend begründet: Konrad Braun, De legationibvs libri qvinqve: cvnctis in repvb. versantibvs, avt qvolibet magistratv fungentibus perutiles, et lectu iucundi, Mainz 1548, S. 13 f. 37. 58. 108 f. 131 ff.; vgl. auch Rößner, Braun (Anm. 23), S. 270: Braun „lehnte [...] grundsätzlich einen Religionsvergleich durch ein Kolloquium oder Nationalkonzil, wie es die kaiserlich-königliche Proposition vorgeschlagen hatte, ab. Auch zeitlich begrenzte vertragliche Übereinkünfte mit den Protestanten hielt er für Unrecht.“ 29 Vgl. ebd., S. 268-284. Brauns Version des Geistlichen Vorbehalts sah vor, dass ein konvertierter Bischof dem Ketzerrecht unterliege! Seiner Auffassung nach würde eine Freistellung der Geistlichen binnen kurzem zur Profanierung aller geistlichen Herrschaften führen, „die gantz catholische religion zu boden gehen, [...] unnd in summa totius Germaniae destructio darauß volgen“ (Braun an Kardinal Otto von Augsburg, 14.6. 1555, zit. ebd., S. 284). 30

Vgl. ebd., S. 142.

31 Vgl. Christoph Strohm, Religion und Recht bei Hugo Donellus. Beobachtungen zur Eigenart religiöser Bezüge in der frühen calvinistischen Jurisprudenz, in: Irene Dingel/Volker Leppin/Christoph Strohm (Hg.), Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, Gütersloh 2002, S. 176-223, bes. 181-194. 32

Vgl. Strohm, Calvinismus und Recht (Anm. 4), Abschn. II.Tl.5.2.

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aber in ihrer weiteren Entwicklung schwerer zu fassen bzw. nur mit Einschränkungen einer bestimmten Konfession zuzuordnen. Exemplarisch sei auf den bereits erwähnten Scipio Gentili verwiesen.33 Er war mit seinem Vater und seinem Bruder Alberico um des Glaubens willen aus Italien geflohen, hatte in Tübingen und Wittenberg, später in Leiden bei Justus Lipsius Philologie und bei Donellus Jurisprudenz studiert. Weitere Stationen waren die reformierten Universitäten Heidelberg (seit 1587 Dozent) und Basel (1589 Dr. iur.), bevor er schließlich seit 1590 in Altdorf lehrte – anfangs neben dem befreundeten, aber bald verstorbenen Donellus. In Gentilis umfangreichen Psalmnachdichtungen kommen Bezüge auf Theodor Beza vor, aber ansonsten bleibt Gentilis konfessionelle Einstellung weitgehend im Dunkeln oder anders gesagt, im modernen Sinne seine Privatangelegenheit, trotz eines offensichtlich starken „religiösen Interesses“.34 Mit dem Gesagten ist schon ein drittes grundlegendes methodisches Problem angesprochen. Man kann nicht die von den Theologen formulierten konfessionellen Unterscheidungslehren als die bei den einzelnen Juristen präsenten bzw. wirksamen voraussetzen, auch wenn die Juristen einigermaßen klar einer Konfession zuzuordnen sind. Es muss sorgfältig geklärt werden, welche Bestandteile des konfessionellen Erbes mehr oder weniger explizit präsent sind und welche davon wiederum überhaupt für die Rechtslehre bzw. Tätigkeit als Jurist relevant werden. So kommt die Prädestinationslehre bei calvinistisch-reformierten Juristen im Allgemeinen nicht vor – auch zum Beispiel bei Althusius – oder sie wird sogar problematisiert wie von Basilius Amerbach, dem Sohn Bonifacius Amerbachs.35 Stattdessen ist ein Vertrauen auf die göttliche __________ 33 Zu Gentili vgl. Johann Friedrich Jugler, Beytraege zur juristischen Biographie: Oder genauere litterarische und critische Nachrichten von dem Leben und den Schriften verstorbener Rechtsgelehrten auch Staatsmaenner, welche sich in Europa beruehmt gemacht haben, 6 Bde., Leipzig 1773-1780, Bd. 6, S. 146-168; Roderich von Stintzing, Art. Gentilis, Scipio, in: ADB 8 (1878), S. 576 f. 34 Donellus hatte kein Problem, an der lutherischen Hochschule Altdorf zu lehren, da man ihm dort die Freiheit zur individuellen Religionsausübung ließ. Auch in Heidelberg hatte Donellus nicht sogleich mit den ersten Schritten der Relutheranisierung der Kurpfalz seit 1576 seine Stelle aufgegeben. Trotz des bereits erfolgten Rufes nach Leiden verblieb er an der Universität Heidelberg, auch als die profiliert reformierten Theologieprofessuren abgesetzt wurden. Erst als auf die Professoren Zwang ausgeübt wurde, die Konkordienformel zu unterschreiben und gegen Donellus intrigiert wurde, verließ er die Universität (vgl. Strohm, Religion und Recht [Anm. 31], S. 183-185; vgl. auch Heinrich Buhl, Hugo Donellus in Heidelberg [1573-1579], in: Neue Heidelberger Jahrbücher 2 [1892], S. 280-313). 35 In einem Brief an den ihm nach dem frühen Tod des Vaters anvertrauten Neffen Ludwig Iselin, der sich zum Jurastudium in Genf aufhielt, warnt er diesen vor der unkri-

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Führung vorherrschend, das nicht im Mindesten als Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu lutherischen Juristen taugt. Etwas anders verhält es sich mit der Abendmahlslehre. Hier findet man vielfach eine klare Abgrenzung gegenüber der körperlichen Realpräsenzlehre, die Luther gegen die sog. Schwärmer und dann gegen Zwingli betont hatte und die in die Konkordienformel aufgenommen wurde.36 Die Ablehnung der körperlichen Realpräsenz wirkt sich jedoch nur zusammen mit anderen Grundentscheidungen, die nicht einfach in Bekenntnisformulierungen aufgehen, in der Rechtslehre aus. So ist die Ablehnung der leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl letztlich Ausdruck der Überzeugung, dass das biblische Christentum nicht im Widerspruch zur recta ratio, vielmehr gegen jede Art von Aberglauben steht. Und dies ist dann unmittelbar relevant für die Rechtslehre. Ich komme hierauf zurück.37 Es sind nicht unmittelbar spezifische Bekenntnisformulierungen, die im juristischen Œuvre zur Wirkung kommen, sondern sie sind untrennbar verbunden mit darüber hinausgehenden (weltanschaulichen) Grundentscheidungen. Ich schlage darum vor, nicht einfach von Auswirkungen der Konfession auf das

__________ tischen Übernahme calvinistischer Lehren. Iselin hatte dem Onkel und Vormund mitgeteilt, dass er, wie das üblich sei, auch bei Theodor Beza Vorlesungen höre. Der lese gerade – jede zweite Woche wenigstens dreimal – über den Römerbrief und sei nun dabei, auf subtilste Art die Prädestinationslehre zu behandeln. Daraufhin gibt Amerbach dem zukünftigen Basler Juraprofessor Iselin (1589-1612) den bezeichnenden Rat, sich ja nicht von theologischen Spitzfindigkeiten in Bann schlagen zu lassen. Amerbachs umfangreichen Erläuterungen offenbaren eine allgemeine Vorsehungsfrömmigkeit mit starkem ethischen Einschlag. Zentral ist das Vertrauen auf Gottes Güte. Weitergehende theologische Auseinandersetzungen werden nicht nur als überflüssig, sondern als gefährlich gebrandmarkt (vgl. Basilius Amerbach an Ludwig Iselin, 3.9.1581, zit. in: Strohm, Recht und Jurisprudenz [Anm. 4], S. 469 Anm. 52). Zu Basilius Amerbach vgl. Alfred Hartmann, Basilius Amerbach, in: Andreas Staehelin (Hg.), Professoren der Universität Basel aus fünf Jahrhunderten. Bildnisse und Würdigungen, Basel 1960, S. 50; Ferdinand Elsener, Die Basler Juristenfakultät vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Zürich 1976, S. 94-133, hier: 118; Hans Thieme, Eine akademische Sittenpredigt Basilius Amerbachs, in: Basler Jahrbuch 1952, S. 77-82. 36 Vgl. zusammenfassend Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 187-195. 324-333. 37

Siehe dazu unten S. 20 f.

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Werk von Juristen, sondern von weltanschaulich-konfessionellen Aspekten im Werk von Juristen zu sprechen.38

C. Vier Hypothesen Erste Hypothese: Die Frage nach dem Einfluss weltanschaulich-konfessioneller Aspekte auf die Rechtslehre reformierter Juristen darf nicht primär durch die Profilierung gegenüber lutherischen Juristen beantwortet werden. Denn hier sind die Unterschiede vergleichsweise geringfügig und lediglich tendenzieller Art. Anders hingegen verhält es sich, wenn man reformierte mit katholischen, insbesondere tridentinisch-katholischen Juristen vergleicht. Für reformierte Juristen durchgehend charakteristisch ist das Insistieren auf die Freiheit der weltlichen Obrigkeit von kirchlichen Machtansprüchen. Im Sinne von Luthers betonter Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regiments wird die Zuständigkeit kirchlicher Obrigkeiten und insbesondere des Papstes auf Geistliches begrenzt, die Kompetenzen der weltlichen Obrigkeit auf praktisch alle Formen von Weltgestaltung ausgeweitet. Dabei handelt es sich nicht nur um die Rechtsbildung, sondern auch die sittliche Lebensgestaltung und die Mitverantwortung für die rechte Gottesverehrung und kirchliche Lehre.

__________ 38 Thomas Kaufmann hat den im Blick auf die Erforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bereits verwendeten Begriff „Konfessionskultur“ in die reformationsgeschichtliche Forschung eingeführt, um den Verengungen des Begriffs „Konfession“ zu entgehen. Dieser Begriff sei in der Lage, „die innerlutherische Vielfalt hinsichtlich des geltenden Bekenntnisses ebenso wie hinsichtlich der kulturellen Ausdrucksformen begrifflich zu verbinden. Damit bietet der Begriff zugleich die Möglichkeit, die im Luthertum bemerkenswert vielfältigen Phänomene und die zahlreichen Personen, die sich einerseits durchaus als Lutheraner verstehen, sich andererseits aber gegenüber pansophischen, kabbalistischen, naturkundlich-alchimistischen, paracelsischen oder auch mystischen und spiritualistischen Einflüssen öffnen und diese in vielfältiger Weise aufnehmen, mit der eigenen Tradition zu verbinden versuchen oder sich diesen ohne Vermittlung mit ihrer religiös-theologischen Tradition widmen, innerhalb des zeitgenössischen Luthertums zu verorten. [...] Daß das, was ich mit lutherischer Konfessionskultur bezeichnen möchte, eine religiös integrierte Alltagskultur meint, die zwar keine monolithisch geschlossene Einheit darstellt, wohl aber prägende Verbindlichkeiten voraussetzt und diese in vielfältigen Formen aktualisiert, ist gegenüber neueren kulturgeschichtlichen Konzeptionen der Frühneuzeit nachdrücklich zu betonen“ (Thomas Kaufmann, Dreissigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur [BHTh 104], Tübingen 1998, S. 144 f.). Hier bleibt das nicht befriedigend gelöste Problem, dass angesichts dieser Vielfalt das in irgendeiner Weise Spezifische der lutherischen Konfessionskultur im Vergleich zur reformierten oder katholischen definiert werden muss.

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Zwar wird im Gefolge der calvinistischen Monarchomachen Frankreichs ebenso die Frage der Grenzen weltlicher Herrschaft gestellt, die Hauptfrontstellung sind jedoch die päpstlichen Machtansprüche und Bestrebungen, die Autorität der weltlichen Obrigkeiten zu unterminieren. In besonderer Schärfe und Ausführlichkeit hat dies Dionysius Gothofredus, Urheber der zur allgemein anerkannten Textrezension gewordenen Ausgabe des Corpus Iuris Civilis, in einer 1592 wohl in Heidelberg gedruckten Schrift gegen die Exkommunikation des legitimen französischen Thronfolgers Heinrich IV. durch Papst Gregor XIV. dargelegt.39 Auch Althusius weist zum Beispiel weltliche Machtansprüche der Kirche oder die Einschränkung der Kompetenz der weltlichen Obrigkeit im Blick auf die Person des Geistlichen scharf zurück. Dabei steht Röm 13,1-7 für die von der geistlichen Gewalt unabhängige Einsetzung und Eigenständigkeit der weltlichen Obrigkeit. Dieser Text ist nicht zufällig der am häufigsten zitierte Bibeltext in der „Politica“.40 Im gleichen Sinne ist Röm 13 in Donellus’ weitestgehend immanent-rational argumentierendem Zivilrechtssystem die meistzitierte Bibelstelle.41 __________ 39 [Denis Godefroy], Maintenue et defense des princes sovverains et eglises chrestiennes, contre les attentats, vsurpations, et excommunications des Papes de Rome, s.l. [Heidelberg: Hieronymus Commelinus] 1592. Die Schrift ist aufgenommen in: [Simon Goulart], Les mémoires de la Ligve, sovs Henri III. et Henri IIII. Ros de France. Comprenant en six volumes, ou recueils distincts, infinies particularités memorables des affaires de la Ligue, depuis l’an 1576 jusques à l’an 1598, 6 Bde., s.l. [Genf] 1593-1602, Bd. 4, S. 400-654; Neuausg.: [Simon Goulart], Mémoires de la Ligue, contenant les évenemens les plus remarquables depuis 1576, jusqu’à la paix accordée entre le Roi de France et le Roi d’Espagne, en 1598. Nouvelle édition, 6 Bde., Amsterdam 1758, Bd. 4, S. 374-616. Während Goulart die Schrift ohne Angabe des Autors abgedruckt und nur von einer „tresdocte personnage“ gesprochen hat, wird sie seit Jacques Le Longs Bibliotheque historique de la France von 1768 ohne Widerspruch Godefroy zugesprochen (vgl. Jugler, Beytraege 6 [Anm. 33], S. 240-264, hier: 256; Eugène u. Emile Haag, Art. Godefroy [Denis et Jacques], in: La France protestante [...], Paris 1855, Reprint Genf 1966, S. 283-293, hier: 286; Eugénie Droz, Fausses adresses typographiques, in: BHR 23 [1961], S. 138-152. 379-394. 572-591, hier: 393; Paul Chaix/Alain Dufour/Gustave Moeckli, Les livres imprimés a Genève de 1550 a 1600. Nouvelle édition, revue et augmentée [THR 86], Genf 1966, S. 134). Zu der Schrift vgl. Strohm, Calvinismus und Recht (Anm. 4), Abschn. II.Tl.2.7.3. 40 Vgl. Heinrich Janssen, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius (EHS.T 445), Frankfurt a.M. u.a. 1992, S. 51. 41

Vgl. Strohm, Religion und Recht (Anm. 31), S. 200; Vgl. auch Hugo Donellus, Commentariorvm ivris civilis libri vigintiocto. In qvibvs ivs civile vniversvm singvlari artificio atque doctrina explicatur. Scipio Gentilis IC. recensvit, edidit, posteriores etiam libros suppleuit, Hanau 1612. Zunächst waren 1589 und 1590, noch zu Lebzeiten Do-

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Charakteristisch ist hier ebenfalls die grundsätzliche Bedeutung, die Jesu Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21) erhält. Donellus findet darin die biblische Begründung der Unterscheidung von ius divinum und ius humanum innerhalb seines Systems des Zivilrechts. „Aliud est enim jus Dei, seu quod Deo tribuitur: aliud, quod hominibus.“42 Das ius divinum, im Sinne des „Corpus Iuris Civilis“ verstanden als zum ius publicum gehörendes ius in sacris und sacerdotibus, wird als Teilbereich des ius civile entfaltet.43 __________ nellus’, die Bücher 1-5 und 6-11 erschienen. Dann folgten in den Jahren 1595-1597, von Donellus’ Schüler Scipio Gentilis besorgt, die teilweise noch von jenem fertiggestellten Bücher des Kommentars. Zitiert wird (wenn nicht anders vermerkt) nach folgender Ausgabe: Hugo Donellus, Opera omnia, cum notis Osualdi Hilligeri. Accedunt Summaria, et Castigationes Theologicae, 12 Bde., Rom/Macerata 1828-1833 (Buch, Kapitel, Paragraph; in eckigen Klammern Band- und Spaltenzahl); vgl. ferner Ausg. Lucca 17621770, Reprint Goldbach 1997 (Meisterwerke des europäischen Rechts, 3); Ausg. Florenz 1840-1847. Auflistungen der Werke Donellus’ in: Aernout P. Th. Eyssell, Doneau, sa vie et ses ouvrages. L’école de Bourges, synthèse du droit romain au XVIe siècle, son influence jusqu’à nos jours, Dijon 1860, Reprint Genf 1970, S. 344-352; Ernst Holthöfer, Hugo Donellus (1527-1591), in: Gesellschaft für fränkische Geschichte (Hg.), Fränkische Lebensbilder, Bd. 10, Neustadt a.d. Aisch 1982, S. 157-178, 175-178; Margreet J. A. M. Ahsmann/Robert Feenstra/Rigo Starink, Bibliografie van Hoogleraren in de Rechten aan de Leidse Universiteit tot 1811 (Geschiedenis der Nederlandsche Rechtswetenschap, 7/1), Amsterdam/Oxford/New York 1984, S. 105-129 (Nr. 197-267). 42

„Aliud est enim jus Dei, seu quod Deo tribuitur: aliud, quod hominibus. Et rursum in hominibus aliud, quod reipublicae, aliud quod privatis, et singulis. Neque haec ab hominibus nata tantum distinctio est, sed et verbo Dei aperte confirmata. Sic enim Christus loquitur Matth. 22[,21]. Reddite, quae sunt Caesaris, Caesari; et quae sunt Dei, Deo: significans, esse quaedam, quae sint Caesaris, ac per hunc, ut principem, reipublicae: quaedam, quae sint et vere dicantur Dei, quae illi reddenda sint. Quae nos jus Caesaris, et Dei nunc vocamus“ (Donellus, Comm. [Anm. 41] II,3, § 1 [I,193]). 43 „Quod jus de rebus divinis, idest ad Deum pertinentibus, praecipit, divinum appellamus: quod de humanis, humanum: [...]“ (Donellus, Comm. [Anm. 41] II,3, § 2 [I,194]). Das Problem, dass die Digesten und die Institutionen (im Unterschied zum Codex Justinianus) das jus divinum als Teilbereich des jus civile nicht behandeln, löst Donellus mit einem schlagenden Argument. Die christlichen Kaiser, vor allem Justinian selbst als Urheber dieser Rechtscorpora, wollten die gottlosen, frevlerischen Reden des heidnischen, vorchristlichen römischen Rechts vermeiden, die dem allmächtigen Gott die Ehre rauben. „Divini juris nulla mentio in Pandectis aut Institutionibus: certe nulla scripta veterum ad eam partem pertinentia. At non ideo utique, quod veteres hanc partem juris civilis non agnoverint: sed Imperatores Christiani, in primis autem Justinianus hujus compositionis auctor, cum jus ad veram regulam suorum temporum redigere vellent, ea quae erat de sacris, et religione Paganorum, sustulerunt. Quaecunque enim ex veteribus illis Ethnicis de hoc genere afferretur, necesse esset falsa esse, et impia, ut quae ad falsos Deos quos ipsi commenti essent, referrentur. Omnes Dii gentium sunt

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Noch grundsätzlicher hat der Heidelberger Marquard Freher das Jesus-Wort in Mt 22,21 interpretiert und dem sogar eine eigene Schrift gewidmet.44 In der Auslegung des Wortes Jesu, die er bewusst gegen die „hostes Domini“45 unternimmt46, wird das für die Entstehung des öffentlichen Rechts und die politische Kultur der westlichen Zivilisation insgesamt zentrale Interesse einer klaren Unterscheidung von Kirche und Staat bzw. Religion und Politik __________ idola, ut inquit Propheta Psalm. 96. Ex quo quicunque illis affingeretur cultus, quaecunque sacra, quamcunque speciem castitatis, et sanctimoniae prae se ferentia, daemoniorum cultum esse oportuit, idest impium, et sacrilegum, qui omnipotenti Deo suum honorem adimeret, et transferret ad eos, qui Dii non sunt. Quod, ut dixi, cum intelligerent Christiani, quorum opera jus civile ex libris veterum Ethnicorum in Pandectis, et Institutionibus collectum est, totam hanc partem omiserunt“ (Donellus, Comm. [Anm. 41] II,3, § 4 [I,195 f.]). 44 Vgl. Marquard Freher, De verbis Domini, date caesari, qvae sunt caesaris; et qvae Dei, Deo. Sermo votiuus, Theologistoricam eius loci explicationem continens, Heidelberg 1598; vgl. dazu Bemerkungen in: Elmar Mittler (Hg.), Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli – 2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg/Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Bibliotheca Apostolica Vaticana, Heidelberg 1986, Bd. 1, S. 146. 45 Vgl. Freher, De verbis Domini (Anm. 44), S. 4. Der Schrift ist ein Anhang angefügt (vgl. ebd., S. 38-44), der darlegt, wie sich die Päpste von den christlichen Kaisern das Recht erschlichen hätten, Steuern zu erheben. 46 „Quem seruitutem quam indigne in complures eorum exercuerit, non est huius loci denarrare: vt et totam illam amplissimam segetem Theologis intactam relinquo, quomodo ea quoque quae Dei sunt, Christi seruatoris, eiusque sanctae sponsae Ecclesiae, idem infideliter reddiderit, quin sibi arroganter vsurparit; efferendo se supra omnia, et intolerabilem tyrannidem in Ecclesiam et oues dominicas exercendo.- Et audet spurcus et blasphemus ille auctor libri Monarchalis Papae, Iacobus de Terano, Vrbani VI. cubicularius, opus suum ab hoc dicto Domini ordiri: Reddite quae Caesaris, Caesari. vbi verba illa perbelle ita exponit: temporaliter scilicet, antequam Christus passus esset, et coelos victor ascendisset. Verba enim Domini [Marg.: Joh 12], Cum exaltatus fuero a terra, omnia traham ad meipsum, suauis conciliator exponit: Omnia imperia et regna mundi recuperabo, et aufferam a Caesare, Regibus et aliis Principibus, idque per milites meos Apostolos. Quibus potentis adulationum etiam Augustini de Anchona, caeterorumque parasitorum Pontificiorum libri pleni sonant, et bracteatae ipsae decretales Paparum non ab alio fere auro crepant.- Quanto magis sacerdotem decuisset, praecepti Dominici, Prophetici et Apostolici memorem vnctos Domini colere et venerari, eisque omnem amorem et obseruantiam quacunque animi submissione deferre, fidelibus praesertim et Dei cognitione vera imbutis, atque adeo patrocinium et defensionem Ecclesiae Christianae profitentibus. Erat quidem illud tempus, quo cum Principes Romani non tantum Deum verum ipsi ignorarent, sed alios ab eius cognitione et professione quantum in ipsis esset arcerent; tum certe Christianis etiam atque etiam cauendum esset, ne plusquam fas esset, Caesari tribuerent, et limites hos a Domino positos, sancte religioseque seruarent“ (Freher, De verbis Domini [Anm. 44], S. 41 f.).

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deutlich. Freher liegt mit seiner Auslegung ganz auf der Linie von Luthers grundlegender Unterscheidung der beiden Regimente, geht aber einen bemerkenswerten Schritt darüber hinaus. Denn das Jesus-Wort fordert seiner Auffassung nach dazu auf, die Vermischung göttlicher und menschlicher Sachverhalte zu vermeiden.47 Die Pharisäer hätten Jesus scheinheilig angesprochen „Du lehrst den Weg Gottes in die Wahrheit“ (Mt 22,16), dann aber etwas gefragt, was gar nicht pietas und religio betraf (Mt 22,17: „Darum sage uns, was meinst du: Ist’s recht, daß man dem Kaiser Steuer zahle, oder nicht?“). So habe Jesus sie als Heuchler bezeichnet und ihnen vorgeworfen, „confundere rationes diuinas cum humanis“. Eben damit, dass man dem Herrscher das ihm Zukommende zukommen lässt, lässt man Gott das Geschuldete zukommen. Oder etwas moderner gesprochen: In der Welt weltlich zu handeln, heißt, Gott zukommen lassen, was ihm zukommt. Dem entspricht auch, dass Freher in seinem Schrifttum mit Entschiedenheit für ein als Vernunftrecht verstandenes Naturrecht eintritt und hier keinen Widerspruch zum göttlichen Gesetz sieht.48 Zweite Hypothese: Der Kampf gegen die Übergriffe geistlicher Instanzen bzw. des Papstes in den Kompetenzbereich der weltlichen Obrigkeit wird von Freher wie den meisten reformierten Juristen in den Jahrzehnten zwischen 1550 und 1620 in den Kontext einer alles bestimmenden Fundamentalauseinandersetzung gestellt. Auf der einen Seite steht das Papsttum und seine Helfershelfer, __________ 47 „Illi enim texuerant proœmium alicuius quaestionis ad pietatem et religionem pertinentis, dicendo: Viam Dei in veritate doces. et tamen quaestio ipsa non pertinebat ex diuino instituto ad viam Dei. Ideo vocat eos Hypocritas, et mox e reipsa ostendit illos confundere rationes diuinas cum humanis, quando de censu soluendo tanquam de praecepti alicuius diuini violatione agunt; cum tamen allatus nummus de quo agitur, nil plane sacrum aut religiosum redoleat, atque adeo illius solutio non tangat aut offendat Deum, nec pietatem laedat; imo debeatur Caesari tanquam victori, legum et monetae conditori, et qui non petat violari religionem, sacra deseri, idola adorari, sed ex communi moneta reddi sibi numisma, in vsus promiscuos cusum et mere Romanum“ (Freher, De verbis Domini [Anm. 44], S. 12). Vgl. auch ebd., S. 35 f.: „Magistratus caeteri jus suum a Caesare habent, Caesar a Deo, Dei ipsius est minister, nec frustra gladium gerit: et vt ipse praefectis suis gladium ad tutelam bonorum, excidium malorum committit, ita ad hunc vsum prius a Deo accepit. Denique conjuncta est causa Dei et Caesaris, numinis et magistratus, quod iam olim sapientissimus Regum docuit [Marg.: Prov. Salomonis 24]: Time Deum, fili mi, et Regem. et deinceps Apostolus: Deum timete, Regem honorificate. Coniuncta est, non confusa. Itaque neque occupate jura Caesariana, neque vicissim quae sacri iuris sunt, ad profanos vsus conferte: vt Eleemosynas, quas Christus pro se et membris suis acceptas fert; et alia sacris piisque vsibus destinata illis conseruate, exemplo Laurentij eam ob causam sub Diocletiano passi. Multominus profanis rebus sacrorum reuerentiam, aut hominibus diuinos honores date.“ 48 Vgl. Brigitte Schwan, Das juristische Schaffen Marquard Frehers (1565-1614) (Veröffentlichung der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer, 74), Speyer 1984, S. 154-170.

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auf der anderen Seite das wahre biblische Christentum und die vom Humanismus wiederentdeckte recta ratio. Das Papsttum steht für Blasphemie, Aberglauben und Machtausübung und bedroht in gleicher Weise die Errungenschaften der Reformation wie des Humanismus. Je stärker die Protestantenverfolgungen durch eigene Erfahrungen oder durch Kontakte präsent sind, umso schärfer und militanter wird der Gegensatz zum Papsttum und teilweise auch den Habsburgern als deren weltlichen Helfershelfern betont. Ich nenne über Donellus und Freher hinaus in aller Kürze einige Namen von reformierten Juristen, für die ich das belegen kann:49 der 1556 an die Universität Heidelberg berufene, und dann als Rat und Kanzler maßgeblich am Übergang der Kurpfalz zum reformierten Protestantismus mitwirkende Christoph Ehem, der seit 1598 im Dienst der kurpfälzischen Fürsten stehende Ludwig Camerarius, der bereits genannte Dionysius Gothofredus (Denis Godefroy), Althusius, dessen Nachfolger in Herborn, Philipp Heinrich Hoenonius sowie der 1591 von der Herborner Hohen Schule an die Universität Marburg gewechselte Hieronymus Treutler von Kroschwitz.50 Im Kontext der beschriebenen Fundamentalauseinandersetzung sind auch die wenigen, durchaus zurückhaltenden Bezüge auf die innerprotestantischen Unterscheidungslehren zu verstehen. Teilweise wird die lutherische Reformation als nicht ausreichend klar in der Abgrenzung und angesichts der Militanz der gegnerischen Seite gefährlich laue Positionsbestimmung bewertet. In eben diesem Sinne hat François Hotman während seines späten Aufenthalts in Basel die lutheranisierenden Tendenzen des Antistes Simon Sulzer bewertet.51 Der __________ 49

Vgl. dazu genauer und mit Belegen Strohm, Calvinismus und Recht (Anm. 4), S. 58 f. 61 f. 128-132. 149. 161 f. 182. 198 f. 225. 257 f. 50 Bei dem für den Übergang der Universität Marburg zum reformierten Protestantismus wichtigen Hermann Vultejus tritt die antipäpstliche bzw. antirömische Grundhaltung weniger stark hervor. 51 Hotman, der 1558 privatim von Bonifacius Amerbach in Basel promoviert worden war, hat in mehreren Briefen die mangelnde Konsequenz der Reformation in Basel scharf kritisiert. Der Grundtenor der Äußerungen ist die Klage über die mangelnde Kirchenzucht und Disziplinierung der Sitten. „Nos Papistis ipsis ludibrio sumus. Doctrina reformata est, vita deformatissima“ (Hotman an Rudolph Gwalther in Zürich, 26.5.1579, abgedr. in: Jan Gulielmus Meelius (Hg.), Francisci et Joannis Hotomanorum patris ac filii, et clarorum virorum ad eos epistolae, Amsterdam 1700, S. 110 f., hier: 111). Vgl. Max Geiger, Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie, Zollikon-Zürich 1952, S. 37. Besonders der Antistes Simon Sulzer, der ihn noch 1578 ehrenvoll in Basel empfangen hatte, verfällt gnadenloser Kritik. „Animadverti hoc toto anno summam et plane dissolutam, et (ut J.C. nostri loquuntur) supinam ejus in Ecclesiae disciplina socordiam. Nullum verae et solidae pietatis specimen aut argumentum in illo cognovi: [...]“ (Hotman an Wilhelm Stuckius in Zürich, 4.9.[1587],

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reformatio doctrinae muss die reformatio vitae folgen, auch um die Gefahr des Rückfalls der Bevölkerung in den römischen Aberglauben zu minimieren.52 In diesem Sinne ist es auch zu deuten, dass die einzige innerprotestantische Unterscheidungslehre, die bei reformierten Juristen eine nennenswerte Rolle spielt, die Abgrenzung gegen Luthers körperliche Realpräsenzvorstellung ist, die auch die Confessio Augustana invariata von 1530 bestimmt. Das lässt sich bei Christoph Ehem,53 Ludwig Camerarius,54 Hieronymus Treutler von Kroschwitz55 und wohl auch anderen hessischen Juristen nachweisen.56 Hier handelt es __________ abgedr. in: Meelius, Epistolae, S. 201 f., hier: 201). Die lutheranisierenden Tendenzen Sulzers seien eine lebensgefährliche Schwächung der Protestanten in ihrem Kampf gegen das Papsttum. Hotman sieht gerade auch die Gefahren einer Uneinigkeit der Schweizer Protestanten für die französischen Protestanten, die deren Hilfe in ihrem Überlebenskampf gegen den König dringend bedürften (vgl. ebd., S. 202; vgl. auch Geiger, Kirche, S. 37). 52 Die Gründung der Herborner Hohen Schule im Jahre 1584 erfolgte mit dem ausdrücklichen Ziel, die Reformation voranzutreiben und angesichts der römischen-spanischen Bedrohung zu sichern (vgl. Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit [1584-1660]. Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation [Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 30], Wiesbaden 1981, S. 22-35; Strohm, Calvinismus und Recht [Anm. 4], Abschn. II.Tl.4.1.). Die äußere Organisationsstruktur wie die Gestaltung der Lehrinhalte sind durch Zeitalter und Zielsetzung bestimmt. Gerhard Menk hat in seiner grundlegenden Studie zum Thema formuliert: „Die Hohe Schule Herborn durfte innerhalb des deutschen Kalvinismus in besonderem Maße für sich in Anspruch nehmen, als der Prototyp einer konfessionell ausgerichteten Ausbildungsstätte zu gelten“ (Menk, Die Hohe Schule, S. 15). Ein als Plakat gedrucktes Vorwort zum Verzeichnis der im Sommersemester 1598 in Siegen abgehaltenen Vorlesungen, das wahrscheinlich auf Althusius zurückgeht, betont ausdrücklich, dass das Ziel des Studiums an der Hohen Schule nicht nur die Reformation der Lehre, sondern auch die Reformation des Lebens sei. „Lectionum elencho duo jam praemittenda duximus. De scholae nostrae recollectione unum, alterum de ejusdem reformatione [...]. Reformatio erit tum doctrinae tum disciplinae“ (Index Lectionum Scholae Nassovicae Sigenensis aestivo semestri habendarum anni MDXCIIX. [Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 95, 1750II], zit. in: Gustav Adolf Benrath, Johannes Althusius an der Hohen Schule in Herborn, in: Karl-Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel [Hg.], Politische Theorie des Johannes Althusius [Rechtstheorie, Beiheft 7], Berlin 1988, S. 89-107, hier: 95 Anm. 21). 53

Vgl. Strohm, Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte bei Heidelberger Juristen (Anm. 4), S. 328. 54 55

Vgl. ebd., S. 330.

Im Jahre 1592 hat Treutler eine umfangreiche Rede über Leben und Sterben Landgraf Wilhelms IV. zum Druck gebracht (vgl. Hieronymus Treutler, Oratio historica de vita et morte [...] Wilhelmi [IV.] Hassiae Landgravii [...], Marburg 1592). In diesem

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sich jedoch lediglich um Abgrenzungen gegen die körperliche Realpräsenzlehre der Confessio Augustana invariata von 1530. Die von Melanchthon 1540 veränderte Confessio Augustana variata mit ihrer als Spiritualpräsenz zu deutenden Präsenzlehre wird an keiner mir bekannten Stelle abgelehnt. Beispielhaft dürfte Nikolaus Cisner sein, der sich für seine Rückkehr vom Reichskammergericht in Speyer nach Heidelberg in der Phase der Reluther__________ Text, der wesentlich dem Lob der pietas des Fürsten gewidmet ist, kommt zum Ausdruck, was auch Treutler selbst für die wichtigsten Aspekte rechter Konfession und Frömmigkeit hält. Unter den abzulehnenden spitzfindigen Lehren führt Treutler auch das christologische Dogma auf, welches die in die Konkordienformel aufgenommene körperliche Realpräsenzlehre begründete. „Scripta Prophetica et Apostolica pacis illius normam esse volui: proximum ab iis locum Symbolis Apostolico, Nicaeno, Athanasiano attribui: concilia Oecumenica, quas in difficillimis fidei articulis phrases, quos loquendi modos approbassent, eos retinendos censui: phrases novas, ut plenas scandali et indubios contentionis fomites procul arceri jußi: idque potißimum in doctrina de persona Christi, in admirando incarnati filii Dei mysterio fieri mandavi: ut ultra sacras illas literas mei homines saperent; ut sibi licere putarent, quod iis, quae dixi, symbolis, iis, quae dixi, conciliis prohibitum inveniretur, non tuli, non permisi unquam. Ad has, quas dixi, normas Augustanam Confeßionem, Ecclesiarum in Germania symbolum retuli ipse, et ut referrent alii, apud meos praecepi, apud alios suasi: monendo, scriptitando, quoad vixi, eadem dicere, eadem subjicere Electoribus et Principib. aliis non destiti: ut potius de veteri tuenda pace, quam de nova instituenda; et magis de communi negocio expediendo, quam intestinis dißidiis exaggerandis solliciti esse vellent, suasi: darent gloriam Deo, et scandala evitarent, rogavi, oravi, obsecravi“ (ebd., S. 49). Vgl. dazu genauer Strohm, Calvinismus und Recht (Anm. 4), Abschn. II.Tl.5.3.2. 56 Zu Landgraf Wilhelms IV. Sympathie für reformierte Auffassungen vgl. das Schreiben, das er am 24. März 1581 an einen Kritiker gesandt und das Strieder im Auszug veröffentlicht hat: „ich kann wol dencken, das die Leutte so die gancze Weltt vnderstehn zu reformiren, vundt Jderman die Splitterlein in Augen suchen, aber die grosse kloecz so sie jnn jhren aigenen Augen habenn, nitt allein nitt herrauß ziehen, sondern vor eytel Heiligthum gehaltten haben wollenn, solche Ding vonn mir spargiren, Dan ich waiß jhren brauch laider viel zu wohl. Nemlich mehr jhre Paradoxa nit will gutt haissen, alß das Christus begraiflicher laiblicher Waise, nit jnn Gott noch bey dem Vatter noch jm Himmel say, Item das ehr vff die waise, wie vnser gesicht, auch Hicz vnd klang, durch die lufft vndt glaß dringet, vndt kainen raum gibtt noch nimpt, also auch von seiner Mutter geboren soll sein. Item das der Himmel so wohl als Christi Menschlicher Leib allenthalben jnn allen Creaturen, laub, graß, ja im strick vnndt bierkanten sein solle, Item das ehr nit eines fingers, ja nit eines hars breyt vffgefahren, sondern wie etzliche vorgeben, sain vffart nurt ein entzuckung von vnserem gesicht sein soll, vnd was der fantasey vnndt schwermerai noch viel mehr ist, die Gottes wortt vnd den heiligen symbolis ex diametro zuwieder saind, das sie den flur Caluinisch, ja erger alß Turcken vnd Juden pflegen außzuschreyen“ (Friedrich Wilhelm Strieder, Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, fortgeführt v. Ludwig Wachler/Karl Wilhelm Justi/Otto Gerland, 20 Bde. in 21. Tlbdn., Kassel/Marburg 1781-1866, Reprint Göttingen 1983-1989, Bd. 2, S. 452 f. Anm (*)).

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anisierung unter Ludwig VI. im Jahre 1580 Freiheit in der Religionsausübung zusichern lässt57 und diese an einem Abendmahlsbekenntnis orientiert, das in charakteristischer Weise die Schlüsselformel des Abendmahlsartikels der Confessio Augustana variata („cum pane et vino“) aufnimmt.58 Dritte Hypothese: Angesichts der beschriebenen Kampfsituation rücken reformatorische und humanistische Zielsetzungen aufs engste zusammen. Man geht von einer consonantia biblicae religionis et rectae rationis, einer Gleichstimmigkeit der wahren biblischen Religion und der rechten Vernunft, aus. Mit oder ohne ausdrücklichen Bezug auf den von Paulus in Röm 2,14 f. formulierten, stoisch inspirierten Naturrechtsgedanken können die Begründungsfragen des Rechts rein immanent-rational abgehandelt werden. Das gilt für Christoph __________ 57

Vgl. Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1614 (Kieler Historische Studien, 7), Stuttgart 1970, S. 282. In diesen Jahren galt er als einer der offen Reformierten am Heidelberger Hof (vgl. ebd., S. 292). Im Zuge seines Frankreich-Aufenthaltes hatte er auch Calvin in Genf einen Besuch abgestattet und anschließend dessen Bildung und Frömmigkeit gelobt (vgl. N. Cisner an Johannes Calvin, aus Bourges, Dezember [1557], in: Calvini opera quae supersunt omnia, hg. v. Johann Wilhelm Baum/August Eduard Cunitz/Eduard Reuss, 59 Bde., Braunschweig/Berlin 1863-1900, Bd. 16, Nr. 2766, Sp. 715 f.). Man kann ihn wohl als „gemäßigt reformiert mit einem starken humanistischen Einschlag“ bezeichnen (Press, Calvinismus, S. 282). 58 „CREDO Eucharistiam, juxta verba Irenaei, duabus rebus constare; Terrena et Coelesti. Terrena: scil. pane et vino: Coelesti, scil. corpore et sanguine Domini: et cum pane et vino vere et substantialiter adesse, exihiberi et sumi corpus Christi et sanguinem; Et quidem in hoc mysterio divino ac coelesti, vero tamen et substantiali modo, non transubstantiatione, non locali inclusione, nec durabili aliqua extra usum Sacramenti conjunctione: sed sacramentali unione. [...] Ac propter hanc Sacramentalem unionem, [...]. Cum vero et hoc ipsum Sacramentum, ut Augustinus tradit (Tractat. 26. ad c. 6. Joannis), signum sit unitatis et vinculum caritatis, Deum oro, ut nos regat, qui in fundamento et plerisque articulis fidei secundum Augustanae Confessionis formulam convenimus, ut concordiae verbo Dei congruenti potius studeamus: ut a primarijs nostra patrumque memoria reformatae religionis Theologis factum videmus, quam dissidia alamus; ut deposita animorum acerbitate caritati et conciliationi operam navemus, ut gloriam Dei, ecclesiae christianae utilitatem, nostris sive cupiditatibus sive affectionibus anteponamus. Scriptum 1580“ (Nic. Cisneri Confessio de Coena Domini, exhibita praesenti El. Pal. Ludovico, P. M. Svmma sententiae meae de sacra Coena Domini nostri Jeus Christi, in: Quirinus Reuter [Hg.], Nicolai Cisneri [...] opuscula historica et politico-philologa, tributa in libros IV, Frankfurt a.M. 1611, S. 960-962. Vgl. auch Karl Friedrich Göschel [Hg.], Zur theologisch-juristischen Biographie und Literatur, Zweite Abtheilung, Schleusingen 1842 [Zerstreute Blätter aus den Hand- und Hülfsakten eines Juristen. Wissenschaftliches und Geschichtliches aus der Theorie und Praxis oder aus der Lehre und dem Leben des Rechts III/2], S. 247). Cisner lehnt sich hier ferner an Martin Bucers Rede von der sakramentalen Einheit zur Deutung der Gegenwart an und stimmt im wesentlichen mit Calvins Abendmahlslehre überein.

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Ehems 1556 zum ersten Mal erschienenes Werk „De principiis iuris libri septem“.59 Dieser Exponent des Heidelberger Reformiertentums verzichtet hier trotz des Themas einer Rechtsgrundlegung auf jede eigenständige biblisch orientierte rechtsphilosophische Begründung und argumentiert vielmehr rein rational-philosophisch.60 Ein weiterer Heidelberger Jurist, Johann Kahl __________ 59 Vgl. Christoph Ehem, De principijs ivris libri septem, quibus iurisprudentiam arte, methodo, ordineque tradi, proprijsque finibus circunscribi posse, dilucide ostenditur, Basel 1556; Neudr. Hanau 1601; knappe Bemerkungen dazu in: Hans Erich Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2: Neuere Zeit (1500-1800). Das Zeitalter des gemeinen Rechts, 1. Tlbd.: Wissenschaft, München 1977, S. 615-795, hier: 736 f.; vgl. auch Roderich von Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 1. Teil (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, 18/I), München/Leipzig 1880, Reprint Aalen 1957, S. 259 f. 60 Ehem erwähnt lediglich einmal die Auferweckung des Lazarus als Beispiel für etwas, das nur „absolute raro“ geschehe (vgl. Ehem, De principiis [Anm. 59], S. 175). Schon der vorangestellte Widmungsbrief formuliert das Anliegen, eine juristische Argumentationslehre zu bieten, die sich durch methodische Ordnung und rationale Begründung auszeichnet. Entsprechend finden sich dann auch unablässig Rückverweise auf den ordo, die methodus und die recta ratio. Dabei ist Aristoteles der Zeuge einer anthropologischen Begründung verschiedener wissenschaftlicher Zugänge, die dann unter Rückgriff auf die methodischen Überlegungen des Arztes und Polyhistors Galen kombiniert werden. Daneben gründet sich das Werk auf Platon und vor allem auf Cicero. Mit letzterem verbindet Ehem der kontinuierliche Verweis auf das recta ratioArgument, das den Willen zeigt, ausschließlich rationale Begründungen zuzulassen. Nicht zuletzt durch die Schriften Ciceros werden auch die Altstoiker Zenon und Chrysipp sowie insbesondere die stoische Naturrechtslehre rezipiert. „Recta ergo ratio dux est, et magistratus, et vinculum huius societatis, ad quam nati sunt homines a natura: quae tantisper salua et incolumis permanet, dum eidem paretur et obtemperatur. Porro autem recta ratio nihil aliud est, quam ipsa lex: quia ratio, est ipsius legis forma et essentia: quemadmodum anima et mens, est forma corporis. et proinde nomen quoque non temere, vt Plato ait, lex menti ac rationi proximum obtinuisse creditur: quippe cum kl¼s mentem ac rationem, kãjls vero legem significet, sine qua nec domus vlla, nec ciuitas, nec gens, nec hominum genus vniuersum stare, nec rerum natura, nec ipse mundus potest: haec enim praeest, praescribitque recta et vtilia, et coniuncta atque consentanea naturae, et vt Chrysippus ait, tam diuinarum quam humanarum rerum omnium regina est, non solum rebus honestis turpibusque praesidens, sed etiam principatum ac ducatum tenens, et per hoc regulam praescribens iustis simul et iniustis, [...]. Vtramque Cicero expreßit: Lex (inquit) illa quam dij humano generi dederunt, est ratio mensque sapientis“ (ebd., S. 137 f.; weitere Verweise auf Zenon bzw. Chrysipp: ebd., S. 2. 140. 243. 254. 409). Hier wird ciceronische Rationalität unmittelbar für die Grundlegung der Rechtslehre relevant. Pointiert und unter ausdrücklicher Berufung auf Cicero formuliert Ehem, dass aequitas nichts anderes als recta ratio ist und somit dem ius naturale entspricht (vgl. ebd., S. 304). Die stoische Lehre des Anteils menschlicher Vernunft am göttlichen Logos wirkt insofern fort, als Ehem die göttliche Weisheit im menschlichen

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(latinisiert Calvus/Calvinus), hat sich 1595 in einer Schrift mit dem Titel „Themis Hebraeo-Romana“,61 eingehend mit Fragen der Rechtsbegründung befasst. Kahl legt in unmittelbarem Anschluss an Melanchthons Naturrechtslehre die Vorstellung von dem Intellekt bzw. dem Gewissen innewohnenden Vernunftprinzipien dar.62 Ziel dessen ist eine durchweg rationale Rechts__________ Vernunftfunken aufscheinen sieht (vgl. ebd., S. 139. 427; vgl. auch ebd., S. 25. 314. 382). Wenn religiöse bzw. theologische Argumentationsfiguren auftauchen, dann ausschließlich im Kontext von Ausführungen der herangezogenen antiken Autoren. Von Platon, der das bei den Humanisten übliche Prädikat „divinus noster“ erhält (vgl. ebd., S. 102 [richtig: 101]. 286), übernimmt Ehem die Auffassung, dass das Ziel der Philosophie als Wissenschaft von göttlichen und menschlichen Dingen die similitudo Dei sei (vgl. ebd., S. 296 f.). Von Cicero übernimmt er recht unbekümmert die Rede von „den Göttern“ (vgl. ebd., S. 138 f. 307. 315). Dabei bleiben die Aussagen zumeist auf der Ebene einer recht allgemeinen Religiosität, wenn zum Beispiel der Gehorsam gegen die Gesetze damit begründet wird, dass diese nicht nur auf menschlichem Dekret, sondern auch auf dem Walten der Götter beruhen (vgl. ebd., S. 140). An einer Stelle wird der „höchste Gott“ als Schöpfer eingeführt, um im Dienst der Naturrechtsbegründung die Vernunftausstattung des Menschen zu erklären (vgl. ebd., S. 427). Die religio, die wie die Tugenden Voraussetzung von Recht ist, beruht nach Ehems Auffassung auf der Gemeinschaft mit Gott und nicht auf Furcht (vgl. ebd., S. 432). 61 Johann Kahl [Calvinus], Themis Hebraeo-Romana, id est iurisprudentia Mosaica, et iuris tum canonici, tum civilis, Romana, inuicem collata; et methodice digesta: [...], Hanau 1595. 62 „Aque vt de ratione paulo preßius dicam: cum negociorum et iudiciorum politicorum hic ordo a Deo constitutus sit, vt ratio mentis, administra et cooperatrice, vel potius dictatrice conscientia nostra, principia certa et immota ex intellectu depromat; ex principiis deinde conclusiones generales ac speciales nectat, conclusiones postea rebus particularibus accommodet; et ex conditionibus denique particularibus determinationes particulares ac singulares, iustas nimirum et aequas, omni tempore, et ad omnia conficiat, recteque applicet vel conficere poti et applicare debeat: in his vniuersis ad singula mire labascit iudicium mentis humanae. Nec. n. intellectus noster communia illa principia nunc incorrupta et expedita habet vt olim ante ruinam illam primorum parentium funestißimam; per quam illa rubigine quadam obducta et obliterata fuerunt; neque etiam voluntas intellectui inseruit, moremque gerit, vt decebat. Deinde ratio turbata per lapsum ac deprauata, satis languida nunc atque interdum inepta est ad conclusiones firmas et immotas ex principiis illis eliciendas. Tum vero vt maxime conclusiones aliquando iustas exinde eliciat, res tamen ipsae, quae sensuales ac particulares sunt, ac e quibus ratio ex sensuum indicio ac iudicio statuere debet, nobis plerumque plus satis obscurae ac dubiae sunt: tum ob infirmitatem nostram, sensuumque hebetudinem, tum ob naturam ipsarum numerumque et infinitam partim copiam, partim varietatem. Etenim non solum res ipsae natura sua et generatim, et secundum ´aflm^nb¬^s speciatim variantur; sed etiam modus, circumstantiae et conditiones in illis variae varias et aßiduas mutationes pariunt: cum tamen absque illa rerum ipsarum, itemque conditionum ac circumstantiarum particularium noticia, legitimae determinationes et applicationes singulares in singulis ac diuersißimis negociis recte fieri

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begründung. „Die recta ratio ist nicht nur Anfang und Ursprung [...], sondern auch Fundament und Basis von Recht und Gesetz. Aus der ratio geht also das Recht hervor und zwar aus der ewigen ratio des ewigen Gesetzgebers das ewige Recht, aus der menschlichen ratio das menschliche Recht, aus der recta ratio, das richtige und gesunde Recht. Ebenso gilt das Gegenteil. So gründet sich das Recht auf die ratio gleichsam wie auf ein Fundament, ja, es wird von der ratio wie von einer Richtschnur gemessen und gebilligt. Ebenso stützt sich das sachgemäße Recht auf jene recta ratio [...] in den menschlichen Geschäften und Einrichtungen, und gemäß dem, was eben dieses Recht vorschreibt, entsteht das rechte Gesetz. Wenn darum die ratio nicht recta, sincera und iusta ist, können auch Recht und Gesetz nicht recht und sachgemäß sein.“63 Dieser Begründung allen Rechts – sowohl des römischen wie des mosaischen – in der recta ratio

__________ haudquaquam poßint“ (ebd., f. a 3v). Kahl schließt sich auch Melanchthons Rückgriff auf die stoisch-ciceronische Begründung des Naturrechtsgedankens, auf das Licht der Vernunft an. „Communis ratio omnibus et singulis communi naturae lumine, et conscientiae dictamine perspecta est, aut esse certe debet ac potest: atque haec omnes communiter et homines et gentes concernit, tenet, et obligat: omnesque sanae mentis mortales ea ipsa se teneri et obligari, a propria conscientia vel per se, vel certe si ab aliis moneantur, conuincuntur. Atque haec ratio immutabilis est: particularis vero in vniuersum omnibus nota est: nec omnes homines obligat: et haec temperamento iusto mutabilis est“ (ebd., f. a 7v). Vgl. ferner ebd., S. 2: „Siquidem Decalogus lex naturae est a Deo illustrata: propterea illas (politicas leges) Iudaeis equidem latas meminerint Christiani: sic tamen vt, quatenus naturalibus seu moralibus istis et vniuersalibus (in quantum hae ipsae naturales, et vniuersales sunt) vniuersali aequitatis ac iusticiae ratione cohaerent ac correspondent, nec speciale aliquid ac Iudaicae politiae peculiare, vel in ceremoniis vel in ritibus forensibus attemperatum et annexum habent; eatenus illas (Politicas leges) quoad vnuiersalem illam, inquam, aequitatis rationem, Christianos perinde atque Iudaeos obligare sciant: non quatenus Iudaeis latae sunt aut praescriptae (his enim et Decalogus praescriptus, qui nos omnes obligat) sed quatenus ipsis, vt hominibus, secundum ius creationis ac legis et aequitatis naturae communis, praescriptae.“ 63

„Iuris autem ac proinde et legis (quae est effigies seu index et tabula iuris) non tantum principium et origo, sed et fundamentum et basis est ratio recta (nempe practica) mentis et conscientiae sanae. A ratione ergo ius proficiscitur: a ratione aeterna aeterni legislatoris, ius aeternum: a ratione humana, ius humanum: a ratione recta, ius rectum et sincerum: et contra. Deinde vero ratione quoque tamquam fundamento ius nititur: quin et ratione tamquam norma diiudicatur ac probatur. Proinde in humanis negociis et institutis, ratione illa recta (iustitiam scilicet legis conscientiae in se complexa) ius rectum nititur, ac secundum eandem ius dictantem et praescribentem lex recta fertur. Itaque si ratio reuera non sit recta, sincera et iusta, nec ius rectum, sinterum ac verum esse poterit: proinde nec lex iusta ac sincera. Ratio vero illa; qua ius nititur, sicut lex iure, vel vniuersalis, seu vniuersim omnium hominum communis est, vel particularis: [...]“ (ebd., f. a 7r).

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tritt keine ernsthafte Reflexion auf spezifisch biblische Grundlegungen des Rechts zur Seite.64 Sie ist nicht einmal dort zu finden, wo Kahl im Interesse der Klärung dessen, was wandelbar ist, auf die grundsätzliche Problematik der aequitas eingeht. Auch hier fehlt jeder Verweis auf spezifisch christliche Argumentationen im Sinne der notwendigen Korrektur des ius strictum durch Barmherzigkeit oder Liebe. Es bleibt bei der allgemeinen Formulierung, dass ein Gesetz den besonderen Umständen entsprechend zu mäßigen bzw. zu mildern sei.65 Die wenigen Verweise auf Bibelstellen in der Vorrede haben keinerlei tragende Bedeutung für die Argumentation.66 __________ 64 Die vielfache Berufung auf die „recta ratio“, die „ratio naturalis“, die „civilis ratio“ o.ä. ist auch für andere Schriften Kahls charakteristisch. Vgl. Johannes Kahl, De principe, de maiestate, ac privilegiis eivs: proinde et de Lege Regia: commentatio iuridico-politica, et historico-iuridica et eiusdem privilegiis: capitibus duobus distincta [...], Frankfurt 1600, f. A 2v. S. 8 f. 39. 44 f. 51 f. 54. 61. 64. 66. 68. 71. 80 f. Bezeichnend ist die Auflistung folgender argumentativer Kriterien: „Principi ergo vero ac bono maximam necessitatem, obligationem, coactionem seu debitum obtemperandi legibus imponit 1. Deus et conscientia. 2. ratio recta. 3. virtus et iusticia. 4. honestas publica. 5. ratio officii ac personae quam sustinet. 6. modestia, decorum, et verecundia. 7. salus populi et vtilitas publica. 8. propriae ipsorum Imperatorum leges, quibus sibi hanc legem ponunt. Decet maiestatem seruare leges, l. 4. C. de legib. Eum qui leges facit, pari maiestate legibus obtemperare conuenit, ait Paul. 9. exemplum publicum. 10. conciliatio ardentioris subditorum erga principem amoris ac fidelitatis“ (ebd., S. 68). 65

„Locum autem analogia ista non tantum habet in caußis iuris communis expressam legem non habentibus: sed in iisdem quoque expressam legem habentibus quidem, sed circumstantia quadam ad caussam siue casum communem accedente, proindeque ius commune variante, modificatis: propter hanc enim circumstantiam peculiarem ius commune per analogiam istam modificatur et temperatur, hoc est, exasperatur aut mitigatur: adeoque ius simpliciter commune, fit analogice, seu h^q| qf, commune. Est ergo haec iuris analogia, si vera, expedita ac sincera sit, in fundamento rationis ac substantiae constans et immutabilis: verumtamen in circumstantiis mutabilis. Propterea accurate dispiciendum est, an in lege aliqua praeter istud rationis communis fundamentum circumstantiae, seu communes, seu particulares, personis aut rebus accesserint. Hae namque varietatem ipsis haud exiguam afferunt. Ideoque hic non summo iure agendum est: sed iuris analogia atque ™mfb¬hbf^ ex circumstantiis personarum et rerum, similiumque exemplorum ac circumstantiarum collatione, studiosißime exploranda. Nam respectu circumstantiarum, quae mutabiles sunt, etiam mutabilis efficitur analogia iuris“ (Kahl, Themis Hebraeo-Romana [Anm. 61], f. c 5r-v). 66

„Adhaec auctoritatem lex Mosis vtramque habuit, nempe et diuinam et humanam: et vtramque summam. Auctor namque et sancitor legis illius publica testificatione Deus erat: Moses autem administer Dei, ac fidelis seruus in tota domo ac politia ipsius; Israelitarum ductor ac legislator, ipsorummet consensu eximius, Deuteron. 33. Exod. 20, et 24. Nil igitur in ista Dei per Mosen lege desiderari potest: vtpote quae rationem occaecatam illuminat, corruptam instaurat, imperfectam diuinitus perficit ac firmat.

Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen

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Auch Donellus entfaltet im Zuge des humanistischen Interesses am Zusammenhang von Recht und Moral67 in seinem Kommentarwerk eingehend die Grundfragen des Rechts. Bei ihm spielen biblische Texte ebenso nicht die Rolle, die man erwarten würde. Lediglich der stoisch beeinflussten Rede vom in die Herzen der Menschen geschriebenen Gesetz in Röm 2,14 f. kommt eine besondere Bedeutung zu.68 Ansonsten werden in den ersten beiden der 28 Bücher des Zivilrechtskommentars, die Begriff, Inhalt, Geltungsbereich und Zweck des Rechts bzw. der Gerechtigkeit und der Jurisprudenz behandeln, die weltanschaulichen Grundentscheidungen des römischen Rechts aufgenommen und vor allem Cicero als alle anderen (antiken) Autoren überragende Autorität wirksam. Noch massiver als Donellus greift Dionysius Gothofredus auf stoisches Gedankengut zurück. Gothofredus hat nicht nur eine Seneca-Ausgabe erstellt, sondern ihr auch eine Zusammenstellung von theologischen, juristischen u.a. loci communes vorangestellt.69 So militant sich Gothofredus wie die anderen

__________ Principia quoque practica, quae nunc mire in nobis deprauata in kljlnbp¬‡ Mosis per legem moralem eiusque explicationem perfectione summa a corruptione ista vindicantur et instaurantur, Christo ipso Matth. 5 teste atque interprete“ (ebd., f. a 4v-5r). Vgl. auch ebd., f. 6v (Dtn 5; Ex 31); ebd., f. b 5r (Gal 5). 67 Vgl. Vincenzo Piano Mortari, Ricerche sulla teoria dell’interpretazione del diritto nel secolo XVI, I: Le Premesse, Mailand 1956, S. 17-38; Guido Kisch, Studien zur humanistischen Jurisprudenz, Berlin/New York 1972, S. 34. 53-54; Karl Heinz Burmeister, Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich, Wiesbaden 1974, S. 192 f.; Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des CalvinSchülers Lambertus Danaeus (AKG 65), Berlin/New York 1996, S. 204 f. 236-252. 68 Vgl. Donellus, Comm. (Anm. 41) I,7, § 2 f. [I,42 f.]; vgl. auch ebd., I,12, § 4 [I,77]. 69

Dionysius [Denis] Gothofredus [Godefroy], In L. Annaei Senecae philosophi opera coniecturarum et variarum lectionum libri V. Loci communes seu libri aureorum, nomenclator sive commentarius selectarum dictionum, Basel 1590. Zitiert wird nach der folgenden Ausg.: Denis Godefroy [Dionysius Gothofredus], L. Annaei Senecae philosophi et M. Annaei Senecae Rhetoris opera qvae extant omnia. Cum omnibvs commentariis hactenus editis, ad ordinem et seriem textus literis et numeris praeeuntibus. Nunc primum vno contextu et intuitu, summo temporis et inquisitionis compendio, ad calcem cuiusque capitis dispositis. Praeterea hac editione accesservnt D. Gotofredi IC. notae, in vtrumque Senecam in aliis editionibus omissae. Necnon eivsdem loci commvnes auctiores quam antea. item I. Dalechampii et Th. de ivges, variae lectiones et notae. tandem novvs index rervm et verborvm accuratissimus: et haec omnia studio, labore, et sumptibus Th. de Ivges, I.V.D., Genf 1628.

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Autoren70 vom römischen Papsttum abgrenzt, so unbefangen geht er von einer Übereinstimmung biblischen und stoischen Denkens aus. Entsprechend fügt er in seiner Seneca-Ausgabe auch den fiktiven, im 4. Jahrhundert entstandenen Briefwechsel Senecas mit Paulus bei.71

__________ 70 Für Johann Kahls Werk ist die Zusammenstellung der Gesetzestexte aus römischem, kanonischem und biblischem Recht zum Ersten Gebot innerhalb der Themis Hebraeo-Romana charakteristisch. Hier finden sich neben den Bibelstellen aus dem Johannesevangelium, welche wahre Gotteserkenntnis allein durch Christus vertreten (Joh 14; Joh 1; I Joh 1) auch auffällig viele Cicero-Zitate (vgl. Kahl, Themis HebraeoRomana [Anm. 61], S. 3-7). Während die Vielzahl der heidnisch-antiken Götter eher am Rande thematisiert wird, identifiziert Kahl in dem ausführlichen Abschnitt „De erroribus circa primam Decalogi legem“ (ebd., S. 7-22) die tridentinisch-römische Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit als Verstoß gegen die Verehrung des einen Gottes. „Eorum qui vnum quendam Monarcham Deorum statuunt, cui alii subsint: qui vocantur Monarchitae et Deitae. Huc ergo pertinent tutelares Dii Papistarum“ (ebd., S. 8). An anderer Stelle werden Gott und ratio unbefangen nebeneinander gestellt und erscheinen im Zuge eines breiten Rückgriffs auf römische Religiosität via Cicero gleichsam austauschbar: „[...] ubi lex imperat, ait, ibi Deus et ratio imperat: sed ubi homo, ibi affectus et belua: Quanto etiam gravius et aequius M. ille Tullius 2. Philipp. et 1. de legibus? Lex nihil aliud est, inquit, nisi recta et summa a numine deorum tracta ratio, jubens ea quae facienda sunt, ac prohibens contraria. Et 2. offic. [...]“ (Johann Kahl [Calvinus], De jurisprudentiae Romanae studio recte conformando; citiusque ac facilius (superatis difficultatibus et impedimentis ejus) docendo, discendo, et exercendo: item de toto hodierno jure Christiano-Romano: [...], Herborn 1600, S. 8 f.). Vgl. auch ebd., S. 9 f.: „[...] quanto sapientius et honorificentius Divus ille noster Justinianus in Codice ac Novellis plurimis: Princeps, ait, custos ac patronus pietatis, Ecclesiae et religionis esse debet, custos atque patronus scholarum, omniumque bonarum artium, virtutum ac disciplinarum. Princeps custos justitiae, custos legum, custos juris ac judiciorum esse debet [...]. Etenim inter homines nihil unquam extitit robustius justitia, vel pulchrius, quodque Deum et Imperatorem seu principem placare magis et conciliare possit, ut in eadem N. dicitur.“ Vgl. ferner ebd., S. 48. 71 „Epistolae Senecae et Pavli“ (Godefroy, Senecae opera omnia [Anm. 69], f. + 4v5r). Danach bescheinigt dieser jenem, dass ihm bei seinen philosophischen Überlegungen Dinge enthüllt worden seien, wie sie Gott nur wenigen zugestanden habe. Er solle ein neuer Verkünder Jesu Christi werden, die unwiderlegbare Wahrheit, die er nahezu erlangt habe, mit allen Mitteln rhetorischer Kunst preisen und dem zeitlichen Herrscher und seinen Dienern verkünden. „Perpendenti tibi ea sunt reuelata, quae paucis diuinitus conceßit. Certus igitur ego in agro iam fertili semen fortißimum sero: non quidem materiam quae corrumpi videtur, sed verbum stabile Dei, deriuamentum crescentis, et manentis in aeternum, quod prudentia tua aßecuta est, indeficiens fore debebit, Ethnicorum Israëlitarumque obseruationes censere vitandas. Nouum te auctorem feceris, Christi Iesu praeconijs ostendendo rhetoricis irreprehensibilem sophiam: quam propemodum adeptus regi temporali, eiusque domesticis atque fidis amicis insinuabis: quibus aspera et incapabilis erit persuasio, cum plerique eorum minime flectantur insinuationibus tuis, quibus vitale commodum sermo Dei instillatus, novum hominem sine corruptela,

Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen

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Schließlich ist auch Althusius’ 1586 zum ersten Mal und dann mehrfach wiederaufgelegte Darstellung des römischen Rechts, die „Jurisprudentia Romana“, hier zu nennen.72 Wie die fast zeitgleich erschienene, entsprechende Darstellung des Vultejus73 ist sie ramistisch geprägt und greift auch in den grundlegenden Passagen auf Cicero und andere antike Autoren, nicht aber biblische Texte zurück.74 Althusius’ spätere Gesamtdarstellung des Rechts, die 1617 zum ersten Mal erschienene „Dicaeologica“, ist hingegen überladen mit Verweisen auf Bibelstellen.75 Die maßgeblich in der Auseinandersetzung mit einem System des Rechts des Jesuiten Pierre Grégoire76 verfasste Schrift ist

__________ perpetuam animam parit ad Deum isthinc properantem. Vale Seneca charißime nobis. Data Cal. August. Catone et Sabino Coss.“ (ebd., f. + 5r). 72

Vgl. Johannes Althusius, Iuris Romani libri duo, ad leges methodi Rameae conformati, et tabula illustrati, Basel 1586. Ab der zweiten Ausgabe lautete der Titel: ders., Iurisprudentia Romana, vel potius iuris Romani ars; duobvs libris comprehensa, et ad leges methodi Rameae conformata, Herborn 1588; Basel 1589; Herborn 1592; Herborn 1599; Herborn 1607; Herborn 1623. Zu der Schrift vgl. Strohm, Althusius’ Rechtslehre (Anm. 3), S. 74 f. 73

Hermann Vultejus, Jurisprudentiae Romanae a Justiniano compositae libri duo, Marburg 1590; vgl. dazu Stintzing, Geschichte I (Anm. 59), S. 452-465; Aldo Mazzacane, Umanesimo e sistematiche giuridiche in Germania alla fine del Cinquecento. Equità e giurisprudenza nelle opere di Hermann Vultejus, in: Annali di storia del diritto 12-13 (1968/69), S. 257-319; Strohm, Althusius’ Rechtslehre (Anm. 3), S. 76-78. 74

Vgl. ebd., S. 75.

75 Vgl. Johannes Althusius, Dicaeologicae libri tres, totum et universum jus, quo utimur, methodice complectentes. Cum parallelis huius et Judaici juris, tabulisque insertis [...]. Editio secunda priori correctior, Frankfurt a.M. 1649, Reprint Aalen 1967 [zuerst 1617]. 76 Vgl. Pierre Grégoire, Syntagma omnis iuris, Lyon 1580 u.ö. (unvollständige) Auflistung der Ausgaben in: Ernst Holthöfer, Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Italien, Frankreich, Spanien und Portugal, in: Coing (Hg.), Handbuch (Anm. 59), S. 103-499, hier: 206. Grégoire, Schüler Jean Bodins und als Professor an der lothringischen Universität Pont-à-Mousson tätig, war als Verteidiger der Beschlüsse des Tridentinischen Konzils hervorgetreten Vgl. Pierre Grégoire, Réponse au conseil donné par Charles des Molins sur la dissuasion de la publication en France du Concile de Trente en France, par Pierre Grégoire tholosain, docteur es droits civil et canon, professeur et doyen en l’Université de Pont-à-Mousson en Lorraine, Lyon 1583; vgl. dazu Thomas I. Crimando, Two French Views of the Council of Trent, in: Sixteenth Century Journal (1988), S. 169-186; Claude Collot, La réponse de Pierre Grégoire professeur et doyen en l’université de Pont-à-Mousson au conseil donné par Dumoulin sur la dissuasion de la réception du concile de Trente en France, in: Colloque

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weitestgehend römisch-rechtlich und ramistisch bestimmt. Aber Althusius ist wie die anderen genannten reformierten Juristen von der Überzeugung getragen, dass hier kein Gegensatz zu den biblischen Texten besteht, sondern diese im Gegenteil die Rationalität des römischen Rechts im wesentlichen bestätigen. Insofern kann Althusius der Vermischung von Gott und Welt, von Geistlichem und Weltlichem, wie sie das kanonische Recht und vor allem das System Grégoires kennzeichnet, eine biblisch legitimierte, rationale Alternative entgegenstellen.77 Vierte Hypothese: Die beschriebene, grundsätzliche Überzeugung eines Gleichklangs von biblischer Religion und rechter Vernunft hat zusammen mit der pointierten Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regiments eine außerordentlich positive Wirkung auf die Entwicklung der Rechtswissenschaften im protestantischen Deutschland ausgeübt. Michael Stolleis hat in seiner grundlegenden „Geschichte des öffentlichen Rechts“ darauf hingewiesen, dass es fast ausschließlich protestantische Juristen waren, die zur öffentlich-rechtlichen Diskussion beigetragen und das ius publicum als Disziplin in den juristischen Fakultäten etabliert haben.78 Hingegen wirkte sich die Übernahme eines großen Teils der Hochschulausbildung in den katholischen Territorien durch die Jesuiten hemmend auf die Entwicklung einer modernen, von theologischen Grundentscheidungen und Wahrheitsansprüchen sich emanzipierenden Rechtswissenschaft insgesamt aus. Weder die Ordenskonstitutionen der Jesuiten noch die „Ratio studiorum“ von 1599 sahen ein Studium der Jurisprudenz vor.79 Das Kirchenrecht war im Rah__________ de l’Université de Nancy II. L’Université de Pont-à-Mousson et les problèmes de son temps, Nancy 1974, S. 104-107. 77

Vgl. dazu genauer Strohm, Althusius’ Rechtslehre (Anm. 3), S. 78-80. 92-98.

78

Zum öffentlichen Recht vgl. Stolleis, Geschichte I (Anm. 10), S. 248: „Es ist offenkundig, daß die Pflege des öffentlichen Rechts sowohl in der Gründungsphase um 1600 als auch während des ganzen 17. Jahrhunderts eine im wesentlichen protestantische Angelegenheit geblieben ist. Die kontinuierliche Vermittlung des öffentlichen Rechts auf katholischen Universitäten setzte erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, z. T. noch später ein (Mainz 1719, Trier 1722, Würzburg 1729, Innsbruck 1733/34, Bamberg 1739, Wien 1749, Freiburg/Br. 1767). Einige Anstalten verzichteten nahezu oder gänzlich auf öffentliches Recht (Köln, Passau, Graz, Linz, Breslau, Dillingen). Erst am Ende des 18. Jahrhunderts glichen sich die Verhältnisse einigermaßen an.“ 79 Vgl. Georg Michael Pachtler (Hg.), Ratio studiorum et institutiones scholasticae Societatis Jesu, per Germaniam olim vigentes, 4 Bde. (Monumenta Germaniae paedagogica, 2, 5, 9, 16), Berlin 1887-1894, Reprint Osnabrück 1968; vgl. auch Arno

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men des Studiums der Moraltheologie zu behandeln. Wo wie in Bamberg eine Jesuitenuniversität vollständig neu gegründet wurde, fehlte eine juristische Fakultät.80 Auch an anderen jesuitischen Neugründungen gab es keine juristischen Fakultäten, sondern nur die Lehre des kanonischen Rechts durch Philosophen und Theologen.81 Die 1582 als eigene Zentraluniversität errichtete Gregoriana in Rom hatte keine juristische Fakultät. Hingegen war das Klima an protestantischen Universitäten für das Gedeihen juristischer Fakultäten mit zivil- und öffentlich-rechtlichen Schwerpunkten ausgesprochen günstig; mit allen Folgen für die Universitätsentwicklung insgesamt.82 Das jesuitische Universitätssystem war durch die Vorherrschaft theologischen Denkens gekennzeichnet. In dem Moment, in dem in einer sich wandelnden Welt säkulare Konzepte der Wirklichkeitsgestaltung gefragt waren, zeigte sich das katholische, durch die Jesuiten geprägte Hochschulwesen schlecht gerüstet. Das „Zurückbleiben des katholischen Reiches hinter dem sich erneuernden protestantischen, wie es sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts abzuzeichnen begann,“ erklärt sich nicht zuletzt aus dem Aufblühen der juristischen Fakultäten im protestantischen Bereich.83 Das für __________ Seifert, Der jesuitische Bildungskanon im Lichte der zeitgenössischen Kritik, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 43-75. 80 Vgl. Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N.F. 2), Paderborn u.a. 1981, S. 288-294. 81

Zu Dillingen vgl. ebd., S. 177.

82

Einen graduellen Unterschied zwischen juristischen Fakultäten im reformierten und lutherischen Einflussbereich kann man im Zeitraum 1550 bis 1620 dergestalt feststellen, dass die reformierten Fakultäten bzw. Hohen Schulen weniger traditionsgebunden und entsprechend offener den neuesten Methoden und Lehrinhalten wie insbesondere der ramistischen Systematik gegenüberstanden. 83 Vgl. Notker Hammersteins zusammenfassendes Urteil: „Zunächst unbemerkt, im folgenden Jahrhundert aber immer offensichtlicher, verblieb nurmehr wenig vom einstmaligen Glanz und der führenden Rolle des jesuitischen – und vielfach damit katholischen – Bildungssystems. In dem Moment, in dem die Vorherrschaft theologischen Denkens nicht mehr aktuell sein konnte, verloren die Patres den Anschluss an die geistige Entwicklung der Zeit. Das schloss selbstverständlich Glanzleistungen Einzelner nicht aus, es galt nicht allenthalben und schlechthin. Aber es erklärt das Zurückbleiben des katholischen Reichs hinter dem sich erneuernden protestantischen, wie es sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts abzuzeichnen begann. Übrigens sollte eine erneuerte juristische Fakultät, eine methodisch modifizierte Jurisprudenz nebst ihren Beifächern dabei auf allen Seiten eine entscheidende Rolle spielen, bei den Katholiken noch nachhaltiger als bei den Protestanten. Die Juristen waren hier, da sich die Jesuiten dieser Materien nicht annehmen durften, neben dem oder den zu vernachlässigenden Mediziner(n) die einzigen nicht konfessionell und theologisch überformten Vertreter der

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das Gedeihen zivilrechtlicher Fakultäten günstige Klima an protestantischen Universitäten hat einen entscheidenden Anteil an der Universitätsentwicklung in der Frühen Neuzeit.84 Denn der in der neueren Forschung hervorgehobene Sachverhalt, dass der mit der Reformation einhergehende Konfessionalisierungsschub nicht die generelle Abkehr von einem weltlichen Wissenschaftsverständnis und eine umfassende Retheologisierung bedeutet hat, beruht maßgeblich auf der wachsenden Bedeutung der juristischen Fakultät in der Universität.85 Dies ist gerade angesichts des Sachverhalts zu betonen, dass neuere Arbeiten zu Recht die Auffassung der älteren Forschung von einer generellen Rückständigkeit des jesuitisch-katholischen Bildungssystems relativiert haben.86

__________ Gelehrsamkeit. Sie hatten den katholischen Volluniversitäten ein Stück mundaner Wissensauffassung auch in konfessionsbestimmter Zeit erhalten können“ (ders., Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert [Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 64], München 2003, S. 17-23, 42 f.; vgl. ebd., S. 53 f.). 84

Vgl. die wiederholten Hinweise auf die Jurisprudenz als Leitwissenschaft der kulturellen Wertorientierung im 17. Jahrhundert bei: Willem Frijhoff, Der Lebensweg der Studenten, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. II: Von der Reformation bis zur Französischen Revolution 1500–1800, München 1996, S. 287–334, hier: S. 306. 308 f. 313. 319, 328; vgl. auch Willem Frijhoff, Universiteit en religie, staat en natie in de zestiende eeuw. Een comparatieve benadering, in: Willlem Pieter Blockmans/H. van Nuffel (Hg.), Etat et religion aux XV e et XVIe siècles, Brüssel 1986, S. 121–141. 85 Vgl. Hammerstein, Bildung (Anm. 83), S. 73; vgl. auch ders., Die Hochschulträger, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. II: Von der Reformation bis zur Französischen Revolution 1500-1800, München 1996, S. 105-137, hier: 108-111. 86

Vgl. Hengst, Jesuiten (Anm. 80); Barbara Bauer, Jesuitische „ars rhetorica“ im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt a.M./Bern/New York 1986, bes. S. 21-49; vgl. schon Ricardo Garcia Villoslada, Storia del Collegio Romano dal suo inizio (1551) alla soppressione della Compagnia di Gesù (1773) (Analecta Gregoriana, 66), Rom 1954.

Konfession und Jurisprudenz bei Melanchthon Von Isabelle Deflers, Heidelberg

„Ich danke Gott dafür, [...], dass er mir Hieronymus Schürpf nicht bloß zum Lehrer in der Rechtswissenschaft, sondern auch zum Vorbild für das ganze Leben gegeben hat. Nicht nur im Lernen trete ich in seine Fußstapfen, erstrebe ich dasselbe gerade und treffende Urteil und ebensolche Wahrheitsliebe, sondern auch das Leben anlangend, die sorgfältige Prüfung der reinen Glaubenslehre, die Beherrschung der Leidenschaften, 1 schaue ich auf ihn gleich wie in einem Spiegel.“

Mit diesen Worten ehrte der damals 29 Jahre alte Melanchthon 1526 in einer Laudatio seinen Rechtslehrer, Hieronymus Schürpf. Melanchthons Rechtsverständnis fußt also ersichtlich nicht nur auf seiner Bibellektüre, seiner Beschäftigung mit Ciceros „De officiis“ sowie mit der Politik und Ethik des Aristoteles und seiner Beraterfunktion bei den Kurfürsten von Sachsen. Sie beruht auch auf seiner Meister-Schüler-Freundschaft mit dem aus St. Gallen stammenden Rechtsprofessor Hieronymus Schürpf (auch Schurff oder Schürpff geschrieben; 1481-1554),2 dessen Vorlesungen über das römische Recht er an der Wittenberger Rechtsfakultät besucht hat. An der mit kaiserlichem Gründungsprivileg im Jahre 1502 entstandenen Wittenberger Universität3 gehörte __________ 1 Melanthonis Select. Declamat. IIII. 119. CR XI, S. 917. Theodor Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben im Zeitalter der Reformation, Erlangen 1866, ND Amsterdam 1966, S. 178-229 (über das Leben von D. Hieronymus Schürpf). 2 Ernst Landsberg, Artikel „Hieronymus Schurff“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, XXXIII, Leipzig 1891, S. 86. Zur Biographie: 12.9.1481 St. Gallen geb.6.6.1554 Frankfurt an der Oder gest. Sohn des Arztes Hans. 1498 Magister Artium in Basel, 1502 Dr. iur. an der Univ. Wittenberg, 1504 Rektor daselbst, 1507 Ordinarius iuris civilis in codice. Durch Friedrich den Weisen von Sachsen zum kurfürstlichen Rat ernannt, Beisitzer am gemeinsamen sächsischen Oberhofgericht in Altenburg und Leipzig. 1536 erster Ordinarius für Pandekten, ab 1547 Ordinarius in Frankfurt an der Oder. Verfasser der Consiliorum seu responsorum centuriae duae, Frankfurt/Francforti 1556. 3 Walter Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle a.d.S. 1917, S. 24.

Isabelle Deflers

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Schürpf nach 45 Amtsjahren zu den ältesten und angesehensten Juristen der Rechtsfakultät. Schürpf war nicht nur seit der Universitätsreform von 1536 als „erster Legent des Rechts“ für die Pandekten4 tätig, sondern amtierte auch als Beisitzer bei den Sitzungen des gemeinsamen sächsischen Oberhofgerichts in Altenburg und Leipzig. Er genoss außergewöhnliche (heutzutage geradezu traumhaft anmutende!) vom Kurfürsten gewährte Freiheiten, seine Lehrveranstaltungen zu gestalten und durchzuführen, wie und wann es ihm passte.5 Als Anhänger der lutherischen Bibellehre begleitete er den Reformator auf den Reichstag in Worms im April 1521. Sein Beistand, der die Unterstützung der gesamten Universität voraussetzte, verlieh Luthers Haltung Sicherheit und Legitimität. Als Karlstadt im Winter desselben Jahres, vor allem in Reaktion auf den Bildersturm, in Wittenberg Unruhen anzettelte, stand Schürpf an der Seite Melanchthons, um die Ausweisung des radikalen Reformators aus der Stadt zu bewirken.6 Obwohl er der evangelischen Konfession mit fester Überzeugung sein Leben lang treu blieb, kam es dennoch zu einer endgültigen Trennung von Luther; entscheidend war vor allem ihr Streit über die Anwendung des kanonischen Rechts, von dem später die Rede sein wird. Trotz der daraus entflammten Feindseligkeit zwischen den beiden Parteien, Juristen einerseits, Theologen andererseits, verband Melanchthon mit dem 1547 an die Universität Frankfurt an der Oder übergesiedelten Juristen bis zu dessen Tod im Jahre 1554 ein herzliches Vater-Sohn-Verhältnis. Dennoch hat die Melanchthonforschung dem Einfluss Schürpfs auf den Wittenberger Reformator bis heute relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Die Bedeutung des Juristen, der am Ende seines Lebens sogar einen – nur aus Altersgründen abgelehnten – Ruf an das Reichskammergericht erhalten hatte, bleibt für die Reformationsgeschichte noch zu erforschen: Sein Name steht nicht einmal in der Theologischen Realenzyklopädie. Die Zahl der Studien, die sich mit seiner Biographie und seinen Werken7 beschäftigt haben, lässt sich an

__________ 4

„Pandekten“ ist die griechische Bezeichnung der Digesten, die den wichtigsten Teil der justinianischen Kodifikation bilden, d.h. 50 Bücher, die zwischen 530 und 533 n. Chr. kodifiziert worden sind. Diese Bücher umfassen das sog. Juristenrecht, d.h. Exzerpte aus den Schriften der römischen Juristen vom letzten Jh. der Republik bis zum dritten Jh. n. Chr. 5

Landsberg, Artikel „Hieronymus Schurff“ (Anm. 2), S. 86.

6

Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg (Anm. 3), S. 200 f.

7 Hieronymus Schürpf, Consilia sev Responsa, Centvria tres, Frankfurt am Main 1612.

Konfession und Jurisprudenz bei Melanchthon

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einer Hand abzählen8 – und das, obwohl Melanchthon in seinen zahlreichen Reden selbst immer wieder betonte, seine Freundschaft mit dem Rechtsgelehrten spiele für sein Verständnis des Rechts eine genauso zentrale Rolle wie seine Begegnung mit Luther für seine religiöse Orientierung. Daher möchte ich meinem heutigen Vortrag folgenden Untertitel hinzufügen: Melanchthon zwischen dem Rechtsprofessor Schürpf und dem Reformator Luther. Inwieweit spiegelten sich die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Ansichten dieser beiden Persönlichkeiten in den Stellungnahmen und Ausführungen Melanchthons wider? Inwiefern hat er sich von dem einen oder dem anderen distanziert, um schließlich seine eigene Meinung herauszubilden? Inwieweit gelang es ihm, seine religiöse Überzeugung mit seiner von Schürpf erlernten Bewunderung für das römische Recht zu vereinbaren? Diese Aspekte möchte ich am Beispiel von zwei großen Problemkomplexen ausführen, die damals sowohl Juristen als auch Theologen beschäftigten: einerseits anhand der Frage der Fortgeltung des kanonischen Rechts und dem daraus entstandenen Streit um die Anerkennung der heimlichen Ehe und andererseits anhand des apologetischen Urteils Melanchthons über das römische Recht und dem damit verbundenen Plädoyer für dessen Anwendung in der damaligen Rechtspraxis.

A. Das Problem der Fortgeltung des kanonischen Rechts und der damit verbundene Streit um die Anerkennung der heimlichen Ehen (ca. 1530-1545: Concordia) I. Fortgeltung des kanonischen Rechts Ich beginne mit der Frage nach der Fortgeltung des kanonischen Rechts.9 Luther bestritt dem als „papistisch“ gebrandmarkten kanonischen Recht jeg-

__________ 8

Außer dem schon oben erwähnten Art. „Schurff“ von Ernst Landsberg können folgende Werke zitiert werden: Wiebke Schaich-Klose, D. Hieronymus Schürpf. Der Wittenberger Reformationsjurist aus St. Gallen 1481-1554, Trogen 1967; Guido Kisch, Melanchthon und die Juristen seiner Zeit, Mélanges Philipp Meylan, II, Lausanne 1963, S. 135-150; Karl Köhler, Luther und die Juristen, Gotha 1873; Johannes Georgius Lehmus, Dissertatiuncula de Hieronymo Schvrfio evangelicae Veritatis Adsertore cum primis Strenuo, Progr. Rothenburg o. T. 1776; Theodor Muther, D. Hieronymus Schürpf. Vortrag abgedruckt mit Anm. und Quellen, in: ders., Aus dem Universitätsund Gelehrtenleben (Anm. 1), S. 178-229 und S. 415-454.

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liche Geltung in den evangelischen Ländern. Er verbrannte deshalb symbolisch die Bücher des „ius canonicum“10 am 10. Dezember 1520 vor dem Wittenberger Elstertor.11 Dem Reformator ging es dabei um den theologischen Inhalt des kanonischen Rechts und um den universalen Herrschaftsanspruch des Papstes, d.h. um die Vermischung geistlicher und weltlicher Herrschaftsansprüche sowie um das Eheverbot und die Fastengebote. Seine Kritik richtete sich daher gegen das kanonische Recht als Machtinstrument der Kurie gegenüber dem spätmittelalterlichen Konziliarismus und gegen die inhaltlichen Eingriffe der spätscholastischen Exegese. Obwohl die Wittenberger Juristen (und an deren Spitze Schürpf) bereit waren, die Kanones außer Kraft zu setzen, die mit den Vorschriften des Neuen Testaments nicht übereinstimmten, plädierten sie grundsätzlich für die Fortgeltung dieser Rechtsnormengattung. Diese Regelungen bildeten einen wesentlichen Bestandteil der bestehenden Rechtsordnung und spielten auch für die bürgerrechtliche Praxis eine unentbehrliche Rolle. Hiermit machten die Juristen einen deutlichen Unterschied zwischen den geistlichen Regelungen der römischen Kirche einerseits, wie z. B. zum Zölibat der Geistlichen, und den „prozessrechtlichen“ Normen andererseits, die für das damalige Gerichtswesen von wesentlicher praktischer Bedeutung waren.12

__________ 9 Hans Liermann, Das kanonische Recht als Gegenstand des gelehrten Unterrichts an den protestantischen Universitäten Deutschlands in den ersten Jahrhunderten nach der Reformation, in: Studia Gratiana, III, Bologna 1955, S. 541-566; Theodor Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland, Jena 1876, ND Amsterdam 1961; Rudolf Schäfer, Die Geltung des kanonischen Rechts in der evangelischen Kirche Deutschlands von Luther bis zur Gegenwart, in: ZRG.KA 5 (1915), S. 165-413; Roderich Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der populären Literatur des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1861. 10 Das Corpus iuris canonici umfasst das Dekret, die Dekretalen, den Liber Sextus und die Clementinen. 11 Wilhelm Maurer, Reste des Kanonischen Rechtes im Frühprotestantismus, in: ZRG KA 82 (1965), S. 190-253, (191).

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Dennoch förderte Luthers eindrucksvolle Geste die Ablehnung des kanonischen Rechts sowohl durch die Studenten als auch durch einige Professoren: Die Hörsäle, in denen entsprechende Vorlesungen gehalten wurden, leerten sich drastisch. Selbst der Wittenberger Kanonist (!) Justus Jonas weigerte sich, dieses Fach zu unterrichten, und siedelte zur theologischen Fakultät über! Daher blieb der Lehrstuhl für kanonisches Recht bis 1528 nur stellvertretend besetzt. Man sollte Jonas’ Verweigerung allerdings nicht überschätzen: Innerhalb der Wittenberger Rechtsfakultät bildeten die Rechtsprofessoren – mit Schürpf an ihrer Spitze – im sogenannten „Kampf um das kanonische Recht“ eine feste Front.13 Die Unterscheidung zwischen geistlichen und prozessrechtlichen Canones, wie sie die Wittenberger Juristen hervorhoben, finden wir auch in Melanchthons Schriften wieder. In den „Loci communes“ von 1521, seinem frühesten theologischen Werk, widmete er seiner Kritik der Mönchsgelübde eine mehrseitige Passage. Hier werden zum einem Ehelosigkeit14 und Bettelei15 angegriffen und zum anderen die Besonderheit des Gehorsamsversprechens der Mönche verworfen.16 Damals war Luthers Einfluss auf den jungen Melanchthon noch besonders stark. Die Kritik des Reformators richtete sich aber an dieser Stelle hauptsächlich gegen die spätmittelalterliche Scholastik und ihre „falschen Interpretationen“ der biblischen Texte.17 Noch finden wir keine Spur

__________ 12

Konrad Lagus, Methodica iuris utriusque traditio, Lugduni apud haeredes Seb. Gryphii 1562, Part V. c. 1; Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg (Anm. 3), S. 208 ff. 13

Diese Abneigung gegen das kanonische Recht machte in den neugegründeten Universitäten Marburg 1527 und Königsberg 1544 Schule, in denen kein einschlägiger Lehrstuhl mehr eingerichtet wurde; Liermann, Das kanonische Recht (Anm. 9), S. 541566, hier insbes. S. 548 f. 14 Philipp Melanchthon, Loci communes 1521, Lateinisch-Deutsch, übersetzt von Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 1993, S. 126 f. 15

Ebd., S. 128 f.

16 Ebd., S. 128 f.: „Wir schulden ihn [den Gehorsam] aus göttlichem Recht den Eltern, Lehrern und der Obrigkeit – jeder einzelne von uns. Daher kann man nicht von einer außerordentlichen Vollkommenheit im Mönchsstand reden“. 17 Maurer, Reste des kanonischen Rechts im Frühprotestantismus (Anm. 11), hier insbes. S. 215 ff.

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jener Unterscheidung zwischen geistlichen und prozessrechtlichen Normen innerhalb des „corpus canonicum“; alles wird unter Rückgriff auf die neue Bibellehre verworfen. Dies änderte sich aber im Laufe der Beschäftigung Melanchthons mit der Rolle der Gesetze. In den „Orationes de legibus“, die er zwischen 1523 und 1554 verfasste, ist immer wieder von der Bedeutung festgeschriebener Gesetze für die gute Ordnung in der Gesellschaft die Rede. Dass Melanchthon von seinem Rechtslehrer die Relevanz des kanonischen Prozessrechts für die Rechtspraxis gelernt hat, lässt sich im Zusammenhang mit seiner positiven Einstellung zu Recht und Gesetz erkennen. Im Gegensatz zu Luther, der nicht nur gelegentlich Juristen als „böse Christen“ schmähte, sondern bisweilen auch die Notwendigkeit von Gesetzen in der Kirche generell bezweifelte, plädierte Melanchthon sein Leben lang unermüdlich für die Gottgefälligkeit der weltlichen Gesetze und Gesetzgebungen, Institutionen und Staatsverwaltung. Dass Melanchthon von der Bedeutung des kanonischen Prozessrechts, zugleich aber auch von der notwendigen Beschränkung des kanonischen Rechts allein auf diesen Bereich überzeugt war, zeigt sich deutlich in den Universitätsordnungen, die unter seinem Einfluss 1536 in Tübingen und 1558 in Heidelberg erlassen wurden. In Tübingen wurden nicht mehr drei, sondern nur noch eine einzige Professur festgeschrieben, und diese ausdrücklich nur für das kanonische Prozessrecht; in Heidelberg war diese Stelle ausschließlich für das 2. Buch „De Iudiciis“ des „Liber Extra“ vorgesehen.18

__________ 18

Bei den Decretalen Papst Gregors IX. (1227-1241) handelt es sich – anders als beim Decretum Gratiani – um eine offizielle Sammlung kirchlicher Rechtstexte, die ebenfalls Bestandteil des Corpus Iuris Canonici wurde. In fünf Büchern sind darin vor allem päpstliche Antwortschreiben an Einzelpersonen in Rechts- und Disziplinfragen, sog. epistolae decretales, aber auch Konzilsdekrete systematisch nach Titeln geordnet. Da hier überwiegend Quellenmaterial zusammengefasst ist, das nach dem Erscheinen des Decretum Gratiani aus der päpstlichen Rechtsprechung hervorgegangen war, setzte sich als Titel des Werks die Bezeichnung Liber decretalium extra decretum vagantium durch, in den Schulen bald – und so noch heute – einfach als Liber Extra zitiert. Vor der Erneuerung von 1536 waren in der Tübinger Rechtsfakultät drei Professuren für kanonisches Recht und je drei für Zivilrecht besetzt. Dem ersten Kanonisten fielen die ersten drei Bücher des Liber Extra (neue päpstliche Entscheidungen 1234) als ordinaria lectio zu; dem zweiten das 4. und 5. Buch des Liber Extra als lectura extraordinaria und der dritte Kanonist las iura nova, d.h. liber Sextus (neue päpstliche Entscheidungen 1298) und Clementinen. Unter den Zivilisten hatte der erste die ordinaria lectio des Digestum uetus, der zweite die extraordinaria lectio im Infortiatum und Digestum novum und der dritte die ordinaria lectio der Institutionen zu übernehmen; Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben (Anm. 1), S. 44.

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Melanchthon hatte von Schürpf gelernt, inwiefern das kanonische Recht zahlreiche Einzelregelungen des weltlichen und insbesondere des römischen Rechts beeinflusst hatte, und zwar im Bereich des Strafrechts, des Vertragsrechts mit dem Prinzip der Formfreiheit, im Gegensatz zu den vier vorgeschriebenen römischrechtlichen Vertragstypen, und nicht zuletzt im Eherecht. Gerade in diesem Bereich entflammte in Wittenberg ein langwieriger Streit zwischen Theologen und Juristen.

II. Streit um die Anerkennung der heimlichen Verlöbnisse Im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Einrichtung neuer Kircheninstitutionen im Bereich des Eherechts, die sich schließlich mit der Einführung von Konsistorien konkretisierten, standen viele Pfarrer vor dem Problem, ob heimliche Verlöbnisse, von denen sie durch die Beichte erfuhren, anerkannt werden sollten oder nicht. Da in diesem Zusammenhang die Geltung der kanonischrechtlichen Regelungen von den Reformatoren verworfen wurde, wandten sich zahlreiche Geistliche ratsuchend an die Wittenberger Theologen. Die bis jetzt geltenden Kanones betrachteten das heimliche Eheversprechen als gültiges ewiges Band zwischen den Verlobten. Falls sie sich aber später trennen und eine andere Person heiraten wollten, galt diese, diesmal öffentliche, Ehe aufgrund des ersten Versprechens als ungültig. Wegen der gesellschaftlichen Unruhen, die eine solche Entscheidung mit sich brachte, sprach sich Luther für die Nicht-Anerkennung der heimlichen Verlöbnisse aus.19 Die kanonische Unterscheidung zwischen „sponsalia de futuro“ und „sponsalia de praesenti“ erkannte er nur in dem Fall an, in dem der Ehevertrag ausdrücklich unter einer bestimmten Bedingung abgeschlossen wurde.20 Für ihn galten daher alle Verlöbnisse als Eheversprechen, die unmittelbar und sofort zur Eheschließung führten, sofern sie öffentlich und unbedingt waren. Gerade die Öffentlichkeit der Verlöbnisse spielte bei Luther eine zentrale Rolle und bildete den Kernpunkt seines Streits mit den „Kanonisten“. Für ihn war die öffentliche Ankündigung der Eheschließung ohne ausdrückliche Einwilligung der Eltern

__________ 19 Rolf Lieberwirth, Martins Luthers Kritik am Recht und an den Juristen, in: Martin Luther und seine Universität, hg. von Heiner Lück, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 53-27, (71). 20 Hartwig Dietrich, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (= Jus Ecclesiasticum, 10), München 1970, S. 53 f.

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undenkbar.21 Begründungen für die Unentbehrlichkeit des elterlichen Konsenses für eine gültige Eheschließung der Kinder fand der Reformator im Naturrecht und insbesondere im vierten Gebot, im „Göttlichen Recht“, in zahlreichen Beispielen aus dem Alten Testament, ja sogar im alten kanonischen Recht und in der „Vernunft und Billigkeit“, die einem die Gefahr der Heimlichkeit solcher Ehen bewusst machen müssten.22 Luther erklärte daher die hinter dem Rücken der Eltern abgeschlossenen Verlöbnisse für absolut unverbindlich. Dies betrachteten die Juristen aufgrund der maßgeblichen traditionellen Regelung als inakzeptabel: Sobald die Verlöbnisse in einer Ehe vollzogen wurden, konnten in ihren Augen die Eltern diese Bindung nicht mehr lösen. Der Streit verschärfte sich im Laufe der Jahre. Die Sprüche, die Luther während seiner Tischreden gegen die Juristen regelmäßig verkündete, wurden immer schroffer und grober! Der endgültige Bruch zwischen dem Reformator und den Rechtsgelehrten kam 1539. Der Streit erreichte seinen Höhepunkt, nachdem das Konsistorium eine seiner Entscheidungen auf die kanonische Lehre der „sponsalia clandestina“ gegründet hatte. Die daraus folgenden, massiven Vorwürfe Luthers gegen die Juristen veranlassten aber diesmal Kurfürst Johann Friedrich zum Eingreifen: Am 8. Januar 1544 verlangte er in einem Reskript an Bugenhagen, Melanchthon und Brück ein Einwirken auf den Ausgleich der beiden Parteien.23 Ein ganzes Jahr brauchten sie, um zu einer Concordia (1545) zu gelangen, die sich zwar deutlich vom kanonischen Recht distanzierte, aber – was Luther als Niederlage interpretierte – die Möglichkeit einer Einwilligung der Eltern a posteriori einräumte.24 Welche Stellung nahm Melanchthon zwischen Schürpf als Anhänger des kanonischen Rechts und Luther als dessen Gegner ein? Hinsichtlich der heimlichen Verlöbnisse entschloss er sich für eine pragmatische Variante: Wie Luther war er der Ansicht, dass die ohne Einwilligung der __________ 21 Martin Luther, Von Ehesachen 1530, WA 30 III, 207, 26: „Denn ob gleich tausent zeugen bei eim heimlichen Verlöbnis weren, so es doch hinder wissen und willen der Eltern geschehe, sollen sie alle tausent nur fur einen mund gerechnet sein“. 22 Martin Luther, Von Ehesachen 1530, WA 30 III, 207, 26 und 31, 208, 1, 9, 13, 20 und 209, 9. 23 Kurfürstlich. Reskript an Joh. Bugenhagen, Pfarrer, Gregorius Bruck, beide Doctores und Mgr. Philipp Melanchthon, 1544, abgedruckt in: Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben (Anm. 1), S. 442-444. 24 Concordia zwischen Theologen und Juristen zu Wittenberg, abgedruckt bei Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben (Anm. 1), S. 444-453.

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Eltern abgeschlossenen Verlöbnisse für ungültig erklärt werden müssten. War aber die „copula carnalis“ schon geschehen, so plädierte er dafür, die Ehe ganz im Sinne des kanonischen Rechts als vollgültig und verbindlich anzuerkennen. Im Jahre 1551 erkannte Melanchthon in seinem „Tractatus de coniugio“ ausdrücklich die Gültigkeit einer nicht bewilligten, aber vollzogenen Ehe an. In solchen Fällen, erklärte er, hätte die verlassene Ehefrau den größten Schaden zu erleiden, was sowohl gegen die Billigkeit als auch gegen die Gesellschaftsordnung verstieße.25 Melanchthon unterstrich in dieser Schrift den göttlichen Charakter der ehelichen Institution, die er als die erste von Gott eingesetzte menschliche Gemeinschaft ansah. Zudem setzte er sich mit Eheverboten aufgrund des Personenstands auseinander, z. B. wegen Blutsverwandtschaft, mit den Bedingungen, die eine gültige Ehe zu erfüllen hatte, wie u.a. die Zustimmung der Eheleute und der Eltern, mit den Möglichkeiten zur Scheidung oder Auflösung der Ehe, sowie mit den Verlöbnissen von Minderjährigen und zuletzt mit der Rolle der Obrigkeit hinsichtlich der Ehegesetze.26 Die Autoritäten, auf die seine Argumentation sich stützte, stammten sowohl aus der Bibel, als auch aus dem römischen wie kanonischen Recht. Sein Hauptanliegen lag in der Suche nach den billigsten und menschlichsten Lösungen zugunsten der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesellschaftsordnung. Zwar zitierte er Genesis 2, 24 („Erunt duo in carnem unam“) und Matthäus 19, 9 („Wer seine Frau entlässt, außer wegen Unzucht, und eine andere heiratet, begeht Ehebruch“), doch erklärte er Gewalt, Vergiftung und Angst um das eigene Leben nach dem „lex consensu Theodosii“ des Codex (C. 5, 17, 8) zu gültigen Scheidungsgründen.27 __________ 25

Philipp Melanchthon, De consensu parentum, CR XXI, S. 1060.

26

Siehe auch Melanchthons Schrift De arbore consanguinitatis et affinitatois, sive de gradibus 1540, CR XVI, S. 509-524. 27 Im Absatz „De divortiis propter saevitiam, veneficia et insidias structas vitae“ (CR XXI, S. 1068 f) erwähnt Melanchthon den Codex, L. V Tit 17 lex 8 § 2: „Wenn demnach irgend eine Frau ihren Ehemann als einen Ehebrecher, oder Todschläger, oder Giftmischer, oder als einen Empörer gegen Unser Reich, oder als einen wegen des Verbrechens der Fälschung Verurteilten befunden, als Räuber oder Begünstigter von Räubern, oder Viehdieb, oder Menschenräuber, oder als einen Menschen, der aus Verachtung gegen sie und ihr Haus vor ihren Augen mit liederlichen Weibspersonen (was keusche Frauen am meisten erbittert) Umgang pflegt, wenn sie ihn als einen, der ihrem Leben mittels Gifts oder Schwerts oder auf eine andere Weise nachstellt, oder wenn sie ihn als einen Menschen, der sie mit Schlägen, welche einer Freigebornen unwürdig sind, misshandelt, überweiset, dann gewähren Wir notgedrungen ihr die Erlaubnis, sich der Hülfe der Ehetrennung zu bedienen, und die Gründe der Scheidung auf gesetzmäßige Art nachzuweisen“; Übersetzung B. Schilling, Leipzig, 1832.

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Der Widerspruch zwischen den beiden Quellen veranlasste ihn, die Trennung zwischen „lex“ und „Evangelium“ innerhalb seiner Zwei-ReicheLehre wiederholt hervorzuheben und damit die Rolle der obrigkeitlichen Gerechtigkeit erneut zu unterstreichen. Demnach hätten sowohl die kirchlichen als auch die weltlichen Magistrate die Pflicht, die gefährlichen Individuen aus der Öffentlichkeit zu entfernen, das Leben der Unschuldigen zu beschützen und die Ungerechtigkeit als Faktor von Unruhen zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang greift Melanchthon ein weiteres Thema auf, jenes des „göttlichen“ Charakters der weltlichen Obrigkeit, der sich in den von Gott bestimmten, von ihr zu erfüllenden Pflichten ausdrückt.28 Nun stellte sich auch die Frage des anzuwendenden Rechtskorpus. Eine Zeit lang, bevor er vor den Exzessen der radikalen Reformatoren zurückgeschreckt war, hatte sich der junge Melanchthon in den 1520er Jahren zugunsten der Anwendung des mosaischen Rechts geäußert. Nun lernte der Humanist durch Schürpf die Eigenschaften des „corpus iuris“ Justinians zu schätzen.

III. Melanchthons Argumentation zugunsten der Anwendung des römischen Rechts Die Argumente, die Melanchthon im Laufe seiner „Orationes de legibus“ entwickelte, lassen sich in zwei Hauptaussagen zusammenfassen: Sein erstes Anliegen bestand darin, die Notwendigkeit festgeschriebener Gesetze immer wieder zu betonen. In diesem Zusammenhang wandelte sich sein Plädoyer zugunsten des römischen Rechts allmählich zu einer wahrhaften Apologie! Trotz der Einrichtung neuer Rechtsinstanzen, wie jener des Reichkammergerichts, und trotz des Erlasses der Reichsexekutionsordnung von 1555 sowie zahlreicher Polizeiordnungen und der „Constitutio Criminalis Carolina“ von 1532, blieb die damalige Rechtslage stark von einer andauernden Unsicherheit geprägt. Ihr Ursprung lag vor allem in der Vielfältigkeit der in den Territorien und im Reich vorhandenen Rechtsquellen. Melanchthon war vor allem um eine praktikable und absolut akzeptierte Rechtsordnung besorgt, die als Gegenmittel gegen die inneren Unruhen und religiös-politischen Aufstände seiner Zeit hätte dienen können. Voraussetzung dafür war seiner Meinung nach zunächst die schriftliche Fixierung der vielfältigen Gewohnheitsrechte in den Territorien, um so einer „willkürlichen“ __________ 28 Isabelle Deflers, Lex und Ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons, (=Schriften zur Rechtsgeschichte, 121), Berlin 2005, S. 253 ff.

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Anwendung vor allem durch die Schöffen entgegenzuwirken. Allein eine definitive Festlegung des geltenden Rechts konnte für ihn der Macht und Willkür der Herrscher feste Grenzen aufzeigen. Woran sollte sich aber diese Kodifikation orientieren? Aus seiner Beschäftigung mit dem römischen Recht entstanden Argumente, welche die positiven Eigenschaften des „corpus iuris“ hervorhoben. Melanchthons Gedanken richteten sich in dieser Hinsicht auf zwei Bereiche: Er suchte zunächst nach Gründen, die im Vergleich mit anderen Rechtsordnungen zugunsten des römischen Rechts sprachen, und beschäftigte sich anschließend mit den inhärenten Qualitäten des justinianischen Rechts, die dessen Anwendung rechtfertigten. Um sein Plädoyer zugunsten des römischen Rechts zu untermauern und um zu beweisen, dass die Einführung einer nicht-biblischen Rechtsordnung Gottes Lehre nicht widersprechen würde, erklärte Melanchthon die Übereinstimmung dieses Rechtskorpus mit seiner Naturrechtslehre. In seiner Rede über die Rechtsgelehrten Irnerius und Bartolus von 153729 behauptete Melanchthon, dass es für das Recht der menschlichen Gesellschaft und für ihre weltliche Ordnung eine göttliche Quelle gebe. Die Gesellschaft sei nach der göttlichen Botschaft als ein notwendiges Bündnis zwischen den Menschen zu verstehen, deren höchstes Ziel es sei, die Verbreitung der Erkenntnis Gottes zu ermöglichen. Die menschliche Gesellschaft sei aus dem Wunsch Gottes entstanden, dieses Ziel zu erreichen, und die Gesetze sollten die Wächter dieser Ordnung sein.30 Mittels eines kurzen rechtshistorischen Überblickes über die Bedeutung des „corpus iuris“ seit dem Untergang des Römischen Reiches unterstrich Melanchthon diese bedeutenden Eigenschaften der „römischen Gesetze“ sowie der Gelehrten, die für sie Glossen und Kommentare geschrieben hatten. __________ 29

De Irnerio et Bartolo iurisconsultis oratio recitata a D. Sebaldo Munstero 1537, CR XI, S. 350-356, bei Kisch, Melanchthon und die Juristen (Anm. 8), S. 214-245. 30 CR XI, S. 350 f.: „Einzigartig und bewundernswürdig ist das Werk Gottes und seine Wohltat ist diese bürgerliche Gesellschaft, durch die Gott sich mit den Menschen vereint und sich mit ihnen in besonderer Weise verbunden hat, sodass sie das Wissen um ihn untereinander verbreiten können. Für dieses göttliche Werk, natürlich auch für die menschliche Gesellschaft, ist der Wächter das Gesetz. Das nämlich erhält und beschützt die Gesellschaft, dass die Kenntnis Gottes weithin verbreitet wird, dass im Frieden der Kirche regiert wird und unterrichtet wird, damit die Jugend zur Erkenntnis Christi angehalten wird“; und bei Kisch: „Singulare et admirabile Dei opus ac beneficium est haec civilis societas, qua Deus inter se coniunxit ac devinxit homines praecipue, ut ipsius noticiam alii aliis communicare possent. Huius divini operis, videlicet humanae societatis, custos est lex; haec retinet ac munit societatem, ut noticia Dei late propagari, ut regi Ecclesiae in pace, et erudiri, ut institui inventus ad agnitionem Christi possit“, S. 215.

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In der „Oratio de dignitate legum“ von 153831 wurde diese Argumentation fortgeführt und hervorgehoben, „dass die Christen nicht notwendigerweise die mosaischen Gesetze annehmen müssten, sondern dass es ihnen erlaubt sei, die Gesetze anzunehmen, die im Einklang mit dem Na32 turrecht stehen, mögen sie auch von heidnischen Obrigkeiten aufgestellt worden sein.“

Damit die Christen sie als geltendes Recht anerkannten, stünden die „menschlichen Gesetze“ unter der einzigen, aber fundamentalen Voraussetzung, dass sie den drei obersten Naturgesetzen (Gott zu verehren, niemanden zu verletzen, jedem das seine zuzuteilen) nicht widersprächen.33 Für Melanchthon erfüllten die römischen Gesetze diese Bedingung.34 Indem Melanchthon das Gesetz nicht nur als einen unausweichlichen, notwendigen Befehl in einer sündigen Welt betrachtete, sondern nach antikem Vorbild auch als Ausdruck philosophischer Gerechtigkeit verstand, befand er sich in deutlichem Gegensatz zu Luther. Die so hergeleitete Gerechtigkeit sollte die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft sein und die Stabilität der öffentlichen Ordnung sichern. Das Gesetz sollte die von Gott gegebene menschliche Gesellschaft als Hüter beschützen: zur Verbreitung der Gotteserkenntnis unter den Menschen, zur Regierung der Kirche in Frieden und zur Erziehung der Jugend nach den Geboten Christi. Daraus entwickelte der Pädagoge Melanchthon seine Apologie des römischen Rechts, das für ihn das allergelehrteste, weiseste, allerbilligste („ius aequissimum“) und einheitlichste Recht bildete! Es gab für ihn genügend Gründe, die Rezeption des römischen Rechts zu unterstützen, nicht nur weil sie die gesellschaftliche Ordnung und den Frieden sicherte. Es mag zwar sein, dass das für den friedensliebenden Reformator schon ausreichend gewesen wäre. Ausschlaggebend war für ihn aber darüber __________ 31 De dignitate legum oratio 1538, CR XI, S. 357-364; Rede Nr. 4 bei Kisch, Melanchthon und die Juristen (Anm. 8), S. 221-227. Übersetzung von Hans-Rüdiger Schwab, Philipp Melanchthon. Der Lehrer Deutschlands. Ein biographisches Lesebuch, München 1997, S. 184-193. 32

Übersetzung bei Schwab, Phillip Melanchthon (Anm. 31), S. 185.

33

Loci communes 1521, Übersetzung von Pöhlmann (Anm. 14).

34

CR XI, S. 357: „Deinde ostendam, Romanum ius antecellere legibus aliarum gentium et vere quandam philosophiam esse.“ „Sodann will ich zeigen, dass das römische Recht die Gesetze aller übrigen Völker übertrifft und wirklich eine Art von Philosophie darstellt“, bei Kisch, Melanchthon und die Juristen (Anm. 8), S. 222; Übersetzung der Autorin.

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hinaus, dass das „corpus iuris“ vielen anderen Rechtsordnungen als Quelle gedient hatte. Durch diese Verwandtschaft sei ein Rechtsbewusstsein auf einer überregionalen und übernationalen Ebene in Europa entstanden. Melanchthon erhoffte sich von diesem europäischen Rechtsverbund eine größere Kompromissbereitschaft im Falle internationaler Konflikte oder zumindest eine gewisse Solidarität bei gemeinsamen Gefahren wie z. B. bei den Türkeneinfällen. Für den Fall einer unzureichenden Rezeption des „corpus iuris“ in der deutschen Rechtspraxis, aus welchen Gründen auch immer, sollten dennoch die römischen Gesetze als historische Vorbilder wegen ihrer Gelehrsamkeit und Weisheit in der akademischen Ausbildung ihren Platz behalten: „Denn nirgends ist das Bild der Gerechtigkeit vollkommener und strahlender 35 ausgedrückt als in diesen Gesetzen.“

B. Fazit Dass Melanchthon seine positive Einstellung zum römischen Recht Schürpf verdankte, lässt sich anhand seiner Reden über das Gesetz belegen. Aus den zahllosen Passagen, in denen der Praeceptor seinen eigenen Lehrer lobte, möchte ich abschließend nur die folgende aus der Rede „De dignitate legum oratio“ von 1538 zitieren, die zugleich seine Argumente zugunsten der Anwendung der justinianischen Gesetzgebung zusammenfasst: „Da nun an dieser Stelle ein anderer ausgezeichneter Mann, Doktor Hieronymus [Schurff], den ich nicht nur aufgrund zahlreicher besonderer Beweise seines Wohlwollens gegen mich, sondern auch seiner ausgezeichneten Tugend und Gelehrsamkeit wegen verehre und wie einen Vater achte, uns alle mit Nachdruck zur Achtung vor den Gesetzen und unsere Zuhörer dann insbesondere zu deren fleißigem Studium ermahnt hat, will ich heute ein anderes, doch verwandtes Thema wählen. Ich will nämlich den für Studierende so nützlichen Gegenstand behandeln, dass die Christen nicht notwendigerweise die mosaischen Gesetze annehmen müssen, sondern dass es ihnen erlaubt ist, die Gesetze anzunehmen, die im Einklang mit dem Naturrecht stehen, mögen sie auch von einer heidnischen Obrigkeit aufgestellt worden sein. Sodann will ich zeigen, dass das römische Recht die Gesetze aller übrigen Völker übertrifft und wirklich eine Art Philosophie darstellt.“36

__________ 35

Ebd., S. 193.

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Zur Aufwertung des „corpus iuris“ entwickelte Melanchthon aus der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen weltlicher und ewiger Gerechtigkeit, zwischen den menschlichen und den göttlichen Gesetzen, kein System í dies zu behaupten wäre überinterpretiert í, sondern ein pädagogisches Programm; ein Programm, das zur Ausbildung und guten Erziehung der jungen Christen und zukünftigen verantwortungsbewussten Bürger beitragen sollte. Daher mussten für ihn die römischen Gesetze, auch wenn sie keine Anwendung in der Praxis fanden, als historisches Vorbild trotzdem weiterhin studiert werden. Der Bewunderer der Antike erkannte in der Gelehrsamkeit einer Jahrhunderte alten Rechtsordnung einen Nutzen, nämlich dass sie zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Ordnung innerhalb der Gesellschaft beitragen konnte; eine Sorge, die für den als Kind vom Krieg traumatisierten Reformator sein Leben lang ein prägendes Leitmotiv gewesen ist. Aber die stringente Unterscheidung zwischen den zwei Bereichen Recht und Religion ermöglichte Melanchthon vor allem, seine konfessionelle Überzeugung mit seiner Hochschätzung der weltlichen Gesetze zu vereinbaren und daher neben Luther auch Schürpf als seinen geistigen Vater zu loben!

__________ 36 Philipp Melanchthon, De Dignitate legum oratio 1539, CR XI, S. 357-364; Rede von der Würde der Gesetze 1539, Übersetzung bei Schwab, Philipp Melanchthon (Anm. 31), hier insbes. S. 184 f.

„Diese Meinung ist recht“ – Die Konstituierung eines evangelischen Eherechts in Kursachsen

Von Ralf Frassek, Hannover/Halle (Saale)

A. Einleitung Wohl zu allen Zeiten lag es in der Natur des Menschen, in einer Ehe nach individuellem Glück zu streben. Mit diesem Streben auch in der Rechtsordnung eines Staates Gehör zu finden, scheint dagegen eher ein modernes Phänomen zu sein. Ebenso modern erscheint die Toleranz und Rationalität, mit der auch solchen Menschen begegnet wird, deren Vorstellung einer Partnerschaft sich nicht mit dem klassischen Bild von Ehe und Familie deckt. Rationalität, Toleranz und die Orientierung an Individualinteressen sind juristische Entscheidungsmaximen, die eher mit der Zeit der Aufklärung und dem Vernunftrecht als mit der Gerichtspraxis des Reformationsjahrhunderts verbunden werden. Andererseits schien, zumindest aus europäisch geprägter Perspektive für lange Zeit, bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts die Vehemenz, mit der wegen „Fragen des rechten Glaubens“ gestritten, gekämpft und getötet wurde, allein eine Erscheinung vergangener historischer Epochen zu sein, die als längst überwunden gelten konnte. Gleiches läßt sich für die Präsenz des Glaubens an Hexen und Zauberei und weitere Formen irrationeller Vorstellungen konstatieren. Spätestens die Ereignisse vom 11. September 2001 haben der christlicheuropäisch geprägten Gesellschaft schmerzlich in Erinnerung gerufen, daß der Kampf um tatsächliche oder lediglich vorgeschobene Glaubensfragen kein Phänomen vergangener Zeiten oder ferner Weltregionen ist, sondern mitten in ihrem Alltag geführt wird. Es zeigen sich Parallelen, die den Blick in die Vergangenheit besonders lohnend erscheinen lassen, denn wie im 16. Jahrhundert fordert auch im 21. Jahrhundert die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung, scheinbar festgefügte Werte neu zu überdenken und an veränderte Verhältnisse anzupassen. Unter welchen Prämissen christliche Werte im Reformationsjahrhundert überdacht und mit konkreten neuen Inhalten gefüllt wurden, ist in diesem Sinne sehr aktuell.

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So war gerade die Entstehungsphase des evangelischen Eherechts auch und gerade in der Gerichtspraxis von einer Vernunftorientiertheit geprägt, wie sie allgemein erst in späteren Jahrhunderten erwartet werden könnte. Gleiches gilt für die erkennbare Tendenz, nicht nur das Seelenheil im Jenseits, sondern auch das individuelle irdische Glück der Menschen als Leitmotiv der Entscheidungstätigkeit fruchtbar zu machen. Auch bei der Suche nach Antworten auf brennende Fragen der Gegenwart scheint die Überlegung sehr wertvoll, christliche Werte nicht als ein starres dogmatisches System zu begreifen, sondern als einen Grundbestand, der erst im Zusammenspiel mit Kriterien wie Vernunft, Toleranz und Freiheit seine Lebendigkeit erhält. In zwei Schritten soll in der nachfolgenden Untersuchung der Frage nachgegangen werden, wie im Eherecht und der Ehegerichtsbarkeit des Reformationsjahrhunderts den neuen gesellschaftlichen Anforderungen begegnet wurde. Dazu ist zunächst der äußere Aufbau der evangelischen Ehegerichtsbarkeit im sächsischen Raum, dem Ausgangspunkt der reformatorischen Entwicklung, darzustellen, der vor allem von der Errichtung eines den Anforderungen der Zeit entsprechenden Ehegerichts, dem Wittenberger Konsistorium, geprägt war. Der nachfolgende Abschnitt ist der Rechtsprechungspraxis des Reformationsjahrhunderts gewidmet. In ihm werden exemplarisch Problemstellungen und Lösungsansätze skizziert, in denen einerseits das Verständnis für die Zeiterfordernisse zum Ausdruck kommt und andererseits deutlich wird, daß dabei gerade keine bloße Anpassung an den Zeitgeist stattfand. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier die Grundlagen, die Geisteshaltung und die Wertmaßstäbe, nach denen diese Fälle entschieden wurden.

B. Die Konstituierung einer evangelischen Ehegerichtsbarkeit I. Die Anfänge Durch die Reformation wurde dem vorher geltenden Eherecht in zweifacher Hinsicht der Boden entzogen: Einerseits waren dessen Rechtsgrundlagen durch Luthers Ablehnung des kanonischen Rechts in Frage gestellt, andererseits verschwand mit der Durchführung der Reformation die Ehegerichtsbarkeit der Bischöfe. Der frühneuzeitliche Territorialstaat war gefordert, etwas Neues an Stelle des alten Rechts und der alten Gerichtsbarkeit treten zu lassen. Es galt sachgerechte Antworten zu entwickeln, um einem rechtlichen Vakuum entgegenzuwirken. Auch und gerade nach dem Wegfall der alten bischöflichen Ehegerichtsbarkeit stellten sich selbstverständlich eherechtliche Probleme zur Entscheidung. Überall, wo die Reformation Einzug gehalten hatte, stellte sich

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gleichermaßen die Frage, wer diese Fälle entscheiden sollte und welche rechtlichen Normen hierbei angewendet werden sollten. Sehr unterschiedlich fiel in den verschiedenen Territorien jedoch die Antwort aus. Das früheste tragfähige Konzept für eine neue, evangelische Ehegerichtsbarkeit wurde dabei nicht in Sachsen, dem Ursprungsland der Reformation, sondern im fernen Zürich entwickelt. Bereits seit 1525 wirkte dort ein nach den Grundsätzen der Reformation arbeitendes Ehegericht. Bevor es seine Tätigkeit aufnahm, war eine umfassende Grundlage für seine Arbeit formuliert worden. Die materiell-rechtlichen Normen bauten auf den Lehren Martin Luthers auf. Im Gegensatz zu Zürich wurden in Kursachsen die Fragen zur Ausgestaltung der neuen Ehegerichtsbarkeit zunächst nicht eindeutig beantwortet. Stillschweigend wurde für einfache Fälle eine Entscheidung der Pfarrer vorausgesetzt, in Zweifelsfällen sollte entweder an die Amtleute, die kurfürstliche Kanzlei oder die Hofgerichte1 herangetreten werden.2 In der Praxis wandte man sich oft auch ganz einfach an die bekannten Autoritäten der Reformation in Wittenberg, was bekanntlich Martin Luther über seine Arbeitsbelastung durch Eherechtsfälle klagen ließ.3 Von Beginn der reformatorischen Entwicklung an läßt sich in Kursachsen eine große Zurückhaltung feststellen, neue Rechtsstrukturen zu konstituieren. __________ 1 Zum Kontext: Heiner Lück, Die Anfänge der kursächsischen Hofgerichte, in: Gerhard Lingelbach/Heiner Lück (Hg.) Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung. Rolf Lieberwirth zum 70. Geburtstag dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen (Rechtshistorische Reihe, 80), Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 53 ff.; ders., Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, 17), Köln/ Weimar/Wien 1997, S. 110 ff. 2 Emil Sehling (Hg.), Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, 1, Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten, 1. Hälfte, Leipzig 1902, S. 166 (Unterricht der visitatoren an die pfarrherrn im kurfürstenthum zu Sachsen, 1528); S. 176, 177 (Verordnungen aus der Visitation von 1528, 1529); S. 182 (Ausschreiben durchs churfurstenthumb zu Sachsen, etlich nöttige stück zu erhaltung christlicher zucht, belangend. Vom 6. Juni 1531); S. 196 („Artikel gemeiner verschaffung“ aus der Visitation in Thüringen, 1533); S. 198 (Verordnung der Visitatoren für Franken, 1535). 3 In einem Brief vom 2. November 1537 an den Pfarrer zu Prießnitz Johann Wickmann bat Luther, doch auch den „andern Pfarrherrn“ zu sagen, sie mögen ihn von Ehesachen „verschonen“, denn er werde bereits „zuviel überschüttet“, so daß er „schier kein Buch lesen noch schreiben“ könne (Martin Luther, Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimarer Ausgabe (WA), Briefwechsel, 8, Weimar 1938, S. 136, Nr. 3183). In ähnlicher Richtung in einem Brief an Leonhard Beyer vom 2. November 1535 (WA, Briefwechsel, 7, Weimar 1937, S. 322, Nr. 2270).

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Vor allem zu Lebzeiten Friedrichs des Weisen (bis 1525)4 scheute man davor zurück, den Bruch mit der alten Kirche durch allzu weitgehende Neuregelungen zu zementieren. Aber auch die Sorge Martin Luthers5 vor einer „erneuten Verrechtlichung“ des Glaubens6 hatte großen Anteil daran, daß die kursächsische Entwicklung so deutlich langsamer verlief als andernorts. So kam es, daß vor allem im ersten Jahrzehnt nach dem Thesenanschlag Luther und andere Wittenberger Autoritäten wie Melanchthon,7 Bugenhagen,8 Cruciger9 oder Justus Jonas10 selbst drängende Ehesachen entschieden. Es ist eine Vielzahl von Fällen aus dieser frühen Zeit überliefert, in denen sie oder aber kurfürstliche Räte, dazu „verordnet“ wurden, vor Ort in Ehesachen Sachverhaltsermittlungen vorzunehmen und Entscheidungen zu fällen.11 Die __________ 4

* 1463, Kfst. 26. Aug. 1486, † 5. Mai 1525. Aus evangelisch-theologischer Sicht zur Person und ihrem Wirken: Ingetraut Ludolphy, Friedrich der Weise, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie (TRE), 9, Berlin/New York 1983, S. 666-669. 5 * 10. November 1483 in Eisleben, † 18. Februar 1546 daselbst. Umfassender konzentrierter Überblick zu Leben, Werk und aktuellem Forschungsstand: Martin Brecht, Luther, Martin (1483-1546), I. Leben, S. 514-530; Karl-Heinz zur Mühlen, Luther, Martin (1483-1546), II. Theologie, S. 530-567; Walter Mostert, Luther, Martin (1483-1546), III. Wirkungsgeschichte, S. 567-594; jeweils in: Krause/Müller (Hg.), TRE, 21, Berlin/New York 1991. 6 Anneliese Sprengler-Ruppenthal, Kirchenordnungen, in: Walter Kasper u. a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., 6, Freiburg u. a. 1997, Sp. 36. 7

* 16. Februar 1497 in Bretten (Baden), † 19. April 1560 in Wittenberg. Heinz Scheible, Melanchthon, Philipp (1497-1560), in: Krause/Müller (Hg.), TRE, Bd. 22, Berlin/New York 1992, S. 371-410. Robert Stupperich, Melanchthon, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), 16, S. 742-745. 8 * 24. Juni 1485 in Wollin (Pommern), † 20. April 1558 in Wittenberg. Hans Hermann Holfelder, Bugenhagen, Johannes (1485-1558), in: Krause/Müller (Hg.), TRE, 7, Berlin/New York 1981, S. 354-363. 9 * 1. Januar 1504 in Leipzig, † 16. November 1548 in Wittenberg. Friedrich de Boor, Cruciger, Caspar d. Ä. (1504-1548), in: Krause/Müller (Hg.), TRE, 8, Berlin/New York 1981, S. 238-240. 10 * 5. Juni 1493 in Nordhausen, † 9. Oktober 1555. G. Frank, Jonas: Justus J., in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), 14, S. 492-494. Hans Günther Leder, Jonas, Justus (1493-1555), in: Krause/Müller (Hg.), TRE, 17, Berlin/New York 1988, S. 234-238. 11 Überwiegend Luther: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), Reg. O 1337 (1523-27), 1410 (1524) und 1507 (1525), aber auch Melanchthon: THStAW, Reg. O 1337 (1523-27), Jonas: THStAW, Reg. O 1337 (1523-27) und 1507 (1525), Spalatin: THStAW, Reg. O 1630e (1524) und Bugenhagen: THStAW, Reg. O 1337 (1523-27) und 1508 (1528). Sowie Professoren der Juristischen Fakultät in Wittenberg wie Henning Goe-

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Tätigkeit dieser Persönlichkeiten beanspruchte mit Sicherheit erhebliche Zeit, die ihnen für ihre sonstigen Aufgaben dadurch nicht zur Verfügung stand, auch wenn sie ihrerseits durch die Unterstützung der örtlichen Amtleute entlastet wurden.12 Ebenfalls mit großem Aufwand wurden die einzelnen Aktivitäten durch die Zentralverwaltung am kurfürstlichen Hof gesteuert und kontrolliert. Der überlieferte, in Eheangelegenheiten geführte Schriftwechsel der Kanzlei ermöglicht heute tiefe Einblicke in die Gegebenheiten der Zeit. Daß diese Eherechtspraxis mit der Kanzlei als Zentralorgan auf Dauer konzipiert war, belegt noch heute die Überlieferung des Ehesachenbestandes im Thüringischen Hauptstaatsarchiv. Schon früh wurde die Bedeutung dieses Sachbereiches erkannt und durch eine von anderen Vorgängen abgetrennte Sammlung ein möglicher späterer Zugriff auf abgeschlossene Fälle ermöglicht. Relativ durchgängig ist seit dem Jahr 1529 der aufgebrachte Vermerk „Ehesachen“ feststellbar.13 In der Gesamtbetrachtung fällt vor allem auf, daß in Sachsen ein erhebliches intellektuelles Potential durch Ehesachen gebunden wurde. Allerdings ist zu betonen, daß dieses Potential in Wittenberg, insbesondere durch die dortige Universität, auch zur Verfügung stand. Man konnte es sich in dem bedeutenden Territorialstaat also leisten, den anstehenden Weg sorgfältig und mit Bedacht zu beschreiten. Sehr bedeutend für den Aufbau neuer ehegerichtlicher Strukturen war die Schaffung des Superintendentenamtes Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts. Den Superintendenten oblag fortan in Zusammenarbeit mit den Kurfürstlichen Amtleuten die Wahrnehmung der ehegerichtlichen Aufgaben auf regionaler Ebene. Ihnen stand für einfach gelagerte Fälle selbst ein gewisser Entscheidungsspielraum zu. War dieser Rahmen überschritten, wurde bei der kurfürstlichen Zentralverwaltung um Rat und Entscheidungshilfe nachgesucht.

__________ den: THStAW, Reg. O 1599 (1519) und 1337 (1523-27), Christian Beyer: THStAW, Reg. O 1337 (1523-27), Johann Apel: THStAW, Reg. O 1337 (1523-27), Benedict Pauli: THStAW, Reg. O 1337 (1523-27) und Hieronymus Schürpf: THStAW, Reg. O 1599 (1519) und 1337 (1523-27) oder aber kurfürstliche Räte: THStAW, Reg. O 1473 (1522). 12

Konkret nachweisbar in: THStAW, Reg. O 1226a (1518); 1630e (1524); 1600 (1525); 1247 (1526); 1630g (1526); 1630i (1527). 13 Der früheste Vermerk findet sich in der Akte THStAW, Reg. O 1246 aus dem Jahr 1529, allerdings fehlt der Vermerk in einigen wenigen, offensichtlich später abgelegten Akten wie z. B. THStAW, Reg. O 1226, deren letzte Schriftsätze vom November des Jahres 1530 datieren. Die relativ wenigen älteren Fälle mögen eventuell später diesem Bestand zugeordnet worden sein.

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Zunehmend ermöglichte so die verstärkte Einbindung dezentraler Institutionen den Verzicht auf den Einsatz speziell verordneter Persönlichkeiten. Vor allem die Autoritäten der Reformation wurden dadurch sichtlich entlastet und die Ehegerichtsbarkeit insgesamt auf eine deutlich praktikablere Basis gestellt als zuvor. Luther, Melanchthon, Bugenhagen und Jonas trafen zwar auch weiterhin Entscheidungen in einzelnen Ehesachen, doch war dies nach 1529 regelmäßig nicht mehr mit persönlicher Ermittlungstätigkeit verbunden.14 Trotz aller erkennbaren Fortschritte wurde die Lage im Eherecht der 1530er Jahre von den Zeitgenossen offensichtlich als unbefriedigend empfunden. Abhilfe sollte die Errichtung eines oder sogar mehrerer neuer Ehegerichte schaffen. Ein im Jahre 1537 von den Landständen gegenüber dem Kurfürsten vorgebrachtes Anliegen führte nach eingehender Erörterung Anfang 1539 zur Schaffung des Wittenberger Konsistoriums.15 Für das Konsistorium wurde die Form eines Kollegialgerichts, paritätisch besetzt mit zwei Theologen und zwei Juristen aus dem Professorenkreis der Wittenberger Universität, gewählt. Für die Arbeit des Wittenberger Konsistoriums war es von Anfang an charakteristisch, nicht auf der Basis einer vorgefertigten Normengrundlage zu entscheiden, sondern aus der Fülle der zeitgenössischen Rechtsquellen diejenigen Entscheidungsmaximen zu entwickeln, die sowohl die sachgerechteste als auch die konsensfähigste Lösung versprachen, mochten sie nun dem römischen Recht, dem kanonischen Recht, der Heiligen Schrift, einem Reformatorengutachten oder aber einer der neu geschaffenen evangelischen Kirchenordnungen entlehnt sein. Mit seiner Tätigkeit trug das Konsistorium gleichzeitig zu einer sachgerechten und widerspruchsfreien Fortentwicklung des neuen Eherechts bei. Martin Luthers Verhältnis zum Wittenberger Konsistorium war zwiespältiger Natur. Einerseits diente es dazu, ihn wie andere Reformatoren von der aufreibenden Entscheidungstätigkeit in Ehesachen zu entlasten. Luthers Vorstellungen von einer neuen Ehegerichtsbarkeit waren ohnehin in die Diskussion um die Einrichtung des Konsistoriums eingeflossen, und sein Placet hatte den Endpunkt eben dieser Diskussion dargestellt. Dem ausdrücklich ausgesprochenen Lob Luthers für einzelne Entscheidungen stand seine harsche __________ 14

THStAW, Reg. O 1508 (1528) Luther und Bugenhagen; 1510 (1528) Luther; 1475a (1528) Luther; 1246 (1529) Melanchthon; 1226 (1529-30) Luther und Jonas; 1512 (1536) Luther; 1635 (1536) Bugenhagen; 1172 (1538) Luther und Jonas. 15

Moderner Überblick mit weiterführenden Nachweisen bei Lück, Gerichtsverfassung (Anm. 1), S. 142 ff. Ausführliche ältere Darstellung: Otto Mejer, Anfänge des Wittenberger Consistoriums, in: ders., Zum Kirchenrechte des Reformationsjahrhunderts. Drei Abhandlungen, Hannover 1891.

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und unerbittliche Kritik gegenüber, wenn entgegen seinen Vorstellungen entschieden wurde, zudem wenn dies auf Betreiben der Juristen geschah. Auch war man in Kursachsen trotz der hohen Wertschätzung Martin Luthers und der infolge der durch ihn initiierten Reformation erlangten Vorteile nicht bereit, das angestrebte Ziel einer effektiven, modernen Rechts- und Gerichtsordnung gänzlich seinen Meinungen und Vorstellungen unterzuordnen. Luthers persönlicher Einsatz konnte allerdings bewirken, dass der Kurfürst sich in Einzelfällen auf seine Seite stellte und Entscheidungen des Konsistoriums revidierte.

II. Die Etablierung der evangelischen Ehegerichtsbarkeit Nach problematischen Anfangsjahren, in denen vor allem Finanzierungsfragen die Arbeit des Wittenberger Konsistoriums erschwerten, konnte es sich bis zur Mitte der 1540er Jahre als ein mit hochkarätigen und anerkannten Gelehrten besetztes Gericht etablieren, das in jeder Hinsicht den höchsten qualitativen Anforderungen der Zeit entsprach. Es besaß die Autorität, selbst rechtsetzend und systematisierend das neue evangelische Eherecht gestalten zu können. In seiner Arbeit war es damit weitgehend von einer vorherigen Fixierung materiell-rechtlicher Eherechtsnormen unabhängig. Gerade in diesem Umstand ist ein wichtiger Grund für die Errichtung des Konsistoriums in der beschriebenen Form zu sehen, denn hinsichtlich der Fixierung solch materiell-rechtlicher Normen war man in dem vom ernestinischen Zweig des Hauses Wettin regierten Kurfürstentum Sachsen ebenso kritisch eingestellt wie gegenüber einer Festlegung im formellrechtlichen Bereich. Diese Zurückhaltung stand in deutlichem Gegensatz zu Zürich, aber auch zur Vorgehensweise im zweiten großen Territorialstaat des sächsischen Raumes, dem von den albertinischen Wettinern regierten Herzogtum Sachsen. Für das frühe evangelische Eherecht war also eine große Offenheit sowohl in formeller wie in materieller Hinsicht charakteristisch. Im ernestinischen Sachsen stand dieser inhaltlichen Offenheit die starke Einbindung der Zentralverwaltung, verkörpert durch die Hofkanzlei, in die Ehegerichtsbarkeit gegenüber. Als lenkendes und aufsichtführendes Organ16 gab sie den Leitfaden für die Entwicklung vor und stellte über Jahrzehnte den ruhenden Pol in einem __________ 16 Bereits für die Reorganisation der allgemeinen Gerichtsbarkeit war dieser Aspekt von größter Bedeutung. Vgl. Heiner Lück, Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät. Organisation – Verfahren – Ausstrahlung, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 38 u. 87.

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sich verändernden Rechtssystem dar. Inhaltlich betonte die Mitwirkung der Kanzlei mit ihren lebenserfahrenen und im Zentrum der Macht agierenden Persönlichkeiten wie Gregor Brück17, Melchior von Osse18 oder Johann Ernst von Teuteleben19 ein ausgesprochen vernunftbetontes, jeglicher Irrationalität oder bloßer Dogmatik abgeneigtes Element im gesamten evangelischen Eherecht. Im albertinischen Herrschaftsbereich war man dagegen von Anfang an weit weniger kritisch gegenüber einer Festlegung sowohl in formell-rechtlicher wie in materiell-rechtlicher Hinsicht eingestellt gewesen. Schon bald, nachdem im albertinischen Sachsen im Jahre 1539 die Reformation eingeführt worden war,20 wurden dort im Jahre 1545 in Merseburg und Meißen zwei Konsistorien eingerichtet und deren materiell-rechtliche Arbeitsgrundlagen umfassend

__________ 17 * 1483 oder 1484 in Brück bei Belzig, † 15. oder 20. Februar 1557 in Jena (Ekkehart Fabian, Brück, in: NDB, 2, Berlin 1955, S. 652-654). 18

Von Osse wirkte in der Mitte des 16. Jahrhunderts als hervorragender Jurist und bedeutender Staatsmann an verschiedenen Höfen im sächsischen Raum. Er hatte in Leipzig die Rechte studiert und dort 1534 den Doktorgrad erworben. Von 1542 bis 1545 wirkte von Osse als Kanzler am kurfürstlich ernestinischen Hof. Er starb am 8. April 1557 (Klaus Luig, Osse, Melchior von, in: Adalbert Erler/Ekkehart Kaufmann, (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 3, Sp. 1329-1333. Und: Theodor Distel, Osse, Melchior v. O., in: ADB, 24, S. 496-498 m. w. N.). Ergänzend zum Werk: ders., Zur Entstehungsgeschichte des Testamentes Melchior von Osses, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 7 (1886), S. 153-154. In seinem berühmten, im Jahre 1556 für den Kurfürsten August verfaßten „Politischen Testament“ zeigte sich von Osse als profunder Kenner und analytischer Kritiker der sächsischen Gerichtsbarkeit in der Mitte des 16. Jahrhunderts, der in diesem Werk auch für die heutige Forschung tiefgreifende Erkenntnismöglichkeiten erschlossen hat. Leider hat er in diesem Werk der Ehegerichtsbarkeit kein der Juristenfakultät (S. 382-417), den Hofgerichten (S. 468-489) und Schöffenstühlen (S. 489496) äquivalentes Kapitel gewidmet. Seine Kritik an Ämterkumulation (S. 437 ff.) und Vetternwirtschaft (S. 233 ff., insbesondere S. 238 f.) wird sich grundsätzlich jedoch auch auf die Ehegerichtsbarkeit übertragen lassen. Allgemein vertrat er bezüglich Glaubens- und sonstigen kirchenrechtlichen Fragen den Standpunkt, daß für „Wahrheit, Treu, Glauben und Erbarkeit ... die weltliche Obrigkeit ihr Schwerdt wetzen“ solle. Seine materiell-rechtlichen Positionen treten hervor, wenn er die „ordentliche Ehe“ für einen „Regenten“ für „unvermeidlich“ beurteilt (S. 61), eine „freundlich“ geführte, „unzertrennliche Ehe“ ohne Ehebruch fordert (S. 64) und auch „Regenten“ davon abrät, in „verboten Graden“ zu heiraten (S. 65). 19 20

Vgl. E. Wülcker, Teuteleben, Caspar v., in: ADB, 37, S. 616.

Zur frühen albertinischen Kirchenpolitik: Günther Wartenberg, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546, Weimar 1988.

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fixiert.21 Die Standortwahl an den angestammten Bischofssitzen belegt, daß es im albertinischen Herzogtum bei der „Verfassung der alten Kirche bleiben“ sollte.22 Vor allem Georg von Anhalts23 Tätigkeit in Merseburg sollte sich in der Folgezeit als außerordentlich fruchtbar erweisen. Georg nahm seine bischöflichen Aufgaben von Anfang an mit großer Energie wahr. Unverzüglich nahm er eine Visitation zur Durchsetzung der Reformation im Hochstift vor und legte großes Gewicht auf die Einrichtung des Konsistoriums. 24 Bereits zwei Jahre später wandelten sich jedoch die Verhältnisse im sächsischen Raum grundlegend: Als Folge des Schmalkaldischen Krieges25 verloren die Ernestiner im Jahre 1547 nicht nur die Kurwürde, sondern auch den Kurkreis um Wittenberg mit allen dort angesiedelten Einrichtungen an die albertinischen Wettiner. Der Fortbestand der Wittenberger Universität und der mit ihr verbundenen Einrichtungen wie dem Hofgericht und dem Konsistorium hing nun an einem „seidenen Faden“. Es war durchaus nicht selbstverständlich, daß der neue Kurfürst Moritz26 auch weiterhin für den Fortbestand der Wittenberger Einrichtungen Sorge tragen würde, da er mit Leipzig bereits über ein vergleichbar hochwertiges Potential verfügte. Trotz finanzieller Probleme erhielt Kurfürst Moritz jedoch die Wittenberger Universität und das Konsistorium neben den bereits zuvor bestehenden albertinischen Institutionen. Mit der weiteren Förderung der verschiedenen __________ 21 Sog. Cellische Ordnungen, abgedruckt bei: Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 1, S. 291 ff. Die Cellischen Ordnungen setzten sich aus drei Teilen, einer „ConsistorialOrdnung“, einem „Ehe-Bedenken“ und einer Kirchenfragen im engeren Sinne betreffenden „Kirchenordnung“ zusammen. Die Celler Konsistorialordnung folgte in ihrer Vorgabe für die Besetzung deutlich dem Vorbild aus Wittenberg. 22

Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 2, S. 42.

23

* 15. August 1507 in Dessau, † 17. Oktober 1553.

24

Umfassend zu Leben und Werk: Peter Gabriel, Fürst Georg III. von Anhalt als evangelischer Bischof von Merseburg und Thüringen 1544-1548/50, ein Modell evangelischer Episkope in der Reformationszeit, Frankfurt a. M. u. a. 1997. 25

In dieser Auseinandersetzung zwischen der kaiserlichen Zentralmacht mit den im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen protestantischen Reichsständen hatte sich der Albertiner Moritz auf die Seite Karls V. und damit gegen seinen ernestinischen Verwandten, Kurfürst Johann Friedrich (* 1503, Kfst. 16. Aug. 1532-19. Mai 1547, † 3. März 1554), gestellt. Die militärische Niederlage des Schmalkaldischen Bundes in der Schlacht bei Mühlberg zwang Johann Friedrich am 19. Mai 1547 zur Unterschrift unter die sog. Wittenberger Kapitulation (Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzschmar, Sächsische Geschichte, Reprint Augsburg 1995, S. 199 f.). 26

* 1521, Hzg. 18. Aug. 1541, Kfst. 4. Juni 1547, † 11. Juli 1553.

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Einrichtungen trug er damit für den Ausbau einer hochwertigen Ehegerichtsbarkeit im sächsischen Raum Sorge. Es gelang, die Vorzüge der bis dahin getrennt verlaufenen Entwicklung in albertinischer Hand nutzbar zu machen. Die Qualität des dadurch erreichten Entwicklungsstandes zeigt sich in der Tatsache, daß die Wittenberger Rechtsprechung auch über das albertinische Territorium hinaus weiterhin ihr Gewicht behielt. Von ernestinischer Seite rief man vor allem in den ersten Jahren nach dem Kurwürdeverlust noch verstärkt Wittenberg an. Insgesamt zehn Entscheidungen aus den Jahren zwischen 1549 und 1566 zeigen, daß die Rechtsprechung des Wittenberger Konsistoriums auch im ernestinischen Sachsen dauerhaft wirksam blieb.27 Im ernestinischen Herrschaftsbereich ist andererseits etwa ab 1566, dem Jahr, in dem ein neu geschaffenes Konsistorium in Jena seine Arbeit aufnahm,28 ein Rückzug der Zentralverwaltung aus der Ehegerichtsbarkeit und damit eine Anpassung an die albertinischen Verhältnisse zu verzeichnen. 1566 war die Neuorganisation der ernestinischen Ehegerichtsbarkeit soweit abgeschlossen, daß man regelmäßig auf die landeseigenen Institutionen zurückgreifen konnte. Die Aufnahme einer Entscheidung der ernestinischen Juristenfakultät Jena in die zu albertinischer Zeit angefertigte Präjudiziensammlung des Wittenberger Konsistoriums belegt auch in der Gegenrichtung, daß die Landesgrenzen den

__________ 27 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), Reg. O 1452 (1549-54); 1527 (1550); 1373 (1550-58); 1374 (1551); 1283 (1552); 1314 (1552); 1669 (1552); 1467 (1561); 1560 (1562); 1552 (1566). 28 Der Ausbau des schwerpunktmäßig als Ehegericht konzipierten Konsistoriums ist seit 1565 zu verzeichnen. Zeitgenössisch wurde der Ausbau als „anderweit anrichtung des ConsistoriJ zue Jhene“ bezeichnet (dazu: ThHStAW, Reg. O 1118 bis einschl. ThHStAW, Reg. O 1120. Sowie: ThHStAW, Reg. O 1121 bis einschl. ThHStAW, Reg. O 1150 zu den weiteren, als „Reformation“ des Konsistoriums bezeichneten Aktivitäten seit Ende der sechziger Jahre bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts). Im April 1566 wurden die Superintendenten und Schosser der ernestinischen Lande durch ein Rundschreiben der herzöglichen Brüder Johann Friedrich dem Mittleren (* 1529, † 1595) und Johann Wilhelm (* 1530, † 1573) von der „Bestallung“ des Konsistoriums und dessen ehegerichtlicher Funktion informiert (ThHStAW, Reg. O 1119, Bl. 1r-3v). Geeignete Konsistoriale waren zu diesem Zeitpunkt mit Dr. Johan Stossel, Magister Nicolai Selnecker, Magister Johann Rose und Dr. Nicolaus Scheller bereits eingesetzt worden und erhielten letzte Instruktionen für ihre Tätigkeit, vor allem bezüglich der zu erhebenden Gerichtsgebühren (ThHStAW, Reg. O 1119, Bl. 5r-8r). Mit Erlaß der Jenaer Konsistorialordnung („Ordnung und reformation ecclesiastici consistorii zu Jena, durch den durchleuchtigen hochgeborenen fürsten und herrn, herrn Johans Wilhelmen, herzogen zu Sachsen, landgraven in Thüringen, und marggraven zu Meissen, bestetigt und confirmiret. Anno 1569, 7. Martii“, abgedruckt bei: Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 1, S. 233-241) wurde eine leichte personelle Erweiterung des Konsistoriums konzipiert, dem danach auch ein Präsident vorstehen sollte.

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juristischen Austausch nicht behinderten.29 Am Ende des Reformationsjahrhunderts zeigte danach die evangelische Ehegerichtsbarkeit im gesamten sächsischen Raum ein relativ homogenes Bild.

C. Die Rechtsprechungspraxis im Reformationsjahrhundert Die nachfolgenden Beispielfälle aus der juristischen Praxis des Reformationsjahrhunderts sollen die eingangs aufgestellte These belegen, daß gerade die frühe evangelische Ehegerichtsbarkeit von einem außerordentlich hohen Maß an Rationalität, Toleranz und der Orientierung an Individualinteressen geprägt war. Die Fallbeispiele unterstreichen einerseits, daß diese Werte erkennbar als juristische Entscheidungsmaximen hervortraten, andererseits wird ebenso deutlich, daß ihre Umsetzung im Kontext und in Auseinandersetzung mit dem überlieferten christlichen Wertekanon erfolgte.

I. Heimliche Verlöbnisse Die ersten Fallbeispiele sind einem sehr typischen und kontrovers diskutierten Problembereich des Reformationsjahrhunderts entnommen. In ihnen geht es um die sog. „heimlichen Verlöbnisse“, also allein von den Brautleuten ohne Einverständnis ihrer Eltern abgegebene Eheversprechen. Die durch das kanonische Recht eröffnete Möglichkeit, eine wirksame Eheschließung allein durch den Konsens von Mann und Frau herbeizuführen, war am Vorabend der Reformation in das Zentrum der Kritik gerückt. Martin Luther vertrat die Ansicht, daß die heimlichen Verlöbnisse „nichts“ sein sollten, ihnen also keinerlei Wirksamkeit zugemessen werden sollte. Das frühe albertinische Eherecht folgte diesbezüglich strikt Luthers Ansicht. Das Eherecht im ernestinischen Kurfürstentum, dem eigentlichen Wirkungsbereich Luthers, zeigte sich dagegen deutlich flexibler. Daß auch im ernestinischen Sachsen heimlichen Verlöbnissen entgegengewirkt werden sollte, kam zwar in einem Bestrafungsgebot deutlich zum Ausdruck, doch hütete man sich andererseits davor, solchen Verbindungen dogmatisch jegliche Wirksamkeit abzusprechen. Je nach den Umständen des Einzelfalles behielt man sich vor, zugunsten des Rechtsfriedens auch solche __________ 29

Bestand der Lutherhalle Wittenberg, Wittenbergisches Buch, Bl. 61v. Eingehend zu diesem Quellentext: Ralf Frassek, Das „Wittenbergische Buch“ – Ein bedeutender Quellentext für das frühe evangelische Eherecht, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 74/75 (2003/2004), S. 67-97.

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Verbindungen zuzulassen und die Betroffenen allenfalls durch kurze Arreststrafen für ihre Eigenmächtigkeit zu maßregeln. Auch Luther selbst sah sich gezwungen, konkrete Einzelfallentscheidungen entgegen seiner ureigenen Ansicht zu treffen, allerdings nicht ohne sich gegenüber dem Kurfürsten darüber zu beklagen, seine Lehren „nicht zum Landrecht machen“ zu können.30 In der Wittenberger Konsistorialordnung von 1542,31 die zwar nie offiziell in Geltung gesetzt wurde, in der Rechtspraxis aber gleichwohl inhaltliche Autorität erlangte, sind die Maximen Vorbeugung und Flexibilität deutlich erkennbar. Ein bereits in vorangegangenen ernestinischen Kirchenordnungen in pauschaler Form konstituiertes Bestrafungsgebot wurde nun differenziert, um den Problemstellungen der einschlägigen Fälle gerecht werden zu können. Primär wurde zwar die frühere Strafandrohung für diese Fallgruppe durch die neu eingeführte Möglichkeit einer Landesverweisung sogar noch verschärft, andererseits wurden jedoch auch die Beurteilungskriterien zur Erzielung größerer Einzelfallgerechtigkeit erweitert. „Dieweil durch uns vormals verordent, das keins, es sei mans oder weibsbild, sich one seiner eltern wissen und willen, in heimliche oder offentliche ehegelübde einlassen solle, wollen wir solche unser ordnung verneuert, und darob zu halten, nachmals mit ernste befohlen haben. ... die jenigen, so sich one wissen und willen irer eltern, in ehegelübde gelassen, andern zur abscheu mit landes verweisung, oder sonst nach erkentnus ernstlich 32 sollen gestraft werden.“

Offensichtlich angeregt durch in der Eherechtspraxis aufgetretene Einzelfälle, wurde jedoch den Eltern der potentiellen Brautleute auferlegt, ihrerseits auch tragfähige Gründe für die Verweigerung einer Zustimmung vorzubringen, um so Willkürentscheidungen und daraus möglicherweise resultierenden „erzwungenen“ Rechtsverstößen vorzubeugen. „Nach dem aber auch die eltern ires gewalts zu zeiten missbrauchen, do zwei von gleichem alter, auch von leben unbescholten, gesundes leibs, und sonst von stande und herkommen einander nicht ungemes, lust und liebe zusammen haben, nemen ihnen die eltern ursach, das eins dem andern nicht reich gnug, oder sehen zu weilen mehr ihr eigen, denn der kinder nutz an, und wollen die kinder an irer verhairatung hindern, welchs denn

__________ 30 Zitat nach: ThHStAW, Reg. O 1508, Bl. 9r-9v (vgl. dazu: WA, Briefwechsel, 4, S. 352-355, Nr. 1211 und S. 417-420, Nr. 1244 und 1245). Im einzelnen: Ralf Frassek, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit – Der Aufbau neuer Rechtsstrukturen im sächsischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des Wittenberger Konsistoriums (Jus Ecclesiasticum – Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht, 78), Tübingen 2005, S. 52 f. 31

Abdruck bei: Georg Buchholtzer (Hg.), Constitution und Artickel des Geistlichen Consistorii zu Wittembergk, Anno MCXLII, Franckfurt an der Oder, Anno 1563. 32

Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 1, S. 209.

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mehr ein tyrannei, denn offentlicher gewalt zu achten, so erfolgt auch daraus allerlei 33 unrath, wie in teglicher Erfahrung befunden.“

Die „elterliche Gewalt“ sollte nur dann Wirkung entfalten können, wenn sie auch pflichtgemäß ausgeübt wurde. Das christliche Gebot, die Eltern zu ehren, wurde hier also mit einer korrespondierenden Verpflichtung in der Gegenrichtung verknüpft, um eine gerechte Einzelfallentscheidung zu gewährleisten. Über die Frage, ob eine pflichtgemäße Ausübung im Einzelfall gegeben war, sollte das Wittenberger Konsistorium entscheiden. Um diese Entscheidung zu ermöglichen, wurden die Eltern verpflichtet, die „Ursachen“ ihrer Verweigerung „anzuzeigen“, welche dann im Konsistorium „... bewogen, und darauf und ob dieselben erheblich oder gnugsam sind, durch die commissarien in Pflichten nach erkannt werden. Und soll nicht gnugsam sein, das ein vater oder mutter sage: darumb wil ich nicht, das ich nicht wil, sondern das nicht wollen, soll mit bestendigen ursachen ergründet sein, oder der blosse dissens sol disfals die ehe 34 nicht verhindern.“

Die Bestimmung der Wittenberger Konsistorialordnung läßt eine intensive Auseinandersetzung mit der dieser Fallgruppe zugrunde liegenden Problemlage erkennen, die in ihren Schlußfolgerungen bis in die Gegenwart Gültigkeit beanspruchen kann. Deutlich schlichter und dogmatischer stellten sich die Verhältnisse im albertinischen Sachsen dar. In den wegen ihrer sehr frühen Fixierung materiellrechtlicher Eherechtsnormen bedeutenden Cellischen Ordnungen35 aus dem Jahr 1545 wurde der Bereich der heimlichen Verlöbnisse an erster Stelle erörtert: „Nachdeme sichs ofte zutregt, wan die eltern ihre kinder fleissig auferzogen und sie, vor sich selbst, zu gelegner zeit zuverehelichen willig sein, das sich darzwischen ein junges dem andern aus unvorstande, trunkenheit, kopelei, ader in andere wege, wie das zukommen mag, zum ehestande vorpflicht, ahne vorbewust und bewilligung ihrer eltern, und aber got geboten hat, du solt vater und mutter ehren und gehorsam sein, welcher gehorsam in der heiligen geschrift, und kaiserlichen rechten under andern auch auf das eheliche vorpflichten gedeutet wirdet, so soll sölliche vorpflichtung, die ahne begrussung und bewilligung der eltern vorgenommen, in beiden consistoriis nach götlicher satzung,

__________ 33

Ebd.

34

Ebd.

35

Benannt nach dem berühmten Kloster Altenzelle bei Nossen, wo diese Ordnung auf Anregung der Herzöge Moritz und August von Sachsen ab Dezember 1544 beraten und formuliert wurde. Ausführlich zur Entstehung: G. Schleusner, Zu den Anfängen protestantischen Eherechts im 16. Jahrhundert. Mitteilung aus gleichzeitigen Akten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 6 (1884), S. 397 ff. Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 1, S. 97 ff. Abdruck daselbst, S. 291 ff. S. auch o. Anm. 21.

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kaiserlicher ordnung und erforderung burgerlicher erbarkeit unkreftig und unkundig 36 erkent werden.“

In der Praxis des albertinischen Eherechts stellte sich danach ebenfalls die Frage, ob eine elterliche Zustimmungsverweigerung auch dann zu beachten sei, wenn sie ohne jegliche Begründung erfolgte. Dem Gedanken des Vierten Gebots folgend unterwarf man die Kinder ohne Wenn und Aber der Entscheidung ihrer Eltern. Die Möglichkeit, die Entscheidung der Eltern anhand rationaler Kriterien zu überprüfen, wurde nicht verfolgt: „Und sölchs sal ane unterscheid gehalten werden, ob auch gleich die eltern kaine ursache 37 ihrer nicht bewilligung vorzuwenden hetten.“

Der Begriff der elterlichen Gewalt und das christliche Gebot wurden, Luther folgend, im buchstäblichen Sinne interpretiert, eine Abwägung der Individualinteressen von Eltern und Kindern war also nicht vorgesehen. Nach dem Übergang des Wittenberger Konsistoriums an die albertinische Linie des Hauses Wettin wurde mit der Dresdener Eheordnung von 155638 eine Kompromißlösung gefunden, die darin bestand, daß ein fehlendes Elterneinverständnis die Versprechen schwebend unwirksam machte, dies jedoch im Einzelfall durch eine Entscheidung der ehegerichtlichen Institutionen ersetzt werden konnte. Die vorangegangene ernestinische Praxis mit ihrem hohen Maß an Flexibilität dominierte also erkennbar die nun gefundene Lösung. Dies wird besonders in der Beantwortung der Frage deutlich, ob auch eine unbegründete Verweigerung der Eltern beachtenswert sei. In mehreren überlieferten Entscheidungen des Wittenberger Konsistoriums wurde diese Frage aufgeworfen und jeweils eindeutig verneint. Nur wenn eine tragfähige Begründung der Eltern vorlag, sollte ihnen das letzte Wort zukommen. Andernfalls behielt sich das Konsistorium selbst die Entscheidung vor, das Elterneinverständnis zu ersetzen, wenn dies angemessen erschien. Bemerkenswert ist vor allem die Begründung des Konsistoriums für diese Vorgehensweise: „... den obwol in der heiligen göttlichen schrifft den Eltern die ehere gegeben ist, das die kinder ohne Jre verweissen vnndt Consens sich nicht vorloben sollen. So ist doch

__________ 36

Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 1, S. 292.

37

Ebd. Vgl. eine Entscheidung Luthers aus dem Jahre 1524, Wittenbergisches Buch, Bl. 49v. 38

Abgedruckt bei: Theodor Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben im Zeitalter der Reformation, Erlangen 1866, S. 446 ff. Vgl. dazu Ergänzungen und Korrekturen von Schleusner, Zu den Anfängen (Anm. 35), S. 393 ff. und Sehling, Kirchenordnungen (Anm. 2), 1, S. 109 ff.

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gleichwol dieselbige zuuerstehen, das die Eltern ohne gnugsame vrsach die kinder so sich ehelich vorsprochen haben, Liebe vnndt Lidt zusammen haben nicht hindern sollen, hette sie aber gnugsame vrsach warumb sie darin nicht verwilligen wolte, das sie auch dieselbigen anzeigen solte, vndt so ihr aus den hernachmalß neben andern was von beiden teilen eingebracht zuschicket, so wolt wir in der hauptsachen erkennen was recht 39 ist.“

Sehr deutlich kommt in diesen einfühlsamen Formulierungen die Zielsetzung zum Ausdruck, das individuelle Glück der Betroffenen mit den traditionellen christlichen Wertvorstellungen in sachgerechten Einklang zu bringen. Als beachtenswerter Grund für eine Verweigerung konnte in der Rechtspraxis beispielsweise ein als unnatürlich empfundener Altersunterschied der Verlobten gelten wie im Fall eines Achtzehnjährigen, dessen Vater die Zustimmung zur Heirat mit einer fünfzigjährigen Witwe verweigert hatte. „Berichten vnndt bekennen darauf dieweil d. Rathsmeister Jobst geleucklin anzeigt, d. sein Sohn vber 18 Jahren nicht alt, die widtwe 50 Jhar. Vf Jr haben solte, das sie dan beyderseits nicht vormeinen, darauß d. vater sorge treget, das die vngleicheitt zu seines Sohnes fall vnndt sünden ein vrsach werden möchte, neben dem das auch andere bewegliche vrsachen durch Jhnen vorgewandt warumb er ihm d. ehegelübd nicht willigen wolle, So thutt er sich in dem seines veterlichen gewalts vnndt rechten zugebrauchen, deme auch der Sohn zu gehorchen von dem vater seine gebürliche ehre 40 vnndt gehorsam zuleisten schuldigk.“

War die elterliche Verweigerung aufgrund der vorgebrachten Begründung beachtenswert, wandelte sich die schwebende Unwirksamkeit in eine endgültige. Regelmäßig versuchten die ehegerichtlichen Institutionen jedoch den Ausspruch der Unwirksamkeit zu vermeiden und statt dessen auf eine Konsenslösung unter den Beteiligten hinzuwirken. So ermahnte das Konsistorium den Vater einer Braut, „Schimpf und Schande“ zu bedenken, die der Tochter drohten, wenn seine Verweigerung das letzte Wort bliebe: „... das er in das ehegelübde seiner tochter nicht gewilliget noch aus erheblichen vrsachen drein willigen möchte oder wolte. So würden solche sponsalia so ohne sein consens vnd bewilligung geschehen, wo man in nicht dazu vermögen möchte, das man doch aus christlicher liebe nochmals mit vleis versuchen sol, mit erinnerung was vor 41 gefahr vnd schimpf seiner tochter gleichwol darauff stünde.“

__________ 39

Wittenbergisches Buch, Fall Nr. 5, Bl. 66v f. In der Sachlage und der ausgesprochenen Rechtsfolge vergleichbar auch Fall Nr. 21, Bl. 72r f. 40

Wittenbergisches Buch, Fall Nr. 66, Bl. 95v.

41

Ebd., Bl. 58v.

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Auch in dieser Entscheidung zeigt sich, mit welch hohem Maß an Sensibilität und Lebenserfahrung in der frühen evangelischen Eherechtspraxis angestrebt wurde, individuelle Wünsche und Bedürfnisse sowohl mit den gesellschaftlichen Erfordernissen wie auch mit dem christlichen Wertekanon in Einklang zu bringen.

II. Spezielle Eheprobleme Im Gegensatz zu den Fallbeispielen zum Themenkreis der heimlichen Verlöbnisse betrifft der nachfolgende Sachverhalt eine im frühen evangelischen Eherecht seltene Konstellation. Gerade in der Außergewöhnlichkeit seiner Umstände tritt jedoch die rationale Unvoreingenommenheit besonders deutlich hervor, mit der die frühe evangelische Ehegerichtspraxis das Ziel verfolgte, den Interessen und Bedürfnissen der betroffenen Menschen gerecht zu werden. Möglicherweise würde man Andres Mertin nach heutigen Kriterien als homosexuell, zumindest aber in seinem Verhältnis zum weiblichen Geschlecht als besonders eigenwillig charakterisieren. Vielleicht ließen sich seine Eigenarten aber auch allein als Folge bei ihm vorliegender körperlicher Gebrechen interpretieren. Mertins Ehefrau Magdalena wandte sich im Jahre 1565 hilfesuchend an das Wittenberger Konsistorium weil Andres in den fünfeinhalb Jahren ihrer Ehe keinerlei Regung gezeigt hatte, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Eine eingehende Zeugenbefragung am Wohnort ergab, daß Andres Mertin Zeit seines Lebens „den Umgang mit Weibern“ gemieden habe und immer nur „auf diese gescholten“ habe. Ob dieses Umstandes habe bereits das Gerücht die Runde gemacht, er sei impotent: „... wir darauff bey Sechs Eherlichenn Mennernn als dreienn Burgermeisternn dem Landtrechte unnd Zwene Rathsherrenn Seinenn Nachbarnn Zu Brenha durch den herrenn Superintendentenn unnd den Schosser Zu Biterfelt nach erInnerung Ihrer Eyde unnd Pflicht erkundung nehmenn lassen die dann bey Ihrenn Eydes Pflichtenn erkandt unnd außgef(ra)gt das sie biß In die Dreyssigk Jahr mit beklagtenn Andres Mertenn umbgang unnd ihnen nicht bewust das er Jhemals mit Weybernn Buhlschaft gehabt auch des Nymals bezuchtiget wordenn, unnd das er ungerenne mit weibernn umbgang unnd uf sie gescholtenn auch alda alliweg eins gemein geruchte gewesenn das ehr Impotens 42 ...“.

Die Befragung des beklagten Ehemannes bestätigte den Sachverhalt. Er führte aus, die Klägerin lediglich deshalb geheiratet zu haben, damit sie ihn __________ 42 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg/Wernigerode (LHASA, MD), Rep. D Bitterfeld, D I Nr. 1, Bl. 27r.

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fortan bei der Arbeit unterstütze, insbesondere für ihn kochte und anderweit im Haushalt versorgte: „... ehr Selbst vor uns bekendt D(as) Zeit seines lebens In der Jugennt nach Im alter ... seiner Erstenn Mannes Creften Zu Weybernn nicht thuchtig gewesenn auch die Zeit Er seines lebens nie kein Weyb oder Magd erkandt oder innige Neygung Zu Ihnenn gehabt unnd Clegerin Ihrer derweg vertrautenn Enfpenn das sie ferner undt ganß arbeyt koch 43 unnd anderenn versorgt“.

Das Wittenberger Konsistorium begegnete mit seiner Entscheidung diesen für die betroffene Ehefrau unhaltbaren Verhältnissen nicht nur mit einer Auflösung der Ehe einschließlich Wiederverheiratungserlaubnis, sondern gestand ihr zudem auch eine auf mehrere Jahre ausgelegte finanzielle Entschädigung zu. „Ist Clegerin uf ihr anhaltenn vonn gedachtem Andres Mertin der Ehe halbenn ledig unnd losgezeit unnd Ihr sonstenn anderweit Jhar gelegenheit nach sich Zu vorehelich vorstatet und nachgelassen werden etc. und weil Andres Mertenn weg(en) des Vorlobnus unnd hochzeit unnd sonstenn dieser sach halben Clegerin Inn werest bracht Ist Ihme ufferlegt vor solches alles Clegerin dreyssig guldenn Zugebenn als kunftige Osterernn funff guldenn uff volgende Michaelis aber funf fl und uff Osternn des sechs unnd sechtzigts Ihars wieder f. v(5) fl. unnd Osternn des lxvy(67) Ihars auch v(5) fl.das rese xx(20) fl. bey seinenn lebenn solltenn erleget wich die andernn x fl. sollenn nach seinem absterbenn Clegerin oder Ihrennn denn vonn des beklagtenn bereytestenn guthe inn solchenn welches alles deß Beclagtenn hauß unnd hof unnd andere seine bereiteste guter der Clegerin Zum underpfande sollenn eingesetzt unnd gepotherert sein Un ehe dann solches vor uns reso gewilliget unnd sollenn daruber der Clegerin Ihr Bet(t) unnd linnen gewerth haußrath unnd anderes Zu ehen gebracht vnwegerlich solchenn ihr kundtlich mit des Consistory Insiegell besiegelt. 44

Actum Witenbergk den dreytzehendenn Tagk January Anno 1565.“

Mit dieser Rechtsfolge fällt die Entscheidung völlig aus dem Rahmen der mehreren hundert vom Verfasser ausgewerteten Eherechtsfälle des 16. Jahrhunderts.45 Sie zeigt die Flexibilität der frühen evangelischen Ehegerichtsbarkeit, auch außergewöhnlichen Umständen mit sachgerechten, an Rationalität und Einzelfallgerechtigkeit orientierten Entscheidungen zu begegnen. Die nachfolgenden Beispielfälle greifen eine Thematik auf, die einerseits für die Frühe Neuzeit als typisch gelten kann, andererseits jedoch im frühen __________ 43

LHASA, MD, Rep. D Bitterfeld, D I Nr. 1, Bl. 27r f.

44

Ebd., Bl. 27v f.

45

Zur Quellenbasis: Frassek, Eherecht (Anm. 30), S. 41-45. Und: ders., Das „Wittenbergische Buch“ – Ein bedeutender Quellentext für das frühe evangelische Eherecht, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 74/75 (2003/2004), S. 67-97.

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evangelischen Eherecht eine erstaunlich geringe Rolle spielte, den Glauben an Hexen und Zauberei. Nur in einer verschwindend geringen Zahl von Eherechtsfällen wurde diese Thematik überhaupt tangiert, und bei deren Betrachtung fällt in erster Linie auf, daß die Vermutung, es sei „nicht alles mit rechten Dingen zugegangen“, allein der Vorstellungswelt der Bürger, nicht aber einer zur Entscheidung in Ehesachen berufenen Person entsprang. Michel Groß, ein Bergschmied aus der Region Zwickau, begehrte im Jahre 1545 die Scheidung seiner Ehe. Zur Begründung brachte er den „Umgang seiner Ehefrau mit unchristlichen Sachen“ vor, unter anderem, daß sie aus einem „Kristall“ wahrsage. „... vnd kürtzlichen noech dem beylager, hath ßie mir durch eingebung des teuffels, der diessem stand ein haubtfeind ist, vnd zuitracht vnd vneinickeit maecht, vnder die awgen gespeyet, mit woerten ßie konde sich nicht mit mir, wie ehelichen Leuthen ziemet vnd geboeren wil, erneren, noch Liebe zue mir haben, ßie beforcht sich, einen bosen beschlus vnd ende mit mir yres Lebens. Naechmaels im virtel Jar, bin ich, in Warhafftige erfarung, vnd von Erbarn Leuten, in kunde koemmen, yres boeses Lebens, whie sie mit 46 vncristlichen sachen, vmbgehe ...“.

Die in diesem Fall involvierten Entscheidungsträger nahmen sich in außerordentlich sensibler Weise der Gefühlswelt der beiden Eheleute an. Die Bedenken des Ehemannes gegenüber den übernatürlichen Fähigkeiten seiner Frau wurden ernst genommen und die Sachlage mit einer Befragung durch den Pastor von Zwickau erforscht. Die Ehefrau gab auch ohne weiteres zu, im „Kristall“ zu lesen, betonte aber im zugleich, daß es sich dabei durchaus nicht um ein unchristliches Tun handele. Stets habe sie ihre Fähigkeiten nur eingesetzt um „Leuten in ihren Nöten zu helfen“ und daß dies nicht unchristlich sei zeige sich daran, daß sie in dem Kristall ein „Kruzifix“ sehe. „Alsßo hath der her Pastor zue zuickawe dye frawe gefroget, frawe whie kansthwe in die cristal sehen, aber was sehestu dorynne, in dem cristal. Doruff ßie geantwortet, vnd auff der antwort geruhet es where nicht ein tewfflisch wesen, ßonder where ein cristlich weßen, den lewthen yn yren noethen zuhelff(en) vnd wen ßie doryn sehe, ßo sehets sye ein crucifix, alßo hath der oberste sambt seynen beysitzern, doreyn gesehen, vnd haben gar nichts daraus merken, aber seh(en) moegen vnd garnichts dorynne gespuret vnd weitter yr vorgehalden, weib thwe gebest fur, es sey ein cristlicher handel, aber wir woellen dir sagen, als vorordenthe der geistlickeit, weil des Bekentnis das hern von Plaenitzs sambt dem cristal bey vns ist eingeleget, ßo erkennen wir dich als ein offentliche zcoberynne vnd gehest mit sollichem handel vmb, das offentlichen wider das woert gotes ist, vnd dinst dem tewffel meher den goth, weil kein mensch goth dem hern

__________ 46

ThHStAW, Reg. O 1309 (1545), Bl. 1r.

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dinen vnd zuuoricht auff yn haben vnd dem tewffel dinen vnd man sold billichen mit dir 47 als mit einer, die des fewer wirdik gebieten.“

Der Ehefrau gelang es also nicht, die Entscheidungsträger mit ihrem Argument der Christlichkeit des Kristallesens zu überzeugen. Als konsensversprechende Lösung wurde nun die Scheidung der Eheleute erwogen und in Aussicht gestellt. Trotzdem beschränkte sich die Reaktion auf eine bloße Warnung, die in erster Linie ganz offensichtlich den Rechtsfrieden im gesellschaftlichen Umfeld der Ehefrau geschuldet war. Dies zeigt sich insbesondere in einem parallel vorgenommenen Vermittlungsversuch den der ebenfalls in diesen Fall involvierte Ritter von Planitz unternommen hatte. Von Planitz strebte, ganz unbeeinflußt von den möglichen übernatürlichen Vorgängen an, die Eheleute wieder miteinander zu versöhnen, und hatte damit Erfolg. Zwei mögliche Entscheidungen standen also zu dem Zeitpunkt im Raum, als das Verfahren an die kurfürstliche Hofkanzlei gelangte. Die abschließende Entscheidung der Hofkanzlei verdeutlicht, daß allein rationale Erwägungen wie Rechtsfrieden und Konsensfähigkeit als Entscheidungsprämissen herangezogen wurden. Beide Lösungsalternativen, Scheidung oder Versöhnung wurden als mögliche Ergebnisse anerkannt, der Versöhnung jedoch der Vorzug erteilt. Der Ausgangspunkt der Ehesache, das vorgebrachte übernatürliche Wirken der Ehefrau, fand mit keinem Wort mehr Erwähnung. Insbesondere wurde es nicht als Hinderungsgrund für ein zukünftiges „treues und christliches Zusammenleben“ der Eheleute betrachtet: „... vnd gepurtt von berurt(en) seinem weibe entbrochen vnd Ime also sich anderweit zuverehlichen rechtlich zuerkanth were, zu dem das S(eine) c(hur) f(ürstlichen) g(naden) aus her heinrich Edlers von d(er) Plaunitz Ritters gegbener kundschaft befunden, das er sie beide wiederumb eins mals versunet, sie auch beide gelobt vnd zugesagt einander wie fromme [Durchstrichen: „trewe“] Christliche ehleut beitzuwonen, So wusten S(eine) c(hur) f(ürstlichen) g(naden) dieser des grossen suchung nicht stadt zugeben vnd begern S(eine) c(hur) f(ürstlichen) g(naden) das er sich solcher versunung halt(en) sein weib dermassenn nicht verlassen, Sondern Ir, wie einem frommen ehman zusteht ehlich 48 beiwonen solle.“

Auch in dem besonders sensiblen Themenbereich des Zauberei- und Hexenglaubens stellte sich das evangelische Eherecht des 16. Jahrhunderts als ein ausgesprochen rationales Recht dar, das selbst nach heutigen Maßstäben sachgerecht und ausgewogen erscheint. Sehr deutlich konnte die Antwort der Entscheidungsträger ausfallen, wenn eine Klage wie diejenige Michel Wintzers aus dem Amt Camburg erhoben wurde. Wintzer nahm an, daß seine Impotenz __________ 47

Ebd., Bl. 2r.

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Ebd., Bl. 5r f.

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durch sein „zeuberisches Weib“ verursacht worden war. Die zur Entscheidung berufenen Persönlichkeiten stellten dagegen eindeutig auf natürliche Ursachen für das aufgetretene Problem ab und erteilten damit jeglichen irrationalen Erklärungsversuchen eine klare Absage: „... op wol genanter wintzer die schult berurter sachenn halb vff seynn weib legenn will ... ist nach beider theyl Einbrenngenn, souil vermerckt vnd befundenn, ... daß er Ir doch 49 doran vnrecht thuet, vnnd an Ime selbst die vrsach desselben vorhanden ist.“

Der Befund legt die Frage nahe, aus welchen Gründen es trotzdem möglich war, daß der Glaube an Hexen und Zauberer in der Gerichtspraxis des sächsischen Raumes ein gewisses Gewicht erlangen konnte. Die inzwischen vorliegende, auf breiter Quellenbasis vorgenommene Untersuchung Manfred Wildes zu den „Zauberei- und Hexenprozessen in Kursachsen“50 läßt diesbezüglich zumindest die Formulierung einer These zu. Wildes flächendeckende Untersuchung belegt, daß erst gegen Ende des 16. und dann vermehrt im 17. Jahrhundert Hexenprozesse im sächsischen Raum Relevanz erlangten. In auffälliger Weise korrespondiert dies zeitlich mit dem Rückzug der zuvor so prägend wirkenden Zentralverwaltung aus der Ehegerichtsbarkeit. Etwa im selben Maße wie die Entscheidungstätigkeit in Ehesachen delegiert und damit nicht mehr einer zentralen Kontrollinstanz unterworfen war, konnten zunehmend auch irrationale Momente Einfluß gewinnen. Die Bestätigung dieser These bedürfte einer auf umfassender Quellenbasis angelegten Untersuchung, die zeitlich das ausgehende 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts berücksichtigen müßte. Eine solche Untersuchung ist jedoch bislang, wohl nicht zuletzt wegen der nach dem Rückzug der Zentralverwaltung deutlich problematischeren Quellenlage, ein Desiderat. Trotzdem läßt sich in den Ergebnissen Wildes die positive Langzeitwirkung der jahrzehntelangen zentralen Lenkung ablesen: In der Gesamtbetrachtung zählt Kursachsen zu den verfolgungsärmsten Territorien des alten Reiches.

D. Resümee Bei der Betrachtung der frühen evangelischen Ehegerichtsbarkeit werden zwei Punkte deutlich: Erstens fällt auf, welch hoher qualitativer Entwicklungsstand gerade in den äußerlich so ziellos und unbestimmt wirkenden ersten Jahrzehnten nach der Reformation erreicht wurde. Vieles scheint diese Zeit der __________ 49

ThHStAW, Reg. O 1757 (1553), Bl. 8r.

50 Manfred Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen (zugl. Habil., Techn. Univ. Chemnitz), Köln/Weimar/Wien 2003.

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Entwicklung der nachfolgenden Jahrhunderte vorwegzunehmen. Zweitens wird deutlich, wie stark eine Rechtsmaterie nicht von Umfang und Inhalt der konstituierten Normen, sondern durch die Erfahrungswelt und Integrität der berufenen Entscheidungsträger geprägt wurde. Sowohl den Normgebern als auch den gerichtlichen Entscheidungsträgern des Reformationsjahrhunderts galt das menschliche Bedürfnis, „Lust und Liebe“, „Liebe und Leid“ mit dem selbst gewählten Lebenspartner teilen zu dürfen als Selbstverständlichkeit. Die Brautleute daran hindern zu wollen, wurde trotz des Vierten Gebotes als „Tyrannei“ bewertet. Auch und gerade aus christlichen Motiven wurden die Erkenntnisse als Leitmotiv für die juristische Entscheidungsfindung umgesetzt. Mit Vernunft und Toleranz wurde auch solchen Menschen begegnet, deren individuelle Lebensführung aus dem Rahmen des gesellschaftlich Üblichen fiel. Aus diesen Betrachtungen der Vergangenheit folgt die Verpflichtung, den bereits im Reformationsjahrhundert erlangten Erfahrungsschatz auch für die Gegenwart lebendig zu halten. Im Reformationsjahrhundert hat Friedrich der Weise Martin Luther eine Chance eröffnet, die christliche Welt auf neue Wege zu führen. In den modernen, westlich-demokratischen orientierten Staaten kommt jedem einzelnen Bürger ein Anteil daran zu, solch neue Wege zumindest offen zu halten, um unter Wahrung der christlichen Tradition auch den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden zu können. Selbst wohlerwogene und eindeutige Normvorgaben können die unabsehbar vielfältigen Herausforderungen des menschlichen Alltags nur dann bewältigen, wenn sie auch mit dem notwendigen Sachverstand gehandhabt werden.

Was die Reformatoren vom Recht sangen Von Hans Hattenhauer, Kiel/Speyer

A. Für die religiöse Versorgung des gemeinen Mannes war im Protestantismus des 16.-19. Jahrhunderts das Gesangbuch wichtiger als die Bibel. Zwar gab es auch Vertreter des gebildeten Bürgertums, die man in den Leichabdankungen unter genauer Angabe der Zahlen wegen ihrer vollständigen Bibellektüre rühmte. Aber für den kleinen Mann war das Gesangbuch wichtiger als die Bibel. Während der Pastor mit der Predigt ihm in der Kirche die Bibel auslegte und, gemeinsam mit dem Schulmeister, in der Schule den Katechismus einbläute, hatte das Gesangbuch daheim wie in der Kirche den eigentlichen Sitz im Leben inne. Soweit man daheim überhaupt Bücher besaß, war jedenfalls ein Gesangbuch darunter. Mit dem Gesangbuch in der Hand ging man zur Kirche, lernte seine Lieder auswendig und betete in Freuden wie Nöten seine Verse. So liegt die Frage nicht fern, ob und gegebenenfalls wie die Reformatoren in ihren ersten Gesangbüchern vom Rechte haben singen lassen. Dass hier nur ein Blick in die Lieder der reformatorischen Frühzeit geworfen werden kann, versteht sich für einen kurzen Vortrag von selbst. In späteren Epochen des Protestantismus wurde anders von Obrigkeit und Recht gesungen als in der Zeit des Aufbruchs. Der Erfolg des Reformationsliedes als des meines Erachtens wichtigsten Mediums zur Verbreitung der neuen Lehre ist bekannt, ist jedoch mit dem Hinweis auf Martin Luther keineswegs hinreichend beschrieben.1 Dazu war die Bewegung zu vielfältig. Lutheraner, Calvinisten und Täufer haben alle ihre Botschaft durch Lieder unter das Volk zu bringen gesucht. Ein jeder aber tat es auf andere, ihm gemäße Weise. Das Recht kam daher auch keinesfalls bei allen reformatorischen Strömungen in gleicher Weise zur Sprache beziehungsweise zum Klingen. __________ 1

Markus Jenny, Luther, Zwingli und Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983.

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B. Martin Luther hat das geistliche Volkslied nicht erst in Schwang gebracht.2 Ihm kommt auch nicht das Verdienst zu, als erster das Lied neben Predigt und Flugblatt als werbendes Medium entdeckt zu haben. Den Gesang christlicher Lieder und Hymnen hatte es im Volk schon lange vor ihm gegeben. Er hatte selbst als Schüler und Student in der Kurrende gesungen, doch hat er auf dieser Grundlage seine dauerhafte Spur in die Geschichte des Kirchenliedes geprägt. Angefangen hatte er beim Dichten seiner Lieder, knappe 6 Jahre nach dem Thesenanschlag, im Jahre 1523. Der Anlass dazu war aus Brüssel gekommenen. Dort waren am 1. Juli 1523 zwei seiner Augustiner-Ordensbrüder, die sich Luthers Lehre zugewandt hatten, auf dem Marktplatz als Ketzer verbrannt worden. Luther verfasste daraufhin „Eyn new lied von den zween Merterern Christi“: „Eyn newes lied wir heben an / des wald Gott unser herre, zu syngen, was got hat gethan / zu seinem lob und ehre. Zu brussel yn dem nidderland / wol durch zwen junge knaben Hatt er seyn wundermacht bekannt/die er mit seynen gaben So reichlich hat gezyret.“

Das Lied verbreitete sich im Nu als Einblattdruck in alle Welt. Ihm folgte bald danach, wiederum als Einblattdruck, das Bekenntnislied „Nun freut euch, lieben Christen gmein“. Danach gab Thomas Müntzer Luther neuen Anlass zum Dichten. Jener hatte seiner Gemeinde mittelalterliche Hymnen in Reimen verdeutscht und drohte mit seinen Schöpfungen auch den Bedarf der Lutherischen nach einem neuen Gesang zu befriedigen. Zur Übernahme der Lieder seines Intimfeindes seitens seiner Anhänger durfte Luther es keinesfalls kommen lassen. Um das zu verhindern, genügte es nicht, dass er die müntzerischen Schöpfungen als untauglich verwarf. Er musste vielmehr seinen Anhängern ein eigenes Angebot machen, die ihm angemessen dünkenden Formprinzipien definieren und im Lied verwirklichen. Sein Ideal fasste er in die Worte:3 „Es mus beyde, text und notten, accent, weyse und geperde aus rechter muttersprach und stymme komen, sonst ists alles eyn nachomen, wie die affen thun.“

__________ 2 Jenny, Luther (Anm. 1), S. 15 ff.; Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (=WA), Bd. 35, Weimar 1923; Markus Jenny, Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer Ausgabe, Köln u.a. 1985. 3 Wider die himmlischen Propheten, WA 18, S. 123; Jenny, Luthers Lieder (Anm. 2), S. 73.

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Nun zeigte Luther, wie man mittelalterliche Hymnen auf rechte Weise in reformatorischem Geiste verdeutschen müsse. So entstanden aus dem Protest gegen den ketzerischen Konkurrenten als Übersetzungen alter Hymnen die Choräle4 EG

518 214 138 183 23 125 124

Mitten wir im Leben sind Gott sei gelobet und gebenedeiet Gott der Vater steh uns bei Wir glauben all an einen Gott Gelobet seist du, Jesus Christ Komm, Heiliger Geist, Herre Gott Nun bitten wir den Heiligen Geist.

Ihnen sollten später weitere folgen. Bei diesen beiden Liedgattungen des Bekenntnisliedes und des Hymnus brachte Luther zwar seine großartige Sprachbegabung ein, kam aber zum eigenständigen Dichten erst durch Anregung von außen. Allein deswegen kann er schon nicht als „der“ Schöpfer des protestantischen Kirchenliedes in Anspruch genommen werden. Anders steht es dagegen mit seiner Verdeutschung und Umformung der Psalmen. Hier war er ohne Vorbild schöpferisch. Um die Jahreswende 1523/24 schrieb er Spalatin:5 „Ich habe vor, nach dem Beispiel der Propheten und alten Kirchenväter für das Volk Psalmen in dessen Muttersprache zu verfassen, also geistliche Lieder, damit Gottes Wort durch Gesang bei den Leuten zuhause ist.“

Mag Thomas Müntzer auch zu Luthers Psalmenliedern eine Anregung beigetragen haben, besteht in der Forschung doch Einmütigkeit, dass dieser es war, der den Protestanten das Singen gereimter Psalmen in deutscher Sprache zum Inbegriff ihrer Frömmigkeit gemacht hat. Damit war er so erfolgreich, dass bald alle Welt bis hin zu den Meistersingern in Nürnberg Psalmen reimte und sang.6 Bis in unsere Zeit hat das lutherische Psalmlied einen festen Platz im Gottesdienst aller christlichen Kirchen behalten, wenn heute auch nicht mehr alle seiner frühen Lieder im lutherischen Gesangbuch Heimstatt haben und manche ihren Platz __________ 4 Lieder nach: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt 42004 (=EG). 5 WA Briefe 3, S. 220: „Consilium est, exemplo prophetarum & priscorum patrum Ecclesiae psalmos vernaculos condere pro vulgo, id est spirituales cantilenas, quo verbum dicto vel cantu inter populos maneat.“ 6 Irene Stahl/Jörg Schechner, Täufer – Meistersinger – Schwärmer, Würzburg 1991, S. 74 ff.

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zugunsten der calvinistischen Psalmen haben räumen müssen. Bis heute aber sind am Leben geblieben: EG

273 299

Ach Gott, vom Himmel sieh darein Aus tiefer Not schrei ich zu dir Wär’ Gott nicht mit uns diese Zeit

und vor allem 362

Ein feste Burg ist unser Gott.

Das Jahr 1523/24 war die Geburtsstunde der eigentlichen Lutherlieder, als sich der ungestüme reformatorische Aufbruch zur Kirchengründung zu verfestigen begann. Mit Einzeldrucken und Flugblättern allein kamen die nach eigenen Liedern verlangenden Lutherischen nun nicht mehr aus. So erschien 1524 in Wittenberg ihr erstes Gesangbuch. Luther hatte selbst immer schon Freude am Singen gehabt und fröhlich die Laute geschlagen. Daher sollten auch seine Anhänger mit Freuden nach dem neuen Gesangbuch greifen und die neuen Lieder singen. Das sollte sogar mehrstimmig geschehen. Deshalb erschien bereits die erste Auflage des Gesangbuchs in vierstimmigem Satz:7 „Und diese Lieder sind dazu auch in vier Stimmen gesetzt, aus keinem anderen Grunde, als dass ich gerne möchte, dass die Jugend, die ohnehin soll und muss in der Musik und anderen rechten Künsten erzogen werden, etwas hätte, damit sie die Buhllieder und fleischlichen Gesänge los würde und statt derselben etwas Heilsames lernte und so das Gute mit Lust, wie es den Jungen gebührt, einginge. Ich bin auch nicht der Meinung, dass durchs Evangelium sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche falsche Eiferer vorgeben, sondern ich möchte alle Künste, besonders die Musik, gern sehen im Dienste dessen, der sie gegeben und geschaffen hat. Ich bitte deshalb, dass ein jeder fromme Christ sich das gefallen lassen wolle, und er da, wo ihm Gott mehr oder dasselbe verliehen hat, dies fördern helfe. Es ist ohnehin leider alle Welt viel zu nachlässig und zu gedankenlos, die arme Jugend zu erziehen und zu lehren, als dass man allen voran auch noch Anlaß dazu geben dürfte. Gott gebe uns seine Gnade. Amen!“

Man muss dem Reformator bestätigen, dass er mit diesem Programm den rechten Griff getan hatte. Die Lutherischen sangen selbst im Gottesdienst, wo die Tradition bisher hatte singen lassen. Luther wusste, dass Töne tiefer als Worte in die Seele dringen und dort mehr und länger wirken als gelehrte Predigten. Seine Lie-

__________ 7

WA 35, S. 474 f.; hier hochdeutsch zitiert nach Jenny, Luther (Anm. 1), S. 39.

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der sollten Freude bereiten. So hatte er keine theologischen Probleme, der Frau Musika zu huldigen:8 „Von allen Freuden auf Erden Kann niemand keine feiner werden Denn die ich geb mit meim Singen Und mit manchem süßen Klingen. Hier kann nicht sein ein böser Mut Wo da singen Gesellen gut. Hier bleibt kein Zorn, Zank, Haß noch Neid Weichen muss alles Herzeleid. ...“

C. Das Gesangbuch wurde nun zum wichtigsten Buch in den Häusern der Frommen. Es sollte richtige Ansichten über Gott und die Welt verbreiten. Also auch über das Recht? Hier wird die Sache schwierig. Keiner der Reformatoren hat nachdrücklicher von der Obrigkeit und deren Auftrag sowie den Pflichten der Untertanen geredet wie Luther. Eigentlich sollte man daher erwarten, dass er auch dem Recht in seinen Liedern einen bevorzugten Rang eingeräumt hätte. Das auch deshalb, weil die oratio pro rege, die Fürbitte für die Obrigkeit seit je apostolisch verordnete Christenpflicht war. Dazu waren die Frommen eindringlich im 1. Timotheusbrief ermahnt worden (2,2): „Ich ermahne euch, dass man vor allen Dingen Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen übe, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Denn das ist gut und wohlgefällig vor Gott unserem Herrn.“

So hatte man es seit den ersten Tagen der Christenheit gehalten und der Fürbitte für die Obrigkeit einen festen Platz in der Liturgie zugewiesen. Auch die Protestanten, zumal die Lutherischen, haben diese Pflicht erfüllt und das Gebet für die Obrigkeit in ihre Gesangbücher aufgenommen. Am eindringlichsten hat Paul Gerhardt diese Fürbitte hundert Jahre nach Luther in seinem wunderschönen Pfingstlied „Zieh ein zu deinen Toren“ (1653) in Worte gefasst.9 Heute singt man sie in der Fassung:10

__________ 8

WA 35, S. 483.

9 Ludwig Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich (Görresgesellschaft. Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft, 75), Paderborn 1937; Jörn Eckert, Das

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74 „Beschirm die Obrigkeiten, richt auf des Rechtes Thron. Steh treulich uns zur Seiten, schmück wie mit einer Kron’ die Alten mit Verstand, mit Frömmigkeit die Jugend, mit Gottesfurcht und Tugend das Volk im ganzen Land.“

Bei Paul Gerhardt hatte die lutherische Gemeinde dagegen gebetet: „Beschirm die Polizeyen, Bau unsrer Fürsten Thron ...“,

und in der Freien Reichsstadt zu Frankfurt: „Beschirm die Polizeyen Bau unsers Kaisers Thron ...“

Wie immer man aber diese Strophe dem Wandel der Verfassungen anzupassen sich genötigt sah, blieb doch die Fürbitte um Bewahrung des Rechts und einer gerechten Regierung im Kern dieselbe. Sucht man nun in den Liedern Luthers eine Botschaft vom Recht, sowie dessen Bedeutung für den Alltag der Frommen, wird man enttäuscht. Nur zweimal kommt das Wort „Recht“ in seinen Liedern vor. Beide Lieder stammen aus der Zeit um 1523/24 und sind Übersetzungen. Das erste ist die dichterische Fassung des 12. Psalms „Hilf Herr! Die Heiligen haben abgenommen“. Dessen dritte Strophe lautet in moderner Fassung: „Gott wolle wehren allen gar die falschen Schein uns lehren, dazu ihr Zung’ stolz offenbar spricht: ‚Trotz! Wer will’s uns wehren? Wir haben Recht und Macht allein was wir setzen gilt allgemein; wer ist, der uns sollt meistern?‘“

__________ Gebet für Kaiser und Reich, in: ders./Hans Hattenhauer (Hg.), Bibel und Recht, Frankfurt a. M. u.a. 1994, S. 343 ff. 10

EG Nr. 133, V. 10.

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Der andere Beleg findet sich in der Verdeutschung der Ostersequenz „Victimae paschali laudes“, dem Lied „Christ lag in Todesbanden“:11 „Jesus Christus, Gottes Sohn, an unsrer Statt ist kommen und hat die Sünd’ abgetan damit dem Tod genommen all sein Recht und sein Gewalt da bleibt nichts denn Tods Gestalt Den Stachel hat er verloren. Halleluja!“

Schon ein erster Blick lässt ein fragwürdiges Recht erkennen. Es ist nicht mehr als ein Werkzeug in den Händen der Gottlosen und des Todes. Diese rühmen sich des Besitzes der politischen Macht. Sie behaupten, jedes ihnen erwünschte Recht setzen zu können im Kampf gegen Gottes Wort und Willen. Dass am Recht und dem daraus hervorgehenden Gesetz etwas Gutes, dass es Gottes gütig einer gefallenen Schöpfung geschenkte Notordnung sei, kommt im Jahre 1523 in seinen Liedern nicht zur Sprache. Zwar lehrte Luther zur selben Zeit seine Gläubigen, dass die Obrigkeit von Gott sei und man ihr gehorchen müsse, von deren Recht und Gesetz aber ist in seinen Liedern nichts zu finden. Nun kann man einwenden, dass es sich hier um Übersetzungen handele, für die der Reformator nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Stimmt man dem auch zu, kommt man dennoch zu dem schlichten Ergebnis, dass in Luthers Liedern, anders als in denen des späteren Luthertums, vom Recht nicht ein einziges Mal die Rede ist. Auch das bedürfte als ein echtes argumentum e silentio der Erklärung. Seit je weiß man, dass Luther von den Juristen und vom Recht nicht viel gehalten hat.12 Selbst ein abgebrochener Rechtsstudent, hatte er nicht den Hochmut vergessen, mit welchem die Juristen zu Erfurt auf die Theologen herabgesehen hatten. So drohte er seinem Sohn, er werde ihn an den Galgen bringen, sollte der sich unterstehen, die Rechte studieren zu wollen. Diese Abneigung gegen die Juristen ist er zeitlebens nicht los geworden und hat ihn in seinen Tischreden oft zum Ausdruck gebracht. Zur selben Zeit, in der seine Lieder so kritisch vom Recht der

__________ 11 12

EG Nr. 101, V. 3.

Albert Stein, Luthers Meinung über die Juristen, in: ZRG (Kan. Abt.) 85 (1968), S. 362 ff.; Maximilian Herberger, Art. „Juristen, böse Christen“, in: HRG 2 (1978), Sp. 482 f.; John Witte jr., Law and Reformation, Cambridge 2002, S. 119 f.

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Gottlosen und des Todes sangen, stellte er in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“13 ernsthaft und öffentlich die Frage, „ob denn auch die Büttel, Henker, Juristen, Anwälte, und was zu deren Gehilfen gehört, Christen sein können, und einen seligen Stand haben? Antwort: Wenn die Gewalt und das Schwert ein Gottesdienst ist, ... so muss auch das alles Gottesdienst sein, was der Gewalt nötig ist, um das Schwert zu führen. Es muss ja einer sein, der die Bösen fängt, verklagt, erwürgt und umbringt, die Guten schützt, entschuldigt, verteidigt und errettet.“

Im Jahre 1525, also um die Zeit dieser beiden Choräle, fasste er sie in seinem Sendbrief wider die Bauern14 in die Worte, der Christ lebe in zwei Reichen: dem Reiche Gottes und dem der Welt. Gottes Reich sei ein Reich der Gnade und Barmherzigkeit und bestehe in „lauter Vergeben, Schonen, Lieben, Dienen, Wohltun, Friede und Freude“. Das Reich der Welt aber sei ein solches des Zorns und bestehe in „lauter Strafen, Verbieten, Richten und Urteilen“. Da die Theologen nun aber dem Reiche Gottes dienten, die Juristen dagegen dem Reich der Welt, hatten beide letztlich nichts miteinander zu schaffen. Muss es dann überraschen, dass Luther sich des Rechts in seinen Liedern so stiefväterlich annahm?

D. Anders sangen die Reformierten in Genf und Straßburg.15 Mehr als die Lutherischen entdeckten die Reformierten das Alte Testament und sein Gebot „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen!“. Wo die Bilder vertrieben wurden, sollte die Vernunft Platz nehmen. Der Glaube dürfe sich nicht, lehrte Calvin, wie es bisher leider oft der Fall gewesen sei, in der Anschauung des Kults erschöpfen. Die Gemeinde müsse zuvor verstanden haben, was sie bekenne, mit der Vernunft begreifen, was als Credo gesprochen und im Liede gesungen werde. Neben dem Lied als gesungenem Glaubensbekenntnis war auch der Gesang dem Grundsatz der Verständlichkeit unterworfen. Es sei „zweckmäßig und vernünftig“, lehrte Calvin in der Vorrede seines Gesangbuchs von 1542/43, dass die Gemeinde wisse und verstehe, was im Gottesdienst gesagt werde. Es dürfe nicht dazu kommen,16

__________ 13 WA 11, S. 260; hier zitiert nach der Ausgabe von Kurt Aland, Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd.7, Stuttgart 1954, S. 27 f. 14

WA 18, S. 389 f.; Aland, Luther (Anm. 13), S. 208.

15

Zum Folgenden: Jenny, Luther (Anm. 1), S. 217 ff.

16

Ebd., S. 271.

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„dass wir der Unterweisung mangeln, all das zu verstehen, was zu unserem Nutzen eingerichtet worden ist. Denn es wäre ja aufs Höchste lächerlich zu meinen, wir könnten andächtig sein, sei es zum Gebet, sei es zu den heiligen Handlungen, ohne etwas zu verstehen – obwohl das immer wieder behauptet wird. Die wirkliche Zuneigung zu Gott ist nichts Totes oder Plumpes, sondern es ist eine lebendige Bewegung aus dem Heiligen Geist, wenn das Herz unmittelbar berührt und der Verstand erleuchtet wird. Und in der Tat, wenn man erbaut werden könnte durch Dinge, die man sieht, ohne zu wissen, was sie bedeuten, würde der Heilige Paulus das Zungenreden nicht so streng verbieten und würde nicht behaupten, es gäbe keine Erbauung, wo es keine Lehre gibt.“

Denselben Gedanken wiederholte er in seiner Gottesdienstordnung von 1542 und führte speziell zum gesungenen gottesdienstlichen Gebet hinzu:17 „Wir wissen aus Erfahrung, dass der Gesang große Kraft und Macht hat, die Herzen der Menschen zu bewegen und zu entflammen, so daß sie Gott mit heftigerem und glühenderem Eifer anrufen und loben. Es gilt immer darauf zu achten, daß der Gesang nicht leicht und flatterhaft sei, sondern Gewicht und Würde habe ... Darum soll es einen großen Unterschied geben zwischen der Musik, die man macht, um die Menschen bei Tisch und in ihren Häusern zu erfreuen, und den Psalmen, die man in der Kirche singt, im Angesicht Gottes und seiner Engel.“

Calvin hat den Psalmengesang nicht erfunden und diese Art des Singens wohl als junger Mann 1531 in Basel kennen gelernt. In Straßburg, wo er als Pfarrer der aus Frankreich geflüchteten Reformierten amtierte, kannte man zudem bereits die lutherischen Psalmenlieder. Auch die Gattung des Psalmengesangbuches war nicht Calvins Erfindung. In Straßburg besaß man bereits das Psalmgesangbuch der augsburgischen Täufer von 1537. Zudem wusste Calvin von der Begeisterung, mit der man die gereimten Psalmen seines Freundes, des Hofpoeten Clément Marot am Hofe Königs Franz I. sang. Ungeschmälert bleibt aber sein Verdienst, den Hugenottenpsalter mit planender, strenger Rationalität zum Gesangbuch seiner Gemeinden und bald danach der gesamten christlichen Welt gemacht zu haben. Der Genfer Psalter, auch Hugenottenpsalter genannt, war keine Sammlung bereits vorhandener Lieder, sondern eine Neuschöpfung, ein Gesangbuch aus einem Guss. Was Calvin durch den deutschen reformatorischen Kirchengesang kennen gelernt hatte, brachte er in französische Form. Seine Begeisterung für die Psalmen verband sich mit seiner Vernunftgläubigkeit zum Entwurf des erstmals 1543 erschienenen Gesangbuchs. Im Jahre 1562 enthielt es schließlich die gereimte Fassung sämtlicher 150 Psalmen. Es war das einzige Gesangbuch, dessen Texte von nur zwei und dessen Melodien von nur drei Autoren stammten. Nach dem Tode __________ 17 Calvin-Studienausgabe, hg. von Eberhard Busch u. a., Band 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, S. 157.

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Clément Marots im Jahre 1543 übernahm Theodor Beza die Aufgabe des Umdichtens der Psalmen. Für die Musik fanden sich in den Genfer Kantoren Guillaume Franc, Loys Bourgeois und Matthäus Greiter ihm ebenbürtige Komponisten. Sie verschafften dem Hugenottenpsalter poetisch-musikalischen Weltrang. Er war in erster Linie für den Gottesdienst bestimmt, doch sangen die Reformierten ihre Psalmen auch sonst. Rationalität und äußere Schmucklosigkeit beherrschten auch den Gesang. Er kannte nur zwei Notenlängen, ganze und halbe Noten. Punktierungen, Synkopen und anderer melodischer Schmuck waren streng untersagt. Jede Zeile wurde einzeln gesungen, von der folgenden durch eine Zäsur getrennt. Zwar durften die Psalmen im Gottesdienst nur einstimmig gesungen werden, außerhalb desselben konnte es aber weltlicher zugehen. Noch vor dem Erscheinen der endgültigen Fassung des Psalters im Jahre 1562 kamen 1547 die ersten mehrstimmigen Kompositionen von Bourgeois und 1564 sogar eine vollständige vierstimmige Ausgabe des Psalters heraus. Mehrstimmigkeit wurde zur Selbstverständlichkeit und ersetzte das Fehlen der bei anderen den Gemeindegesang unterstützenden Instrumente. Die neuen Lieder hatten in der Tat etwas Ergreifendes und Glaubenstärkendes. Ein in Straßburg weilender wallonischer Student berichtete davon einem Freund:18 „Sie werden nie ermessen können, wie lieblich es ist, und wie ruhig das Gewissen wird, wenn man da weilt, wo Gottes Wort rein verkündigt und die Sakramente unverfälscht ausgeteilt werden; ebenso, wenn man die schönen Psalmen und Wundertaten des Herrn singen hört. ... Anfänglich konnte ich die Freudentränen nicht zurück halten, wenn ich singen hörte. Sie würden keine Stimme vernehmen, die die anderen übertönt. Jeder hält ein Gesangbuch in seiner Hand. Männer wie Frauen, alle preisen den Herrn.“

Dass solche Begeisterung nicht allein die persönliche Erfahrung jenes jungen Mannes war, sondern die gesamte protestantische Welt ergriffen hatte, beweist der großartige Erfolg des neuen Gesangbuchs.19 Wohl kein anderes christliches Gesangbuch hat je eine derart spontane und weit reichende Verbreitung erlebt wie der Genfer Psalter. Den Reformierten war er geradezu das Fundament ihres Glaubens.20 Mit diesen Liedern lobten sie ihren Gott, bekannten ihren Glauben, schlugen ihre Schlachten und erduldeten ihr Martyrium. Ihren Feinden von der Liga

__________ 18

Zitat bei Jenny, Luther (Anm. 1), S. 224 f.

19

Peter Ernst Bernoulli/Frieder Furler (Hg.), Der Genfer Psalter – eine Entdeckungsreise, Zürich 2001. 20 Henri Chaix, Le psautier huguenot: sa formation et son histoire dans l’Eglise réformée, Genf 1907, S. 91 ff.

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sträubten sich die Haare, wenn sie die Hugenotten vor der Schlacht den 68. Psalm singen hörten „Gott macht sich auf mit seiner Gewalt“: „Que Dieu se monstre seulement Et on verra soudainement Abandonner la place …“

Doch hatte dieses inbrünstige Singen seinen Preis. Daran wurden die Sänger erkannt und aufgespürt, wenn sie in Wäldern und Einöden bei verbotenen Gottesdiensten ihre Psalmen sangen. In allem Wandel der Zeiten und des Geschmacks haben die Genfer Psalmen nichts von ihrer Kraft verloren. Bis heute singt man die Melodien des Guillaume Franc und des Loys Bourgeois im Evangelischen Gesangbuch, wenn nun auch anderen Texten unterlegt: EG

76 81 108 255 271 294 326 379 392 300 366 524

O Mensch, bewein dein Sünde groß / Es sind doch selig alle die Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen Mit Freuden zart zu dieser Fahrt O dass doch bald dein Feuer brennte Wie herrlich gibst du, Herr, dich zu erkennen Nun saget Dank und lobt den Herren / Dankt, dankt dem Herrn jauchzt volle Chöre Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut Gott wohnt in einem Lichte, dem keiner nahen kann Gott rufet noch Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit Wenn wir in höchsten Nöten sein / Ich heb mein Augen sehnlich auf Freu dich sehr, o meine Seele / Wie nach einer Wasserquelle

E. Der Hugenottenpsalter war in französischer Sprache verfasst. In dieser Gestalt begleitete er die Refugiés in die Emigration, die auch in der neuen Heimat an ihrer Muttersprache über Jahrhunderte festhielten. Dennoch wäre sein Welterfolg ohne die alsbald nach seinem Erscheinen herauskommenden Übersetzungen nicht möglich gewesen. Reformierte Anhänger der Lehre Calvins gab es auch außerhalb des französischen Sprachraums. Dort mussten, getreu der Lehre Calvins, die Psalmen in entsprechender Fassung gesungen werden können. Den Deutschen leistete diesen Dienst der Übersetzung Ambrosius Lobwasser (1515-1585).21 Er begann damit im Jahre 1565 und brachte seinen Psalter in dessen vierstimmiger

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Ausgabe 1573 in Leipzig im Druck heraus unter dem Titel „Der Psalter dess Königlichen Propheten Dauid. In deutscher Sprache verstendiglich und deutlich gebracht“22. Das Buch war ein Erfolg, erlebte ständig Nachdrucke und beherrschte den deutschen Sprach- und Konfessionsraum für zwei Jahrhunderte. Dieser Erfolg ist umso bemerkenswerter, weil Lobwasser kein Calvinist, sondern Lutheraner, und auch kein Theologe, sondern Jurist war. Nach Abschluss seines Grundstudiums im lutherisch-orthodoxen Leipzig hatte er zwei junge Adlige fünf Jahre lang als Hofmeister auf der Kavalierstour begleitet und auf diese Weise in Löwen, Paris und Bourges die Rechte studiert. Die Fakultät zu Bourges war zu dieser Zeit die modernste Juristenhochschule auf dem Kontinent. Zum Abschluss seines Rechtsstudiums promovierte Lobwasser zum doctor iuris utriusque in Bologna. Kaum nach Leipzig zurückgekehrt, führte ihn der Weg auf eine Professur an der Universität in Königsberg und weiter in höchste Staatsämter. In den Niederlanden und Frankreich, nicht zuletzt wohl im vom Calvinismus in Unruhe versetzten Bourges, dürfte es gewesen sein, dass Lobwasser den Psalmengesang der Reformierten kennen gelernt hatte. Dass er als Lutheraner den Umgang mit der anderen Konfession nicht mied, weist ihn als einen der Orthodoxie abgeneigten irenischen Lutherischen aus. Hinzu kam seine poetische Begabung, die ihn den Reiz der neuen Gesänge wohl doppelt hat genießen lassen. Was er in französischer Sprache gehört und wohl auch mitgesungen hatte, wollte er nun den Deutschen zugänglich machen, mochten diese nun lutherisch oder calvinistisch sein. Eine in Königsberg wütende Pest brachte sein akademisches Amt für einige Zeit zum Erliegen und verschaffte ihm die Zeit zum Übersetzen der Psalmen. In seinem Widmungsgedicht der Ausgabe von 1565 teilte er mit:23 „So hat sich dises zugetragen eben, Daß ich zu der betrübten sterbens zeit Bekommen hab ein wenig müssigkeit,

__________ 21

Walter Blankenburg, Art. „Lobwasser, Ambrosius“, in: MGG 8 (1960), Sp. 1074 f.; Erich Trunz, Studien zur Geschichte der deutschen gelehrten Dichtung des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts: A. Ambrosius Lobwasser, Diss. Berlin 1932 . 22

Vgl. den jüngst erschienenen Nachdruck: Ambrosius Lobwasser, Der Psalter deß Königlichen Propheten Dauids, Leipzig 1576, hg. und komm. von Eckhard Grunewald/Henning P. Jürgens, in Zusammenarbeit mit Dieter Gutknecht/Lars Kessner, Hildesheim 2004. 23 Zitiert nach: Christian Finke, „Dass ich mit dieser Arbeit einem Andern dazu Reitzung und Ursach gebe!“ Zur Motivation der Psalmenübersetzungen von Lobwasser, Becker und Schütz, in: Bernoulli/Furler, Genfer Psalter (Anm. 19), S. 77 f.

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Daß ich nu solche zeit in fauler rhu Nicht brecht unnützlich und vergeblich zu, So viel mir weil gelassen von hoffsachen Hab ich mir fürgenommen was zumachen.“

Die Pest war nur die causa proxima, die Freude am calvinistischen Psalmengesang und die allem Konfessionsstreit abgeneigte Irenik des welterfahrenen Juristen die causa remota seines Unternehmens. So hat Lobwasser dem Genfer Psalter bei den Deutschen Heimatrecht verschafft. Wenig später gab es zwar mit seiner Ausgabe konkurrierende Übersetzungen. Martin Opitz rügte Lobwassers ungeschickte Poesie und machte ein eigenes Gegenangebot.24 Doch hielt alle Welt ungestört an den Lobwassertexten fest, bis der holländische Prediger Matthias Jorissen im Jahre 1806 mit seiner „Neue(n) Bereimung der Psalmen“ die bis heute gesungenen Umdichtungen der Psalmen Davids herausbrachte. Hier war das Recht auf eine ganze andere Weise als bei Luther im Reformationslied zur Sprache gekommen: nicht als die Norm selbst, sondern durch das Rechtsstudium, der zu jener Zeit gemeineuropäischen, alle Konfessionen überwölbenden römisch-kanonischen Juristenausbildung. Dass es daneben im Genfer Psalter auch selbst zur Sprache kommen musste, war eine Selbstverständlichkeit. Von nichts anderem redet das Psalmenbuch so begeistert wie von Gottes Gerechtigkeit und seinem Recht. Der Fromme ist ihm der „Gerechte“ schlechthin, Maßstab der Frömmigkeit ist der Gehorsam gegenüber Gottes Recht. „Gott hat das Recht lieb“ sagt Psalm 37,28. Wer das Wort „Recht“ in den Psalmen sucht, findet davon die Fülle, so etwa im 119. Psalm, dem langen Lobgesang auf Gottes Gesetz. Die Hugenotten sangen mit ihren Psalmengesängen einander die Liebe zu Gottes Gesetz zu. Es war das vom Sinai gekommene Gottesgebot, um das allein es dem Genfer Psalter ging. Das überrascht den Bibelleser nicht. Schließlich waren diese Lieder wortgetreue Umdichtungen der Psalmen. Es ging um das Bekenntnis zu Gottes Recht und Gerechtigkeit, kraft derer sie selbst „Gerechte“ sein und sich streng von den Sündern abgrenzen wollten. Die Lieder von Gottes Recht begleiteten den friedlichen Alltag der Hugenotten wie die Not ihrer Verfolgung. So vertraut diese Art der Psalmen, vom Recht zu reden, dem Kenner auch ist, so deutlich muss man doch den ihm zugrunde liegenden Rechtsbegriff betonen. In diesen Liedern ging es nicht um das von Menschen gesetzte, weltliche Recht. Die Gesetze des Königs von Frankreich waren nicht Gegenstand des Psalmengesangs. Ihm in ihren Liedern Zugang zu verschaffen, wäre wohl im 20. und 21. Psalm, den „Königspsalmen“ möglich gewesen. Aber der König von Frankreich war ihr __________ 24 Martin Opitz, Die Psalmen Davids, Danzig 1637, hg. von Eckhard Grunewald/Henning P. Jürgens, Reprint Hildesheim u.a. 2004.

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Verfolger, gegen den sie Gott um Hilfe anriefen, dass er ihnen Recht verschaffen solle. Es bestand für sie kein Anlass, ihn im Lied zu feiern. Die Dichter verfügten nicht über den Inhalt der von ihnen gereimten Texte und auch nicht über deren Rechtsbegriff. So besangen sie allein das theokratische Gottesrecht des Alten Testaments. Gott allein war der Gesetzgeber, und wer sich an das von ihm gesetzte Recht hielt, war ein Gerechter. Zwar hatte Jesus der Alleinherrschaft dieses Rechtsbegriffs den Abschied erteilt und neben das Gottesrecht das Kaiserrecht, neben das ius divinum das ius humanum als legitime Rechtsquelle gesetzt.25 Davon aber wussten die Psalmisten des alten Gottesvolks noch nichts und konnten folglich die Sänger des Genfer Psalters gleichfalls nicht singen. Galt auch der christlich-duale Rechtsbegriff im gesamten Abendland, war ihm doch der Zugang zum Hugenottenpsalter versperrt. Für das Recht ihrer Fürsten war im Lied kein Platz. Das schloss nun allerdings nicht aus, dass auch Calvin von dem durch Christus verkündeten Wandel des Rechtsbegriffs Kenntnis genommen hätte. Er tat es aber, darin mit Luther eines Sinnes, zurückhaltend. Weltliches Recht und fürstliche Gesetze waren zur Bekämpfung der Bösen zwar unverzichtbar, doch waren sie nur als Konkretisierung des Gottesgebotes berechtigt:26 „Nun steht es aber fest, dass Gottes Gesetz, das wir das ‚sittliche‘ nennen, nicht etwas anderes ist als das Zeugnis des natürlichen Gesetzes und jenes Gewissens, das den Menschen von Gott ins Herz eingegraben ist, und deshalb ist diese Billigkeit, von der wir hier reden, ihrem Sinne nach voll und ganz in diesem Gesetz vorgeschrieben. Deshalb muss es auch allein Richtpunkt, Regel und Grenze für alle Gesetze sein. Sofern nun also Gesetze nach dieser Regel gestaltet, auf diesen Richtpunkt eingestellt und von dieser Grenze umzogen sind, besteht bei ihnen allen kein Grund, weshalb sie von uns nicht gutgeheißen werden sollten, so verschieden sie auch von dem jüdischen Gesetz oder auch untereinander sein mögen.“

Im Lied der Gemeinde dagegen kam dieses Recht nicht vor.

__________ 25 26

Mt 22,21.

Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 51988, Kap. IV, 20, 16, S. 1046; ausführlich dazu der Beitrag von Thomas Maissen in diesem Band.

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F. Auf wieder ganz andere Weise sangen die Täufer vom „linken Flügel der Reformation“ (H. Fast) vom Recht.27 Hier kam es in seiner wahrhaft existentiellen Wirkung als weltliches Recht zur Sprache beziehungsweise zum Klingen, nämlich in ihren Märtyrerliedern.28 Sie brachten diese Liedgattung zu einmaliger Blüte. Hatten sie diese auch nicht erfunden, bekam sie hier doch praktisch-politische Bedeutung. Während die Lutheraner dank ihres Bündnisses mit den Landesfürsten nur wenige Märtyrer aufzuweisen hatten und das Martyrium der Reformierten sich vorwiegend auf französischem Boden ereignete, wurden die deutschen, schweizerischen und österreichischen Täufer radikal und dauerhaft verfolgt, wo immer man ihrer habhaft werden konnte. Darin waren sich Katholiken, Lutheraner und Reformierte einig, dass jene mit Feuer und Schwert auszurotten seien. In der Tat hat es nur wenige Täuferführer gegeben, die eines natürlichen Todes haben sterben können. Menno Simons ist hier die seltene Ausnahme.29 Er beschloss sein Leben im Jahre 1561 friedlich in der heute noch erhaltenen Mennokate vor den Toren Bad Oldesloes. Die Täufer waren ein buntes Gemisch höchst unterschiedlicher theologischer wie politischer Bestrebungen. Die einen lebten vom Ideal der Gleichheit bis hin zum Kommunismus, andere berechneten den Zeitpunkt der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi. Viele verweigerten den Kriegsdienst. Nur die wenigsten neigten zu politischer Radikalität, wie dies im Täuferreich zu Münster 1534/35 der Fall war. In einem aber waren sie alle einig: Als echte Kinder der Reformation beschränkt allein auf die Auslegung des biblischen Wortes, gingen sie in der Frage der Taufe ad fontes. Für die Praxis der Kindtaufe gebe es keine biblische Rechtfertigung. Also dürfe man einen Menschen erst taufen, wenn er verständig sei, auf eigenen Beinen zur Taufe komme und selbst um diese bitte. Damit gerieten sie in einen Fundamentalkonflikt mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Dieses war nach seinem Selbstverständnis die rechtlich verfasste Christenheit staatskirchlichen Typs. Christenstand und Bürgerstand wa__________ 27

Heinold Fast, Der linke Flügel der Reformation, Bremen 1962; Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1980; Stephan Hirzel, Heimliche Kirche, Hamburg 1952. 28

Ursula Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990; vgl. auch: Ausbund das ist: Etliche schöne Christliche Lieder, wie sie in dem Gefängnis zu Passau in dem Schloß von den Schweizer-Brüdern und von anderen rechtgläubigen Christen hin und her gedichtet worden, Lancaster County, Pa. 13 1995. 29

1973.

Christoph Bornhäuser, Leben und Lehre Menno Simons’, Neukirchen-Vluyn

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ren seit den Tagen Konstantins des Großen identisch und mussten es sein. Der Bürgerstand war vom Christenstand nicht zu trennen. Daher konnten das Heilige Reich und seine Staaten es nicht der Entscheidung des Einzelnen überlassen, ob und gegebenenfalls wann er sich taufen lassen wolle. Schon das Neugeborene musste durch den Initiationsakt der Kindtaufe zugleich als Christ und Bürger in die Gemeinschaft aufgenommen werden. War ein Mensch aber als Kind getauft worden, war seine Taufe im Stande der Mündigkeit als Wiedertaufe eine Sakramentsschändung. Die Taufe stand mithin nicht zur Verfügung des Täuflings oder seiner Eltern. Der willentlich Ungetaufte war Ketzer und Staatsfeind zugleich und gefährdete den Bestand des Reiches. Er musste um des Bestandes des Gemeinwesens willen ausgerottet werden. Nach einem fast 400-jährigen Verdammen der Täufer ist deren Geschichte heute gründlich erforscht worden. Auch die Täufer haben theologisches Schrifttum hinterlassen und ihre Lehren in Verhörprotokollen und Streitgesprächen immer neu vertreten. Diese mögen Theologen und Historiker analysieren. Den Laien dagegen erschüttern vor allem die gesungenen Berichte vom Martyrium der von allen Obrigkeiten Gejagten. Ein Klagelied des noch nicht in Gefangenschaft geratenen Täufers Christof Dammann bringt den ganzen Jammer der gehetzten Opfer kirchlich-staatlicher Verfolgung zum Ausdruck:30 „Mit rhu mag ich nit bleiben bey den Thieren im waldt, herfür thut man mich treiben, wo ich mich offenthalt; Darff nirgendts in kein hauß, sonst jagt man mich doch drauß, Muß mich bücken vnd schmiegen, verkriechen wie ein mauß.“

Dieses Lied sang auch von Folter und Verhör, mit dem die Täufer täglich zu rechnen hatten: „Thun mich strecken und plagen, reissen die glider mein; Mein Gott, dir thu ich’s klagen, du wirst sehen darein, Wie man so hertiglich allhier peiniget mich! Ich thu mich dir befehlen, verlaß mich gantz auff dich!“

__________ 30

Karl E. P. Wackernagel, Das Deutsche Kirchenlied, Stuttgart 1841, S. 511 f.

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Das war nur eine knappe Andeutung der täuferischen Leiden am Recht ihrer Zeit. Sie sind zu Tausenden ins Gefängnis und in den Tod gegangen und haben davon in ihren Liedern genauestens berichtet. Die von Lutheranern und Calvinisten verfassten Märtyrerlieder wirken blass und harmlos im Vergleich zu jenen der Täufer. Da ihnen das offene Bezeugen ihres Glaubens versperrt war und ihre Anhänger nur im Geheimen ihren Glauben pflegen konnten, waren die Lieder vor allem für die eigenen Glaubensgeschwister bestimmt. Sie berichteten den Brüdern und Schwestern, wie glaubensstark die Gefangenen die Folter bestanden hatten und in den Tod gegangen waren. Zu diesem Zweck mussten die Leiden genau beschrieben werden. Niemand im Kreise der Taufgesinnten sollte darüber im Unklaren bleiben, was ihm im Falle der Gefangennahme bevorstand. Hier nun kam unvermeidbar das Recht ins Spiel. Allerdings nicht das göttliche Recht der Psalmen, sondern das kirchlich-weltliche Ketzerrecht der aufsteigenden Staaten. Im Lied beschrieben und besungen wurden Strafverfahren. Die Täufer bekamen es mit weltlichen Richtern zu tun, die nach weltlichem Recht verfuhren. Im Jahre 1532 war die Constitutio Criminalis Carolina, die „Peinliche Halsgerichtsordnung“ Kaiser Karls V. in Kraft getreten und hatte auch das Verfahrensrecht zum Vorgehen gegen die Täufer geregelt. Dies war das herkömmliche Ketzerverfahren von der Anzeige über Verhör und Folter bis zur Vollstreckung der Todesstrafe oder, wenn es glimpflich abging, der Landesverweisung. Allerdings enthielt die Carolina keinen Straftatbestand zur Wiedertaufe. Das war auch nicht nötig, weil Kaiser und Reich bereits zwei Jahre zuvor 1529/30 in Speyer die Rechtsgrundlagen dafür gelegt hatten. Der Reichstag hatte die Grundsätze definiert31 und der Kaiser diese durch „Constitution oder Mandat wider die Widertäuffer“32 präzisiert. Das rechtspolitische Ziel lautete: „Nachdem auch kürtzlich eine neue Sect des Widertauffs entstanden, so in gemeinen Rechten verbotten, und vor viel hundert Jahren verdammt worden ist, welche Sect über Kayserlich ausgangen Mandat, je länger je mehr schwerlicher einbricht und Überhand nimmt: Und dann Ihr Majestät solch schwer Übel, und was daraus folgen mag, zu fürkommen, und Fried und Einigkeit im Heiligen Reich zu erhalten, ein rechtmäßig Constitution, Satzung und Ordnung auffgericht, und allenthalben im Heiligen Reich zu verkündigen verschafft, also lautend: ‚Daß alle und jede Widertäuffer und Widergetauffte Mann- und Weibs-Personen, verständigs Alters, vom natürlichen Leben zum Tod, mit Feuer, Schwerdt, oder dergleichen, nach Gelegenheit der Personen, ohn vorgehend der geistlichen Richter

__________ 31

Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Frankfurt a. M. 1747, Reprint Osnabrück 1967, II, § 6 ff., S. 294 f. 32

Ebd., S. 302 ff.

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Inquisition, gerichtet und gebracht werden. Und sollen dieselben Friedbrecher, Hauptsächer, Landläuffer, und die auffrührige Auffwickler des berührten Lasters des Widertuffs, auch die, so darauff beharren, oder zum andernmahl umgefallen, zu solchem keineswegs begnadet, sondern gegen ihnen, vermög solcher Satzung ernstlich mit der Straff gehandelt werden.‘“

G. Kaiser und Reich hatten das Verfahren gegen die Täufer im Zeichen aufsteigender Staatsgewalt zwar der Kirche aus der Hand genommen, doch blieben die nun weltlichen Gerichtsverfahren in der Sache Ketzerprozesse. Wie die Richter vorgingen, berichteten die Märtyrerlieder den Glaubensgenossen genau.33 Die Lieder wurden um ihrer besseren Verbreitung willen in den Gemeinden wie außerhalb in Volksliedmelodien gesungen und verbreitet. Das verlangte eine schlichte poetische Struktur. In der Einführungsstrophe wurden Sänger wie Hörer gedanklich auf das Folgende eingestimmt, etwa so: „Ach gott, was sol ich singen: mein harpfen will nit klingen. sie thuet gar dimper krachen. das macht ich hab der freidt nit vil. vil mer Trauren den lachen.“

Der Hauptteil der Lieder berichtete über das Vorgehen der Staatsgewalt gegen die namentlich genannten Opfer und erzählte zuerst vom Verrat und der Gefangennahme. Hier lag der Vergleich mit dem Verrat und der Gefangennahme Jesu nahe. Ort, Zeit und Umstände wurden wie in der Passionsgeschichte beschrieben. Wie Jesus musste auch Hans Wissel leiden: „er thet allda ein keren/ zu leuten die begeerten sein vnd in gern wollten hören. Mit den er redt von irem hail/ das sie suechten den besten tail/ wol zum ewigen leben/ er sang in geistlich lieder vor/ zeugt von der warheit eben.

__________ 33 Im Folgenden wird berichtet anhand der Darstellung von Lieseberg, Märtyrerlied (Anm. 28), S. 148 ff.

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Do wardt er verradten durch neidt/ zue warthausn vor obrigkeit/ die frau schickket zur stunden/ den schreiber mit sein gesellen dar/ das sie den Brueder bunden. Mit außgezogner blosser wer/ Kam er vber die brueder her/ mit den knopf seines schwerte/ hat er de bruedern etlich mal/ ans hertz gestossen herte. Hat in darzue geschlagen auch/ er schalt vnd stelt sich grausam rauch/ aus zorn thet er auch sprechen/ wie er jetzundt macht haben thue/ das er in mög erstechen.“

Danach folgte gemäß kirchlichem Vorbild der Versuch, die Häftlinge durch Belehrung von ihrem Irrtum abzubringen und zum Widerruf zu bewegen. Die Todesstrafe blieb jenen erspart, die abgeschworen hatten, mochten ihnen auch nach Ermessen des Gerichts Strafen auferlegt werden. Keine Gnade fanden dagegen die Führer der Bewegung und die Rückfälligen. Zumeist allerdings blieben die theologischen Disputationen nach dem Zeugnis der Lieder bei den Gefangenen fruchtlos. Die Täufer waren nicht nur glaubensstark, sondern auch bibelfest und im Streitgespräch erfahren und trieben mit biblischen Argumenten die kirchlichen Gesandten leicht in die Enge: „Es kam von Pregentz aus der statt/ Ein pfaff ser weiß geschetzet/ welcher Im für genomen hat/ Vnd an den brueder setzet mit Im do frey zu dißen putieren. aber er thet es bald Verlüeren/ wardt zum stüll schweigen zogen zu schandten gemacht/dz er selbs sprach/ hat mich der Teuffel da her gebracht/ mit dem Tauffer betrogen.“

Wo die Bemühungen der Theologen versagten, sollten Dauer und Härte der Gefangenschaft nachhelfen: „Sie lagen gefangen lange zeit In ist vorkomme mancher streit Die warheit solten sie begeben

Hans Hattenhauer

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Wider heim zu weib vnd kinden gahn Mann solt jn lassen das leben.“

Half auch das nicht, sollte die Folter es richten. Davon berichten die Lieder besonders ausführlich. Hier ging es nun nicht mehr allein um das Erzwingen des Glaubensabfalls, zumal die Tatfrage nach dem Geständnis der Gefangenen und fruchtlosen Disputation ohnehin geklärt war. Mit der Folter sollten vielmehr die Namen weiterer Täufer und deren Schlupflöcher und Helfer erpresst werden. Dabei ging es grausam zu: „Sie haben jn also fürbaß/ gereckht vnd gstreckht vber die maß/ die son möchte durch in scheinen/ Ja sie haben in zugericht/ möchte erbarmen eim steine. Seine glider zerrissen han/ das er nit geen möchte oder stan/ vnd nirgendt hin möchte kumen/ auff seinen füessen wie ich sag“

Schließlich folgten Gerichtsverhandlung und Todesurteil: „mit kaiserlichen rechten frei/ theten sie für her kome(n). Dem todt sie im zugetailet han/ aus neidt des bluetgierigen sathan/ wies gieng von alters herre/ auch Jesu Christo vnsern herren/ wol von den phariseern. Als sie schrien hin weckh mit im/ zum todt gaben sie all ir stim/ ein gsatz dz thun wier haben/ nach dem selben er sterben soll/ schrien die pfaffenknaben.“

Singend und „mit lachendem Mund“ gingen die Verurteilten, vom Henker geführt, zur Richtstätte, wo nach der Verlesung des Urteils der Henker seines Amtes waltete: „der henckher thets der gestalt/ Laint in mit seinem ruckhen/ recht an ein holtz hinan/ die knie mocht er nit buckhen/ hat in enthaupt daran/ vnnd macht also ein endte.“

Was die Reformatoren vom Recht sangen

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Vor dem Empfang des Todesstreichs verziehen die Opfer ihren Feinden und baten Gott nach dem Vorbild Jesu und des Märtyrers Stephanus für sie um Vergebung, dass er ihnen ihre Sünde nicht zurechne. So sang jede Konfession des Reformationszeitalters auf ihre Weise vom Recht, wie sie es je und je eben erlebte.

Souveräner Gesetzgeber und absolute Macht. Calvin, Bodin und die mittelalterliche Tradition1 Von Thomas Maissen, Heidelberg

Es ist üblich, den Calvinismus im Hinblick auf seine politische Modernität zu analysieren, wozu die auf den niederen Magistraten aufbauende Widerstandslehre zählt oder die angeblich protodemokratische Gemeindestruktur.2 Doch diese Elemente waren für den historischen Calvin und auch für seine unmittelbaren Nachfolger keine zentralen Postulate. Überhaupt blieb die Politik- und Soziallehre Calvins ungeachtet ihrer möglichen Fernwirkung für den Reformator selbst neben seinen theologischen Kernanliegen sekundär. Anders sieht es bei der Souveränität Gottes aus, um die es in den folgenden Ausführungen geht. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der calvinistischen Lehre: Sie ergibt sich einerseits aus den reformatorischen „sola“-Gedanken, welche das Heil und die Erlösung allein in einem gnädigen und allmächtigen Gott __________ 1 Dank für Hilfe und Anregungen gilt nicht nur den Teilnehmern der Tagung, sondern auch Guillaume Bernard, der mir das Manuskript seiner Thèse auszugsweise zur Verfügung stellte, sowie den Teilnehmern der mit Isabelle Deflers, Christian Hattenhauer, Ute Mager und Christoph Strohm im WS 2006/07 gemeinsam veranstalteten Übung über konfessionelle Prägung von Juristen in der Frühen Neuzeit; dabei vor allem Christoph Mayer sowie Niklas Haarstick und Markus Albrecht, außerdem Sebastian Meurer für die anspruchsvolle Korrekturarbeit und dem Kollegen Jürgen Miethke für mediävistischen Beistand. 2

Ausgehend etwa von Jean Calvin, Institutio religionis christianae (1559), in: Ioannis Calvini opera quae supersunt omnia, Bd. 2, hg. von Wilhelm Baum, Eduard Cunitz und Eduard Reuss (Corpus Reformatorum, 30), Braunschweig 1864, Sp. 1116. Vgl. Robert M. Kingdon/Robert D. Linder (Hg.), Calvin and Calvinism. Source of democracy?, Lexington 1970; Hermann Vahle, Calvinismus und Demokratie im Spiegel der Forschung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 66 (1975), S. 182-212; Luise Schorn-Schütte, Ernst Troeltschs „Soziallehren“ und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation (Troeltsch-Studien, 6), Gütersloh 1993, S. 133-151; auch Christoph Strohm, Art. Calvinismus, in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart 2001, S. 231-238.

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orten, und sie führt andererseits in einem längeren Suchprozess bei Calvin selbst zur Lehre von der doppelten Prädestination als Ausdruck souveräner Willensfreiheit, die in ihrer späteren dogmatischen Verhärtung zum wohl wichtigsten Charakteristikum des Calvinismus überhaupt geworden ist.3 Ist es ein Zufall, dass mit Jean Bodin ein anderer französischer Jurist – allerdings nicht in einem theologischen, sondern in einem staatsrechtlichen Kontext – zeitnah seinen Fokus ebenfalls auf die im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Konzepte „Souveränität“ und „absolute Macht“ richtet? Bodin definiert die „souveraineté“ (lat. „maiestas“) erklärtermaßen als Erster in den Six livres de la République von 1576 als „puissance absolue & perpétuelle d’une République“, deren Kern und wichtigste, ja letztlich allein entscheidende Kompetenz die Gesetzgebung sei: „à parler proprement on peut dire qu’il n’y a que ceste seule marque de souveraineté, attendu que tous les autres droits sont compris en cestui là“.4 Die (rechts-)historische Forschung hat die von Bodin beanspruchte Pionierleistung verschiedentlich relativiert und auf Vorläufer hingewiesen. Deren Stellungnahmen zum Problemkreis absolute Souveränität sollen hier kurz dargelegt werden, wobei sowohl die Rechtssprache und politische Theorie als auch die Theologie Berücksichtigung finden. „Absolutus“ ist in der mittelalterlichen Theologie als Attribut Gottes lange ungebräuchlich und taucht erst bei Nicolaus von Cues auf: „Gott allein ist absolut, alles andere eingeschränkt.“5 Etwas anders sieht es allerdings in der kanonistischen Tradition und ebenso in der theologischen Diskussion über die päpstliche „plenitudo potestatis“ aus, wo seit dem 13. Jahrhundert – etwa bei Alexander von Hales – eine Unterscheidung von göttlicher „potestas (potentia) absoluta et potestas ordinata“ vollzogen wird, also zwischen seiner potenziell absoluten, aber nicht praktizierten Allmacht und seiner geregelten, gemäßigten Machtausübung im

__________ 3

William R. Stevenson, Sovereign Grace. The place and significance of Christian freedom in John Calvin’s political thought, New York/Oxford 1999, S. 137 f. 4 Jean Bodin, Les six livres de la République (Reprint der Ausgabe Lyon 1593 = Corpus des œuvres de philosophie en langue française 1-6), Paris 1986, Bd. 1, S. 179 (1, 8); vgl. ders., De republica libri sex, Paris 1586, S. 78: „Maiestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas.“ 5

Nicolaus Cusanus, De docta ignorantia, in: Opera Omnia, Bd. 1, hg. von Ernst Hoffmann und Raymond Klibansky, Leipzig 1932, S. 95 (2, 9): „Solus Deus est absolutus, omnia alia contracta“; vgl. H. Meinhardt, Art. Absolut, das Absolute, in: Lexikon des Mittelalters. Studienausgabe, Stuttgart/Weimar 1999, Bd. 1, Sp. 55.

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Rahmen seines eigenen Schöpfungsplans und ihrer Gesetze.6 Gott besitzt in dieser Sichtweise absolute Macht, alles zu tun, was in sich widerspruchsfrei ist, handelt aber nie auf absolute Weise. So könnte er gegen die Regeln der Natur einer entjungferten Frau ihre Jungfräulichkeit zurückgeben, tut dies aber nicht, wie mit einem Beispiel des Hieronymus argumentiert wird.7 Die Lehre von der „potestas dei absoluta“ betont ursprünglich Gottes Allmacht und seinen uneingeschränkten, frei sich schenkenden Willen. Die Scotisten des 14. Jahrhunderts sehen diesen freien Willen dann nicht mehr zwangsläufig mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes verbunden. So wird behauptet, Gott wolle nicht deshalb etwas, weil es gut sei, sondern etwas sei gut, weil Gott es wolle.8 Gottes Wille per se wird zur höchsten Norm für das sittliche Leben – und nicht sein Wille zum Guten, ebenso wenig – wie noch bei Thomas von Aquin – seine Vernunft. Im Gefolge von Duns Scotus und Wilhelm von Ockham führt dieser radikale Voluntarismus hin zu Formulierungen, dass Gott einen Gerechten verdammen und einen Sünder mit der Seligkeit belohnen könne, wenn er wolle, ohne dabei ungerecht zu sein.9 Im politisch-ekklesiologischen Bereich überträgt Hostiensis (Heinrich von Susa/Henricus de Segusio) im 13. Jahrhundert diese „potestas absoluta“ – die für Ockham nur auf Gott bezogen sein kann10 – auf den Papst. So kann er das von Innozenz III. postulierte Dispensationsrecht („possumus supra ius __________ 6

Allgemein William J. Courtenay, Capacity and Volition. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990; Francis Oakley, The Absolute and Ordained Power of God in Sixteenth and Seventeenth Century Theology, in: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 437-461; ders., The Absolute and Ordained Power of God and King in the Sixteenth and Seventeenth Centuries: Philosophy, Science, Politics, and Law, in: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 669-690; beide jetzt auch vereint in: ders., Politics and Eternity. Studies in the History of Medieval and Early-Modern Political Thought (Studies in the History of Christian Thought, 92), Leiden/Boston/Köln 1999, S. 276-322; vgl. auch Dieter Groh, Schöpfung im Widerspruch: Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, Frankfurt a. M. 2003, S. 542 f. 7 Kenneth Pennington, The Prince and the Law, 1200-1600. Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, S. 54-56, 68 f. 8 Vgl. das Zitat von Duns Scotus, Opus Oxoniense super libr. sententiarum, 1506, IV d. 19 qu. 1. n. 7, in: Micha H. Werner, Art. Dezisionismus, in: Jean-Pierre Wils/Christoph Hübenthal (Hg.): Lexikon der Ethik, Paderborn 2006, S. 54. 9 Willigis Eckermann, Art. Potentia dei absoluta-ordinata, in: Lexikon des Mittelalters (Anm. 5), Bd. 7, Sp. 129 f. 10 Vgl. Eugenio Randi, La Vergine e il papa. Potentia Dei absoluta e plenitudo potestatis papale nel xiv secolo, in: History of Political Thought 5 (1984), S. 425-445, hier 439, 443 f.

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dispensare“) glossieren, „quasi dicat nullo iure constringimur, immo sumus positi supra omnia iura atque concilia“. Für das mittelalterliche Herrschaftsverständnis bezeichnend ist es allerdings, wenn Hostiensis dabei auf die justinianische lex digna vox rekurriert. Sie impliziert die freiwillige Unterordnung des Herrschers unter das Gesetz, auch wenn er formal dadurch nicht gebunden bleibt. Vollauf mittelalterlich bezieht Hostiensis diese Stellung „supra ius (positivum)“ auf die Rechtsprechung: „accusari non potest, neque damnari ab homine“. Der Papst ist also weniger über das Gesetz erhaben als immun, von den Rechtswegen nichtgöttlicher Instanzen befreit.11 Entsprechend charakterisiert Hostiensis mit „potestas absoluta“ die richterliche Obergewalt des Papstes in der Kirche. Ebenso wie der Allmächtige hat er die Kompetenz, in außerordentlichen Fällen Menschen selbst von göttlichen Gesetzen beziehungsweise Sakramenten (Ehe) zu dispensieren: „Hoc autem intelligo de potestate absoluta, non de potestate ordinata“.12 Die päpstliche „plenitudo potestatis“ drückt sich also für Hostiensis in ihrer „absoluta potestas“ aus, die eigentlich alles vermag, aber nur das tut, was ihr zukommt („congruit“) beziehungsweise sich geziemt („decet“).13 Allerdings schuldet er dafür keinem Menschen Rechenschaft, sein Wille allein ist genügend: „sufficit sola voluntas dispensatoris etiam sine causa“.14 Im Gefolge von Hostiensis reklamieren die hierokratischen Theoretiker der Kurie während der Auseinandersetzungen, die im späten 13. und im 14. Jahrhundert mit dem Kaiser und den westlichen Königen geführt werden, systematisch die „plenitudo potestatis“ für den Papst.15 Für Aegidius Romanus __________ 11 Hostiensis, Lectura zu X 3.8.4, nach Pennington, Prince (Anm. 7), S. 58 f.; vgl. auch Antoine Leca, La place de la „lex digna“ dans l’histoire des institutions et des idées politiques, in: L’influence de l’Antiquité sur la pensée politique européenne (XVIe-XXe siècles) (Collection d’histoire des idées politiques, 9), Aix/Marseille 1996, S. 131-158. 12

Hostiensis, Lectura zu X 3.32.7, nach Pennington, Prince (Anm. 7), S. 64-66; Gratian, Corpus Iuris Canonici, glossis illustratum, Lyon 1671, Bd. 1, Sp. 1441, „His ita“, zu 25, 1, 16, nach Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 30), Berlin 1979, S. 98. 13

Hostiensis, Lectura zu X 3.35.6, nach Pennington, Prince (Anm. 7), S. 68 f., Anm.

112. 14 Hostiensis, In tertium Decretalium librum Commentaria, S. 134 (35, 6, 31), nach Wyduckel, Princeps (Anm. 12), S. 96. 15

Beziehungsweise ähnlich „plenitudo pontificalis et regie potestatis“, „regalis sive imperialis dignitatis plenitudo“ oder „utriusque potestatis et iurisdictionis plenitudo“; vgl. William D. McCready, Papal Plenitudo Potestatis and the Source of Temporal Authority in Late Medieval Papal Hierocratic Theory, in: Speculum 48 (1973), S. 654-

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bedeutet diese „potestas absoluta“, dass „papa quasi deus in terra“ den weltlichen Mächten keine Rechenschaft schulde, sondern als „vicarius Christi/Dei“, „summus hierarcha“ und Garant der herrschaftlich gestuften göttlichen Ordnung ihnen vorgesetzt sei.16 Das heißt aber nicht, dass der Papst selbst regelmäßig weltliche Macht ausüben soll, was sich für das geistliche Schwert nicht zieme.17 Der Papst, die Prälaten generell haben das Schwert „non ad usum, sed ad nutum“, nicht um es selbst zu führen, sondern um die Schwertträger zu lenken.18 Sie sollen nur dann – allerdings nach eigenem Gutdünken – in die weltlichen Dinge eingreifen, wenn die dafür zuständigen irdischen Gewalten versagen; solche Eingriffe sind nicht die Regel, aber legitim.19 Beim Reden vom Schwert versteht Aegidius wie Hostiensis Machtausübung ganz im mittelalterlichen Sinn als „iurisdictio“ und konkret als Blutgerichtsbarkeit („exercere iudicium sanguinis“): Der Herrscher ist der oberste Richter. Ähnlich spricht die folgenreiche, von Aegidius inspirierte Bulle „Unam sanctam“ (1302) von den zwei Schwertern, die beide auf die kirchliche Autorität zurückgehen. Mit dem „gladius temporalis“ ist die Gerichtsgewalt gemeint, und im Bereich der Rechtsprechung liegt auch die Oberhoheit, die Bonifaz VIII. unter Berufung auf Aegidius und 1. Korinther 2, 15 beansprucht: „Spiritualis homo iudicat omnia, ipse autem a nemine iudicatur.“20 __________ 674, hier 655; Jürgen Miethke, Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter. Die politische Theorie der Traktate De Potestate Papae, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2: Mittelalter, München/Zürich 1993, S. 351-445, hier 371-377; vgl. auch ders., De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000. 16 Vgl. Aegidius Romanus, De ecclesiastica potestate, hg. von Richard Scholz, Weimar 1929, S. 111-129 (2, 13): Vicarius Dei; S. 129-137 (2, 14): Vicarius Dei/Christi. 17 McCready, Plenitudo (Anm. 15), S. 656; Aegidius, Ecclesiastica (Anm. 16), S. 132 (2, 14): „Nulla est itaque potestas in materiali gladio, que non sit in spirituali; sed est potestas in materiali gladio, ut non est in spirituali; quia materialis gladius potest immediate exercere iudicium sanguinis, secundum quem modum non potest, idest non decet, quod exercet gladius spiritualis.“ 18 Aegidius, Ecclesiastica (Anm. 16), S. 31-34 (1, 9); S. 111-129 (2, 13); vgl. auch S. 26 (1, 7): „prelati ecclesiastici nove legis gladium materialem et iudicium sanguinis secularibus principibus commiserunt…“ 19 20

Miethke, Weltanspruch (Anm. 15), S. 376.

Bonifaz VIII., Unam sanctam, in: Carl Mirbt/Kurt Aland (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums und des Römischen Katholizismus, Bd. 1, Tübingen 61967, S. 458-460; vgl. Aegidius, Ecclesiastica (Anm. 16), S. 6-9 (1, 2).

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Die Gesetzgebung dagegen steht nicht im Brennpunkt der Debatten um den päpstlichen Supremat, auch wenn sie unter Bezugnahme auf Ulpians lex regia („Quod principi placuit legis habet vigorem“) schon früh von Päpsten beansprucht wird, etwa durch Gregor VII. im Dictatus papae von 1075. Durch ihre Ausrichtung auf eine transzendente, ewige Wahrheit und durch die kuriale Kodifikationstätigkeit kann das kirchliche Oberhaupt eher „novas leges condere“ als die weltlichen Herrscher, die dem Herkommen, also dem guten alten Recht, naturgemäß mehr Ehrfurcht beweisen müssen.21 Im Gefolge von Sinibaldus Fliscus (Innozenz IV.) hält Albericus de Rosate in der Mitte des 14. Jahrhunderts entsprechend fest, dass der Papst aufgrund seiner „absoluta et plenitudo potestatis“ nicht nur Recht setzen, sondern es auch wieder aufheben könne, „quia eius est destruere ius, qui illud condidit“ – und daraus kann er schließen: „nec tenetur sua lege ligatus“.22 Albericus nimmt dabei, vielleicht als erster und fast einziger mittelalterlicher Theoretiker überhaupt, auch in Kauf, dass der (geistliche) Herrscher ungerecht und willkürlich handelt.23 Diese nur im Prinzip weitreichende gesetzgeberische Kompetenz ändert nichts daran, dass „der Bestand des überlieferten Rechts als Ganzes unantastbar“ bleibt, insbesondere für die Legisten. Bereits die „legum correctio“ ist für Albericus’ Zeitgenossen Bartolus eine möglichst zu vermeidende Ausnahme, das „condere leges“ nur subsidiär zu verstehen, wo das überlieferte Recht lücken- oder mangelhaft ist.24 Die „suprema et absoluta potestas principis“ geht zwar für Bartolus’ Schüler Baldus über die „potestas ordinaria“ hinaus („non est sub lege“), doch die darin enthaltene Gesetzgebung stellt nicht __________ 21 Michael Stolleis, Condere leges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 101 (1984), S. 89-116; jetzt auch in ders., Staat und Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt 1990, S. 167-196, hier 173; Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung. Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: Georg Siebeck (Hg.): Artibus ingenuis. Beiträge zu Theologie, Philosophie, Recht und Wirtschaft, Tübingen 2001, S. 133-169, hier 142-144. Für die „lex regia“ vgl. Dig. 1, 4, 1 (Corpus iuris civilis). 22 Sinibaldus Fliscus, Commentaria Apparatus in V Libros Decretalium, Frankfurt 1570, Reprint Frankfurt 1968, fol. 433 (3, 35, 6, 3); Albericus de Rosate, In primam Digesti veteris partem Commentarii, Venedig 1585, Reprint Bologna 1974, 1, 3, 30: Princeps legibus, Nr. 10., fol. 31 f., nach Wyduckel, Princeps (Anm. 12), S. 81, 95. Für Albericus’ Übertragung der Prinzipien auch auf den Kaiser vgl. Pennington, Prince (Anm. 7), S. 113-116. 23

Pennington, Prince (Anm. 7), S. 115 f.

24 Wyduckel, Princeps (Anm. 12), S. 82; vgl. auch Pennington, Prince (Anm. 7), S. 117.

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eine systematisch betriebene herrschaftliche Kernkompetenz dar, sondern bleibt ein Teil der letztinstanzlichen Rechtsprechung: „statuta condere est iurisdictionis“.25 Als „princeps legibus solutus“ können sich, nach Baldus’ Verständnis der Formel Ulpians (Digesten 1, 3, 31), nach Papst und Kaiser auch weitere weltliche Herrscher verstehen.26 Die Befreiung vom Gesetz wird allerdings zugleich als Pflicht zur freiwilligen Unterordnung auch des höchsten Richters unter dasselbe verstanden – und nicht im modernen Sinn als Freipass zur dynamischen, herrschaftlichen Gesetzgebung. Der Unterschied zwischen einem Herrscher und einem Untertan besteht nicht darin, dass Ersterer dem Gesetz nicht unterworfen ist, sondern dass es für ihn keine weltliche Instanz gibt, die ihn sanktionieren kann.27 Gleichwohl lässt sich mit Baldus sagen, dass die Autorität des Herrschers entscheidend von seiner Treue zu den überlieferten Gesetzen abhängt.28 Ein Fürst mag also „legibus solutus“ sein und potenziell „potestas absoluta“ besitzen, doch stößt er in der mittelalterlichen Theorie gleichwohl nicht nur immer wieder an die Grenzen von göttlichem und Natur- oder Völkerrecht, sondern auch von Herkommen und verfasster Ordnung.29 Unerträglich ist der Gedanke, dass ein Herrscher, der seine Macht Gott verdankt, sie willkürlich, gegen deren Zweckbestimmung, ausüben könnte. Der Rekurs auf absolute Macht bleibt eine Notlösung, wenn die Vernunft (nicht die Willkür) gebietet, die richtige Lösung auch dort umzusetzen, wo das Recht noch lückenhaft ist. Auch wenn Jean Bodin viele Anliegen und Lösungsvorschläge seiner mittelalterlichen Vorläufer aufgreift, zeigt er diese grundsätzlichen Hemmungen im Umgang mit dem obrigkeitlichen Willkürpotential nicht mehr.30 Im __________ 25 Baldus, In primum Codicis librum praelectiones, Lyon 1556, fol. 58 (1, 14, 4); ders., Commentaria in primam Digesti veteris partem, Venedig 1572, fol. 14 (1, 1, 9, 9); nach Wyduckel, Princeps (Anm. 12), S. 78, 81; vgl. hierzu auch Pennington, Prince (Anm. 7), S. 213-216. 26

Dazu grundlegend Wyduckel, Princeps (Anm. 12); Pennington, Prince (Anm. 7), S. 77-90. 27 So am Beispiel von Azo und Accursius Brian Tierney, The Prince is Not Bound by the Laws. Accursius and the Origins of the Modern State, in: Comparative Studies in Society and History 5/4 (1963), S. 378-400, hier 390-392; Pennington, Prince (Anm. 7), S. 83. 28

Baldus, Librum praelectiones (Anm. 25), fol. 58 (1, 14, 4), nach Pennington, Prince (Anm. 7), S. 214, Anm. 41. 29

Pennington, Prince (Anm. 7), S. 117 f.

30

Pennington, Prince (Anm. 7), S. 279-283.

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Zeitalter der Religionskriege reduziert er das Abwägen über Möglichkeiten und Grenzen der „potestas absoluta“ eines „princeps legibus solutus“ auf zwei klare Optionen: Souveränität oder Anarchie. Gegen die Forderung, der Herrscher müsse durch ständische Mitsprache kontrolliert werden, wendet er sich bereits im Vorwort der République, weil solche monarchomachischen Lehren „sous voile d’une exemption de charges, et liberté populaire, font rebeller les sujets contre leurs Princes naturels, ouvrans la porte à une licentieuse anarchie, qui est pire que la plus forte tyrannie du monde“.31 Das Schlimmste, was unter einem – dank den Machtmitteln der Souveränität – tyrannischen Herrscher passieren könne, sei immer noch besser als die Anarchie des Bürgerkriegs. Bodins Anliegen und entsprechend seine Leistung beschränken sich denn auch nicht auf die systematische Ordnung der mittelalterlichen juristischen Überlieferung. Die Verbindung der herkömmlichen Begriffe „souverain“ und „absolu“ bedeutet mehr, als dass unterschiedliche Ansätze zu einer kohärenten Theorie zusammengefasst werden.32 Vielmehr ist der Gedanke eines Gewaltmonopols und der Gesetzgebung als deren alles umfassende Kernkompetenz völlig neuartig und revolutionär für eine Gesellschaft, in der bisher Herrschaft vor allem als Rechtsprechung verstanden worden ist. Gerade in diesem Bereich hat sich die ständische Mitsprache oder Autonomie (der parlements) entfaltet und ebenso die ihnen kongeniale Lehre der Mischverfassung, so im 16. Jahrhundert beim wirkungsmächtigen Claude de Seyssel oder bei Charles Dumoulin.33 Bodin hingegen lehnt die Mischverfassung entschieden ab, da es für ihn keine Zwischenlösungen mehr gibt: Entweder jemand ist souverän (und damit Herrscher) – oder er ist es nicht (sondern Untertan). Entsprechend konsequent bläut Bodin an jeder sich anbietenden Stelle seinen Lesern diese neue Tatsache ein, dass es nur die drei reinen, unvermischten Verfassungen Monarchie, Aristokratie oder Demokratie gebe.34 Die „souveraineté“ wird damit nicht mehr, wie in ihren etymologischen Wurzeln (aus „superanus“ nach „superior“) und lateinischer Übersetzung („superioritas“), als Komparativ auf eine „höher lie__________ 31

Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 14 (préface); vgl. auch ebd., Bd. 6, S. 145 f. (6, 4). 32

Dies gegen Pennington, Prince (Anm. 7), S. 283.

33

Hierzu Henri Morel, Le régime mixte ou l’idéologie du meilleur régime politique, in: L’influence de l’Antiquité sur la pensée politique européenne (XVIe-XXe siècles) (Collection d’histoire des idées politiques, 9), Aix/Marseille 1996, S. 95-112. 34 Vgl. etwa Bodin, République, 1986, Bd. 2 (Anm. 4), S. 21 (2, 1), wo er die Deutung der französischen „simple, et pure Monarchie“ als Mischverfassung, „qui est une opinion non seulement absurde, ains aussi capitale“, zur Majestätsbeleidigung erklärt.

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gende“, also auf die nächsthöhere Gerichtsinstanz bezogen; und auch nicht, wie seit dem 16. Jahrhundert, superlativisch auf das inappellable höchste Gericht („cour souveraine“); sondern sie bezeichnet als – absoluter – Superlativ den alleinigen Inhaber aller Staatsgewalt.35 Dieselbe Verabsolutierung erfährt das von Bodin selbst gewählte lateinische Pendant, die „maiestas“, die bis dahin ein relatives Konzept dargestellt hat.36 Die neue Hierarchie mit einer der Gesetzgebung untergeordneten Rechtsprechung ergibt sich zwingend aus einem neuartigen Verständnis der obrigkeitlichen Funktion, weshalb Guillaume Bernard jüngst Bodin als den entscheidenden Autoren für den Übergang vom antik-mittelalterlichen zum modernen Rechtsverständnis bezeichnet hat.37 Das Gesetz ist das eigentliche Gestaltungsmittel der souveränen Kompetenz – der letztgültigen Entscheidungsgewalt, wer welche staatliche Aufgabe übernehmen kann – und damit Voraussetzung für alle anderen staatlichen Rechte und Wirkungsmöglichkeiten. Da es in einem Land nur ein gültiges Recht geben kann, muss die legislative Gewalt als dessen Quelle unübertragbar („incommunicable“) und unteilbar in der Hand des Souveräns liegen.38 Dagegen kann laut Bodin die Rechtsprechung problemlos aufgeteilt werden, wie denn auch schon der mittelalterliche Kaiser – idealiter – die richterliche Gewalt durch Privilegien an verschiedene Amtsträger delegiert hat. Das Recht im traditionellen Verständnis als Rechtsprechung stellt a posteriori eine Rechtsordnung wieder her, indem der Herrscher als tendenziell willkürlicher (Schieds-)Richter (im zweideutigen Sinn von „arbitre“/„arbitraire“) den __________ 35 Für die Begriffsgeschichte Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 38), Berlin 1986; Diethelm Klippel, Art. Souveränität, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 98-128; Jürgen Miethke, Art. Souveränität, in: Lexikon des Mittelalters (Anm. 5), Bd. 7, Sp. 2068-2071. 36

So bei Marinus de Caramanico im späten 13. Jahrhundert: „Nihil enim sonat aliud maiestas quam maioritas, et ideo etiam populus, qui est superior, dicitur habere maiestatem“, zitiert nach Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranità. Storia di diritto comune pubblico, Mailand 31957, S. 199 f., bzw. nach Pennington, Prince (Anm. 7), S. 105, Anm. 111. 37

Guillaume Bernard, Du roi juge au roi législateur en France au second XVIe siècle: „une foi, une loi, un roi“? Die Arbeit soll demnächst gedruckt erscheinen; Zusammenfassung unter: http://www.chd.univ-rennes1.fr/Chercheurs/BernardG/BernardGThese.htm (6. 10. 2007). Die Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf das Manuskript, das Bernard mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. 38 Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 308 (1, 10): „Le pouvoir de donner loy, qui est incommunicable aux subjects.“

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äußeren Tatbestand ins Auge fasst und mit dem Ziel der Billigkeit („équité“) einem jeden die angemessene Strafe oder Belohnung zuspricht: Der betroffene Mensch wird so in seinen spezifischen (ständischen) Rechten und damit in der ihm zukommenden, äußerlichen Rolle innerhalb einer ständischen Gesellschaft von Ungleichen wiederhergestellt.39 Das Recht im modernen Sinn von Gesetzgebung richtet sich dagegen auf den inneren Menschen, wobei der Herrscher als Quelle (und nicht Interpret) einer einheitlichen, widerspruchsfreien Gesetzgebung neben der Tat den Charakter der Bürger und Untertanen ins Auge fasst, um a priori ihre Intentionen zu steuern. Dazu muss das dynamische Gesetz den jeweils gewandelten Erfordernissen in einer Gesellschaft von Bürgern angepasst werden, die aufgrund ihrer natürlichen Rechte tendenziell gleich sind.40 Indem Bodin Recht (mit dem Ziel der „équité“, Billigkeit) und Gesetz (mit dem Ziel des „commandement“, „jussum“, Befehl) klar unterscheidet,41 formuliert er als Ziel seines neuen Staatsdenkens nicht die Anerkennung von Verdienst und Verschulden für eine wiederhergestellte gesellschaftliche Ordnung, sondern die Formung der Individuen in einer durch den Souverän voluntaristisch gestalteten Gesellschaft: „… la fin du bon et vray legislateur, est de rendre les subjects bons et vertueux“.42 Neue Gesetze werden deshalb auch nicht nur subsidiär erlassen, wo die bisherigen für eine gute Rechtsprechung nicht mehr ausreichen. Vielmehr können sie von Grund auf neu formuliert werden, damit sie das Verhalten der Untertanen auf die jeweils gewandelten Anforderungen der Zeit ausrichten. Neben das „donner la loi“ tritt deshalb ebenbürtig das „casser ou aneantir les loix inutiles, pour en faire d’autres“ als Ausdruck der gesetzgeberischen Dynamik.43 „Absolut“, „legibus solutus“ bedeutet für Bodin damit im Kern, dass der Souverän bei der Gestaltung des Rechts auf keine

__________ 39

Bernard, Roi (Anm. 37), S. 279-281.

40 Bernard, Roi (Anm. 37), S. 268, 281-285, 291 f.; für das offenbar zugrunde liegende Konzept der „gouvernementalité“ vgl. Michel Foucault, La „gouvernementalité“, in: ders., Dits et Écrits, Bd. 2, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Paris 2001, S. 635-657; ders., Sécurité, territoire, population. Cours au Collège de France, 19771978, Paris 2004, S. 91-138. 41

Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 221 (1, 8): „… il y a bien difference entre le droit et la loy: l’un n’emporte rien que l’équité, la loy emporte commandement“. 42 43

Bodin, République, 1986, Bd. 4 (Anm. 4), S. 112 (4, 1).

Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 191 f., 198 f. (1, 8); 309 (1, 10): „Sous ceste mesme puissance de donner et casser la loi, sont compris tous les autres droits et marques de souveraineté…“.

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Traditionen Rücksicht nehmen muss, sondern das für richtig Erkannte festsetzen kann, um so das gesellschaftliche Zusammenleben zu lenken. Inwiefern könnte nun Calvins Entdeckung des souveränen Gottes mit Bodins Souveränitätslehre zusammenhängen? Es geht hier nicht darum, geheime Sympathien Bodins für die reformierte Konfession zu orten, obwohl man daran erinnern kann, dass er wohl wegen Häresieverdachts 1552 nach Genf fliehen muss, wo es ihn allerdings nicht lange hält. Ärger mit seinen katholischen Mitbürgern begleitet auch später das Leben des Freigeists Bodin, der als unzuverlässiger Kantonist gehandelt wird, „pour ung politicque et dangereux catholique“, obwohl er dem Mehrheitsglauben treu bleibt.44 Wichtiger als etwaige konfessionelle Gemeinsamkeiten sind wohl politische Anliegen und vor allem das Rechtsverständnis. Calvin greift zur Erläuterung seiner Theologie immer wieder auf juristische Konzepte zurück und kann sogar Gott selbst mit einem Notar vergleichen.45 Er und Bodin sind beide Juristen, die an ihren französischen Rechtsfakultäten gallikanische Positionen gegenüber dem Papsttum erlernt haben. Für beide ist klar, dass die Kurie in Rom die autonome Gesetzgebung und Rechtsprechung in ihrem jeweiligen politischen Verband nicht beeinflussen darf. Bodin will dabei die Souveränität des französischen Königs bewahren,46 Calvin (ganz abgesehen von den dogmatischen und ekklesiologischen Differenzen) diejenige der Stadtrepublik Genf, die 1526, im Vorfeld der Reformation, ihren Bischof und damit zugleich den bisherigen Stadtherren aus der Stadt vertrieben hat. Noch viel stärker als Luther – der die Ordnungsaufgabe der Reichskirche nicht außer Acht lassen kann – verwirft Calvin den Anspruch der katholischen Kirche, dass sie auch das weltliche Schwert selbständig führen dürfe, womit sie sich einem staatlichen Gewaltmonopol entgegenstellt.47

__________ 44 Guy Le Thiec u.a., Histoire et dictionnaire des guerres de religion, Paris 1998, S. 730. 45

Calvin, Sermons sur le Deuteronome, CO 26, Sp. 636; vgl. Gisbert Beyerhaus, Studien zur Staatsanschauung Calvins. Mit besonderer Berücksichtigung seines Souveränitätsbegriffs (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, 7), Berlin 1910, Reprint Aalen 1973, S. 79. 46 Entsprechenden Belege bei Bodin sind zahlreich, vgl. etwa Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 280-283 (1, 9). 47

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 813; vgl. Josef Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche. Mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedanken (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Alte Folge, 147), Breslau 1937, Reprint Aalen 1968, S. 541.

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Calvin widerspricht deshalb dezidiert dem katholischen Standpunkt, dass die Kirche, um ihre Einheit zu bewahren, ein einziges Haupt haben müsse, „un souverain chef en terre, auquel tous les autres membres soyent suiets“.48 Der Reformator wirft dem Bischof von Rom vor, dass er die „puissance souveraine sur les autres Eglises“, „la iurisdiction souveraine sans appel“ und die Gesetzgebung („faire loix et statuts“) usurpiert habe49 – nicht nur zulasten der anderen Kirchen, sondern im Prinzip zum Nachteil von Gott selbst, denn das katholische Menschenwerk mit all seinen Zeremonien schaffe Gesetze, die über das in der Heiligen Schrift Offenbarte hinausgingen.50 In der Institutio erörtert Calvin das Problem im Zusammenhang mit der Ekklesiologie und zerzaust die Argumente für eine Sonderstellung des Papstes: Mit der Schlüsselgewalt („potestas ligandi et solvendi“ nach Mt. 16, 19 beziehungsweise 18, 18) sei keine Macht, sondern ein Dienst gemeint. Das Binden und Lösen beziehe sich nicht auf das Jenseits, sondern auf Teilnahme oder, durch Exkommunikation, Ausschluss von der Abendmahlsgemeinschaft. Irrsinn sei es, aus solchen Bibelstellen alle erdenklichen heilsrelevanten Kompetenzen eines Papstes herzuleiten, obwohl dieser in seiner menschlichen Beschränktheit gefangen bleibe. Neben den kirchenrechtlichen Institutionen Beichte, Bann und Ablass werden hier Rechtsprechung („iurisdictio“) und Gesetzgebung („ius condendi leges“) ausdrücklich und eigens als weitere angemaßte Rechte genannt.51 Ihr Missbrauch ist auch moralisch verhängnisvoll: Der altgläubige Klerus benutze solche Vorrechte, um ohne Gesetzesfesseln den eigenen Lüsten zu leben („ut legibus solutus pro libidine vivat“).52 Wie schon diese Beispiele gezeigt haben, erscheint das Adjektiv „souverain“ bei Calvin häufig. Im Lateinischen entspricht dem zumeist „summus“, auch im völlig unpolitischen Sinn: „summum bonum“ wird „souverain bien“.53 Calvin gebraucht „souverain“ aber gerne auch für andere Wörter, etwa als Übersetzung von „singularis“.54 Das Substantiv „souveraineté“ dagegen findet sich nicht, was kaum erstaunlich ist, da es erst mit Bodin gebräuchlich wird. Die von __________ 48

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 682.

49

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 683, 695, 705.

50

Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 531 f.

51

Calvin, Institutio, 1536, CO 1, Sp. 163, 598 (= Sp. 712 bzw. 894).

52

Calvin, Secundum Praeceptum, CO 24, Sp. 441; vgl. ders., Commentarii in libri psalmorum pars prior, CO 31, Sp. 111. 53

Calvin, Le catechisme de l’église de Genève, CO 6, Sp. 11 f., 93 f.

54

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 204.

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Bodin gewählte lateinische Entsprechung „maiestas“ hingegen erscheint – wie das französische Pendant „majesté“ – häufig bei Calvin: Die „maiestas Dei“ zeichnet den Herrscher und Richter in der Gegenüberstellung mit dem sündigen, ohnmächtigen Menschen aus. Wendungen wie „maiestatem laedere“, „de maiestate derogare“ oder gar „crimen laesae maiestatis“, stets mit Bezug auf Gott, verraten dabei den römischrechtlichen Hintergrund des Konzepts.55 Tatsächlich spricht Calvin analog auch bei weltlichen Herrschern von der „maiestas regia“.56 Umgekehrt wird Gott in der Begrifflichkeit durchaus ähnlich beschrieben wie bei Bodin ein König, der die „Rebellen“ gegen seine Herrschaft unterworfen hat.57 Ihrerseits schulden die Menschen den irdischen Herrschern „subiection“, aber noch mehr dem Schöpfer, „d’autant qu’il ha l’empire souverain“ – also dem Inhaber der höchsten Befehlsgewalt.58 „Roy souverain“ und entsprechende Wendungen wie „summus rex“ gelten analog nicht nur für Gottvater und Sohn, sondern auch für den „souverain seigneur“ François Ier, den König von Frankreich, oder Kaiser Karl V., aber auch für Wilhelm von Oranien, „prince souverain de ceste principauté dorenges“.59 Damit ist jeweils im herkömmlichen Sinn die letztinstanzliche Richtgewalt gemeint, wie sie bei Calvin in vielen Wendungen auftaucht: „summum imperium“, „summa (imperii) postestas“, „empire souverain“, „puissance souveraine“, „principauté souveraine“ oder „iurisdiction souveraine“.60 Sie eignet also dem weltlichen Herrscher hienieden ähnlich wie dem Weltenherrscher im Jenseits, vor dessen Thron der Mensch erscheinen muss und gerichtet werden wird.61 Insofern __________ 55 So Calvin, Homiliae in primum librum Samuelis, CO 29, Sp. 361; vgl. Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 53-56. 56

Calvin, Praelectiones in Danielem prophetam, CO 40, Sp. 658 f.

57

Calvin, Sermons sur l’Harmonie évangelique, CO 46, Sp. 268: „…pource que Dieu s’est declaré Roy souverain de tout le monde, et s’est assuietti ceux qui luy estoyent rebelles auparavant, qui estoyent esgarez de luy, et qui n’eussent daigné en ouir parler.“ Für weitere Beispiele von „Rebellion“ Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 63. 58

Calvin, Sermons sur l’Harmonie evangelique, CO 46, Sp. 474.

59 Für Christus Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 56; vgl. auch ebd., S. 102 f.; für die Widmung der Institution an François Ier Calvin, Institution, 1560, Bd. 1, CO 3, S. IX; ders., Commentarius libri de clementia, CO 5, Sp. 583 f. für den Kaiser; ders., Thesaurus epistolicus Calvinianus, CO 19, Sp. 537 (Cornelli à Calvin, Sept. 1562). 60 Etliche Beispiele bei Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 56 f.; vgl. auch ebd., S. 104-108. 61 Calvin, Sermons sur la Genese, CO 23, Sp. 681: „qu’il faut que nous comparoissions devant son siege Iudicial pour recevoir ce que nous aurons fait en nos

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bezieht Calvin also „gubernare“/„regere“/„gouverner“ auf die Funktion des „iudex“/„iuge“.62 Doch Calvin geht über dieses traditionelle Verständnis von „souverain Seigneur“ als oberstem Richter und deshalb oberstem Machthaber hinaus. Gott ist mehr als Rechtsprecher, als „seul Legislateur qui peut sauver et damner“ ist er „Roy, Juge, Legislateur et Sauveur“ in einem.63 Ein Gesang auf die Zehn Gebote spricht vom „Createur, De tous hommes legislateur, Nostre Dieu souverain Roy“.64 Der Christ muss Gott als einzigen Gesetzgeber akzeptieren, von dem – wie auch alles andere – die Gesetze herstammen, die es zu befolgen gilt, wenn man das ewige Leben erlangen will.65 Der Allmächtige kann aber auch nach eigenem Gutdünken („consulto … in mero eius arbitrio“) den „consuetus naturae ordo“ und das „ius naturae“ (etwa das Erstgeburtsrecht) verändern, ja diese Ordnung lenkend gestalten („gubernare“).66 Sollte er, der diese – menschengemäßen – Ordnungen errichtet hat, sie nicht auch umstürzen können, wenn es ihm beliebt, um den Menschen vor Augen zu führen, dass ihr Heil allein von seiner Gnade abhängt?67 Insofern ist Gott als „autor naturae“ gerade im Hinblick auf die Prädestination weder „legibus subiectus“ noch „legibus obstrictus“: „l’ordre de nature sera ici mis sous le pied, pour monstrer que Dieu domine par dessus tout, et qu’il a son degré souverain“.68 Dieser „souverain Legislateur“ setzt auch seine Diener auf Erden ein, die Obrigkeiten, welche die Ordnung aufrechterhalten. Das ist eine Ordnung, die nicht so umfassend ist wie die göttliche, aber zu ihr auch nicht im Widerspruch steht und sich nicht auf einer qualitativ völlig anderen Ebene befindet.69 Die __________ corps, soit bien soit mal“. Vgl. z. B. ders., Sermons sur le livre de Job, Bd. 3, CO 35, Sp. 173. 62

Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 65, mit weiteren Beispielen.

63

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 765 f.

64

Calvin, Tractatus minores, Bd. 2, CO 6, Sp. 221 (Psalmes, Les dix commandemens, Exode 20). 65 Calvin, Tractatus minores, Bd. 5, CO 9, Sp. 760; vgl. auch ders., Institution, 1560, Bd. 1, CO 3, Sp. 431, und Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 56-58. 66 Calvin, Commentarius in Genesin, CO 23, Sp. 586; ders., Commentarii in librum Psalmorum, CO 32, Sp. 179; vgl. Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 72 f. 67

Calvin, Homilie in primum librum Samuelis, CO 30, Sp. 169.

68

Calvin, Calumnia nebulonis, CO 9, Sp. 288; ders., Sermons sur le Deuteronome, CO 29, Sp. 143; vgl. Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 73 f. 69

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 1137.

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obrigkeitlichen Ämter werden wie Lehen vergeben, so dass sich Gott immer seine souveräne Oberherrschaft vorbehält und das Feudum wieder einziehen kann, wenn ein Herrscher seinem Lehnseid zuwider handelt.70 Im Unterschied zur Feudalordnung befindet sich unter Gott aber nicht länger eine Hierarchie von Gewalten, vom Kaiser hinunter bis zu den Rittern, sondern ein einheitlicher Herrscherverband von Königen und Fürsten, die als gleichrangige Statthalter Gottes, ja gleichsam als Amtsträger den Engeln ähnlich sind, „d’autant qu’ils sont en leur office comme lieutenans de Dieu, qui est le souverain Roy et superieur de tous“.71 Hinsichtlich ihrer völligen Unterwerfung unter den einen Weltenherrscher sind selbst die Könige (und Engel) allen anderen Menschen gleich: „…iusques aux rois de la terre, que tous se doyvent assuiettir, … il n’y a qu’un chef qui ait toute preeminence et empire souverain sur nous“.72 Wer dies unter Berufung auf irdische Herrschaftsrechte in Frage stellen sollte, würde Majestätsbeleidigung begehen: Wenn Gott Herrscher als Werkzeuge („instrumens“) seiner Tugend einsetzt, entäußert er sich keiner Souveränitätsrechte – ebenso wenig wie Bodins irdische Souveräne dies durch die Übertragung von obrigkeitlichen Aufgaben an Beamte tun.73 Das Ergebnis ist eine – in der Ohnmacht – fundamentale Gleichheit aller Gläubigen unter dem einen souveränen Gott.74 Calvin vergleicht diese Ordnung eines ewigen, souveränen Gottes mit den Vorstellungen der Heiden. Diese seien auch von einer souveränen Gottheit ausgegangen, also einem Haupt der Götterfamilie (wie Zeus oder Jupiter), aber er sei immer umgeben gewesen von einer Herde von kleinen Göttern. Abraham habe diesem Prinzip abgesagt und festgehalten, dass es nur einen einzigen __________ 70

Calvin, Sermons sur le Deuteronome, CO 26, Sp. 627: „Or voici Dieu qui nous distribue les biens que nous avons, comme à ses vassaux, il s’en reserve tousiours la seigneurie souveraine, il veut qu’il soit cogneu le maistre.“ 71

Calvin, Institution, 1560, Bd. 1, CO 3, Sp. 197: „… Rois et aux Princes, lesquels aussi bien l’Escriture appelle dieux (Ps. 82, 6), d’autant qu’ils sont en leur office comme lieutenans de Dieu, qui est le souverain Roy et superieur de tous…“ 72

Calvin, Sermons sur le deuteronome, CO 29, Sp. 121; vgl. Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 87, 89 f. 73 Calvin, Sermons sur le deuteronome, CO 25, Sp. 645; Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 88 f. 74

Vgl. auch Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften, 1), Tübingen 1922, Reprint Aalen 1961, S. 731 f., auch 675, Anm. 361 unter Bezug auf Choisy, L’état chrétien, S. 489 ff.: „Cette égalité fondamentale devant Dieu et devant sa loi a pour conséquence que l’autorité … des magistrats sur les sujets … n’appartient pas en propre à ceux qui la détiennent: elle appartient à Dieu qui l’exerce par eux.“

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Unsterblichen gebe, der souverän sei.75 Wie Bodin die Inhaber von staatlicher Gewalt auf einen einzigen Inhaber der ewigen Souveränität reduzieren wird, so beschränkt Calvin hier die Götterwelt auf einen einzigen, ausschließlichen Inhaber der ewigen obersten Allmacht: „Roy permanent“, „souverain et eternel“, wie Calvin Bodins Charakteristika der Souveränität als „puissance perpetuelle“ vorwegnimmt.76 Man kann sich denken, dass diese Polemik sich nicht allein gegen die heidnische Götterfamilie richtet, sondern ebenso gegen die Heiligen, die den katholischen Himmel bevölkern. Eine Hierarchie von Menschen, die graduell unterschiedlich Heil vermitteln können, widerspricht zutiefst Calvins Vorstellung von der Souveränität Gottes, der dieses Heil „sola gratia“ spendet. Denn damit Gottes „postestas et imperium summum“ ewig und unbeeinträchtigt („integrum“) bleibe, müssen alle Menschen auf ein Nichts reduziert werden.77 Damit ist nicht ihre Existenz gemeint, wohl aber ihre „potestas“ in dem Sinn, dass sie ohne Gottes Einwilligung etwas zu bewirken vermöchten. Das gilt im Besonderen und ausdrücklich für die Fürsten: „ils sont honorables, entant que Dieu y a imprimé sa marque, mais d’eux-mesmes ils ne sont rien“.78 Der „souverain gouverneur du monde“ allein auferlegt den Menschen Befehle und zwingt sie zum Gehorsam, mit dem Ziel, dass sie zur Gnade gelangen, die auch er allein vermitteln kann.79 Denn sein Wille ist die erste und höchste („souveraine“) Ursache aller Dinge.80 Hierin manifestiert sich der Voluntarismus von Calvin, für den Gottes Wille auch die oberste, souveräne __________ 75 Calvin, Second sermon de Melchisedec, CO 23, Sp. 680: „Car les Payens ont bien cognu qu’il y avoit quelque divinité souveraine: mais ils ont tousiours voulu avoir une garenne de petits dieux à leur poste. Abram se retire de là, et dit qu’il n’y a que l’Eternel qui soit souverain.“ 76 Calvin, Institution, CO 3, Sp. 182: „Or comment ceste equalité pourroit-elle convenir, sinon qu’il fust le Dieu duquel le nom est souverain et eternel, lequel chevauche sur les Cherubins; et qui est Roy de toute la terre, voire Roy permanent?“; vgl. Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 179 (1, 8), auch Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 86. 77

Calvin, Praelectiones in Danielem prophetam, CO 40, Sp. 686: „Iam ergo videmus quam apte haec duo membra inter se cohaereant: nempe quod Deus rex aeternus sit, homines autem sint nihil. Nam si quid seorsum tribuitur hominibus, tantundem minuitur ex potestate et imperio summo Dei. Sequitur ergo Deo ius suum non constare integrum, donec cuncti mortales in nihilum redacti fuerint.“ 78

Calvin, Sermons sur le Deuteronome, CO 27, Sp. 78.

79

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 1200 (Table ou bref sommaire). Vgl. auch Bd. 1, CO 3, Sp. 37 für den „souverain gouverneur“. 80

Calvin, Institution, 1560, Bd. 1, CO 3, Sp. 247.

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Regel der Gerechtigkeit darstellt: „car la volonté de Dieu est tellement la reigle supreme et souveraine de iustice, que tout ce qu’il veut, il le faut tenir pour iuste, d’autant qu’il le veut“. Was Gott auch tut, der Mensch muss es als gerecht ansehen allein deswegen, weil es dem Willen des Allmächtigen entspringt. Und wenn jemand frage: Weshalb hat Gott so gehandelt?, dann müsse man antworten: „Pource qu’il l’a voulu“.81 Das erinnert an die erwähnte lex regia oder die analoge, von Bodin referierte Ediktformel des französischen Königs: „Car tel est notre plaisir“.82 Diesen Willen des souveränen Gottes darf der Mensch nicht mehr weiter hinterfragen, Gott schuldet ihm keine Rechenschaft. Denn sein Wille, frei von allen Sünden und oberster Maßstab („la reigle souveraine“) der Perfektion, ist das Gesetz der Gesetze.83 Gottes Wille ist also der Ursprung, der letzte Grund aller Dinge, und gerade deshalb erscheint Gott auch als oberster Gesetzgeber – nicht bloß ein Richter, sondern ein Gestalter, „ayant l’authorité de commander“.84 Glaubenspflicht des Menschen ist es, diesem unzweideutig offenbarten Gesetz und damit Gottes erklärtem Willen zu gehorchen. Er braucht diese Entscheidungen nicht zu verstehen. Er darf auch nicht versuchen, gemäß menschlicher, nicht göttlicher Logik den Allmächtigen mit vermeintlich guten Werken für sich zu vereinnahmen. Der Mensch soll nicht Menschliches auf Gott übertragen, sondern das Göttliche in der Menschenwelt umsetzen. Die biblischen Gebote werden damit im reformierten Sinn auch weltliche Normen. Damit verwischen sich die Grenzen zwischen göttlicher Moral und menschlichem Gesetz, zwischen Sittlichkeit und Gehorsam und umgekehrt zwischen Sünde und Verbrechen.85 Weltliche Obrigkeit und Geistlichkeit arbeiten deshalb Hand in Hand, um die Bürger zu einem klar definierten, gottgewollten Verhalten zu bringen. Die Aufgabe der Obrigkeit ist damit, anders als im Luthertum, eine „vocation saincte“ als Stellvertreter Gottes und damit mehr als nur die notdürftige Aufrechterhaltung von Ordnung in einer hoffnungslos verderbten Welt.86 Der Staat entsteht nicht so sehr als notwendige Reaktion auf den Sündenfall („humana perversitate“), sondern durch den Willen des Allmächtigen als __________ 81

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 488.

82

Digesten 1, 4, 1; Bodin, République, 1986, Bd. 1 (Anm. 4), S. 191 f., 198 f. (1, 8).

83

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 488.

84

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 766.

85

Vgl. Bernard, Roi (Anm. 37), S. 272 f.

86 Calvin, Sermon sur la première épitre à Timothée, CO 53, Sp. 139; Bernard, Roi (Anm. 37), S. 274; Bohatec, Lehre (Anm. 47) S. 167 f.

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heilige Einrichtung („divina providentia et sancta ordinatione“), um durch Rechtsprechung und Gesetzgebung („ferendis legibus“) die Kirche, die reine Lehre und die Sittlichkeit aufrechtzuerhalten.87 Gott gefällt es, das Gemeinwesen so zu lenken („conduire en ceste sorte le gouvernement des hommes“), dass es als Ort der Heiligung auf das Ideal, nämlich seine souveränen Regeln ausgerichtet wird.88 Ziel der weltlichen Ordnung ist damit nicht die Gerechtigkeit, mit welcher der höchste Richter einem jeden Menschen zuteilt, was ihm nach überlieferten Normen angemessen ist, sondern eine voluntaristische Gestaltung der Gesellschaft, die an das – zur Annäherung immer wieder neu formulierte – Gesetz angepasst wird.89 Auch hierin liegt Calvin erstaunlich nahe bei Bodin, der die richterliche Tätigkeit auf Rang 5 der Souveränitätsmerkmale degradieren wird und dessen Gesetzgeber seine Untertanen zu guten und tugendhaften Menschen ausbilden soll.90 Calvin betont also den souveränen göttlichen Willen bei der Gestaltung der natürlichen Ordnung und beim Erlass von Gesetzen sowie die Verpflichtung der weltlichen Obrigkeit darauf, diese ohne Hinterfragen umzusetzen. Das scheint nahezulegen, dass für Calvin Gottes Macht und die davon abgeleitete der Amtsträger ebenfalls, wie bei Bodin, absolut sind. Doch dem ist nicht so. Calvin lehnt die „absoluta potestas“ vehement und wiederholt ab – nicht nur in Bezug auf weltliche Herrscher,91 sondern auch als Attribut Gottes.92 Er verwahrt sich gegen die Trennung von Gerechtigkeit und Macht, wie sie die Sophisten der Sorbonne und andere papistische Gelehrte mit ihrem Konzept von „puissance absolue“ formuliert hätten, eine Gewalt, die ungerecht und tyrannisch sein könne.93 Calvins Polemik gegen diese „Scholastici“ gilt vor __________ 87 Calvin, Institutio, 1559, CO 2, Sp. 1005; ders., Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 1129; vgl. Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 171 f., der die Stelle allerdings in Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch, Soziallehren (Anm. 74), S. 661 ff., zurückhaltend interpretiert; anders Marc-Edouard Chenevière, La Pensée Politique de Calvin, Genf 1937, Reprint Genf 1970, S. 127. 88

Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 1129.

89

Vgl. Bernard, Roi (Anm. 37), S. 287.

90

Bodin, République, 1986, Bd. 4 (Anm. 4), S. 111 f. (4, 4).

91

Hierzu Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 118-129.

92

Vgl. für das Folgende David C. Steinmetz, Calvin and the Absolute Power of God, in: Medieval and Renaissance Studies 18 (1988), S. 65-79 (jetzt auch ders., Calvin in Context, Oxford 1995, S. 40-52); vgl. auch Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 60, und Oakley, Theology (Anm. 6), S. 457-459. 93 Calvin, Calumniae nebulonis cuiusdam adversus doctrinam Iohannis Calvini de occulta Dei providentia, CO 9, Sp. 288; ders., Commentarii in Isaiam, CO 36, Sp. 391.

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allem Johannes Duns Scotus und seinen Schülern mit ihren erwähnten Spekulationen, was Gott mit seiner „potestas absoluta“ alles anstellen könne – etwa die Engel verdammen.94 Während Luther die Unterscheidung „potetas absoluta/ordinata“ aufgreift und Bucer die „potestas absoluta“ – wie Ockham – für Gott reserviert und den weltlichen Herrschern verweigert,95 will Calvin in der Institutio auf diese Thematik gar nicht eingehen, weil Gott selbst das Gesetz sei und sein Wille nichts anderes als das reine Gesetz bezwecken könne.96 Für Calvin ist klar, dass man Gottes Allmacht nicht so auslegen darf, dass er wie ein Tyrann zu allem fähig sei – sogar dazu, willkürlich gegen die Gerechtigkeit („equité et droiture“) zu verstoßen.97 Vielmehr bleibe Gottes unermessliche Macht und sein Wille stets untrennbar an sein Wesen als personifizierte Gerechtigkeit gebunden, weshalb eine Lösung vom Gesetz widersinnig sei: „Neque tamen hoc modo eum facio exlegem, etsi supra omnes leges eminet eius potestas, quia tamen voluntas eius certissima est perfectae aequitatis regula, rectissimum est quidquid facit: atque ideo legibus solutus est, quia ipse sibi et omnibus lex est.“98 Bezeichnenderweise diskutiert Calvin diese Problematik im Zusammenhang mit Hiob: Gottes Gründe für sein Handeln können dem Menschen verborgen bleiben, aber deswegen darf dieser nicht daran zweifeln, dass das Handeln Gottes allein der Gerechtigkeit entspringt und nicht der (absoluten) Macht.99 __________ 94

Calvin, Sermons sur le livre de Job, Bd. 1, CO 33, Sp. 540.

95

Martin Bucer, Psalmorum libri quinque … Eiusdem commentarii in librum Iudicum, & in Sophoniam Prophetam, Genf 1554, S. 498 (fälschlich paginiert als 488): „ubi absoluta potestas Principi traditur, quae nulli potestati & correctioni sit subiecta: ibi derogatur gloriae & dominio Dei, & absoluta potestas, quae solius Dei est, & a populo Deo debet esse delata, homini peccatis obnoxio addicitur. Ergo vitium est dare absolutam potestatem Principi qui non cogatur reddere rationem administrati regni.“ Für die spätere Beschäftigung mit der „potestas absoluta“ in der reformierten Theologie kurz Steinmetz, Calvin (Anm. 92), S. 66; für Luther Oakley, Theology (Anm. 6), S. 455f. 96 Calvin, Institutio, 1559, CO 2, Sp. 700: „Neque tamen commentum ingerimus absolutae potentiae: quod sicuti profanum est, ita merito detestabile nobis esse debet. Non fingimus Deum exlegem, qui sibi ipsi lex est; quia, ut ait Plato, lege indigent homines qui cupiditatibus laborant; Dei autem voluntas non modo ab omni vitio pura, sed summa perfectionis regula, etiam legum omnium lex est“; ders., Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 488: „la reigle souveraine de perfection“; vgl. ders., De aeterna praedestinatione, CO 8, Sp. 361. 97

Calvin, Sermons sur le livre de Job, Bd. 3, CO 33, Sp. 540.

98

Calvin, Commentarius in Exodi librum, CO 24, Sp. 49.

99 Calvin, Institution, 1560, Bd. 1, CO 3, Sp. 253; zu Hiob ders., Sermons sur le livre de Job, Bd. 2, CO 34, Sp. 36 f., 339 f. vgl. auch ders., Institutio, 1559, CO 2, Sp. 699 f.

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Denn bedeutungslos sind der menschliche Wille, die menschlichen Sinne und der menschliche Verstand in Konfrontation mit dem Willen des Herrn.100 Sein Gesetz bedarf keinerlei Modifikation. Vielmehr ist es am Menschen, es möglichst genau zu befolgen und umzusetzen, ohne zu fragen, weshalb das eine verboten, das andere befohlen ist – „comme si sa seule volunté ne nous suffisoit point pour raison“. Wer Gottes Wort nicht gehorcht, missachtet die Majestät und Autorität des „legislateur“ und wird verdammt.101 Die vermeintliche Willkür entpuppt sich als Problem menschlicher Erkenntnis und daraus folgender Anmaßung: Wenn der Mensch die durch Gottes Willen geschaffene Ordnung nicht durchschaut, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie einer regellosen, absoluten Macht entspringt.102 Letztlich ist es gerade die Souveränität des voluntaristischen Gottes, die es in Calvins Verständnis unmöglich macht, dass dieser Gott einen absoluten Voluntarismus betreibt. Das zeigt sich in der zentralen Lehre von der doppelten Prädestination: Gott bestimmt kraft seiner Souveränität, wer auserwählt und wer für die Hölle bestimmt ist, ohne dass es eine Möglichkeit der Berufung gibt. Deshalb ist es für Calvin besonders wichtig, dass er Missverständnissen entgegentritt: Auch bei der Prädestination handelt es sich nicht um Akte der Willkür, sondern um die Weltordnung durch einen gerechten Gott. Dessen Macht ist eben keine „potestas absoluta“ in dem Sinn, dass sich Gott über das Sittengesetz erheben würde. Vielmehr fällt sein göttlicher Wille mit dem Ziel zusammen, das er verwirklichen will: eine gute, eine gerechte Ordnung als Richtschnur auch für die diesseitige menschliche Existenz. Dieser Glaube an die göttliche Gerechtigkeit jenseits alles menschlichen Rätselns und Zweifelns ist gerade deshalb für den Christen so wichtig, ja im Sinne des „sola fide“ heilsentscheidend, weil der Mensch der göttlichen Allmacht und Entscheidung ausgeliefert ist, ohne sie – etwa durch gute Werke im altgläubigen Sinn – beeinflussen zu können.103 Wenn Calvin selbst bei Gott nicht von „absoluta potestas“ redet, damit dieser nicht in den Verdacht der Willkür gerät, so sollte sich beim weltlichen __________ 100 Calvin, Institution, 1560, Bd. 2, CO 4, Sp. 405: „l’Escriture, laquelle tant de fois prononce la prudence de nostre chair estre ennemie de la sagesse de Dieu (Rom. 8, 7), condamnant universellement la vanité de nostre sens, et mettant bas toute nostre raison, pour nous amener à la seule volonté de Dieu?“ 101

Calvin, Petit traicté monstrant que c’est que doit faire un homme fidèle…, CO 6, Sp. 566 f. 102

Vgl. auch Groh, Schöpfung (Anm. 6), S. 723-725.

103

Vgl. auch Bernard, Roi (Anm. 37), S. 270 f.

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Herrscher diese Frage eigentlich gar nicht erst stellen. Doch der Reformator gelangt erst auf Umwegen zu dieser Position.104 In seinem ersten Werk, dem humanistischen Kommentar zu Senecas De clementia von 1532, gelten die Inhaber der „regia potestas“ im Prinzip als „supra leges“.105 Calvin anerkennt die problematische römischrechtliche Parömie Dig. 1, 3, 31, ausdrücklich: „Bene ergo quod principes legibus soluti, legibus tamen vivunt. Imo vero lex ipsa sunt.“ Ganz im Sinn der von Calvin ebenfalls zitierten Constitutio digna vox wird also postuliert, dass die Fürsten sich in ihrer Eigenschaft als „lex animata“ freiwillig dem Gesetz unterwerfen, selbst wenn sie grundsätzlich davon gelöst sind.106 Doch später verschiebt sich der Fokus auf den möglichen Machtmissbrauch eines absoluten Fürsten.107 Der Jesaia-Kommentar von 1551 rügt unzweideutig die Behauptung, die Herrschenden seien „veluti privilegio quodam exemptos et legibus solutos“, als eitle Forderung, da sie die Entbindung vom „ius civile“ und „ius divinum“ beanspruche und auf eine Willkürherrschaft hinsteuere.108 Wenn Gott den Fürsten die Kompetenz erteile, „qu’ils se donnent d’eux mesmes auctorité d’imposer loy, telle que bon leur semble“, so sei diese eindeutig durch Gottes deklarierte Vorgaben gezügelt und bedingt.109 In späteren Schriften, namentlich in den Homilien zu 1. Samuel 8, 11-22, entwickelt Calvin diesen Gedanken im Sinn einer – allerdings nicht formalisierten – vertraglichen Bindung („mutua obligatio“) zwischen Herrscher und Volk weiter.110 Die Parömie „sit pro ratione voluntas“ und der sich daraus ergebende Anspruch, keinen Gesetzen unterworfen zu sein, wird jetzt als Anmaßung von Tyrannen verurteilt, die in der Gegenwart stärker zu befürchten __________ 104 So Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 21-25, 117-129; Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 37-64, betont in Abgrenzung davon die Kontinuität in Calvins politischem Denken. 105

Calvin, Commentarius libri de clementia, CO 5, Sp. 93.

106

Calvin, Commentarius libri de clementia, CO 5, Sp. 23, 28; vgl. Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 11-18, sowie Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 38-41, 53-55. 107 Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 120-122; Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 54; Chenevière, Pensée politique (Anm. 87), S. 168 f. 108 Calvin, Praefatio in Isaiam, CO 36, Sp. 89: „Principes autem electi populi honorifice vocantur per concessionem, quod etiam notandum est, quia dignitate sua putabant se veluti privilegio quodam exemptos et legibus solutos…“; Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 119 f.; gegen ihn Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 55-58. 109 Calvin, Sermons de Daniel, CO 41, Sp. 351; vgl. ders., Sermons sur le Deuteronome, CO 27, Sp. 258. 110 Calvin, Homilia in primum librum Samuelis, CO 29, Sp. 636; Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 122-124; ausführlich und zurückhaltender in der Interpretation Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 64-75, 107.

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sei als in früheren Jahrhunderten.111 Indem Calvin den Willkürvorwurf für Anhänger der Parömie „legibus solutus“ generalisiert, wird ihre formale Gültigkeit entscheidend eingeschränkt und die frühere Position im SenecaKommentar verabschiedet.112 Abschließend soll noch einmal gefragt werden, was Calvin „zu einer seltsamen Übertragung weltlicher Machtvorstellungen auf die Person Gottes“ anregt.113 Und weshalb kommen er und Bodin so zeitnah dazu, die Idee des souveränen Herrschers in das Zentrum ihrer in mancher Hinsicht ganz unterschiedlichen, ja konträren Überlegungen zu stellen? Beide Autoren brechen mit der humanistischen Tradition, die sie selbst geprägt und eine Synthese der – christlichen und heidnischen – Überlieferungen gesucht hat, auch um den Preis von Unklarheiten. Calvin und Bodin setzen dagegen dezidiert auf Eindeutigkeit, und zwar weniger auf die eindeutige Wahrheit als auf die klare, uneingeschränkte Autorität dessen, der seinen Willen gestaltend einsetzt. Die Unteilbarkeit und Ewigkeit der superlativischen Höchstgewalt wird radikal postuliert und damit irgendein Anspruch auf Mitwirkung von Menschen (Calvin) oder Untertanen (Bodin) vehement abgelehnt. Solche Einflussnahme von Subalternen würde Anarchie bedeuten und damit eine Einschränkung: im einen Fall der göttlichen Allmacht, im anderen des Gewaltmonopols. Das Ziel und das Ergebnis dieser klaren, dabei ebenso simplen wie unzeitgemäßen Dichotomie zwischen Souverän und Untertanen ist Heilsgewissheit beziehungsweise physische Sicherheit. Auf der Grundlage ihrer juristisch-gallikanischen Ausbildung verkünden Calvin und Bodin die fundamentale Gleichheit der Gläubigen vor Gott und der Untertanen vor dem König. Das bedeutet einen Einbruch in ständische Ordnungsvorstellungen, deren gestuften Herrschafts- und Entscheidungsrechte sich beim Auseinanderbrechen der Universalmächte Imperium und Kirche als dysfunktional erwiesen haben, um angesichts der neuen Vielfalt von theologischen und politischen Prätentionen allgemein verbindliche Entscheidungen und damit den Frieden zu erzwingen. Konfrontiert mit dem erklärten „nihil“ aller anderen Gewalten, kann der alleinige Souverän Calvins und Bodins diese einheitliche und uneingeschränkte Klarheit gegen die „Konfusion“ von Deutungs- und Herrschaftsanmaßungen nun garantieren. __________ 111

Calvin, Homilia in primum librum Samuelis, CO 29, Sp. 553.

112

Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 126-129; deutlich weniger prononciert dagegen Bohatec, Lehre (Anm. 47), S. 60-64, der die Samuel-Passagen auf den Tyrannen (und nicht den Herrscher tout court) beschränkt. 113

Beyerhaus, Studien (Anm. 45), S. 79.

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Calvin und Bodin sind Zeugen und Interpreten, wie die Universalmächte zerfallen, ja sie tragen selbst dazu bei, durch die Leugnung einer gottgewollten päpstlichen Sonderstellung der eine, der andere durch die Polemik gegen die Vierreichlehre und die heilsgeschichtliche Rolle des Imperiums. An die Stelle dieser bis dahin vermeintlich ewiggültigen Ordnung des Irdischen durch den Allmächtigen tritt ein dynamisches Verständnis von historischer Entwicklung, in dem Gott und Herrscher als gesetzgebende „lex ipsa“ nicht gutes altes Recht auslegen, sondern den „consuetus naturae ordo“ kraft ihrer Herrschergewalt lenken („gubernare“). Dazu formulieren sie voluntaristisch Gesetze als allgemeingültige Befehle neu, denen alle Menschen beziehungsweise Untertanen ausnahmslos, uneingeschränkt und gleichermaßen unterworfen sind – und dies zu ihrem eigenen Heil und Wohlergehen, zumal der Herrscher nicht willkürlich, sondern aus Fürsorge handelt. Damit diese Fürsorge sich vollumfänglich entfalten kann, darf sie nicht durch die Handlungen von Inkompetenten behindert werden, welche die vom Souverän gesetzte Ordnung wieder durcheinanderbringen. Gerade die Betonung des Alten Testaments, des Gesetzes, seiner Gültigkeit und vor allem seines Nutzens im Diesseits und für das Diesseitige unterscheidet die Calvinisten von den Lutheranern, damit aber auch ihre Zuversicht, dass die irdischen Zustände gestaltbar sind und den göttlichen Normen dank der ebenfalls von Gott gegebenen Erkenntnismittel („consultandi cavendique artes“) angenähert werden können, ja müssen.114 Auch wenn die Souveränität Gottes bei Calvin und diejenige des Herrschers bei Bodin ihre gewichtigen Unterschiede haben: Mit ihrem Fokus auf den uneingeschränkten Willen des Gesetzgebers und der unbedingten Unterordnung eines formbaren Stoffs von Untertanen ermöglichen sie „Gouvernementalität“ im Sinn einer „aktiven, unbefangen mit den Weisungen des göttlichen Gesetzes operierenden und auf die Erneuerungskräfte des heiligen Geistes setzenden Weltgestaltung“.115

__________ 114 Calvin, Institutio, 1559, CO 2, Sp. 157; vgl. Groh, Schöpfung (Anm. 6), S. 726 f., 735-737. 115

Berndt Hamm, Die Stellung der Reformation im zweiten christlichen Jahrtausend. Ein Beitrag zum Verständnis von Unwürdigkeit und Würde des Menschen, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000), S. 181-220; hier 211 (mit Bezug auf Christoph Strohm); für die Gouvernementalität oben Anm. 40.

Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente in der frühen Neuzeit (1523-1668): Konfessionen, klassische Verfassungsvorbilder, Naturrecht, direkter Befehl Gottes‚ historische Rechte der Gemeinwesen Von Robert von Friedeburg, Rotterdam

Was war der Einfluss der Konfessionen auf das Widerstandsrecht? Zur Beantwortung dieser durch die Tagungsorganisatoren gestellten Frage erschien es nicht nur zweckmäßig, auch nicht-konfessionelle Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente zu sichten, sondern auch nötig, sich zunächst einmal sehr allgemein zum Verhältnis von Widerstandsrecht, Religion und unseren modernen Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit zu verständigen. Legte Luther, wenn auch unbeabsichtigt, durch seine Lehren von den zwei Regimenten und seine Unterscheidung zwischen „göttlichem Naturgesetz und menschlichem Naturrecht“1 den Boden für die Säkularisierung des Naturrechts?2 Einzelne Forscher haben diese These eindrucksvoll durch die Untersuchung des lutherischen Neo-Aristotelismus in Helmstedt bestätigt, der bereits eine weitgehend säkularisierte Theorie des politischen Verbandes entwickelt habe.3 Damit haben sie insbesondere englischsprachigen Konzeptionen ins Gesicht geschlagen, die ‚Individualisierung‘ und ‚liberale Gesellschaftsordnung‘ in der Entwicklung individueller Personenrechte im Widerstandsrecht

__________ 1 Johannes Heckel, Naturrecht und christliche Verantwortung im öffentlichen Leben nach der Lehre Martin Luthers, in: Zur politischen Predigt. Aus der Vorbereitungsarbeit des evangelisch lutherischen Dekanats München zur Tagung des lutherischen Weltbundes in Hannover 1952, München 1952, S. 45. 2 Karl Heinz Ilting, Naturrecht, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, S. 245-313, 275, Stuttgart 2 1997. 3 Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ‚Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970.

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wieder finden wollten.4 Es ist kaum ganz abzustreiten, dass das seit den späten 1970er Jahren wieder allgemeiner einsetzende Interesse am Widerstandsrecht, das Bemühen um die Verbindung ‚deutscher‘ Argumente mit den ‚westeuropäischen Monarchomachen‘ und die Aufwertung des Widerstandes vor allem auch ländlicher bäuerlicher Gemeinden auch in diesem Kontext zu sehen war.5 Dabei wurde freilich allzu häufig die Tatsache des Fehlens eines bürokratischen und durch regelmäßige Steuern finanzierten Anstaltsstaates mit professioneller Armee und Polizei, und damit des Zwangs zu Verhandlungen und Kompromissen, als Allgegenwart von Widerstand und Ungehorsam fehlgedeutet. Inzwischen ist dieser Kontext freilich weitgehend zerschlagen. Die These einer Entwicklung vom Naturgesetz zu den Natürlichen Rechten durch Richard Tuck und andere wurde insbesondere mit Bezug auf Hobbes und Grotius weitgehend unterminiert,6 die vermeintliche Individualisierung des Naturrechts zum Anspruchskatalog subjektiver Rechte erheblich relativiert.7 Wie auch immer das Verhältnis zwischen Religion und Staatsbildung gewichtet wird,8 die Entwicklung der relativen Modernität in der frühen Neuzeit lag weniger bei der Gesellschaft sui generis, die sich kaum in der Lage zeigte, die Folgen der __________ 4 Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge 1978. 5

Winfried Schulze, Zwingli, Lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand, in: Peter Blicke u.a. (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 199-216. 6 Perez Zagorin, Hobbes without Grotius, in: History of Political Thought 21 (2000), S. 16-40; Hans Blom/Laurens Winkel (Hg.), Grotius and the Stoa (Grotiana New Series, 22-23), Assen 2004. 7 Janet Coleman, Pre-Modern Property and Self-Ownership before and after Locke, in: European Journal of Political Theory 4 (2005), S. 125-145; Knud Haakonssen, The Moral Conservatism of Natural Rights, in: Ian Hunter/David Saunders (Hg.), Natural law and Civil Sovereignty: Moral Right and State authority in Early Modern Political Thought, New York 2002, S. 27-42. 8 Wichtige Positionen hierzu bei Michael Stolleis, Religion und Politik im Zeitalter des Barock, in: Barbara Becker Cantarino/Heinz Schilling/Walter Sparn (Hg.), Religion und Religiösität im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 1995, S. 23-42; Heinz Schilling, Die Reformation und die Einheit Europas – die konfessionellen Identitäten als Wegbereiter von Partikularstaatlichkeit, in: Heiner Faulenbach (Hg.), Standfester Glaube. Festgaben zum 65. Geburtstag von Johann Friedrich Gerhard Goeters, Köln/Bonn 1991, S. 37-46; ders., Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühen Neuzeit, in: Hans Guggisberg/Gottfried Krodel (Hg.), Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten (Archiv für Reformationsgeschichte. Sonderband), Gütersloh 1993, S. 591613.

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Konfessionalisierung zu bewältigen, als bei der Entwicklung des Staats als Obrigkeit über Untertanen. Wer in den ‚Gemeinden‘ und ihrem Widerstand gegen den Staat nach Wurzeln der Moderne sucht, verkennt nicht nur deren religiöse Zerrissenheit, sondern auch die sie strukturierende Ungleichheit zwischen verschiedenen Personengruppen. Skeptische Urteile gegen den Gewissensbefehl zur Gewaltanwendung für die eine wahre Religion und zugunsten der Unterwerfung unter die Obrigkeit zur Friedenswahrung gehen bis weit in das 16. Jahrhundert zurück und stammen nicht zuletzt aus England.9 Aber wenigstens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erhielt die Denunzierung der unmittelbaren Befolgung von – vermeintlichen – Befehlen Gottes als Fanatismus einen immer systematischeren Charakter und bereitete zugleich eine erhebliche Relativierung der religiösen Legitimierung des Widerstandsrechts vor. Die sarkastische Verurteilung von „Buchanan in Hell“, der selbst kein religiös begründetes Widerstandsrecht konzipierte hatte (siehe zu ihm weiter unten), aber in England und Schottland gleichwohl in dieser Richtung rezipiert worden war, durch einen im Verlauf der englischen und schottischen religiösen Bürgerkriege desillusionierten Soldaten ist dafür ein frühes Beispiel.10 Entsprechend schreibt Kant 1797, „Wider das gesetzmäßige Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemeinen gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich.“11 Ein Widerstandsrecht, so der Jurist Anton Bauer 1808, würde „im Staat, dessen Zweck in Rechtssicherheit besteht, einen Zustand des Despotismus und der Anarchie“ bewirken.12 __________ 9 Bezeichnend ist beispielsweise die Entgegnung des königlichen Beraters Cecil auf die Kritik an der Kirche durch einen englischen Prediger, der auch härteres Vorgehen gegen die Katholiken im Lande forderte (1563): „I will not argue with you, for my part is much stronger … you nor any born under this kingdom may be permitted to break the bonds of obedience and uniformity. The question is not of doctrine, but of rites and ceremonies; and this I write lamentably to you: I have found more lets and impediments in the course of the gospel here…, by certain found singularities of some men, then the most malice the papists can show.“ Norman Jones, The Birth of Elizabethan England, Oxford 1993, S. 35. 10 Clare Jackson, Buchanan in Hell: Sir James Turner’s civil war royalism, in: Roger Mason (Hg.), George Buchanan (1506-1582). Political Thought and History in Early Modern Europe and the Atlantic World, Aldershot 2008, Forthcoming. 11 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil, metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), Der Rechtslehre Zweiter Teil: Das öffentliche Recht. Erster Abschnitt: Das Staatsrecht, Paragraph 49, Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins. Nachdruck der 2. Auflage Immanuel Kant Werkausgabe Bd. 8, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 439. 12

Anton Bauer, Lehrbuch des Naturrechts, Marburg 1808, S. 318.

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Freilich musste das Widerstandsrecht nicht nur an der Konfessionsneutralität des modernen Verfassungsstaates zerbrechen, sondern auch an der nun geforderten strikten Rechtsgleichheit seiner Bürger als Untertanen des Rechtsstaates. Die prudentes et sapientes, die boni cives der gesamten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theorie, die sich durch überlegende Tugend, Kenntnisse und Beherrschung ihrer Leidenschaften von der multitudo, dem Volk, unterschieden, und insofern ganz überwiegend als einzige mögliche Träger eines Widerstandes angesehen wurden,13 schieden mit der schrittweisen Ausdifferenzierung von souveränem Anstaltsstaat und bürgerlicher Privatrechtsgesellschaft zunehmend aus der Betrachtung aus. Dem Widerstandsrecht wurde der Boden auch „rechtslogisch“ entzogen, da der „Rechtspositivismus als Begrenzung eines ideologischen Verfügungsanspruchs“ irgendwelcher besonderer gesellschaftlicher Gruppen auf normative Richtigkeit ein Widerstandsrecht dieser Gruppen im engeren Sinne weitgehend ausschließt.14 Deshalb darf die frühe Neuzeit, die zu diesen Entwicklungen führte, aber vor ihnen einsetzte, jedoch keineswegs als Mekka von Rebellion und Widerstand im Sinne einer Zurückprojektion sozialrevolutionärer Romantik missverstanden werden. Nur wer die frühe Neuzeit und ihre Menschen als Marionetten missversteht, die jedem obrigkeitlichen Befehl auf dem Fuße folgten, wird über die Realität der formellen und informellen Verhandlungen zwischen Untertanen, Ständen und Fürsten überrascht sein. In dem Maße, in dem wir uns von der Hypostasierung der Herrschaftsordnungen der frühen Neuzeit als allgegenwärtigem Machtstaat und überzogenen Vorstellungen vom Absolutismus als vermeintlich allgegenwärtiger Herrschaftsausübung frei machen, wird auch die Allgegenwart von informellen wie formellen Verhandlungen zwischen Untertanen, Ständen und Fürsten als normaler Teil der Realität der frühen Neuzeit verstanden werden können, ohne dabei die Ressourcenunterschiede, und damit auch die Chancen zur Durchsetzung von bestimmten Zielen, zu verkennen. Die Herrschaftsstände der frühen Neuzeit verfügten eben nicht über einen modernen bürokratischen Anstaltsstaat mit Heeren bezahlter professioneller Soldaten und Beamten. Weil die Obrigkeiten deshalb aber nicht __________ 13

Diese Feststellung kann nicht genug betont werden – sie blieb so selbstverständlich im frühneuzeitlichen Denken verwurzelt – mit der spektakulären Ausnahme von Machiavelli – dass sie leicht übersehen wird. Vgl. zur Bedeutung dieser Annahme gerade auch bei Zeitgenossen, die der Meinung waren, eine Republik der Tugendhaften organisieren zu können, Paul Rahe, The Classical Republicanism of John Milton, in: History of Political Thought 25 (2004), S. 243-275, 251. 14 Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die rechtswidrige Ausuebung der Staatsgewalt, Breslau 1916, S. 498; Burkhard Koch, Rechtsbegriff und Widerstandsrecht, Berlin 1985, S. 13.

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zuletzt auf die Ressourcen der Stände und Untertanen angewiesen waren, konnten diese auch mit Entzug ihrer Kooperation drohen. Es gilt keineswegs für alle, aber viele europäische Länder, was jüngst für so unterschiedliche Gemeinwesen wie England und das Reich festgestellt wurde. „The proposition that government depended on consent“ – der Großen des Landes – „was neither new nor revolutionary. It permeated the workings of society, was formally evoked in the symbolism of crowning and in elections and was not necessarily inconsistent with the virtually axiomatic notion that the office of rule was established by God.“15 Im Reich blieb „das tragende Prinzip der Reichsverfassung … seit spätsalischer Zeit der Konsens zwischen Herrscher und Großen. Mit jeder Königswahl wird dieser Konsens erneuert, mit jedem Absetzungsplan eingeklagt. Die formal gesehen neue Entwicklung der Wahlkapitulation seit 1519 ist ebenso eine Weiterentwicklung der mittelalterlichen Grundlagen der Reichsverfassung...“.16 Es ist die Verbindung der Untersuchung solcher konkreten Verhandlungen unter Reflexion und Berücksichtigung der dort jeweils von den Kontrahenten verwendeten Theoriestücke durch quellenintensive monographische Forschungen, in der die Zukunft der Forschung liegt.17 Vor diesem Hintergrund komme ich zunächst zu einigen methodischen Anmerkungen zu dem, was zwischen Spätmittelalter und spätem 17. Jahrhundert als Widerstandsrecht verstanden wurde (A.). Ich suche dann einen Überblick __________ 15 Conal Condren, Argument and Authority in Early Modern England, Cambridge 2006, S. 324. 16 Ernst Schubert, Königsabsetzung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2005, S. 534. 17

Beispielhaft Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände, Gütersloh 1977; Arno Strohmeyer, Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung, Das Widerstandsrecht bei den österreichischen Ständen, 15501650, Mainz 2006; Horst Carl, Der Schwäbische Bund 1488-1534: Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, Leinfelden 2000; Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (1530-1541/42): Eine Studie zu genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden 2002; Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt: Notwehr und Gemeiner Mann im deutschbritischen Vergleich 1530-1669, Berlin 1999; ders., The Making of Patriots: Love of Fatherland and Negotiating Monarchy in Seventeenth Century Germany, in: Journal of Modern History 77 (2005), S. 881-916; zu Sammelbänden mit konzeptionellen Einleitungen und einschlägigen Beiträgen vgl. Angela de Benedictis/Valerio Marchetti (Hg.), Resistenza e diritto di resistenza, Bologna 2000; Robert von Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 2001; Angela de Benedictis/Karl Heinz Lingens (Hg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt a.M. 2003, jeweils mit einer Reihe einschlägiger Autoren und Beiträge.

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unterschiedlicher widerstandsrechtlicher Argumente zu geben (B.), um auf die oben gestellte Frage als Antwort ein vorläufiges ‚Jein‘ zu geben – es gab konfessionsspezifische Argumente, aber es überwogen die konfessionsunspezifischen und auch durch alle Konfessionen gebrauchten Argumente. Schließlich will ich abschließend vorschlagen, wo in der Zukunft nach der Geschichte von Argumenten gesucht werden könnte, die zum Widerstand gegen vermeintlich unrechtmäßige Zugriffe überzeugen sollten, und die in ihrer Entwicklung über die frühe Neuzeit hinausweisen, die insofern zum Modernitätspotential der frühen Neuzeit zu zählen sind (C.).

A. Widerstandsrecht – Begriff und Formen ‚Widerstandsrecht‘ ist ein – mit Ausnahmen – erst im Verlauf des späten 18. und 19. Jahrhunderts zunehmend eingebürgerter Begriff für ausgesprochen unterschiedliche Rechtsgründe zur organisierten Gewaltanwendung gegen – rechtmäßig eingesetzte – Magistrate durch Personengruppen innerhalb der Herrschaftsordnung, die im Regelfall zum Gehorsam verpflichtet gewesen wären. Die Vorstellung von später ins Lehensrecht überführten Freiheitsprinzipien germanischer Bevölkerungen gegenüber ihren Königen, die ein Widerstandsrecht bei unrechtmäßiger Amtsführung begründet hätten, hat sich unter den Angriffen von Joachim Ehlers auf die Vorstellung von den ‚germanischen Wurzeln der Monarchie‘ weitgehend aufgelöst,18 „die Lösungen von coniurationes der ottonischen Zeit erfolgte nicht nach Maßgabe der Respektierung eines ‚Widerstandsrechtes‘, sondern ... als Ritualisierung eines Unterwerfungsvorganges“.19 Widerstand gegen königliche Maßnahmen wurde erheblich später, „seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert“, im Reich als informelles Privileg adliger Gruppierungen verstanden. Nicht allein im Reich galt, dass die königliche Regierung auf dem Konsens der Großen des Landes ruhen solle.20 Auf dieser Grundlage qualifizierten die Großen des Landes, nicht allein in England und im Reich, ihre Pflicht zum Gehorsam, und schritten teils sogar zur Absetzung von __________ 18 Joachim Ehlers, Grundlagen der europäischen Monarchie in Spätantike und Mittelalter, in: Majestas 8/9 (2000/2002), S. 49-80; Thilo Offergeld, Reges Pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter, Hannover 2001; Natalie Fryde/Dirk Reitz (Hg.), Bischofsmord im Mittelalter – Murder of Bishops, Göttingen 2003. 19

Schubert, Königsabsetzung (Anm. 16), S. 99.

20 Condren, Argument (Anm. 15), S. 324; Schubert, Königabsetzung (Anm. 16), S. 534.

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Königen. Dem entsprachen jedoch keineswegs bestimmte rechtliche Argumentationen, schon gar kein konsistentes Argumentationsgebäude, auch nicht im Kontext des Lehensrechts.21 Selbst dort, wo auf den ersten Blick von einer gemeinsamen Praxis der impliziten Mitbestimmung der Großen des Landes gesprochen werden kann, wie beispielsweise im Reich und in England, stellte sich die Reflexion dieser Praxis schon im späteren Mittelalter extrem unterschiedlich dar. Zwar zählte es zu den rhetorischen Ritualen englischfranzösischer Gegensätzlichkeit, England Sittenlosigkeit vorzuwerfen, und in diesem Sinne beschuldigte Jean de Ursins 1444 die Engländer, ihre Könige der Reihe nach abzusetzen und hinzumorden. Tatsächlich hat aber Christine Carpenter unlängst gezeigt, wie zurückhaltend und ungern die Großen des Reiches zu Absetzungen schritten. Probleme ergaben sich dann, wenn die Krone, anstatt ihrer Rolle als Richter zwischen den Großen und Verteidiger des Königreiches nach außen gerecht zu werden, Ressourcen widerrechtlich an sich zog oder durch zu geringe Regierungstätigkeit ein Vakuum an der Spitze hinterließ. Angesichts der erheblichen rechtlichen und materiellen Ressourcen der Krone musste jedoch jede kleinere Gruppe von Aufständischen die Konfrontation mit dem König verlieren, so dass entweder Stillschweigen oder – als äußerstes Mittel – allein die Absetzung und Liquidierung blieb. Kein einziger König wurde als König getötet – mit der Ausnahme vom Tod auf dem Schlachtfeld – die Absetzung ging zuvor. Nicht allein die Risiken königlicher Ungnade, auch die Gefahren der Machtübernahme durch neidische Nachbarn und andere Gegner ließen eine Schwächung der königlichen Autorität, selbst wenn sie schlecht gehandhabt schien, nur mehr als äußerstes Mittel erscheinen. Es gelang nie, eine Absetzung wirklich legitim erscheinen zu lassen. Heinrich IV. suchte seine Nachfolge auf den abgesetzten Richard II. 1399 keineswegs durch das Recht des Eroberers oder etwa als Kandidat des Parlaments zu __________ 21 Vgl. die Beiträge zu mittelalterlichen Absetzungen und Widerstandsformen gegen Könige in: Robert von Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy. Regicide in European History, Houndmills 2004, durch Jocelyn N. Hillgarth, Jean Philippe Genet, Christine Carpenter, Neithard Bulst, Wim Blockmans und James Burns. Zwar blieb der Bezug auf das Lehensrecht für Argumente der Stände zugunsten ihrer Privilegien im 15. bis 18. Jahrhundert zentral, und insofern ruhen auch widerstandsrechtliche Argumente in der frühen Neuzeit teils auf dem jeweiligen Lehensrecht – daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, es handele sich hier tatsächlich um weit ins frühe Mittelalter zurückreichende Tatbestände. Gerade mit Bezug auf vermeintliche Tatbestände des weltlichen Rechts spielte ihr hohes Alter eine wichtige Rolle für ihre Legitimität. Alle möglichen vermeintlichen Tatbestände des jeweiligen Verfassungsrechtes, und auch der lehensrechtlichen Regelungen, wurden daher häufig weit ins Mittelalter zurückprojiziert. Zur tatsächlichen Rolle des Lehensrechts im frühen und hohen Mittelalter vgl. Magnus Ryan, Widerstandsrecht und Lehenswesen, in: Benedictis/Lingens (Hg.), Wissen (Anm. 17), S. 49-80, v.a. 59.

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rechtfertigen – geschweige als Exekutor irgendeines Widerstandsrechts. Stattdessen blieb seine Nachfolge umstritten, und erst der praktische Erfolg seiner Politik, und besonders der seines Sohnes Heinrich V., ließ die problematischen Folgen der Absetzung in Vergessenheit geraten. Heinrich V. ließ um dieser Fiktion willen zu Beginn seiner eigenen Regierungszeit den abgesetzten Richard ehrenvoll in Westminster Abbey bestatten. Der Wille der politischen Gemeinschaft Englands, die Tatsache der Absetzung zu vergessen, weil eine Legitimierung der Absetzung unmöglich blieb, ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der Studie Christine Carpenters.22 Anders die Lage im Reich. Hier war der exekutive Arm des bloß gewählten Königs, im Vergleich zu England, aus zahlreichen Gründen ungleich schwächer. Daraus folgte eine tief in der Rechtspraxis verwurzelte Tradition der Qualifizierung des Herrscherwillens. Die Juristen unterschieden in ihren Traktaten und Konsilien zwischen den Wünschen der natürlichen Person des Herrschers und dem rechtlich legitimen Willen des Königs. So wenig dem Kaiser prinzipiell die plenitudo potestatis abgesprochen wurde, so wurde im konkreten Regelfall davon ausgegangen, dass sein Wille durch diverse Regelungen und Privilegien beschränkt sei und Gehorsam nur unter der Bedingung der Rechtmäßigkeit des Befehls geschuldet sei.23 Kaiser Maximilian stöhnte selbst noch 1504, im Jahr des vermeintlichen Höhepunkts seiner Macht, über die Weigerung der Mitglieder des schwäbischen Bundes, Befehlen von ihm Gehorsam zu leisten, wenn auch diese Weigerung durch die Bundesmitglieder mit dem Gehorsam gegen „Pflicht, Brieff und Siegel“ erklärt wurde.24 Auch aus diesen erheblichen Beschränkungen dessen, was dem gewählten König und Kaiser zugestanden wurde, ergibt sich jedoch keineswegs ein in sich konsistentes widerstandsrechtliches Gebäude. Auch später, beispielsweise von William Barclay in seinem „De Rege“ (1600) verfemte vermeintliche mittelalterliche Königsmörder, wie John of Salisbury und sein „Polykraticus“, bieten gerade kein Widerstandsrecht im oben genannten Sinn,

__________ 22 Christine Carpenter, Resisting and Deposing Kings in England in the 13th-15th century, in: Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy (Anm. 21), S. 99-121, 99, 106-112: „What makes all this so particularly interesting is that both kings and political community were colluding in a fiction.“ 23 Eberhard Isenmann, Der römisch-deutsche König und „imperator modernus“ als „monarcha“ und „princeps“ in Traktaten und in deutschen Konsilien des 15./16. Jahrhunderts, in: „Panta Rei“. Studi dedicati a Manlio Bellomo, Bd. 3, Rom 2004, S. 15-79. 24 Horst Carl, Landfriedenseinung und Ungehorsam, in: Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit (Anm. 17), S. 85-112, zit. nach S. 102.

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sondern weisen den Herrscher warnend darauf hin, dass Gott den straft, der gegen Gottes Gesetze verstößt.25 Allerdings entwickelten sich in den hoch- und spätmittelalterlichen akademischen Diskussionen vor allem zwei Argumentationsstränge, die „ihre argumentative Sprengkraft in der frühen Neuzeit entfalten“ sollten.26 Erstens: Ausgehend von der Herrschaftsübertragung – nicht „Preisgabe“ – der Rechte des römischen Volkes auf Augustus wurde unter den Juristen die Frage diskutiert, inwieweit ordnungswidrigen Befehlen zu folgen war – insbesondere im Zusammenhang mit der Verhinderung von Schaden, der später nicht mehr gutzumachen sein könnte, also vor allem bei der Bedrohung von Leib und Leben. Hier sicherten schon die Digesten ein Recht auf Notwehr zu.27 Einerseits nahm die Accursische Glosse (Glosse Ordinaria, um 1250) Maßnahmen gegen die Durchsetzung von Magistraten, auch wenn diese Gewalt gebrauchten, hiervon aus, und verwies auf den Klageweg.28 Entsprechend verstand Azo in seiner Glosse die Durchsetzung richterlicher Befehle grundsätzlich als rechtens, weil der Ausführende von der Richtigkeit des Befehls überzeugt sein könne.29 Andererseits unterschied er jedoch gleichwohl zwischen dem in seinem Amt handelnden Richter und der Person des Richters in privater Eigenschaft. Dem Befehl der Privatperson zur Zerstörung eines Hauses dürften die Büttel nicht Folge leisten. Böttcher folgert, Azo lehne zwar die Notwehr gegen Magistrate ab, unterscheide aber zwischen dem Handelnden als Magistrat und als Privatperson: „Es ist die Privatheit des Befehlenden, nicht die Ungerechtigkeit des Befohlenen, in welcher [die legistische Rechtslehre] den Geltungsgrund des Rechtes und der Pflicht zu Ungehorsam und Widerspruch erblickt.“30 Gegenüber welchen Amtsträgern wer, was, und unter welchen Umständen als Gebot außerhalb des Amtes des jeweiligen Amtsträgers __________ 25

Jan van Laarhoven, Thou Shalt not Slay a Tyrant! The So-called Theory of John of Salisbury, in: Michael Wilks (Hg.), The World of John of Salisbury (Studies in Church History. Subsidia, 3), Oxford, 1984, S. 319-141. 26

Schubert, Königsabsetzung (Anm. 16), S. 100.

27

D 1, 1, 3: „Ut vim atque iniuriam propulsemus: nam iure hoc evenit, ut quod quisque ob tutelam corporis sui fecerit, iure fecisse existimetur, et cum inter nos cognationem quandam natura constituit, consequens est hominem homini insidiari nefas esse.“ 28 Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechts in der Reformationszeit, Berlin 1991, S. 84. 29

Glosse zu D. 50, 17, 167, 1: „Qui iussu iudicis aliquid facit, non videtur dolo malo facere, qui parere necesse habet.“ 30

Böttcher, Ungehorsam (Anm. 28), S. 85 f.

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verstehen und dessen Gebot daher widerstehen könne, sollte zu einem Kern der widerstandsrechtlichen Probleme der frühen Neuzeit werden, die im Rahmen der unten gleich zu nennenden fünf nicht-konfessionellen Argumentationskomplexe behandelt wurden.31 Zweitens: Wer jenseits des eigenen Amtes, sei es die Grenzen des Amtes überschreitend, sei es gar das Amt selbst usurpierend, tätig wurde, der musste als Tyrann oder Usurpator angesehen werden. Der Frage nach der Natur des Trägers nicht durch das Amt gedeckter Handlungen entsprach in der hoch- und spätmittelalterlichen Kanonistik die Diskussion um einen Absetzungsanspruch des Papstes, beispielsweise wegen Häresie, einerseits, die Lehre vom Tyrannen, vom rex iniustus, andererseits, wobei zwischen dem ursprünglich rechtmäßig eingesetzten, dann aber tyrannisch handelnden, und dem nie rechtmäßig eingesetzten Tyrann bzw. Usurpator unterschieden wurde.32 Hierbei handelte es sich um komplexe Argumentationen aus bestimmten Konfliktzusammenhängen, nicht um in sich konsistente, geschweige denn allgemein anerkannte Grundsätze. Der Tugendspiegel des christlichen Herrschers, vom de regimine des Aquinaten bis hin zu Erasmus von Rotterdam, kannte praktisch kein Widerstandsrecht, wohl aber die Vorstellung vom Tyrannen. Die ältere Forschung, beginnend bei Friedrich Murhards „Über Widerstand“ von 1832 bis hin zu Fritz Kern (1914)33 und Kurt Wolzendorf (1916) ging dagegen von in sich konsistenten Prinzipien-Syndromen aus, etwa der germanischen Monarchie, der „ständischen Staatsordnung“34 oder dem Naturrecht. Entsprechend festigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Vorurteil, in Deutschland habe es ein solches Theoriengeflecht nicht oder nur in schwach ausgeprägter Form gegeben – so eben charakterisiere sich der deutsche Sonderweg in den Obrigkeitsstaat.35 So sehr aber beispielsweise in Digesten __________ 31 Hier liegt ein entscheidender Unterschied zur Diskussion im Vormärz, in der der Begriff „Widerstandsrecht“ im heute oft gebrauchten Sinne geprägt wurde, nämlich als Recht gegen den Staat und seine Behörden. 32

Schubert, Königsabsetzung (Anm. 16), S. 68-72.

33

Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Leipzig 1914. 34 35

Wolzendorff, Staatsrecht (Anm. 14), S. 258.

Vgl. noch Hella Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1974, S. 3-104. Die Entwicklung der Debatte, insbesondere im Hinblick auf die Bewertung des Luthertums, ist ausgesprochen komplex. Vgl. allein zu den zwanziger Jahren Luise Schorn-Schütte (Hg.), Alteuropa oder frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999.

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1,1,2 der Begriff der Natur auftaucht, lieferte die christliche Rezeption des Naturrechts durch Augustinus und Thomas von Aquin keinen Bestand konsistenter Rechtsregeln, sondern allein den Hintergrund für eine Fülle widersprüchlicher Annahmen über Gebote Gottes als Teil und erkennbar durch die Schöpfungsordnung, als „Gegenwart des göttlichen Gesetzes in der endlichen Vernunft“. So sehr Teile des Dekalogs als Konkretisierung des Naturrechts verstanden werden konnten36, so blieb die konkrete ‚Anwendung‘ doch mehr als problematisch, wie beispielsweise schon der Streit um die Zwangstaufe jüdischer Kinder zeigt.37 Wichtig für die jüngere Forschung sind, neben den grundsätzlichen Forschungen zur Unterminierung der These eines in sich konsistenten Widerstandsrechtes im älteren Sinne des Wortes,38 vor allem die Arbeiten von Eike Wolgast. Dieser wies darauf hin, dass die Religionsfrage in Verlauf und Folgen der Reformation zwar eine grundsätzlich neue und für die Konfrontation von Fürsten, Ständen und Bevölkerungen einschneidende Problemsituation schuf, dass die „Theoretiker des 16. Jahrhunderts ... die causa religionis ... [jedoch] als einen Rechtsfall auszulegen“ suchten, auf den die Vorgaben des positiven Rechts anzuwenden seien.39 Wolgast hob in erster Linie auf das Lehensrecht und die Privilegien der Stände ab, die für sich beanspruchen konnten, unter bestimmten Bedingungen für das Gemeinwesen insgesamt handeln zu können und zu müssen. Im Verlauf der Konflikte des 16. Jahrhunderts wurde in diesem Zusammenhang freilich auch die Unterstützung ausländischer Fürsten in Anspruch genommen, der Kreis der zum Handeln __________ 36 Zitat Ilting, Naturrecht (Anm. 2), S. 264. Ambrosius, Epist 73, 2, in: Jean-Paul Migne (Hg.), Patrologia Latina, Bd. 16, Paris 1845, Sp. 1305: „Nam si naturalem legem … homines servare potuissent, non fuerat opus ea lege, quae, in tabulis scripta lapideis, implicavit atque innodavit magis humani generis infirmitatem, quam elaqueavit atque absolvit.“ 37 Ilting, Naturrecht (Anm. 2), S. 263: Thomas’ „souveräne Behandlungsart der im Laufe der Jahrhunderte immer verwickelter gewordenen Naturrechtsproblematik sollte indes nicht darüber hinweg täuschen, dass die vielfältigen heterogenen Ansätze der Tradition nicht wirklich zu einer einheitlichen Lehre zusammengefasst werden konnten“. 38 Vgl. Friedeburg, Murder and Monarchy (Anm. 21); Friedeburg, Widerstandsrecht (Anm. 17); Schubert, Königabsetzung (Anm. 16); Böttcher, Ungehorsam (Anm. 28); Condren, Argument (Anm. 15). Vgl. als Überblick zur Historiographie Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht im Europa der Neuzeit: Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven, in: Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit (Anm. 17), S. 11-60. 39 Eike Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1980.

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Berechtigten aber in der Regel bei den Ständen belassen, denen im Gange einer „regulären Institutionenkontrolle“ ohnehin ein besonderer Platz im Gemeinwesen zukam.40 Die Religionsfrage wurde und blieb der wichtigste Anlass und Grund zur Entwicklung widerstandsrechtlicher Gründe – Ausnahmen, etwa die Aufstände in Portugal, Neapel und Katalonien gegen Madrid in den 1640er Jahren, unbenommen – aber diese hoben vor allem und in erster Linie nicht allein auf unmittelbar religiöse Sachverhalte ab, sondern nicht zuletzt auf die vermeintliche besondere Rechtslage des eigenen Gemeinwesens. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, wenn auch religiöse Gründe nicht zuletzt im Verlauf der französischen religiösen Bürgerkriege auch ganz direkt eine Rolle spielten. In jedem Falle musste es immer darum gehen, die Grenzen des herrscherlichen Amtes und damit auch Verletzungen der Amtspflichten zu bestimmen, um danach zu klären, welche Personengruppe geeignet, befugt oder verpflichtet sei, Land und Leute gegen die widerrechtlichen Befehle bzw. deren gewaltsame Durchsetzung zu schützen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Argumente, mit deren Hilfe die Grenzen des Herrscherhandelns und die zum Einschreiten verantwortliche Personengruppe bestimmt wurden, hat Horst Dreitzel jüngst fünf Typen unterschieden, wobei hinzugefügt werden muss, dass jede einzelne Schrift auch durch Kombinationen dieser Typen gekennzeichnet sein mochte.41 Wir sprechen daher hier von Bausteinen. Diese Bausteine waren, wobei ich hier im Vorgriff auf das Folgende illustrierend Beispiele beifüge: 1. Das historische konstitutionelle Verfassungsrecht, etwa Hotman’s „Franco Gallia“ von 1573, ein großer Teil der schon im 15. Jahrhundert, und dann erst recht seit den 1530er Jahren bemühten Argumente zu den Rechten der Reichsstände, insbesondere der Reichsfürsten, fortgeführt über Conring hinaus und systematisiert in der Reichspublizistik; oder etwa ein Teil der gegen Karl I. seit 1642 vorgebrachten Argumente über die Verteilung der Rechte in England zwischen Parlament und Krone, etwa durch Henry Parker oder Philip Hunton; die katalanischen Argumente der 1640er Jahre gegen Madrid sind teils auch hierzu zu rechnen. Dazu zählen auch Argumente, die sich auf spezifische Huldigungen, Verträge, Abmachungen oder Privilegien beziehen, die tat__________ 40 41

Ebd., S. 10, 15.

Horst Dreizel, Politische Philosophie, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, hg. von Helmut Holzhey/Wilhelm Schmidt-Biggemann, Basel 2001, S. 609-866, 618. Zwar konzentriert sich Dreitzels Beitrag auf das Heilige Römische Reich im 17. Jahrhundert, die einleitenden Bemerkungen umfassen jedoch das Europa des 16. und 17. Jahrhunderts insgesamt.

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sächlich oder vermeintlich den Handlungsspielraum des Herrschers entsprechend einschränken oder bestimmten Gruppen in der Gesellschaft bestimmte Rechte zusprechen, deren Bruch dann zu deren Verteidigung berechtigt. In jedem Fall wurden Behauptungen über die spezifische Rechtsund Verfassungslage des je eigenen Gemeinwesens gemacht. Auf diesen Typ hebt Wolgast vor allem ab, und er stellte auch den umfangreichsten und bedeutendsten Typ widerstandsrechtlicher Argumente in der frühen Neuzeit dar. 2. Herrschaftsvertrag und Naturrecht. So sehr spezifische historische Verträge, Huldigungen oder Privilegien auch zur Illustrierung des Herrschaftsvertrages als allgemeine Grundbedingung jeder Einsetzung von Herrschaft verwendet wurden, wird unter dem Baustein ‚Herrschaftsvertrag und Naturrecht‘ hier – im Unterschied zu Punkt 1. – die Behauptung verstanden, alle menschlichen Gemeinwesen fußten zu allererst auf einer vertraglichen Abstimmung zwischen Gemeinwesen und Herrschaft zur Einsetzung der Herrschaft, die bei Verletzung durch den Herrscher nichtig werde und dem Gemeinwesen – also seinen Vertretern – dann Maßnahmen zum Schutz des Gemeinwesens erlaube. Die sich schrittweise ändernde Bedeutung des Naturrechts spielte für diese Argumentationsfigur eine nicht zu unterschätzende Rolle. 3. Aus der klassischen Antike entnommene und durch den Humanismus favorisierte Modelle des Verfassungslebens zur Bewahrung und Steigerung bestimmter Ziele des Lebens im Gemeinwesen, von den Ephoren bis hin zu der Betonung der Bürgerpflichten und Bürgertugenden, etwa zur Verteidigung des Vaterlandes, und der Gefahren durch den Tyrannen. Hinweise hierauf waren geradezu Gemeinplätze, die sich von Melanchthon über Calvin bis hin zu Johann Gerhard, dem Vater der lutherischen Orthodoxie, und den katholischen Ständen Kataloniens im Widerstand gegen Madrid hinzogen. Auch sie wurden teils durch Hinweise auf konkrete verfassungsrechtliche Einrichtungen bekräftigt – etwa Johannes Althusius’ Hinweise auf konkrete ständische Versammlungen historischer und gegenwärtiger Gemeinwesen, von Sparta bis hin zu England und Frankreich, zur Bekräftigung seiner These, jedes Gemeinwesen habe Ephoren.42 4. Argumente aus einem Bund des Gemeinwesens mit Gott heraus, auf den Obrigkeit wie Stände – in Repräsentation des Gemeinwesens – bindend ver-

__________ 42 Vgl. Johannes Althusius, Politica Methodice Digesta, Herborn 31614, c. XVIII, n. 110.

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pflichtet seien und den einzuhalten die Stände oder nachgeordnete Gruppierungen die Pflicht hätten, sollte die Krone versagen. 5. Vollmachten des Papstes und der Kirche von Rom zur Aburteilung ketzerischer Fürsten und zur Freistellung des Gehorsams ihnen gegenüber. Diesen fünf Typen sollten drei weitere hinzugefügt werden. Das wären 6. Argumente über viri heroici und die direkte Ausführung von Gottes Befehlen; 7. die lutherische Drei-Stände-Lehre und die Lehre von der direkten Beauftragung aller Magistrate als Gruppe im Gemeinwesen, also auch der niederen Magistrate, nicht allein des höchsten Magistrats, mit dem Schutz der Glaubensausübung der Untertanen, wie sie im Reich zwischen 1522 und 1550 entwickelt wurden,43 schließlich 8. der Hinweis auf das natürliche Recht der Selbstverteidigung und der Notwehr. Dieses Recht wurde regelmäßig seit Melanchthon, und später bei spanischen Spätscholastikern wie bei den englischen Puritanern, als kollektives Recht des Gemeinwesens, der patria, zur Verteidigung seiner Rechte gegen die außerhalb seines Amtes handelnde Person des Königs und seine Büttel eingesetzt. Es leitete von der Feststellung des Rechtsbruchs oder der Qualifizierung des ehemaligen Magistrates als Tyrann oder als außerhalb seines Amtes Handelnder und der Feststellung einer zum Handeln geeigneten Personengruppe über zur Berechtigung dieser Personengruppe zur Verteidigung gegen die widerrechtlichen Maßnahmen durch organisierte Gewaltsamkeit. Mit dieser Aufzählung gelangen wir zu einer ersten Problematisierung unserer Frage, die sich aus rund zweihundert Jahren umfangreicher Forschung ergibt. Unter den acht aufgezählten Bausteinen sind der Bund des Gemeinwesens mit Gott (4.) und Argumente aufgrund der Vollmachten des Papstes (5.) nicht allein direkt mit einer bestimmten Konfession verbunden, sie wurden auch, so weit ich sehe, nur durch Konfessionsverwandte gebraucht. Das gilt auch für die lutherische Drei-Stände-Lehre (7.), nicht jedoch für die These von der direkten Beauftragung aller, auch der niederen, Magistrate zum Schutze von Gottes Ordnung. Dieses Argument wurde breit in England und Frankreich rezipiert, nicht durch Anhänger der Kirche von Rom, aber sehr wohl durch reformierte Autoren. Gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts verstärkte sich mit der Polemik gegen die vermeintlichen Monarchomachen durch Autoren wie

__________ 43

unten.

Vgl. zur Begründung dieser Zusammenfassung unterschiedlicher Argumente

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William Barclay44 und David Owen auch die Vorstellung einer Verschwörung gegen das Königtum, welche den Klerus zur Beherrschung der Könige einsetzen wolle. Dieser in vielen europäischen Ländern, so in England durch David Owen, in Frankreich durch William Barclay oder im Reich durch Henning Arnisaeus in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts formulierten Verschwörungslehre45 entsprach in Frankreich die Verurteilung der Schriften einzelner spanischer Spätscholastiker nach der Ermordung von Heinrich IV. 1610 und in den 1640er bis 1680er Jahren die Vorstellung, Hugenotten und Jansenisten, Anhänger des Bischofs Jansenius in Leuven, seien eine parti republicain in Frankreich, die nicht allein die heilsvermittelnde Kraft der Kirche von Rom und ihrer Bischöfe, sondern darüber hinaus auch alle Hierarchien im weltlichen Gemeinwesen ablehne und unterwühle.46 Insofern waren manchen Zeitgenossen der frühen Neuzeit vermeintliche überkonfessionelle Gemeinsamkeiten der Königsmörder näher liegend als spezifische konfessionelle Momente des Widerstandsrechts. Tatsächlich wurden nicht allein die einschlägigen mittelalterlichen Diskussionen zur Notwehr, sondern auch beispielsweise die konziliaristische Diskussion zur Repräsentation des Gemeinwesens durch eine Versammlung gegenüber seinem monarchischen Haupt breit rezipiert, um den Ständen – in Vertretung des Gemeinwesens – dann Handlungsrechte und -pflichten gegen den rechtswidrig vorgehenden Herrscher zusprechen zu können.47 Weil die __________ 44 William Barclay, De regno et regali potestate adversus Buchananum, Brutum, Boucherium, & reliquos Monarchomachos, libri sex ..., Paris 1600. 45

David Owen, Herode and Pilate reconciled or the concord of Papists and Puritans for the coercion, Deposition and Killing of Kings, Cambridge 1610; Henning Arnisaeus, De auctoritate principum in populum semper inviolabili seu quod nulla ex causa subditis fas sit contra legitimum principem arma movere, commentatio politica opposita seditiosis quorundam scriptis, qui omnem principum majestatem subjiciunt censurae ephorum et populi, Frankfurt 1612. Vgl. Robert von Friedeburg, Self Defence and Religious Strife in Early Modern Europe, Aldershot 2002, S. 186-190; Merio Scattola, Controversia de vi in principem, in: Benedictis/Lingens (Hg.), Wissen (Anm. 17), S. 175-249. Die Ermordungen von Wilhelm von Oranien (1584), Heinrich III. (1589) und Heinrich IV. (1610) waren ein Hintergrund dieser These. 46 „Un parti republicain dans l’Eglise et dans l’Etat, ennemi de son autorite“, zit. nach Timothy C. W. Blanning, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe, 1660-1789, Oxford/New York 2002, S. 374 f. Knapp zum Hintergrund: Klaus Malettke, Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert, in: Wolf D. Grunder/Klaus-Jürgen Müller (Hg.), Über Frankreich nach Europa, Hamburg 1996, S. 79-118. 47 Noch immer bahnbrechend und einschlägig: Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (1974), Berlin 42003, S. 191-285, v.a. 268-281.

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frühe Neuzeit eben eine gemeinsame mittelalterliche Reflexionsgrundlage besaß, gibt es auch durchaus Anhaltspunkte dafür, einen gemeinsamen Nährboden für die Argumente der verwerflichen ‚Königsmörder‘ in gemeinsamen Grundgedanken aller ‚Königsmörder‘ zu finden. Die Behauptung einer Verschwörung von Puritanern und Jesuiten gegen die Krone blieb polemisches Konstrukt, aber beispielsweise führende Theoretiker des Bürgerkrieges des schottischen und englischen Parlamentes gegen die Krone wie Samuel Rutherford bezogen sich explizit und an zentraler Stelle auf spanische Spätscholastiker, darunter auch Jesuiten (siehe dazu weiter unten). Darüber hinaus wurde beispielsweise auch die lutherische Trennung der beiden Regimente intensiv im calvinistischen Schottland rezipiert, um die Kirche gegen Jakob VI. abzuschirmen.48 Aber der Gottesbund blieb, obgleich nur lose mit der so genannten Föderaltheologie verbunden, die durch William Perkins in England und Robert Howie in Schottland seit dem Ende des 16. Jahrhunderts auch auf den britischen Inseln Verbreitung fand, calvinistischen Autoren vorbehalten; die Lehre von den Vollmachten des Papstes auf katholische Schriften. Die anderen fünf genannten Argumentationen, nicht die Drei-StändeLehre, wohl aber die Beauftragung aller Magistrate, wurden jedoch von Autoren zugunsten von mehr als einer Konfession verwandt. Zum Beleg dieser Grundthese sollen in Teil B. kurz einige Beispiele dieser acht Grundfiguren widerstandsrechtlicher Argumente angeführt werden. Wir beginnen mit den drei konfessionellen und kommen dann zu den fünf überkonfessionellen Argumentationsfiguren.

B. Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente I. Vollmachten des Papstes Die spanische Spätscholastik hat in den letzten zehn Jahren erheblich an Interesse gewonnen.49 Angesichts der Verdammung von Juan Mariana’s „De rege et regis institutione libri tres“ (1599), das für die Ermordung Heinrichs IV. verantwortlich gemacht wurde und auf Befehl des Parlaments in Paris verbrannt wurde, und angesichts der Rezeption mehrerer spanischer Spätscholastiker wie Ferdinand Vasquez (1512-1569), Luis Molina (1535-1600), __________ 48 Alan Macdonald, Ecclesiastical Representation in Parliament in Post Reformation Scotland: The Two Kingdoms in Theory and Practise, in: Journal of Ecclesiastical History 38 (1999), S. 38-61. 49 Annabel Brett, Liberty, Right, and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought, Cambridge 1997.

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Francisco Suarez (1548-1617) und anderer beispielsweise durch calvinistische Widerstandstheoretiker wie Samuel Rutherford (Lex Rex, 1644) sollte nicht vergessen werden, wie deutlich die katholische Politica, und auch diese katholischen Autoren, an der Suprematie der Kirche und des Papstes in ihr festhielten – eben auch gegenüber weltlichen Magistraten.50 Die weltliche Obrigkeit und Vorgaben ihres Handelns blieben in der katholischen Politica in der Regel der Kirche als auch juristischer Körperschaft ein- und untergeordnet. In diesem Sinne sprach Papst Paul III. in seinem Einladungsdekret zum Konzil von Trient 1542 von der res publica christiana, der durch die Kirche organisierten Gesamtheit der Christen. In der Folge wurde an der Autonomie der Kirche als ecclesia universalis und ihrem Recht zur Durchsetzung der ihr obliegenden Aufgaben festgehalten, inklusive der Ketzerbekämpfung. Zwar setzte sich schließlich auch durch Kardinal Bellarmin (1542-1621) der umstrittene Verzicht auf die überlieferten unmittelbaren Begründungen der politischen Gewalt des Papstes (Donatio Constantini, Translatio Imperii, päpstliche Lehnherrschaft) zugunsten einer potestas indirecta papae durch, die durch die durch Gott gegebene Aufgabe der Kirche begründet war und ihr Kompetenz als Richter in die Kirche angehenden Angelegenheiten gab. Entsprechend begründeten die ligistischen Schriften in Frankreich die Begrenzung der Befugnisse des Königs durch die Gesetze des Landes, aber auch durch die Kirche und ihre Rechtsprechung, von Jean Boucher bis Louis Dorleans.51 Denn die Macht der Kirche ist göttlichen Ursprungs und steht über der Herrschaft aller Könige.52 Kirchliche Erlasse sind daher bindend für den Herrscher.53 Das ging teils so weit, dass die Bekämpfung der Ketzer zur entscheidenden Aufgabe der Könige erklärt wurde. Daraus ergab sich die Möglichkeit, Prozesse gegen Fürsten zu führen und sie als Ketzer zu bannen. Beispiele sind Elisabeth von England oder Wilhelm von Oranien. Die hierauf antwortende Publizistik von monarchischer Seite – von Jakob VI. und I. bis hin zum Oath of Allegiance – bildete eine wesentliche Grundlage derjenigen Konzeptionen, die später durch __________ 50 Vgl. jetzt Harald E. Braun, Juan de Mariana and Early Modern Spanish Political Thought, Ashgate 2007; Klaus Neumair, Ius Publicum. Studien zur barocken Rechtsgelehrsamkeit an der Universität Ingolstadt (Ludovico Maximilianea. Forschungen, 6), Berlin 1974. Als Einstieg sehr informativ, wenn auch begrifflich teils problematisch Eckehard Quin, Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600, Berlin 1999. 51 Vgl. beispielsweise Jean Boucher, De iusta Henri Tertii abdicatione, Paris 1589; Louis Dorleans, Response de vray Catholiques Francois, o. O. 1588. 52

Guliemus Rossaeus, De iusta reipublicae christianae in rege impios et haereticos autoritate, Paris 1590, f. 349r-349v. 53

Beispielsweise Dorleans, Response (Anm. 51), S. 249.

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die Historiker als Konzeptionen des Absolutismus gekennzeichnet wurden.54 Sie sind vor allem ein Reflex auf die in den späten 1580er und 1590er Jahren erneut nachhaltig formulierten Ansprüche der Kirche von Rom und der damit vermeintlich zusammenhängenden Folgen.

II. Lutherische Drei-Stände-Lehre und Beauftragung der Magistrate durch Gott Bereits in der durch das Wormser Edikt entstandenen Krisenlage hatte Bugenhagen den Fürsten die Pflicht – und damit auch das Recht – zugesprochen, das Evangelium und Luther gegen eine Vollstreckung des Banns und des Wormser Ediktes durch den Kaiser zu verteidigen. Er argumentierte nicht damit, dass die Fürsten laut Reichsverfassung keine Untertanen des Kaisers seien – die nach 1530 eingeschlagene und im Reich entscheidende Argumentationslinie –, sondern als Obrigkeit allein anzusehen sei, wer laut Römer 13,4 auch als Diener Gottes fungiere. Die Verteidigung des Evangeliums zählt zu deren Aufgaben.55 Luther hatte unter den besonderen Bedingungen des frühen Aprils 1539 eine Zirkulardisputation vorgelegt, die dann aufgrund des Zustandekommens des Frankfurter Anstandes vom 19. April 1539 nicht gedruckt und auch nicht in die Verhandlungen der Schmalkaldischen Stände eingespeist wurde.56 Allerdings zeigen jüngere Forschungen auch, wie wichtig sie in der Zukunft werden

__________ 54 Vgl. im Überblick James Salmon, Catholic Resistance Theory, Ultramontanism and the Royalist Response, in: James H. Burns (Hg.), The Cambridge History of Political Thought 1450-1700, Cambridge 1994, S. 219-253. 55 Texte: Bugenhagen, Gutachten für Kurfürst Friedrich den Weisen, Februar 1523, in: Heinz Scheible (Hg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546, Gütersloh 1969, Nr. 3, S. 18-19; Amsdorf an Spalatin, Februar 1523, in: ebd., Nr. 4, S. 19. Vgl. Bernhard Lohse, Die Bedeutung des Rechts bei der Frage des obrigkeitlichen Widerstandes in der frühen Reformation, in: Christine Roll (Hg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. FS für Horst Rabe. Frankfurt a.M. 1995, S. 217-229, hier 224-225; Friedeburg, Self Defence (Anm. 45), S. 48-51. 56 WA 39 II, S. 43-91: Septuaginta theses disputandae, de tribus hierarchiis, ecclesiastica, politica, oeconomica, et quod papa sub nulla istorum sit, se domnium publicus hostis. Jüngere Textausgabe: Scheible (Hg.), Widerstandsrecht (Anm. 55), S. 94-98. Zu den tatsächlich durch den Schmalkaldischen Bund genutzten Argumentationen der Jahre 1539-42 vgl. Gabriele Haug-Moritz, Die Schmalkaldische Konzeption der „Gegenwehr“ und der „gegenwehrliche Krieg“ des Jahres 1542, in: Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit (Anm. 17), S. 141-161.

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sollte.57 Luther hob in seinen Thesen erneut darauf ab, der Christ könne sich der ihn aus Glaubensgründen verfolgenden Obrigkeit alleine durch Flucht entziehen (These 36), er muss sich ihr aber ansonsten unterwerfen und besitzt kein Recht auf Widerstand (Thesen 37-42). Entlang dieser Linie, deren Grundlage blieb, das Evangelium hebe die weltlichen Gesetze nicht auf (evangelium non tollit leges) und keiner könne Richter in eigener Sache sein, hatte er sich bereits im März 1530 geäußert: „Und Summa, Sünde hebt Oberkeit und Gehorsam nicht auf“. Daher schloss er zu diesem Zeitpunkt gewaltsamen Widerstand gegen den Kaiser aus, hielt es jedoch zugleich für die Pflicht des christlichen Fürsten, Befehlen des Kaisers zur Erzwingung unchristlicher Handlungen der Untertanen nicht Folge zu leisten, ohne deswegen zu organisiertem Widerstand zu raten. Apostelgeschichte 5, 29 und die Stellung der Obrigkeit, auch der sündigen Obrigkeit, wurden so miteinander vereinbart.58 Bekanntlich überzeugten dann die Juristen Luther, dass es sich bei den Fürsten nicht um Untertanen des Kaisers, sondern nach den weltlichen Rechten des Reiches selbst um Stände im Stand der Obrigkeit handele. Während die theologische Grundlage unverändert blieb, gestand Luther nun in seiner „Warnung an meine lieben Deutschen“ den Fürsten auch gegenüber dem Kaiser, aufgrund dieser Rechte der Fürsten im Reich, ein Recht zur Verteidigung gegen unrechtmäßige Angriffe zu. Abweichend von dieser zentralen Argumentationslinie der widerstandsrechtlichen Debatten im Reich traten Luthers apokalyptische Befürchtungen in seiner Zirkulardisputation von 1539 jedoch in seiner Bewertung des Papstes als gegen Gottes Ordnung gerichteter Kraft hervor (These 51). Die Bewertung des Papstes als Antichrist war bereits früher erfolgt, nun zeitigte sie in Verbindung mit der Lehre von den drei durch Gott eingesetzten Ordnungen jedoch eine neue Konsequenz. Gegen diese besondere apokalyptische Bedrohung habe Gott drei Ordnungen – den Stand der Prediger, den Stand der weltlichen Magistrate und den Hausstand – in die Welt gesetzt. Wird nun die göttliche Ordnung durch den Beerwolf bedroht – „das ist ein Tier mit einem Teufel besessen“ (These 58. 59), so „erfordert [es] ein zulauff aller stett und dörfer, aller und jeder Menner ... hie aber kan mann nit erwarten des Richtersspruch, oder entschluß des __________ 57 Luise Schorn-Schütte, Die Drei-Stände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1997, S. 435-461. Vgl. allerdings auch dies., Politische Kommunikation in der frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 273-314, wo S. 305 insbesondere auf frühere Stellungnahmen von Justus Menius hingewiesen wird, der bereits 1528 den Hausstand als eigenen Stand bezeichnete. 58 Ratschlag vom 6. März 1530, in: Scheible (Hg.), Widerstandsrecht (Anm. 55), S. 60-63, 61.

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Conciliums, denn man muß der gegenwertigen noth und einbrechendem schaden zuhilff kommen“ (60, 61).59 Das vor allem durch den Historiker Sleidan60 in ganz Europa61 vermittelte Magdeburger Bekenntnis verband eine ganze Reihe von Argumentationslinien,62 unterschied sich jedoch von einem großen Teil der gerade auch apokalyptisch geprägten Magdeburger Publizistik.63 Stattdessen kombinierte es die Beauftragung aller Magistrate durch Gott, die Untertanen in der Ausübung des Glaubens zu schützen, mit dem Hinweis, sie bei widerrechtlichen Angriffen auch gegen andere Reichsstände, ja selbst den Kaiser, zu schützen. Nun war nicht mehr – wie noch bei Amsdorf und Bugenhagen 1523 – in erster Linie von den Fürsten die Rede. Die Magdeburger städtischen Räte machten sich als nur städtische Obrigkeit mehr oder minder stillschweigend die bisher fast allein auf Reichsstände bezogene Argumentation der Pflichten von Obrigkeiten zu eigen. Damit wurden sie zunächst vor allem für die Marianischen Exulanten der Jahre 1553-1558 interessant, also für diejenigen englischen Protestanten, die im europäischen Exil, in den Niederlanden, Frankfurt, Zürich und Genf zusehen mussten, wie ihre Glaubensbrüder in England durch die katholische Maria Tudor64 verbrannt wurden, während das Parlament den Weg der Kirche von England zurück nach Rom guthieß. Diese Exulanten konnten sich gerade nicht auf die Rechte des Parlamentes in England berufen – die ohnehin ein Widerstandsrecht gegen die Krone kaum getragen hätten. Aber die Vorstellung der Beauftragung aller, auch niederer Magistrate, durch Gott, kam ihnen gerade __________ 59

WA 39 II, S. 43-91.

60

Vgl. nach wie vor Heinz Scheible (Hg.), Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung: Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien, Gütersloh 1966. 61

Vgl. beispielsweise Thomas Bilson, True Difference between Christian Subjects and Unchristian Rebellion, Oxford 1585, S. 517; Friedeburg, Self Defence (Anm. 45), S. 171-176. 62

Zum Magdeburger Bekenntnis vgl. Robert von Friedeburg, Magdeburger Argumentationen zum Recht auf Widerstand gegen die Durchsetzung des Interims (15501551) und ihre Stellung in der Geschichte des Widerstandsrechts im Reich, 1523-1626, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, Heidelberg 2005, S. 389-437. Zum Vergleich England vgl. Friedeburg, Self Defence (Anm. 45), S. 157-244. 63 Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation: Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548-1551/2), Tübingen 2003. 64 Vgl. jetzt zur Regierung Marias Eamon Duffy/David Loades (Hg.), The church of Mary Tudor, Aldershot 2006.

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recht. Christopher Goodman und John Ponet65 hoben daher wie das Magdeburger Bekenntnis darauf ab, alle Magistrate und Unterobrigkeiten, also auch „Justices likewise in Towns and Cities, as Maieres, Sheryffs, Bayliffs, Constables and all such inferior officers“ seien durch Gott „ordayned in their realms to stande in defence of true religion“.66 Auch Theodor Bezas „Du Droits de Magistrats sur ... publie par ceux des Magdeburg l’an MDL“ aus dem Jahre 1574 machte sich unter anderem diesen Gedankengang zu eigen. Freilich ist nicht klar, ob Goodman, Ponet oder Beza der Text des Magdeburger Bekenntnisses tatsächlich vorlag – was wahrscheinlich ist, aber nicht bewiesen – oder ob Beza nicht aufgrund von Hörensagen oder der Lektüre Sleidans die Magdeburger als Autoren angab, um seine eigene Autorenschaft zu verschleiern.67 Wir wissen aber, dass John Bale, ein anderer Exulant, Luthers „Warnung an meine Lieben Deutschen“ übersetzte.68 Und Peter Martyr Vermigli extemporierte weiter über die Pflichten niederer Magistrate im Allgemeinen. Kurz, in den Jahren 1553 bis 1560 gab es unter den Marianischen Exulanten eine in Frankreich, dem Reich und den Niederlanden verbreitete Öffentlichkeit, die gerne an Bausteinen aufnahm, was vorlag, und weiter ausbaute, was der eigenen Lage entsprach und nützlich schien.69 Die Forschung über Rezeptionswege und Rezeptionswirkungen ist hier noch keineswegs am Ende, und wir können nun nur zusammenfassen, dass die Figur der Beauftragung niederer Magistrate durch Gott, auch ohne oder nur schwache Stützung des historischen Verfassungsrechts, weiter nach England und Frankreich gelangte, und dass das Magdeburger Bekenntnis hier vermutlich direkt und indirekt eine wichtige Rolle spielte, auch wenn es vor allem durch die Vermittlung von Sleidan, und nicht durch den Text selbst, bekannt geworden sein könnte. Die Drei-Stände-Lehre finden wir dagegen nicht zuletzt im Verlauf des 17. Jahrhunderts bei lutherischen Theologen allein im Reich im Verlauf besonders __________ 65 Christopher Goodman, How superior powers ought to be obeyed of their subjects and wherein they may be lawfully by Gods Word be disobeyed and resisted, Genf 1558; John Ponet, A shorte Treatise of Politick Power, and of the true obedience with subjects owe to Kings and other civil governors, Straßburg 1556; vgl. hierzu Andrew Pettegree, The Marian Exiles and the Elizabethan Settlement, in: ders., Marian Protestantism. Six Studies, Aldershot 1996, S. 129-50; Friedeburg, Self Defence (Anm. 45), S. 163-170. 66

Goodman, Powers (Anm. 65), S. 35-37.

67

Vgl. Klaus Sturm, Einleitung, in: Theodor Beza, De iure magistratuum, hg. von Klaus Sturm, Neukirchen 1965, S. 9-20, 9-11. 68

John Bale, A faithful admonition of a certain true Pastor, Straßburg 1554.

69

Friedeburg, Self Defence (Anm. 45), S. 160-166.

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verzweifelter Krisensituationen, beispielsweise bei Jacob Fabricius mit seinen Einundreissig Kriegsfragen aus dem Jahre 1631. Der Papst wolle auch jetzt wieder „dermassen in Deutschland dreinschlagen, dass sein Ross in der lutherischen Blute schwimmen sollte“ (S. 77). Auf die Frage, wer in dieser Notlage handeln sollte, antworten ausführliche Hinweise auf Luthers Disputation (S. 111). Denn wo die Landesherren den Untertanen befählen, wie „in Meißen, Bayern und in der Marck“, es „mit dem Papst zu halten“ (S. 176), muss nicht allein der oberen, sondern auch der „mittelbaren Obrigkeit“ widerstanden werden. Der Autor kombiniert diese Argumentation mit dem Hinweis auf das Naturrecht der Gegenwehr, das „lehret, wie man sich ordentlich schuetzen soll, entweder mit Huellf der Obrigkeit, oder alleine, so die Obrigkeit, welche wider alle unbillige Gewalt soll helfen, nicht vorhanden ist. Und dazu hat Gott den maennlichen Herzen Muth und Freudigkeit gegeben, dass sie für die Gerechtigkeit streiten“ (S. 91).70 Daneben kam der Geistlichkeit die Rolle des Mahners und Kritikers zu.71 Dabei konnte es zu recht drastischen Kommentaren kommen, keineswegs allein im Bereich des Luthertums. Der reformierte Hofprediger Paul Stein listete in seinem Instruktionsschreiben an die hessischen Amtsbrüder zur Information der Bevölkerung über die Abdankung von Landgraf Moritz 1627, welches anhand des Vorbildes des König Davids erläutert wurde, der zugunsten Salomos zurücktrat, ausführlich alle Sünden und Gebrechen Davids – also Moritz’ – auf, durch welche das Land ins Elend geraten war. Der Hinweis endet denn auch mit den Worten Davids, die so dem Fürsten in den Mund gelegt wurden, „siehe/ich habe gesündigt/ich habe die Missethat gethan. Lass die Hand wider mich und meins Vatters Hauss sein“.72 Freilich kann bei aller Schärfe solcher Ermahnungen gleichwohl nicht von einem Widerstandsrecht im engeren Sinne gesprochen werden.

__________ 70 Jacob Fabricius, Einundreissig Kriegsfragen, Stettin 1631. Vgl. Friedeburg, Widerstandsrecht (Anm. 17), S. 90-97. 71

Vgl. Wolfgang Sommer, Obrigkeitskritik und die politische Funktion der Frömmigkeit im deutschen Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit (Anm. 17), S. 245-264; Luise SchornSchütte (Hg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhundert, München 2004. 72

Universität Gießen, Archiv W 50532, zit. nach Reingard Esser, Landgraf Moritz’ Abdankung und sein politisches Vermächtnis, in: Gerhard Menk (Hg.), Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft, Marburg 2000, S. 196214, 209.

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III. Bund des Gemeinwesens mit Gott Bei Zwingli im Anschluss an das 5. Buch Mose (Deuteronomium, beispielsweise 5 und 29) noch zur Rechtfertigung der Kindertaufe gegen die Täufer gebraucht, wurde die Vorstellung eines Bundes zwischen Adam und Gott, erneuert durch Moses, auch als Verpflichtung auf das Sittengesetz unabhängig vom Gnadenbefehl Gottes verstanden und von Olevian und Ursinus in Heidelberg weiter entwickelt. Im Kern ging es um die Verpflichtung jeder menschlichen Gemeinschaft auf den zwischen Gott mit Adam vor dem Sündenfall geschlossenen Bund der Werke, das göttliche Sittengesetz.73 Diese theologische Figur wurde in England und Schottland rezipiert. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass ihre Entwicklung in Heidelberg und Herborn und ihre Rezeption in Schottland und England weitgehend unabhängig von der Behauptung blieb, dieser Bund impliziere, was immer darunter jeweils durch die Theologen verstanden wurde, dass die Obrigkeit und die Stände durch den Bund direkt gegenüber Gott gebunden seien, seine Kirche einzurichten und zu verteidigen, und dass die Stände bei einem Fehlverhalten der Obrigkeit diese Pflicht durchsetzen müssten. Wichtige Rezipienten der Föderaltheologie in Schottland – Robert Howie oder Robert Rollock – oder England – William Perkins, Thomas Cartwright, Dudley Fenner – haben solche Behauptungen nicht vertreten,74 einige, wie Robert Howie oder Robert Rollock, galten aufgrund ihrer zurückhaltenden oder ängstlichen Haltung gegenüber Jakob VI. in Schottland sogar als wenig offensive Verfechter des wahren Glaubens.75 Horst Dreitzel ist zuzustimmen, wenn er zusammenfasst, „zunächst repräsen__________ 73

Wilhelm Neuser paraphrasiert Johann Coccejus mit folgenden Worten: „Gott hat einmal einen Werk- oder Naturbund gesetzt, der Adam ins Herz geschrieben war“ (Wilhelm Neuser, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Clavin bis zur Synode von Westminster, in: Carl Andresen [Hg.], Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 1980, S. 167-352, 345); David Alexander Weir, Foedus Naturale. The Origins of Federal Theology in Sixteenth Century Reformation Thought, Phil. Diss. Universität St. Andrews (jetzt Oxford 1990), S. 116-131; zusammenfassend Horst Dreitzel, Althusius in der Geschichte des Föderalismus, in: Emilio Bonfatti/Guiseppe Duso/Merio Scattola (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica Digesta des Johannes Althusius, Wiesbaden 2002, S. 49-112, 53-63. 74

Vgl. Weir, Federal Theology (Anm. 73), S. 161-185; Michael McGiffert, Grace and Works: The Rise and Division of Covenant Divinity in Elisabethan Puritanism, in: Harvard Theological Review 75 (1982), S. 463-502, 493-495; James K. Cameron (Hg.), Letters of John Johnston and Robert Howie, Edinburgh 1963. 75 Vgl. James K. Cameron, Introduction, in: ders., Letters (Anm. 74), S. xiii-lxxxiii, xlvii-xlviii: Insbesondere Robert Howie wurde „one of the most active defenders of royal episcopal policy.“

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tierte die Föderaltheologie jedoch das Verständnis der Einheit von Staat und Kirche für das Gottesvolk durch die Betonung der Kontinuität zwischen dem jüdischem Volk des Alten Testamentes und den Christen des Neuen“. Zwar taucht der Gottesbund in einem widerstandsrechtlich gewendeten Sinne zur Ermächtigung und Verpflichtung der Stände gegen den sündigen Magistrat in der Schrift „Vindiciae contra Tyrannos“ tatsächlich auf, „die Föderaltheorie selbst hat diese Konzeption [römisch-rechtlicher Vertragsgarantien] niemals aufgenommen – sie muss als eine humanistisch-juristische Parallelbildung verstanden werden, die sich insbesondere auf die ‚politische‘ Interpretation der Geschichte Israels stützte“.76 In den „Vindiciae contra Tyrannos“ (1576) arbeiten die Autoren vor allem mit dem römischen Recht, das allerdings schon für Calvin bei seinen Erörterungen zum Widerstand wichtig gewesen war.77 Dabei ging es insbesondere um die Figur der einseitigen Bindung des Gemeinwesens als Rechtsperson der universitas gegen Gott. Teil III der Vindiciae, also die Beantwortung der Frage nach der Legitimität von Widerstand nicht allein gegen den Usurpator, sondern auch gegenüber dem rechtmäßig eingesetzten, nun jedoch tyrannisch handelnden Fürsten, arbeitet auch mit Beispielen aus dem Alten Testament. Die immer wieder dem Willen Gottes zuwiderhandelnden Könige Israels geben hinreichend Anschauung für die Strafen Gottes. Es geht dann aber vor allem __________ 76 77

Dreitzel, Althusius (Anm. 73), S. 57, 61.

Vgl. zu biographischen Details zu einem der vermuteten Autoren des anonym publizierten Texts Beatrice Nicollier-de Weck, Hubert Languet (1518-1581). Un reseau politique international de Melanchthon a Guillaume d’Orange, Genf 1995. Textgrundlage: Vindiciae contra Tyrannos, hg. von George Garnett, Cambridge 1994. Zu Calvin und seinem Rekurs auf die römisch-rechtliche Figur der Stände als Vormünder des Volkes vgl. Jean Calvin, Institutio Christianae Religionis (1536), lib. IV, c. 20. Vgl. ders., Institutio Christianae religionis (1536), hier verwendet: 1636, lib. III, 10, 6, lib. IV, 20, 30; vgl. Howell Lloyd, Calvin and the Duty of Guardians to Resist, in: Historical Journal 32 (1981), S. 65-70: Lloyd zeigt dort, dass die durch Calvin genannten Personengruppen, von den Spartanischen Ephoren bis hin zu den Ständen der eigenen Zeit, durch Amt und Pflicht zum Einschreiten (pro officio intercedere) gehalten seien, und zwar weil sie von Gott als „tutores“, Vormünder, für das Volk und dessen Rechte eingesetzt seien. Diese von Lloyd daselbst weiter belegte Deutung ist von der Rechtsgeschichte, von Walter Ullmann bis Peter Stein, an gleicher Stelle weitgehend zustimmend kommentiert worden. Obgleich eine Reihe von spezifischen Positionen Quentin Skinners inzwischen nachhaltig in Zweifel gezogen werden, muss doch darauf hingewiesen werden, dass er mit seinem Beitrag von 1980 einer der ersten war, der auf diese ‚mittelalterlich‘ und vor allem auch römisch rechtlichen Wurzeln des Widerstandsrechts erneut hinwies, vgl. Quentin Skinner, The Origins of the Calvinist Theory of Resistance, in: Barbara C. Malament (Hg.), After the Reformation. Essays in Honour of J.H. Hexter, Pittsburgh 1980, S. 309-330.

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um die universitas des Gemeinwesens, repräsentiert durch die einschlägigen klassischen, schon bei Calvin genannten Instanzen, die Ephoren, in der Gegenwart der Zeit die Stände. Hier wie in anderen Texten überlappen die gewählten Beispiele und Quellenbestände. Die Terminologie ruhte aber vor allem auf den Postglossatoren, auf Baldus und Bartolus, auf dem Begriff der res publica als der öffentlich rechtlichen Seite der Rechtsperson einer Personenvielzahl, der universitas, ausgestattet mit fiscus und iurisdictio, nur das im Falle der „Vindiciae contra Tyrannos“ eigens auf die Verpflichtung des Gemeinwesens gegen Gott durch einen ersten Bund abgehoben wurde. Die Antwort auf die zweite Frage nach der Rechtmäßigkeit von Widerstand gegen Herrscherbefehle, die Gottes Willen widersprechen, wird mit dem Hinweis auf den foedus, den Pakt beantwortet, den Gott mit seinem Volk geschlossen habe. Die Bindung an diesen Pakt ist von Menschenseite unauflöslich, verantwortlich für die Einhaltung ist das Gemeinwesen als Rechtskollekiv (universitas: „universitas enim hominum unius personae vicem sustinet“)78. Die Einführung des Königtums ändert nichts an dieser Geschäftsgrundlage. Einhaltungspflichtig sind neben dem Herrscher die Repräsentanten des Gemeinwesens („Cum de universo Populo loquimur, intelligimus eos, qui a populo authoritatem acceperunt, magistratus, nempe, Rege inferiores, a Populo delectos, aut alia ratione constitutos“79). Aufgrund der Verpflichtungen dieser niederen Magistrate, der Stände, gegenüber dem Gemeinwesen gleich einem Vormund gegenüber dem Mündel – die bereits bei Calvin gebrauchte Figur80 – müssen die Stände in Aktion treten, wenn der König zum Tyrann wird und den Bund mit Gott bricht. Die „Vindiciae contra Tyrannos“ vergessen nicht zu erwähnen, dass nach allen historischen Vorbildern wie in Deutschland diejenigen, die für den wahren Glauben fochten, die Waffen niederlegten, wenn ihnen die rechte Glaubensausübung nur gestattet werde.81 Der römisch-rechtliche, nicht theologische Charakter dieser Argumentation wird, ist einmal der Bund mit Gott als Argumentationsgrundlage eingeführt, besonders deutlich, wenn dem einzelnen Untertanen ein Widerstandsrecht zunächst verwehrt wird, weil der Bund mit Gott allein das Gemeinwesen, die universitas, binde, nicht den Einzelnen.82 Ein Grund für den Einschub des __________ 78

Vindiciae, hg. von Garnett (Anm. 77), S. 38.

79

Ebd., S. 46.

80

Ebd., S. 49; vgl. Calvin, Institutio (Anm. 77), lib. III, 10, 6, lib. IV, 20, 30 und Anm. 65 zu der Deutung von Lloyd. 81

Ebd., S. 57.

82

Ebd., S. 59.

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Gottesbundes als Grundlage der dann folgenden römisch-rechtlichen Argumentation in den „Vindiciae contra Tyrannos“ liegt in der Tatsache, dass im Königreich Frankreich weltliche Rechte, die wie etwa im Heiligen Römischen Reich der untergeordneten Obrigkeit der Reichsfürsten ein Recht zur organisierten und kollektiven Gewaltanwendung gegen den Kaiser bei unrechtmäßigen Angriffen des Kaisers zusprachen, so nicht vorhanden waren. Während sich die Argumentation zugunsten eines Widerstandsrechts niederer Obrigkeiten im Reich sehr früh auf die längst einschlägigen und anerkannten Rechte besonders der Fürsten stützen konnte (vgl. dazu weiter unten zum historischen Verfassungsrecht), war das in Frankreich nicht ohne weiteres möglich. In der Tat lassen sich bei allen inneren Unruhen in Frankreich im Verlauf des Spätmittelalters keine formellen Entwicklungen fassen, die dem Hochadel so ein Recht gegeben hätten.83 Zwar hat es auch in Frankreich Versuche gegeben, das historische Verfassungsrecht so zu konstruieren, als ob den Ständen solche Rechte zuständen, bereits im Verlauf des 16. Jahrhunderts lief die Entwicklung jedoch auf eine Bestätigung der weithin absoluten Rechte des französischen Gottesgnadentums hinaus, nicht zuletzt durch Antoine Loisel.84 Nicht von ungefähr rekurrieren die beiden anderen wichtigsten Texte zum Gottesbund nachhaltig auf vermeintliche Bestandteile des jeweils eigenen historischen Verfassungsrechts, wo sie nur können. Neben den „Vindiciae contra Tyrannos“ sind hier der schottische National Covenant von 1638 und der englisch-schottische Westminster Solemn League and Covenant von 1643 zu nennen. Die Idee des Zusammenschlusses des schottischen Gemeinwesens – oder von Mitgliedern dieses Gemeinwesens – durch einen Bund ruhte in der längst etablierten Praxis von „bands“, „contracts“ und „covenants“. Auch die Krone machte Gebrauch von dieser Praxis. Im Jahre 1599 kam es beispielsweise zur Bestätigung der Verteidigung der Person Jakobs VI. und seiner Thronfolge gegen Attentate. In England hatte bereits der Bond of Association 1584 zur Verteidigung Elisabeths gegen Attentatsversuche die eidliche Verpflichtung der Untertanen als Kollektiv begründet.85 Diese Praxis von ‚Bünden‘ wurde 1637/38 als Reaktion auf die durch König Karl befohlenen, durch die schottischen Stände aber abgelehnten Veränderungen der Liturgie der Kirche mit dem Bekenntnis der Kirche von Schottland verknüpft, der Negative Confession von 1581. Sie hatte ihren Namen erhalten, weil zwar __________ 83 Vgl. Neithard Bulst, France in the Fifteenth Century, in: Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy (Anm. 21), S. 122-135, bes. 122, 131-132. 84

Vgl. weiter unten zum historischen Verfassungsrecht.

85 Vgl. hierzu jüngst David Loades, The English State and the Death of Mary, Queen of Scots, in: Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy (Anm. 21), S. 159-175, 169-170.

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römische Irrtümer aufgezählt worden waren, aber keine stringente Definition des Bekenntnisses vorgenommen worden war. Sie band die Unterschreibenden an die Verteidigung des Glaubens der Kirche von Schottland, der entsprechend undeutlich definiert blieb. Der Text des National Covenant von 1638 bemühte nicht ausdrücklich die Föderaltheologie im engeren Sinne.86 Stattdessen bezog er sich auf die Negative Confession von 1581 als Referenzquelle, welches Bekenntnis das Land eigentlich habe, und verpflichtete die Unterzeichnenden zur Verteidigung der Majestät des Königs, dieses Bekenntnisses und der Gesetze des Landes. Zwar sprach die Präambel auf die Vereidigung der Schotten auf den National Covenant von einem Bund zwischen Gott, Volk und König („The Great Assembly considering the great happiness which may flow from a full and perfect union of this kirk and kingdom, by joining in one and the same Covenant with God, with the King’s Majesty, and amongst ourselves…“). Auch waren einschlägige Bibelstellen zu Beginn des Textes beigegeben (Josua 24, 25; 2. Könige 11, 17; Jesaja 44, 5). Aber es fehlte jede Implikation, dieser Bund binde nun die Stände zum Kampf gegen einen Tyrannen, geschweige denn den König. Tatsächlich begannen die Stände in England und Schottland ihren Widerstand als Verteidigung des Königreichs und der Person des Königs. Die gesamte schottische und englische parlamentarische Publizistik hielt sich in den ersten Jahren der Konfrontation vorsichtig mit dem Tyrannenbegriff zurück, nicht zuletzt, weil ein beträchtlicher Teil der politischen Elite Englands und Schottlands zwar in den Bürgerkrieg mit dem König geriet, die verfassungsrechtlichen Argumente aber um die Verteidigung der Königreiche gegen äußere Gefahren – den Überfall durch katholische Iren oder widerrechtlich handelnde Armeen der Büttel des Königs bei Abwesenheit oder Nichteingreifen des königlichen Befehlshabers – kreisten.87 Stattdessen zitierte der National Covenant einschlägige schottische Gesetze, welche die Regelungen von 1581 als geltende Rechtspraxis zu beweisen schienen, und unterstrich die den Willen des Monarchen bindende Qualität dieser Regelungen. Insofern bemühten die Autoren des Covenant eine bestimmte, von Anhängern der Krone bestrittene, Interpretation der schottischen Kirchen-, Bekenntnis- und Verfassungs__________ 86 David Stevenson, The Covenanters, Edinburgh 1988, S. 37, spricht zu Recht von dem „prolonged appeal of the past and legitimacy“. Vgl. John Morrill (Hg.), The Scottish National Covenant in British Context, Edinburgh 1990. 87 Nach wie vor einschlägig: Glenn Burgess, Usurpers, Tyrants and the Problems of Resistance and Obedience: Some Aspects of the Theory of Tyranny in England, 16421656, MA Dissertation Universität Viktoria, Neuseeland, Wellington 1984; John Morrill, Charles I, Tyranny and the English Civil War, in: ders., The Nature of the English Revolution, London 1993, S. 285-306, 304 f.; Michael Mendle, The Great Council of Parliament and the first Ordinances: The Constitutional Theory of the Civil War, in: Journal of British Studies 31 (1992), S. 133-162.

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geschichte des 16. und früheren 17. Jahrhunderts, nicht die Föderaltheologie. In der Tat schworen die Schotten, die Person und Ehre des Königs zu verteidigen ebenso wie die wahre Religion, die Freiheiten und die Gesetze des Königreiches.88 Die Solemn League and Covenant von 1643 sollte das Königreich Schottland zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen des Parlamentes in London gegen das Versprechen bewegen, die Kirche auch in England presbyterial umzugestalten. Der Text enthält in Abschnitt VI Passagen, welche auf die kollektive Verantwortung des Gemeinwesens zur Aufrechterhaltung von Gottes Willen abheben. In der Tat hat die jüngere Forschung zwar bestätigt, dass die Vereidigung der englischen Bevölkerung auf die Solemne League and Covenant durch viele Mitglieder des Parlamentes ausdrücklich als Teil einer langen Kontinuität der Verpflichtung der englischen Bevölkerung zur Treue bis in die angelsächsische Vergangenheit, und ohne jeden Bezug zur Föderaltheologie, verstanden wurde, dass andere Mitglieder des Parlamentes jedoch, unabhängig vom Inhalt des Textes, sehr wohl die Föderaltheologie als zentralen Hintergrund dieses Bundes verstanden. Allerdings schieden sich die Meinungen darüber, was genau die Föderaltheologie beinhalte – eine Verpflichtung auf Gott via den Bund mit Adam, „an embodiment of fundamental Christian duties that could not be revoked by any temporal authority“, oder etwa eine spirituelle Erneuerung auch des einzelnen Gläubigen. Wenigstens in der presbyterianischen Richtung innerhalb der Kirche von England leitete die erste, also föderaltheologische Deutung, dazu, jedes Abweichen von der in der Solemne League and Covenant nur noch einmal ausformulierten Pflicht gegen Gott zur wahren Kirche auszuschließen und daher jede spätere Veränderung in der Kirchenpolitik, etwa auch die Verpflichtung auf die Regierung der Republik nach 1649 oder die NichtigErklärung der Solemne League durch die Restauration 1661/2 als gotteslästerlich und nichtig zu verstehen.89 Nicht allein gab es in England und Schottland also ganz verschiedene Möglichkeiten der Legitimation der Kampfhandlungen gegen die Armeen des Königs. Diese sich teils gegenseitig ausschließenden Erklärungen bezogen sich im Fall der Solemn League and Covenant sogar auf ein und denselben Text. Selbst einzelne Autoren, etwa der Prediger Stephen Marshall, verfassten Texte zur Erläuterung der Legitimität der Kampfhandlungen gegen die königlichen Armeen mit völlig unterschiedlichen __________ 88 89

Vgl. Morrill, National Covenant (Anm. 86).

Edward Vallance, ‚An Holy and Sacramentall Paction‘: Federal Theology and the Solemn League and Covenant in England, in: English Historical Review 116 (2001), S. 50-75, 51.

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Argumenten.90 Festzustellen bleibt, auch wo Elemente der Föderaltheologie in einen Text einflossen oder der Text von einigen Interpreten vor dem Hintergrund der Föderaltheologie verstanden wurde, sowohl die „Vindiciae contra Tyrannos“ als auch der National Covenant ließen es an einem gut Stück verfassungsgeschichtlicher und verfassungsrechtlicher Argumentation nicht fehlen, umstritten blieben in der Deutung vor allem die föderaltheologischen Elemente. Ihnen ist wohl auch in der Zukunft wesentlich weniger Bedeutung zuzumessen, als das teils der Fall war.

IV. Viri Heroici Der direkte Befehl Gottes an eine Person oder Gruppe blieb ein eigenständiger Argumentationszusammenhang. Vorbilder lieferte vor allem das Alte Testament, beispielsweise das Buch Josua oder die Bücher der Richter. Ein Beispiel wäre die Verfluchung derjenigen durch den Engel Gottes (Richter 5,18-23), die Gott im Streit nicht zur Hilfe kamen. Stephen Marshall machte durch Predigten vor dem englischen Parlament und in Flugschriften Zuhörer und Leser 1642 und 1643 blutrünstig mit dieser Verfluchung bekannt.91 Ein anderes Beispiel wäre etwa Phineas (4. Mose 25,1-8), der den Frevler im eigenen Lager erschlägt. Phineas spielte in englischen und deutschen Traktaten des 16. und 17. Jahrhunderts eine Rolle. Umstritten blieb freilich, ob es sich um einen amtlosen Untertanen oder um eine Person mit Herrschaftsbefugnissen gehandelt habe.92 __________ 90

Burgess arbeitet diese Pole der möglichen verfassungsrechtlichen, in der alten Verfassung, der Ancient Constitution, fußenden Argumente und der religiösen Argumente, besonders deutlich heraus (Glenn Burgess, Religious War and Constitutional Defence: Justifications of Resistance in English Puritan thought, 15901643, in: Friedeburg [Hg.], Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit [Anm. 17], S. 185206); vgl. seine Charakterisierung von Stephen Marshall, A plea for Defensive Arms, London 1643, als basierend „entirely on legalistic grounds“ (Burgess, Religious War, S. 199), im Gegensatz zu Stephen Marshall, Meroz Cursed, London 1642 (Burgess, Religious War, S. 204 f.). 91

Vgl. zur Rezeption hierzu bei Soldaten des Parlamentes Burgess, Religious War (Anm. 90), S. 185-206, 204 f. 92 Vgl. Robert von Friedeburg, Welche Wegscheide in die Neuzeit? Widerstandsrecht, ‚Gemeiner Mann‘ und konfessioneller Landespatriotismus zwischen ‚Münster‘ und ‚Magdeburg‘, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 561-616, 561562; Johann Wick, Rathschlag, dass man dem Kaiser widerstehen möge..., 1531; Sir James Stuart/James Stirling, Naphtali, or the Wrestlings of the Church of Scotland For the Kingdom of Christ; Contained in a true ... Deduction thereof, from the beginning of the Reformation of Religion, until the Year 1667, London 1667.

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Zwei Problemkreise sind im Hinblick auf diesen Baustein zu unterscheiden. Handelte es sich erstens tatsächlich um eine überkonfessionelle Argumentationsfigur, und wie steht es um das Problem des amtlosen Untertanen? Zwar konnte der Rückgriff auf das Alte Testament im reformierten Lager durch die Betonung der Bedeutung des älteren Bundes Gottes mit seinem Volk und der Kongruenz von Kirche und Gemeinwesen eine besonders wichtige Rolle erhalten. Auch John Milton griff beispielsweise im Februar 1649 u.a. auf Ehud zur Rechtfertigung der Hinrichtung von Karl I. aufgrund seiner Mordtaten an der englischen Bevölkerung zurück.93 Ferner lässt sich argumentieren, das lutherische Diktum, keiner solle Richter in eigener Sache sein, und auch die sündige Obrigkeit bleibe Obrigkeit,94 habe einer zu intensiven Nutzung alttestamentlicher Beispiele Grenzen gesetzt. Auch habe die schärfere Abgrenzung des älteren Bundes Gottes mit seinem Volk von dem neuen Bund mit Christus im Luthertum dazu geführt, weniger auf das Alte Testament zurückzugreifen. Aber es wäre falsch, daraus zu folgern, die Reformierten hätten allein auf die viri heroici des Alten Testamentes zurückgegriffen. Neben der wichtigen Rolle apokalyptischer Motive in den Magdeburger Flugschriften der Jahre 1548-1550 erinnerten diese die Leser auch an „das göttliche Wort im Buch der Richter“.95 Aber wir haben auch Beispiele katholischer Argumente. Der Attentäter Heinrichs III., Jacques Clement, soll insbesondere durch Predigten über das Buch der Richter, besonders zur Ermordung von Eglon, König von Moab, durch Ehud, beinflusst gewesen sein, Ehud, dem durch Gott gesandten Befreier. Die Parallelen der Ermordung Heinrichs durch Jacques Clement mit der Beschreibung im Buch der Richter (Richter 3, 12-30, vor allem 21: „Ehud aber streckte seine linke Hand aus und nahm den Dolch von seiner rechten Hüfte und stieß ihm den in den Bauch“) sind in der Tat bestechend.96 Es ist also richtig, dass besonders prominente Beispiele des __________ 93

John Milton, The Tenure of Kings and Magistrates, London 1649. Vgl. hierzu Martin Dzelzainis, Anti-Monarchism in English Republicanism, in: Martin van Gelderen/Quentin Skinner (Hg.), Republicanism. A shared European Heritage, Bd. 1, Cambridge 2002, S. 27-41. 94 Beispielsweise Luther (mit Jonas, Bugenhagen und Melanchthon) an Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen, März 1530, in: Scheible (Hg.), Widerstandsrecht (Anm. 55), Nr. 14, S. 60-64. 95 Ein wahrhafftiger Bericht aus Magdeburg, Magdeburg 1550. Weitere Beispiele bei Friedeburg, Magdeburger Argumentationen (Anm. 62), S. 424-429; vgl. jedoch ausführlicher, insbesondere auch zu den Anleihen bei der Apokalypse, Kaufmann, Reformation (Anm. 63). 96 Mark Greengrass, Regicide, Martyrs and Monarchical Authority in France in the Wars of Religion, in: Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy (Anm. 21), S. 185.

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Rückgriffs auf das Alte Testament häufig aus dem reformierten Lager stammen, aber daraus sollte nicht gefolgert werden, dieser Rückgriff sei nur im reformierten Lager erfolgt. Bewiesen diese Beispiele, etwa das von Phineas, der den Sünder erschlägt, dass amtlose Untertanen Gewalt anwenden dürften? Wo keine Obrigkeit zur Hand war, deren weltliche Rechte einen Widerstand gegen die höchste Obrigkeit zuließen, und wo dann mit dem Alten Testament und den Viri Heroici argumentiert wurde, kam es schnell zu einer Debatte darüber, was solche Beispiele eigentlich bewiesen. Handelte es sich auch in diesen Fällen doch um Personen, die in irgendeiner Weise durch das Gemeinwesen autorisiert waren? Die Kritik von Thomas Hobbes an der Vorstellung, Glaubenseifer (zelum) berechtige zum eigenmächtigen gewalttätigen Handeln von Untertanen, ist jedenfalls ein Beispiel für die Unruhe, welche die Vorstellung von der göttlichen Handlungsermächtigung amtloser Untertanen auslösen konnte.97 In Schottland wurden solche Befürchtungen in den 1660er Jahren durch die Attentate auf Mitglieder des Episkopats weiter bestätigt, mit denen die schottische Untergrundkirche den Kampf gegen die gotteslästerliche Bischofskirche fortsetzte. In diesem Zusammenhang schien es besonders dringend, der Vorstellung von der möglichen göttlichen Autorisierung einzelner amtloser Untertanen entgegenzutreten.98 Wie diese Beispiele zeigen, handelte es sich hier nur teils um ein ausgefeiltes Widerstandsrecht, welches zeitgenössische Juristen überzeugen könnte, nämlich, wo solche Beispiele in andere Zusammenhänge eingebettet blieben. Teils handelte es sich mehr um die überredende99 Sozialisation durch Wort (Predigt, Gebet, Zensur), Gesang (Psalmen) und Bild, sich selbst als Arm der Intervention des strafenden Gottes in der Welt zu begreifen. Wir wissen, dass Predigten und Gesang insbesondere auf die breitere Bevölkerung in Frankreich und England erfolgreich in dieser Richtung Einfluss nahmen. Mit __________ 97

Thomas Hobbes, Leviathan (1651), hg. von Richard Tuck, Cambridge 1996, S. 487-488. Vgl. zum Kontext Dzelzainis, Anti-Monarchism (Anm. 93), S. 27-29. Vgl. zum 18. Jahrhundert Simone Zurbuchen, Heinrich Corrodi’s History of Chiliasm (17811783), in: John Christian Laursen (Hg.), Histories of Heresy in Early Modern Europe, Houndsmill 2002, S. 189-204; John G. A. Pocock, Gibbon and the History of Heresy, in: ebd., S. 205-220. 98 Robert von Friedeburg, Vom ständischen Widerstandsrecht zum modernen Naturrecht. Die Politica des Johannes Althusius in ihrem deutschen Kontext und ihre schottische Rezeption, in: Schorn-Schütte (Hg.), Politische Kommunikation (Anm. 57), S. 149-194, 149 f., 173-181. 99 Vgl. zum Begriff der Überredung Andrew Pettegree, Reformation and the Culture of Persuasion, Cambridge 2005.

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einigen Ausnahmen, insbesondere wichtiger Teile der Magdeburger Publizistik der Jahre 1548-50 und der 1630er Jahre blieben sie im Reich eher die Ausnahme, aber im Frankreich und England der Religionskriege zogen solche Beispiele möglicherweise mehr als viele konstitutionelle Argumente, in allen konfessionellen Lagern.

V. Das historische Verfassungsrecht Der Bezug auf die spezifische Rechtslage im eigenen Gemeinwesen, im Sinne der Summe von Herkommen, Statuten, Verträgen, Privilegien, einschlägigen Prozeduren, usf., war der wichtigste überkonfessionelle Baustein widerstandsrechtlicher Argumente. Es wurde auch häufig in Zusammenhang mit anderen Argumentationsmustern gebraucht, etwa im Zusammenhang mit klassischen oder humanistischen Topoi, denken wir nur an Johannes Althusius, der sich in seiner „Politica“ (1603; 31614) bemühte, die klassischen Ephoren in den tatsächlichen Verfassungsverhältnissen verschiedener europäischer Länder wiederzuentdecken, oder an die zahlreichen Beispiele zu verschiedenen europäischen Ländern in Theodor Bezas Recht der Magistrate, die den Antworten auf die gestellten Fragen beigegeben sind. Gleichwohl ruhte das Argument in beiden Fällen auf der Allgemeingültigkeit der gemachten Feststellungen, etwa auf der Billigkeit.100 Im Gegensatz zu dieser Illustrierung allgemeiner Feststellungen durch bestimmte Beispiele bestand bereits am Vorabend der Reformation eine an den gegebenen konkreten Rechten eines Gemeinwesens orientierte Argumentationskultur, die sogar schon zu zusammenfassenden Charakterisierungen der Rechtslage ganzer Königreiche geführt hatte. Hier ging es gerade nicht um generelle Behauptungen zur Verfassung aller Völker und ihrer Gemeinwesen, sondern um das spezifisch historische Verfassungsrecht101 des in Frage stehenden besonderen Gemeinwesens. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts gewann die systematische Sammlung und Auswertung älterer Rechtsquellen in den __________ 100

Theodor Beza, De iure magistratuum, 1574 frz., 1576 lat., hier verwendet: hg. von Klaus Sturm, Neukirchen 1965. Auf die – bejahte – Frage, ob der Tyrann, der die Gläubigen verfolgt, auch erschlagen werden könne, folgen Gründe (die Ehre Gottes ist Endziel des Lebens im Gemeinwesen) und dann Beispiele zur Verpflichtung der Fürsten auf das Wort Gottes aus der Bibel sowie Hinweise auf England, Dänemark, Schweden, Schottland und Deutschland (X. Quaestio, Exempla, p 88 –). Zur Aequitas vgl. Epilog, I Ratio, S. 67. 101 Der Begriff ist hier nicht im modernen Sinne zu verstehen, sondern als Summe der jeweils angenommenen rechtlichen Regelungen.

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meisten europäischen Gemeinwesen weiter an Bedeutung. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts waren Melchior Goldast (1576/1578-1635) und Friedrich Hortleder im Reich, Davies und Coke in England und Grotius in den Niederlanden als wichtige Kompilatoren und Quellensammler hervorgetreten. Aus einem Verzeichnis der Bibliothek des spanischen Königs Philip IV. aus dem Jahre 1637 wissen wir über den beträchtlichen Anteil der Rechtssammlungen zu den verschiedenen Königreichen der spanischen Krone. Denn mit diesen verschiedenen Rechten musste auch der König von Aragon und Herrscher von Neapel und Katalonien rechnen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts bestritten Politikwissenschaftler wie Conring und parlamentarische Fürsprecher in England wie Philip Hunton jede grundsätzliche Bedeutung irgendeiner Rechtsquelle jenseits dieses konkreten historischen Verfassungsrechts, der ‚Ancient Constitution‘, des in verfassungsrechtlichen Regeln fassbaren spezifischen Alten Rechts. Daraus folgte keineswegs unmittelbar ein Widerstandsrecht – die Annahme, die Krone werde sich in den Grenzen des Herkommens bewegen, blieb die Regel.102 Kam es aber zum Konflikt, dann ließ sich auf der Grundlage der ‚alten Verfassung‘ mit dem Recht auf Notwehr gegen den Rechtsbrecher, vor allem durch die Stände, ein Widerstandsrecht konstruieren.103 Häufig bildeten vermeintliche Kernprivilegien wichtige Fundamente und Eckpfeiler dieser angenommenen Rechtsordnung, wie etwa im Reich die Goldene Bulle und dann auch der Religionsfrieden, in den Niederlanden das – wenn auch tatsächlich wieder zurückgenommene – Privileg von 1477, in England die vermeintlichen Gesetze Edward des Bekenners. Conring sollte die deutsche ebenso wie Hunton die englische Verfassung auf die Völkerwanderungszeit und die Sitten der Germanen zurückführen, so wie sie von Tacitus beschrieben worden waren.104 Bei Conring traten entsprechend die __________ 102 Glenn Burgess, Absolute Monarchy and the Stuart Constitution, New Haven 1996, S. 125-208. 103 Janelle Greenberg, The Radical Face of the Ancient Constitution: St. Edward’s Laws in Early Modern Political Thought, Cambridge 2001. Eine Reihe weiterer Beispiele finden sich in Robert von Friedeburg (Hg.), Patria und Patrioten vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und die Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, vgl. besonders Xavier Torres, Making and Remaking of Patriotism: The Catalan Revolt against the Spanish Monarchy (1640-1659), in: ebd., S. 139-168. Es ist im Folgenden jedoch aus Platzgründen unmöglich, anders als exemplarisch zu verfahren. 104 Vgl. Dietmar Willoweit, Hermann Conring, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, München 1987, S. 129-147; wichtig v.a.: Hermann Conring, De origine iuris Germanici commentarius historicus (1643); De Germanorum

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Reichsstände als Vormünder auf, um Rechtsbrüche zu verhindern oder abzuwehren.105 Folgerichtig meinte Hunton in seiner Abhandlung zur Monarchie, einer Streitschrift zugunsten des Parlaments im englischen Bürgerkrieg, „Rather I conceive the Originall of the subjects liberties was by those our forefathers brought out of Germany: When, as Tacitus reports nec Regibus infinita aut libera potestas: Their kings had no absolute but limited power: and all weighty matters were dispatched by generall meetings of all Estates. Who sees not here the antiquity of our liberties and frame of government? So they were Governed in Germany, and so here to this day, for by transplanting themselves they changed their soyl, not their manners and Government.“106 Das niederländische Plakkaat van Verlatinge107 von 1581 verweist lapidar auf die „rechten, privilegien en vrijheiden“108 der Stände und blieb damit in der Nachfolge der schon 1568 durch Wilhelm von Oranien erklärten legitimen Verteidigung des historische Verfassungsrechts und der Privilegien der Stände gegen rechtswidrige Übergriffe des Herrschers.109 Jenseits der tatsächlich nachweisbaren Privilegien – deren Reichweite dann sehr weit interpretiert wurde – wurde die ständische Mitsprache im Reich, den Niederlanden und England, aber auch beispielsweise in Aragon, bis weit in die Vergangenheit der Völkerwanderung zurückprojiziert und dann als ungebrochene Verfassungskontinuität behauptet oder als Folge einer nun die Sachlage kennzeichnenden Entwicklung. Das gilt für England in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, für die Niederlande im gesamten Verlauf des Aufstandes gegen die spanischen Könige und im Reich für das gesamte 15. bis 17. Jahrhundert, auf Reichs- wie auf Territorialebene. Aber auch Polen und Schweden kannten vermeintliche historische Verfassungen. Vor diesem Hintergrund hoben dann Juristen wie Theologen in bestimmten Fällen auf Rechtsbrüche des Fürsten ab, um ein Widerstandsrecht der jeweils __________ imperio Romano (1644); zum methodischen Vorgehen Conrings vgl. auch Dissertatio de Optimo Republica, in: Opera, Bd. 3, Braunschweig 1730; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, S. 231-33; ders., Hermann Conring, 1606-1681: Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1983; Constantin Fasolt, The Limits of History, Chicago 2004, S. 72-77, 106-108. 105 Vgl. Hermann Conring, Dissertatio de Regno et Tyrannide, in: Opera Omnia, hg. von Johan Wilhelm Göbel, Braunschweig 1730, Bd. 3. 106

Philip Hunton, A Treatise of Monarchy, London, 1643.

107

Vgl. Plakkaat van Verlatinge, hg. u. eingeleitet von M.E.H. Nicolette Mout, Groningen 2006. 108

Ebd., S. 76.

109 Bekenntnis… samt Defension und Notwehr wider des Duca de Alba Unchristliche und unerhoerte Verfolgung gegen alle Staende der Niederlande, o.O. 1568.

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vermeintlich historisch privilegierten Stände zu rechtfertigen. So argumentierten die Juristen in Torgau, so der Erzvater der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard, in seinem Abschnitt zum weltlichen Magistrat in seinen Loci Theologici (1612-20). Das hinderte weder ihn noch andere, auch auf Horaz und die Liebe zum Vaterlande und die Pflicht, für es zu sterben, zurückzugreifen, um Untertanen und Stände zu erinnern, für ihr Territorium und dessen Konfession zu streiten. Aber die historische Verfassung der Wahlmonarchie Reich und ihrer Stände, der ordines regni, stand im Mittelpunkt.110 Auf die Vielzahl der lutherischen Juristen, die sich auf dieser Grundlage für ein Widerstandsrecht der Reichs-, aber auch der Landstände äußerten, kann hier gar nicht eingegangen werden, genannt seien nur Bartholomaeus Volcmar (1618) oder Jacob Multzius (1668).111 Insbesondere im Reich bedeutsam blieb auch die historische Auslegung der Interpretation des Lehensrechts und der mit ihm zusammenhängenden Rechte der Vasallen, sowohl der Reichs- wie der Landstände, etwa Heinrich Rosenthal und seine Synopse des Lehensrechts von 1610.112 Die Ausformulierung und Interpretation dessen, was diese vermeintlichen Verfassungen aussagten, oblag sowohl den jeweiligen politischen Verhältnissen als auch der Eigendynamik der Rechtskompilationen. Nur selten gelang es wie in Schweden durch die Reichstagsbeschlüsse von 1680 und 1682, auf den Schultern von Krone, Bürgern und niederem Adel ein Land zur absoluten Monarchie zu erklären und die historische Verfassung dabei radikal umzuinterpretieren. In der Regel verdichteten und formalisierten die Interpretationen des 16. und 17. Jahrhunderts im Verlauf des späteren Mittelalters und des 16. Jahrhunderts zunehmend unbestreitbar gewordene Verfassungstatbestände, und das waren in Schweden, England, Aragon und dem Reich beispielsweise die Teilhabe der Stände, in Frankreich aber Praxis und Theorie einer weithin absoluten Monarchie. Zwar besaßen in Frankreich die Interpretationen zur Frage der Befugnisse der Krone, Recht zu setzen, noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts durchaus ambivalente Züge. Für Pierre Rebuffi (1487-1557), einen der humanistischen Rechtsgelehrten, blieb der König

__________ 110

Johann Gerhard, Loci Theologici, hg. von F. Frank, Leipzig 1885, Bd. 5: De Magistratu Politico, S. 266-561, 547-565, v.a. 559-560. 111 Bartholomaeus Volcmar, De Jure Principum aliorum magistratum synoptica tractatio, Frankfurt 1618, c. xi ; Jacob Multzius, Dissertatio de libertate, Nürnberg 1668. 112 Heinrich Rosenthal, Tractatus et synopsis totius Iuris Feudalis, Köln 1610, C. 10, concl. 20, S. 58-60, concl. 33, S. 125-128.

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uneingeschränkter Besitzer der höchsten Gewalt.113 Gleichwohl könne auch der König das Recht nicht gegen die Einsicht der natürlichen Vernunft brechen.114 Die Parlamente, also die provinziellen Versammlungen mit gerichtlichen Befugnissen, könnten gesetzgebend wirken und königliche Maßnahmen überwachen.115 François Hotman suchte mit seiner „Franco Gallia“ (1573) sogar, in der historischen Verfassung Frankreichs ein Widerstandsrecht zu verankern.116 Den Erfahrungen der französischen Bürgerkriege folgte jedoch bald ein deutlicher Nachdruck auf der Legitimität der absoluten Rechte der französischen Krone, bezeichnenderweise im selben Gewand wie die meisten Systeme historischer Verfassungsrechte – als systematische Sammlung der bestehenden Rechte. Schon 1582 unterstrich der Jurist Antoine Loisel in seinen Reden an Parlament und Gerichtshof von Guyenne (1582-1584), die posthum (1594-1596 und 1605) als Buch publiziert wurden, die Krone habe die alleinige Rechtsetzungskompetenz inne.117 Loisel bezog sich auf den Topos des Auges des Gesetzes, aber beschrieb es als Auge des Monarchen.118 Historische Beispiele erläuterten das Frieden bringende Rechtsetzungswerk einzelner Gesetzgeber. Die Durchsetzung des Wohles des Gemeinwesens blieb der Krone vorbehalten. Michel de Montaigne wies flankierend im letzten seiner Essays, in De l’expérience, darauf hin, es sei kaum möglich, die Gesetze der Sitte zu kennen, und daher sei das Gemeinwesen auf die Autorität einer einzelnen gesetzgebenden Instanz angewiesen – ein Argument, was so auch von Francis Bacon und Lord Ellesmere in England zugunsten der Krone und ihrer Kompetenz zur Reform des Rechts vorgebracht wurde, dort aber weithin auf taube Ohren stieß.119 Guy Coquille (1523-1603) publizierte mit der posthum erschienenen __________ 113 Pierre Rebuffi, Explicatio ad quatuor primos pandectarum libros, Lyon 1589, S. 205-207, zit. nach Howell Lloyd, Constitutional Thought in Sixteenth Century France: The case of Pierre Rebuffi, in: French History 8 (1994), S. 259-275, 263. 114

Ebd., S. 36, zit. nach ebd., S. 263.

115

Ders., De regum et principum munieribus ac praerogativis, no 302, in: Commentaria in constitutiones seu ordinationes regias, Lyon 1613. Vgl. zu ihm Lloyd, Constitutional Thought (Anm. 113), S. 264-66. 116

Donald R. Kelley, François Hotman. A revolutionary’s ordeal, Princeton 1983.

117

Jotham Parsons, The Political Vision of Antoine Loisel, in: Sixteenth Century Journal 27 (1996), S. 453-476. 118 Vgl. zu diesem Topos jetzt umfassend Michael Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004. 119 Michel de Montaigne, De l’éxperience, 3, 13: Essayes, hg. von Pierre Villey, Paris 1992, S. 1070-1072. Zum Konflikt zwischen den Ständen und common lawRechtsgelehrten einerseits und der Krone und Bacon und Ellesmere andererseits besteht

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Institution de droit francois die seit 1453 niedergeschriebenen französischen Gewohnheitsrechte und belegte seine These monarchischer Alleinherrschaft mit dem königlichen Gesetzgebungsrecht, welches sich empirisch aus dieser Sammlung ergab.120 Die Präzisierung der monarchischen Rechte durch Charles Loyseau (1564-1627) nahm dann sogar die Beschreibung der Seigneurie, der Grundherrschaft in Frankreich, zum Ausgangspunkt. Die historisch durchaus nachweisbaren Rechtsetzungskompetenzen der Krone wurden nun damit erklärt, das Königreich und seine öffentliche Gewalt seien dominium der Krone.121 Die französischen Calvinisten hatten sich seit 1584 ohnehin weitgehend in das Lager des absoluten königlichen Gottesgnadentums geschlagen. Sie hofften auf Schutz durch die unbedingte Macht der Krone gegenüber der großen katholischen Bevölkerungsmehrheit. Als es 1627/28 zur Konfrontation vor La Rochelle kam, wo die Krone versuchte, einen der wichtigsten festen Plätze der Protestanten zu schleifen, und der Herzog von Rohan als Führer des protestantischen Widerstandes sogar mit England Kontakt aufnahm, um sich von dort Unterstützung zukommen zu lassen, war in seinen eigenen Verlautbarungen nichts von einem im historischen Verfassungsrecht verwurzelten Widerstandsrecht übrig geblieben. Rohan argumentierte mit dem schlichten Naturrecht, das eigene Leben vor dem vermeintlich drohenden Massaker durch Selbstverteidigung zu retten.122 Kam es also doch zum Bedarf nach Legitimationen von Widerstand gegen die Krone, musste auf protestantischer Seite das Recht auf das pure Leben herhalten. Etwas anders gestaltete sich die Lage im Verlauf der so genannten Mazarinaden der Fronde (1648-1653), also während der Unruhen, die im Verlauf der Minderjährigkeit Ludwigs XIV. (1643-1715) und der Regentschaft seiner Mutter Anne und des Kardinals Mazarin gegen diese Regentschaft ausbrachen, und die vor allem auf __________ eine umfangreiche Literatur, siehe nur Louis A. Knafla, Law and Politics in Jacobean England. The Tracts of Lord Chancellor Ellesmere, Cambridge 1977; Julian Martin, Francis Bacon, the state, and the reform of Natural Philosophy, Cambridge 1992. 120

Guy Coquille, Institution au droit des Francois, Paris 1609, S. 3.

121

Charles Loyseau, Traité des seigneuries, Paris 1609.

122

Hartmut Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert: die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berücksichtigung von Pierre du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu, Berlin 1975. Vgl. aus den reichen Quellen allein in der Bibliotheque Mazarin Henri de Rohan, Mémoires du Duc de Rohan sur les choses advenues en France depuis la mort de Henrile-Grand à la paix faite avec les Reformez au mois de Juin 1629, in: Collection complète des mémoires relatifs à l’histoire de France, hg. von Claude Bernard Petitot, Bd. 18, Paris 1822: Apologie du Duc de Rohan sur le dernieres troubles de la France a cause de la religion.

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den Tatbestand abhoben, sowohl der Kardinal als auch die Königin-Mutter seien Ausländer. Ein Widerstandsrecht gegen die Krone wurde hier allerdings nicht konstruiert, sondern allein ein Rechtsanspruch des hohen Adels auf politische Verantwortung während einer Minderjährigkeit.123

VI. Herrschaftsvertrag und Naturrecht Zu Beginn des 17. Jahrhunderts müssen unterschieden werden ein juristischer Naturrechtsbegriff (die menschlichen Instinkte der Selbsterhaltung und Fortpflanzung einerseits, das umfassendere menschliche Naturrecht des jus gentium andererseits), ein philosophischer Naturrechtsbegriff (das ius gentium primaeverum, gründend in den vernünftigen Anlagen des Menschen, und das ius gentium secundarium, dem juristischen jus gentium entsprechend) und ein theologischer Naturrechtsbegriff (das jus naturae des status integralis und dessen Anpassung im Sündenstand zum jus gentium). In diese begriffliche Zweiteilung des Naturrechts fügten sich die Spekulationen vor allem der spanischen Spätscholastik, beispielsweise von Luis Molina, Juan Mariana oder Francisco Suarez, über einen Zustand nach dem Sündenfall, aber vor der Einsetzung von Herrschaft unter den Menschen, während dessen sich die Menschen durch Verträge zu Staaten zusammengeschlossen hätten, um damit Versorgung, Künste und Wissenschaften zu befördern und die in ihnen angelegten menschlichen Eigenschaften erst recht verwirklichen zu können, eben weil der Mensch als durch Gott geschaffenes Wesen auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen hin geschaffen sei. Der durch Zusammenschluss (foedus, pactum) geschaffene Staat geht stringent auf Gott als Schöpfer zurück, er ist nicht menschliches Kunstwerk, aber der konkrete eingesetzte Herrscher bleibt nicht zuletzt im Wege dieses Vertrages an seinen Zweck, abhängig vom Willen Gottes in der durch die Kirche zu interpretierenden Form, gebunden. Hier entstand eine Lehre von der systematischen vertraglichen Beauftragung der Magistrate als Kennzeichnung staatlicher Struktur schlechthin, aufgrund des Willens Gottes, aber nicht direkt aufgrund des Sündenfalles, sondern durch menschliche Einsetzung spezifischer Amtsträger. Wegbereitend wurde die spanische Schule der Spätscholastik, weil sie versuchte, das Verhältnis von Herrschaft („dominium“, im Sinne einer Strukturgegebenheit) und Herrschaftsbesitz (wer verfügt über Herrschaft) mit Hilfe einer Moralphilosophie des thomistischen Naturrechts neu zu konzipieren und dabei das kanonische Recht außen vor zu lassen. Während Thomas von __________ 123

Hubert Carrier, La presse de la Fronde (1648-1653), Genf 1989.

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Aquin Recht und Gerechtigkeit noch in erster Linie als Beziehungen zwischen rationalen Wesen verstanden hatte, begann Domingo De Soto (1494-1560), in seinen Interpretationen von Aquin das Recht auch als Fähigkeit und Potenz zu verstehen. Alle Wesen besäßen beispielsweise ein Recht der Selbstverteidigung, aber Herrschaft über andere Dinge folge ausschließlich aus der Herrschaft des vernunftbegabten Wesens über sich selbst und seine Handlungen.124 Die spanische Spätscholastik spielte wegen dieses Versuches eine wichtige Rolle dabei, dem ‚Naturrecht‘ als einer das Recht überwölbenden und grundlegenden Norm eine neue Rolle zu geben. Fernando Vasquez wurde mit seiner kommentierten Fallsammlung der „Controversiae illustres“ (1564) breit rezipiert, in denen er kontroverse Einzelfälle durch Annahmen aus diesem Naturrecht entschied. Er wich nicht von der Idee der Einrichtung der Obrigkeit durch Gott ab, unterstrich jedoch, vor der Einrichtung dieser Obrigkeit hätten sich alle Menschen in einem Stande der Gleichheit befunden und gezielt eine societas bona fide, ein Zusammenleben zur Erfüllung gemeinsamer Zwecke, errichtet. Zur Schlichtung von Streitigkeiten sei dann die Obrigkeit im Richteramt eingesetzt worden. Die letzte Ursache aller menschlichen Handlungen bleibt Gott. Die Einsetzung einer konkreten Obrigkeit ließe sich jedoch auf die willentliche menschliche Einsetzung spezifischer Personen und Regimente zurückführen.125 Vasquez unterschied also zwischen der Geselligkeit der Menschen zur Gemeinschaftsformung und der Einrichtung konkreter Obrigkeiten.126 Die völlige und unwiderrufliche Herrschaftsübertragung des römischen Rechts vom Volk auf den römischen Kaiser wurde von Vasquez als besonderer historischer, andere Gemeinwesen nicht bindender Vorgang gedeutet. Die Rolle des Herrschers verglich er mit der Rolle eines Mandatars gegenüber den eigentlichen Eigentümern der Herrschaftsrechte. Keineswegs das Volk selbst, wohl aber seine möglichen ständischen Vertreter erhielten so potentiell eine Handhabe zur Kontrolle der monarchischen Spitze. Vasquez zog daraus die Konsequenz, nicht allein der unrechtmäßig die Herrschaft ergreifende Usurpator könne als Tyrann bekämpft werden, wie bereits Thomas von Aquin zugestanden hatte, sondern auch der rechtmäßig eingesetzte, dann jedoch rechtsbrecherisch handelnde Tyrann.127 Das galt insbesondere, wenn er gegen __________ 124

Domingo de Soto, Libri decem de justitia et iure, iv, q 2 a 2; q 7 a 1; q1 a 2, 1556, Antwerpen 1567. 125 Vgl. Gustaaf Pieter van Nifterik, Vorst tussen Volk en Wet: over Volkssoevereiniteit en Rechtsstatelijkheid in het Werk van Fernando Vázquez de Menchaca (1512-1569), Rotterdam/Gouda, 1999, S. 367. 126

Ebd., S. 367; Brett, Liberty (Anm. 49), S. 173.

127

Nifterik, Vorst tussen Volk en Wet (Anm. 125), S. 350-58.

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seine Hauptaufgabe handelte – die Verteidigung des christlichen Glaubens, also der katholischen Kirche. Weniger die Befugnisse des Papstes zur Verteidigung der Religion gegen Tyrannen, auf die auch die spanische Spätscholastik zurückkam – etwa Mariana – sondern die Differenzierung der konkreten Herrschaftsordnung von einem Zustand vor der Einrichtung des Staates wurde breit auch im protestantischen Lager rezipiert. Sie ermöglichte, mit dem Hinweis auf die konditionale Einsetzung des Herrschers durch das Gemeinwesen ein Recht des Gemeinwesens als korporativer Herrschaftsordnung gegenüber dem Herrscher zu verorten. Neben die Lehre von der universitas trat so die Lehre von der allgemeinen und systematischen, aber nicht unwiderruflichen Übertragung ihrer Rechte auf die Herrschaft, sofern diese den in sie gesetzten Zwecken entsprach. Das wohl prominenteste Beispiel der Rezeption dieser Figur ist vielleicht weniger Althusius selbst, der zwar beispielsweise Vasquez rezipierte, für den der Vertrag aber keineswegs eine so wichtige Funktion in seinen widerstandsrechtlichen Überlegungen spielte,128 sondern der calvinistische Theologe Samuel Rutherford. Charakteristisch für dessen Lex Rex von 1644 ist die systematische Rezeption und Integration der spanischen Spätscholastik und ihrer zentralen Thesen. Sein Buch ist daher auch geradezu als „thomistisches Werk“ gekennzeichnet worden.129 Rutherford geht von der Übereinstimmung der göttlichen Offenbarung mit dem Naturrecht aus. Entsprechende Passagen von Calvin130 aufnehmend, habe Gott das Naturrecht in unser Gewissen und in die Offenbarung geschrieben, auch wenn seine Kenntnis durch den Sündenfalls verdüstert sei – Selbstverteidigung und Fortpflanzung blieben freilich bekannte Bestandteile. Gottes Eigenschaften, die Trinität, wie Gott zu verehren sei, seien jedoch nur der Offenbarung zu entnehmen. Rutherford ging weiter davon aus, dass ein beträchtlicher Teil der im Alten Testament zwischen Gott und seinem Volk gemachten Abmachungen nach wie vor bindend seien und unbedingt

__________ 128 Vgl. Gerald Hartung, Althusius’ Vertragstheorie im Kontext spätmittelalterlicher Jurisprudenz und Scholastik, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 16032003, Berlin 2004, S. 287-304. 129 Samuel Rutherford, Lex, Rex – or the Law and the Prince, London 1644; John Coffey, Politics, Religion, and the British Revolutions. The mind of Samuel Rutherford, Cambridge 1997, S. 152. 130

Calvin, Institutio (Anm. 77), II 8.1.

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eingehalten werden müssten – insofern hob auch er auf Aspekte der Figur des Bundes ab.131 Der Kern seines widerstandsrechtlichen Argumentes liegt jedoch in der Behauptung, alle Gemeinwesen hätten zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Herrscher bestimmt und könnten ihre Unterwerfung gegebenenfalls zurückziehen. So sehr alle weltliche Obrigkeit letztlich von Gott komme, die „power of government“, ist doch die konkrete Herrschaftsordnung im Gemeinwesen und die Person des Magistrates (die „power of government by magistracy“) durch das – korporative – Volk eingesetzt. Hierfür griff Rutherford umfangreich auf Autoren der spanischen Spätscholastik zurück.132 Freilich ging Rutherford in manchen Formulierungen noch einen Schritt weiter, vor allem weg von Aristoteles, obwohl er sich stringent vor allem auf Suarez bezog. Beispielsweise: „Politic power of government agreeth not with man [Hervorhebung des Verf.], singly as one man, … except in that root of reasonable nature … and Suarez saith, the power of making laws is given by God as a property flowing from nature … We are to distinguish between a power of government, and a power of government by magistracy…. that we defend ourselves by devolving our power [as before the institution of magistracy] in the hands of one or more rulers [and] … that it is natural for the child to expect help against violence from his father for which cause I judge that learned Senator Ferdinand Vasquez said well, that princedom, empire, kingdom or jurisdiction hath its raise from a positive and secondary law of nations …. Therefore ... I conceive all jurisdiction of man over man to be as it were artificial and positive, and that it infers some servitute where of nature from the womb has freed us…“.133 Dies war nun nicht, was Suarez und Vasquez gemeint hatten. Das Moment der Künstlichkeit, bezogen auf die Einrichtung von Herrschaft durch den Menschen, welche ihm eigentlich widerstrebe, ist ein bezeichnendes Abrücken von wichtigen aristotelischen Gemeinplätzen. Wir sprechen hier freilich weder von einer ausgebreiteten Theorie des Naturzustandes, noch von einem säkularen Naturrecht noch eines dann Herrschaft konstituierenden Vertrages, wie bei Hobbes und Pufendorf,134 sehr __________ 131

Siehe die erhellenden Passagen hierzu bei Coffey, Mind (Anm. 129), S. 154-157.

132

Ebd., S. 158.

133

Rutherford, Lex Rex (Anm. 129), Question II, S. 2.

134

Siehe zu Recht die warnenden Bermerkungen bei Coffey, Mind (Anm. 129), S. 160-161, der darauf hinweist, dass Rutherford nicht der Meinung war, einzelne Personen besäßen Herrschaftsrechte, auch wenn er Familienverbände annimmt, die nach dem Fall ohne weitere Herrschaft über sich bestanden hätten.

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wohl aber von der konkreten Herstellung nicht der Herrschaftsordnung als Strukturbedingung menschlichen Lebens – die ist durch Gott befohlen –, wohl aber der Einrichtung konkreter Magistrate, die aufgrund dieser Bestellung an den Zweck der Einrichtung gebunden sind. Rutherford meinte in einzelnen Passagen sogar, selbst die Familie sei, durch die Wahl der Ehepartner füreinander, eine menschliche Herrschaftsordnung, keine natürliche. Rutherford beklagte selbst, dass ihm wie anderen gemeinsame Sache mit den Jesuiten vorgeworfen wurde (Frage XLI). Rutherford seinerseits insistierte auf der göttlichen Einrichtung der königlichen Macht – schon gegen die oben genannten Ansprüche des Papstes – (Frage III, 4), um dann zu zeigen, dass die Person des Herrschers vom – korporativen – Volk bestimmt sei (Frage IV, 1). Die Rede ist hier immer vom korporativen Corpus des populus, der universitas als Herrschaftsordnung, nicht von der multitudo, der Summe der einzelnen Untertanen. Entsprechend kam für Rutherford in der Regel auch nicht in Frage, das Naturrecht der Selbstverteidigung direkt gegen die Krone einzusetzen, auch wenn diese tyrannisch handele, sondern nur durch die Repräsentanten des kollektiven Gemeinwesens – ganz entsprechend der Argumentation Melanchthons und der lutherischen Juristen, und den Formulierungen im National Covenant. Dies fügte sich nahtlos in die verfassungsrechtliche Erklärung des Bürgerkrieges, welchen die Stände in London und Edinburgh angeblich zur Verteidigung der Königreiche und der Person und Majestät des Königs führten.

VII. Klassische Topoi und Modelle des Verfassungslebens Die Orientierung an klassischen Topoi des Verfassungslebens umfasste Beispiele aus der Geschichte Athens und Spartas, des Kampfes gegen Cäsar und die Schriften von Cicero und Livius, die Betonung der Wünschbarkeit und, unter gegebenen Umständen, Machbarkeit freien Bürgerlebens durch die Elite der Tugendhaften, der Aufruf zum Kampf gegen den Tyrannen. Die Beschreibung und Analyse dieser Topoi gerät in der gegenwärtigen Forschungslandschaft leicht zwischen Scylla und Charybdis. Einerseits darf der illustrierende Rückgriff auf Topoi aus den klassischen Texten der antiken Literatur, von der griechischen Philosophie und Geschichte bis hin zur römischen Geschichte, die als Reflexionshintergrund Allgemeingut weiter Teile des lesenden Publikums waren, nicht überbewertet werden. Allzu viele gänzlich unterschiedliche Thesen und Argumente ließen sich mit klassischen Belegen verbinden. Andererseits sollte die Schubkraft solcher Vorbilder auch nicht völlig ausgeblendet werden. Balance und Bedachtsamkeit werden dadurch nicht einfacher gemacht, dass der Begriff „Republikanismus“ – als Zielvorstellung einer königsfreien Verfassung auf der Grundlage von Bürgerrechten und Bürgertugenden – durch Hans Baron in einem Aufsatz von 1939 in die

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Wissenschaftssprache eingeführt wurde, freilich damals noch als „Calvinist Republicanism“ unter dem Einfluss der Troeltsch’schen Reflexion.135 Im Kontext des Zusammenbruchs der deutschen Monarchien 1918, des Scheiterns der Republik von Weimar und der Nazi-Diktatur im Deutschland der Dreißiger Jahre entwickelte der Emigrant Baron erste Ansätze der These, es habe im Europa der frühen Neuzeit unter bestimmten Konstellationen einen grundsätzlichen Gegenentwurf zur Monarchie als Herrschaftsform gegeben, orientiert an dem Kampf der tugendhaften Bürger gegen den Tyrannen bei Cicero und anderen klassischen Autoren.136 In seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1980 löste dann Quentin Skinner die Debatte um Republik und Widerstandsrecht von dem vermeintlichen calvinistischen Nährboden und wies darauf hin, nicht allein hätten die Lutheraner seit den 1530er Jahren längst die Argumente entwickelt, die später als Erfindung der calvinistischen Monarchomachen missverstanden worden seien, diese Argumenten ruhten selbst in mittelalterlichen politischen und juristischen Diskussionen.137 Angesichts der komplexen und kontroversen Forschungslage, die sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat, sind die folgenden vier Punkte der Behandlung klassischer Topoi von Bürgertugend und Tyrannenbekämpfung vorauszuschicken. (1) Das Bild der Stadt als eigentlicher Ort des politischen Lebens, von manchen Zeitgenossen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als Ort der __________ 135 Hans Baron, Calvinist Republicanism and its Historical Roots, in: Church History 8 (1939), S. 30-42. 136 Die Sekundarliteratur zu den sozial- und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen der 20er und 30er Jahre ist inzwischen beachtlich, vgl. nur Schorn-Schütte, Alteuropa oder frühe Moderne (Anm. 35). Speziell zu Baron Friedrich Wilhelm Graf, Tagtraum vom Bürgerhumanismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.6.2000, Nr. 144; Friedeburg, Widerstandsrecht (Anm. 17), S. 46-49. 137 Skinner, The Origins (Anm. 77), S. 309-330, 316-317 zu Luther, Melanchthon und dem Magdeburger Bekenntnis, vor allem zur Frage des Notwehrrechts, S. 319-323 zu den diesbezüglichen mittelalterlichen Diskussionen. So einschneidend Skinners Insistenz auf dem Abrücken von der einseitigen Bedeutung des Calvinismus als Konfession und der Berücksichtigung mittelalterlicher juristischer Debatten als Grundlage frühneuzeitlicher Diskussionen ist, ist seine ‚moderne‘ Deutung von deren Implikationen, insbesondere zum ‚revolutionären‘ Charakter ihrer Anwendung, doch problematisch, weil sie die engen Grenzen, die bereits Zeitgenossen dem Notwehrrecht oder dem Selbstverteidigungsrecht setzten, nicht deutlich genug macht. Vgl. Böttcher, Ungehorsam (Anm. 28), S. 83-97; Friedeburg, Widerstandsrecht (Anm. 17), S. 56-57; Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Landespatriotismus, in: Benedictis/Lingens (Hg.), Wissen (Anm. 17), S. 267-326, 275-279; Robert von Friedeburg, „Confusion“ around the Magdeburg Confession and the Making of „Revolutionary Early Modern Resistance Theory“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 97 (2006), S. 307-318, 311-15.

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Bürgerfreiheit hochgehalten,138 war in der Folge der christlichen Rezeption seit Augustinus durch das Scheitern nicht allein der griechischen Städte, sondern auch der Republik Roms, und der Funktion des späteren Kaiserreiches als Schutz der christlichen Kirche gegen die heidnischen Barbaren tief beeinflusst. Es ließ sich auf die klassischen Autoren zurückgreifen, ohne im Mindesten von der Überlegenheit der Stadt als Lebensform oder etwa partizipatorischen Idealen stadtbürgerlichen Lebens überzeugt zu sein.139 (2) Stattdessen blieb vor allem die Geschichte der römischen Republik ein tief in die lateinische Christenheit eingeschmolzener Reflexionshintergrund, der mit der Bedeutung von Monarchien und Adel, von Untertanen und Gehorsam, weithin abgeglichen war. Die Terminologie des ‚Bürgers‘ war in der Aristoteles-Rezeption zur Beschreibung abgestufter hierarchischer Verpflichtungs- und Gehorsamsverhältnisse geworden, von Adel und Patriziaten als leitenden Bürgern bis hin zu Knechten als Bürgern mit beschränkten Rechten.140 (3) Dieser Einpassung entsprach der Verfassungsrelativismus breiter Teile der Rezeption. Ein Beispiel ist der inzwischen recht gut untersuchte Ptolemaeus von Lucca, ein Schüler Thomas von Aquins, der den größten Teil der Bücher 2, 3 und 4 der Schrift „De Regimine“ verfaßte, obwohl als Autor des Werkes in der frühen Neuzeit allein Thomas von Aquin bekannt war.141 In einigen der Lucca zugeschriebenen Teile wird das städtische, etwa in Lucca selbst praktizierte, regimen politicum des Ämtertauschs unter den Bürgern dem sogar als despotisch bezeichneten dominium regale schroff gegenübergestellt. Hier schien eine prinzipielle Überlegenheit der Bürgerkommune behauptet, die nicht zuletzt mit 1. Samuel 12 auch biblisch untermauert wurde.142 Lucca wich jedoch im 4. Buch von __________ 138

Vgl. Algernon Sidney, Court Maxim, hg. von Hans Blom u.a., Cambridge 1996, S. 20: „Polis signifies a city, and politeia is nothing but the arto fo governing cities or civil societies… we nees seek no other definition of a happy human life in relation to this world then that wet down by Aristotle…“. 139 Janet Coleman, Images of the City and its Citizen in Late Antiquity and the Renaissance, in: Zweder von Martels/Victor M. Schmidt (Hg.), Antiquity Renewed, Leuven 2003, S. 35-62. 140 Christoph Flüeler, Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politik im späten Mittelalter, Amsterdam 1992. 141

Vgl. James M. Blythe, The Treatise On the Government of Rulers, in: Ptolemy of Lucca, On the Government of Rulers. De Regimine Principum. With portions attributed to Aquinas, hg. von James M. Blythe, Philadelphia 1997, S. 1-59. 142

Thomas von Aquin [Ptolemaeus von Lucca], De Regimine Principum, hg. von J. Mathis, Turin 1924, Buch II, c 8 und 9. Vgl. hierzu Ulrich Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, München 1994, S. 118-120.

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dieser Einteilung ab, unterschied nun gleichwertig und relativistisch die monarchische Herrschaft des Papstes und der weltlichen Fürsten, die Aristokratie und die Politie,143 und befürwortete die monarchische Herrschaft des Papstes über Italien, weil sie alleine im Kampf gegen die fremden Kaiser Erfolg verspreche. Befürwortung der Teilhabe der Bürger am Regiment in der Stadt und Bevorzugung monarchischer Herrschaftsform für größere Gebiete schlossen sich keineswegs aus.144 Was für ein Dorf oder eine kleine oder größere Stadt oder ein bestimmtes Gemeinwesen zu einem bestimmten Zeitpunkt taugen mochte, das mochte nicht für andere Gemeinwesen taugen. (4) Selbst nachdem im Florenz Savonarolas der relativistischen Dreiteilung möglicher legitimer Herrschaftsformen – Monarchie, Aristokratie, Politie – die Gegenüberstellung von Republik – als Aristokratie oder Politie – und Fürstenherrschaft zur Seite gestellt wurde,145 entsprach auch dieser neuen dualen Typologie der Regierungsformen keine prinzipielle Bevorzugung der Republik. Es ist bislang kein einziger frühneuzeitlicher Autor bekannt geworden, der sich grundsätzlich unter allen Umständen zur Überlegenheit oder Wünschbarkeit der Republik bekannt hätte. Selbst ein lange Zeit als unbezweifelbar ‚republikanisch‘ geltener Autor wie John Milton, der in diversen in ganz Europa beachteten Streitschriften die Hinrichtung Karls I. 1649 und die ‚Republik‘ England rechtfertigte, hielt daran fest, dass die Fähigkeit zur Organisation der Bürgerkommune von der Tugend der Bürger abhängig blieb, die tugendhaften Bürger aber nur unter Teilen der gesellschaftlichen Elite oder gar nicht anzutreffen seien. Er hielt natürlich auch, wie die von ihm so hoch geschätzten klassischen Vorbilder, daran fest, ein Fürst und oberster Gesetzgeber, der durch seine tugendhaften Maßnahmen das Gemeinwesen zur Tugend hinführen könne, sei, wenn er denn zu finden sei, für dieses Ziel ebenso geeignet oder sogar geeigneter als andere Formen der Regierung. Es ist die Frage, ob der Begriff des „Republikanismus“ hier mehr erhellt oder vernebelt. Der an der Antike orientierte „klassische Republikanismus“ hatte jedenfalls mit dem, was darunter im 19. Jahrhundert verstanden wurde, kaum etwas zu tun.146 Verfassungsrelativismus – nicht unbedingte Bevorzugung einer bestimmten Verfassung, geschweige der Politie – und __________ 143

Lucca, De Regimine (Anm. 142), Buch III, c 10-11; Buch IV, c 1.

144

Charles T. Davis, Roman Patriotism and Republican Propaganda: Ptolemy of Lucca and Pope Nicholas III, in: Speculum 50 (1975), S. 411-433. 145 Vgl. David Wootton, The True Origins of republicanism, or de vera republica, in: Manuel Alberatone (Hg.), Il repubblicanesimo moderno, Neapel 2006, S. 1-20. 146 William Walker, Paradise Lost and the Forms of Government, in: History of Political Thought 22 (2001), S. 270-299; Rahe, Milton (Anm. 13), S. 243-275.

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„differential moral and political rationality“,147 also die Überzeugung der besonderen und überlegenen Tugenden bestimmter und eingeschränkter Personengruppen als Voraussetzung des Lebens in der Republik, kennzeichneten diesen „klassischen Republikanimus“.148 Sicherlich können wir jedoch von einer mehr oder minder markanten Orientierung an klassischen Vorbildern sprechen, bei denen die Bürgertugend und der Streit zur Verteidigung der Freiheit – in der Regel bestimmter privilegierter Gruppierungen – gegen den Tyrannen mit Bezug auf Cicero und andere klassische Autoren eine wichtige Rolle spielte. John Miltons Rechtfertigung der Hinrichtung Karls I., die Schrift „The Tenure of Kings and Magistrates“, orientierte sich beispielsweise wesentlich an Ciceros kompromissloser Verdammung des Tyrannen, der die Freiheit der Bürger bedroht. Da an Karls Händen das Blut seiner Untertanen klebe, musste er bestraft werden: „As for mercy, if it be to a Tyrant, under which Name they themselves have cited him so oft in the hearing of God, of Angels, and the holy Church assembl’d, and there charg’d him with the spilling of more innocent blood by farr, then ever Nero did, undoubtedly the mercy which they pretend, is the mercy of wicked men; and their mercies, wee read are cruelties; hazarding the welfare of a whole Nation, to have sav’d one, whom so oft they have tearm’d Agag; and vilifying the blood of many Jonathans, that have sav’d Israel.“149 Die biblischen Beispiele des frommen Milton dürfen diese Orientierung nicht verdecken. Nicht zuletzt musste es ihm darum gehen, die Verunglimpfung der Machtübernahme der Armee als widerrechtliche Aktion einzelner privater Untertanen zu entkräften, und hier schienen nicht zuletzt alttestamentliche Argumente gegen die Geistlichen die geeignete Waffe.150 In seiner Rechtfertigung der Hinrichtung Karls und seiner Verteidigung Englands kommen eine ganze Reihe von Argumentationssträngen zusammen. Um die Behauptungen des niederländischen Gelehrten und Kontrahenten Salmasius, die Herrschaft der Könige resultiere nicht aus dem Gemeinwesen, und Könige seien berechtigt, die Gesetze zu machen, zu widerlegen, suchte Milton vor allem auch unter kontinentalen protestantischen Geistlichen Zeugen für die Legitimität der Hinrichtung. Es werden neben Zwingli, Bucer und Pareus auch __________ 147

Rahe, Milton (Anm. 13), S. 249.

148

James Hankins (Hg.), Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections, Cambridge 2000. 149 John Milton, The Tenure of Kings and Magistrates, London 1650. Interpretation und Sachverhalt bleiben umstritten, vgl. Dzelzainis, Anti-Monarchism (Anm. 93). 150 Martin Dzelzainis, Introduction, in: John Milton, Political Writings, Cambridge 1991, S. ix-xxv, xiii.

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Luther genannt. Die Unterscheidung von König und Tyrann, Cicero und die vierte Philippica zum Kampf gegen Cäsar, verschiedene Beispiele zur Auseinandersetzung von David und Saul, und das Problem der lex regis (1. Sam 8) werden diskutiert.151 Die Handlungsverpflichtung liegt bei der Minderheit der Tugendhaften – wie auch bei Cicero –, der pars potior und pars sanior. Das waren schon bei Marsilius von Padua Formulierungen für die gesellschaftliche Elite der Tugendhaften, welchen die Leitung des Gemeinwesens obliege.152 Diese eigentümliche Mischung zwischen dem Alten Testament und dem Tyrannenkampf der Antike erlaubte es Milton, auch die ohne jede Fundierung im Herkommen agierende Armee und ihre Führer zu legitimieren. Andere Beispiele zeigen ebenfalls die enorme Spannbreite klassischer Exempla und ihre Einbettung in andere Argumentationszusammenhänge. Beispiele für die überragende Rolle solcher Vorbilder sind u.a. Johannes Althusius (das Ephorat), George Buchanan (aktive Entfaltung der Bürgertugend im Gemeinwesen, auch und gerade im Kampf gegen den Tyrann), und Theodor Beza. Insbesondere die jüngere Althusius-Forschung zeichnet sich dadurch aus, auf die Vielfalt der Argumente und Bausteine der „Politica Methodice Digesta“ hingewiesen zu haben.153 Wichtige normative Grundideen ruhen u.a. in dem Versuch, die Politik als eigenständige Disziplin der bedingten Vervollkommnung des Menschen im Gemeinwesen zu beschreiben, und auf den nötigen Einsichten in die Struktur der Tugend – und daher der Herrschafts- und Politikfähigkeit der Menschen in Verbänden – sowie der sich daraus zwingend __________ 151 John Milton, Pro Populo Anglicano Defensio, contra Claudii anonymi, alias Slamasii, Defensionem Regiam, London 1651, S. 25, 33, 37, 41, 49 f., 59, 88-89, 102108, 123, 127. 152 153

Vgl. Rahe, Milton (Anm. 13).

Vgl. vor allem Bonfatti/Duso/Scattola, Politische Begriffe (Anm. 73). Ich spare mir hier die Auseinandersetzung um die Frage, wie es bei Althusius mit dem foedus als Verfassungsgrundlage steht – ich folge hier Horst Dreitzel und Hasso Hofmann. Verfassungsrechtlich ruht die „Politica“ nicht auf den consociationes privatae oder publicae, sondern auf dem Imperium des regnum, auf der Figur des Staates als universitas der Rechtsperson des Personenverbandes, und der Repräsentation dieser Rechtsperson durch den König und die Ephoren. Die Kirchenverfassung bei Althusius wiederum ist „radikal staatskirchlich“, vgl. Dreitzel, Althusius (Anm. 73), S. 49-112, hier 58-59, Anm. 25 und zu Althusius, Politica (Anm. 42), c. VIII, n. 6-39, hier n. 58. Zu Recht hebt Dreitzel hervor, dass der Herborner Theologe Wilhelm Zepper in seinem Widmungsbrief an Graf Philipp Ludwig von Nassau-Dillenburg den Grafen mit Moses, David und Salomon, mit Konstantin und Theodosius gleichsetzt und als von Gott eingesetzten Vater der Kirche beschreibt. Zepper hebt bei seiner Begründung der Position des Fürsten denn auch auf „eine Konstitution des Kaisers Justinian“ und das Corpus Iuris Civilis ab.

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ergebenden Organisation des Staates. Dazu gehört sowohl die Zwangsgewalt der Magistrate, aber auch die Zwangsgewalt gegen Magistrate, die selbst als menschliche Sünder den Versuchungen der Herrschaftsausübung ständig zu erliegen drohen.154 Und hierzu sind eben in allen menschlichen Gemeinwesen Ephores eingerichtet. In besonderen Not- und Gefahrensituationen rekurrierte Althusius auf Cicero und die Notlagen Roms, wenn die Bürger zur Verteidigung des Gemeinwesens aufgerufen werden.155 Bei George Buchanan wiederum ist die Tugend der Bürger und ihre Vernunft konstituierend für ihre Fähigkeit, den Herrscher wie einen Kurpfuscher auszuwechseln, wenn seine Medizin die Falsche ist.156 Bei aller Problematisierung der Leidenschaften des Volkes bleibt es doch am Ende bei klassischen Verfassungsvorbildern (wie den Ephoren) und Verfassungsproblemen – der Bürgertugend, bei Althusius aufgehoben in der Tugend der Magistrate.

VIII. Selbstverteidigung und Notwehr Erst auf einer entweder mit Hilfe von Naturrecht und Herrschaftsvertrag (z. B. Rutherford) oder mit Hilfe des historischen Verfassungsrechts konstruierten Rechtsgrundlage ergaben sich dann die Möglichkeiten, den dem Tyrannen nachgeordneten Obrigkeiten Pflicht und Recht zur Verteidigung von Religion, Vaterland und Untertanen zuzusprechen. Die Rede von der Notwehr erlaubte, gegen den Tyrannen als Privatperson oder seine Büttel auch nachgeordneten Obrigkeiten, teils selbst einzelnen Untertanen, die Handhabung von Gewaltsamkeit zuzusprechen.157 Das entband von der mühsamen Notwendigkeit, ein Recht der Stände und Vasallen auf Gewaltanwendung gegen den Fürsten und Lehensherren im historischen Verfassungsrecht nachzuweisen. Hinweise auf Selbstverteidigung und Notwehr begründeten also nicht __________ 154 Vgl. Robert von Friedeburg, Persona and office: Althusius on the formation of magistrates and councillors, in: Conal Condren u.a. (Hg.), The Philosopher in Early Modern Europe, Cambridge 2006, S. 160-181. 155 Althusius, Politica (Anm. 42), 31614, c. XXXVIII, n. 48, n. 68; vgl. Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht, Untertanen und Vaterlandsliebe: Die Politica des Johannes Althusius von 1614 und ihre Rezeption in einem ständisch-fürstlichen Konflikt (1647-1652), in: Carney/Schilling/Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz (Anm. 128), S. 261283. 156 George Buchanan, A dialogue on the law of kingship among the Scots: a critical edition and translation of George Buchanan’s „De Iure regni apud Scotos dialogus“, hg. von Roger A. Mason/Martin S. Smith, Aldershot 2004. 157

Friedeburg, Wegscheide (Anm. 92), S. 579-581, 601 f., 605 f.

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unmittelbar ein Widerstandsrecht, sie verhalfen aber von der Feststellung des Rechtsbruchs zur Feststellung eines Rechtes auf Gewaltanwendung im Angriffsfall. Freilich galt auch dieses Recht in seiner Ausübung und Reichweite nur beschränkt, wie es schon das Magdeburger Bekenntnis formulierte, je nachdem wessen Standes einer war. Der Schmalkaldische Bund begründete sein Recht zur bewaffneten Verteidigung gegen eine mögliche Exekution des Wormser Ediktes von 1521 nach der Aufhebung von dessen Suspension auf dem zweiten Nürnberger Bundestag im Mai 1534, „Wo dan ... rechtliche Wege nit helfen, ... haben die geschickten vor bequem und notwendig erachtet, ... anzuzeigen, das sich niemands ... zu ahn- und ingrif oder einicher tetlichen handelung wolt bewegen lassen, damit man nit gedrungen, sich zur von natur und recht zugelassenen gegenwehre zu richten“.158 Gemeint ist hier das Recht der Reichsstände, sich und ihre Untertanen gegen widerrechtliche Angriffe, auch des Kaisers, zu wehren. Diese Option organisierter Gewaltanwendung stand jedoch allein ihnen als Obrigkeiten zu. Erst ab 1543 sollte Melanchthon zwischen der vindicta, der allein der Obrigkeit zustehenden Rache, und der Notwehr unterscheiden, die als Naturrecht nicht allein einzelnen Untertanen bei der Abwehr von Dieben vom eigenen Haus, sondern auch Gruppen von Untertanen etwa bei der Abwehr spanischer Soldaten zukomme.159 Wir finden die Notwehr als Naturrecht beim Schmalkaldischen Bund ebenso wie bei Rutherford und seinem lawful defensive War der schottischen und englischen Stände. Diese Figur verband sehr unterschiedliche Argumentationsfiguren mit dem Recht zur Gewaltsamkeit.

C. Ausblick Im Schatten der Debatten der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geriet allzu schnell in Vergessenheit, was Gelehrte wie Gottlieb von Polenz noch wussten, dass die Calvinisten in Frankreich nach 1584 zu den treuesten Anhängern der absoluten Monarchie wurden. Hugenottische Prediger wie Pierre Jurieu, ein Enkel Pierre Du Moulins, pries Ludwig XIV. noch 1682 als ‚Größten aller Könige‘ – es gäbe keinen Protestanten in Frankreich, der den König nicht anbete („Il n’y a point de Protestant dans le Royaume qui ne venere, je puis dire qui n’adore Votre Majestey, comme le plus brillante Image que Dieu ait posé de luy même sure la Terre.“). Noch 1683, zwei Jahre vor der __________ 158 Eckehart Fabian (Hg.), Die Schmalkaldischen Bundesabschiede 1533-1536, Tübingen 1958, Abschied des II. Bundestags zu Nürnberg vom 17.5. bis 26.5. 1534, vom 26.5.1534, S. 37-52, hier 43. 159 Diskussion dieser Problemlage bei Friedeburg, Magdeburger Argumentationen (Anm. 62), S. 399-413.

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Widerrufung des Ediktes von Nantes, die Jurieu selbst zum Flüchtling machte, schrieb er über die calvinistischen Reflexionen der Möglichkeiten des organisierten Widerstandes gegen einen Tyrannen durch den Schotten Buchanan oder den Deutschen Pareus nur in distanzierender Weise. Sie seien die einzigen Königsmörder, die den Calvinisten zur Last gelegt werden könnten.160 Im Widerstandsrecht selbst, also in der affirmativen Reflexion der organisierten Gewaltanwendung gegen rechtlich eingesetzte höchste Magistrate, lässt sich jedem konfessionellen Beispiel ein Gegenbeispiel derselben Konfession entgegenstellen – vom lutherischen Henning Arnisaeus über den calvinistischen Jakob VI. bis hin zur katholischen Politica besaßen alle Konfessionen viele Autoren, die jedes Widerstandsrecht praktisch völlig ablehnten. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert ist es aber die lutherische und reformierte Konfession, aus der wohl auch ein Pierre Jurieu und Johann Friedrich Horn, aber eben auch die Pufendorf und Treuer, die Bayle und Locke hervorgehen. Hier geht es freilich weniger um die Weiterentwicklung von Widerstandsrecht im engeren Sinne, sondern vielmehr um Veränderungen der Grundlagen des Gemeinwesens, um die Forderung nach der Unabhängigkeit des Staates von den Konfessionskirchen, um den Schutz des einzelnen Untertanen in der Ausübung seines Glaubens. Solche Forderungen konnten gerade auch mit dem Ruf nach einem starken Fürsten einhergehen, etwa bei Thomasius.161 Wie einschneidend diese Veränderungen waren, lässt sich mit der Formulierung, das Recht auf Widerstand sei von einem Recht auf Revolution abgelöst worden, nur bedingt zusammenfassen. Die Formulierung vom „Zusammenbruch der Herrschaft des Rechts“162 erinnert jedoch daran, dass neue Auffassungen von der Gesellschaft, vom Fortschritt, vom Glück hinieden Anforderungen an die Herrschaft herantrugen, die mit Hinweisen auf das Alte Recht oder die Bibel nicht mehr zu bändigen waren und sich solcher Quellen auch nur mehr bedingt bedienten. Indem der menschliche Sünder, der der Herrschaftsordnung hinieden über sich unbedingt bedarf und der allein in der Anleitung der wenigen Tugendhaften und Klugen zum Handeln in der Lage __________ 160

Kretzer, Calvinismus (Anm. 122), S. 401 f., 408.

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Horst Dreitzel, Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus. Thomasius und die Destruktion des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S.17-50. 162 Vgl. aber Volker Sellin, The Breakdown of the Rule of Law: A comparative view of the depositions of George III, Louis XVI and Napoleon I, in: Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy (Anm. 21), S. 259-289.

Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente in der frühen Neuzeit

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ist, gegenüber dem räsonierenden Urteil der aufgeklärten Vernunft zurücktrat, und sich in der Nation das kollektive Handeln für Fortschritt und Vernunft verdichtete, blieb kaum mehr Bedarf für ein Widerstandsrecht, dessen Grundlage das unbedingte Festhalten an Herrschaft und Gehorsam blieb. Gleichwohl hinterließen die widerstandsrechtlichen Debatten Spuren, beispielsweise in der Verdichtung der diversen Rechtskorpora zu geschriebenen Verfassungen und in der Neukonstituierung des Naturrechts als säkularem Recht. Eine weitere wichtige, bis heute jedoch wenig verfolgte Spur soll hier hervorgehoben werden. Es geht um die Patrioten, die Träger der Verantwortung für das Gemeinwesen, die Vorfechter der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Ihre kontroverse Rolle im Jahrhundert der Aufklärung und im 19. Jahrhundert hat den Tatbestand überschattet, dass der Neologismus vom ‚Patrioten‘ keineswegs erst im 18. Jahrhundert, sondern bereits seit den 1580er Jahren in den europäischen Sprachen Verbreitung fand und dem Adel und den Ständen, dem sozialen Substrat der prudentes und sapientes, keineswegs eine neue Gruppe zugesellte, aber einen neuen Namen gab.163 So sehr sich freilich hinter den Patrioten des späteren 16. und des 17. Jahrhunderts Adel und Stände und deren Überzeugung verbargen, sie seien die prudentes und sapientes, die zur Führung von Volk und Gemeinwesen rechtlich Privilegierten und funktional allein Befähigten, so spiegelte das neue Wort doch zugleich die Möglichkeit, dass auch andere als Patrioten qualifiziert seien, dass die mittelalterliche Selbstverständlichkeit adliger Vorrechte mit Argumenten begründet wurde, die auch anderen Ansprüche sichern mochten. Zwischen den 1660er Jahren, in denen Althusius noch zitiert wurde, und den 1730er Jahren und den Veröffentlichungen von Montesquieu liegt mit der beginnenden Aufklärung eine so fundamentale Veränderung der konzeptionellen Landschaft der europäischen Debatten, dass solche Entwicklungen nur behutsam und am konkreten Quellenbeispiel verfolgt werden sollten. Wir tun jedoch gut daran, die frühe Neuzeit nicht für konservativer zu halten, als sie war. Schon Althusius und Boxhorn sprachen der Elite der Tugendhaften Pflicht und Recht zur Verteidigung des Gemeinwesens zu, aber erinnerten auch daran, der nur ererbte Adel qualifiziere keineswegs zur Tugend.164 Da es beim Streit um ein Recht zum Widerstand immer auch zum Streit darum kommen musste, wer berechtigt __________ 163

Robert von Friedeburg, Einleitung, in: ders. (Hg.), Patria und Patrioten (Anm. 103); ders., „Patrioten“ in der frühen Neuzeit: Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten im Verlauf von Konfessionalisierung und europäischen Mächtekonflikten, in: Luise Schorn-Schütte u.a. (Hg.), Wege der Neuzeit. Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag, Berlin 2007, S. 431-456. 164 Johannes Althusius, Dicaelogicae libri tres, Frankfurt a.M. 1649, I, 26, 14; Marcus Zuerius Boxhorn, De vera nobilitate ..., Leiden 1635.

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sei, im Zweifel das Schwert zu führen, kreisten Debatten um ein Widerstandsrecht nicht allein um die verfassungsrechtliche Einrichtung eines Gemeinwesens oder das Verhältnis der Menschen zum Schöpfergott, sondern auch um die Natur der Tugendhaften in der Gesellschaft, ein Streit, der durch die einschneidenden philosophischen Veränderungen des 17. Jahrhunderts direkt und indirekt mit beeinflusst wurde. Im Streit um die Rechte des Adels und die Natur der Patrioten, also um Wesen und Begründung gesellschaftlicher Hierarchie, spiegelten sich im Widerstandsrecht möglicherweise wichtigere Entwicklungen der Neuzeit als bei der vermeintlichen Perhorreszierung von Obrigkeit und Ungleichheit. Beide blieben tragende Elemente menschlichen Zusammenlebens, aber ihre Form sollte sich erheblich wandeln – auch und gerade im Zusammenhang mit den widerstandsrechtlichen Debatten der frühen Neuzeit.

Konfession und Jurisprudenz bei Althusius* Von Dieter Wyduckel, Dresden

A. Althusius als Jurist und calvinischer Christ Julius von Gierke, Sohn des Wiederentdeckers des Althusius, Otto von Gierke, hat ein kleines Gedicht auf Althusius verfasst, das so beginnt: „Er war ein hochgelehrter Jurist, zugleich ein glaubensstarker Christ“1. Damit sind zwei Pole althusischen Denkens und Wirkens umschrieben, die eng zusammengehören und uns im Rahmen dieses Symposiums noch besonders beschäftigen und herausfordern werden. Der erste Teil der dichterisch gefassten Aussage dürfte inhaltlich ebenso wenig in Zweifel zu ziehen sein wie der zweite. Von Althusius und der Jurisprudenz wird sogleich noch die Rede sein, zunächst soll es um das Christentum sowie die Glaubensstärke des Althusius und die diesbezüglichen Auswirkungen auf sein politisch-rechtliches Werk gehen. Man sagt nichts Neues, wenn man darauf verweist, dass das althusische Christentum calvinisch geprägt ist, so dass wir den Gierke’schen Vers so ergänzen können: ein glaubensstarker Christ im calvinischen oder reformierten Sinne. Im Werk des Althusius, insbesondere in seiner „Politica“, kommt dies bekanntlich in der wiederholten Berufung auf die „vera“ oder „orthodoxa religio“ zum Ausdruck.2 Und es besteht kein Zweifel daran, dass Althusius damit die Wahrheit und Richtigkeit des calvinischen Glaubens meint. __________ * Leicht überarbeitete Fassung des Öffentlichen Abendvortrags in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden am 12. Oktober 2006 im Rahmen der Tagung „Konfession und Jurisprudenz“. 1 2

Julius von Gierke, Neues über Johannes Althusius, Köln 1957, S. 11.

Mitunter auch in der doppelten Form als vera religio orthodoxa oder vera & orthodoxa religio, Vgl. Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata (zuerst Herborn 1603, hier zitiert nach der 3. Aufl., Herborn 1614, 2. Reprint, Aalen 1981), cap. XII § 73, cap. XIX § 87, cap. XXVIII § 36. Siehe

Dieter Wyduckel

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Von der „confessio“ im Sinne einer Konfession ist hierbei mehr am Rande die Rede. Althusius meint, wenn er darauf zu sprechen kommt, die Normen des rechten Glaubens oder die feierliche Formel der wahren Religion im Sinne der ordnungsgemäßen und angemessenen Verrichtung der kirchlichen Riten und Aufgaben, wie sie der Heiligen Schrift entsprechen und vom Magistrat festgelegt werden.3 Ein expliziter Konfessionalismus, der von der Existenz verschiedener, nebeneinander bestehender Konfessionen ausgeht, ist damit ersichtlich nicht gemeint. Würde so doch dem religiösen Schisma und der Spaltung, ja dem Aufruhr Vorschub geleistet, die Althusius entschieden ablehnt.4 Von daher liegt ihm der Gedanke, dass es zwei verschiedene, anerkannte Konfessionen protestantischer Prägung geben könne, durchaus fern. Außerhalb seines Gesichtskreises bleiben die Wittenberger Theologie, Jurisprudenz und Politik.5 Luther findet bei Althusius keine Erwähnung, Melanchthon nur im Zusammenhang mit Christoph Pezel, dem des Kryptocalvinismus6 verdächtigten Melanchthon-Schüler7, der, nachdem er Wittenberg verlassen musste, schließlich von Graf Johann d.Ä nach NassauDillenburg berufen wurde und dann als Pfarrer tätig war, um später als Superintendent nach Bremen zu gehen. Gerade Kryptocalvinisten, d.h. des Calvinismus verdächtigte Lutheraner, werden von Althusius ausdrücklich gewürdigt, wie z.B. der Wittenberger Jurist Eberhard von Weyhe, der – aus Wittenberg vertrieben – mehrfach zitiert und als hochangesehener Jurist

__________ auch die deutsche Auswahlausgabe Johannes Althusius, Politik, übers. von Heinrich Janssen, hg. u. eingel. von Dieter Wyduckel, Berlin 2003. 3

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXVIII § 28.

4

Ebd., cap. XXXI § 20.

5

Vgl. Dieter Wyduckel, Einleitung, in: ders. (Hg.), Politik (Anm. 2), S. XXXVII.

6

Zum – unscharfen und zudem polemischen – Begriff des Kryptocalvinismus Helmar Junghans, Kryptocalvinisten, in: Theologische Realenzyklopädie, 20, Berlin 1990, S. 123 ff. 7 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXII § 10. Siehe zu Pezel und seinem Wirken Jürgen Moltmann, Christoph Pezel (1539-1604) und der Calvinismus in Bremen (Hospitium Ecclesiae. Forschungen zur bremischen Kirchengeschichte, 2), Bremen 1958, S. 14 f., 86 ff., 106 ff.; ders., Christoph Pezel, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 6, Tübingen 1961, Sp. 264 f.; Ernst Koch, Christoph Pezel, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., 6, Tübingen 2003, Sp. 1184; Richard Wetzel, Christoph Pezel (1539-1604). Die Vorreden zu seinen Melanchthon-Editionen als Propagandatexte der „Zweiten Reformation“, in: Heinz Scheible (Hg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen, 73), S. 465 ff.

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bezeichnet wird, während dieser sich wiederum kollegial-höflich revanchiert, indem er Althusius einen sehr bedeutenden und hochgelehrten Mann nennt.8 Demgegenüber scheint Althusius das Katholische, das er freilich nicht explizit benennt, im Sinne des Umfassenden, Einheitlichen offenbar nicht anstößig zu sein und zwar wohl deshalb nicht, weil er eben dies, das Umfassende und Einheitsstiftende, auch für seine eigene Glaubensauffassung in Anspruch nimmt. Anderes gilt für das katholische Amtsverständnis, vor allem die Institution des Papsttums, die er entschieden ablehnt, weshalb er von den Katholiken als den Papisten oder Päpstlichen9 spricht. Die Kritik am katholischen Amtsverständnis ist wohl auch der ausschlaggebende Grund dafür, dass Althusius auf dem „Index“ der verbotenen Bücher verzeichnet ist, und zwar mit der Rechtslehre – „Dicaeologica“ – 1620 und mit der Politiklehre – „Politica“ – 1615, also unmittelbar nach Erscheinen der dritten Auflage.10 Die Aufnahme auch der „Dicaeologica“ dürfte wohl eine Folge der Indizierung der „Politica“ gewesen sein. Das Schicksal der Indizierung teilt er mit angesehenen Wissenschaftlern der Zeit, wie dem Herborner Universalgelehrten Johann Heinrich Alstedt, dem gebürtigen Emder Theologen Heinrich Alting sowie weiteren, dem Protestantismus zugeordneten Gelehrten, auch solchen, die, wie der Althusius-Gegner Henning Arnisaeus, der lutherischen Glaubensrichtung zuzurechnen sind.11 Zu den auf dem Index verzeichneten Autoren gehören aber auch andere bedeutende europäische Gelehrte, wie Justus Lipsius und Jean Bodin, beide übrigens katholischen Glaubens.12 Man muss hier jeweils genau zusehen, welche Schriften indiziert sind – es müssen nicht jeweils die Hauptwerke sein – und weiter, ob es sich um eine befristete Aufnahme handelt, d.h. bis zur Korrektur der inkriminierten Passagen – donec corrigatur – oder um eine dauerhafte Indizierung. Althusius scheint zu den besonders gefährlichen Autoren gezählt worden zu sein, denn er blieb im Gegensatz zu an__________ 8

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XI §§ 22, 37; Eberhard von Weyhe, Verisimilia theologica, iuridica ac politica de regni subsidiis ac oneribus subditorum, Frankfurt a.M. 1606 (unter dem Pseudonym Waremundus de Erenbergk erschienen), cap. II, S. 20 Rn. 9. Siehe hierzu auch Dieter Wyduckel, Wittenberger Vertreter des Ius Publicum, in: Heiner Lück/Heinrich de Wall (Hg.) Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur, Köln 2006, S. 291 ff. (321). 9

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. VIII § 38, XV § 8, XXVIII § 56.

10

Vgl. Jesús Martínez de Bujanda (avec l’assistance de Mercella Richter), Index Librorum Prohibitorum 1600 - 1966, Montréal/Genève 2002, S. 64. 11

Ebd., S. 63 ff., 85.

12 Vgl. ebd., S. 142, S. 551. Lipsius kehrte, nachdem er sich zunächst zum Protestantismus bekannt hatte, wieder zum katholischen Glauben zurück. Ebd., S. 551.

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deren auf dem Index dauerhaft verzeichnet, d.h. bis zu jenem Zeitpunkt, in dem das Indexverfahren Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Folge des Zweiten Vatikanums aufgegeben wurde.13 Diese über die Jahrhunderte andauernde Indizierung dürfte sich – abgesehen von einzelnen Beanstandungen und Unvereinbarkeiten – letztlich daraus erklären, dass der althusischen Rechts- und Politikkonzeption ein christlicher Universalitätsanspruch eigen ist, der vom Standpunkt katholischer Lehre und Dogmatik nicht hinnehmbar war.

B. Althusius, die Schule von Salamanca und die Schule von Pont-à-Mousson Will man Althusius in seinem wissenschaftlichen wie praktischen Wirken recht verstehen, ist es von ausschlaggebender Bedeutung, sich die Vorstellung einer wahren, richtigen oder, wie er auch sagt, einer reinen Religion (pura religio) zu vergegenwärtigen, wie er sie vor Augen hat.14 Genau dargelegt wird nicht, was es damit auf sich hat. Gleichwohl gewinnt man den Eindruck, dass Althusius sehr wohl weiß, was gemeint ist. Es ergibt sich so ein merkwürdig ambivalentes Bild, in dem einerseits konfessionelle, d.h. partikulare Ansprüche angemeldet werden, andererseits implizit ein universeller religiöser Geltungsanspruch erhoben wird, der zugleich auf Wahrheit, Richtigkeit und Reinheit zielt. Aber wie soll das zusammenpassen? Auf der einen Seite scheint ein konfessionalistisches, auf der anderen Seite ein universalistisches Moment wirksam zu sein. Hinzukommt eine mitunter nicht leicht zu durchschauende Zitierpraxis, die der Althusius-Forschung unter dem Gesichtspunkt der konfessionellen Konsistenz nach wie vor nicht unbeträchtliche Probleme bereitet, weil und insofern eben nicht nur Glaubensgenossen, sondern auch und insbesondere katholische Autoren, letztere nicht nur gelegentlich, sondern überbordend und die Argumentation wesentlich tragend, in Anspruch genommen werden. Von daher empfiehlt es sich, im Blick auf Althusius nicht von vornherein ein konfessionalistisches Deutungsschema zu Grunde zu legen, und weiter einer religiösen und politisch-rechtlichen Konstellation Rechnung zu tragen, in der der konfessionelle Status noch durchaus offen schien oder doch als nicht abgeschlossen geklärt betrachtet werden konnte, weil jede Seite meinte, am Ende doch noch allein siegreich sein zu können. __________ 13

Siehe zum Ende des Indexverfahrens Hubert Wolf, Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, 2. Aufl., München 2006, S. 239 ff. 14

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. V § 79, IX § 37, XXVIII § 47.

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I. Die Schule von Salamanca: Diego Covarruvias und Fernando Vazquez Es fällt auf, dass Althusius, was die von ihm herangezogenen Autoritäten angeht, nicht konfessionsbezogen, sondern in einem konfessionell übergreifenden Sinne verfährt, also nicht nur auf calvinische Glaubensgenossen oder gar Calvin selbst rekurriert. Gerade Letzterer erscheint, gemessen an der Gesamtzahl der Zitate, mehr am Rande und vor allem nicht im zentralen Argumentationskontext (wenn man von der Genfer Kirchenordnung einmal absieht), so dass die auf Calvin bezogenen Belege angesichts der Menge der anderen religiös und vor allem biblisch motivierten Bezüge fast untergehen.15 Demgegenüber kommen in erheblichem Umfang katholische Autoritäten zum Zuge, insbesondere die der spanischen Spätscholastik, wie Ernst Reibstein nachgewiesen hat, indem er nachdrücklich auf die Verbindungen der althusischen Rechts- und Politiklehre zur Schule von Salamanca aufmerksam machte.16 Diese Schule steht für eine bestimmte Denkweise von Juristen, Theologen und Philosophen (wobei viele ihrer Vertreter diese Disziplinen in ihrer Person vereinigen), die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Wissenschaft ihrer Zeit im Sinne einer katholischen Reformbewegung umfassend zu erneuern. Dabei ist beabsichtigt, alle seinerzeit bewegenden Fragen unter Einschluss von Recht, Politik und Wirtschaft anzusprechen. Das besondere Kennzeichen dieser Schule liegt darin, dass sie sich nicht, wie im Zeichen des Humanismus weithin üblich, von der Scholastik absetzt, sondern diese im Gegenteil zu neuem Leben zu erwecken und den veränderten Zeitumständen anzupassen sucht.17 Besondere Bedeutung kommt unter althusischem Aspekt Diego Covarruvias (1512-1577) und Fernando Vazquez (1512-1569) zu. Die zahlreichen Inbezugnahmen beider Gelehrter sind nicht zufällig oder beiläufig, sondern haben argumentativ tragende Funktion. So wird Covarruvias schon im Vorwort zur Erstausgabe der „Politica“ ausdrücklich als berühmter Jurist genannt, der mit ihm – d.h. Althusius – in der grundlegenden Frage übereinstimme, dass die Herrschaftsrechte ursprünglich bei der Gemeinschaft liegen.18 Althusius hatte sich zu diesem Zeitpunkt wohl __________ 15

Vgl. Hans Helmut Eßer, Calvin und Althusius. Analogie und Differenz ihrer politischen Theorien, in: Karl-Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Rechtstheorie, Beiheft 7), Berlin 1988, S. 163 ff. (163). Eßer, ebd., zählt 18 Zitate; nimmt man die auf Calvin zurückgehende Genfer Kirchenordnung hinzu, wären es 19. 16

Vgl. Ernst Reibstein, Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955. 17

Näher ebd., S. 17 ff.

18

Althusius, Politica (Anm. 2), Praefatio zur ersten Auflage, Bl. Vv.

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noch zu wenig mit Vazquez beschäftigt, um auch diesen an derart herausgehobener Stelle im Zusammenhang der These von den ursprünglichen Herrschaftsrechten der Gesamtheit würdigen zu können.19 Dabei gehen bei beiden spätscholastischen Juristen die Ideen der Ursprünglichkeit der Herrschaftsrechte, die bei der Gesamtheit verortet wird, und die der Herrschafts- und Machtbegrenzung Hand in Hand. Covarruvias und Vazquez werden aber nicht nur in der „Politica“, sondern auch in der „Dicaeologica“, der althusischen Rechtslehre, wenngleich nicht so abundant, als Beleg und Stütze herangezogen. Es sind wohl in erster Linie rechtliche und politische Gründe, die Althusius dazu bewegen, auf die spanische Spätscholastik zu rekurrieren, nicht primär solche religiös-konfessioneller Art, wobei Covarruvias und Vasquez oft gemeinsam als Nachweis bemüht werden. Gleichwohl dürfen die Einflüsse der spanischen Spätscholastik auf das Werk des Althusius nicht überschätzt werden. Die Eckpunkte seines politisch-rechtlichen Gedankengebäudes standen wohl längst fest, als ihm klar wurde, dass und von wem wesentliche Teile seiner Auffassung vom Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft in der gelehrten Welt geteilt wurden. Die Bezüge auf Covarruvias und Vazquez erschienen dabei um so unverdächtiger, als sie von spanisch-katholischen Gelehrten herrührten, die moderat argumentierten und sich zudem als – maßvolle – Kritiker der spanischen absoluten Monarchie der Zeit erwiesen. Althusius hat – seiner Sache überaus sicher – aber auch keine Berührungsängste gegenüber Thomas von Aquin, wie daraus ersichtlich wird, dass er in der „Politica“ verschiedentlich auf dessen Fürstenspiegel Bezug nimmt.20 Selbst die „Summa Theologiae“ wird genannt, wenn auch nicht an zentraler Stelle.21 Auch die Kanonistik wird gelegentlich herangezogen, so dass von einer generellen Verwerfung nicht die Rede sein kann.22

__________ 19 Gustaaf P. van Nifterik, Fernando Vazquez on the Prince and the Law, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie, mit einer Einleitung von Dieter Wyduckel (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 131), Berlin 2004, S. 347 ff. 20

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 2), cap. I § 13, VIII § 56, XXI § 7, XXIV § 43.

21

Im Zusammenhang mit der Fortgeltung des mosaischen Gesetzes vgl. Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXII § 10. 22

Wyduckel, Einleitung (Anm. 5), S. XXXII m.w.N.

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II. Die Schule von Pont-à-Mousson: Petrus Gregorius Tholosanus und William Barclay Das rechtliche und politische Interesse des Althusius gilt aber nicht nur der spanischen Spätscholastik, wie sie in Salamanca in der Zeit Karls V. und Philipps II. in hoher Blüte steht, sondern auch der Rechts-, Staats- und Politiklehre, wie sie in den achtziger und neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts an der französisch-lothringischen Universität von Pont-à-Mousson gepflegt wird. Die Universität war im Jahr der Bartholomäusnacht im Zeichen gegenreformatorisch-katholischer Bestrebungen unter maßgeblicher Mitwirkung des Jesuitenordens 1572 gegründet worden und erhielt 1582 nicht ohne interne Auseinandersetzungen auch eine juristische Fakultät.23 Es war seinerzeit nicht gerade leicht, auch gefährlich, sich angesichts der fortdauernden französischen Religionskriege24 wissenschaftlich zu Fragen von politisch-rechtlichem Gewicht zu äußern. So empfahl sich ein mittlerer Weg, der Polemik nicht ausschloss, dem Grundton nach aber auf eine Trennung der geistlichen und der weltlichen Gewalt in Verbindung mit einer Stärkung des französischen Staates, insbesondere seines Königtums, gerichtet war.25 Es sind zwei Gelehrte dieser Schule, die – in ganz unterschiedlicher Art – das wissenschaftliche Interesse des Althusius finden: zum einen Petrus Gregorius Tholosanus/Pierre Grégoire de Toulouse (1540-1597), den er in vielfacher Weise in sein rechtliches und politisches Werk einbezieht (1), zum anderen William Barclay (1546–1608), dessen politisch-rechtliche Auffassungen er entschieden bekämpft und mit dem er sich in der „Politica“ – auf Polemik nicht verzichtend – eingehend und kritisch auseinandersetzt (2). Dabei wird Gregorius sowohl im politischen als auch im rechtlichen Werk des Althusius als Autorität herangezogen, während Barclay nur in der „Politica“ – und zwar als Widersacher – erscheint.26 (1) Petrus Gregorius ist überzeugter Katholik und Verteidiger des französischen Königtums, der sich nach seiner Geburtsstadt Tholosanus nennt, eine Namensbezeichnung, die auch Althusius akzeptiert und verwendet. Gregorius, von __________ 23 Vgl. Claude Collot, L’École doctrinale de droit public de Pont-à- Mousson (Pierre Grégoire de Toulouse et Guillaume Barclay). (Fin du XVIe siècle) (Bibliothèque d’histoire du droit et droit romain, t. 10), Paris 1965, S. 1 ff. 24 1562-1598. Vgl. Ernst Hinrichs, Renaissance, Religionskriege und Begründung der absoluten Monarchie (1498-1661), in: Heinz-Gerhard Haupt u.a., Kleine Geschichte Frankreichs, aktualisierte u. erg. Ausg., Stuttgart 2006, S. 125 ff. (148 ff.). 25

Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 34.

26

Sein Name ist im Autorenregister der „Dicaeologica“ jedenfalls nicht aufgeführt.

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dessen Jugend wir wenig wissen, hat in Toulouse studiert, wo er wohl auch mit Bodin zusammengetroffen ist (ohne dass man deshalb sagen könnte, dass er sein Schüler gewesen sei). Wegen der kriegsbedingten Schließung der Universität Toulouse ist Gregorius zeitweise an der Universität Cahors tätig, kehrt dann nach Toulouse zurück, um 1582 einem Ruf an die juristische Fakultät der Universität Pont-à-Mousson zu folgen.27 Petrus Gregorius Tholosanus ist mit seinem Werk über das Gemeinwesen28 der mit Abstand meist genannte Autor der „Politica“, der auch in der „Dicaeologica“, wenngleich bei weitem nicht so häufig, als Autorität genannt wird. Er nimmt damit einen Rang ein, den er aus spezifisch konfessionalistischer Sicht eigentlich nicht einnehmen dürfte, weil er insofern eher zu den Gegnern des Althusius gehört. Doch scheint Althusius an der Katholizität des Tholosaners kaum Anstoß zu nehmen, vor allem nicht daran, dass in dessen Werk – wie umgekehrt in seinem eigenen – die Religion in Verbindung mit einem normativen Denkansatz eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt.29 Der Gegensatz beider Gelehrter und ihrer Konzeptionen liegt denn auch mehr im wissenschaftlichmethodologischen Bereich, genauer: in der Art der Abgrenzung der Disziplinen, hier: der Politikwissenschaft und der Jurisprudenz. Althusius ist sich offenbar sehr bewusst, dass seine Bestimmung der Politikwissenschaft, verstanden als Lehre vom Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft, und der Jurisprudenz als Lehre von der Gerechtigkeit, eine ebenso klare wie brauchbare Abgrenzung beider Disziplinen verbürgt, von der er annimmt, sie auch konsequent durchgeführt zu haben. So wird verständlich, wenn er gleich im Vorwort zur ersten Auflage der „Politica“ gegenüber Gregorius kritisch einwendet, dieser habe beide Disziplinen unzulässig vermengt, und damit einen methodologischen Vorwurf geltend macht, den er im gleichen Zusammenhang auch gegenüber Jean Bodin erhebt.30 Gemeint ist damit – der Vorwurf wird im Zusammenhang der „Politica“ erhoben! – die unzulässige Übertragung juristischer Kategorien auf die Politik. Dieser Vorwurf wiegt um so schwerer, als er sich, was Gregorius angeht, an einen methodologisch in vielem Gleichgesinnten richtet, der – nicht anders als Althusius selbst – sich in beiden Disziplinen, der Politik und der Jurisprudenz, wissenschaftlich betätigt hatte (dazu sogleich näher unter __________ 27

Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 37 ff.

28

Petrus Gregorius Tholosanus, De Republica Libri XXVI (zuerst 1596, hier benutzt in der Ausgabe Frankfurt 1642). 29 Zur Bedeutung der Religion bei Gregorius siehe Gregorius Tholosanus, De Republica (Anm. 28), lib. XII f., S. 420 ff. Zum normativen sowie zum religiösen Moment Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 126, S. 334. 30

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 2), Praefatio zur dritten Auflage, Bl. 4r.

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Punkt D.). Nachdem dieser Kritikpunkt in Form eines wissenschaftlich-methodologischen Vorwurfs von Althusius jedoch gleich zu Beginn seiner „Politica“ klargestellt ist, wird der Weg dafür frei, im Übrigen auf Gregorius, vor allem sein politisches Werk zurückzugreifen, es m.a.W. da als Arsenal vielfältigen Wissens zu nutzen, wo es ihm passend und angemessen erschien. Dabei bleibt Althusius seinerseits sichtlich bemüht, die Politik von der Jurisprudenz disziplinär abzusetzen, wie an den wiederholten Verweisen auf „die Juristen“ ersichtlich wird mit dem Ziel, den politikwissenschaftlichen Gedankengang zu entlasten.31 Dass Althusius selbst von Haus aus Jurist ist, sich in diesem Fach also bestens auskennt, wird gleichwohl in der „Politica“ durchgängig deutlich. Von der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Kritik abgesehen lassen sich im Übrigen durchaus inhaltliche Gemeinsamkeiten ausmachen, die erklären können, warum Althusius in seiner Politik, ohne sich dem Vorwurf der Inkonsistenz aussetzen zu müssen, so häufig auf Gregorius und sein Werk über das Gemeinwesen zurückgreift. Zu nennen ist einmal das beiden gemeinsame Streben nach Eintracht und Harmonie im Zusammenleben der Menschen.32 Weiter scheint Althusius die Gregorius eigene argumentative Verbindlichkeit und Geschmeidigkeit sowie ein dessen Werk eigener, gemäßigt gallikanischer Zug, insbesondere was das Papsttum angeht, angesprochen zu haben.33 Gregorius trennt wie Althusius institutionell-organisatorisch Staat und Kirche und ist durchaus nicht unkritisch gegenüber päpstlichen Rechts- und Machtansprüchen, ohne dass damit der grundsätzliche Stellenwert der Religion im Gemeinwesen aufgegeben oder marginalisiert würde. Darüber hinaus wird auch bei Gregorius eine deutliche Zurückhaltung gegenüber einer auf Absolutheit setzenden Herrschaftsgewalt spürbar. Gregorius ist ebenso wie Althusius zutiefst von der Einbindung aller Herrschaftsgewalt in göttliches und natürliches Recht überzeugt, die nicht etwa als Korrektiv ergänzend hinzutritt, sondern von vornherein ersichtlich tragende Funktion hat.34 Aber nicht nur das. Alle Herrschaftsgewalt ist bei beiden auf leges fundamentales, also grundlegende Gesetze des Gemeinwesens gestützt, die dem positiven Recht zugeordnet werden und denen eine deut-

__________ 31

Vgl. aus der großen Zahl derartiger Hinweise etwa Althusius, Politica (Anm. 2), cap. X § 6, XI § 19, XIX § 48, XXIX § 57. 32

Vgl. die diesbezügliche Würdigung, ebd., cap. IX § 8.

33

Zum Gallikanismus des Gregorius s. Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 141.

34

Vgl. Gregorius Tholosanus, De Republica (Anm. 28), lib. VII cap. 20 nr. 4 sowie ebd., lib. IX cap. 1 nr. 42: „Fortius est jus naturale civili, utpote divina lege suffultum...“.

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lich bedeutsamere Position zukommt als den vergleichbaren leges regiae Bodins.35 Dass Gregorius absolute Befugnisse des Herrschers gleichwohl nicht schlechthin ablehnt, d.h. in bestimmten Fällen eine legibus solutio bejaht, steht außer Frage.36 Doch fehlt eine entsprechende, der ganzen Problemkomplexität gerecht werdende Begründung. Althusius zeigt sich in diesem Punkt durchaus bereit, Gregorius entgegenzukommen, was um so leichter fällt, als dieser hier argumentativ relativ unscharf bleibt.37 Die auf die legibus solutio bezogene Argumentation des Althusius lässt sich, soweit hier von Interesse, wie folgt beschreiben.38 Zunächst ist klar und gleichsam vor die Klammer gezogen, dass der herrscherliche Rekurs auf eine absolute Herrschaftsgewalt grundsätzlich unzulässig ist, weil damit eine Tyrannis heraufbeschworen wird – absoluta potestate uti, est tyrannis.39 Der Herrscher ist damit i.d.R. an die Zivilgesetze gebunden (die immer auch einen naturrechtlichen wie gottesrechtlichen Gehalt haben), jedoch mit der Maßgabe, dass in einzelnen Fällen und aus mehr pragmatischen Gründen durchaus eine legibus solutio gerechtfertigt sein kann. Dies soll jedoch nur für so genannte Adiaphora gelten, also solche Fallkonstellationen, in denen ein Gesetz lediglich geringfügig – in quibusdam – von der natürlichen Billigkeit abweicht, insbesondere was den diesbezüglichen Vollzug einer Strafe gegen den Herrscher angeht, der ja als Höheren nur Gott über sich anerkennt.40 Dies zugestanden, will Althusius der Ansicht von Gre-

__________ 35 Vgl. Gregorius Tholosanus, De Republica (Anm. 28), lib. VII cap. 10 nr. 1; ebd., cap. 16 nr. 8. Zur Bindung an die leges fundamentales siehe auch Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 243 ff. (245), die allerdings eine rechtliche, nicht nur eine politisch-moralische ist. 36

Vgl. Gregorius Tholosanus, De Republica (Anm. 28), lib. IX cap. 1 nr. 40 , ebd., lib. VII cap. 20 nr. 5. 37 Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 238 ff. (239) will in der Argumentation gar eine freilich subtile Konfusion sehen. 38 Siehe hierzu auch Diego Quaglioni, Majestas (jura majestatis), in: Il Lessico della Politica di Johannes Althusius. L’arte della simbiosi santa, giusta, vantaggiosa e felice a cura di Francesco Ingravalle e Corrado Malandrino, prefazione di D. Wyduckel, introduzione di C. Malandrino (Fondazione Luigi Firpo, Centro di studi sul pensiero politico, Studi e Tesi, 26), Florenz 2005, S. 215 ff. (219 ff.); ders., Tyrannis, ebd., S. 325 (328 ff.). 39

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXXVIII § 9 Summarium.

40

Vgl. ebd., cap. IX § 21.

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gorius Tholosanus und anderen Juristen entgegenkommen.41 Das heißt nichts anderes, als dass die höchste Gewalt grundsätzlich gesetzlich und rechtlich beschränkt ist – dies ist der Ausgangspunkt und Obersatz –, jedoch mit der mitzudenkenden Maßgabe, dass der Herrscher in gewissen, besonders gelagerten Fällen, die naturrechtlich gleichsam neutral sind, persönlich gleichwohl als von den betreffenden Gesetzen entbunden gilt. Man mag diese Argumentation gekünstelt, ja sophistisch finden, doch trägt sie durchaus praktischen Erfordernissen Rechnung, da und insoweit der Herrscher eben Herrscher ist und ihm von daher rechtlich doch eine andere Stellung zukommt als den Untertanen. Althusius fasst damit ein viel diskutiertes, nicht einfach zu lösendes Problem seiner Zeit in den Blick, das auf das besondere Verhältnis des Herrschers als Oberhaupt des Staates zu seinem persönlichen Rechtsstatus bezogen ist. Es sollte mehr als ein Jahrhundert später Gegenstand einer eigenen Rechtsdisziplin, der so gen. „Jurisprudentia privata illustris“, m.a.W. des Privatfürstenrechts werden, und kreist um die Frage, ob und inwieweit unter den Bedingungen der Monarchie ein gewisser Rest der legibus solutio des Herrschers sachimmanent wohl oder übel erhalten bleibt, ja erhalten bleiben muss.42 Doch stellt Althusius sogleich klar, dass ungeachtet des von ihm an den Tag gelegten wissenschaftlichen Entgegenkommens seine Grundauffassung keinesfalls zur Disposition steht, d.h., dass auch unter den genannten Bedingungen die höchste Gewalt nicht beim Herrscher oder den Optimaten, sondern stets bei der körperschaftlich verfassten Gesamtheit liegt. Dies ist einer der zentralen Punkte seiner politischen Lehre, aus dem nahezu seine gesamte Gemeinwesenkonzeption abgeleitet werden kann. Die Kompromissbereitschaft des Althusius gegenüber Gregorius und anderen43 zielt demnach auf ein – wenngleich nicht unwichtiges – Detail herrscherlicher Befugnisse, hat aber nicht zu Folge, dass seine politisch-rechtliche Grundkonzeption preisgegeben wird. (2) Bleibt Althusius nach allem gegenüber Gregorius wohlwollend-konziliant, so verfährt er in gänzlich anderer Weise mit William Barclay, der wenige Jahre vor Gregorius Tholosanus nach Pont-à-Mousson gekommen __________ 41 Genannt werden neben Gregorius beispielhaft Bodin sowie Jacobus Cujacius, Hugo Donellus und Franciscus Duarenus. 42 Siehe hierzu Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus est, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 3, Berlin 1984, Sp. 1956 ff., sowie ders., Wittenberger Vertreter des Ius Publicum (Anm. 8), S. 291 ff. (354). 43 Gemeint sind und ausdrücklich genannt werden neben Jean Bodin auch Jacobus Cujacius, Franciscus Duarenus, Hugo Donellus.

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war.44 Barclay, in Aberdeen geborener schottischer Jurist katholischen Glaubens und entschiedener Verteidiger des Königtums, war – in die politischreligiösen Konflikte Schottlands verstrickt – Ende der sechziger Jahre nach Frankreich emigriert, wo er sich zunächst an die Universität Bourges mit ihrer damals hochangesehenen juristischen Fakultät begab. Hier hörte er Vorlesungen bei François Hotman und Hugo Donellus und erwarb, möglicherweise unter dem Präsidium von Jacobus Cujacius, den Doktorgrad beider Rechte. 1575 wird er ebendort mit Anfängervorlesungen im römischen Recht betrauter Institutionarius. Barclay erhält – wohl auch aufgrund verwandtschaftlicher Empfehlung – alsbald eine Berufung nach Pont-à-Mousson, wo er 1576/77 seine Tätigkeit noch vor Gründung der juristischen Fakultät aufnimmt.45 Hier hat er seine 1600 erschienene Kampfschrift gegen die Monarchomachen, das sind die polemisch so genannten Königsbekämpfer, erarbeitet, denen er zugleich den – bis heute umstrittenen – Namen gegeben hat.46 Nicht zuletzt aufgrund universitätsinterner Auseinandersetzungen, die vor allem die von den Jesuiten in Frage gestellte Autonomie der juristischen Fakultät betrafen, verlässt Barclay Pont-àMousson 1603, um nach England zu gehen, wo Jakob VI. von Schottland als englischer König Jakob I. gerade seine Herrschaft angetreten hatte, dessen Auffassungen vom „Divine Right of Kings“47 ihm nicht fremd gewesen zu sein scheinen. Ein Angebot, königlicher Rat zu werden, lehnt er jedoch ab, zumal es die Aufgabe des katholischen Glaubens und die Annahme des anglikanischen Bekenntnisses erfordert hätte.48 Barclay geht schließlich nach Frankreich zurück, wo ihm im westfranzösischen Angers eine juristische Professur angeboten wird, die er 1604 annimmt und wo er vier Jahre später gestorben ist. Althusius akzeptiert Barclay als ebenbürtigen Gegner und setzt sich in der dritten Auflage seiner „Politica“ mit ihm eingehend und höchst kritisch auseinander.49 Es geht dabei um zentrale Macht- und Organisationsfragen des __________ 44

Hierzu und zum Folgenden Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 45 ff., 53 ff.

45

Vgl. Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 50 f.

46

William Barclay, De regno et regali potestate adversus Buchananum [William Buchanan], Brutum [Stephanus Junius Brutus], Boucherium [Jean Boucher] et reliquos monarchomachos libri sex, Paris 1600. 47 Vgl. Gerhard A. Ritter, Divine Right und Prärogative des englischen Königs 16031640 (1963), in: ders., Parlament und Demokratie in Großbritannien, Göttingen 1972, S. 11 ff.; Hansjochen Hancke, Die Lehre vom Divine Right of Kings bei Jakob I. von England und ihre Bedeutung in den englischen Verfassungskonflikten des frühen 17. Jahrhunderts, Diss. Münster 1969, S. 9 ff. 48

Vgl. Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 64.

49

Vor allem in den Kapiteln XVIII, XIX und XXXVIII.

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Gemeinwesens, insbesondere die Grundlagen der Herrschaftsgewalt und das politisch-rechtliche Verhältnis von Herrscher und Volk. Althusius wendet sich entschieden gegen das Argument eines Verzichts des Volkes bzw. seiner Vertreter, der Ephoren, auf die Herrschaftsgewalt, die vollständig, d.h. abdikativ, auf den Herrscher übertragen worden sei. Dabei lässt er sich auf das seinerzeit viel gebrauchte und auch von Barclay geschickt verwendete Beispiel der Vormundschaft ein, wobei der Herrscher als Vormund, das Volk als Mündel erscheint. Althusius widerlegt die These Barclays von der rechtlichen Unterordnung des Volkes, indem er auf den vormundschaftsrechtlich einleuchtenden Umstand verweist, dass der Herrscher nicht in eigenen, sondern vielmehr in fremden Angelegenheiten, nämlich denen des Volkes handle, mit der Folge, dass letzteres insofern den Herrscher unter sich einsetze.50 Den eigentlich rechtlichen Grund herrscherlicher Gewalt sieht Althusius in einem wechselseitigen Vertrag, den er als Mandats- oder Auftragsvertrag begreift und der beide vertragschließende Parteien auf bestimmte Bedingungen verpflichtet.51 Der Herrscher kann danach nicht, wie Barclay meint, mit absoluter Gewalt ausgestattet sein, sondern ist vielmehr rechtlich gebundener, zum Wohl der Untertanen eingesetzter Amtsträger, der die ihm übertragene Leitung und Verwaltung des staatlichen Gemeinwesens den eingegangenen Bedingungen entsprechend wahrzunehmen hat. Die daraus folgende Bindung des Herrschers ist für Althusius eine doppelte: Sie folgt einmal aus dem Naturrecht, zum anderen aus dem positiven Recht, ist also sowohl rechtlich als auch gesetzlich, insbesondere fundamentalgesetzlich begründet.52 Diese doppelte Verpflichtung kann für den Fall der Rechts- und Gesetzesverletzung ein Widerstandsrecht auslösen, auf das das Volk keineswegs verzichtet hat und das bei notorisch ungerechtem Handeln des Herrschers als letztes Konfliktlösungsmittel zur Verfügung steht, wobei den Ephoren als Akteuren mit Wächtereigenschaft herausragende Bedeutung zukommt.53 Die Lehre von der göttlichen Einsetzung des Herrschers in Verbindung mit der Machtentäußerung des Volkes konnte Althusius von daher nicht akzeptieren. Barclay wird also auch in diesem Punkt entschieden kritisiert.54 Althusius führt zur argumentativen Stützung die biblische Idee des Religions- oder Bundesvertrags an, die den religiösen Rahmen für seine Herrschafts- und __________ 50

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XVIII §§ 92 ff. (93).

51

Ebd., cap. XIX § 6 ff.

52

Ebd., cap. XIX §§ 49 ff. (51).

53

Ebd., cap. XIX §§ 65 ff. (69). Siehe auch ebd., cap. XXXVIII §§ 101 f.

54

Ebd., cap. XXVIII §§ 23 ff.

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Gemeinwesenkonzeption darstellt. Der Religionsvertrag begründet eine gleichsam schuldrechtliche Beziehung zwischen Gott einerseits, Volk und Herrscher andererseits. Gott ist dabei Gläubiger, der Herrscher zusammen mit den Ephoren und dem ganzen Volk Schuldner und Mitschuldner. Barclay nimmt, wie Althusius einräumt, durchaus auf den Religionsvertrag Bezug, sucht ihn aber in seiner rechtlichen und legitimatorischen Bedeutung abzuschwächen und letztlich seiner Bedeutung zu berauben. Sowohl Barclay als auch Althusius argumentieren hier ebenso subtil wie biblisch-sachkundig, wenn auch nicht ohne Polemik. Der zentrale Punkt der Argumentation ist die Frage des Rechtscharakters des Bundes, genauer: sein Inhalt und seine Geltungserstreckung. Althusius nimmt den Vertrag anders als Barclay ganz beim Wort und leitet daraus weitreichende rechtliche Folgerungen ab. Im Gegensatz zu Barclay, der den Religionsvertrag inhaltlich auf die reine Gottesverehrung und die wahre Religion, m.a.W. die erste Tafel des Dekalogs, beschränken will, besteht Althusius darauf, auch die zweite Tafel, also das menschliche Miteinander in dieser Welt, in die vertragliche Verpflichtung einzubeziehen.55 Dies ist der ausschlaggebende Punkt, an dem sich die Geister scheiden und nicht mehr hintergehbare Fragen des politisch-rechtlichen und religiösen Selbstverständnisses zur Debatte stehen. Barclay erscheint, obwohl gebürtiger Schotte, hier ganz als ‚Gallikaner‘, der die Lösung aller Konflikte vom französischen Königtum und der Monarchie erwartet und dabei durchaus auch papst- und jesuitenkritische Züge erkennen lässt,56 während Althusius demgegenüber als Verfechter der reinen Religion und ihrer Umsetzung auch in dieser Welt eine Position vertritt, wie sie im reformierten Umkreis geläufig war.57 Im Kontext der Erörterung der Rechte des Herrschers und des Volks sowie des Widerstandsrechts nimmt Althusius zudem unmittelbar Bezug auf die von

__________ 55 Ebd., cap. XXVIII § 23. Siehe zu den Geboten des Dekalogs auch cap. XXI §§ 25 ff. Zu beachten ist, dass die reformierte Zählung der Gebote, die auch die Zählung des Althusius ist, dem Sprachgebrauch der Bibel folgt und sich von der lutherischen Zählung insofern unterscheidet, als das Bilderverbot ein eigenes Gebot darstellt mit der Folge, dass die Zweite Tafel nicht mit dem vierten, sondern mit dem fünften Gebot beginnt. Vgl. hierzu auch Graf Friedrich-Wilhelm, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006, S. 50 f. 56 Zur gallikanischen Tradition siehe Collot, L’École doctrinale (Anm. 23), S. 170, 176, 287. Vgl. auch das posthum von seinem Sohn herausgegebene Werk Barclays über das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt: De potestate papae, an et quatenus in reges et principes seculares jus et imperium habeat, Pont-à-Mousson 1609. 57

Vgl. Wyduckel, Einleitung (Anm. 5), S. VII ff. (XXV f.) m.w.N.

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Barclay so bekämpften Monarchomachen, insbesondere William Buchanan58, Stephanus Junius Brutus59, François Hotman 60, sowie den Verfasser der Schrift ‚De jure magistratuum‘61, aber auch den im weiteren Sinne den Monarchomachen zugerechneten spätscholastischen Jesuiten Juan de Mariana62, während der von Barclay scharf angegriffene katholische Theologe Jean Boucher ausgeklammert bleibt.63 Althusius hütet sich dabei, direkt Partei zu ergreifen. Man erkennt aber sehr wohl, dass und wo er in Grundpositionen mit den von Barclay als Monarchomachen diskreditierten Autoren übereinstimmt, besonders was das politische und rechtliche Verhältnis von Herrscher und Volk angeht. Gleichwohl ist Althusius kein Monarchomach im Barclay’schen Sinne.64 Weder ist er gegen die Monarchie schlechthin noch gegen das Königtum, wohl aber und sehr entschieden gegen die absolute Monarchie, weil und insofern diese der Tyrannis gleichkommt. Althusius wäre von daher eher als Tyrannenbekämpfer, nicht aber als Königsbekämpfer zu bezeichnen. Gewiss will Althusius den Monarchen in seiner Macht sowohl naturrechtlich als auch positivrechtlich beschränken, doch bleibt der Herrscher als oberster Magistrat mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet. Auch ist das althusische Gemeinschafts- und Gemeinwesenbild in hohem Maße vom neustoischen Ordnungsund Disziplingedanken65 bestimmt, werden vor allem Aufruhr und Aufstand aufs Schärfste abgelehnt.66 Sein Gemeinwesenverständnis ist darüber hinaus __________ 58

Vgl. De jure regni apud Scotos dialogus, Edinburgh 1579.

59

Pseudonym für den Verfasser der „Vindiciae contra tyrannos“ (1579). Die Verfasserschaft wird Philippe Du Plessis-Mornay und/oder Hubert Languet zugeschrieben. 60

Siehe seine 1573 erschienene ‚Francogallia’.

61

Anonym erschienen, lateinisch 1576, französisch 1574. Die Autorschaft Bezas war Althusius offenbar noch nicht bekannt. 62

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XVIII §§ 66, 84; XXXVIII § 47.

63 Jean Boucher, De justa Henrici III. abdicatione e Francorum regno libri IV, in Paris 1589 anonym erschienen. 64 Vgl. Dieter Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: Emilio Bonfatti/Giuseppe Duso/Merio Scattola (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der „Politica methodice digesta“ des Johannes Althusius (Wolfenbütteler Forschungen, 100), Wiesbaden 2002, S. 133 ff. 65 Wie vor allem seine vielfältigen Bezüge auf das Werk von Justus Lipsius erkennen lassen. Siehe Carl Siedschlag, Die neustoische Lebenskunst und ihre Aufnahme bei Althusius, in: Der Staat 45 (2006), S. 97 ff. 66 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXXI über die Aufrechterhaltung der Eintracht sowie oben S. 168, 175.

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hierarchisch geprägt, auch pflegt er gegenüber dem Volk überkommene Vorurteile.67 Und doch werden Grenzen des Gehorsams sichtbar, lebt der Herrscher eben nicht nur aus eigenem Recht und Selbstverständnis, sondern erscheint vielmehr als Beauftragter und Verwalter der Gesamtheit, deren Interessen er im Sinne des Gemeinwohls wahrnimmt und wahrzunehmen hat. Wie Barclay Althusius und seine Politik eingeordnet haben würde, ist offen, da seine Streitschrift drei Jahre vor Publikation der „Politica“ erschien. Indessen dürfte sein Urteil nicht allzu freundlich gewesen sein. Hat er doch deutliche Vorbehalte gegenüber Calvinisten, die er im Bereich der Sekten verortet und verdächtigt, im Hinblick auf die Kirche hierarchiefeindlich zu sein und der Monarchie kritisch gegenüberzustehen.68 Fest steht demgegenüber das Urteil des Althusius über Barclay. Nicht von ungefähr hat er – Barclay direkt widersprechend – den polemisch gemeinten Monarchomachen-Begriff ausdrücklich beanstandet. Zugleich wirft er ihm in Fragen des besonders umstrittenen Widerstandsrechts argumentative Unschlüssigkeit vor, vertrete Barclay doch selbst ein Widerstandsrecht (das freilich nur wenig mehr als ein Selbsthilferecht im äußersten Fall darstellt).69

C. Die Politik des Althusius: Politische Theorie oder Politische Theologie Wie sind Althusius und seine Politik nach allem einzuschätzen? Ist er ein profaner Jurist und säkularer Politiklehrer, weil er unverhohlen intellektuell auch und zentral argumentative Anleihen bei katholischen Autoren macht? Oder ist er nicht zuletzt im Hinblick auf seinen extremen Biblizismus der politischen Theologie zuzurechnen? Gewiss steht Althusius auf dem Boden des politischen Calvinismus, auch ist sein Werk entschieden aus einer christlichreformierten Grundhaltung heraus geschrieben, im Übrigen aber nicht theologisch gemeint. Althusius unterscheidet zwischen christlich-reformierter und bürgerschaftlicher Gemeinde, trennt organisatorisch-institutionell Staat und Kirche, weiß also zwischen beiden Bereichen zu unterscheiden und lehnt eine theokratische Bevormundung des Gemeinwesens ab.70 Auch die bundes- oder föderaltheologischen Züge seiner Politik vermögen eine politisch-theologische __________ 67

Ebd., cap. XXIII §§ 21 ff.

68

Barclay, De regno (Anm 44), S. 8, 34.

69

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXXVIII § 105.

70

Ebd., cap. VIII 6 ff., IX 31 ff.; XXVIII 3 ff.

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Verortung nicht zu rechtfertigen. Zwar weist die politische Theorie des Althusius auch föderaltheologische Züge auf, doch ist sie nicht föderaltheologisch motiviert oder gar allein aus der Föderaltheologie heraus verständlich. Die religiöse Bundesidee bleibt damit für das Gemeinwesen in argumentativ-stützender Funktion bedeutsam, ohne für dieses konstitutive Bedeutung zu besitzen, weil die rechtlichen und politischen Grundpositionen auch unabhängig davon entfaltet und begründet werden.71 Von einem theokratischen Anspruch auf die Sphäre des Politischen kann deshalb nicht die Rede sein, wohl aber von einem charakteristisch modifizierten Verständnis von Welt und Religion, in dem beide Bereiche nicht völlig unverbunden nebeneinander stehen.72 Doch liegt seiner politischen Theorie eine signifikant andere Konzeption von Recht, Herrschaft und Gemeinwesen zugrunde als die, wie sie in der lutherischen Lehre vertreten wurde. Die Distanz des Althusius zu den protestantischen Glaubensbrüdern ist in der Tat erstaunlich. Man wird dies einerseits theologisch zu erklären haben, andererseits in Betracht ziehen müssen, dass die von Althusius herangezogenen Autoren, auch wenn sie katholischen Glaubens waren, gerade deshalb Eingang in seine Politik fanden, weil sie auf seine politisch-rechtlichen Fragen praktisch bedeutsame und zugleich begründete wie legitimierbare Antworten bereithielten. Weil dies so ist, konnte Luther in den althusischen Argumentationskontext keinen unmittelbaren Eingang finden, musste Althusius gegenüber Luther also ‚sprachlos‘ bleiben. Dass Althusius sich scheut, explizit ‚Ross und Reiter‘ zu nennen, hat aber auch pragmatische Gründe. So scheint er es für nicht angezeigt zu halten, unter Glaubensbrüdern öffentlich zu streiten.73 Hier wird nicht zuletzt der Althusius eigene Harmoniegedanke eine Rolle gespielt haben zusammen mit der tiefen Überzeugung, auf der ‚richtigen‘ Seite zu stehen, die am Ende sowohl politisch als auch religiös obsiegen würde. __________ 71 Zur religiösen Bundesidee siehe nach wie vor Gerhard Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 157 ff., sowie Wyduckel, Einleitung (Anm 55), S. VII ff. (XXV f.), Corrado Malandrino, Politische Theorie und Föderaltheologie, in: Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie (Anm. 19), S. 125 ff. (129 ff.), und Cornel A. Zwierlein, Reformierte Theorien der Vergesellschaftung: Römisches Recht, föderaltheologische koinonia und die consociatio des Althusius, ebd., S. 191 ff. (197), mit unterschiedlichen Akzentuierungen. 72 Anders Peter Nitschke, Staatsräson kontra Utopie?, Stuttgart 1995, S. 173. Siehe auch ders., Die föderale Theorie des Johannes Althusius, in: Giuseppe Duso/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Konsens und Konsoziation (Rechtstheorie, Beih. 16), Berlin 1997, S. 241 ff. (257). 73 Vermutlich ist die Anspielung „Politica“ (Anm. 2), cap. XXVIII § 59, im Hinblick auf diejenigen, die nicht im Fundament der Lehre irren, so zu verstehen.

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Der Anspruch, eine wissenschaftlich eigenständige Lehre der Politik zu begründen, wird damit nicht aufgehoben. Althusius macht dies bereits im Vorwort zur ersten Auflage der „Politica“ deutlich, wenn er neben dem Juristischen und Philosophischen auch das rein Theologische aus dem Gegenstandsbereich der Politik ausscheiden will, insofern also spezifisch politisch-theoretische Maßstäbe anlegt.74 Man kann dies durchaus als Zugeständnis an das staatliche Gemeinwesen und sein soziales Substrat als einer säkularen Macht sehen, die neben den religiösen und theologischen Bezügen menschlichen Zusammenlebens ein Eigenrecht beansprucht und zugleich spezifischen Regeln gehorcht. Der damit verbundene Prozess der Ausdifferenzierung frühmoderner rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Strukturen, wie er sich zu seiner Zeit abzuzeichnen beginnt, erscheint von daher aus der Perspektive des lutherischen Aristotelismus in anderem Licht als in der reformiert bestimmten Sicht des Althusius, von der aus zugleich gesteigerte normative Forderungen an die ‚richtige‘ politisch-rechtliche Ordnung des Gemeinwesens gerichtet werden. Politik, in althusischer Weise verstanden als Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft, geht demnach von einem anderen Bild von Herrschaft und Gemeinwesen aus und bestimmt auch die Frage nach Grund und Grenzen herrschaftlicher Gewalt in charakteristisch veränderter Weise. Sieht man Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung als Ausgangspunkt und zentrales Anliegen seiner politischen Theorie, dann mussten all diejenigen Gelehrten an Relevanz gewinnen, die mit diesem Denkansatz vereinbar waren, d.h. ähnliche Fragen stellten und entsprechende Antworten bereithielten. Dabei kommt der Schule von Salamanca und ihren Vertretern hohe Bedeutung zu, während die Schule von Pont-à-Mousson demgegenüber zurücktritt (von der man angesichts der gegensätzlichen Positionen zudem bezweifeln kann, ob es sich wirklich um eine ‚Schule‘ handelt). Gregorius Tholosanus blieb ungeachtet der Vielzahl der Zitate in der althusischen Politik am Ende doch konventionell und konnte von daher inhaltlich gestaltend wenig förderlich wirken. Barclay erscheint demgegenüber ganz als zu bekämpfender Widersacher, an dem Althusius freilich seine längst feststehende Gegenposition streitig erproben und schärfen konnte.75 __________ 74 Siehe das Vorwort zur „Politica“ von 1603 (Anm. 2), Bl. 2v, deutsche Ausg. (Anm. 2), S. 17 f. Zurückhaltender das Vorwort zur zweiten (und dritten) Auflage von 1610 bzw. 1614, jedoch ohne dass dadurch die politische Theorie zur politischen Theologie würde, wie Wilhelm Schmidt-Biggemann, Althusius’ politische Theologie, in: Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Anm. 15), S. 213 ff. (S. 224 f.), meint. 75 Insoweit schon vom Titel her überzeichnend Collot, L’École doctrinale de droit public de Pont-à-Mousson (Anm. 23).

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D. Die Bedeutung der Methode für Althusius’ rechtliches und politisches Werk I. Die methodische Neubegründung von Recht und Politik im reformierten Protestantismus Seit langem ist bekannt, welche Rolle der Methode für Althusius’ rechtliches und politisches Werk zukommt. Will man dem methodischen Anliegen näherkommen, ist es hilfreich, die wissenschaftliche Aufgabe zu formulieren, die Althusius gestellt war. Diese kann man in Anlehnung und zugleich Fortbildung des eingangs genannten Gierke’schen Diktums hypothetisch folgendermaßen formulieren: Wie kann man auf der einen Seite glaubensstarker, d.h. frommer Christ calvinischer Prägung sein und zum anderen Recht, Gemeinwesen und Gemeinschaft nicht gleichgültig gegenüberstehen. Althusius versucht, dieser Fragen- und Aufgabenstellung gerecht zu werden, indem er sich auf der einen Seite in neuer Weise der Politik, auf der anderen der Neubegründung des Rechts zuwendet. Zu diesem Zweck war es unumgänglich, beide Wissenschafts- und Argumentationsstränge auch methodologisch abzusichern. Wenden wir uns unter diesem Gesichtspunkt zunächst der Jurisprudenz zu.76 Althusius scheint früh gesehen zu haben, dass er eine neue Ordnung des Rechtsstoffs, wie sie nicht nur ihm vorschwebte, sondern im Zeichen des Humanismus weithin als drängendes Problem empfunden wurde, nicht mit dem überkommenen juristischen Mittel der Kommentierung des römischen Rechts erreichen konnte, sondern anders ansetzen müsste. Er war nicht der einzige, der so dachte, wenn man an die verschiedenen methodischen Ansätze denkt, die im Umgang mit dem überkommenen und rezipierten römischen Recht in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Ringen um den angemessenen ordo juris vorgelegt worden waren.77 Dabei bestand weithin Klarheit darüber, dass der überkommene Rechtsstoff allein nicht mehr nur kommentarmäßig im Sinne legistischer Tradition zu bewältigen war, sondern

__________ 76 Siehe zu diesem bislang wenig bearbeiteten Thema eingehend Christoph Strohm, Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie (Anm. 19), S. 71 ff. 77 Vgl. Hans Erich Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluss des Humanismus, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 2, Teilbd. 1, München 1977, S. 615 ff. (741 ff.).

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methodisch andere Wege beschritten werden mussten, um die tradierte Rechtsmasse in eine angemessene Ordnung zu bringen. Auch Gregorius Tholosanus war sich dessen bewusst und stand in seinem „Syntagma juris universi“78 vor wissenschaftlichen Problemen, die denen des Althusius insoweit vergleichbar waren. Auch er will methodisch auf etwas Neues hinaus, löst sich vom herkömmlichen Kommentarschema und ordnet den Rechtsstoff nach systematischen Gesichtspunkten neu, bleibt jedoch hinter dem methodisch-systematischen Wollen des Althusius deutlich zurück. Dieser hatte bereits in seiner Erstlingsschrift, den 1586 erschienenen „Iuris Romani libri duo“ – von der zweiten Auflage 1588 ab „Jurisprudentia Romana“ genannt – die am Anfang seiner Karriere stehen, erkennen lassen, der römischen Jurisprudenz, wie sie sich im Zeichen der Rezeption darstellte, neue Wege zu weisen. Er scheint zudem früh, wenn nicht von Anfang an die Absicht gehabt zu haben, dieses Werk weiter auszubauen, das dann von Auflage zu Auflage zunehmend umfangreicher und zugleich differenzierter wird und schließlich in eine umfängliche Gerechtigkeitslehre, die „Dicaeologica“, einmündet, die den Charakter einer umfassenden Rechtslehre auf römischrechtlicher Grundlage hat.79 Entstanden ist so der wohl erste umfassende Versuch einer Allgemeinen Rechtslehre, die den Weg zu einem neuen Verständnis des römischen Rechts und über dessen Vermittlung auch des gesamten Rechts der Zeit aufzeigt. Methodisch wird Althusius dabei von der Logik seines Glaubensbruders Petrus Ramus angeleitet. Diese setzt im Gegensatz zum aristotelischen Syllogismus mehr auf eine an Platon anknüpfende, definitorische Klarheit und dichotomisches Zergliedern zu Grunde legende Logik. Nun ist die ramistische Logik keineswegs so klar und eindeutig wie programmatisch vorgegeben, auch offenbart sie in der althusischen Umsetzung und Anwendung durchaus Schwächen, nicht zuletzt wegen des ihr eigenen Schematismus der fortlaufenden begrifflich-dichotomischen Gliederung, doch eröffnete sie auch die Möglichkeit, sich methodengestützt von bisherigen Denkweisen zu lösen und damit zugleich neue Inhalte zu vermitteln. Von den zeitgenössischen Methoden des Rechts gibt Althusius dabei eher der im Umgang mit den

__________ 78 Petrus Gregorius Tholosanus, Syntagma juris universi., atque legum pene omnium gentium, et rerumpublicarum praecipuarum, in Tres Partes digestum, in quo divini et humani juris totius, naturali, ac nova methodo pro gradus ordineque, materia universalium & suíngularium, simulque iudicia explicantur, Lyon 1582. 79 Johannes Althusius, Dicaeologicae Libri Tres, Totum et universum Jus quo utimur, methodice complectentes, Herborn 1617, 2. Aufl. Frankfurt 1649, Reprint Aalen 1967.

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Rechtstexten freieren französischen Schule des „mos gallicus“ den Vorzug.80 Doch geht er über den herkömmlichen Methodenkanon weit hinaus, weil er darauf zielt, unabhängig von der durch das Corpus Iuris Justinians vorgegebenen Legalordnung den Rechtsstoff nach ihm methodisch angemessen erscheinenden rationalen Kriterien neu zu ordnen. Er ebnet damit den Weg einerseits zum späteren „Usus modernus Pandectarum“81, andererseits darüber hinausgehend zu einer das gesamte Recht – totum et universum jus – umfassenden Rechtslehre, ja Rechtstheorie, die über die Wiedergabe des geltenden Rechts hinaus den Blick auf übergreifende rechtliche Strukturen und Zusammenhänge freilegen will. Althusius erweist sich dabei Gregorius schon vom methodisch-systematischen Zugriff her überlegen, weil er das Recht unter den übergreifenden Gesichtspunkt der Gerechtigkeit stellt und zudem seinem Werk einen allgemeinen Teil voranstellt (Generalia), während Ersterer ohne weiteres zur rechtlichen Erörterung von Sachen und Personen übergeht. Aber nicht nur das unterscheidet Althusius von Gregorius. Er führt zugleich eine Reihe systematischer Unterscheidungen ein, die zwar für sich genommen nicht völlig neu sind, von ihm aber zum ersten Mal bewusst eingesetzt und reflektiert werden. Die wichtigste ist die Aufgliederung des Rechts in einen allgemeinen Teil, die membra, und einen besonderen, die species. Während die membra den Inbegriff der Grundlagen oder Elemente des Rechts ausmachen, umfassen die species zwei besondere Rechtsbereiche: die Rechtszuteilung, vor allem den Rechtserwerb und Rechtsverlust, sowie das Verfahrensrecht. Den ersten Komplex des besonderen Teils bezeichnet Althusius als „Dicaiodotica“, den letzteren als „Dicaiocritica“.82 In der gesonderten Behandlung des Verfahrensrechts wird deutlich, dass Althusius den seinerzeit keineswegs selbstverständlichen Unterschied zwischen materiellem und prozessualem Recht erkannte und für seine Rechtslehre nutzbar zu machen wusste. Auch wenn wir die begrifflichen Unterscheidungen des Althusius im Einzelnen heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen, so sind sie doch als grundlegende

__________ 80 Vgl. Hans-Erich Troje, Zur humanistischen Jurisprudenz, in: ders., Humanistische Jurisprudenz. Studien zur europäischen Rechtswissenschaft unter dem Einfluss des Humanismus (Biblioteca eruditorum, 6), Goldbach 1993, S. 143*-172*, 156* f. 81 Zu Begriff und Bedeutung siehe Dietmar Willoweit, Der Usus modernus oder die geschichtliche Begründung des Rechts. Zur rechtstheoretischen Bedeutung des Methodenwandels im späten 17. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, München 2000, S. 229-245 (229 f.). 82

Althusius, Dicaeologica (Anm. 79), I, XXXV ff. bzw. III, 1 ff.

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Kategorien bedeutsam und z.T. bis in die Jurisprudenz unserer Tage hinein bestimmend.83 Es ist aber nicht das Zergliederungsinteresse allein, das Althusius und den Ramismus kennzeichnet. Dem ramistischen Denken eignet darüber hinaus ein systematisches Moment, das darauf zielt, verschiedene wissenschaftliche Materien möglichst trennscharf unterschiedlichen Fachdisziplinen zuzuordnen, um einmal deren Eigenständigkeit zu erweisen und sie zum anderen voneinander abzugrenzen. Es kommt mithin darauf an, wie Althusius bildhaft betont, nicht ‚in einer fremden Ernte zu mähen‘.84 Auch wenn man ihm in einzelnen Zuordnungen nicht immer folgen wird, so tritt in seinem Werk doch das methodisch-systematische Anliegen deutlich hervor, das sowohl für seine Rechts- als auch für seine Politiklehre kennzeichnend ist. Dabei trägt die „Politica“ des Althusius deutlich die Handschrift des kundigen Juristen, doch legt er gesteigerten Wert darauf, die politikwissenschaftliche Argumentation von juristischen – übrigens ebenso wie von theologischen – Vor- und Spezialfragen zu entlasten, indem er im Rahmen seiner Darlegungen kenntlich macht, wann und inwieweit es sich um spezifische Probleme eben jener anderen Disziplinen handelt, auf die deshalb im gegebenen Zusammenhang dann nicht näher einzugehen sei.85 Dieser systematisch angeleitete Zugriff hat notwendig zur Folge, dass die zahlreich angeführten Beispiele eine mehr dienende Funktion haben, d.h. nicht wie in den zeitgenössischen Exempla- oder Fallsammlungen mehr oder minder geordnet aneinandergereiht sind, sondern in den jeweils größeren argumentativen Zusammenhang sachlich und methodisch einbezogen werden. Der Gedankengang gewinnt so an Stringenz, da die Beispiele, auch die biblischen, im Wesentlichen der Illustration dienen – exemplis illustrata! – ohne ihn mehr als unbedingt notwendig zu hemmen oder zu stören. Zuweilen tut Althusius hier zuviel des Guten, vor allem in den vielen Bibelzitaten, so dass man ihm zurufen möchte: „Es reicht nun, wir glauben Dir ja!“ Doch ist die Bibel und sind die Bibelzitate von der Funktion her stets Teil des größeren __________ 83 Vgl. Dieter Wyduckel, Johannes Althusius, in: Bernhard Großfeld, Westfälische Jurisprudenz. Beiträge zur deutschen und europäischen Rechtskultur. Festschrift aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Juristischen Studiengesellschaft Münster, Münster 2000, S. 95 ff. (105 ff.) m.w.N. 84 85

Althusius, Politica (Anm. 2), Vorwort zur Ausgabe von 1603, Bl. 4.

Zur Entlastung des Gedankengangs dienen entsprechende Verweise: Hierzu näher die Juristen bzw. die Theologen. Siehe zu den Juristen oben Anm. 31, zu den Theologen etwa Althusius, Politica (Anm. 2), cap. VII § 53, cap. XXX § 28, zu beiden gemeinsam cap. XI § 37; cap. XVIII § 84.

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Zusammenhangs des Rechts einerseits, der Politik andererseits, so dass nicht der Eindruck entsteht, Althusius wolle selbst zum Theologen werden oder gar Anspruch darauf erheben. Es scheint ihm vielmehr darum zu gehen, dass seine Politik- wie seine Rechtslehre auch – ich betone dieses „auch“ – angesichts der Bibel bestehen kann. Keineswegs kann und sollte man deshalb die Bibelbezüge als Dekoration abtun. Dies wäre ein modernistisches Missverständnis. Es bleibt vielmehr durchgängig der methodische Aspekt leitend, so dass in den beiden Hauptwerken das im Untertitel hinzugefügte Adverb „methodice“ vollauf gerechtfertigt ist. Die Rechtslehre – dies gilt für Althusius wie für Gregorius – eröffnete allerdings weit weniger Entfaltungsspielräume als die Politiklehre. Hier waren dem professionellen Juristen – also beiden – Grenzen gesetzt, die zu weites inhaltliches Ausgreifen in die Politik oder Theologie als unangemessen erscheinen lassen mussten. Umso größere Bedeutung erlangte von daher der methodische Zugriff, in dem Althusius – gerade wegen der vergleichbaren wissenschaftlichen Ausgangslage – sich Gregorius methodisch und systematisch als überlegen erweist. Dass die Methode für Althusius einen hohen Stellenwert besitzt, er in Methodenfragen keinen Spaß versteht, d.h. sich von theologischen Fachkollegen, ja Freunden, nicht ins wissenschaftlich-methodische Handwerk pfuschen lassen will, sei an zwei Beispielen dargelegt, davon eines aus seiner Steinfurter (1), ein zweites aus seiner Herborner Zeit (2). (1) Die Studenten der Hohen Schule Steinfurt hatten 1592 die Ablösung des Professors der Theologie Johannes Piscator (eines Namensvetters des Herborner Theologen) gefordert, u.a. weil dieser „non methodice docire“, also nicht methodisch lehre.86 Die Frage war nicht nur inhaltlich brisant, sondern auch deshalb, weil zur Debatte stand, ob und inwieweit es Studenten zustehe, ihrem Lehrer den ‚modus docendi‘ vorzuschreiben. Althusius, der zu dem Streit gutachterlich befragt wurde, hält die Klage der Studenten nach eingehender Prüfung am Ende für durchaus berechtigt mit der Folge, dass Piscator, also sein theologischer Kollege, vom Grafen entlassen wird. (2) Althusius war 1601 in Herborn, Hochburg des reformierten Protestantismus, in eine wissenschaftliche Kontroverse mit seinen angesehenen theologischen Kollegen Johannes Piscator, Wilhelm Zepper und Matthias Martinius geraten, in der es um die Bedeutung und vor allem Geltung des mosaischen

__________ 86 Vgl. Hans-Jürgen Warnecke, Althusius und Burgsteinfurt, in: Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Anm. 15), S. 147 ff. (153 ff.).

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Gesetzes ging.87 Dabei handelte es sich weniger um die Extrempositionen der Gültigkeit oder Nichtgültigkeit, sondern mehr darum, welche Teile des mosaischen Gesetzes dauerhaft gültig und welche zeitgebunden und damit überholt seien. Althusius tritt hier für eine vermittelnde Lösung ein, die zwischen weiter gültigen und obsoleten, d.h. spezifisch jüdischen Zeremonialvorschriften unterscheidet und differenziert. Die Auseinandersetzung, die auf den ersten Blick ausschließlich die spezifische Frage der Geltung des mosaischen Gesetzes zu betreffen scheint und in die auch persönliche Empfindlichkeiten hineinspielen, weist indessen auf einen tieferen Hintergrund, in dem es um die Kompetenz zur Auslegung der Bibel und des Dekalogs geht. Althusius hat hierzu in der bald darauf erschienenen ersten Auflage der „Politica“, die er seinerzeit wohl in Bearbeitung hatte, Stellung genommen und unmissverständlich dargelegt, dass die Auslegung des göttlichen Gesetzes nicht nur eine Frage der Theologie, sondern auch der Ethik, Politik und Jurisprudenz ist und sein kann. Die Deutungshoheit fällt somit, was den Dekalog angeht, keineswegs ausschließlich in die Kompetenz der Theologen. Sie muss diesen allerdings, woran Althusius keinen Zweifel lässt, insoweit überlassen bleiben, als es um das fromme und das ewige Leben geht. Das heißt – und diese Folgerung wird ausdrücklich gezogen –, dass sich die Juristen ebenso wie die Vertreter der Ethik durchaus im Rahmen ihrer Disziplin bewegen, wenn sie sich insofern mit dem Dekalog befassen und zwar hinsichtlich beider Tafeln.88 Die Kontroverse lässt deutlich werden, dass Althusius bei aller Konzilianz offenbar nicht bereit war, in politischen wie in rechtlichen Fragen eine theologisch-biblizistische Position hinzunehmen, und zwar nicht nur deshalb, weil dies seinen wissenschaftssystematischen Grundsätzen widersprochen hätte, sondern auch, weil damit die Deutungshoheit in politisch-rechtlichen Fragen zu einem erheblichen Teil der Theologie zugefallen wäre, was Althusius ersichtlich nicht wollte. Folgt man Althusius in dieser Einschätzung, so ist in der Tat wissenschaftssystematisch und methodisch zwischen Politik, Jurisprudenz, __________ 87 Vgl. zum Ablauf und Hintergrund des Streits Paul Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des J. Althusius mit den Herborner Theologen (1601), in: Franz Quarthal/Wilfried Setzler (Hg.), Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1980, S. 16 ff. 88 Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXI § 41, erste Aufl. Herborn 1603, cap. XVI. Dass es um die Frage der Abgrenzung der Disziplinen geht, betont zutreffend Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 26. Siehe auch Reibstein, Althusius (Anm. 16), S. 13.

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Philosophie, insbesondere der Ethik, und der Theologie genau zu unterscheiden und zu trennen. Es fragt sich freilich, wie eine Abgrenzung im Einzelnen zu erfolgen hat. Althusius leugnet nicht, dass Theologie und Philosophie als wissenschaftliche Disziplinen wichtige Vorfragen zu klären haben, die sich im Hinblick auf die göttliche Offenbarung und das natürliche Sittengesetz in jeder praktischen Wissenschaft stellen, doch bleibt die Umsetzung auf Fragen des Gemeinschaftslebens ganz Aufgabe der Politik sowie in Einzelfragen auch der Jurisprudenz.89 Die fachsystematische Zuständigkeit für das soziale Zusammenleben fällt freilich in erster Linie der Politikwissenschaft zu. In dieser Frage zeigt sich ein althusisches Persönlichkeitsmerkmal: Er geht wissenschaftlichen (und wie man hinzufügen muss: politischen) Auseinandersetzungen nicht aus dem Wege, auch wenn es sich um solche mit befreundeten Kollegen handelt.

II. Althusius’ Ich-Bewusstsein und seine Rationalität Die Argumentation des Althusius wird getragen von einem ausgeprägten Ich-Bewusstsein, das sich der Wahrheit gewiss ist und sich mit einem normativen Wissenschaftsverständnis verbindet, das in der Art eines binären Codes zwischen Wahrem und Falschem unterscheidet. So heißt es in der „Politica“ mitunter: Die einen sagen das, die anderen das, ich aber meine, unter Verwendung des starken lateinischen Wortes ego, dass es sich so und so verhält.90 Oder: X sagt das und das, aber das ist falsch (falsum est).91 Besonders aufschlussreich ist seine Kritik an Bodin, dem großen Gegner und Souveränitätstheoretiker. Gleich im Vorwort zur Erstauflage der „Politica“ 1603 heißt es bei Althusius: Ich kümmere mich um die clamores Bodini, also das Geschrei oder das Gerede Bodins nicht. Die Antwort nach dem „Warum“ lautet: Weil die rationes, also die Gründe oder Vernunftgründe für meine Auffassung feststehen.92 Dies bleibt keine bloße Behauptung, sondern wird im Einzelnen in der

__________ 89

Althusius, Politica (Anm. 2), Vorwort zur ersten Auflage Herborn 1603, Bl. 5.

90

Siehe z.B. die Auseinandersetzungen mit Jean Bodin, William Barclay und Scipio Gentilis, in: Politica (Anm. 2), cap. IX §§ 20 f.; cap. XIX § 67; cap. XXXVIII §§ 67, 81, 110, 114 sowie das Vorwort zur dritten Auflage der Politica, das von IchBezügen überquillt und auf ein wachsendes Selbstbewusstsein schließen lässt. 91

Althusius, Politica (Anm. 2) gegen Barclay und Bodin, cap. XVIII § 106, cap. XIX § 91, cap. XXXVIII §125. 92

Ebd., Vorwort zur Ausgabe 1603, Bl. 7.

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„Politica“ näher belegt und ausgeführt, hier: dass die Souveränitätsrechte nicht dem Herrscher, sondern der Gesamtheit zustehen.93 Man hat Althusius zugeschrieben, ‚eigen- und starrsinnig‘‚ ja ‚rechthaberisch‘ zu sein.94 Das geht gewiss nicht fehl. Bei Licht und über die Jahrhunderte gesehen, ist er jedoch nicht rechthaberischer, als es Professoren, insbesondere solche der Jurisprudenz, allgemein zu sein pflegen, vor allem, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, das, was sie wissenschaftlich vertreten, auch in die Praxis umzusetzen. Man sollte sich hier in Erinnerung rufen, dass die Jurisprudenz auch eine dogmatische Wissenschaft ist (eine Eigenschaft, die sie übrigens mit der Theologie teilt), also von Lehr- oder Grundsätzen ausgeht, die als gültig, unstreitig und richtig vorausgesetzt werden. Dass es Althusius gereizt hat, unter diesem Aspekt in Emden ein geeignetes Betätigungsfeld zu finden, ist für beide Teile – um es vorsichtig zu sagen – mitunter durchaus konfliktträchtig gewesen. Althusius ist nach allem ein Gelehrter von rationalem Geist, der in Jurisprudenz und Politik neue Wege beschreitet. Die ramistische Logik erwies sich dabei als geeignet, bestehende Denkgewohnheiten aufzubrechen, verleitete aber zugleich zu einem sachlich nicht gerechtfertigten Schematismus, von dem auch das rechtliche und politische Werk des Althusius nicht frei ist. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wird sie kaum mehr zugrunde gelegt und tritt schließlich ganz zurück. Der Ramismus hat aber kraft des ihm innewohnenden begrifflichsystematischen Potentials den Boden bereitet für solche Formen rationalen Denkens, wie sie bei Althusius in der wiederholten Berufung auf die recta ratio anklingen, jedoch erst im Gefolge eines durch den Cartesianismus hindurchgegangenen Vernunftrechtsdenkens voll zur Entfaltung kommen. Althusius steht so methodologisch an der Wegscheide einer Epoche, die das scholastische Naturrechtsverständnis allmählich hinter sich lässt und den Blick auf eine sich als autonom begreifende Vernunft in ersten Umrissen freigibt.

__________ 93 94

Vgl. z.B. die Bodin-Kritik in der Souveränitätsfrage, ebd, cap. IX §§ 20 f.

Vgl. Heinz Antholz, Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Anm. 15), S. 67 ff. (99); Walter Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1576 bis 1611, in: Bernd Kappelhoff, Geschichte der Stadt Emden, 1, Leer 1994, S. 271 ff. (318 ff.).

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E. Der politisch-soziale und religiöse Kontext des althusischen Wirkens im Rahmen der ‚Zweiten Reformation‘ I. Althusius’ Ambivalenz zwischen religiöser Minderheits- und Mehrheitsposition Wenden wir uns nunmehr dem politisch-sozialen Kontext zu, auf dessen Hintergrund die Rechts- und Politiklehre des Althusius konzipiert ist und ohne dessen Einbeziehung sie nicht zureichend verstanden werden kann. Sieht man sich die Art seines Denkens und Handelns unter diesem Aspekt genauer an, so gewinnt man den Eindruck, dass Althusius zugleich aus einer Minderheits- wie einer präsumtiven Mehrheitsposition argumentiert. Diese doppelte, ja ambivalente Perspektive hat ihren Grund nicht zuletzt in der politischen Konstellation, wie sie für das Ende des 16. und den Beginn des 17. Jahrhunderts kennzeichnend ist. Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dabei sei allein das christlich-konfessionelle Moment für das althusische Wissenschaftsverständnis ausschlaggebend gewesen. Es geht vielmehr auch um Politik und Macht. Recht, Politik und Religion sind im Bewusstsein der Zeit eng miteinander verknüpft. Dies wird nicht zuletzt daran sichtbar, dass Luther das Schicksal der Reformation notgedrungen an das Landesfürstentum gebunden hatte, wobei der Landesherr zwar nur ‚Notbischof‘ sein sollte, die Konnexität von Landesherrschaft und Bischofsamt dann aber praktisch wurde und Probleme heraufbeschwor, die ungeachtet der anders ansetzenden ZweiReiche-Lehre zu einer ursprünglich nicht intendierten konfessionell-politischen Gemengelage führten. Eben diese Konstellation war im Augsburger Religionsfrieden bekräftigt worden, der den Landesherren das freilich erst später so genannte Reformationsrecht (ius reformandi) zuerkannte, das in der Folge dann in dem bekannten Wort „cuius regio eius religio“ seinen – nicht gerade von Toleranz zeugenden – Niederschlag fand.95 Eine Reformation, die von oben her erfolgte und in der der Landesherr die Konfession bestimmte, war von daher gesehen staatskirchenrechtlich keineswegs illegitim, blieb für die Reformierten, die in den Konsensus des Augsburger Religionsfriedens nicht förmlich einbezogen waren, aber prekär und damit ihre Konfession und ihr konfessioneller Besitzstand rechtlich ungesichert, mit der Folge, dass nicht auszuschließen war, in ein „konfessionspolitisches Niemandsland“ zu geraten.96 __________ 95 Vgl. Bernd Christian Schneider, Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches (Jus Ecclesiasticum, 68), Tübingen 2001, S. 273. 96 Vgl. Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989, S. 370.

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Sehen wir uns die religionspolitische Landkarte des damaligen Reiches unter diesem Aspekt näher an, so war der überwiegende Teil der Stände katholisch oder evangelisch-lutherisch. Der Calvinismus hatte sich jedoch in einigen Regionen durchsetzen und behaupten können, darunter in der Kurpfalz, in Teilen Westfalens, insbesondere des Münsterlandes, im norddeutschen und ostfriesischen Raum, vor allem in Emden, sowie in der Landgrafschaft Hessen und der Grafschaft Nassau-Dillenburg. Hinzu treten Teile der Eidgenossenschaft sowie im Nordwesten die niederländischen Provinzen, die sich von den spanischen Habsburgern in der Utrechter Union von 1579 losgesagt hatten.97 Damit kommt ein zusätzlicher macht- und außenpolitischer Faktor ins Spiel, weil sich in der Schweiz und in den Niederlanden konfessionelle Gesichtspunkte und Sezessionsbestrebungen mit dem Ziel verbanden, aus dem Verband des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation auszuscheiden, was dann im Westfälischen Frieden am Ende auch erfolgreich war. Aber auch im Südosten des Reichs waren politische und religiöse Momente eng miteinander verbunden. Gerade diese Konstellation trug zur Verschärfung der ohnehin komplexen Verhältnisse wesentlich bei. Vor allem die böhmischen Stände fühlten sich unter der Herrschaft der Habsburger politisch und religiös unterdrückt. Dabei waren sich in einer unübersichtlichen konfessionellen Konstellation Lutheraner, Reformierte und nicht zuletzt Böhmische Brüder in der Tradition des Jan Hus zwar in der Abwehr der katholisch-habsburgischen Herrscher, nicht aber untereinander einig. Wenn man bedenkt, dass Sachsen unter der kurzen Herrschaft des Kurfürsten Christian I. und seines Kanzlers Nikolaus Krell nahe daran war, auf Dauer calvinisch zu werden, so ist dies in den Auswirkungen und auch in der europäischen Signalwirkung schwerlich zu überschätzen, war das Kurfürstentum Sachsen doch Mutterland der Reformation.98 Es ist gewiss kein Zufall, wenn wenig später der Dreißigjährige Krieg sich in Böhmen entzündet, wo die Stände den habsburgischen Herrscher förmlich abwählten und Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, einen überzeugten Calvinisten, zum – letztlich allerdings erfolglosen – ‚Winterkönig‘ machten. __________ 97 Siehe für die Niederlande Johannes Arndt, Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566 bis 1648, Köln 1998 (Münstersche Historische Forschungen, 13), S. 71 ff. 98 Vgl. Dieter Wyduckel, Der sächsische Kanzler Dr. Nikolaus Krell (1552-1601) – Ein Jurist als Justizopfer? – Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Recht, Politik und Religion, in: Klaus Peter Berger u.a. (Hg.), Zivil- und Wirtschaftsrecht im Europäischen und Globalen Kontext. Festschrift für Norbert Horn zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 1285 ff.

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II. Augsburger Religionsfrieden und ‚Zweite Reformation’ Althusius geht an den zeitpolitischen Gegebenheiten weitgehend vorbei, man kann auch sagen: geht ihnen aus dem Wege, wenn man von Ostfriesland und den Niederlanden einmal absieht. Die althusische Minderheitenposition wurzelt letztlich im Augsburger Religionsfrieden. Zwar erschien mit dem religiösen Friedensschluss von Augsburg ein gewisser Waffenstillstand der streitenden Parteien erreicht, doch waren in den Frieden explizit nur Katholiken und Lutheraner einbezogen, alle anderen gemäß Art. 17 hingegen „gänzlich ausgeschlossen“. Hierzu zählten weitgehend einvernehmlich die sog. Sekten, also Täufer u.a., insbesondere sozialrevolutionäre Gruppen und Bestrebungen. Aber auch die Philippisten gerieten ins Visier, d.h. die in der etwas gemäßigteren Melanchthon-Tradition stehenden Theologen und Juristen, sowie insbesondere ‚verborgene‘ Calvinisten, die schon genannten Kryptocalvinisten99, denen man unterstellte, unter dem Deckmantel des Luthertums insgeheim reformierte ‚Umtriebe‘ zu verfolgen. Aber auch offene Anhänger Calvins blieben in ihrer Konfession angesichts dieser politisch-rechtlichen Umstände ungesichert. Der Friede erwies sich damit, abgesehen von den Auseinandersetzungen mit den katholisch gebliebenen Ständen des Reiches, auch innerprotestantisch als prekär und brüchig. Es ist hier nicht möglich, aber auch nicht erforderlich, die Glaubensstreitigkeiten im Einzelnen nachzuzeichnen sowie die dogmatischen Positionen zu entfalten, die sich hinsichtlich der Kontroverspunkte – die Sakramente, die Taufe, das Abendmahl, die Sündenlehre, den Gottesbegriff, die Christologie etc. – ergeben. Ich würde, wenn ich mich darauf einließe, – althusisch gesprochen – ‚in einer fremden Ernte mähen‘. Wichtig ist hingegen, unter einem allgemeineren Gesichtspunkt darauf hinzuweisen, dass im reformierten Protestantismus im ausgehenden 16. Jahrhundert die Auffassung virulent wird, dass die lutherische Reformation gleichsam ‚stecken geblieben‘ sei, weil sie sich primär auf eine Reformation bloß der Lehre beschränkt habe. Die Umsetzung einer Reformation des Lebens, die reformatio vitae, sei demgegenüber zu kurz gekommen und eben dieser müsse man sich nunmehr verstärkt zuwenden. Man hat diesen Sachverhalt rückblickend, innerprotestantisch überzeichnend, auch als „Zweite Reformation“ charakterisiert.100 Die Bezeichnung ist umstritten, weil und insoweit sie geeignet scheint, die lutherische Reformation in ihrer __________ 99

Siehe oben S. 168.

100

Vgl. zur – nicht unumstrittenen – Begriffsbildung Heinz Schilling, Die „Zweite Reformation“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.), Die Reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195), Gütersloh 1986, S. 387 ff.

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Bedeutung und weitausgreifenden Dimension einzuschränken, doch ist nicht zu leugnen, dass die innerprotestantischen Streitigkeiten in dem hier in Frage stehenden Zeitabschnitt in ihrem Kern darauf gerichtet sind, den richtigen reformatorischen Weg zu finden, ihn zeitangemessen zu verfolgen, aber auch staatskirchenrechtlich umzusetzen. Auf diesem Hintergrund nahm jede der Konfessionen mehr oder minder stark für sich in Anspruch, im Besitz der wahren, reinen und richtigen Religion zu sein mit Folgen auch für Politik und Recht sowie ihre wissenschaftlich-dogmatischen Implikationen. Ob Althusius den Begriff der ‚Zweiten Reformation‘, wenn er ihn denn zu hören bekommen hätte, verstanden haben würde, erscheint fraglich. Geht Althusius doch offenbar von der einen Reformation (und wie hinzuzufügen ist: der einen Religion und Konfession) aus, die es freilich in einer ihm als richtig verstandenen Weise zu verstehen und umzusetzen gelte. Die Nagelprobe für den eigenen Standort stellt die Toleranzfrage dar. Universalistisch, also aus einer Mehrheitsposition heraus betrachtet, erscheint manches, was Althusius zu sagen hat, schneidend scharf, manches umgekehrt geradezu gönnerhaft, wenn man daran denkt, dass er Toleranz gegenüber den protestantischen Glaubensbrüdern aus mehr pragmatischen Gründen einzufordern scheint.101 Dabei ist aus seiner Sicht dem Paradoxon Rechnung zu tragen, dass im Sinne der Selbstbehauptung Autonomie, Religions- und Gewissensfreiheit im Außenverhältnis gefordert werden und gefordert werden mussten, während im Binnenbereich auf Einheit und Disziplin bestanden wird, um die reformatorischen Ziele und den konfessionellen Besitzstand nicht zu gefährden. Eben diese Spannungslage kommt paradigmatisch vor allem in der althusischen Politik zum Ausdruck, die in dieser Form weder im lutherischen noch im katholischen Raum entstehen konnte, wenn einerseits auf der Gewährleistung der pura religio bis hin zur drohenden Sezession, andererseits zugleich auf Ordnung und Konformität insistiert wird. Althusius setzt bei dieser Ausgangslage auch im eigenen Interesse auf Toleranz, die er zugleich wieder begrenzen muss. Dabei sind Glaubenszwang und religiöse Verfolgung abzuweisen, auch ist ein gewisses Maß an Dissens im Sinne der Ruhe und des Friedens zu ertragen, wenn sich keine andere Möglichkeit der Konfliktlösung ergibt.102 Ausgeschlossen von der Duldung sind hingegen gänzlich Atheismus und Libertinismus, d.h. Freigeisterei,103 was darauf hindeutet, dass vom Standpunkt des Althusius ein transzendenter Bezug im Gemeinwesen als unabdingbar erachtet wird oder doch als gleichsam unverzichtbarer zivilreligiöser Grundbestand vorausgesetzt ist. __________ 101

Siehe auch oben S. 181f.

102

Althusius, Politica (Anm. 2), cap. XXVIII §§ 63 ff.

103

Ebd., cap. XXVIII § 52.

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F. Was bleibt? Was bleibt am Ende? Ein streitbarer Jurist und Lehrer der Politik, der in einer Zeit des vielfachen Umbruchs wie auch andere festen wissenschaftlichen Stand zu finden sucht und aus seiner christlichen und politischen Überzeugung kein Hehl macht. Dabei gewinnt man mitunter den Eindruck, dass ein Funken göttlicher Gnade auch im Zusammenhang von Recht und Staat wirksam ist oder doch wirksam werden kann, wie nicht zuletzt am Rechts- und Gesetzesbegriff, besonders aber am Naturrechtsverständnis des Althusius deutlich wird. Der legeshierarchische Ableitungszusammenhang, wie er Thomas von Aquins scholastischem und spanisch-spätscholastischem Denken vorschwebte, ist bei Althusius zwar brüchig geworden, aber nicht völlig aus dem Spiel. Dem Wort Melanchthons, das Recht sei entweder natürliches oder positives – „Ius aut est naturale, aut positivum“104 – hätte er wohl nicht zugestimmt, weil in seinem Rechtsdenken die Vorstellung einer gestuften rechtlichen Ordnung rudimentär erhalten bleibt, in der alles positive Recht, von dem Althusius durchaus eine Vorstellung hat, stets auch naturrechtlich geprägt ist. Althusius hat nicht mehr erlebt, wie nach den leidvollen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges erst der Westfälische Frieden einen dauerhaften modus vivendi zustande brachte. Hier wurden anders als im Augsburger Religionsfrieden in den Artikeln V § 35, VII § 1 des Osnabrücker Friedensinstruments schließlich auch die Reformierten in den staatskirchenrechtlichen Konsensus einbezogen. Damit war ein wichtiger Schritt nicht nur zur Befriedung der evangelischen und der katholischen Konfession, sondern zugleich zum innerprotestantischen Frieden getan, auch wenn das Reformiertentum angesichts der religiösen, rechtlichen und politischen Verhältnisse im Reich daraus keinen rechten Nutzen mehr ziehen konnte. Das heißt aber nicht, dass Althusius’ Lehre, Leben und Wirken nur mehr eine Fußnote der Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie der Kirchengeschichte und politischen Theorie wert wäre. Ich freue mich ganz besonders, dass hier in der a Lasco Bibliothek ein Ort ist, in dem wir in kritischer Auseinandersetzung seiner gedenken und uns damit erneut die Frage stellen, wie man in hoc saeculo, also in dieser Welt, zugleich Christ und Bürger sein kann.

__________ 104 Vgl. Philipp Melanchthon, Ethicae doctrinae elementorum libri duo (1550-1560), in: ders., Opera quae supersunt omnia, Corpus Reformatorum, vol. 16, Halle 1850, S. 165-276 (227, 229 f.); dazu Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert (Frühe Neuzeit, 52), Tübingen 1999, S. 50 f.

Konfessionelle Einflüsse auf das Berufs- und Amtsverständnis in Althusius’ „Politica“ Von Katharina Odermatt, Engelberg

A. Einleitung

Im vorliegenden Beitrag soll eine mentalitätsgeschichtliche Frage an den Text der „Politica“ gerichtet werden: Wie definiert Althusius Beruf und Amt und inwiefern erweisen sich diese Definitionen als von konfessionell geprägten Konzepten beeinflusst? Obwohl es verlockend ist, die Fragestellung auf lutherische und auch katholische Konzepte auszuweiten, wird die Untersuchung sich auf calvinistische Einflüsse beschränken. Ausgangspunkt bildet das von Max Weber entwickelte Konzept der protestantischen Ethik. Nach einer kurzen Einführung zur protestantischen Ethik wird auf die Rahmenbedingungen eingegangen, welche Althusius für alle Formen menschlicher Tätigkeit setzt. Danach wird anhand ausgesuchter Stellen zu Beruf und Amt illustriert, inwiefern sich Einflüsse der protestantischen Ethik im Text der „Politica“ finden lassen, aber auch wie diese stark normativen Aussagen durch andere Einflüsse auf den Text unterstützt, relativiert oder abgeschwächt werden. Dabei werden vor allem bisher weniger beachtete Passagen im Text berücksichtigt. Hierzu ist zu bemerken, dass natürlich zu den Ämtern und ihrer Ausführung viel mehr Material vorliegt als zur Berufsausübung, dies liegt in der Natur des Textes. Im Übrigen hat Althusius die öffentlichen Ämter auf allen Verbandsebenen diskutiert, wobei es auch zu Wiederholungen und redundanten Aussagen kommt. Die Auswahl musste angesichts der Materialfülle notgedrungen begrenzt ausfallen.

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B. Die protestantische Ethik Max Weber untersuchte die durch die reformatorische Theologie ausgelösten Verschiebungen und Neubewertungen der Arbeit und des Berufs und setzte diese in Bezug zum aufkommenden Kapitalismus.1 Im Zuge seiner Überlegungen zeigte er die bereits bei Luther einsetzende Umdeutung des Berufs zur Berufung auf, beschrieb die Umwandlung der caritas zur Pflichterfüllung, wies auf die Auswirkung der Prädestinationslehre auf den Berufsalltag hin und prägte die komplementär zu verstehenden Konzepte der Entzauberung der Welt und der innerweltlichen Askese. Wie nun sah diese Neubewertung der Arbeit aus und inwiefern unterschied sie sich von den Berufsauffassungen des Mittelalters und der Antike? Weber räumt ein, dass Ansätze zu einer positiven Bewertung der Arbeit bereits in diesen Epochen existierten, im Großen und Ganzen jedoch wurde Arbeit als Notwendigkeit bzw. von Gott auferlegte Mühsal begriffen. Erst in der Reformation setzte mit Luther eine positive Bewertung der Arbeit ein. Luther verknüpfte in seiner Bibelübersetzung Berufung und Beruf miteinander. Der Begriff wurde durch ihn religiös konnotiert und als von Gott gestellte Aufgabe interpretiert. Berufserfüllung wurde dadurch mit Pflichterfüllung gegenüber Gott gleichgesetzt. Diese religiöse Aufladung der Arbeit bzw. des Lebenserwerbes erfolgte in Auseinandersetzung mit der katholischen Lehre, welche nur die mönchische Askese sittlich überhöhte, da in ihr Arbeit zum Gebet umgedeutet wurde. Diesem Konzept stellte Luther seine Auffassung einer sittlich gleichwertigen, innerweltlichen Pflichterfüllung entgegen.2 __________ 1 Zwar herrscht in der Forschung immer noch Uneinigkeit über das Ausmaß an Kausalität, welches dieser Beziehung zugerechnet werden darf, doch Webers grundlegende Feststellung einer durch die protestantische Theologie ausgelösten Neubewertung der Arbeit wird kaum noch angezweifelt. Die folgenden Ausführungen basieren auf: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, hg. v. Johannes Winckelmann, Gütersloh 1991, S. 29-277. Wenn nicht anders vermerkt, wird Althusius’ „Politica“ nach folgender Ausgabe zitiert: Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata. Cui in fine adiuncta est Oratio panegyrica de utilitate, necessitate et antiquitate scholarum, 3., erweit. Aufl., Herborn 1614; FaksimileReprint Aalen 1961 = 1981. 2 Nach Weber durchläuft Luthers Berufsauffassung mehrere Stadien. Sie beginnt mit einer als „eschatologische Indifferenz“ umschriebenen Haltung. Die Art des Berufs ist unerheblich und das Streben nach Gewinn ist verwerflich. Erst mit der zunehmenden Politisierung seiner Lehre beginnt Luther dem Beruf mehr Bedeutung zuzumessen, der Beruf wird je länger je mehr zum Ausdruck des göttlichen Willens in Bezug auf das individuelle Schicksal. Diese Auffassung kulminiert in der Abwehr der Bauernunruhen und anderer „Schwarmgeister“, welche sich gegen die soziale Ordnung erheben. Die

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Im Calvinismus wird diese neue Bedeutung des Begriffes weiter ausgebaut zur innerweltlichen Askese, deren Wurzeln in der Ausgestaltung des Dogmas der Gnadenwahl durch Calvin und seine Nachfolger liegen. Calvin basiert seine Ausführungen zur Prädestination auf einer rationalen Überlegung, welche Gott und seine unbegrenzte Freiheit zum Zentrum hat. Gnade wird zu etwas, das außerhalb des menschlichen Einflussbereichs liegt. Das Individuum wird jeder magischen Tröstung durch Sakramente oder priesterliche Vermittlung entkleidet – die Entzauberung der Welt findet ihren Abschluss. Mit dieser Vereinsamung des Individuums geht eine Ablehnung jeglicher Sinnenkultur einher. Und doch bildet der Calvinismus ausgehend von diesen vereinsamten Individuen eine ungemein straffe soziale Organisation, Weber spricht hier von einem „Rätsel“. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in weiteren Transformationen des Arbeitsbegriffs. In einem ersten Schritt wird die Nächstenliebe zu einem Instrument der Verherrlichung Gottes umgedeutet, die soziale Arbeit der Calvinisten wird zur religiösen Pflicht. Die Berufsarbeit wird als Ausdruck der Nächstenliebe ebenfalls religiös konnotiert. Sie stellt nicht mehr primär einen Dienst am Mitmenschen dar, sondern wird zur Pflichterfüllung gegenüber dem Schöpfer. Dadurch entwickelt sich ein rigoroser Anspruch zur Perfektion in der Arbeitsausübung. Arbeit wird zur Pflichterfüllung, ja zum Gebet und hier schlägt Weber die Brücke zur mittelalterlichen Askese. In der klösterlichen Gemeinschaft wurde der Arbeit auch spiritueller Wert zugemessen, die Arbeit als Gebetsform betrachtet. Dieses Konzept wird aufgegriffen und umgedeutet – die Pflichterfüllung gegenüber Gott wird nun nicht mehr von einigen wenigen hinter Klostermauern vorgenommen, sondern sie obliegt jedem gläubigen Individuum in der Welt, sie wird zur innerweltlichen Askese. Hatte Calvin noch festgelegt, dass es keine Indizien für den Gnadenstand geben konnte, wurde die Lehre später vornehmlich durch Beza abgemildert. Seelsorgerisch wurde dem verständlichen Bedürfnis der Menschen nach Gewissheit dadurch nachgekommen, dass der Glaube an den eigenen Gnadenstand zur Pflicht erklärt wurde – Zweifel wurde zur Anfechtung des Teufels erklärt. Diesem Zweifel sollte durch rastlose Berufsarbeit begegnet werden. __________ historische Ordnung wird als göttliche Setzung interpretiert, Beruf und Stand sind demnach ebenfalls von Gott vorgegeben und dürfen nicht angezweifelt werden. Hinsichtlich der sozialen Ordnung ist Luthers Auffassung also zutiefst traditionalistisch – das innovative Element liegt in der Entwicklung einer Berufskonzeption, die den Lebenserwerb nicht nur als überlebenstechnische Notwendigkeit, sondern auch als Pflichterfüllung gegenüber dem Schöpfer darstellt. Weber, Protestantische Ethik (Anm. 1), S. 71 ff.

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Die sorgfältige Berufsausübung erfüllt also mehrere Funktionen: erstens ist sie Pflichterfüllung gegenüber den Mitmenschen und dem Schöpfer, zweitens dient sie der Affirmation des Gnadenstandes. Dadurch ergibt sich eine rigorose Disziplinierung des Individuums durch einen streng vorgegebenen Alltag, welcher geprägt war durch das nun verweltlichte Prinzip der Askese und der ständigen (Selbst-)Kontrolle. Inwiefern lassen sich nun Spuren dieser Konzepte in der „Politica“, einem unzweifelhaft calvinistisch geprägten Text, finden? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, ist es lohnenswert, einen Blick auf das Prinzip der symbiosis zu werfen. Man kann durchaus sagen, dass die symbiosis in vielerlei Hinsicht die Antwort auf das oben von Weber erwähnte Rätsel darstellt.

C. Die Symbiosis Althusius’ soziales und politisches Denken ist geprägt von der Konzeption der symbiosis. Jegliches menschliche Handeln muss in die symbiosis eingebettet sein, um überhaupt einen Wert zu haben. Im Konzept der symbiosis drückt Althusius den Gedanken aus, dass der Mensch nur in der Gemeinschaft würdig und gottgefällig leben kann.3 Dieses symbiotische Zusammenleben weist zwei Aspekte auf: Es ermöglicht dem Menschen, seiner Natur zu folgen und seine Pflicht gegenüber Gott und seinen Mitmenschen zu erfüllen. Die durch Gott vorgegebene Ungleichheit der Menschen bedingt den Zusammenschluss, so dass sie sich helfen und ergänzen. Die zweite Komponente liegt in der Unvollkommenheit des Menschen, nur im symbiotischen Zusammenleben ist der Mensch sicher aufgehoben und kann er sein Potential voll entfalten.4

__________ 3 Dass Althusius den Begriff sowie seine Derivate erst in der Drittausgabe verwendet hat, ist bekannt. Er erreichte durch die damit geschaffene neue Terminologie vor allem zwei Ziele: die Betonung der strukturellen Gleichheit aller Verbandsstufen einerseits und eine stärkere Herausarbeitung des determinativen Charakters allen sozialen Zusammenlebens andererseits, vgl. Katharina Odermatt, Historische Erfahrung und politische Theorie. Entwicklungsstufen der „Politica“ des Johannes Althusius, Diss. Bern 2005, S. 118 ff. 4

Vgl. hierzu Peter Jochen Winters, Die „Politik“ des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen: zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert (Freiburger Studien zu Politik und Soziologie), Freiburg i. Br. 1963, S. 175. Diese Interpretation stützt sich auf I, 3-4.

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Der Mensch, der sich der symbiosis verweigert, lehnt es demnach ab, seine gottgegebene Rolle zu erfüllen. Diese Überlegungen werden vor allem in den Kapiteln der „Politica“, welche sich mit der Sozialdisziplinierung befassen, bedeutsam. Diese Ablehnung sieht Althusius nicht nur bei jenen, welche sich aus ethisch fragwürdigen Gründen der symbiosis verweigern: etwa den Tagedieben und gesellschaftlichen Randexistenzen, die sich der Berufsarbeit insgesamt verweigern oder einer moralisch suspekten Tätigkeit nachgehen. Nein, sie betrifft auch jene, welche ihr Leben der Kontemplation widmen und deren Arbeit höchstens der eigenen Subsistenz dient. In aller Deutlichkeit wird der Lebenslauf der vita contemplativa (gemeint ist hier die eremitische Existenz bzw. deren Fortsetzung in einer klösterlichen Gemeinschaft) bereits im ersten Kapitel als Irrweg bezeichnet, da weder die Gebote der ersten Dekalogtafel noch jene der zweiten Tafel so erfüllt werden können (I, 28). Nur in der symbiosis kann das Individuum also seine Pflichten gegenüber Gott (erste Tafel des Dekalogs) und den Mitmenschen (zweite Tafel des Dekalogs) erfüllen. Und zu dieser zweifachen Pflichterfüllung gehören der private Beruf wie auch das öffentliche Amt. Beide dienen der Aufrechterhaltung der symbiosis und beide müssen denselben Ansprüchen genügen bzw. dieselben Grundqualitäten aufweisen. Mit der symbiosis erschafft Althusius ein Konzept, das alle Formen menschlichen Zusammenlebens durchdringt und Kategorien wie privatöffentlich, weltlich-religiös überschreitet. Die symbiosis schreibt Handlungsweisen vor, die sowohl den Anforderungen der vera religio wie auch des Staatswesens (beide sind sowieso auf vielfältige Art und Weise miteinander verknüpft) genügen müssen.

D. Die vier Grundvoraussetzungen Grundlegend ist festzuhalten, dass Althusius den ethische Wert jeder Tätigkeit anhand zweier Maßstäbe festlegt: Ruhm und Ehre Gottes und Nützlichkeit für die symbiosis. Diese zwei sich ergänzenden Prinzipien stellen zusammen den Angelpunkt aller entsprechenden Überlegungen dar. In Kapitel VII, 19 ff. liefert Althusius eine Liste ethischer Charakteristika für würdiges, der symbiosis förderliches und gottgefälliges Handeln. Diese Voraussetzungen werden in vier Gruppen geordnet.

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I. Erlaubt, ehrenhaft und angemessen „Primum requisitum est, ut quisque pro se eligat legitiman, licitam & honestam functionem, naturae & viribus suis accomodatam, qua Deo gratam, & symbioticis, Reip. sibi utilis esse possit“ (VII, 19).

Erlaubte und ehrenhafte Tätigkeiten definieren sich über ihre Zielsetzung, das heißt, sie dienen entweder dem sozialen Stand, der Gemeinschaft oder der Familie bzw. deren Erhaltung. Angemessene Tätigkeiten ergeben sich aus der natürlichen Neigung, welche den von Gott verliehenen Gaben entspricht. Diese natürliche Neigung lässt sich an äußerlichen wie innerlichen Merkmalen identifizieren und wird verstandes- wie gefühlsmäßig ausgemacht. Aus diesen Neigungen ergeben sich verschiedene Berufungen: Eine politische Berufung zum Regieren bzw. Gehorchen und die sozioökonomische zur Landwirtschaft, zum Handel, zum Handwerk oder zu geistiger Tätigkeit. Die von Gott verliehenen Gaben werden durch Erfolg und Erfahrung erkannt. Sollte es hierbei Zweifel geben, so soll der Rat anderer eingeholt werden. Qualifiziert sich jemand für mehrere Funktionen, so ist die ethisch höchststehende zu wählen. Was wir hier haben, ist eine vollendete Ausformung des Konzeptes der vocatio, d.h. der Berufung im wörtlichen Sinne. Das Individuum wird durch seine Neigung dazu gebracht, seine Gaben zu entfalten und sich so in die symbiosis einzubringen und – um es in moderner Terminologie auszudrücken – sich zu verwirklichen. Dass auf verschiedene Probleme eingegangen wird, zeugt von einem überraschenden psychologischen Verständnis. Sich bei Unklarheit über die eigene Bestimmung ratsuchend an andere zu wenden, entspricht der Logik des symbiotischen Zusammenlebens. Und dass man im Falle verschiedener gleich stark ausgeprägter Gaben jener zu folgen hat, welche zur ethisch höherstehenden Tätigkeit führt, ergibt sich natürlich aus der Forderung, dass alles menschliche Handeln dem Ruhme Gottes zu dienen hat (s. u.).5 Aus diesen sehr kurz gehaltenen Aussagen zur Angemessenheit der vocatio entsteht das Ideal einer Welt, in der jeder seiner Bestimmung folgend seine Talente zum Besten der Gesellschaft bzw. symbiosis einsetzt. Dieses Ideal wird allerdings später im Text etwas relativiert. In Kapitel XXXII, 9 ff. finden sich einige Empfehlungen, die deutlich machen, dass der Prozess der Berufswahl wohl mehr Regulativen bedarf als nur der Kontemplation des Einzelnen, um __________ 5 Ein Problem, auf das hingegen nicht eingegangen wird, ist die Erfahrung, dass Neigung und Fähigkeiten auseinander gehen könnten – eine Möglichkeit, welche innerhalb des calvinistischen Horizonts nicht existiert.

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eine funktionierende symbiosis zu gewährleisten. Gleich zu Beginn des Kapitels wird der Handel diskutiert und sehr genau festgelegt, wer keinen Handel treiben darf: Kleriker und Adlige, Magistrate sowie Spekulanten, Geldverleiher und andere, welche durch Einführung eines Monopols ungehörigen Gewinn machen und das Einkommen anderer schmälern würden. Ähnliche Regulative werden für die weiteren Tätigkeiten empfohlen. Das Handwerk ist zu überwachen, so dass alle für die Gemeinschaft wichtigen Berufe in einer Gemeinschaft vorhanden sind und dass sich nicht allzu viele einem Beruf verschreiben und so die notwendige Vielfalt der Tätigkeiten eingeschränkt wird. Eine weitere Empfehlung in diesem Kapitel betrifft die Regulierung der Anzahl von Advokaten und Ärzten, denn ein Überhandnehmen dieser Berufsgruppen weist auf eine gestörte Ordnung hin. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Idee der sich selbst regulierenden Berufswelt von Althusius sehr wohl als Ideal erkannt wurde. In der Realität scheint er der unsichtbaren calvinistischen Hand, die das einzelne Individuum zu einer angemessenen Berufswahl führt, welche gleichzeitig auch zum größten Nutzen der symbiosis ausfällt, nur bedingt vertraut zu haben.

II. Begrenzt, kenntnisreich „Alterum requisitum est, ut quilibet intra limites vocationis & officii sui se contineat, & propria functionis & vocationis suae officia atque opera intelligat & sciat, quod cognosci potest ex eo, quod sunt convenientia, apta, utilia, commoda & necessaria, sine quibus functio & vocatio expediri non potest“ (VII, 23).

Waren die Charakteristika der ersten Gruppe für den modernen Leser noch durchaus einsichtig und verständlich, so ist die Kategorie der limites vocationis schwerer zu erfassen, beruht sie doch auf einer längst verschwundenen Auffassung ständischer bzw. sozialer Organisation, welche eine streng definierte Ordnung postulierte.6 Es erstaunt nicht, dass das Thema der Begrenzung und der (unerlaubten) Grenzüberschreitung auch im Kontext der Berufs- und Amtsausübung auftaucht. Grenzüberschreitungen bergen gefährli__________ 6 Darüber hinaus spielt im Ramismus, der Methodik, welcher die „Politica“ unterliegt, das Thema der Begrenzung bzw. der exakten Grenzziehung eine wichtige Rolle. Genauer gesagt liegt Grenze bzw. die Grenzziehung vor allem in der Anwendung der lex justitiae begründet, einem der drei ramistischen Gesetze. Der Ramismus hat seine Wurzeln in der topischen Logik, deshalb die Bedeutung der Begrenzung bzw. der exakten Grenzziehung. Das zeigt sich im Text der „Politica“ auch aufgrund der vielen territorialen Metaphern, welche Althusius verwendet (vgl. Odermatt, Historische Erfahrung [Anm. 3], S. 45 ff.).

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ches Potential, da sie Störungen der Ordnung darstellen. Bezogen auf menschliches Handeln gibt es verschiedene Ordnungen, welche durch Grenzüberschreitungen gestört werden können: die Berufsordnung, die Ständeordnung, die Ämterordnung und die soziale Ordnung insgesamt. Alle diese Ordnungen sind miteinander in der symbiosis verbunden. Keine dieser Ordnungen ist permissiv angelegt: Geht man davon aus, dass jedes Individuum in der symbiosis einen seinen Fähigkeiten und seiner Natur angemessenen Platz zugewiesen erhält, so ergeben viele Passagen in der „Politica“, die sich mit rigoroser calvinistischer Sozialdisziplinierung befassen, durchaus Sinn (s. u.). Diesen Platz zu verlassen, seine Grenzen zu überschreiten, ist keine modern definierte Selbstverwirklichung, sondern das bewusste Stören der gottgewollten Ordnung. Die Gemeinschaft wiederum ist verpflichtet, solche Störungen nicht zu dulden. Kenntnis der eigenen Funktion bewahrt vor Grenzüberschreitungen, aber sie garantiert auch die korrekte Erfüllung der Pflichten, welche Beruf und Amt mit sich bringen. Althusius fordert an mehreren Stellen im Text die Einrichtung von Schulen, Werkstätten und Akademien zur Ausbildung der verschiedenen Stände.7 Es handelt sich um mehr als eine humanistische Forderung nach Bildung zur Vervollkommnung des Individuums – die Bildung bzw. Ausbildung wird zur Voraussetzung, dass der Einzelne sich angemessen in die symbiosis einbringen kann.

III. Den Ruhm Gottes, der Kirche und des Gemeinwesens mehrend „Tertium requisitum est, ut opera functionis & vocationis nostrae referantur ad gloriam Dei, & ad salutem ecclesiae atque Reip. in qua vivimus“ (VII, 24).

Dass alles menschliche Handeln dem Ruhme Gottes zu dienen hat, versteht sich aus einer streng religiösen Sichtweise von selbst. Der Gedanke findet sich auch in zahlreichen Leitsprüchen wie ut in omnibus glorificetur Deus oder Omnia Ad Maiorem Dei Gloriam.8 Letzteres Motto beruht auf 1 Kor 10, 31: „Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anders tut: tut alles zur Verherrlichung __________ 7 8

V, 17; VIII, 25; IX, 38 f.; XXVIII, 34 ff.

Die Crux dieser beiden Beispiele ist natürlich, dass es sich bei ersterem um das Motto des Benediktinerordens und bei letzterem um das Motto der Jesuiten handelt – die Problematik hier besteht weniger im konfessionellen Hintergrund als in der Lebensweise, der sich beide Gemeinschaften verschrieben haben (wobei die Jesuiten kaum als kontemplative Gemeinschaft im Sinne der Benediktiner verstanden werden können).

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Gottes!“ Diese Bibelstelle spielt denn auch in der calvinistischen Gedankenwelt eine wichtige Rolle. Althusius allerdings zitiert in dieser Passage Kol 3,17: „Alles was ihr tut in Wort oder Tat, das tut im Namen des Herrn Jesus.“ Natürlich ist an dieser Stelle auch auf das Soli Dei Gloria-Prinzip der protestantischen Theologie zu verweisen. Die hier ausgedrückte Heiligung allen menschlichen Handelns durch die rechte Haltung gehört, wie bereits ausgeführt, zu den Grundlagen der innerweltlichen Askese. Das Handeln zum Wohl der Kirche und zum Wohl des Gemeinwesens wird von Althusius an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Grundsätzlich gelten diese beiden Voraussetzungen für alle, den privaten Bürger wie den Amtsträger – aber da ein Großteil des weiteren Textes sich mit der Verwaltung der von Althusius als öffentlich bezeichneten Lebenswelten auseinandersetzt, finden wir diese beiden Parameter besonders häufig in der Diskussion korrekter bzw. gerechter Amtsausübung. So wird das Handeln zum Wohle der Einzelnen wie der Gemeinschaft als erstes Kriterium gerechter Herrschaft genannt (XVIII, 32) und dient als Regulativ der Herrschaft (XVIII, 40 und XIX, 35). Das Handeln zum Wohle der Kirche wird vor allem in den Kapiteln VIII, IX und XXVIII dargelegt. In zahlreichen Passagen wird Struktur und Organisation der kirchlichen Verwaltung und ihr Verhältnis zur weltlichen Verwaltung dargelegt. Wesentlich ist hierbei, dass ein funktionierendes bzw. gottgefälliges Gemeinwesen über beide Verwaltungszweige verfügen muss.9 Die Ausübung der wahren Religion ist Quelle und Ursprung allen öffentlichen wie privaten Glücks und bildet das Fundament des Staatswesens (XXXVIII, 8 ff.). Aus diesen und ähnlichen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, zum Wohle der Kirche zu handeln.

IV. Treu und gewissenhaft „Quartum requisitum est fides & diligentia: unde fidus & diligens quisque in suo munere & officio dicitur“ (VII, 25).

Die Forderung nach treuer und gewissenhafter Ausübung jeder Tätigkeit steht in enger Verbindung mit der zuvor gestellten Forderung, dass menschliches Handeln in erster Linie den Ruhm Gottes zu mehren hat. Nur korrekt und __________ 9

In allen öffentlichen Gemeinwesen ist die Verwaltung in zwei Bereiche geteilt, einen weltlichen und einen kirchlichen, beide mit den entsprechenden Ämtern versehen. Diese Zweiteilung wird zum ersten Mal in Kapitel VI, 30 zur Stadt erwähnt und dann über alle Verbandsebenen hinweg weiter beibehalten.

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mit äußerster Gewissenhaftigkeit ausgeführt, erreicht die Handlung jene Perfektion oder Würde, die dafür notwendig ist. Hier kommen Althusius’ Äußerungen in unmittelbare Nähe zu den Konzepten der Pflichterfüllung im täglichen Handeln bzw. der innerweltlichen Askese.10 Es reicht also nicht aus, einen Beruf zum einfachen Broterwerb auszuüben. Wenn im Text der „Politica“ die Überwachung der Berufsausübung eingefordert wird, so handelt es sich nicht um wirtschaftlich motivierte Eingriffe der Autoritäten in das Berufsleben zur Steigerung der Produktivität. Vielmehr geht es um die Einforderung einer individuellen Pflicht durch die Gemeinschaft. Dass diese Forderungen auch für die verschiedenen Amtsträger gelten, versteht sich von selbst. Hier allerdings kommt ein neues Element hinzu, jedes Amt in der „Politica“ beruht auf einem Mandat, so dass die Kontrolle der Amtsausübung einen juristischen Charakter hat. Und selbstverständlich schließt diese Kontrolle immer auch die mögliche Absetzung ein. Von diesen Kontrollmechanismen ist kein Amtsträger ausgenommen. Der Herrscher wird durch die Ephoren kontrolliert und die Ephoren werden durch den Herrscher kontrolliert. Die kirchlichen Amtsträger werden durch die kirchliche Gesetzgebung und die Organe der Kirchenordnung kontrolliert und die zahlreichen untergeordneten Amtsträger des Staatswesens werden durch den Herrscher (bzw. die nächst höhere Instanz) kontrolliert. Allerdings folgt diese Kontrolle zum Teil alternativen Parametern (s. u.).

E. Der Dekalog Die protestantische Ethik entwickelt mit dem Konzept der innerweltlichen Askese ein Instrument zur Heiligung allen rechtmäßigen menschlichen Handelns. Die Richtschnur dieser Rechtmäßigkeit gibt die Heilige Schrift vor und hier insbesondere der Dekalog. Althusius thematisiert die Bedeutung des Dekalogs für seine Theorie in den verschiedenen Vorreden zu den Ausgaben von 1603 bzw. 1610/14 und nimmt in zahlreichen Passagen des Textes immer wieder Bezug auf die Gebotstafeln. Zu Beginn von Kapitel VII listet er die einzelnen Gebote des Dekalogs (nach calvinistischer Zählweise) auf und tönt die funktionale Zweiteilung des Dekalogs in Kult- und Sozialtafel an; die Funktion der Dekalogtafeln als Trennlinie für den Autoritätsbereich weltlicher und kirchlicher Autorität steht dazu in enger Beziehung. __________ 10 Es erstaunt nicht weiter, dass Althusius an dieser Stelle auf William Perkins verweist, einen führenden Autor der puritanischen Bewegung.

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Die ersten vier Gebote (erste Tafel) regulieren das geistliche Leben bzw. die Beziehung zwischen dem gläubigen Individuum und Gott. Die restlichen Gebote regulieren das menschliche Zusammenleben bzw. die symbiosis. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die in Kapitel VII, 7-10 gegebene Interpretation der einzelnen Gebote zu werfen: I. Tafel 1. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben

Rechte innere Gottesverehrung

2. Du sollst dir kein Gottesbild machen

Rechte äußere Gottesverehrung (Handlung und Riten)

3. Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen

Rechte äußere Gottesverehrung (Predigerwort)

4. Gedenke des Sabbats

Öffentliche Gottesverehrung

II. Tafel 5. Ehre deinen Vater und deine Mutter

Achtung der (sozialen) Ordnung

6. Du sollst nicht morden

Verteidigung und Erhaltung des Lebens

7. Du sollst nicht die Ehe brechen

Erhaltung der Keuschheit

8. Du sollst nicht stehlen

Verteidigung und Bewahrung der Besitztümer

9. Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen

Erhaltung des Rufs

10. Du sollst nicht begehren, was dein Nächster hat

Keine Begehrlichkeit, sondern Zufriedenheit

Auffällig ist die Interpretation des 5. Gebotes, welches so gedeutet wird, dass innerhalb der symbiosis jeder dem anderen die diesem zustehende Achtung erweist. Auch die restlichen Gebote der Sozialtafel werden im Kontext der symbiosis gedeutet. So geht es nicht nur um die Erhaltung des eigenen Lebens, der eigenen Keuschheit, der eigenen Besitztümer – es erfolgt immer auch eine Referenz auf die Mitmenschen, auf die symbiotici und die Erhaltung ihres Lebens, ihrer Keuschheit, ihrer Besitztümer. Mit anderen Worten, aus den religiösen Geboten werden soziale Pflichten. Die Einhaltung der Gebote ist keine private Willensentscheidung, sondern

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Voraussetzung für eine funktionierende Gemeinschaft bzw. symbiosis. Natürlich sind die Gebote der zweiten Tafel bereits in ihrer Grundform darauf ausgerichtet, das menschliche Zusammenleben zu strukturieren, doch in der Interpretation, welche Althusius hier liefert, finden sich subtile Verschiebungen; so etwa die Umdeutung des 5. Gebotes zur Aufforderung, soziale Hierarchien zu achten, wie sie in Kapitel XXI, 27 anzutreffen ist. Welche Auswirkungen hat nun diese Auffassung des Dekalogs auf die Berufsausübung? Zuerst einmal gelten diese Pflichten für alle menschlichen Handlungen, was den Beruf selbstverständlich mit einschließt. Aus diesem Verständnis heraus wird zum Beispiel verständlich, warum Althusius Berufe, die mit Luxus oder Unterhaltung zu tun haben, negativ bewertet (s. u.). Diese Tätigkeiten sind zu kritisieren, weil sie durch ihre Produkte die Versuchung schaffen, gegen die Gebote des Dekalogs zu verstoßen, und damit die Ordnung der symbiosis gefährden. In Kapitel XXI, 27 f. zur Gesetzeskenntnis, über welche der Herrscher verfügen sollte, kommt Althusius ein weiteres Mal auf den Dekalog zu sprechen: Er wiederholt, dass die zweite Tafel die Pflichten der Menschen untereinander vorgibt und die Grundlagen eines gerechten Zusammenlebens regelt, indem sie vorgibt: „… quod quisque pro sua vocatione, aut publica aut privata, proximo ex charitate facere vel omittere debet“ (XXI, 28). In diesem Zitat finden sich zwei Schlüsselbegriffe für das Konzept der protestantischen Ethik. Zuerst einmal ist von vocatio die Rede, der privaten wie öffentlichen Berufung. Sodann taucht auch die caritas, die Nächstenliebe, auf. Wir treffen hier auf die von Weber dargelegte Umwandlung der Berufsaufgaben zur gelebten Nächstenliebe11 – wobei natürlich festzuhalten ist, dass Althusius den Begriff der vocatio mit mehr Bedeutungen als nur Beruf auffüllt. Trotzdem ist hier sehr deutlich zu sehen, wie Beruf (und Amt) ethisch aufgewertet werden. Eine gewissenhafte Erfüllung der Berufsaufgaben ist also wiederum keine individuelle Entscheidung, sondern gleichzeitig göttliches Gebot und soziale Pflicht.

__________ 11

„Die ‚Nächstenliebe‘ äußert sich – da sie ja nur Dienst am Ruhme Gottes, nicht: der Kreatur, sein darf – in erster Linie in der Erfüllung der durch die lex naturae gegebenen Berufsaufgaben, und sie nimmt dabei einen eigentümlich sachlichunpersönlichen Charakter an: den eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos“ (Weber, Protestantische Ethik [Anm. 1], S. 126).

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F. Der Beruf I. Abstufungen Eine erste eingehende Diskussion beruflicher Tätigkeiten finden wir in Kapitel II, 16-36.12 Althusius arbeitet mit einer einfachen Dreiteilung: Der Katalog ist auf den ersten Blick nach Nützlichkeit und Ehrbarkeit strukturiert. Bei genauerem Hinsehen finden sich aber zahlreiche Inkonsistenzen und Widersprüche innerhalb der einzelnen Kategorien, was wohl auch mit dem verwendeten Quellenmaterial zu tun haben mag.13 Althusius unterscheidet zwischen functiones rusticae, functiones mechanicae und der functio promercalis, d.h. grob gesagt Bauern, Handwerkern und Kaufleuten. Er lässt dabei keinen Zweifel aufkommen, dass landwirtschaftliche Tätigkeiten den höchsten Grad an gesellschaftlicher Nützlichkeit aufweisen, was sich auch in den moralischen Attributen ausdrückt, welche er der Bauernschaft, nicht nur an dieser Stelle, zuschreibt. 1. Functiones rusticae Zweck: Produktion landwirtschaftlicher Güter, Nahrung – primär. Ethische Bewertung: Mühsam und beschwerlich, ausgeführt von frommen und hervorragenden Männern. Einteilung: Bauern – Hirten – Jäger (Funktionen, welche mit der Nahrungsbeschaffung zu tun haben). 2. Functiones mechanicae Zur Berufsgruppe der Handwerker hat Althusius ein eher zwiespältiges Verhältnis. Zwar gesteht er ihre Notwendigkeit ein, klagt die Handwerker aber auch an, zu Betrügereien, geheimen Machenschaften und Maßlosigkeit zu neigen. Bei der insgesamt wenig schmeichelhaften Charakterisierung dieser Berufsgruppe ist anzunehmen, dass Althusius gängigen Stereotypen folgt, wovon einige die Jahrhunderte überdauert haben. Er erwähnt aber auch die auf Frühformen der Arbeitsteilung beruhende Interdependenz des Handwerks, allerdings ohne dabei auf die symbiosis zu verweisen.

__________ 12 Ursprünglich befand sich diese Diskussion beruflicher Tätigkeiten in Kapitel XI (De muneribus personalibus regni) der Erstausgabe, dort folgt sie auf die Diskussion der vier Grundvoraussetzungen menschlichen Schaffens. 13 Es bedürfte noch weiterer Prüfung der benutzten Quellen, um abzuklären, ob, und wenn ja, woher er diese Einteilung übernommen hat.

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Zweck: Produktion gewerblicher Güter – interdependent. Ethische Bewertung: Mühe und Fleiß verlangend. Neigung zu Streitereien, Betrügereien, Maßlosigkeit, Lasterhaftigkeit, plebejisch, gemein, gewöhnlich, niedrig. Einteilung: heterogen, mit weiteren Unterkategorien: ~

Schmutzig (Emissionen): Köhler, Schmied, Tischler, Glaser, Färber, Destillateur. Erstaunlicherweise wird die Gerberei hier nicht genannt.

~

Unschicklich, verhasst: Zöllner, Steuerpächter, Wucherer, Geldwechsler, Hausierer; alle, welche betrügerischen Gewinn machen, worunter Althusius auch die Lohnarbeiter rechnet, zu denen er, wie aus anderen Bemerkungen zu entnehmen ist, eine besonders negative Einstellung hat.

~

Weniger nützlich, verächtlich, knechtisch. Für diese generell gefasste Kategorie gibt es keine Beispiele.

~

Dem Vergnügen dienend: Brokatweber, Gladiatoren, Athleten, Possenspieler, Tänzer, Schauspieler etc.

~

Weniger ehrenhaft, unschicklich: Schweinehändler, Türhüter, Kürschner, Köhler, Holzfäller, Barbier, Scharfrichter, Badwärter, Lastträger, Sänftenträger, Maultiertreiber. Die Qualifikationsmerkmale für diese Gruppe sind nicht klar nachzuvollziehen.

Dieser unübersichtliche, disparate und zum Teil widersprüchliche Katalog der Handwerke endet mit dem Hinweis, dass gottlose, unnütze und der Sittenreinheit schädliche Handwerke nicht zu dulden sind. 3. Functio promercalis Zweck: Güter- und Wissensaustausch – dienstbar. Ethische Bewertung: Keine – dafür Qualifikationen guter und schlechter Ausübung. Einteilung: keine Die Kaufleute werden als durchaus positiv qualifiziert, weil sie den Export überschüssiger und den Import notwendiger Waren organisieren – das alles, ohne dabei unredlichen Gewinn zu machen. Erstaunlicherweise listet Althusius dann noch eine dritte Funktion des Kaufmannsstandes auf: den Informationsaustausch. Kaufleute bringen Kunde aus der Fremde, stellen Kontakte mit der Fremde her und vermehren so das Wissen. Hier reflektiert Althusius die Erfahrungen seines Zeitalters. Er zitiert Marco Polo zwar nie, doch es war ihm

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selbstverständlich bewusst, wie viele Informationen über fremde wie benachbarte Reiche durch Kaufleute in die Heimat gelangten. An diesem Katalog fallen mehrere Punkte auf; erstens die durchwegs positive Bewertung landwirtschaftlicher Tätigkeiten, diese gilt als ein besonderes Merkmal der „Politica“ – ob hier Einflüsse der Biographie bzw. Althusius’ Herkunft aus einem ländlichen Umfeld oder ein tiefer gehendes Misstrauen gegenüber neu aufkommenden, urban geprägten Wirtschaftsformen Ausdruck finden, müsste noch weiter abgeklärt werden. Die Haltung war jedenfalls ungewöhnlich. Mit der Niederschlagung des Bauernkriegs zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden die Stereotypen des dummen und schmutzigen Bauern zementiert. In den gängigen Ständelehren wurden die Bauern unter dem Bürgertum angesiedelt und als politischer Stand wurden sie nur in wenigen Territorien anerkannt.14 Zweitens fallen die zahlreichen Unterkategorien der functiones mechanicae auf. Zwar tauchen hier keine nicht erlaubten und unehrenhaften Berufe auf, aber es gibt sehr wohl Abstufungen, welche eine mindere ethische Qualität gewisser Berufe implizieren. Die negative Grundeinstellung gegenüber dem Handwerkerstand findet man auch in weiteren Passagen im Text, so etwa in Kapitel VII, 36, worin Althusius ausdrücklich festhält, dass sich Würdenträger aus dem gemeinen Volk und dem Handwerkerstand zumeist als dem Gemeinwesen abträglich und schädlich erweisen.15 Das generelle Misstrauen gegenüber den Handwerkern und den städtischen Unterschichten (es lässt sich darüber streiten, ob Althusius die Begriffe synonym verwendet) lässt sich auf jeden Fall nicht aus der protestantischen Berufsethik heraus erklären. Vielmehr scheinen sich hier andere Einflüsse bemerkbar zu machen, wie etwa die mittelalterliche Verachtung für die artes __________ 14

Die Landstandschaft der Bauern war nur in Ostfriesland und Tirol gewährleistet. Althusius hingegen empfiehlt die Landstandschaft des Bauernstandes ausdrücklich (VIII, 40 ff.). 15

Inwiefern sich in diesen Passagen negative Erfahrungen des Emder Syndikus mit den städtischen Unterschichten (zu denken wäre hier an die Ereignisse des Jahres 1607, s. u.) niederschlugen, zeigt ein Blick auf diese Passagen in der Erstausgabe. Dort beginnt Althusius die Diskussion der Berufsstände mit den Kaufleuten (Politica 1603, XI, S. 112 ff.), wendet sich dann der Landwirtschaft zu und diskutiert das Handwerk als letzte Gruppe. Die negativen Attribute, welche dieser Gruppe zugeschrieben werden, finden sich bereits in diesen Passagen – es handelt sich also nicht um eine Reaktion auf in Emden gemachte Erfahrungen. Auffällig an den Überarbeitungen dieses Katalogs ist jedoch die Umstellung der Reihenfolge der Berufe und dass Althusius dem Kaufmannsstand in der Drittausgabe eindeutig mehr Aufmerksamkeit schenkt.

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mechanicae, wobei allerdings zu beachten ist, dass Althusius sich bei der Bewertung von Bauern und Kaufleuten davon nicht beeinflusst zeigt. Als calvinistisch ist hingegen das Misstrauen gegenüber Berufen der Luxusund Unterhaltungsindustrie – um hier auf moderne Terminologie zurückzugreifen – auszumachen, das seine Begründung in der Abneigung gegenüber aller Sinnenkultur findet. Wir finden denselben Gedankengang in zahlreichen wieteren Passagen wiederholt, so etwa in Kapitel XXX, 6, wo Althusius dringend empfiehlt, die Einfuhr von Luxusgütern (durch Salben- und Farbenkrämer, Zuckerbäcker) zu unterbinden.

II. Berufserfüllung als Teil calvinistischer Sozialdisziplinierung Kirchenzucht benennt allgemein die Kontrollmechanismen, mit denen der Lebenswandel der Bevölkerung seit der frühen Neuzeit überwacht wurde. Sie gilt als Merkmal des konfessionellen Zeitalters und taucht in lutherischen, katholischen und reformierten Territorien auf. Die Historiker setzen die Kirchenzucht in den Kontext der Sozialdisziplinierung, eines allumfassenden Prozesses, mit dem der frühneuzeitliche Staat versuchte, das Verhalten der Untertanen zu regulieren.16 Um die hier umschriebene institutionalisierte Kontrolle aller Lebensbereiche, auch solcher, welche im modernen Verständnis als privat gelten, zu verstehen, muss der Begriff der Ordnung (ordo) genauer betrachtet werden, diesem kommt nämlich eine Schlüsselrolle in der gesellschaftlichen Konzeption der „Politica“ zu. Die symbiosis ist geprägt von zahlreichen Ordnungen, diese sind interdependent zu verstehen; so reflektiert die Kleiderordnung die soziale Ordnung, die Ständeordnung umfasst sowohl soziale wie politische Elemente etc. Die Störung einer spezifischen Ordnung hat also Auswirkungen auf weitere Ordnungen und die symbiosis insgesamt. Dass diese Ordnungen nicht permissiv angelegt sind, wurde bereits erwähnt. Unter diesen Voraussetzungen ergibt die für das moderne Verständnis rigorose Kontrolle des „Privatlebens“ (ein Konstrukt, das in der „Politica“ nicht existiert) durch die calvinistische Sozialdisziplinierung durchaus Sinn. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Althusius als Syndikus in Emden auch direkt an diesem Prozess

__________ 16 Harm Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter. 1525-1648, Stuttgart 1989, S. 149 ff. u. Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, Berlin 1988, S. 368 f.

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beteiligt war. Antholz berichtet, wie er bereits kurz nach Amtsantritt zusammen mit den Predigern an den städtischen Sitten- und Zuchtgesetzen arbeitete.17 In der „Politica“ ist die Kirchenzucht der Genfer Kirchenordnung folgend dem Presbyterium übertragen (VIII, 24). Genauer erläutert wird dieses Thema in Kapitel XXX zur Zensur.18 Zu den Aufgaben des Zensors gehört die allgemeine Kontrolle der Sitten, welche vor allem durch das Bedürfnis nach Luxus und dem Streben nach Reichtum gefährdet werden. Der Zensor muss also ein Auge auf alles haben, was jenen beiden Übeln förderlich sein könnte. Allerdings wendet Althusius ersterem Problem mehr Aufmerksamkeit zu. Nicht weiter erstaunlich wird etwa die Einschränkung von Spiel und Tanz empfohlen. Insbesondere aber wird der Müßiggang verurteilt. Die Weigerung, ehrbarer Beschäftigung nachzugehen und sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist eine Verweigerung gegenüber Gott. Es gehört zu den Aufgaben des Zensors, die Menschen zur Arbeit anzuhalten, um sie (und die Gemeinschaft) vor den verderblichen Einflüssen des Müßiggangs fernzuhalten. Des Weiteren muss der Zensor sich um jene schädlichen Elemente kümmern, die bereits dem Müßiggang folgen: den Bettlern. Jene sind zur ehrbaren Arbeit anzuhalten, was unter anderem durch die Einrichtung von Zuchthäusern erfolgen kann.19 Die Zensoren müssen aber nicht nur sicherstellen, dass ein jeder arbeitet, sondern ihnen obliegt auch die Überwachung der sorgfältigen Berufsausübung: „...ut quilibet necessaria & propria vocationis officia diligenter faciat, non necessaria omittat“ (XXX, 12).20 Doch nicht nur die Berufsausübung wird kontrolliert, sondern auch, ob die allgemeine Lebensführung mit dem Beruf übereinstimmt: „…a professione sua alienam vitam agat“ (XXX, 15). Diese etwas rätselhafte Stelle kann in Bezug zur zweiten Grundqualität (begrenzt) gesetzt werden – gemeint ist hier wahrscheinlich eine Lebensführung, die einen sozialen Stand vorgibt, welcher nicht der Realität entspricht und somit die (soziale und ständische) Ordnung gefährdet; zu denken wäre etwa an einen Handwerkerhaushalt mit zu prächtiger Ausstattung.

__________ 17

Heinz Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Aurich 1955, S. 73. Ab 1617 war Althusius auch Kirchenältester in Emden. 18 In Kapitel XXXVIII, 12 zur Tyrannis hält Althusius fest, dass ein Herrscher, welcher den Sittenzerfall fördert, sich der Tyrannis schuldig macht. In dieser Hinsicht ist also die Einführung der Zensur das Zeichen gerechter, nicht tyrannischer Herrschaft. 19

Althusius benutzt an dieser Stelle den deutschen Ausdruck (XXX, 13).

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Dieser Artikel ist neu, in der Erstausgabe fehlt diese Forderung.

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Natürlich gehört es zu den Aufgaben des Zensors, auf unnötigen Aufwand, Übermaß und Neuerungssucht in der Kleidung zu achten – darüber hinaus aber muss er auch kontrollieren, dass die Kleidung nicht unterschiedslos ist für Männer und Frauen, Adlige und Gemeine. Mit anderen Worten, der Zensor hat zu überwachen, dass die Kleidung die soziale und politische Ordnung adäquat wiedergibt (XXX, 23). In diesen Passagen wird deutlich, wie das eingangs umrissene Ideal der vollkommenen Berufserfüllung keine private Angelegenheit darstellt, das Gemeinwesen kontrolliert und straft, wenn diese Pflicht nicht erfüllt wird. Auch wenn die Ideale, welche hier propagiert werden, den Prinzipien der protestantischen Ethik entsprechen, so ist doch darauf hinzuweisen, dass Weber selbst sich zur Kirchenzucht nur zurückhaltend geäußert hat. Er war der Meinung, dass die allzu strenge Kontrolle von außen den inneren Willen zur Selbstdisziplinierung schwächen konnte.21

G. Das Amt I. Allgemeine ethische Anforderungen Natürlich gelten die eingangs festgehaltenen Grundvoraussetzungen auch für Amtsträger auf allen Ebenen des Gemeinwesens, doch sind hier weitere Punkte zu beachten. Der Beruf als Mittel, die Subsistenz zu sichern, ist Notwendigkeit. Das Amt hingegen, auch wenn es ebenfalls dem Broterwerb dienen kann, stellt eine Funktion dar, welche von einer besonders qualifizierten Gruppe übernommen wird. Mit anderen Worten, jeder hat einen Beruf, aber nicht jeder kann ein Amt übernehmen. Auf die Frage, wer zur Amtsausübung geeignet bzw. berechtigt ist, bietet Althusius überraschend vielfältige Antworten. Die erste längere Diskussion öffentlicher Ämter findet sich in Kapitel VII, 26-52 zur Rechtsgemeinschaft der Provinz. Viele Passagen dieser Diskussion beruhen auf Kapitel XI der Erstausgabe (De muneribus personalibus regni), in welchem die Ämter auf Ebene des staatlichen Gemeinwesens behandelt wurden. Erstaunlicherweise nennt Althusius als erstes Unterscheidungsmerkmal zwischen privater und öffentlicher Tätigkeit die Kleidung und betont, dass sich die Kleidung der Amtsträger durch Pracht abheben sollte (VII, 26 & 42). Wie bereits erwähnt, spielt die Kleiderordnung als Spiegel sozialer wie politischer Ordnung eine außerordentlich wichtige Rolle und es lohnt sich hier ein kurzer __________ 21

Weber, Protestantische Ethik (Anm. 1), S. 163.

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Exkurs. Die Aufrechterhaltung der Kleiderordnung gehört natürlich in den bereits angesprochenen Bereich der Sozialdisziplinierung. Im Zusammenhang mit den Ämtern taucht das Thema nochmals in Kapitel XXXII, 60 auf: Kleidung wird hier zum äußeren Ausdruck der sozialen Ordnung erklärt und sie soll das Amt und die damit verbundene Ehre und Würde reflektieren. Die Reichspolizeiordnung von 1530 hält fest, dass „sich ein jeder, wess Würden oder Herkommen der sey, nach seinem Stand, Ehren und Vermögen trage, damit in jeglichem Stand unterschiedliche Eekäntnüss seyn möge.“22 Im Weiteren wird genau geregelt, wie viel Damast, Seide, Atlas, Pelz und Schmuck den einzelnen Ständen zu tragen zusteht. Unzweifelhaft war Althusius mit diesen und ähnlichen Maßnahmen vertraut, welche das 16. Jahrhundert hindurch immer wieder als Instrument gegen die zunehmende soziale Mobilität und Vermögensumschichtungen erlassen wurden, und stimmte mit der ihnen zugrundeliegenden Logik überein. Hier zumindest scheint ein legitimer Absatzmarkt für die Produkte der sonst so gescholtenen Luxusindustrie zu bestehen, wenngleich nicht ganz klar ist, ob Althusius unter angemessen prächtiger Kleidung auch Damast und Seide verstand.23 Nach den Kriterien zur Unterscheidung von Amt und Beruf wendet sich Althusius der Kategorisierung der Ämter und den für Amtsträger wünschenswerten Qualitäten zu. Als erster Punkt verweist er auf die bereits diskutierten vier Grundqualitäten, über welche Amtsträger als Lenker des Staatsschiffs verfügen müssen. An dieser Stelle sieht er sich gezwungen, auf die kontroverse Frage einzugehen, inwiefern Frauen zur Herrschaftsausübung geeignet sind. Folgt man der patriarchalischen Logik des Zeitalters und des Texts, so muss das Problem hier angesprochen werden, denn eine Frau darf eigentlich aufgrund ihrer Natur keine politische Macht ausüben – es handelt sich um eine empfindliche Störung der (Geschlechter-)Ordnung. Es gelingt Althusius mit einigen logischen Verrenkungen eine Rechtfertigung weiblicher Herrschaftsträger zu finden.24 Er muss aber einräumen, dass zahlreiche Autoren (z.B. Bodin) anderer Meinung sind. Nicht weiter überraschend schließt er diese Thematik mit Beispielen bekannter Herrscherinnen aus der Bibel und der Antike und __________ 22 Zitiert nach Schilling, Aufbruch und Krise (Anm. 16), S. 353; zur Thematik allgemein ebd. S. 353 ff. 23 Auf den überlieferten Abbildungen trägt er selbst eine Halskrause, welche ironischerweise durch die Ausbreitung der spanischen Mode im 16. Jahrhundert weite Verbreitung gefunden hatte und die vor allem in Nordwesteuropa noch lange von den oberen Schichten getragen wurde. 24 „Qua in re non obstat sexus muliebris, quando functio, seu officium congruens sexui est“ (VII, 30).

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nennt zuletzt noch Elisabeth I. von England. Angesichts der ungewöhnlichen Häufung von Herrscherinnen, welche die Geschichte des 16. Jahrhunderts entscheidend geprägt hatten (Katharina von Medici, Maria Tudor, Maria Stuart, Elisabeth I. von England) war dieses Thema keineswegs ein obskures Detail in einem Buch zur Politik. John Knox hatte sich genötigt gesehen, mit „The first blast of the Trumpet against the monstrous regiment of women“ (1558) auf diesen Bruch der natürlichen Ordnung zu reagieren. Angesichts der Rolle als calvinistische Schutzmacht, welche England (zumindest auf dem Kontinent) unter Elisabeth I. übernommen hatte, dürfte es Althusius schwer gefallen sein, in dieser Frage eine gleichermaßen radikal ablehnende Haltung einzunehmen. Er fährt fort mit der Unterscheidung zwischen officium honorum und officium humile, stark vereinfacht gesagt, handelt es sich hierbei um Magistratsämter und deren ausführende Organe (Wächter, Schreiber etc.). In der Terminologie lässt sich bereits eine Bewertung sehen, die erste Gruppe, der er sein Hauptaugenmerk schenkt, wird höher bewertet – ihre Funktion verschafft diesen Amtsträgern Ehre. Die Funktion dieser Ämter besteht in der Sorge um das geistige und seelische Wohl der Menschen, der Überwachung von Sitten, Disziplin und Religion und in der Wahrung des Gemeinwohls in allen anderen relevanten Aspekten. Kurz gesagt, diese Amtsträger sind für das Funktionieren der symbiosis zuständig. Althusius listet sogleich die charakterlichen Anforderungen auf: Diese Amtsträger müssen natürlich von hervorragendem Charakter sein, darüber hinaus sollten sie von Gott mit den Gaben zur Amtsausführung ausgestattet sein und über die Fähigkeit verfügen, das Gemeinwohl dem eigenen Nutzen voranzustellen. Interessanter ist hier aber die Liste der disqualifizierenden Eigenschaften: Gewarnt wird als erstes vor Rednernaturen aufgrund ihres zänkischen und unruhestiftenden Charakters. Weitere disqualifizierende Eigenschaften sind Arglist, Selbstsucht, Ehrgeiz, Macht, Geiz, Misstrauen und Bedürftigkeit. Neben diesen charakterlichen Qualifikationen gibt es auch soziale Kriterien: Althusius warnt vor Amtsträgern aus dem Handwerksstand und dem gemeinen Volk – die Erfahrung zeige, dass jene letztendlich für das Gemeinwesen schädlich seien. Doch auch Reiche können gefährlich sein, denn sie begehren noch mehr Güter. Es sind deshalb die Menschen mittlerer Art, welche sich für Ämter am besten eignen. Mit der „mittleren Art“ (medium genus) scheint Althusius sich auf die Herkunft und nicht das Temperament zu beziehen. Allerdings schwächt er die Aussage mit einem Verweis auf Gregorius Tholosanus wieder ab, welcher charakterliche Stärken höher als soziale Herkunft bewertet. In dieser ersten längeren Diskussion ethischer Anforderungen an Amtsträger zeigt sich die besondere Würde, die dem Amt und damit dem Amtsträger zugeschrieben wird. Diese Würde erklärt sich aus der Funktion, welche die

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Amtsträger ausüben: die Bewahrung der symbiosis. Dass deshalb nur Personen ein Amt übernehmen dürfen, welche den höchsten ethischen Anforderungen genügen, ist nicht weiter erstaunlich. Die Einforderung der vier Grundvoraussetzungen bleibt als normative Setzung im Hintergrund und wird durch die weiteren Ausführungen zur ethischen Qualifikation überlagert. Diese lassen sich am besten unter dem Schlagwort der moderatio, sowohl hinsichtlich des Temperaments als auch der materiellen Umstände, zusammenfassen. Das Schlagwort verweist darauf, dass es sich hierbei größtenteils um klassische, seit der Antike zitierte Tugenden (bzw. Untugenden) handelt.

II. Perspektivenwechsel In den Kapiteln IX-XXXVIII der „Politica“ befasst sich Althusius mit der Rechtsgemeinschaft und der Administration des staatlichen Gemeinwesens. In zahlreichen Passagen diskutiert er dabei die Ansprüche, welche die Amtsträger des Gemeinwesens zu erfüllen haben. Es ist eine verwirrende Vielfalt von Kriterien und Qualifikationen, die sich manchmal ergänzen, manchmal aber auch nur wenig kongruent erscheinen. Der Grund hierfür ist, dass Althusius die Thematik aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Die erste Perspektive ist jene, welche Herrschaft, ihre Grundlagen und Ausübung in der „Politica“ aus einem rechtlichen Blickwinkel betrachtet. Hier finden sich all die Überlegungen zum Herrschaftsvertrag, Souveränitäts- und Widerstandsrecht, für die Althusius ja in erster Linie bekannt ist.25 Die zweite Perspektive ist eine realpolitische, das heißt, Herrschaft und ihre Ausübung wird von einer praktischen Warte aus betrachtet, was in zum Teil sehr handfesten Maßnahmen zur Erhaltung der Macht resultiert.26 In dieser Perspektive trifft man oftmals auf Gedankengut der Staatsräson-Lehren. Die dritte Perspektive ist eine sittlich-ethische, sie liefert die Idealvorstellungen gerechter Herrschaft. Hier finden sich biblische und antike Einflüsse und die entsprechenden Textstellen gemahnen oft an die Tugendkataloge der klassischen Fürstenspiegel. In dieser Perspektive sind auch die eingangs diskutierten vier Grundvoraussetzungen enthalten. __________ 25

Damit sollen etwa religiöse Einflüsse auf das Vertragsdenken des Althusius nicht negiert werden. Es geht um den Blickwinkel und die Terminologie, welche verwendet wird. 26

In den entsprechenden Passagen zitiert Althusius Autoren wie Botero, Ammirato oder Clapmarius. Der geistige Vater der Staatsräson-Lehren, Machiavelli, wird in der „Politica“ zwar auch zitiert, doch jeweils in einem anderen Kontext – so z.B. in XXXIV, 47 zur Thematik der Schanzwerke beim Festungsbau.

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Wie folgende Beispiele zeigen werden, durchmischen und überlagern sich diese Perspektiven sehr oft im Text. Kapitel XIX befasst sich explizit mit dem summus magistratus, seiner Einsetzung, den sich daraus ableitenden Kompetenzen und den Grenzen seiner Autorität. Herrschaft wird also aus einer primär rechtlichen Perspektive betrachtet. In Übereinstimmung mit bereits früher im Text dargelegten Grundzügen öffentlicher Herrschaft wird auch der summus magistratus gewählt. Althusius bedient sich hier bekannter Argumentationsformen, welche es erlauben, monarchische und erbmonarchische Herrschaftsformen als auf Wahl begründet zu interpretieren. Hierzu unterscheidet er zwischen freier und eingeschränkter Wahl – letztere ist eingeschränkt auf bestimmte Personengruppen z.B. die Familie des verstorbenen Herrschers (XIX, 70 ff.). Zur freien Wahl gibt es eine Liste ausschließender Kriterien, die bei der Kandidatenauswahl zu berücksichtigen ist. Zu diesen Kriterien gehören Gottlosigkeit, Fremdheit gegenüber der wahren Religion, niedrige bzw. knechtische Herkunft und Lasterhaftigkeit; zur Möglichkeit weiblicher Kandidaten wird auf die bereits diskutierte Passage in Kapitel VIII verwiesen. Eine ähnlich restriktive Liste existiert für die eingeschränkte Wahl nicht, dieser Modus erlaubt per se schon sehr viel weniger Spielraum. So hält Althusius fest, dass in jenen Gemeinwesen, in denen die Erbfolge über die Primogenitur festgelegt ist, der älteste Sohn auch dann zu wählen ist, wenn er einer anderen Religion angehört.27 Man sieht, wie sich hier die Perspektiven durchmischen – die Herrscherwahl ist ein rechtlicher Vorgang, der aber von sozialen, sittlichen und religiösen Elementen beeinflusst werden kann, wobei dies mehr auf die (in der Verfassungswirklichkeit viel seltener anzutreffende) freie Wahl zutrifft als auf die eingeschränkte Wahl. In Kapitel XXXVIII befasst sich Althusius mit der tyrannischen Herrschaft; einleitend wird der Begriff ausführlich definiert. Stark vereinfacht gesagt: Jener Herrscher wird zum Tyrannen, der den Herrschaftsvertrag bricht und sich in seiner Herrschaft gegen das Gemeinwesen wendet. Grundsätzlich ist die Perspektive der Argumentation also eine rechtliche. Und doch geht Althusius ganz zu Beginn dieser Diskussion auf die sittlich-ethische Perspektive ein. Ein Herrscher, der sich Fehler nur in einem Teilbereich seiner Amtsausübung hat zuschulden kommen lassen, ist noch kein Tyrann. Die nachfolgende Ermahnung, dass auch Herrscher nur Menschen sind und deshalb Fehler __________ 27 Allerdings werden für dieses Szenarium Gegenmaßnahmen empfohlen – es obliegt den Ständen, den neuen Herrscher in der wahren Religion zu unterweisen oder ihn zumindest dazu zu verpflichten, diese zu respektieren (XIX, 87).

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begehen können, ist für Althusius ungewöhnlich milde. Auch ein Herrscher, der sich allerlei moralische Verfehlungen zuschulden kommen lässt, wird aufgrund dieses verwerflichen Lebenswandels allein nicht zum Tyrannen, der abgesetzt werden kann (XXXVIII, 4) – dies obwohl er sich aus der sittlich-ethischen Perspektive eindeutig für sein Amt disqualifiziert hat. Ein schönes Beispiel für die realpolitische Perspektive findet sich in Kapitel XVIII, 60 zur Auswahl der Ephoren. Als Ephoren einzusetzen sind Männer mit Macht, diese haben die Ressourcen, als Wächter des Gemeinwesens zu fungieren. Darüber hinaus werden sie auch aus Eigeninteresse zum Wohle des Gemeinwesens handeln. Ihre Zahl ist allerdings zu begrenzen, da sonst die Gefahr von innerem Zwist und Bürgerkrieg droht. Hier spielen sittliche Überlegungen keine weitere Rolle; dass mögliche Kandidaten diesen Ansprüchen wohl irgendwie genügen müssen, ist eine implizite Annahme. Ein weiteres Beispiel dieser Perspektive (und der Perspektivendurchmischung) findet sich in Kapitel XXXII; gegen Ende des Kapitels geht Althusius auf die Verteilung öffentlicher Ämter ein. Er fordert die Wahl integrer, treuer und gewissenhafter Männer – hier taucht also zuerst die sittliche Perspektive auf. Der Perspektivenwechsel vollzieht sich später im Text, so etwa in der Empfehlung, Ämter eher jenen zu übertragen, denen besonders an Ruhe und Frieden liegt und denen Wechsel und Neuerungen schaden würden. Hinter dieser Empfehlung verbirgt sich das Misstrauen gegenüber jenen, die aufgrund ihres Amtes (bzw. der damit verbundenen Macht) die Ordnung im Gemeinwesen empfindlich stören können. Dann erläutert Althusius Mittel und Wege, wie der Herrscher die Integrität und Gewissenhaftigkeit dieser Amtsträger bewahren kann. Dazu gehören ausreichende Entlohnung, limitierte Amtsgewalt, Verbot der Amtausübung durch Statthalter, aber auch recht drastische Maßnahmen: so etwa ein System harter Kontrolle, das die Amtsträger in ständiger Furcht vor Anklage hält (XXXII, 88 ff.). Im Mittelteil der „Politica“ geht es um die Herrschaftsinstrumente des summus magistratus, wozu auch die prudentia politica zu rechnen ist. In diesem Kontext finden sich Tugendkataloge, welche die sittlich-ethische Perspektive auf die Amtsausübung reflektieren. In Kapitel XXV zur Autorität des summus magistratus listet Althusius acht Herrschertugenden auf, diese sind 1. Frömmigkeit, 2. Voraussicht, 3. Tapferkeit, 4. Treue, 5. Besonnenheit, 6. Mäßigung, 7. Selbstbeherrschung und 8. Tüchtigkeit. Am meisten Beachtung wird der Besonnenheit geschenkt, welche Althusius in Mäßigung der Sinne und Mäßigung der Taten unterteilt. Letztere handelt vom Eindruck, den der Fürst bei seinen Untertanen hinterlassen sollte, dieser beruht auf Würde, Menschlichkeit, Umgänglichkeit und körperlicher Disziplin. Auf diesen Katalog positiver Eigenschaften folgt eine Auflistung von Faktoren, welche dem Herrscher die Missachtung seiner Untertanen einbringen können (aber ihn nicht

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für sein Amt disqualifizieren). Dazu gehören auch zahlreiche Charakterschwächen, darunter Nachlässigkeit, Unbeständigkeit, Leichtsinn, Sittenlosigkeit, Kleinmut, Torheit, Streitsucht und Ignoranz (XXV, 25-63). Behnen hat nachgewiesen, dass der hier dargelegte Tugendkatalog von Lipsius übernommen wurde; seiner Meinung nach dienen diese und andere Stellen Althusius dazu, das Herrscheramt zu festigen; dies durchaus auch auf Kosten der consociatio.28 Die hier besprochenen Passagen haben alle eines gemeinsam, die zu Beginn des Textes gestellten Forderungen an menschliches Handeln sind bildlich gesprochen nur noch in weiter Ferne am Horizont zu erkennen. Das Thema der Amtsausübung wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet; Amtsausübung im Sinne der protestantischen Ethik taucht unter in der sittlich-ethischen Perspektive, wo sie von verschiedenen weiteren Vorstellungen ethischen Handelns überlagert wird.

H. Das persönliche Berufs- und Amtsverständnis des Althusius Die Frage nach dem persönlichen Verständnis von Beruf und Amt des Althusius ist mit Interpretationsmustern seiner Biographie verbunden. Wie hat Althusius selbst seine verschiedenen Tätigkeiten als Professor an der Hohen Schule, als Rat in der gräflichen Kanzlei, später als Rektor der Hohen Schule und danach als Syndikus von Emden wahrgenommen? Als Erstes ist hier zu bemerken, dass sich hinsichtlich Althusius’ beruflicher Laufbahn keine Trennung von Beruf und Amt ziehen lässt, denn auch seine Tätigkeit an der Hohen Schule war als Amt zu verstehen. Vielfach ist deshalb der Versuch unternommen worden, seine professionelle Identität anders aufzuteilen und in ihm für die Zeit vor seiner Berufung in erster Linie den akademischen Theoretiker zu sehen, der danach vom aktiven Politiker abgelöst wurde – dies hat auch Auswirkungen auf die Interpretation der verschiedenen Ausgaben der „Politica“. Darüber hinaus kann eine solche Sichtweise zu einer Überbetonung der Emdener Erfahrungen auf die Theorieformierung führen. Menk hat deshalb zu Recht ein Moment der „biographischen Kontinuität“ postuliert, um aufzuzeigen, dass die Übernahme des Syndikusamtes in Emden für Althusius nicht unbedingt die dramatische biographische Wasserscheide __________ 28 Michael Behnen, Herrscherbild und Herrschaftstechnik in der „Politica“ des Johannes Althusius, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), S. 417-472, hier: 425 u. 435 f.

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war, als die sie oft dargestellt wurde, während die Bedeutung der Zeit vor Emden entsprechend reduziert wurde.29 Eine solche Sichtweise gibt den Jahren, die Althusius in Herborn (und Siegen) als Doktor, später Professor, gräflicher Rat und schließlich Rektor der Hohen Schule verbrachte, wieder mehr Gewicht. Hotson hat die Rolle der Hohen Schule als Instrument zur Umsetzung des gräflichen Reformprogramms in Nassau-Dillenburg herausgearbeitet. An der Hohen Schule sollte die administrative Führungsschicht für die von Graf Johann im Sinne der Zweiten Reformation beabsichtigte Restrukturierung des Territoriums ausgebildet werden. Dass hierbei vor allem der theologischen und der juristischen Fakultät besondere Bedeutung zukam, versteht sich von selbst. Althusius war durch seine Stellung als Doctor Juris und gräflicher Rat (und durch seine Heirat) tief in diesen Prozess eingebunden.30 Wie er sich selbst und seine Rolle im Gemeinwesen sowie die Funktion seiner theoretischen Leistung wahrnahm, soll im Folgenden anhand von einigen Passagen aus Briefen sowie den Vorreden zu den „Politica“-Ausgaben von 1603 bzw. 1610/1614 untersucht werden. Im April 1597 schreibt Althusius an seinen Freund Johann Jacob Grynaeus nach Basel einen Brief, in dem er ihm viel mitzuteilen hat. Grynaeus hatte zuletzt von Althusius aus Steinfurt gehört, wo dieser für einige Zeit als Rektor der dortigen Hohen Schule gewirkt hatte.31 Nun ist Althusius nach NaussauDillenburg zurückgekehrt, allerdings nicht nach Herborn, sondern Siegen, wohin der Graf die Hohe Schule zwischenzeitlich verlegt hatte. So schreibt er: „…nunc ex Nasovica terra in quam nuper Idem Deus (me) ad professionem juridicam et ad aliam vocavit et nunc degere voluit.“32 Den Brief signiert er mit __________ 29

Gerhard Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich: Das Leben und die politische Theorie des Johannes Althusius, in: Hajo van Lengen (Hg.), Die „Emder Revolution“ von 1595, Aurich 1995, S. 49-94. 30

Howard Hotson, The conservative face of contractual theory: the monarchomach servants of the count of Nassau-Dillenburg, in: Emilio Bonfatti/Giuseppe Duso/Merio Scattola (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius, Wiesbaden 2002, S. 250-290. 31 In der Forschung gibt es zur Dauer dieses Aufenthaltes verschiedene Angaben, hier wird den Ergebnissen Warneckes gefolgt, der davon ausgeht, dass Althusius sich zwischen 1592-1596 in Steinfurt aufhielt. Hans Jürgen Warnecke, Althusius und Burgsteinfurt, in: Karl Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Rechtstheorie Beiheft, 7), Berlin 1988, S. 147-160, S. 151. 32 Was genau Althusius mit „et aliam“ gemeint hat, lässt sich aus dem weiteren Wortlaut nicht schließen. Unter Umständen bezieht er sich damit auf seine Heirat,

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Johannes Althusius D. J. et Consiliarius Nassovicus. Die Aussage, von Gott an diese Stelle berufen worden zu sein, ist natürlich nicht weiter erstaunlich, aber sie deutet doch auf die feste Überzeugung hin, in all seinen Funktionen, die auch in der Signatur auftauchen, Gottes Ruf zu folgen. 1603 erscheint die Erstausgabe der „Politica“ – zu jenem Zeitpunkt ist die Hohe Schule nach Herborn zurückgekehrt und Althusius wiederum zum Rektor gewählt worden. Er hat den Text seinen beiden Verwandten Martin Naurath und Jacob Tieffenbach gewidmet.33 In dieser Widmung zeigt sich, wie eng für Althusius Theorie und Praxis miteinander verbunden waren. Althusius rühmt die Bildung und die Erfahrung beider Männer mit den Tagesgeschäften politischer Verwaltung, welche ihnen die Kompetenz verleihen würden, über die vorliegende Schrift zu urteilen und ihn auf Fehler in der Argumentation oder der Darstellung aufmerksam zu machen. Beide werden also aufgrund ihrer akademischen wie auch politischen Erfahrung angesprochen. Die Widmung schließt mit der Aufforderung, das Werk zu prüfen und nötigenfalls zu kritisieren. Diese Widmung gibt Aufschluss über das Verhältnis von Theorie und Praxis in Althusius’ Denken und wie er selbst seine akademische Produktion wahrnahm. Es wird sehr deutlich, dass er den Text nicht als abstrakttheoretisches Werk im privaten Rahmen zur Disposition stellt. Vielmehr wird hier eine Theorie präsentiert, welche den Anforderungen der Praxis genügen muss. Die Verwandten werden nicht nur aufgrund ihrer akademischen Fähigkeiten, sondern auch wegen ihrer Mitwirkung im Gemeinwesen zur Kritik aufgerufen. Es erfolgt ein Brückenschlag zwischen der an der Hohen Schule gelernten Theorie und der Praxis des gräflichen Reformprogramms, welches von Männern wie Althusius und seinen Verwandten mitgetragen wurde. Natürlich verschoben sich für Althusius 1604 mit der Amtsübernahme in Emden die Prioritäten, nun war ihm ein Amt mit erheblicher politischer __________ welche in der Zwischenzeit ebenfalls stattgefunden hatte. Zitiert nach: Politica methodice digesta of Johannes Althusius, hg. und eingel. von Carl J. Friedrich, Cambridge/USA 1932, Appendix II, Nr. 3, S. cxx f. 33 Naurath war der Bruder von Althusius’ Frau, er gehörte dadurch, wie Hotson feststellte, zu einer einflussreichen Familie innerhalb Nassau-Dillenburgs. Er war ebenfalls Professor für Philosophie und Recht in Herborn und Siegen, gräflicher Rat und schließlich Amtmann in Diez. Jacob Tieffenbach wird in der Literatur ebenfalls als „Schwager“ bezeichnet (der Terminus adfines, mit dem Althusius beide Männer anspricht, wird gemeinhin mit „Schwager“ übersetzt, aber auch die Übersetzung „Verwandter“ wäre möglich), wobei jedoch die genauen Verwandtschaftsbeziehungen unklar bleiben.

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Verantwortung übertragen worden und zwar aufgrund seines theoretischen Werks. In der Vorrede zur Zweitausgabe der „Politica“ von 1610 geht er kurz auf die Arbeitsbedingungen ein, unter denen der revidierte Text entstand: „Quod cum a me succisivis horis, quantum inter occupationes Reip. licuit, factum esset...“.34 Heraufbeschworen wird so das Bild eines Amtsträgers, der sich der akademischen Arbeit in den wenigen Stunden „Freizeit“ widmet, die ihm sein Dienst für das Gemeinwesen lässt. Man wird sich hier allerdings fragen dürfen, ob die hektischen Jahre in Siegen und Herborn mehr Zeit für die Arbeit am Text der Erstausgabe ließen. Vielleicht aber muss diese Passage anders gelesen werden und es ging Althusius nicht darum, die Arbeit für das Gemeinwesen und die Redaktion des Textes zu kontrastieren, sondern komplementär zu verstehen. In Anbetracht der Tatsache, dass er sowohl die Berufs- wie die Ämterthematik in der Drittausgabe ausgebaut hat – zahlreiche der hier besprochenen Passagen sind neu – ergibt eine solche Interpretation durchaus Sinn. Jede Form sinnvoller menschlicher Tätigkeit ist soziale Pflicht und unabdingbarer Bestandteil des Zusammenlebens in der symbiosis. Zweifelsohne betrachtete Althusius seine Stellung in Emden als Pflicht, die ihm von Gott aufgetragen wurde. Wie stark seine Amtsauffassung von religiösen Vorstellungen durchdrungen war, zeigt ein Brief an seinen Freund Sibrandus Lubbertus aus dem Jahre 1607. In jenem Jahr kam es zu einer schweren innerstädtischen Krise, nachdem die Spanier die Emder Getreideflotte aufgebracht und fast 600 Seeleute zum Galeerendienst verschleppt hatten. Für die Spanier galt Emden als Verbündeter der Generalstaaten, was die Aktion rechtfertigte. Da sich die Emder Stadtregierung weigerte, auf die Forderungen der Spanier einzugehen, kam es zu Unruhen in der Stadt und die Situation spitzte sich zu. In dem Brief an Lubbertus beklagt Althusius sich, dass es schon bald so weit sein könnte, dass die „Guten“ (omnes boni) aus der Stadt fliehen müssten. Gegen solch düstere Gedanken aber schütze er sich durch die Ermahnung, dass es seine Pflicht sei, auszuharren: „Ejusmodi cogitationes subeunt et percellunt saepe animum meum. Contra mihi revoco in mentem illud: stationem in qua a Deo sumus locati, non esse deserendam, et locum nostrum cum damno vel periculo Ecclesià et Reipublicae mutandum.“35 Dieser Wille zur Pflichterfüllung hatte ihn auch in den Jahren 1606, 1607 und 1610 dazu veranlasst, Rufe an die Akademie von Franeker, wo Lubbertus __________ 34

Althusius, Politica 1614 (Anm. 1), Præfatio, Bl. 2r. Die Vorrede der Zweitausgabe wurde auch für die Drittausgabe verwendet. 35

Zitiert nach Politica, hg. von Friedrich (Anm. 32), Appendix II, Nr. 7, S. cxxiii f.

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lehrte, abzulehnen.36 Sein akademisches Werk hat er aber in diesen Jahren trotzdem nicht vernachlässigt, wie die Textrevision der „Politica“ und später der „Jurisprudentia Romana“ zeigt. Sein akademisches Schaffen erreicht seinen Höhepunkt in der ersten Hälfte der zweiten Dekade des 17. Jahrhunderts mit den endgültig revidierten Editionen der „Politica“ (1614) und der „Jurisprudentia Romana“ bzw. „Dicaeologica“ (1617). Zu diesem Zeitpunkt ist Althusius bereits weit über fünfzigjährig. Das heißt, er war auch während der turbulentesten Zeit seines Amts in Emden, der Periode der heftigen Auseinandersetzungen mit dem ostfriesischen Grafen, welche 1611 mit dem Osterhusischen Akkord endete, ständig dabei, sein theoretisches Werk zum Abschluss zu bringen. Dies stützt die oben dargelegte Sichtweise, dass Althusius die Arbeit an seiner Theorie und sein Amt komplementär verstand.

I. Fazit Wie hat die „Politica“ nun auf die eingangs gestellte mentalitätsgeschichtliche Frage geantwortet? Die Antwort fällt zwiespältig aus. In der Darstellung und Einforderung der Berufspflichten lassen sich die von Weber identifizierten Elemente der protestantischen Ethik ausmachen: Die Arbeit als angemessener Ausdruck der von Gott verliehenen Gaben, die Heiligung der Arbeit durch die rechte Haltung, die Forderung nach gewissenhafter Ausführung, die Arbeit als transformierte caritas und als Pflichterfüllung – sie alle sind früh im Text eingebunden in das Konzept der symbiosis zu finden. Am klarsten und deutlichsten treten sie in der Diskussion der vier Grundvoraussetzungen zutage. Die Einforderung jener Qualitäten durch das Gemeinwesen gibt einen interessanten Einblick, wie der Prozess der Sozialdisziplinierung im Filter calvinistischer Theorie aussieht. Trotz der Aussage, dass die diskutierten vier Grundvoraussetzungen für alle Tätigkeiten, private wie öffentliche, gelten, werden sie im Laufe des Textes zunehmend von anderen Konzepten der Amts- bzw. Herrschaftsausübung überlagert und wirken bald nur noch als ethische Hintergrundstrahlung, die vor allem in jenen Passagen wahrzunehmen ist, in welchen die sittlich-ethische Perspektive überwiegt.

__________ 36

Für Menk stellen die wiederholten Ablehnungen der Rufe nach Franeker keinen Widerspruch zu Althusius’ Festhalten an seiner akademischen Identität dar, vielmehr wird diese durch ein calvinistisches Berufsethos überlagert (Menk, Johannes Althusius [Anm. 29], S. 93).

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Wie also ist dieses Ergebnis zu deuten, dass die Forderungen der protestantischen Ethik in der „Politica“ auftauchen, aber in wirklich überzeugender Form nur für die Berufsausübung (trotz des universalen Anspruchs) verarbeitet werden konnten? Befassen wir uns zuerst mit dem langsamen Verklingen dieser Forderungen in der Ämterdiskussion. Behnen spricht in seiner Untersuchung der Herrschaftstechnik in der „Politica“ von einem „eklatanten Mangel einer dem Calvinismus adäquaten eigenen sozialen Tugendlehre.“37 Deshalb habe Althusius für die Konstruktion seines Herrscherbildes auf Autoren der Staatsräson, die Neustoa des Lipsius und das Alte Testament zurückgegriffen. Ob man dieser Aussage bezüglich der Nicht-Existenz einer calvinistischen (sozialen) Tugendlehre grundsätzlich zustimmen mag oder nicht, die Tatsache bleibt, dass Althusius in den von Behnen untersuchten Kapiteln tatsächlich auffällig oft auf Autoren der genannten Gruppen Bezug nimmt. Geht man davon aus, dass Althusius hier tatsächlich in einer Art calvinistischem Vakuum argumentieren musste, so stellt sich die Frage, warum er selbst den Mangel nicht behoben hat. Die Antwort liegt in der Methode; die Erarbeitung einer solchen Tugendlehre wäre eindeutig eine Grenzüberschreitung gewesen. In beiden Vorreden zur „Politica“ thematisiert Althusius die Problematik, wie Elemente aus anderen Wissenschaften in ein Werk der Politik einzufügen sind bzw. ob das überhaupt zulässig ist. In der Vorrede zur Erstausgabe bezeichnet er den Text als Kompilation bestehenden Wissens aus verschiedenen Bereichen; die Innovation bestünde in der korrekten Präsentation. In der Vorrede von 1610/14 verwahrt er sich gegen Vorwürfe, sich durch dieses Vorgehen insbesondere gegenüber der Theologie und der Jurisprudenz der Grenzüberschreitung schuldig zu machen. Die Erarbeitung einer eigenständigen Tugendlehre in einem Werk über die Politik hätte eine Grenzüberschreitung in den Bereich der Ethik bedeutet. Gut zu hören ist die Stimme der protestantischen Ethik jedoch in jenen Passagen der „Politica“, die sich mit der direkt erlebten symbiosis (d.h. mit dem Zusammenleben in der Gemeinde und dessen Kontrolle) auseinandersetzen. Das hängt damit zusammen, dass Althusius hier nicht nur normativ-abstrakt argumentiert, sondern sich an der Praxis orientieren kann. Sozialdisziplinierung in der Form der calvinistischen Kirchenzucht mit ihren zahlreichen Forderungen nach Pflichterfüllung war für Althusius und seine Zeitgenossen Teil ihrer Lebenswelt. Auch wenn hier noch viele offene Fragen bleiben, so scheint es mir doch sehr lohnend, die „Politica“ vermehrt unter mentalitätsgeschichtlichen Ge__________ 37

Behnen, Herrscherbild (Anm. 28), S. 446.

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sichtspunkten zu betrachten. Hier müssten aber noch weitere Quellen erschlossen werden. Dazu gehört vor allem das vielleicht am wenigsten bekannte Werk des Althusius, die „Civilis Conversationis Libri Duo“. Diese 1601 erschienene Schrift wird erst seit kurzem in der Forschung genauer beachtet, sie steht in der Tradition italienischer Anstandsbücher der Renaissance, deren bekanntestes Beispiel immer noch Castigliones „Cortegiano“ darstellt.38 Bezeichnenderweise hat Althusius in einigen der hier zitierten Passagen auf die „Civilis Conversationis Libri Duo“ verwiesen. Es wäre wünschenswert, wenn diese Schrift für die Forschung erschlossen würde, um so den Blick auf Althusius’ Gedankenwelt weiter abzurunden.

__________ 38 Siehe hierzu Emilio Bonfatti, Die Rezeption von Johannes Althusius’ Civilis Conversationis Libri Duo durch Bartholomäus Keckermann und Johann Heinrich Alsted, in: ders./Duso/Scattola (Hg.), Politische Begriffe (Anm. 30), S. 315-329 sowie zur Thematik allgemein Jan Rohls, Der Prozess der Zivilisation und der Geist des Protestantismus, in: Die Manieren und der Protestantismus (EKD 79), Hannover 2004, S. 63-170. Menk erwähnt, dass sich in dieser Schrift bereits die „Leitlinien eines auf innerweltliche Askese ausgerichteten Lebensstils“, welche für Althusius so kennzeichnend sind, finden lassen (Menk, Johannes Althusius [Anm. 29], S. 63).

Judaism and religious toleration in Althusius Von Diego Quaglioni, Trient

To Antonio Rotondò, in memoriam In the last twenty years religious toleration has become one of the major issues debated in history of modern religious, legal and political thought, both in Germany and Italy. The close connection between this subject and the origins of modernity and the State inspired Italian historiography to examine a corpus of doctrines and institutions, that has apparently little in common with the monolithic and mono-confessional Counter-reformation Italy (see for example the three volumes on the history of religious toleration, recently published in honour of Antonio Rotondò and edited, among other distinguished scholars, by the late Richard H. Popkin).1 And obviously one of the major historical problems in the Catholic context of the Post-Reformation Europe is the end of the medieval regime, that had been relatively tolerant towards Jews, with the attempt to give them the same status as the new heretics, with the rise of new accusations concerning blasphemy against the Christian faith, with the outbreak of the terrible myth of ritual murder, with forced conversions, and their reclusion in the ghettoes.2 The widespread circulation of anti-Jewish literature seriously threatened the delicate equilibrium that had been achieved between tolerance and exclusion of Jews. Demands for the destruction of Jewish books, for compulsory baptism of __________ 1 Henry Méchoulan/Richard H. Popkin/Giuseppe Ricuperati/Luisa Simonutti (eds.), La formazione storica della alterità. Studi di storia della tolleranza nell’età moderna offerti a Antonio Rotondò, I, Secolo XVI; II, Secolo XVII; III, Secolo XVIII, Florence 2001. See also Hans R. Guggisberg/Frank Lestringant/Jean-Claude Margolin (eds.), La liberté de conscience (XVIe-XVIIe siècles). Actes du Colloque de Mulhouse et Bâle (1989), Geneva 1991. 2

It is obviously impossible to give some remarks about the vast and complex literature on the history of the Jews at the rising of modern Europe. I tried to present a general interpretation in Diego Quaglioni, „Both as villain and victim“. L’ebreo in giudizio. Considerazioni introduttive, in: Quaderni Storici 99 (1998), pp. 517-532.

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Diego Quaglioni

Jewish children, and for coercive conversion, as an alternative to expulsion or segregation in ghettoes became more and more common. It was indeed, as an Italian historian recently said commenting on Luther’s 1543 booklet „On the Jews and their Lies“, „a stormy wind“ that blew over European Jews.3 At the same time, the European Reformation saw an extension of Judaising activity in such forms as an increasing knowledge of Hebrew and a reawakened interest in the Old Testament and its prescriptive force. Some historians stressed that in general the simplifying attack of the Protestant Reformation on traditional doctrines and ecclesiastical organisation had the effect of an „unconscious Judaising campaign“ (it is the case of Bodin, according to Paul Lawrence Rose)4. Anyway, the debate on the status of the Jews and on their relationship to Christians in a Christian society characterizes the late Middle Ages and is part of European culture until the late Renaissance, before the great turning-point at the end of the Eighteenth Century. It is a complex event, too often solved in the vision of a modern idea of toleration as opposed to the medieval dimension of „jus commune“, and more specifically to canon law tradition.5 On the contrary, in the late Middle Ages and early Modern the dispute about Jews is a long controversy inside „jus commune“, between „scientia canonum“ and „scientia civilis“: civilians emphasize the status of „cives Romani“ guaranteed to the Jews by Justinian Code, and affirm that Judaism is a „religio licita et approbata“; the canonists’ tendency, on the contrary, is to tighten up the old theological view, according to which „Judaei nobis participant in negotiis saecularibus, in spiritualibus non“, and to restrict and finally to prevent most of the everyday occasions of contact (conversatio et negotium) between Jews and Christians not only in the field of spiritual relations, such as marriage, or teaching, but, by the reason of „periculum animae“, also in secular matters, __________ 3

Adriano Prosperi, Introduzione, in: Martin Lutero, Degli ebrei e delle loro menzogne. Edizione a cura di Adelisa Malena, Turin 2000, pp. VII-LXX: XVII. See Heiko A. Oberman, The Roots of Anti-Semitism in the Age of Renaissance and Reformation, Philadelphia 1984, pp. 104-105, quoted by Harold J. Berman, Law and Revolution, II. The Impact of the Protestant Revolutions on Western Legal Tradition, Cambridge (Mass.)/London 2003, p. 396, n. 42. 4 Paul Lawrence Rose, Bodin and the Great God of Nature. The Moral and Religious Universe of a Judaiser, Geneva 1980, p. 5. 5

See for example Walter Pakter, Medieval Canon Law and the Jews (Münchener Universitätsschriften – Juristische Fakultät. Abhandlungen zur Rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 68), Ebelsbach 1988; reviewed by Jeremy Cohen, in: The American Historical Review 97 (1992), pp. 1500-1501.

Judaism and religious toleration in Althusius

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most of them concerning trade law and contract law (the best example is, of course, that of the dispute against usury).6 The works written by jurists in praise of toleration, or, on the contrary, their effort in searching new legal arguments to tighten up separation between the „false Israel“ (the Jews) and the „true Israel“ (the Church), are both important to understand how the jurists represented the Jews and perpetuated their image in Christian society. But they are also important to understand the various aspects of a phenomenon such as modern religious toleration, where the old and the new coexist, often without any apparent contradiction.7 It seems to me that Althusius’s conception of religious toleration, especially in relation to the Jews, may contribute to explain the complex character of this phenomenon.8 Just three years ago, in a paper on „Religion as a Principle of Political Order“ in Marsilius of Padua and Althusius, held at the Herborn Symposium on the occasion of the 4th centenary of „Politica methodice digesta“, Bettina Koch emphasized the way Althusius brings into focus the true orthodox religion in chapter XXVIII. „Although Althusius does not close his eyes for the existence of other confessions“, she says, „their status should be [...] of very limited rights in the territory of the realm. Concerning the restrictions on other religions, Althusius has a clear graduation in mind. Atheism, epicureanism, and libertinism should not be permitted by all means [...]. This is also true for Arianism [...] that tears up the foundation of faith, since they do not believe in the Holy Trinity. Jews might be allowed to live in __________ 6 See Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval AntiJudaism, Ithaca/London 21983, and for further observations, Diego Quaglioni, Gli ebrei e la giustizia nell’età del diritto comune. Aspetti del processo e delle dottrine giuridiche, in: Mauro Perani (ed.), Una manna buona per Mantova. Man Tov le-Man Tovah. Studi in onore di Vittore Colorni per il suo 92° compleanno, Florence 2004, pp. 21-40. 7 See Diego Quaglioni, „Sans violence ny peine quelconque au port de salut“. Il problema della libertà di coscienza nella „République“ di Jean Bodin, in: Méchoulan et al., La formazione storica (n. 1), pp. 361-373. 8 For a general view still useful Heinz Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Leer 1955, Chapter III (Althusius als Ältester des Emder Kirchenrates), pp. 69-98, 90-91, especially about the „Judenfrage“. For more recent perspectives see Dieter Wyduckel, Einleitung: Recht, Politik und Religion vor den Herausforderungen der Frühen Moderne, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (eds.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposions zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603-2003 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 131), Berlin 2004, pp. X-XX. On Althusius’s conception of ecclesiastical administration and censure see Lucia Bianchin, Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna, Bologna 2005, pp. 254-262.

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the territory of the realm, but they should not have synagogues [...]. Catholics, however, should not be allowed to marry persons of other confessions or to have their own temples“.9 In a little embarrassed footnote concerning the status of Jews in Althusius’s religious and political order, Koch makes a very significant addition, remembering that „Althusius even suggests separate quarters for Jews“. Then she concludes: „If one keeps in mind the extent to which his argument is based on the Jewish tradition, this view of Althusius seems somewhat odd“.10 That is certainly right: this view of Althusius seems to be not only somewhat odd, but somewhat contradictory, too, if we just keep in mind the role of Judaism and Jewish tradition in the whole of Althusius’s system concerning symbols and authorities, mostly based on Jewish history and Holy Scripture,11 and particularly if we keep in mind Althusius’s attempt to put on the same bases „a principled theory of toleration“, as Jesse Chupp and Cary J. Nederman emphasized in their paper on „The Calvinist Background to Johannes Althusius’s Idea of Religious Toleration“, held at the Herborn Symposium in 2003.12 Chupp and Nederman really went a little further, stressing that „what is so important about Althusius’s approach to tolerance is its roots in a theological understanding of the nature of government and of a communal order generally“; so, in their view, „Calvinist doctrine and Scripture license the ‚Politica’s‘ refusal to legitimize religious persecution to the extent that it is possible for different confessions to live together in peace“.13 Consequently, if „Althusius can hardly be called a proponent of modern secular toleration“, __________ 9 Bettina Koch, Religion as a Principle of Political Order? Comparing Marsilius of Padua and Johannes Althusius, in: Carney et al., Jurisprudenz (n. 8), pp. 23-46 36. 10

Ibid., n. 40.

11

See Lea Campos Boralevi, Politia Judaica, in: Francesco Ingravalle/Corrado Malandrino (eds.), Il lessico della Politica di Johannes Althusius. L’arte della simbiosi santa, giusta, vantaggiosa e felice. Prefazione di Dieter Wyduckel. Introduzione di Corrado Malandrino (Fondazione Luigi Firpo. Studi e testi, 26), Florence 2005, pp. 253263; see ead., La Respublica Hebraeorum nella tradizione olandese, in: Lea Campos Boralevi/Diego Quaglioni (eds.), Politeia biblica (Il pensiero politico, 35), Florence 2003, pp. 431-463. 12 Jesse Chupp/Cary J. Nederman, The Calvinist Background to Johannes Althusius’s Idea of Religious Toleration, in: Carney et al., Jurisprudenz (n. 8), pp. 243260; 245. 13

Ibid., p. 256.

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however „it is obvious that Althusius was loath to allow the civil power to suppress religious differences“, and also that „his general goal of conserving social and political life among persons puts him on the road of toleration“.14 Furthermore, Chupp and Nederman affirm: „It is clear in the ‚Politica‘ that Althusius champions religious toleration. Those who think that the magistrate is not able to tolerate diverse religions are simply in error, he declares“.15 I do not disagree, but it seems to me that one must recall that Althusius was limiting his sentence to the Jesuits „existimantes, magistratum non posse diversas religiones in regno tolerare“,16 and opposing them to the doctrine of Bodin about tolerance as neutrality of the State in every case of religious controversy.17 Althusius refers explicitly to the famous passage of „République“, Book IV, Chapter VII, where Bodin recalls the maxim of the emperor Theodosius: „Religionem imperare non possumus, quia nemo cogitur ut credat invitus“, as the sole remedy against rebellion and sedition due to religious controversies. Like Bodin, and coherently with the ancient rule of Justinian Digest, „Cogitationis poenam nemo patitur“ (D. 48, 19, 18), Althusius esteems that nobody may be punished for his opinions, because the magistrate exceeds the limits of his power whenever „in hominum conscientias imperium sibi vindicat“, that is to say, when he thinks himself capable of binding human conscience; nevertheless, the magistrate cannot permit religions prohibited by law („religionis improbatæ exercitium“), unless this prohibition constitutes a serious danger for the State.18

__________ 14

Ibid.

15

Ibid., p. 252.

16

Johannes Althusius, Politica methodice digesta, Herborn 1614, Reprint Aalen 1961, XXVIII (De administratione ecclesiastica), 65, p. 602. 17

See Diego Quaglioni, Jean Bodin nicodemita? Simulazione e dissimulazione religiosa nelle aggiunte latine alla „République“, in: Jean Bodin. Actes du Colloque interdisciplinaire d’Angers, 24 au 27 Mai 1984, Angers 1985, I, pp. 183-198. See id., I limiti della sovranità. Il pensiero di Jean Bodin nella cultura politica e giuridica dell’età moderna, Padua 1992. 18 Althusius, Politica (n. 16), XXVIII, 65, p. 602: „Quod si magistratus Dei imperium invadit, suæ jurisdictionis limites excedit, atque in hominum conscientias imperium sibi vindicat, non impune hoc maleficium feret. Nam ob hoc factum oriuntur in regno ipsius seditiones et tumultus, quos parere solet persecutio [...]. Quicunque igitur regnum tranquillum habere cupit, a persecutionibus abstineat. Nec tamen religionis improbatæ exercitium concedat [...]. Si tamen sine Reip. exitio id prohibere non potest, ferenda est illi ea religio, quam sine Reip. interitu auferre non potest. Bodin. lib. 3. c. 7“. See Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583, p. 655; id., De Republica libri sex,

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For this reason the Jesuits „are in error“: because they do not distinguish, and simply „think that the magistrate is not able to tolerate diverse religions“, without any exceptions. Instead, Althusius moves on to show how the magistrate can manage those exceptions, excluding with the Jesuits any extensive interpretation of the principle of religious toleration: „Non enim hic quæritur“, Althusius explains, „an duæ pluresve religiones esse possint, quod cum illis negamus [...]. Nec quæritur, an magistratus ipse duas religiones diversas amplecti possit, quod negamus. Nec quæritur, an magistratus habeat potestatem disponendi de religione, contra verbum Dei, quod negatur. Verum quæritur, quando in regno civitates vel status quidam discrepantes in confessione sententias amplectuntur, pro quarum defensione quilibet verbum Dei allegat: an tum magistratus, qui unius partis sententiam amplectitur, reliquos dissentientes armis et gladio persequi possit. Hoc in casu dicimus, quod magistratus qui sine Reip. periculo et turbatione mutare, vel tollere non potest religionis et confessionis discrepantiam, ob pacis et tranquillitatis publicæ causam, tolerare debeat dissentientes, connivendo et permittendo exercitium religionis improbatæ eousque, donec Deus reliquos illuminet, ne alias totum regnum et cum eo ecclesiæ hospitium evertatur“.19 Apart from this case, the magistrate cannot tolerate public exercise of other religions: „Diversarum igitur religionum exercitium non aliter tolerabit“.20 This really is „an unambiguous response“, as Chupp and Nederman say,21 adding a very interesting note: „Yet it is also clear that Althusius’s well-ordered-polity“, they say, „would not be counted as tolerant according to the standards of toleration expected in post-Enlightenment times. His description of Jews going about with clear identification and the denial to them and to ‘papists’ of houses of worship and rights of intermarriage with those outside of their rite are concrete violations of the modern ideal of toleration, as is the expulsion of atheists [...]. Yet inasmuch as Jews and adherents to the Roman Church are not to suffer persecution for the very fact of their faith, Althusius suggests an inherent limit to the functional role of the so-called ‚ecclesiastical administrator‘, whose office forms a branch of the civil regime, not of the church“.22 __________ Paris 1586, p. 485; and, for a commentary, id., I sei libri dello Stato, II (ed. by Margherita Isnardi Parente/Diego Quaglioni), Turin 1988, p. 584. 19

Althusius, Politica (n. 16), XXVIII 65-66, pp. 602-603.

20

Ibid., 66, p. 603.

21

Chupp/Nederman, Calvinist Background (n. 12), p. 252.

22

Ibid., pp. 252-253.

Judaism and religious toleration in Althusius

235

Jesse Chupp’s and Cary J. Nederman’s conclusion is that Althusius’s justification for non-persecution „is rooted in the Calvinist theology of grace and Providence conjoined with the understanding of functionalism as a mode of limitation on governmental authority“.23 They also say that „it must be emphasized that Althusius’s proposals for the isolation of Jews and Papists should not be regarded as expressions of simple prejudice“, but on the contrary as an aspect of Althusius’s tendency „to establish, conserve, and cultivate social life among persons“ in a well-regulated commonwealth.24 We can endorse that judgement without hesitation, but not without repeating that Althusius’s theory, so „odd“ and maybe contradictory if compared with his tendency to put Judaic tradition at the basis of his general argument, cannot be really understood, unless we see it in the context of a long and complex literary and doctrinal tradition, that is fundamentally a legal tradition. On the other hand, it seems that Althusius himself introduces and debates this issue abruptly, in chapter XXVIII of his revised edition of the „Politica methodice digesta“, concerning the „administratio ecclesiastica“. He says nothing about Jews in the first edition of „Politica“, where the corresponding chapter XXIII is much shorter and is entirely dedicated to a general definition of the ecclesiastical administration, which consists in „Ecclesia et regno Dei defendendo et protegendo et conservando“,25 and particularly „in defendenda, conservanda et vindicanda Ecclesia contra hostes ipsius et turbatores“26. Moreover, Althusius had already defined in general terms the „ius majestatis“ as „potestas disponendi de iis quæ universaliter ad salutem animæ et corporis membrorum Reipubl. pertinent“,27 adding that the magistrates have to defend and protect „veros Dei cultores [...] in regno suo, etiamsi numero pauciores sint, et plures qui aliam profitentur religionem“,28 preaching the expulsion of atheists („plane [...] non sunt ferendi“) and concluding with a general and negative precept in matter of toleration: „Non etiam permittendum est ut omnes fruantur libere sua religione et opinionibus impune“.29 __________ 23

Ibid., p. 253.

24

Ibid.

25

Johannes Althusius, Politica methodice digesta, Herborn 1603, XXIII (De administratione Ecclesiastica), p. 302. 26

Ibid., p. 312.

27

Ibid., VI (De legibus fundamentalibus regni et iure majestatis Ecclesiastico), p. 9.

28

Ibid., p. 65.

29

Ibid.

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Things change in 1614 edition of „Politica“, where Althusius distinguishes between the „manifestam impietatem et profanitatem“ represented by „atheismum, epicurismum, libertinismum“, that is strictly forbidden, and other religions, like Judaism, subjected to a complex regime of permissions and prohibitions, mostly left to the magistrate’s discretion.30 In such part of „Politica“ Althusius places a series of recommendations, that are largely drawn from previous works on the subject, especially from Bodin, Daneau and other authors, and from the wide system of legal tradition of „jus commune“, with its characteristic balance of „tolerantia“ and „gravamina“, that often has been judged by modern historians as symbolizing both a liberal interpretation and the premises of persecution in early modern times.31 „Puto etiam“, Althusius says, „pium magistratum bona conscientia posse permittere, ut Judaei in suis ditionibus et territorio habitent, et cum fidelibus conversentur et negotientur, idque exemplo juris civilis, tit. C. de Jud. et caelico. [C. 1, 9] et tit. ext. de Jud. et Saracenis [X. 5, 6] [...]. sed synagogas suas Judaeis permittere, non puto magistratibus concessum“.32 It must be stressed that Althusius refers to the entire legal tradition, enclosing both civil and canon law (i.e. the titles „De Judaeis“ in Justinian Code and in Gregory IX „Liber Extra“), with their norms that allow the Jews to observe peacefully their rites and to use their laws to judge private controversies, that protect them against false accusations and injuries, but that also forbid every blasphemy against Christian faith and above all every relation with Christians implying a supremacy of the Jews, such as marriage, or service, or an office, because the Jews, says Innocent III in the Lateran Council IV (X. 5, 6, 16), „sub tali praetextu christianis plurimum sunt infesti“.33 Both civil and canon law (C. 1, 9, 19, § 1; X. 5, 6, 1 and 7) allow the Jews to keep old synagogues and to restore them, but forbid them to build new ones.34 __________ 30

Althusius, Politica (n. 16), XXVIII, 52, p. 596.

31

See Guido Kisch, Mediaeval Italian Jurisprudence and the Jews, in: Historia Judaica 6 (1944), pp. 78-82. 32

Althusius, Politica (n. 16), XXVIII, 53, pp. 596-597.

33

Concilium Lateranense IV, Constitutiones, 69 (Cum sit nimis absurdum), in: Giuseppe Alberigo/Giuseppe L. Dossetti/Perikles-P. Joannou/Claudio Leonardi/Paolo Prodi (eds.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bologna 1991, p. 266; see Corpus iuris canonici (ed. Aemil Friedberg, Leipzig 1879, Reprint Graz 1955), II, Decretalium collectiones, col. 777. 34 See Vittore Colorni, Gli Ebrei nel sistema del diritto comune fino alla prima emancipazione, Milan 1956, pp. 47-48.

Judaism and religious toleration in Althusius

237

On the contrary, Althusius thinks this could not be permitted by the magistrate, in spite of the opinion of those theologians who esteem Jews may keep their synagogues, provided that they are satisfied to have their lectures on the Sacred Texts and to pray, avoiding to blaspheme Christ and his Church („modo in illis contenti sint lectione Bibliorum, precibus, nec in Christum vel ecclesiam illius blasphement“).35 In order to sustain his opinion, Althusius refers to a Novel of the emperor Justinian, dating A.D. 553. It is the Novel CXLVI, that imposes a new regime on the Jews, obliging them to use Greek instead of Hebrew in their rites and lectures of the Holy Scripture, in order to avoid every blasphemy against Christian faith.36 Briefly, Althusius clearly suggests that every secular relation (conversatio civilis) between Christians and Jews has to be submitted to special cautions, that are drawn from the two „corpora iuris“, that is to say both from civil and canon law (Althusius says again: „passim in tit. C. de Judæis. [C. 1, 9] et tit. de Jud. et Saracenis. extra [X. 5, 6]“).37 Cautions are the followings: „1. Ne fideles cum Judæis connubia contrahant [...]. 2. Ne in religione, illorumque ritibus communicent, aut etiam nimis arctam colant amicitiam, vel familiariter cum eis versentur, sed separatim Judæi habitent, ut fit Francofurti; et signa seu notas gestent, quibus ab omnibus facile dignoscantur [...]. Deinde operam dabit superior, ut assidue et diligenter in diœcesi sua viventes infideles erudiantur in verbo Dei [...]. Tertio prohibebit, ne usuras rodentes et iniquissimas tales Judæi exerceant, et blasphemias in Christum evomant“.38 Althusius, that is clear, is not a canonist, but without canon law one cannot understand his views about Jews, Judaism and religious toleration. Far from separating the new orientations of political, theological and philosophical knowledge from the medieval legal tradition, Althusius’s thought suggests a concordance instead. Law and theology come together in his experience: he is capable of using arguments and authorities drawn from scriptural tradition as from legal tradition. Such a doctrine could arise and develop only from a

__________ 35

Althusius, Politica (n. 16), XXVIII, 53, 597.

36

Ibid. See Colorni, Gli Ebrei nel sistema del diritto comune (n. 34), p. 7; id., L’uso del greco nella liturgia del giudaismo ellenistico e la Novella 146 di Giustiniano, in: Annali di Storia del Diritto Italiano 8 (1964), pp. 19-80 (repr. in id., Judaica minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna, Milan 1983, pp. 1-65). 37

Althusius, Politica (n. 16), XXVIII, 54, p. 598.

38

Ibid., p. 597.

238

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reflection of jurists who were also theologians, and who were capable to speak to theologians who had a strong legal education.39 Beyond the voluntarily scholastic style used by Althusius to make his text sound as if he were simply giving advice, the discipline he indicated appears in this chapter as the foreshadowing of a legal, political and religious order. Althusius stands at the beginning of modern public law and his theory of the relation of the State and the non forbidden religious confessions forms the basis of modern Church-State systems.

__________ 39 See Christoph Strohm, Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Carney et al., Jurisprudenz (n. 8), pp. 71-102.

Johannes Althusius, Petrus Ramus und die Systematisierung der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung Von Christian Hattenhauer, Heidelberg

A. Einleitung Die Bedeutung des Johannes Althusius (1557/63-1638) gründet sich vor allem auf das in der „Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata“ (1603) entwickelte Staatsmodell. Doch sind seine zivilrechtlichen Leistungen nicht zu vergessen, die sich wie die „Politica“ durch die methodische, an der Lehre des Pariser Humanisten und Philosophen Petrus Ramus (1515-1572) orientierte Darstellung auszeichnen. Althusius’ Systematisierung der kaufrechtlichen Sachmängelgewährleistung bietet dafür ein beeindruckendes Beispiel. Nach Studien in Marburg und Köln ging Althusius nach Basel, wo er im Humanistenkreis Basilius Amerbachs (1533-1591) verkehrte und möglicherweise auch Franciscus Hotomannus (1524-1590) kennen lernte. Während seiner Aufenthalte in Genf hörte er bei dem französischen calvinistischen Humanisten Dionysius Gothofredus (1549-1622) und wurde selbst zum Calvinisten. Bei seinem Baseler Lehrer, dem Mediziner und Universalgelehrten Theodor Zwinger (1533-1588), lernte er die Methode des empirischen Realismus des Ramus kennen, der er zeit seines Lebens folgte. Schon während seines Studiums begann er mit einer systematischen Darstellung des römischen __________ 1 Zu Althusius Hagen Hof, in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl., Heidelberg 1996, S. 19-24; Ulrich Speck, in: Michael Stolleis (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon, München 1995, S. 31 ff., jeweils mit weiterführenden Nachweisen. 2

Zu Ramus statt vieler Walther J. Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue, Cambridge (Mass.) 1958; Christoph Strohm, Ramus, Petrus, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), S. 129-133; Karl-Heinz Uthemann, Ramée, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 7 (1994), Sp. 1307-1312.

Christian Hattenhauer

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Rechts. Noch 1586, im Jahr seiner Promotion zum Doktor beider Rechte und der Berufung an die 1584 gegründete calvinistisch-reformierte Hohe Schule Herborn, erschien seine erste bedeutende Schrift „Iuris Romani libri duo“ (Basel 1586)3. Im weiteren Titel (ad leges methodi Rameae conformati et tabulis illustrati) bezieht sich Althusius auf die Lehre des Ramus und deren typische Darstellungsweise durch Schaubilder (tabulae)4.

B. Petrus Ramus und der Einfluss seiner Lehre Gestützt auf Platon, Cicero sowie Quintilian hatte sich Ramus vor allem gegen die aristotelische Logik in der erstarrten Form der Scholastik gewandt, die in Paris Anfang des 16. Jahrhunderts zwar für kurze Zeit überwunden worden war, aber im akademischen Unterricht wieder Fuß gefasst hatte.5 Seine Magisterthese (1536) lautete radikal „Quaecumque ab Aristotele dicta essent, commentitia esse“ („Was immer Aristoteles sagte, ist erlogen“). Zunächst wegen seines Antiaristotelismus mit Lehrverbot belegt, kam Ramus dann 1551 als Professor an das spätere Collège de France. Von 1568 bis 1570 unternahm er im Auftrag des französischen Königs eine Vortragsreise durch die Schweiz und nach Süddeutschland, wo er viele Anhänger für sein Methodenverständnis gewinnen konnte. Im calvinistischen Heidelberg nahmen ihn Kurfürst Friedrich III. (1515-1576) und die Theologen der Universität, besonders der Hofprediger Caspar Olevianus (1536-1587), freundlich auf. In Heidelberg bekannte er sich 1570 öffentlich als Protestant. Im selben Jahr nach Paris zurückgekehrt, erhielt er, nun wegen seiner Konfession, erneut Lehrverbot, wurde aber bald wieder in seine Rechte eingesetzt. In Paris fiel Ramus der Bartholomäusnacht am 24. August 1572 zum Opfer. Man schlug seiner Leiche den Kopf ab und warf sie in die Seine. __________ 3

Weitere Auflagen: Basel 1589; Herborn 1588 (Titel: „Iurisprudentia Romana, vel potius, Iuris Romani ars; duobus libris comprehensa, et ad leges methodi Rameae conformata“), 1592, 1599 u. öfter bis 1688; dazu Roderich von Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (Abt. I und II von Stintzing [München/Leipzig 1880 und 1884], Abt. III von Landsberg [2 Halbbde., München/Leipzig 1898 und 1910], Abt. I, S. 471 f. 4 Ramistische Tafeln zum Aufbau des „Corpus iuris civilis“ finden sich in der kommentierten Ausgabe des „Dionysius Gothofredus“, Corpus iuris civilis, in IIII partes distinctum, 1583, 1590, 1602, 1607, 1624 etc. 5 Wilhelm Risse, Einleitung zu: Petrus Ramus, Dialecticae institutiones, Aristotelicae animadversiones, Faksimile-Reprint der Ausgaben Paris 1643, Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, S. VIII f.

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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Die neue Wissenschaftstheorie kennzeichnete eine pädagogisch-praktische und zweckorientierte Ausrichtung. Ramus ging aus von einer Dialektik des gesunden Menschenverstandes, einer praktischen Disziplin, die ihren Inhalt vor allem aus der Natur des menschlichen Geistes erhalte und lediglich die Kunst lehre, die natürliche Fähigkeit zum Denken richtig zu gebrauchen (ars bene disserendi).6 Im Anschluss an Cicero (106-43 v. Chr.)7 und an sein Vorbild, den einflussreichen8 friesischen Humanisten Rudolph Agricola9 (1444-1485), unterschied Ramus für die Kunst der Dialektik (ars dialectica) als Lehre der Erörterung (doctrina disserendi) mit inventio (Auffinden des Begriffs) und iudicium (Bewertung) zwei Schritte10. Dem ersten ordnete er die Lehre vom Begriff und der Definition, dem zweiten die Lehre von Urteil, Schluss und wissenschaftlicher Ordnungsmethode zu. Anders als in der aristotelischen Tradition, die, wie etwa Melanchthon, die Topik zwischen die Schlüsse (die klassische Syllogistik) und die Trugschlüsse stellte, ordneten Agricola, Ramus und ihre Anhänger die Topik der inventio zu, die damit an Gewicht gewann. Es ging weniger um eine Methodik der Forschung als um eine Darstellung des als gesichert angenommenen Wissens.11 Neben Agricola steht vor allem Ramus für die humanistische Lehre von der methodus in Form der „dihairetischen Methode“, die die Grundbegriffe der Wissenschaft in immer feinere Unterbegriffe, Gattungen und Arten aufspaltet.12

__________ 6

Hans-Erich Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluss des Humanismus, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, II, Neuere Zeit, Teilbd. 1, Wissenschaft, S. 615795, S. 728; Stintzing/Landsberg, Geschichte I (Anm. 3), S. 146. 7 Cicero, Topica II 6: „Cum omnis ratio diligens disserendi duas habeat partes, unam inveniendi, alteram iudicandi, utriusque princeps, ut mihi videtur, Aristoteles fuit.“ 8

Zum Einfluss Agricolas Ong, Ramus (Anm. 2), S. 95 ff.

9 Rudolph Agricola, De inventione dialecticae libri tres – Drei Bücher über die Inventio dialectica. Auf Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam (1539) kritisch herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Lothar Mundt, Tübingen 1992, S. 16 f., S. 8 f. 10

Petrus Ramus, Dialecticae Institutiones, Paris 1543, fol. 8 r/v.

11

Zur unterschiedlichen Rolle der Topik ausführlich Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Zur Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500-1850), München 2001, S. 26 ff.; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Band I, Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 20 ff., S. 24 f. 12

Dazu näher Schröder, Recht als Wissenschaft (Anm. 11), S. 80 ff.

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Für den Ramismus typisch ist die Darstellung begrifflicher Zusammenhänge in Schaubildern (tabulae), die Stammbäumen oder Ahnentafeln ähneln und den logischen Zusammenhang der Stamm- und der Unterbegriffe mittels Klammern anschaulich zu machen suchen. Diese Verästelungen sind im doppelten Sinne „ramistisch“ („ramus“ = lat. „Ast“). Die tabulae boten für sämtliche Disziplinen eine Darstellung des Stoffs. Ramus selbst wandte seine Methode auf die artes liberales und die Theologie an; sein früher Tod verhinderte vermutlich eine Ausdehnung auf Jurisprudenz und Medizin.13 Für die Rechtswissenschaft hatte bereits Cicero in einer im 16. Jahrhundert viel zitierten Stelle aus „De oratore“ die dihairetische Methode gefordert: „Wenn es nämlich mir erlaubt wäre, das zu machen, was ich schon lange erwäge …, zuerst das gesamte ius civile in ganz wenige Gattungen einzuteilen, hierauf gewissermaßen die Glieder dieser Gattungen zu zerteilen, dann die eigene Bedeutung jedes einzelnen (Gliedes) durch eine Definition zu erklären, dann werdet ihr eine vollkommene Kunst des ius civile haben, groß und fruchtbar statt schwierig und dunkel“.

Die methodus Ramea breitete sich in den letzten Jahrzehnten des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts stark aus. Ende des 16. Jahrhunderts war Ramus der einflussreichste Logiker. Gerade unter den Reformierten fand seine Methode Aufnahme, bei denen er als Märtyrer der Bartholomäusnacht besonderes Ansehen genoss.15 In den Statuten der calvinistischen Hohen Schule Herborn war der Ramismus als Grundlage aller Studien vorgeschrieben. Caspar __________ 13 Christoph Strohm, Theologie und Zeitgeist. Beobachtungen zum Siegeszug der Methode des Petrus Ramus am Beginn der Moderne, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999) [englische Fassung als: Theology and Zeitgeist. The Triumph of the Method of Peter Ramus at the Beginning of the Modern Age, in: Kees Meerhoff/Jean-Claude Moisan (Hg.), Autour de Ramus le Combat, Paris 2005], S. 353, Fn. 4. 14

Cicero, De oratore I 42: „Si enim aut mihi facere licuerit, quod iam [diu] cogito … ut primum omne ius civile in genera digerat, quae perpauca sunt, deinde eorum generum quasi quaedam membra dispertiat, tum propriam cuiusque vim definitione declaret, perfectam artem iuris civilis habebitis, magis magnam atque uberem quam difficilem et obscuram.“ 15 Christoph Strohm, Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposions zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603-2003, Berlin 2004, S. 71-102, S. 75, Fn. 16; ders., Theologie und Zeitgeist (Anm. 13), S. 352-371; dazu auch Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584-1660), Wiesbaden 1981, S. 208. Tabelle zur Verbreitung der Schriften des Ramus bei Ong, Ramus (Anm. 2), S. 296.

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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Olevianus, Gründungsrektor der Herborner Schule, war zu seiner Heidelberger Zeit Ramus begegnet und hatte nach seinem Weggang aus Heidelberg nach Nassau-Dillenburg dessen Logik in Herborn eingeführt.16 Von dort fand sie allmählich Aufnahme an anderen reformierten Schulen,17 wie etwa am Gymnasium illustre Arnoldinum (1588) in Burgsteinfurt.18 Dort war Althusius in Unterbrechung seiner Herborner Tätigkeit ab dem Sommersemester 1592 mindestens vier Jahre19 Inhaber des juristischen Lehrstuhls. Auch in Zentren katholischer, so in Krakau, und lutherischer Theologie wurde Ramus geschätzt. König Gustav Adolf II. von Schweden (1594-1632) schrieb etwa die ramistische Dialektik als offizielles Lehrbuch für Uppsala vor.20 Doch war die ramistische Logik an einigen lutherischen Universitäten auch verboten, etwa in Leipzig (1591), Helmstedt (1597) und Wittenberg (1603).21 Inwiefern über die methodus Ramea gerade die calvinistische Konfession die Jurisprudenz beeinflusst hat, lässt sich nur vermuten. Die Lösung des Ramismus, in der Wissenschaft an die Stelle des komplizierten aristotelischen Schematismus den einfachen Weg des gesunden Menschenverstandes zu setzen und dem natürlichen Urteil zu vertrauen, kam den Zielen von Protestantismus und Humanismus entgegen, war „eine ihnen analoge Erscheinung auf dem Gebiete der Denklehre“.22 Dass die neuen theologischen Lehren allgemein für den neuen logisch-systematischen Ansatz offen waren, liegt auf der Hand. Gerade dem calvinistischen Rechtsdenken kam die natürliche Dialektik des Ramus außerdem insofern entgegen, als darin Gewissen und Rechtsgefühl hohe __________ 16

Menk, Hohe Schule (Anm. 15), S. 209 ff.

17

Ebd., S. 205 ff.

18 Neben dem calvinistischen Bekenntnis (Cap. I § 14) schrieb die „Idea disciplinae“ der Hohen Schule die „Logica P. Rami“ als Stoff der philosophischen Fakultät (Cap. I § 22) und die „Methodus ramea“ für die „schola classica“ (Cap. II § 4) vor, abgedruckt bei Georg Heuermann, Geschichte des reformirten gräflich Bentheimischen Gymnasium Illustre Arnoldinum zu Burgsteinfurt, Burgsteinfurt 1878, S. XXII-XXVII. 19

Hans Jürgen Warnecke, Althusius und Burgsteinfurt, in: Karl Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Rechtstheorie Beiheft, 7), Berlin 1988, S. 147-160 (157 f.); Ingeborg Höting, Die Professoren der Steinfurter Hohen Schule, Steinfurt 1991, S. 22. 20

Risse, Einleitung (Anm. 5), S. XXV.

21

Strohm, Theologie und Zeitgeist (Anm. 13), S. 354, Fn. 10; Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, S. 136. 22

Stintzing/Landsberg, Geschichte I (Anm. 3), S. 148.

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Bedeutung hatten.23 Die besondere juristische Ausrichtung des Calvinismus hat ihre Ursache nicht nur in der juristischen Ausbildung Calvins; man wollte ferner neben dem Luthertum eine weitere neugläubige Konfession begründen und festigen, die eigene Ansätze nicht nur in theologischer, sondern gerade auch in juristischer Hinsicht entwickelte.24 Die graphische und vereinfachende Darstellung der Begriffe entsprach überdies dem besonderen Ordnungsbedürfnis der Zeit. Nach der Lösung vom mittelalterlichen Weltbild, der Auflösung der mittelalterlichen klerikalfeudalistischen Ständegesellschaft und der verlorenen ideologischen Einheit war man auf der Suche nach der neuen Ordnung.25 Die Jurisprudenz konnte ihre Funktion, politische Entscheidungen zu motivieren, mit der bloßen Berufung auf Autorität, Tradition und Vorurteil sowie der überkommenen dialektischen Schulung nicht mehr erfüllen. Man hoffte, mit der neuen Dialektik ein neues Gesamtsystem juristischer Dogmatik zu errichten und die verlorene Einheit der Gesellschaft zurück zu gewinnen.26 Besonders ausgeprägt war dieses Ordnungsbedürfnis bei den Calvinisten, die die Reformation gerade auch für das tägliche Leben fruchtbar machen wollten, in dessen Dienst das Recht schließlich steht. Die Trennung zwischen geistlichem und bürgerlichem Regiment war in Calvins Regimentelehre27 nicht so strikt durchgeführt wie in der Zwei-Reiche-Lehre Luthers.28 Der ordo-Gedanke gilt als Zentralbegriff in Calvins Rechtslehre.29 Die zweckrationale, auf den praktischen wissenschaftlichen Nutzen zielende Ausrichtung des Ramismus kam diesem Streben entgegen.

__________ 23

Volker Heise, Der calvinistische Einfluss auf das humanistische Rechtsdenken. Exemplarisch dargestellt an den „Commentarii de iure civili“ von Hugo Donellus (15271591), Göttingen 2004, S. 121 ff. m.w.N. 24

Ebd., S. 107 f.

25 Strohm, Theologie und Zeitgeist (Anm. 13), S. 368 ff.; Coing/Troje, Handbuch II/1 (Anm. 6), S. 743. 26

Coing/Troje, Handbuch II/1 (Anm. 6), S. 743.

27

Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, 6. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1997, III 19, 15. 28

Heise, Calvinistischer Einfluss (Anm. 23), S. 108 f. m.w.N.

29

Ebd., S. 127 f. m.w.N.

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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C. „Protestantische Scholastik“ Über den Ramismus entstand in der deutschen Jurisprudenz etwa gleichzeitig mit der spanischen Spätscholastik eine neue rechtswissenschaftliche – protestantische – Richtung. Inhaltlich fiel sie gegenüber der Spätscholastik ab. Während der Thomismus das spätscholastische Recht formte und besonders im Vertragsrecht dogmatisch innovativ wirkte, bestand die Leistung der „protestantischen Scholastik“, wie sie sich auch nennen lässt, vorwiegend in der Systematisierung traditioneller gemeinrechtlicher Regeln.30 Parallelen bestehen zu den frühen Systematisierungsversuchen der französischen humanistischen, meist calvinistischen Rechtswissenschaft, etwa zu Franciscus Connanus (15081551) als dem ersten Systematiker und vor allem zu Hugo Donellus (15271591). Gemeinsam mit dem wenig älteren Hermann Vultejus (1555-1634) war Johannes Althusius der herausragende Kopf dieser neuen Linie in Deutschland. Beide legten ihren Werken die ramistische Methode zugrunde. Vier Jahre nach Althusius’ „Iuris Romani libri duo“ erschienen die „Iurisprudentiae Romanae a Justiniano compositae libri duo“ (Marburg 1590) von Vultejus, in denen er den Ramismus allerdings nicht in der gleichen Strenge wie Althusius durchführte.31 Zuvor hatten Nicolaus Vigelius (1529-1600), der sich methodisch noch auf Cicero berief, und der Freund und Anhänger des Ramus, Johannes Thomas Freigius (1543-1583), systematische Rechtsdarstellungen vorgelegt.32 Althusius war es, der als erster die ramistische Methode mit aller Konsequenz auf das Recht des Corpus iuris civilis anwandte: In der Vorrede der „Iurisprudentia Romana“, die das „Ius Romanum“ zwei Jahre nach dessen Erscheinen ablöste,33 bemängelte er den Aufbau der Institutionen, des von Kaiser Justinian (ca. 482-565) im Jahr 533 mit Gesetzeskraft versehenen Anfängerlehrbuchs im Corpus iuris civilis, und forderte eine aus den Grundbegriffen entwickelte, methodisch stringente und wirklich systematische Darstellung des römischen Rechts. Bisherige Versuche seien unbefriedigend geblieben: „Hätten sich doch die hervorragendsten Rechtslehrer, die in ihren Schriften und Kommentaren das Römische Recht so weit erläutert und verfeinert haben, ebenso oft und mit ebenso großem Fleiß, Geschicklichkeit und Ertrag, von denen von nun an die

__________ 30 Martin Josef Schermaier, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 144. 31

Vgl. Stintzing/Landsberg, Geschichte I (Anm. 3), S. 452-465.

32

Dazu Schröder, Recht als Wissenschaft (Anm. 11), S. 84 m.w.N.

33

S. o. bei Anm. 3.

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Rede sein wird, um eine Sammlung und Übertragung in einer richtigen und geziemenden Ordnung bemüht – wir hätten zweifellos das, was wir herbeisehnen: eine Vollendung der Rechtswissenschaft und eine Kunst des Zivilrechts, und diese mehr fruchtbar als schwierig und dunkel – eine solche, sage ich, wie sie Cicero im Buch 1 ‚Über den Redner’ gefordert hat: Dann würden die Rechtsstudenten schneller und mit weniger Aufwand zum Ertrag ihrer Studien und an das Gericht gelangen, würden auch genauer und gewählter über die Rechtsfragen urteilen und die Fälle nicht zum Schaden der Streitenden behandeln. Nun aber [ist] alles gerade umgekehrt.“34

In ramistischer Dichotomie unterscheidet Althusius einen allgemeinen und einen besonderen Teil: Das erste Buch des „Ius Romanum“ behandelt das ius primum (materielles Recht), das zweite das aus diesem entstandene Recht, das ius ortum a primo (Verfahrensrecht). In beständiger Unterteilung der römischrechtlichen Begriffe in membra und species strukturiert er das römische Recht neu, stellt die dadurch entstehenden Begriffsbäume in ramistischen Tafeln dar und entwirft „in einer für das aufkommende Vernunftrecht prägenden Kraft das System des Rechts“35. Diese Ansätze baute Althusius in den „Dicaeologicae libri tres totumet universum ius, quo utimur, methodice complectens“ (Herborn 1617, Frankfurt 1618 und 1649) zu einem System des gesamten geltenden Rechts weiter aus. – „Er hat im festen Glauben an die Wahrheit der biblischen Verkündigung und Weisung mit den soliden Methoden einer umfassenden humanistischen Bildung die sozialtheologische Forderung Calvins, eine reformatorische Staats- und Rechtslehre aufzubauen, in ihrer Bedeutung erkannt und den ersten systematischen Versuch zu 36 ihrer Verwirklichung gemacht.“

__________ 34

Iurisprudentia Romana, 2. Aufl., Basel 1589, Vorrede 2a-4b: „Praefatio. Utinam, quot praestantißimi & interpretes suis scriptis & commentariis Ius Romanorum hucusque illustrarunt & excoluerunt, tot ac tanta industria, solertia, & mu[l]tilata hinc inde leguntur, colligendis, & recto convenientique ordine tradendis laborassent, haberemus sine dubio eam, quam desideramus, Iurisprudentiae perfectionem & artem Iuris civilis, eamque magis uberem, quam difficilem & obscuram, talem inquam, qualem Cic. lib. 1 de Orat. exoptavit: adhuc Iuris studiosi citius minorique labore ad studiorum fructum & forum pervenirent, exactius quoque & exquisitius de Iuris quaestionibus iudicantes, non cum tanto litigantium detrimento saepe caussas agerent. Nunc vero omnia contra.“ 35

Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl., Heidelberg 2004, Rn. 1190. 36

Erik Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 179.

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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D. Systemgedanke und Römisches Recht Ein System haben die römischen Juristen nicht ausgebildet. Zwar war schon Cicero in „De oratore“ und in seiner nicht erhaltenen Schrift „De iure civili in artem redigendo“ dafür eingetreten, das römische Recht in ein System zu bringen. Doch blieb das römische Recht im Wesentlichen Fallrecht, bei dem die Falllösung vornehmlich durch Vergleich mit Parallel- und Gegenfällen gefunden wurde. Der Konservatismus der Römer tat ein Übriges: Ihr Umgang mit dem Recht war geprägt durch eine „vorsichtig-konservative Technik vorwärtstastender Rechtsfortbildung am Einzelfall“37 mit auffälliger Zurückhaltung in der Abstraktion.38 Man beschränkte sich vornehmlich auf die Betrachtung der einzelnen Rechtsfiguren, vor allem der actiones39, verkannte die Gefahren allgemeiner Begriffe und Regeln nicht: „Omnis definitio40 in iure civili periculosa est, parum est enim, ut non subverti posset“ (Iavolen D. 50, 17, 202) – „jede Definition, jede Regel im Zivilrecht ist gefährlich, denn es geschieht nur selten, dass sie nicht umgekehrt werden kann“. Die Abneigung und das Misstrauen gegenüber der Abstraktion waren Ursache des „sehr bescheidenen“41 systematischen Interesses der römischen Jurisprudenz. Im Vordergrund stand das Einzelproblem: „Der römische Jurist verweigerte sich der theoretisch umfassenden Durchdringung des Rechtsstoffes. Nicht das juristische System enthielt ihm die Wahrheit, sondern die Erfahrung der Väter und das praktisch überzeugende Ergebnis. ... Man brachte das Recht nicht auf den Begriff, wie man umgekehrt nicht aus dem Besitz von 42 Begriffen auf das Vorhandensein richtigen Rechts schloss“.

An die Errichtung eines Systems, das sich von der Legalordnung des Corpus iuris civilis entfernte, wagte die mittelalterliche Rechtswissenschaft nicht zu denken. Als ratio scripta, als „Bibel“ der Juristen war das Corpus iuris civilis für die mittelalterlichen Juristen unantastbar. Man behandelte die Texte in der __________ 37

Hattenhauer, Rechtsgeschichte (Anm. 35), Rn. 272.

38

Max Kaser, Das römisches Privatrecht, 1. Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, 2. Aufl., München 1971, § 46 IV 1 (S. 182); Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, München 1934, S. 30 ff. 39

Vgl. Kaser, Römisches Recht (Anm. 38), § 46 VI 1 (S. 187).

40

„Definitio“ und „regula“ wurden gleichbedeutend verwendet, Hermann Gottlieb Heumann/Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 10. Aufl., Graz 1958, v. „definitio“. 41

Schulz, Prinzipien (Anm. 38), S. 36 mit Beispielen.

42

Hattenhauer, Rechtsgeschichte (Anm. 35), Rn. 272.

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überkommenen Legalordnung. Das galt nicht nur für die Glossen, sondern auch für die zusammenfassenden Summen. Die methodischen Ansätze der Antike43 fanden keine Beachtung. Das Wort „Methode“ (methodus) war in der mittelalterlichen Logik bedeutungslos. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts löste sich die Rechtswissenschaft des Humanismus von der mittelalterlichen Tradition, begriff das römische Recht in seiner historischen Bedingtheit und stellte damit die Autorität der Quellen in Frage. In Abkehr von der Legalordnung teilte man den Rechtsstoff nach systematischen Kriterien ein. Dem mos italicus in scholastischer Tradition stellte sich der mos gallicus der französischen humanistischen Rechtsschule entgegen, die ihr Zentrum an der Universität Bourges hatte. Die führenden europäischen Juristen waren Calvinisten oder standen, wie Jacobus Cuiacius (Cujaz, 1520-1590), dem Calvinismus jedenfalls nahe. Als größter Systematiker seiner Zeit gilt Hugo Donellus, der 12 Jahre jünger als Ramus und gut 30 Jahre älter als Althusius war. Als Hugenotte floh er in der Bartholomäusnacht aus Bourges, fand (nach einem Aufenthalt in Genf) 1573 Aufnahme in Heidelberg, ging wegen des Übertritts der Pfalz zum Luthertum 1579 nach Leiden und von dort wiederum an die Nürnberger Universität Altdorf. In seinem zum Teil posthum erschienenen Hauptwerk, den „Commentarii de iure civili“ (28 Bücher, 1589-96), die zu den herausragenden Leistungen der europäischen Rechtswissenschaft gehören, löste sich Donellus von der Legalordnung der Digesten und begründete – zeitgleich mit Althusius – ein System. Wie Althusius unterscheidet er zwei Teile – das materielle Zivilrecht (ius nostrum) und das Verfahrensrecht (ratio iuris nostri obtinendi). Die ramistische Methode wird er gekannt haben, wenn er sie seinen Überlegungen auch nicht ausdrücklich zugrunde legte.44 Jedenfalls bekannte er sich aber über den Bezug auf Cicero wohl zur dihairetischen Methode.45 Für Donellus – wie für Althusius – diente das System allein zur Darstellung. Noch herrschte nicht die erst im 18. und 19. Jahrhundert vor allem durch Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) umgesetzte Vorstellung eines „inneren Systems“, das auch Erkenntniszwecken über eine deduktive Beweisführung aus Axiomen dient.46 Doch nimmt das System des Donellus wegen seiner __________ 43

Dazu Schröder, Recht als Wissenschaft (Anm. 11), S. 80.

44

Coing/Troje, Handbuch II/1 (Anm. 6), S. 768; Stintzing/Landsberg, Geschichte I (Anm. 3), S. 148. 45

Schröder, Recht als Wissenschaft (Anm. 11), S. 85 m.w.N.

46

S. 113.

Katrin Stapelfeldt/Jan Schröder, in: Kleinheyer/Schröder, Juristen (Anm. 1),

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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Vollständigkeit und der bis dahin unerreichten dogmatischen Durchdringung des Stoffes eine Sonderstellung ein. Von Savigny hielt das Kommentarwerk des Donellus „in gewissem Sinne“ für das „beste Werk über das römische Recht“47 und zollte Donellus als einem der wenigen alten Juristen Anerkennung.48 Das Urteil über Althusius fällt demgegenüber nicht ungetrübt aus. Roderich von Stintzing sieht seine Schriften als „hervorragend durch Dialektik und systematische Methode“, die „Iurisprudentia“ und die „Dicaeologica“ als „vollständige Systeme des Römischen Rechts in einer knappen dialektischen Form, welche sie von den meisten gleichzeitigen Versuchen ähnlicher Art unterscheidet“49. Erik Wolf erkennt im Werk des Althusius wegen der Unterscheidung allgemeiner von besonderen Lehren und der Lösung von der Legalordnung nicht nur eine „eigenartige“, sondern auch eine „in die Zukunft weisende Leistung“, sieht aber den „Hauptmangel“ im „formalistischen, nicht sachlich geforderten Aufbau“, in der unnötigen Aufspaltung der Begriffe durch die ramistische Darstellung, die sachlich Zusammengehöriges auseinanderreiße.50 Althusius sei, wie schon Ramus, leider in eine neue Art von Begriffsformalismus geraten, den er, ebenfalls wie Ramus, ursprünglich hatte bekämpfen wollen.51

E. Die Systematisierung der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung durch Althusius Jedenfalls für den Fall der Sachmängelhaftung des Verkäufers wird die Beurteilung Wolfs den systematisch-dogmatischen Leistungen des Althusius nicht gerecht. Gerade die streng methodische Ausrichtung der Darstellung hat zu einer dogmatisch schlüssigen Lösung geführt.52 Über die ramistische Lehre __________ 47 Friedrich Carl von Savigny, Juristische Methodenlehre, nach der Ausarbeitung des Jakob Grimm, Stuttgart 1951, S. 63. 48 Dazu etwa Christoph Bergfeld, Savigny und Donellus, in: Ius Commune 8 (1979), S. 24-35. 49

Roderich von Stintzing, Althusius, in: Allgemeine Deutsche Biographie 1 (1875), S. 367. 50

Wolf, Rechtsdenker (Anm. 36), S. 210.

51

Ebd., S. 181.

52

Grundlegend Walter Jürgen Klempt, Die Grundlagen der Sachmängelhaftung des Verkäufers im Vernunftrecht und Usus modernus, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 26 ff.

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überwand Althusius die Kasuistik der römischen Quellen und gelangte über eine rein formalistische Neuordnung hinaus zu neuen, methodisch untermauerten Lösungen einzelner Sachprobleme. Neben der Begründung des Persönlichkeitsschutzes in einem subjektiven Persönlichkeitsrecht53 lieferte er etwa unter dem Einfluss der aristotelisch-thomistischen Handlungslehre die Grundlagen einer allgemeinen Rechtsgeschäftslehre,54 indem er die verschiedenen Erscheinungen rechtlich relevanten Handelns unter einen gemeinsamen Begriff zu fassen suchte und die rechtsgeschäftliche Tätigkeit (negotia) in factum voluntarium, factum conditionale und factum involuntarium unterschied.55 Gerade sein System der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung belegt eindrucksvoll die dogmatische Leistung des Althusius:56 Ausgangspunkt war das im Corpus iuris civilis Justinians uneinheitlich geregelte kaufrechtliche Gewährleistungsrecht.57 Im antiken römischen Recht standen dem Käufer bei einem Sachmangel unterschiedliche Rechtsbehelfe zur Verfügung. Seit __________ 53 Dazu Manfred Herrmann, Der Schutz der Persönlichkeit in der Rechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts. Dargestellt an Hand der Quellen des Humanismus, des aufgeklärten Naturrechts und des Usus modernus, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968, S. 29-33. 54 Näher Schermaier, Irrtum (Anm. 30), S. 144 ff. und ders., in: Joachim Rückert/Matthias Schmoeckel/Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1, Allgemeiner Teil, Tübingen 2003, vor § 104 Rn. 2-4. 55 Johannes Althusius, Dicaeologicae libri tres totumet universum ius, quo utimur, methodice complectentes, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1649, Reprint Aalen 1967, lib. I, pars 1, cap. 9-11.

Zuvor hatte Vultejus die Gültigkeitsvoraussetzungen des factum allgemein erörtert, Hermann Vultejus, Iurisprudentia Romana a Iustiniano composita (1590), Marburg 1614, lib. I, cap. 7. Der Wolff-Schüler Daniel Nettelbladt (1719-1791) entwickelte aus der facta-Lehre erstmals den Begriff des Rechtsgeschäfts: Der actus iuridicus umfasse alle „erlaubten menschlichen Handlungen, die Rechte oder Verbindlichkeiten betreffen, gleich, ob sie neue Verpflichtungen schaffen oder nicht“, Daniel Nettelbladt, Systema elementare iurisprudentiae positivae germanorum communis (1749), Halle 1781, § 183: … „facta hominum licita, quae iura et obligationes concernunt, sive iura et obligationes producant, sive non“. Unter Rückgriff auf die facta-Lehre sprach von Savigny dann von „juristischen Thatsachen“ für alle Ereignisse, die ein Rechtsverhältnis begründen oder beenden, Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, III, Berlin 1840, S. 3. 56

Zum Folgenden Klempt, Grundlagen (Anm. 52), S. 27 ff.

57 Dazu statt vieler Max Kaser/Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 18. Aufl., München 2005, S. 214 ff.

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altersher konnte der Verkäufer durch Stipulation eine Garantie für Fehlerfreiheit der Kaufsache übernehmen. Daneben traten honorarrechtliche, vom Verschulden des Verkäufers unabhängige Klagen auf Wandelung (actio redhibitoria) und Minderung (actio quanti minoris), die die kurulischen Ädilen als Inhaber der Marktgerichtsbarkeit in ihrem Edikt beim Kauf von Sklaven und Zugtieren gewährten.58 Die Wandelungsklage auf Rückerstattung des Kaufpreises gegen Rückgabe der Ware war innerhalb von sechs Monaten zu erheben, die Minderungsklage innerhalb eines Jahres.59 In Konkurrenz mit diesen ädilizischen Klagen aus ius honorarium hatte der Käufer bei einem Sachmangel aus ius civile die Kaufklage (actio empti). Primär auf Lieferung gerichtet, diente sie daneben auch der Mängelgewährleistung. Zunächst galt das nur unter engen Voraussetzungen: bei arglistiger Täuschung durch den Verkäufer über die Beschaffenheit der Kaufsache, bei __________ 58 D. 21,1,1 pr. – 1 (Ulp. 1 ad edictum aedilium curulium): „Labeo scribit edictum aedilium curulium de venditionibus rerum esse tam earum quae soli sint quam earum quae mobiles aut se moventes. 1. Aiunt aediles: ‚Qui mancipia vendunt certiores faciunt emptores, quid morbi vitiive cuique sit, quis fugitivus errove sit noxave solutus non sit: eademque omnia, cum ea mancipia venibunt, palam recte pronuntianto, quodsi mancipium adversus ea venisset, sive adversus quod dictum promissumve fuerit cum veniret, fuisset, quod eius praestari oportere dicitur: emptori omnibusque ad quos ea res pertinet, iudicium dabimus, ut id mancipium redhibeatur. […] hoc amplius si quis adversus ea sciens dolo malo vendidisse dicitur, iudicium dabimus’“. – „Labeo schreibt, das Edikt der kurulischen Ädilen über den Verkauf von Sachen gelte sowohl für Sachen, die zu Grund und Boden gehören, als auch für bewegliche oder sich selbst bewegende Sachen. 1. Die Ädilen sagen: ‚Diejenigen, welche Sklaven verkaufen, sollen den Käufern mitteilen, ob ein Sklave eine Krankheit oder einen Fehler hat, ob er schon einmal entflohen ist, ob er sich herumgetrieben hat oder ob er von einer Noxalklage noch nicht befreit worden ist; und all dieses sollen sie beim Verkauf der Sklaven öffentlich und in gehöriger Weise verkünden; wurde aber ein Sklave entgegen diesen Bestimmungen verkauft oder befand er sich in einem Zustand, der dem beim Verkauf Zugesagten oder Versprochenen widersprach, soweit man dafür (nach Zivilrecht) haften muss, dann werden wir dem Käufer und allen, die diese Sache angeht, eine Klage darauf geben, dass dieser Sklave gegen Rückzahlung des Preises zurückgenommen wird. [...] Weiterhin werden wir eine Klage geben, wenn angegeben wird, dass jemand hiergegen wissentlich und mit Arglist verkauft hat.’“ 59 D. 21,1,19,6 (Ulp. 1 ad edictum aedilium curulium): „Tempus autem redhibitionis sex menses utiles habet: si autem mancipium non redhibeatur, sed quanto minoris agitur, annus utilis est. sed tempus redhibitionis ex die venditionis currit aut, si dictum promissumve quid est, ex eo ex quo dictum promissumve quid est.“ – „Die Frist für die Wandlungsklage ist eine von sechs für die Rechtsverfolgung tauglichen Monaten. Wenn aber der Sklave nicht im Wege der Wandlung zurückgegeben werden soll, gilt eine Frist von einem zur Rechtsverfolgung tauglichen Jahr. Allerdings läuft die Wandlungsfrist vom Tag des Verkaufs an oder, wenn etwas erklärt oder versprochen ist, von dem Zeitpunkt an, in welchem etwas erklärt oder versprochen worden ist.“

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Behauptungen „ins Blaue“ oder bei der Zusicherung von Mangelfreiheit oder besonderer Eigenschaften. Geschuldet war Ersatz des Interesses, also Schadensersatz. Bereits im klassischen Recht wurden die Rechtsfolgen der actio empti über den Ersatz des Interesses an diejenigen der ädilizischen Klagen angeglichen: Hätte der Käufer in Kenntnis des wahren Sachverhalts billiger gekauft, konnte er Erstattung des zuviel gezahlten Preises (Minderung), hätte er überhaupt nicht gekauft, Rückzahlung des gesamten Preises gegen Rückgabe der Kaufsache (Wandelung) verlangen; darüber hinaus ließ Julian den redlichen Verkäufer auch ohne Zusicherung der Mangelfreiheit auf Minderung haften.60 Die actio empti verjährte in der allgemeinen Frist von 30 Jahren. Im 6. Jahrhundert erstreckte Justinian in den Digesten die ädilizischen Rechtsbehelfe im ersten Titel des 21. Buchs auf alle Kaufsachen. Daneben bestand die im ersten Titel des 19. Buchs geregelte actio empti mit ihren Erweiterungen fort. Sie umfasste damit ebenfalls Wandelung und Minderung und die Haftung des redlichen Verkäufers und machte die ädilizischen actiones redhibitoria und quanti minoris an sich überflüssig. Sein Klassizismus ließ Justinian aber an ihnen festhalten. __________ 60 D. 19,1,13, pr-1 (Ulp. 32 ad edictum): „Julianus libro quinto decimo inter eum, qui sciens quid aut ignorans vendidit, differentiam facit in condemnatione ex empto: ait enim, qui pecus morbosum aut tignum vitiosum vendidit, si quidem ignorans fecit, id tantum ex empto actione praestaturum, quanto minoris essem empturus, si id ita esse scissem: si vero sciens reticuit et emptorem decepit, omnia detrimenta, quae ex ea emptione emptor traxerit, praestaturum ei. (…). Item qui furem vendidit aut fugitivum, si quidem sciens, praestare debebit, quanti emptoris interfuit non decipi: si vero ignorans vendiderit, circa fugitivum quidem tenetur, quanti minoris empturus esset, si eum esse fugitivum scisset, circa furem non tenetur: differentiae ratio est, quod fugitivum quidem habere non licet et quasi evictionis nomine tenetur venditor, furem autem habere possumus.“ – „Julian macht im 15. Buch (seiner Digesten) einen Unterschied zwischen demjenigen, der wissentlich, und demjenigen, der unwissentlich eine mangelhafte Sache verkauft hat. Er sagt nämlich, wer ein krankes Tier oder mangelhaftes Bauholz verkauft, hafte, wenn er es unwissentlich getan habe, aus der Kaufklage nur auf den Betrag, um den ich weniger gezahlt hätte, wenn ich es gewusst hätte. Habe er aber den Mangel wissentlich verschwiegen und den Käufer getäuscht, müsse er für alle Verluste einstehen, die der Käufer aus diesem Kauf erlitten habe. (…). Ebenso muss derjenige, der einen Sklaven verkauft hat, welcher ein Dieb ist oder zur Flucht neigt, falls er dies wissentlich getan hat, dem Käufer das Interesse leisten, das dieser daran hatte, nicht getäuscht zu werden. Hat er ihn dagegen ohne Kenntnis des Mangels verkauft, dann haftet er zwar hinsichtlich des zur Flucht neigenden Sklaven, um wieviel weniger der Käufer gekauft hätte, wenn er gewusst hätte, dass der Sklave zur Flucht neigt; hinsichtlich dessen, der einen Diebstahl begangen hat, haftet er nicht. Der Grund für den Unterschied liegt darin, dass man einen zur Flucht neigenden Sklaven nicht in ungestörtem Besitz haben kann und der Käufer daher gewissermaßen wegen Eviktion haftet, während man einen Dieb im ungestörten Besitz haben kann.“

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Bei dieser Quellenüberlieferung waren in dogmatischer Hinsicht weniger die verstreuten Regelungen als die Grundfrage problematisch, ob der Ausgangspunkt der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung in den ädilizischen Klagen oder der actio empti liegt.61 Wählt man die actio empti, die in erster Linie der Erfüllung dient, so liegt die Annahme nahe, auch die Gewährleistung als Frage der Erfüllung einzuordnen und bei mangelhafter Kaufsache keine Erfüllung anzunehmen. Nimmt man den Ausgang bei den ädilizischen Klagen, so fehlt der Bezug zur Erfüllung. Die aus der Marktpolizei hervorgegangenen Sondervorschriften lassen den Schluss zu, dass sie dem Käufer gerade deshalb gewährt werden, weil er eben nicht restliche Erfüllung – etwa durch Beseitigung des Mangels – verlangen, sondern nur Mängelrechte geltend machen kann. Die Mängelfreiheit wäre nicht als Erfüllung geschuldet. Der alte Streit zwischen Erfüllungstheorie und Gewährleistungstheorie, den das neue Schuldrecht in § 433 Abs. 1 S. 2 BGB seit dem 1. Januar 2002 zugunsten der Erfüllungstheorie entschieden hat,62 ist also bereits in der widersprüchlichen Überlieferung der Quellen angelegt. Probleme ergaben sich vor allem hinsichtlich der erheblich voneinander abweichenden Verjährungsfristen. Sollte der Käufer, der die kurzen Fristen der ädilizischen Klagen versäumt hat, dasselbe Klageziel über die daneben bestehende actio empti dreißig Jahre nach Abschluss des Kaufvertrages verfolgen können? Auch das erinnert an das deutsche Recht vor der Schuldrechtsreform. Im alten BGB waren die sechsmonatige Frist von Wandelungsund Minderungsanspruch (§ 477 BGB 1900) und die dreißigjährige Regelverjährungsfrist (§ 195 BGB 1900) rechtspolitisch zweifelhaft und begründeten zahlreiche Abgrenzungsprobleme.63 Erst das neue Schuldrecht hat die Verjährungsfristen angeglichen, indem die kaufrechtlichen Gewährleistungsfristen für die meisten Fälle auf 2 Jahre verlängert (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB) und die Regelverjährungsfrist auf drei Jahre (§ 195 BGB) verkürzt worden ist.

__________ 61

Zum Folgenden Klempt, Grundlagen (Anm. 52), S. 15 ff.

62

§ 433 BGB, Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag: (1) Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen. Der Verkäufer hat dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. (2) Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen. Zur Neuregelung statt vieler Dieter Reinicke/Klaus Tiedke, Kaufrecht, 7. Aufl., München 2004, Rn. 207; BT-Drs. 14/6040, S. 208 f. 63 Zum alten Recht statt vieler Max Vollkommer, in: Othmar Jauernig (Hg.), BGB, 9. Aufl., München 1999, § 477 Rn. 4 f.

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In seiner unübersichtlichen Überlieferung und den offenen grundsätzlichen Fragen bot das Kaufrecht der römischen Quellen für die humanistischen Systematiker die Herausforderung, eine neue, widerspruchsfreie Konzeption auszubilden, zu der die traditionelle Darstellung in Anlehnung an die Legalordnung nicht durchgedrungen war. Die mittelalterlichen Juristen hatten den Schwerpunkt auf die actio empti verlagert, neben die die ädilizischen Klagen als bloße Sonderformen getreten waren;64 Azo war der erste, der die von Justinian auf alle Kaufgegenstände ausgedehnte Ediktshaftung damit auch systematisch mit der Erfüllungsklage in Einklang gebracht hatte.65 Eine sachliche Angleichung war aber ausgeblieben, wie sich etwa an der Beibehaltung der extrem unterschiedlichen Verjährungsfristen als „Nagelprobe“ zeigt.66 Nicht wesentlich über die bisherigen Ansätze hinaus kam im Humanismus etwa Cujaz67, der Vertreter der antiquarischen historisch-philologischen Richtung und Gegner der systematischen Richtung war, die sein Zeitgenosse Donellus vertrat. Der erste, der unter Lösung von der Legalordnung der römischen Quellen eine konsequente systematisch eigenständige und übersichtlich geordnete Sachmängelhaftung des Verkäufers entwickelte, war schließlich Donellus selbst:68 Er erörtert die Sachmängelhaftung in Zusammenhang mit den allgemeinen Leistungspflichten des Verkäufers aus dem Kaufvertrag. Neben der Pflicht zur Übergabe der verkauften Sache an den Käufer nennt er die Pflicht, dem Käufer die Sache unversehrt (incorrupta) zu verschaffen.69 Es hätte damit nahe gelegen, die Pflicht zur sachmangelfreien Lieferung der actio empti zuzuordnen. Donellus behandelt die Pflicht ut (emptor) habeat rem incorruptam ausführlich nicht in seinem zusammenfassenden Alterswerk, den „Commentarii __________ 64 Dazu Hermann Dilcher, Die Theorie der Leistungsstörungen bei Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten, Frankfurt 1960, S. 18 ff.; Klempt, Grundlagen (Anm. 52), S. 13 ff. 65 Accursius kehrte aber zur Selbständigkeit der Ediktsklagen zurück, Nachw. bei Dilcher, Theorie (Anm. 64), S. 229 f. 66

Nachw. ebd., S. 231 u. S. 236 f.

67

Dazu Klempt, Grundlagen (Anm. 52), S. 18 ff.

68

Dazu ebd., S. 22 f.

69

Hugo Donellus, Commentariorum de iure civili tomus tertius (erstmals erschienen Frankfurt am Main 1596), in: Opera omnia, tom. 3, Lucae 1763, lib. 13 cap. 3 n. 1 (S. 786): „Enim caput praestationum huius generis de re vendita est, non solum ut re ita tradatur, quo eam habere liceat; sed etiam quo eam recte habere liceat. Id est ut tradatur incorrupta, & ab omni onere rei ius minuente libera, quoad eius ex bona fide fieri oportet.“

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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de iure civili“, sondern zuvor gesondert unter dem Titel „De Aedilitio edicto“:70 Die gleichberechtigte Konkurrenz der Rechtsbehelfe führe zu absurden Ergebnissen, wenn der Käufer nach Verjährung der kurzen Ediktsklage noch aus der actio empti vorgehen könne.71 In der typischen historischen Argumentation des mos gallicus fährt er fort: Nun habe es vor dem Edikt keine allgemeine Sachmängelhaftung im Kaufvertrag und damit über die actio empti gegeben. Da die actio empti als Vertragsklage alles erfasse, was der Verkäufer üblicherweise zu leisten habe, müsse sie sich erst recht auf das erstrecken, was nicht aus Sitte und Gewohnheit, sondern aus besonderen Rechtsgründen, d.h. aus dem Edikt, geschuldet sei. Das Edikt habe eine (neue) actio empti eingeführt, die keine zivile Klage (d.h. des ius civile) sei, da die Ädilen sie mit engen zeitlichen Grenzen geregelt hätten.72 Damit ist die Lösung gefunden: Ausgehend von der Pflicht des Verkäufers zur Lieferung einer mangelfreien Sache ist Grundlage die actio empti. Sie erfährt ihre sachliche Ausgestaltung aber aus dem Edikt. Was blieb da noch für Althusius und seine ramistische Dialektik? Zunächst, im „Ius Romanum“ bzw. der „Iurisprudentia Romana“,73 hatte Althusius noch keine geschlossene Systematik der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung entwickelt, sondern in herkömmlicher Weise Kaufvertrag (emptio venditio) und Edikt jeweils zum Ausgangspunkt genommen.74

__________ 70 Hugo Donellus, Commentariorum in selectos quosdam titulos digestorum volumen primum, Opera omnia, Lucae 1766, tom. 10, S. 1294-1328. Trotz des Titels („edita iam olim“) ist ein Erscheinen des Werks vor der Ausgabe in Hugo Donellus, Opera priora, edita iam olim, nunc recens recognita, Francoforti ad Moenum 1589 nicht nachweisbar. Unklar bleibt, warum Donellus die ausführliche Darstellung nicht in den drei Jahre zuvor ebenfalls in Frankfurt erschienenen Band der „Commentarii de iure civili“ übernommen hat. 71

Hugo Donellus, De aedilicio edicto, Opera omnia X, cap. 5 n. 4. (S. 1316).

72

Ebd. cap. 5 n. 4. (S. 1316).

73

S. o. bei Anm. 3.

74

Johannes Althusius, Iurisprudentiae Romanae methodice digestae lib[r]i duo, 3. Aufl., Herborn 1599, cap. 32 (De emptione venditione), S. 96 ff. und cap. 34 (De edicto aedilitio), S. 207 ff.

256

Christian Hattenhauer

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Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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In der Tafel nennt Althusius als die vom Verkäufer geschuldete Leistung lediglich die Lieferung der rem venditam cum omni caussa. Die ädilizische Haftung stellt er nicht auf dieselbe Stufe, sondern bringt sie vorher beim entgeltlichen Vertrag (contractus mercenarius) – „auf den sich das ädilizische Edikt erstreckt“ – „ad quem pertinet adilitium edictum“. In Anlehnung an Cujaz wendet Althusius das an sich nur für auf endgültige Sachüberlassung gerichtete Verträge, also vor allem für den Kaufvertrag geltende Edikt auch auf den beim entgeltlichen Vertrag aufgeführten Miet-, Werk- bzw. Dienstvertrag (locatio conductio) an. In seiner „Dicaeologica“ kommt Althusius für die Sachmängelhaftung dann zu einer Lösung, die in wesentlichen Grundzügen mit derjenigen des Donellus übereinstimmt. Auch er begründet die Sachmängelhaftung einheitlich aus dem Kaufvertrag. Die Aufteilung zwischen Kaufvertrag und Edikt ist aufgegeben. Die Pflicht des Verkäufers beschränke sich nicht auf die Übergabe, sondern erstrecke sich auch auf die Lieferung einer vollständigen, unversehrten, wohlbeschaffenen und fehlerfreien Sache (res integra, incorrupta, sana, non vitiosa). Althusius bezeichnet diese Pflicht „obligatio primaria“. Der „obligatio secundaria“ wendet er sich im folgenden Kapitel zu: Die Pflicht entstehe, wenn die Kaufsache nicht die der Vereinbarung entsprechende Qualität aufweise. Der Verkäufer hafte dem Käufer nach dessen Wahl auf Wandelung (redhibitoria) oder Minderung (aestimatoria) – „ad rei traditae sanitatem et bonitatem emptori praestandum, quando scil. in re tradita, vel eius accessoriis vitium apparet“ – „um dem Käufer für die gute Beschaffenheit und Güte der verkauften Sache einzustehen, wenn sich bei der übergebenen Sache oder bei ihrem Zubehör ein Fehler zeigt“. Wie vor ihm Donellus nimmt Althusius für die Gewährleistungsbehelfe eine kurze Verjährung an. Das überkommene Konkurrenzproblem stellt sich nicht mehr. Die obligatio secundaria ist die modifizierte kaufrechtliche Erfüllungspflicht des Verkäufers. __________ 75

Althusius, Iurisprudentiae Romana (Anm. 74), cap. 34 (De edicto aedilitio),

S. 207. 76

Johannes Althusius, Dicaeologicae libri tres totumet universum ius, quo utimur, methodice complectens, Herborn 1617, lib. 1, cap. 74, n. 8. 77

Ebd., lib. 1, cap. 75, n. 1.

78

Ebd., lib. 1, cap. 75.

79

„aestimatoria“ steht synonym für „quanti minoris“, ebd., lib. 1, cap. 74 n. 11.

80

Ebd., lib. 1, cap. 75 n. 3.

81

Ebd., lib. 1, cap. 75 n. 16, Wandelung: 6 Monate, n. 20, Minderung: 1 Jahr.

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Althusius nennt die Behelfe denn auch bereits bei der Darstellung des Kaufvertrags, verweist dort aber auf das der Sekundärpflicht gewidmete folgende Kapitel. Auch insoweit besteht die Parallele zu Donellus. Sehr wahrscheinlich waren Althusius die Ergebnisse des Donellus nützlich, wenn auch an den einschlägigen Stellen Verweise auf Donellus fehlen. Durch die ramistische Methode kommt Althusius aber über das bei Donellus Erreichte deutlich hinaus. Auf eine systematische Darstellung mit der Abfolge logischer Gedankenschritte kam es Donellus weniger an als auf die dogmatischen Erkenntnisse. Demgegenüber legt Althusius seiner Darstellung die stringente ramistisch-methodische Durchführung zugrunde, um dem Leser die Folgerichtigkeit seiner Gedankenführung zu verdeutlichen. Streng ramistisch schreitet Althusius vom Allgemeinen zum Besonderen, geht von Oberbegriffen aus, die er definiert und durch „partitio“ und „divisio“ in „membra“ und „partes“ unterscheidet. Der Vertrag („conventio“) kann mittelbar („immediata“) oder unmittelbar („mediata“) sein. Der unmittelbare Vertrag wird in den eigentlichen („vera“) und den Quasivertrag („quasi contractus“) unterschieden. Der eigentliche Vertrag ist entweder benannt („nominata“), entspricht also einem römischrechtlichen Vertragstyp, oder unbenannt („innominata“). Der benannte Vertrag ist Realvertrag, der zur Wirksamkeit die Übergabe der Sache erfordert, oder durch bloße Worte („verbis“) geschlossener Konsensualvertrag. Der Konsensualvertrag teilt sich in den einseitigen („contractus monopleuros“) und zweiseitigen („contractus dipleuros“) Vertrag. Der zweiseitige Vertrag ist gegenseitig („commutatorius“) oder gemeinschaftlich („țȠȚȞȠpracticus“). Der gegenseitige Vertrag teilt sich in Kaufvertrag („emptio venditio“) und Werk-, Miet- bzw. Dienstvertrag („locatio conductio“). Der Kaufvertrag schließlich unterscheidet die Primärpflicht („obligatio primaria“) und die Sekundärpflicht („obligatio secundaria“). In dieser logischen Abfolge sind Wandelung und Minderung bei Sachmängeln als obligatio secundaria zwanglos in das kaufrechtliche Vertragsgefüge eingebunden. Althusius gelingt es didaktisch und methodisch in genialer Weise, seine Lösung als die einzig folgerichtige zu präsentieren. Die Einteilung in Primär- und Sekundärpflichten entspricht noch heutiger Terminologie.

__________ 82

Ebd., lib. 1, cap. 74 n. 11.

83 Auch bei der Begründung und Fortentwicklung des Persönlichkeitsrechts bestehen Parallelen zu Donellus, Herrmann, Persönlichkeit (Anm. 53), S. 29 ff.

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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 Tafel „Conventio“ aus der Dicaeologica (1617)

Jedenfalls auch dem Ramismus geschuldet ist die modern anmutende materiellrechtliche Ausrichtung des Vertragsrechts. Bereits im „Ius Romanum“ unterschied Althusius in ramistischer Dichotomie materielles und Verfahrensrecht. Die „Dicaeologica“ folgte dem gleichen Muster: Die „Dicaeodotica“

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behandelt den Erwerb und Verlust von Rechten, die „Dicaeocritica“ die Beurteilung von Rechten im Prozess. Diese strenge Teilung zwischen materiellem Recht und Prozess beeinflusst die Darstellung des Kaufrechts: Althusius spricht konsequent weder von der actio empti noch von ädilizischen „Klagen“ in Form der actio redhibitoria und der actio quanti minoris, sondern von „Verbindlichkeiten“: von der obligatio redihibitoria und obligatio aestimatoria. Er deutet die ädilizischen actiones materiellrechtlich als obligationes und ordnet sie dadurch unproblematisch in das Vertragsgefüge ein. Das Wort „actio“ vermeidet er völlig und spricht etwa bei der Verjährung des Wandelungsanspruchs lediglich vom „tempus redhibitionis“. Nicht das Recht (= der Anspruch, s. heute § 194 Abs. 1 BGB), sondern das Institut verjährt also. Damit erfasst Althusius nur die Seite des Verpflichteten und nicht auch die des „Anspruchs“berechtigten. Die heutige Unterscheidung der römischen actio in das prozessuale Klagerecht und in den materiellrechtlichen Anspruch sollte erst fast zweieinhalb Jahrhunderte später Bernhard Windscheid begründen. Zu dieser strikten Trennung ist Donellus nicht gelangt. Wie Althusius oder auch Vultejus unterscheidet er zwar das materielle Recht vom Prozessrecht und sieht das gesamte Privatrecht als System individueller Rechte. Doch verwendet er den Klagebegriff noch unbefangen auch in der Darstellung materiellrechtlicher Zusammenhänge. Gerade durch seine methodische Konsequenz war Althusius seiner Zeit damit weit voraus.

F. Ergebnis Am Beispiel des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts bei Sachmängeln zeigt sich die befruchtende Wirkung der Methode auf den Inhalt. An sich nur zur didaktischen Darstellung des Bekannten gedacht, bewirkte die ramistische Dialektik in der „Dicaeologica“ des Althusius eine auch dogmatisch schlüssige und wegweisende Konzeption des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts, die erstaunlich modern anmutet. Althusius’ System auf lebensfremde Begriffsjurisprudenz zu reduzieren, greift zu kurz. Gerade weil sich Althusius der begriffsspalterischen Methode des Ramus’ verschrieben hatte, entwarf er – __________ 84 Bernhard Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856, Reprint 1969. 85

S. zuletzt Heise, Calvinistischer Einfluss (Anm. 23), S. 275 ff. m.w.N.

86

Wolf, Rechtsdenker (Anm. 36), S. 210.

87 In diesem Sinne bereits Klempt, Grundlagen (Anm. 52), S. 31 f., der allerdings die Kritik Wolfs (Anm. 36) überspitzt wiedergibt.

Althusius, Ramus und die kaufrechtliche Sachmängelhaftung

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wohl auch inspiriert durch die Ergebnisse des Donellus –, ein rein materiellrechtlich orientiertes und einheitlich im Pflichtenprogramm des Kaufvertrages wurzelndes Modell der kaufrechtlichen Sachmängelhaftung. Während in der Zeit nach Althusius das Vernunftrecht insoweit abstrakt den Äquivalenzgedanken bemühte, fand seine systematische und doch quellenorientierte Lösung Aufnahme im „Usus modernus pandectarum“ und prägt das Rechtsverständnis noch heute.

__________ 88

Näher Klempt, Grundlagen (Anm. 52), S. 84 ff.

Zensur und Reformierte Jurisprudenz in der Frühen Neuzeit Von Lucia Bianchin, Trient

An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert beschäftigen sich mehrere wichtige Traktate öffentlichen Rechts mit der Zensur und ihrer zentralen Stellung in der Staatsverwaltung: „Les six livres de la République“ von Jean Bodin, „Syntagma juris universi“ und „De Republica libri sex et viginti“ von Pierre Grégoire, „Politica sive civilis doctrina libri sex“ von Justus Lipsius sowie „Politica methodice digesta“ von Johannes Althusius, um nur einige der bekanntesten Beispiele zu nennen. All diese Werke konzentrieren sich auf die Zensur als wichtiges Rechtsinstitut im Leben jeder politischen Gemeinschaft, auch wenn ihre verschiedenen Ausdrucksformen dem Wandel der Zeit und den jeweiligen Gesellschaftsformen unterworfen sind.1 Unter „Zensur“ verstehen die mittelalterliche Rechtslehre und die frühhumanistischen Lexika vor allem die „medizinische Strafe“ (poena medicinalis – Beugestrafe) des kanonischen Rechts.2 In der Frühen Neuzeit gewinnt __________ 1 Ich danke Prof. Wyduckel, Prof. Strohm, Prof. de Wall und Prof. Malandrino ganz herzlich für die Möglichkeit zur Teilnahme am Emder Symposion. Der vorliegende Beitrag stellt eine Weiterentwicklung meiner Dissertation über die Rechtstheorien der Zensur in der Frühen Neuzeit dar, die von Prof. Diego Quaglioni und Prof. Silvana Seidel Menchi an der Juristischen Fakultät in Trient betreut wurde, und unter dem Titel Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Monografie, 41), Bologna 2005, veröffentlicht worden ist. 2 Nach einer Bestimmung von Innozenz III., die in den Liber Extra (c. 20, X, V, 40) aufgenommen wurde und die in der Sache immer noch gilt, sieht das kanonische Recht drei Zensurformen vor: das Interdikt, die Suspension und die Exkommunikation. Diese werden als „heilkräftige Strafen“ (poenae medicinales) bezeichnet, weil sie enden, wenn sich der Schuldige bessert. Unter den im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit am meisten verbreiteten Lexika vgl. beispielsweise Piero da Monte, Repertorium utriusque iuris, Nürnberg 1476, Giovanni Bertacchini, Repertorium iuris, Nürnberg 1483, und Barnabé Brisson, Lexicon iuridicum, Genf 1599 unter dem Stichwort „censura“.

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hingegen die Zensur der römisch-katholischen Kirche der Reformationszeit große Bedeutung, insbesondere die katholische Bücherzensur;3 ferner zeigen sich auch andere Zensurformen der verschiedenen Konfessionen sowie unterschiedliche Praktiken, die im Wesentlichen der sogenannten „Sozialdisziplinierung“ zuzuordnen sind.4 Der Begriff „Zensur“ (vom Lateinischen „censere“, prüfen, eintragen, schätzen und beurteilen) hat mehrere Bedeutungen. Unabhängig von den verschiedenen Zensurarten (religiöse, politische oder soziale Zensur) und ihrem Zielobjekt (Glaube, Bücher, Sünden, Sitten oder Meinungen) lässt sich ein gemeinsamer Nenner erkennen: Es geht stets um ein Leitbild von Ordnung und Strenge, das als wichtige Verankerung für die Aufrechterhaltung eines Systems angesehen wird. Somit findet man __________ 3

Die italienische Geschichtswissenschaft hat sich bis heute fast ausschließlich mit dieser Zensur beschäftigt, nach der neuesten Öffnung der Archive des Heiligen Uffiziums mit neuer Intensität. Siehe hierzu die Tagungsbände von Ugo Rozzo (Hg.), La censura libraria nell’Europa del secolo XVI. Convegno Internazionale di Studi Cividale del Friuli 9-10 Novembre 1995, Udine 1997; L’apertura degli archivi del Sant’Uffizio Romano. Giornata di studio, Roma, 22 gennaio 1998 (Atti dei convegni Lincei, 142), Rom 1998; L’inquisizione e gli storici: un cantiere aperto. Tavola rotonda nell’ambito della Conferenza annuale della ricerca, Roma, 24-25 giugno 1999 (Atti dei convegni Lincei, 162), Rom 2000; Cristina Stango (Hg.), Censura ecclesiastica e cultura politica in Italia nel Cinquecento e Seicento. VI giornata Luigi Firpo. Atti del Convegno 5 marzo 1999, Florenz 2000. In einem weiteren, europäischen Überblick siehe auch Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh 1995; und Gigliola Fragnito (Hg.), Church, Censorship and Culture in Early Modern Italy, Cambridge 2001. 4 Vgl. hierzu die Sammelbände von Heinz Schilling (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (mit einer Auswahlbibliographie), Berlin 1994; ders. (Hg., unter redaktioneller Mitarbeit von Lars Behrisch), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa – Institutions, Instruments und Agents of Social Control and Discipline in Early Modern Europe, Frankfurt a. M. 1999; Stephan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann (Hg.), Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002. Zum Forschungsstand über das Verhältnis zwischen Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung siehe ferner Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte, in: Theologische Literaturzeitung 121 (1996), S. 1008-1025 und S. 1112-1121; Winfried Schulze, Konfessionalisierung als Paradigma zur Erforschung des konfessionellen Zeitalters, in: Dietz Burkhard/Stephan Ehrenpreis (Hg.), Drei Konfessionen in einer Region. Beiträge zur Geschichte der Konfessionalisierung im Herzogtum Berg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Köln 1999, S. 15-30; und zuletzt die Synthese von Harm Klueting, „Zweite Reformation“ – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 309-341.

Zensur und Reformierte Jurisprudenz

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Zensur in jeder Rechtsordnung, sowohl im Altertum (bei den alten Juden, Griechen und Römern) als auch in der Moderne.5 Die Tatsache, dass die Zensur in den Rechtslehren der Frühen Neuzeit an Bedeutung gewinnt, gilt für die verschiedenen religiösen und konfessionellen Ausrichtungen gleichermaßen, vom Nikodemiten Bodin über den Katholiken Grégoire und den in seiner Konfession schwankenden Lipsius bis hin zum Calvinisten Althusius und später zum Lutheraner Werdenhagen. Und das Interesse des politischen Gedankengutes an der Zensur hält auch in der Folgezeit an, so zum Beispiel in den absolutistischen Theorien von Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf, wo die Erziehungs- und Unterrichtszensur besondere Beachtung erhalten,6 ferner bei Jean-Jacques Rousseau, der darüber theoretisiert, dass jede Zensurausübung notwendigerweise von der öffentlichen Meinung unterstützt werden muss,7 oder bei Alexis de Tocqueville, der sich vor __________ 5

Zur Zensur im klassischen Altertum vgl. Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, II. Die einzelnen Magistraturen, 1, Leipzig 1887, Reprint Graz 1969, S. 331469; vgl. noch hierzu Oskar Leuze, Zur Geschichte der römischen Zensur, Halle 1912; Aristide Calderini, La censura in Roma antica, Mailand 1944; hierzu siehe auch Moses I. Finley, Censorship in classical antiquity, in: Times Literary Supplement, 27 July 1977, erweitert unter dem Titel: Censura nell’antichità classica, in: Belfagor, 32 (1977), S. 605-622, jetzt auch in Anlage La democrazia degli antichi e dei moderni, Rom/Bari 1997, S. 107-135. Aber auch die Verfassungen von Athen und Sparta sahen öffentliche Ämter vor, die den Zensoren ähnelten; siehe hierzu bes. Carolus Sigonius, De Republica Atheniensium, in: ders., Opera omnia, V, Mailand 1736, S. 147 ff. 6 Vgl. Thomas Hobbes, De cive, Paris 1642, XII; ders., Leviathan, London 1651, 23; siehe hierzu Norberto Bobbio, Thomas Hobbes, Turin 1989, Reprint 2004, hier S. 56 ff.; vgl. auch Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Lund 1672, VIII, 4. 7 Für Rousseau ist der Zensor kein Herr der Volksmeinung, sondern nur ihr Dolmetscher; vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique, in: ders., Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, III, hg. von Robert Derathé, Paris 1964, S. 348-470, IV, 7 (De la censure), S. 348-470, hier S. 455 f.: „De même que la déclaration de la volonté générale se fait par la loi, la déclaration du jugement public se fait par la censure; l’opinion publique est l’espèce de loi dont le Censeur est le Ministre, et qu’il ne fait qu’appliquer aux cas particuliers, à l’exemple du Prince. Loin donc que le tribunal censorial soit l’arbitre de l’opinion du peuple, il n’en est que le déclarateur, et sitôt qu’il s’en écarte, ses décisions sont vaines et sans effet. Il est inutile de distinguer les moeurs d’une nation des objets de son estime; car tout cela tient au même principe et se confond nécessairement. Chez tous les peuples du monde, ce n’est point la nature mais l’opinion qui décide du choix de leurs plaisirs. Redressez les opinions des hommes et leurs moeurs s’épureront d’ellesmêmes. On aime toujours ce qui est beau ou ce qu’on trouve tel, mais c’est sur ce jugement qu’on se trompe; c’est donc ce jugement qu’il s’agit de régler. Qui juge des moeurs juge de l’honneur, et qui juge de l’honneur prend sa loi de l’opinion“. Siehe hierzu Michel Senellart, Censure et estime publique chez Jean-Jacques Rousseau, in: Cahiers

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allem mit dem Verhältnis zwischen Zensur und Pressefreiheit auseinandersetzt.8 Die umfassendste Systematisierung des Zensurproblems in der Frühen Neuzeit stellt sicherlich die „Politica“ des Althusius dar. Darin fließen sowohl die Erkenntnisse der juristischen Tradition als auch die innovativen Elemente der zeitgenössischen Staatslehren mit ein. Es kommen aber noch wichtige Einflüsse der reformierten Jurisprudenz hinzu, die sich auf die Zensurlehre des Althusius auswirken: Die Forderung nach einer Einschränkung der Herrschergewalt, das Vorbild der presbyterialen Kirchenzucht,9 und ganz allgemein die besondere Ethik des frühen Calvinismus mit ihren religiösen und humanistischen Begründungen und ihren Pflichten sowohl gegenüber Gott als auch gegenüber der Welt.10 __________ philosophiques de Strasbourg, 13 (2002), S. 67-105, sowie ders., Censure, in: Michel Blay (Hg.), Le grand Dictionnaire de la philosophie, Paris 2003, S. 127. Zu Rousseau und Althusius siehe insbesondere Dieter Wyduckel, Althusius – ein deutscher Rousseau? Überlegungen zur politischen Theorie in vergleichender Perspektive, in: Karl Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Rechtstheorie, Beih. 7), Berlin 1988, S. 465-493. 8 Vgl. Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amerique I, II, 3 (De la liberté de la presse aux États-Unis), und 4 (Que les opinions qui s’établissent sous l’empire de la liberté de la presse aux États-Unis sont souvent plus tenaces que celles qui se forment ailleurs sous l’empire de la censure). 9

Siehe hierzu Heinz Schilling, Reformierte Kirchenzucht als Sozialdisziplinierung? Die Tätigkeit des Emder Presbyteriums in den Jahren 1557-1562 (Mit vergleichenden Betrachtungen über die Kirchenräte in Groningen und Leiden sowie mit einem Ausblick ins 17. Jahrhundert), in: Wilfried Ehbrecht/Heinz Schilling (Hg.), Niederlande und Nordwestdeutschland (Franz Petri zum 80. Geburtstag), Köln/Wien 1983, S. 261-327; ders., Sündenzucht und frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung. Die calvinistische, presbyteriale Kirchenzucht in Emden vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Georg Schmidt (Hg.), Stände und Gesellschaft im alten Reich, Stuttgart 1989, S. 265-302; siehe auch Paul Münch, Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur sozialen Problematik des calvinistischen Seniorats um 1600, in: Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddeäus Lang (Hg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa 1984, S. 216-248; Herman Roodenburg, Reformierte Kirchenzucht und Ehrenhandel. Das Amsterdamer Nachbarschaftsleben im 17. Jahrhundert, in: Schilling (Hg.), Kirchenzucht (Anm. 4), S. 129-151; Robert von Friedeburg, Anglikanische Kirchenzucht und nachbarschaftliche Sittenreform. Reformierte Sittenzucht zwischen Staat, Kirche und Gemeinde in England: 1559-1642, ebd., S. 153-182. 10

Darüber sind die ausführlichen Studien von Christoph Strohm zu erwähnen, hier besonders die jüngsten Beiträge Christoph Strohm, Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge

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In der „Politica“ des Althusius steht die Zensur im Kontext der bürgerlichen Verwaltung (administratio civilis seu secularis) zwischen der Befugnis zum Erlass von Gesetzen und der Befugnis zur Aufrechterhaltung der Eintracht.11 In diesem Zusammenhang könnte man sagen, dass die Zensur eine weitere und ergänzende Art der Verwaltung der Gerechtigkeit darstellt, jenseits der eigentlichen Gesetzesausführung (executio legis) und der Verwaltung der Gerechtigkeit nach dem Gesetz.12 Was für eine beschränkte Unschuld ist es, – klagte Althusius mit Senecas Worten – laut Gesetz gut zu sein! Bedeutend vielfältiger als die regula juris und die offiziell festgesetzten und sanktionierten Befehle sind sicherlich die __________ des Herborner Symposions zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603-2003 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 131), Berlin 2004, S. 71-102, hier S. 97; sowie ders., Ethics in Early Calvinism, in: Jill Kraye/Risto Saarinen (Hg.), Moral Philosophy on Threshold of Modernity, Dordrecht 2005, S. 255-281, und ders., Recht und Jurisprudenz im reformierten Protestantismus 1550-1650, in: ZRG.KA 123 (2006), S. 453-493; vgl. auch Artemio Enzo Baldini, Il pensiero politico della Riforma, in: Alberto Andreatta/Artemio Enzo Baldini (Hg.), Il pensiero politico dell’età moderna. Da Machiavelli a Kant, Turin 1999, S. 55-97; Dieter Wyduckel, Recht und Jurisprudenz im Bereich des Reformierten Protestantismus, in: Christoph Strohm (Hg., unter Mitarbeit von Henning P. Jürgens), Martin Bucer und das Recht. Beiträge zum internationalen Symposium in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden vom 1. bis 3 März 2001 (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 361), Genf 2002, S. 1-28. 11 Vgl. Johannes Althusius, Politica methodice digesta, Herborn 1614, Reprint Aalen 1961, XXX (De censura), S. 629-640; nach Kapitel XXIX (De sanctione legum et administratione justitiae), S. 605-628, und vor Kapitel XXXI (De studio concordiae conservandae), S. 640-662. Mit einigen Aspekten der Zensurtheorie des Althusius befassten sich früher Pierre Mesnard, L’essor de la philosophie politique au XVIe siècle, Paris 1951, und Michael Behnen, Herrscherbild und Herrschaftstechnik in der „Politica“ des Johannes Althusius, in: Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 417-472. Eine gründlichere, im Verhältnis zu Jean Bodins’ Staats- und Rechtslehre vertiefte Auslegung gab neuerlich Diego Quaglioni, „Conscientiam munire“ – Dottrine della censura fra Cinque e Seicento, in: Stango (Hg.), Censura ecclesiastica (Anm. 3), S. 3754. 12 Zum Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Zensur siehe jetzt Lucia Bianchin, Justitia, in: Francesco Ingravalle/Corrado Malandrino (Hg.), Il lessico della Politica di Johannes Althusius. L’arte della simbiosi santa, giusta, vantaggiosa e felice. Prefazione di Dieter Wyduckel. Introduzione di Corrado Malandrino (Fondazione Luigi Firpo, Studi e testi, 26), Florenz 2005, S. 203-214, sowie dies., Censura, ebd., S. 91-102. Siehe hierzu auch Corrado Malandrino, Remota justitia, quid sunt regna, nisi magna latrocinia? (Politica XXXVIII, 9). Il „dispotismo“ nella definizione althusiana di tirannide, in: Artemio Enzo Baldini (Hg.), Tirannide e dispotismo nel dibattito politico tra Cinque e Seicento. Atti della IX Giornata „Luigi Firpo“ (Torino, 2728 settembre 2002), Florenz, im Druck, und Diego Quaglioni, La giustizia nel Medioevo e nella prima età moderna, Bologna 2004.

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Verhaltenspflichten. Wie viel verlangen uns doch Frömmigkeit, Ergebenheit, Menschlichkeit, Edelmut und Treue ab, wovon nichts in den amtlichen Registern geschrieben steht! Daher die Notwendigkeit der Zensur, die es zu loben gilt. Sie ist die Lenkerin der Staaten, die Quelle aller Tugenden, die Beschützerin der Rechtschaffenen und die Rächerin der Unredlichen. Denn ihr scheint es gegeben zu sein, den besonders fest verwurzelten Unsitten und Schlechtigkeiten die Wurzeln zu durchtrennen und die Laster mit Stumpf und Stiel auszurotten und im Keim zu ersticken.13 Die Aufgabe der Zensur definiert Althusius am Beginn des Kapitels XXX wörtlich wie folgt: „Die Zensur ist die Untersuchung (inquisitio) und die Rüge (animadversio) derjenigen Sitten und Ausschweifungen, die durch die Gesetze zwar nicht gehindert und bestraft werden, jedoch die Herzen der Untertanen verderben oder ihre Güter unnütz verbrauchen. Die Zensur bessert das, was zwar noch nicht strafwürdig ist, jedoch, wenn man es vernachlässigt oder gering schätzt, zur Ursache vieler und großer Übel wird [...]. Auch wird das Gemeinwesen, wenn man dem keine Beachtung schenkt, nach und nach von Grund auf zerrüttet“.14 Althusius lässt in diesen Sätzen Justus Lipsius anklingen, der die Definition des Zensurbegriffs aus der klassischen Tradition, insbesondere aber aus jener

__________ 13

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), VII, 50, S. 122-123: Ebd., VII, 50, S. 122-123: „Quis est, inquit Seneca, qui se profitetur legib. omnibus innocentem? ut hoc ita sit, quam angusta est innocentia ad legem bonum esse. Quanto latius patet officiorum, quam juris regula, quam multa pietas, humilitas, liberalitas, justitia, fides, exigunt, quae extra tabulas publicas sunt. Hinc Bodinus laudes censurae describit, quod sit civitatum gubernatrix, virtutum omnium effectrix, bonorum civium procreatrix, improborum expultrix. Haec non modo flagitiorum et improbitatum robustiorum radices circumcidere, verum etiam vitiorum fibras evellere, stirpes elidere, semina extinguere sola posse videtur“. Vgl. Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583, Reprint Aalen 1961, VI, I, S. 846, und den Zusatz in der lateinischen Edition Jean Bodin, De Republica libri sex, Lyon 1586, S. 985; siehe hierzu auch ders., Sechs Bücher über den Staat, übers. und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer, eingel. und hg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Bd. 2, München 1986, S. 316 u. S. 585, Anm. 545. 14 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), 1-2, S. 630: „Censura est inquisitio et animadversio in mores et luxus eos, qui legibus non arcentur et puniuntur, quibus tamen subditorum animi corrumpuntur, vel bona illorum inutiliter consumuntur. Censura igitur corrigit illa, quae poena quidem nondum digna sunt; neglecta tamen, aut contemptui habita, multorum magnorumque malorum causam praebent, ut ex Dione Lipsius dicit, imo paulatim omissa, funditus Rempub. trahunt. Cic. in Pison. censuram magistram pudoris et modestiae vocat. Greg. lib. 4. c. 12. Danae. lib. 6. c. 4. et Bodinus eam valde commendant“.

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von Cassius Dio, entnahm.15 In der weiteren Darlegung verweist Althusius natürlich auch auf das Alte und Neue Testament und auf die Tradition des Ius Commune.16 Dabei weist er vor allem auf die Kontinuität mit den Staatslehren des Grégoire, Daneau und Bodin hin, die sich als Verfechter der Zensur aussprachen. Während allerdings Lipsius die Zensur als „animadversio in mores aut luxus eorum, qui legibus non arcentur et puniuntur“ definierte, bezeichnet sie Althusius als „inquisitio et animadversio“ und führt somit den Begriff „inquisitio“, Untersuchung, ein. Die Betonung des inquisitorischen Aspekts ist tatsächlich ein Merkmal der Zensurlehre des Althusius, der insofern von der Tradition abweicht, als er der Untersuchung und der Kontrolle einen eigenen Platz zuweist. Der Schwerpunkt der Diskussion verlagert sich vom gängigsten und am meisten erforschten Aspekt der Züchtigung (der allerdings auch ausgearbeitet wird), hin zu dem des Präventivschutzes, mit anderen Worten der Identifizierung und Beseitigung jedes potenziell subversiven Verhaltens. Dieser Ansatz Althusius’ schlägt sich in einer Zunahme der Kompetenzen und Untersuchungsinstrumente des Zensors nieder, der von Rechts wegen in seiner inquisitorischen Arbeit von Mitarbeitern wie Denunzianten, Spitzeln und Verrätern unterstützt wird. Althusius rechtfertigt ihre Nützlichkeit und Anwendung durch mehrere Verweise auf Denunzianten in der Heiligen Schrift und bietet so eine religiöse Legitimation für eine Handlung von zweifelhafter __________ 15 Vgl. Justus Lipsius, Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, IV, 11, in: ders., Opera omnia, Wesel 1675, IV, S. 102: „Definitione igitur prius aperienda est. Et appello Censuram, animadversionem in mores aut luxus eos, qui legibus non arcentur. Proprium enim hoc ejus munus: corrigere ea, quae poena digna nondum sunt, neglecta tamen aut insuper habita, multorum magnorumque malorum caussam praebeant. Imo paullatim, omissa, funditus rempublicam trahant. Sine ea fluit Resp. aut perit“; vgl. auch Cassius Dio, Historiae, LII, 21, 3. Siehe hierzu Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 35-79, und Wolfgang Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992, hier S. 273 f. 16 Zu den Bibelzitaten bei Althusius vgl. Heinrich Janssen, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius, Frankfurt a. M. 1992, und Karl Heinrich Rengstorf, Die Exempla sacra in der Politica des Johannes Althusius, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische Theorie (Anm. 7), S. 201-212. Zur Verbindung zwischen Religion und Recht bei den calvinistisch-reformierten Juristen der frühen Neuzeit vgl. Irene Dingel/Volker Leppin/Christoph Strohm (Hg.), Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, Gütersloh 2002, bes. Christoph Strohm, Religion und Recht bei Hugo Donellus. Beobachtungen zur Eigenart religiöser Bezüge in der frühen calvinistischen Jurisprudenz, S. 176-223.

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Moral.17 Auch der Interventionsbereich des Zensors wird ausgedehnt, zum einen auf die Erhaltung der öffentlichen Ordnung (Gegenstand des Kapitels XXXI über das „studium concordiae conservandae“), und zum anderen auf die Überwachung der kirchlichen Pflichten der Untertanen (die schon Gegenstand von Kapitel XXVIII über die kirchliche Verwaltung war). So gibt es im individuellen und sozialen Verhalten zahlreiche Devianzfälle, wo sich die Zuständigkeiten der drei Abteilungen der Staatsverwaltung, nämlich Kirchenzucht, Zensur und Aufrechterhaltung der Ordnung im Gemeinwesen, überlappen.18 __________ 17

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XXX, 30 (Delatores, exploratores, quatenus laudandi) und 31 (Proditores quatenus non peccant), S. 639: „Censoribus adfines sunt delatores et exploratores, qui clam illicita dicta, factave aliorum, magistratui patefaciunt. Exempla delationi hujus ex sacra scriptura occurrunt, Gen. c. 37. 2. Joseph Jacobo primum detulit delicta fratrum suorum. [...] Ratio est, quod qui dissimulat aliena maleficia, peccatis alienis communicare dicitur [...] et ad peccandum alios invitare. [...] Proditio quoque licita esse dicitur, quando proditor certo scit, se bonam causam promovere: deinde prodit amore justitiae et honestatis, non vero mercedis ac praemii spe, vel timore alicujus infortunii, vel odio, vel cupiditate inimicitiae privatae satisfaciendae; et denique, quando alia remedia illi desunt, atque mendacium nullum miscetur“; s. auch ebd., XXXI, 51-54, S. 654 f.: „Secundum remedium seditionum est in emendatione opportuna, dum vel incipit seditio, vel dum vires accepit, adhibenda. Bodin. lib. 4. cap. 7 de Rep. 1. Incipiens seditio, ejusque initia statim sunt comprimenda. [...] 2. Ad quem usum inserviunt delatores et exploratores, qui incogniti, se coetibus hominum clam immiscent, et collecta dicta, facta, aut intellecta, magistratui referunt. [...] Inquisitio per quaestionem et tormenta in uno conjuratorum facta, reliquos complices manifestat [...]“. 18 Zum politischen Ordnungsprinzip bei Althusius vgl. Thomas O. Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin/New York 1991, sowie ders., Early Modern Concepts for a Late Modern World. Althusius on Community and Federalism, Waterloo Ontario 1999; der Tagungsband Peter Blickle/Thomas O. Hüglin/Dieter Wyduckel (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft. Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtausends (Rechtstheorie, Beih. 20), Berlin 2002; die Beiträge von Susanne de Vries/Peter Nitschke, Consociatio und Communicatio. Die politische Gemeinschaft als religiöse Ordnungs- und Rechtseinheit, in: Carney u. a. (Hg.), Jurisprudenz (Anm. 10), S. 103-119, Corrado Malandrino, Politische Theorie und Föderaltheologie, ebd., S. 123-141, und Cornel A Zwierlein, Reformierte Theorien der Vergesellschaftung. Römisches Recht, föderaltheologische hlfktk¬^ und die consociatio des Althusius, ebd., S. 191-223. Hierzu siehe auch Giuseppe Duso/Merio Scattola/Michael Stolleis, Su una sconosciuta „Disputatio“ di Althusius. La dottrina del patto e la costituzione del regno, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 25 (1996), S. 13-126; schließlich Corrado Malandrino, Foedus (Confoederatio), in: Ingravalle/Malandrino (Hg.), Johannes Althusius (Anm. 12), S. 187-201, sowie ders., Symbiosis (Symbiotiké, Pactum), ebd., S. 311-323.

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Im politischen System des Althusius zeigt sich aber kein Kompetenzkonflikt. Dies wird verhindert, weil die Aufsicht über die Gemeinschaft schlussendlich immer dem höchsten Magistrat und seinen Delegierten (wie es auch die Zensoren sind) zusteht.19 Religiöse Instanzen, sittliche Prinzipien und Ordnungsstreben werden gleichzeitig wahrgenommen. Die religiöse und die politische Gemeinschaft haben eine gemeinsame Lebensregel, nämlich den Dekalog, der in seinen beiden Tafeln den Zusammenhang von Politik und Religion festschreibt und zugleich eine Art politischen Grundgesetzes darstellt. Dies wird in der „Politica“ des Althusius überall vorausgesetzt, wo die „Politia Judaica“ zum Vorbild des christlichen Lebens gemacht wird.20 Die Zensur übernimmt jedoch in diesem Rahmen eine Funktion, die deutlich über den Schutz der Sittlichkeit hinausgeht und als ein präventives System zum Schutz der inneren Sicherheit der größten politischen Gemeinschaft bezeichnet wird.21 Im Bezug auf diese Lehre behauptete Michael Behnen vor etwa zwanzig __________ 19 Vgl. u. a. Althusius, Politica (Anm. 11), XXVIII, 2-5, S. 567 f.: „Universalis administratio est, qua publica regni, seu Reipubl. et universalis consociatio negotia et bona in toto regni territorio ad utilitatem et salutem totius Reipublicae a Magistratu tractantur, diriguntur et diligenter curantur [...]. Haec universalis administratio est duplex. [...] Ecclesiastica administratio est, qua negotia ecclesiastica (quibus regnum Dei introducitur, promovetur, curatur et conservatur in Repub. vel regno politico), juxta praescriptum verbi Dei administrantur. [...] Haec ecclesiastica summi magistratus administratio consistit in rerum ecclesiasticarum suprema inspectione, defensione, cura atque directione. Officiorum vero ecclesiasticorum functio et administratio ad personas ecclesiasticas pertinet“. Zur Ernennung der Zensoren vgl. ebd., XXX, 3, S. 630: „Censurae praefecti a summo magistratu censores, morum magistri, disciplinae observatores et inspectores, inquisitores, vocantur wgqgq^f h^f kljlcri^hbs. Sigon. de Repub. Athen. lib. 4. c. 3.“. Dazu siehe zuletzt Francesco Ingravalle, Administratio (Gubernatio), in ders./Malandrino (Hg.), Johannes Althusius (Anm. 12), S. 75-89. 20

Hierzu Lea Campos Boralevi, Politia Judaica, in: Ingravalle/Malandrino (Hg.), Johannes Althusius (Anm. 12), S. 253-263. Im Allgemeinen siehe auch hierzu Lea Campos Boralevi/Diego Quaglioni (Hg.), Politeia biblica, Florenz 2003 (Il pensiero politico, 35, 2002), bes. Lea Campos Boralevi, La Respublica Hebraeorum nella tradizione olandese, S. 431-463, und noch dies., Per una storia della Respublica Hebraeorum come modello politico, Florenz 1997. Zum Dekalog insbesondere vgl. auch Janssen, Bibel (Anm. 16), hier S. 144-158, und Walter Sparn, Politik als zweite Reformation. Die historische Situation der „Politica” des Johannes Althusius, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische Theorie (Anm. 7), S. 425-441, hier S. 438. Auf eine eindrucksvolle und knappe Definition des Dekalogs laut Paulus, weist auch Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979, hier S. 58, hin: „natürliches, von Gott in die Herzen eingeschriebenes Sittengesetz“. 21 Beispielhaft vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XXXI, 38-39, S. 651 f.: „Ne igitur talia conventicula habeantur, curandum est magistratui, et voluntas et occasio

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Jahren, dass Althusius durch die Zensur die Autorität des Staates im religiösen Bereich begründet hat, indem er gleichzeitig die Herrschaft der einzigen und wahren Religion unterstreicht.22 Außerdem, wie Diego Quaglioni später bemerkte, wird die Zensur zu einer Art von öffentlicher Verwaltung, die es dem Staat erlaubt, seinen eigenen Interventionsbereich in Bezug auf Disziplin und Verbesserung der Sitten auszuweiten. Dadurch wird diese Sphäre der kirchlichen Zuständigkeit entzogen. Hat der Staat erst eine solche Kompetenz an sich genommen, wird er durch seine politische Zensur Herr über die Körper und über die Seelen und hat somit die Möglichkeit, sowohl auf moralische Sitten als auch auf das Gewissen der Untertanen einzuwirken.23 Schließlich ändert sich mit den Rechtslehren der Frühen Neuzeit und insbesondere mit Althusius der Zensurbegriff selbst; war sie ursprünglich, wie oben angeführt, als Heilmittel gegen die schlechten Sitten gedacht, wird sie jetzt zu einer weiteren Form der Gerechtigkeitsverwaltung. Sie kennzeichnet nämlich eine neue Art der Staatsverwaltung, die das gesamte öffentliche Leben und damit auch den religiösen Bereich mit einschließt. Der theoretische Aufbau bei Althusius hat in diesem Sinn deutliche Ähnlichkeiten mit dem Regierungsmodell von Emden und seinen komplexen Kompetenzverteilungen im Bereich der Kirchenzucht, die von den zwei Hauptinstitutionen der Stadt wahrgenommen wird, nämlich dem Kirchenrat und dem Vierzigerkollegium mit seinem Magistrat, dessen Vertreter und Wortführer Althusius über dreißig Jahre lang war. Unter den zahlreichen Studien zu diesen __________ habendorum horum subditis adimendae. Voluntas illis adimitur, quando inter illos discordiae, diffidentia, aliaeque suspiciones per exploratores disseminantur, ita ut nullus sine periculo alteri se patefacere, vel fidere audeat, et uniones atque confederationes quovis modo impediantur. Occasio habendorum conventiculorum tollitur variis modis: 1. Edictis et interdictis poenalibus. 2. Prohibitione matrimonii inter suspectos, ut a Romanis factum Latinis. 3. Conviviorum inter se habendorum prohibitione. [...] 12. Librorum malorum usus et lectio prohibeatur“. 22 23

Vgl. Behnen, Herrscherbild (Anm. 11), hier S. 457 f.

Vgl. Quaglioni, „Conscientiam munire“ (Anm. 11), hier S. 50 f. Dieses Ergebnis kündigt sich schon von Anfang des Werkes an: Althusius, Politica (Anm. 11), I, 14-15, S. 6: „Gubernatio superiorum respicit animum et corpus obsequentium inferiorum: animum, quo ille doctrina et scientia rerum in vita humana utilium et necessariarum informetur et imbuatur: corpus quo huic de victus ratione et caeteris, quibus indiget, prospiciatur. Prior igitur cura disciplinam, posterior corporis sustentationem et protectionem continet. Disciplina ergo versatur primo in institutione et informatione inferiorum ad veram Dei agnitionem, ejusque cultum; atque in officiis praescribendis, quae proximo praestari debent, […] deinde in malorum morum et erratorum correctione. illa salutari cognitione rerum sanctarum, justarum et utilium imbuuntur: hac, in officio continentur inferiores“.

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Themen möchte ich nur folgende erwähnen: Die Forschungen von Heinz Antholz24 und die von Heinz Schilling,25 die zusammenfassende Übersicht von Dieter Wyduckel in der Einleitung der neulich erschienenen Übersetzung der „Politica“ ins Deutsche26 sowie den Diskussionsbeitrag von Corrado Malandrino, der die Debatte rund um die oben erwähnte Literatur nach Italien gebracht hat.27 Das gesamte Kapitel über die Zensur gründet auf der Zweiteilung von Untersuchung (inquisitio) und zensorischer Rüge (notatio). Das Wirkungsfeld wird wie folgt beschrieben: „Das Untersuchungsverfahren der Zensur erstreckt sich auf jene Laster, die mangels eines Anklägers oder einer Anzeige zwar nicht vor Gericht kommen, dennoch aber die Augen frommer und guter Bürger beleidigen und wegen ihres Beispielcharakters in besonderer Weise eine ernste Missbilligung und Rüge verdienen, auch wenn man von einer Bestrafung absehen kann“.28 Es handelt sich um Handlungen, die der Kategorie der „schlechten Sitten“ und des „Luxus“ angehören: Darunter muss jede Form von __________ 24 Vgl. Heinz Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Leer 1955, sowie ders., Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische Theorie (Anm. 7), S. 67-88. 25 Zur Tätigkeit des Emder Kirchenrats um 1600 vgl. Heinz Schilling (Hg.), Die Kirchenratsprotokolle der reformierten Gemeinde Emden: 1557-1620, bearb. von ders./Klaus Dieter Schreiber, III, 1-2, Köln/Wien 1989-1992. Zur Kirchenzucht zu Emden vgl. Heinz Schilling, Civic Calvinism in Northwestern Germany and the Neetherlands: Sixteenth to Nineteenth Centuries, Kirksville (Mo.) 1991, bes. S. 46-61; sowie ders., Sündenzucht und frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung. Die calvinistische, presbyteriale Kirchenzucht in Emden vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Schmidt (Hg.), Stände und Gesellschaft (Anm. 9), S. 265-302. Siehe auch dazu Heinz Schilling/Helmut Sydow, Calvinistische Presbyterien in Städten der Frühneuzeit. Eine Kirchliche Alternativform zur bürgerlichen Repräsentation? Mit einer quantifizierenden Untersuchung zur holländischen Stadt Leiden, in: Wilfried Ehbrecht (Hg.), Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit, Köln/Wien 1980, S. 385444. Es ist zu erwähnen, dass eine der ersten und ausführlichsten Polizeiordnungen über die Sitten im Jahr 1530 eben zu Emden erlassen wurde. 26 Siehe Dieter Wyduckel, Einleitung in: Johannes Althusius, Politik, übers. von Heinrich Janssen, in Auswahl hg., überarbeitet und eingel. von Dieter Wyduckel, Berlin 2003, S. VII-XLVII. 27 Vgl. Corrado Malandrino, Il Syndikat di Johannes Althusius a Emden. La ricerca, in: Il pensiero politico 28 (1995), S. 359-383; sowie ders., Teologia federale, ebd. 33 (2000), S. 427-446, und ders., Discussioni su Althusius, lo Stato moderno e il federalismo, ebd. 37 (2004), S. 425-438. 28

Althusius, Politik (Anm. 26), XXX, 5, S. 308.

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Missbrauch und Ausschweifung beim Festmahl, beim Spielen, beim Singen und beim Tanzen verstanden werden und natürlich auch der Konsum von Alkohol, die Begierde und die Ablenkung, um nur einige zu nennen.29 Unter den zensierbaren Verhaltensweisen wird der Müßiggang besonders hervorgehoben.30 Dazu gehören überdies Umtriebigkeit und Neugierde, schändliche Reden und verrufene Bücher, ausschweifender Lebensstil sowie das allzu starke Streben nach Geld, das einerseits übertriebenen Reichtum und andererseits große Armut verursacht. Auch die Landstreicherei und das Betteln gehören zu den Devianzformen als extreme Konsequenz der Armut und des Müßigganges.31 Althusius übergibt den Zensoren die Aufgabe, solche „Wölfe“ streng zu überwachen, die „aus dem Mitleid der anderen einen Gewinn erzielen“. Die Zensoren sollten demzufolge diese „Wölfe“ aufspüren und sie zur Arbeit zwingen oder sie in Zuchthäuser einsperren, damit sie die Früchte der Arbeit der Rechtschaffenen nicht verschlingen.32 Die Einführung der Zuchthäuser als zensorische Sanktion (die althergebrachten Sanktionen waren bis zu diesem Zeitpunkt nur die zensorische Rüge und die Geldstrafe) ist ein weiteres Unterscheidungselement der althusischen __________ 29

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XXXI, 6, S. 631, wo die schlechten Sitten folgendermaßen definiert werden: „Mores malos intelligo hic pravas artes, lascivias, libidines, ebrietates, jurgia, errores, schismata, haereses, perjuria, et quidquid tale probitas et modestia damnant in omni aetate et sexu, quo subditi abusu bonorum suorum depauperantur, vel vitiis depravantur et corrumpuntur“: Der Luxus hingegen – führt Althusius weiter aus – zeigt sich nach Lipsius in vier Merkmalen, nämlich Geld, Hausbesitz, Gastmählern und Kleidung (ebd., XXX, 15f., S. 634). Zu diesem Problemkreis siehe Michael Stolleis, Luxusverbote und Luxussteuern in der frühen Neunzeit, in: ders., Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Franfurt a. M. 1983, S. 9-62. 30 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XXX, 10, S. 632. Das Thema kehrt mehrmals wieder. Siehe ebd. XXXI, 23, 30, 50. Althusius verweist hierzu besonders auf Pierre Grégoire, De Republica libri sex et viginti, Frankfurt a. M. 1597, XXII, 7. Dazu siehe auch Behnen, Herrscherbild (Anm. 11), S. 460 ff. 31 32

Althusius, Politica (Anm. 11), XXX, 7 ff., S. 631 ff.

Ebd., XXX, 11-13, S. 632 f.: „Itaque consultum (uti apud Chinenses fieri historiae referunt) ut subditi et cives doceant apud censorem, qua ratione sibi victum inter suos concives comparent, et mendicitas omnis e Repub. tollatur. […] Nam qui nihil habent unde vivant, et otiari volunt, fucis sunt similes, et inutiles societati humanae, unde fiunt vel mendicantes, vel latrones et fures. [...] Consultum quoque, ut censores hi in vagos, validos et sanos mendicantes animadvertant, eosque cogant ad honestos labores, vel ejiciant ex politia et consortio hominum, ne diligentum operas devorent, et consumant quae laboribus aliorum sunt adquisita. Vide tit. C. de valid. mendic. uti sit Argentinae, Basileae et aliis in locis. In ergasteria colastica, Zuchthäuser / in Belgio tales traduntur“.

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Theorie.33 Dabei wird die traditionelle Grenze der zensorischen Sanktionen, die sich nur gegen die Ehre oder die Güter der „Falschhandelnden“ richteten, überschritten und infolgedessen auch die persönliche Freiheit der Untertanen beschnitten.34 Von diesem Standpunkt aus kann man bemerken, dass die spezielle Gerichtsbarkeit über Sittlichkeit und Verhaltensregeln, die gewöhnlich der kirchlichen Autorität anvertraut ist, in den Bereich der ordentlichen strafrechtlichen Jurisdiktion miteinbezogen wird.35 Außerdem – fährt Althusius __________ 33 Ebd., XXX, 27, S. 637 f.: „Hodie in quibusdam locis etiam Ergasteria, seu domus certae destinatae sunt, quas Germani Zuchthäuser vocant, quibus inclusi ejusmodi indomiti, effraenes et petulantes homines, jejunio macerantur, vel laboribus exercentur tamdiu, donec poenitentiam egerint, vel spes melior de eorum vita appareat. Talis domus est in civitate Amstelrodamo et plerisque urbibus Hollandiae, et pluribus aliis in locis, atque alia pro masculis, et alia pro foeminis; quem morem valde laudo“. Eine Beschreibung von diesen ergasteria gibt Ernst Rosenfeld, Zur Geschichte der ältesten Zucht-Häuser, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 26 (1906), S. 1-18. 34

Die Richtungsänderung ist augenscheinlich, wenn man bedenkt, dass die früheren Theoretiker (Bodin, Grégoire, Lipsius) dagegen mehrmals schrieben: „Censoris iudicium nihil fere damnato affert nisi ruborem, itaque ut omnis illa iudicatio versatur tantummodo in nomine, animadversio illa ignominia dicta est“ (Zitat aus Cicero, De republica, in: Nonio, De comp. doctr., 24, 5). Vgl. Bodin, Les six livres de la République (Anm. 13), III, 3, S. 403: „Il y a bien difference de iuger des crimes, et reprendre les mœurs“; und ebd., VI, 1, S. 849: C’ést porquoy, disoit Ciceron, que le iugement des Censeurs fait rougir seulement: et d’autant que cela ne touchoit que le nom, la correction du Censeur s’appelloit Ignominia: qui est bien differente de l’infamie, qui depend des iuges qui ont iurisdiction publique, et des cas pour lesquels on souffre infamie. C’est pourquoy le Preteur notoit d’infamie ceux qui estoyent cassés avec ignominie: ce qui eust esté ridicule, s’ils eussent esté infames. Et neantmoins le doute que les Iurisconsultes faisoyent, si les hommes ignominieux doyvent souffrir la peine des infames, monstre assez que l’ignominie et l’infamie n’est pas tout un, comme plusieurs ont pensé“. Zur Unterscheidung zwischen „ignominia“ und „infamia“ vgl. ausführlich Peter Landau, Die Entstehung des kanonischen Infamiebegriffs von Gratian bis zur Glossa Ordinaria, Köln/Graz 1966; Aldo Mazzacane, Infamia (Storia), in: Enciclopedia del diritto, Bd. 21, Mailand 1971, S. 382-387, sowie Francesco Migliorino, Fama e infamia. Problemi della società medievale nel pensiero giuridico nei secoli XII e XIII, Catania 1985. 35

Wie oben bemerkt, wird die Zensur im Bereich der bürgerlichen Staatsverwaltung, nicht in jenem der kirchlichen Verwaltung behandelt, obwohl es unter ihnen mehrere Schnittpunkte gibt. Siehe hierzu auch Bettina Koch, Religion as a Principle of Political Order? Comparing Marsilius of Padua und Johannes Althusius, in: Carney u. a. (Hg.), Jurisprudenz (Anm. 10), S. 23-46. Beispielhaft hierzu Althusius, Politica (Anm. 11), XXX, 15, S. 633 f.: „Dabit etiam operam censor, ut omnes probitati atque industriae studeant, inprimis vero observabit, an singuli conciones sacras frequentent, sacra synaxi utantur, et pietati studeant, cultui atque religioni sacrae vacent in diebus sacris et festis solemnibus; an in haeresin, vel errorem quis lapsus sit, vel a professione sua alienam vitam agat. Curabit similiter, ut qui alieni sunt a religione approbata et

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fort – sei es angebracht, dass die Zensoren auch über die Armen- und Bettlerhäuser, die Altersheime und über die Krankenhäuser wachen.36 Es handelt sich dabei um eine Ausdehnung des Wirkungsfelds der Zensur auf neue Untersuchungsbereiche, die nur durch einen dünnen Faden mit jenem der guten Sitten und der Moralität verbunden sind. Eine wichtige Quelle diesbezüglich ist die „République“ des Bodin, welche besonders jene Funktion der Zensur hervorhebt, die sich mit dem Beobachten, Aufzeichnen, Erkennen und Aufspüren derjenigen beschäftigt, die ihren Unterhalt mit unerlaubten Mitteln verdienen.37 Althusius übernimmt von Bodin die gesamte historische Rekonstruktion der Rolle der Zensur nach dem Vorbild des alten, insbesondere des republikanischen Rom. Das Zensorenamt leitet sich vom römischen „census“ her, nämlich der periodischen Erfassung der Bürger und des Privatvermögens jedes Einzelnen.38 Erst mit der Zeit kamen in der römischen Verfassung zu den ursprünglichen zensorischen Kompetenzen andere neue Befugnisse hinzu, die die Aufsicht über Moralität und Sitten betreffen. Dabei ist in erster Linie die sogenannte „lectio senatus“ zu nennen, die Aufgabe der Zensoren also, alle fünf Jahre jene Senatsmitglieder zu

__________ recepta, quive in alieno territorio utuntur sacramentis, tales in consistorium ecclesiasticum vocentur, et melius ibi instruantur“. Zum Verhältnis zwischen Zensur und Religion vgl. auch XXVIII, 4, 5, 12, 15, 28; XXXI, 20, 44. 36

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XXX, 14, S. 633.

37

Vgl. Bodin, Les six livres de la République (Anm. 13), S. 840 f.: „Mais l’un des plus grands et principaux fruits qu’on peut recueillir de la Censure et denombrement des subiects, c’est qu’on peut congnoistre de quel estat, de quel mestier chacun se mesle, dequoy il gaigne sa vie: à fin de chasser des Republiques les mouches guespes, qui mangent le miel des abeilles: et bannir les vagabonds, les faineans, les voleurs, les pipeurs, les rufiens, qui sont au milieu des gents de bien, comme les loups entre les brebis: on les verroit, on les marqueroit, on les congnoistroit par tout. [...] On sçauroit aussi par ce moyen qui sont les prodigues, les cessionaires, les banqueroutiers, les riches, les povres, les saffraniers, les usuriers: et à quel ieu les uns gaignent tant de biens, et les autres dependent en tout, pour y remedier, puis qu’il est ainsi que de la povreté extreme des uns, et richesses excessives des autres, on void tant de seditions, troubles et guerres civiles“. Das interessante Buch von Antonio Serrano González, Como lobo entre ovejas. Soberanos y marginados en Bodin, Shakespeare, Vives, Madrid 1992, hat sich eben von dieser Textstelle inspirieren lassen. 38 Hierzu vgl. u. a. Wilhelm Kubitschek, Census, in: Georg Wissowa (Hg.), Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1899, Reprint 1970, III, 2, S. 1914-1924, und Demetrius Kalopothakes, Census, in: Ettore de Ruggiero (Hg.), Dizionario epigrafico di antichità romane, II, 1, Rom 1900, Reprint 1961, S. 174 ff.

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ersetzen, die sich als unwürdig erwiesen hatten.39 Diese Befugnis verlieh der zensorischen Magistratur die Rolle und das Ansehen des höchsten moralischen und zugleich politischen Kontrollorgans innerhalb der Res Publica. Wie aus den oben genannten Rechtslehren der Frühen Neuzeit korrekterweise hervorgeht, ist die Erfassung des Vermögens aller Bürger die Voraussetzung für eine gut geregelte Steuerpolitik und zugleich ein Instrument, mit dessen Hilfe der Staat die Prinzipien von Gerechtigkeit und Sicherheit gewährleistet. Die Vermögenserhebung stellt einen Maßstab dar, um die Lebensbedingungen und das Verhalten der Bürger zu analysieren und dadurch in den Sittenbereich einzugreifen. Von der ursprünglichen Tätigkeit des Zensus leiten sich also alle Weiterentwicklungen der Zensur ab, die man auf die Dreiteilung des Begriffs bei Bodin zurückführen kann: Die Zensur ist demzufolge zunächst als Erhebung der Bevölkerungszahl und der Eigenschaften der Bürger zu verstehen, weiter als Erhebung des Bevölkerungsvermögens und schließlich als sittliche Überwachung und Disziplinierung der Untertanen (censura morum).40 Wie Michel Senellart anführt, ist die Zensur weder die Gewalt der bezwingenden Kraft, noch jene des drängenden Willens, sondern jene des eintragenden, unterscheidenden, bewertenden, klassifizierenden, überwachenden, unterdrückenden und beurteilenden Blicks; eine Macht, die sich vom Gesetzeszwang unterscheidet und im Wesentlichen in der Sittendisziplin besteht.41 Wenn also die Zensur in ihren ersten zwei Formen (Volkszählung und Erfassung des Bevölkerungsvermögens) noch in den Wirkungsbereich des Gesetzes entfällt, so öffnet sich mit der dritten Form (Zensur der Sitten) der Herrschaftsgewalt eine neue Möglichkeit, um auch außerhalb der Gesetzesebene einzugreifen. Ein besonderes Problem stellt die Natur des zensorischen Urteils dar, das schon im alten Rom aufgrund eines eigenen, ganz besonderen Verfahrens ausgesprochen wurde. Der Zensorspruch (iudicium censorium) zeichnete sich durch seinen subjektiven oder willkürlichen Charakter aus. Durch ein solches Urteil konnte der Zensor – wie Varro behauptete – bestimmte Verhaltensweisen __________ 39 Siehe Mommsen, Römisches Staatsrecht (Anm. 5), II, 1, S. 383 f. Siehe hierzu auch die scharfsinnigen Bemerkungen von Alessandro Fontana, Censura, in: Enciclopedia Einaudi, II, Turin 1977, S. 868-893, bes. hier S. 878. 40 41

Vgl. Bodin, Les six livres de la République (Anm. 13), VI, 1, S. 835 ff.

Michel Senellart, „Census et censura“ chez Bodin et Obrecht, in: Artemio Enzo Baldini (Hg.), Jean Bodin a 400 anni dalla morte: bilancio storiografico e prospettive di ricerca (Il pensiero politico, 30, 1997, 2), Florenz 1997, S. 250-268.

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rügen, die er nach seinem eigenen Ermessen als im Widerspruch zu den boni mores stehend befand.42 Im Gegensatz zum ordentlichen Urteil, dem sogenannten iudicium praetorium, das dem Gesetz unterworfen war, folgte das iudicium censorium dem Prinzip der aequitas.43 Die Rechtslehren der Frühen Neuzeit diskutieren lebhaft darüber, ob es zweckmäßiger wäre, den willkürlichen Charakter dieses Urteils beizubehalten oder aber dem Zensor die ordentliche Rechtsprechungsgewalt (die sogenannte iurisdictio)44 zu übertragen. Mit der Übertragung der iurisdictio auf den Zensor wäre sein Urteil auch den Gesetzen verpflichtet. Bodin verteidigt die traditionellen Lehren und behauptet, dass die Macht der Zensoren schon sehr weitreichend und somit die Gewährung richterlicher Gewalt der direkte Weg

__________ 42

Vgl. Varro, De lingua latina, V, 14, 81: „Censor ad cuius censionem, id est arbitrium, censeretur populus“ (hg. von Antonio Traglia, Turin 1974, S. 105); und insbesondere VI, 71: „Qui spoponderat filiam, despondisse dicebant, quod de sponte eius, id est de voluntate, exierat: non enim si volebat, dabat, quod sponsus erat alligatus: nam ut in com¢o²ediis vides dici: ‚Sponde¢n² tuam [a]gnatam filio uxorem meo?’. Quod tum et praetorium ius ad legem et censorium iudicium ad aequum existimabatur. Sic despondisse animum quoque dicitur, ut despondisse filiam, quod suae spontis statuerat finem“ (ebd., S. 220 f.). Zur Willkür in der Zeit des Ius Commune siehe ausführlich Massimo Meccarelli, Arbitrium. Un aspetto sistematico degli ordinamenti giuridici in età di diritto comune, Mailand 1998. 43 Vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht (Anm. 5), II, 1, S. 383-387, der „das censorische aequum“ und „das prätorische iustum“ entgegensetzte, und erklärte: „Im rechtlichen Sinn indess ist der censorische Rügespruch ein iudicium nicht. Das Verfahren dabei, wie sehr es sich äusserlich dem Prozess nähert, war nicht wie dieser durch das Gesetz gewährleistet, sondern, wie das ganze Institut der Censur, von der Willkür der Beamten abhängig. Darum sind auch die Formalien häufig, wenigstens in der letzten Zeit der Republik, wo nicht ganz bei Seite geschoben, doch mit äusserster Leichtfertigkeit gehandhabt worden“. Mommsen zitiert insbesondere hier Cicero, Pro Cluentio, 42, 117, welcher schrieb: „Sequitur id quod illi iudicium appellant, maiores autem nostri numquam neque iudicium nominarunt neque ut rem iudicatam observarunt animadversionem atque auctoritatem censoriam“. 44 Zur Begriffsbildung vgl. Paolo Grossi, L’ordine giuridico medievale, Bari 1995, bes. S. 131, und Pietro Costa, „Iurisdictio“. Semantica del potere politico nella pubblicistica medievale (1100-1433), Mailand 1969, Reprint 2002, bes. S. 11, welcher das Verhältnis zwischen „iurisdictio“, „imperium“ und „potestas“ ausführlich untersucht; hierzu siehe auch Diego Quaglioni, Giurisdizione e territorio in una „quaestio“ di Bartolo da Sassoferrato, in: Archivio Scialoja-Bolla. Annali di studio sulla proprietà collettiva 2 (2004), S. 1-16, und den Beitrag von Massimo Meccarelli, Ein Rechtsformat für die Moderne: Lex und Iurisdictio in der spanischen Spätscholastik, in diesem Band.

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zur tyrannis sei.45 Grégoire erwidert, dass die Zensur durch die richterliche Gewalt auszuüben sei, da ansonsten eine große Gefahr für den Staat entstünde, wenn man nach Willkür urteilen könnte. Eine so umfassende und freie Gewalt kann nur dem Herrscher, nicht aber anderen Magistraten zustehen.46 Althusius’ Entscheidung zwischen diesen zwei Standpunkten ist eindeutig. Seiner Ansicht nach soll das zensorische Verfahren ein außerordentliches sein, das frei von den Formalitäten des ordentlichen Verfahrens ist und keine eigentliche strafrechtliche Sanktion mit sich bringt; ein Urteil ad aequum, frei, __________ 45 Vgl. Bodin, Les six livres de la République (Anm. 13), VI, 1, S. p. 849-850: „Puis edonc que la Censure est une chose si belle, si utile, si necessaire, reste à voir si les Censeurs doyvent avoir iurisdiction: car il semble, que la Censure sera illusorie sans iurisdiction. Ie dy neantmoins, qu’il ne faut pas que les Censeurs ayent iurisdiction quelconque, à fin que leur charge ne soit enveloppee de proces et de chiquaneries. Aussi les anciens Censeurs Rommains n’avoyent aucune iurisdiction: mais un regard, une parole, un trait de plume qu’ils donnoyent, estoit plus sanglant, et touchoit plus vivement, que tous les arrests et iugements des Magistrats. Quand on faisoit le lustre, on eust veu quatre ou cinq cents Senateurs, l’ordre equestre, et tout le peuple devant les Censeurs trembler, de crainte que le Senateur avoit qu’il fust chassé du Senat: l’homme d’ordonnance, qu’il fust privé de son cheval, ou mis au rang du peuple: et que le simple citoyen fust rayé de son ordre et de sa lignee, pour estre mis au nombre des cerites et tributaires. [...] Et neantmoins, à fin que l’honneur et autorité si grande des Censeurs ne fist ouverture à la tyrannie, s’ils eussent esté armés de puissance et iurisdiction ou qu’on fust condamné sans estre ouy“. 46 Vgl. Grégoire, De Republica (Anm. 30), IV, 12, 8-9, S. 244-245: „Placuit principibus, haec iudicia de moribus apud censorem arbitraria, melius expediri et firmius posse potestate magistratuum politicorum, aut reipublicae, mutata etiam forma reipublicae, et abolitum hoc de moribus tumultuarium edictum [...]. Cum mores vitiosi sunt serio sunt puniendi, non praesumptorie, ut fieri videbatur per censuram. [...] Et certe fatendum est etiam invitis, qui tantopere censuram reviviscere desiderant morum, et ea ratione censorem exoptant: hoc munus non posse sine potestate regia eiusque iurisdictionis potestate, ordineque iudiciali praetermisso, in principatu seu monarchica administratione exerceri, ab alio quam solo principe: cuius proprium est illud, sic volo, sic iubeo et censeo, sit pro ratione voluntas. Sic descriptio, cognitio singulorum, et rerum et personarum exactio, ex illis, et census impositio, auctio, emendatio, et usus, ad dominum, et talem dominum venire, describere, praebere, obtemperare, cogere, et iure, id est licite, et cum superiori potestate possit, et pro salute populi, defensione, cura et solicitudine sibi a Deo imposita, ita facere et cogere debeat. Quae omnia in magistro morum vel censore, qui olim erat sine iurisdictione propria, non concurrebant, nisi quatenus a populo permittebantur. Argumento est, hoc regium esse munus tantum et voluntatis absolutae: exemplum eius quod ponitur Gen. 1. et 2. [...]. Et illud quoque Plato observavit, dum dixit videre se imminere periculum interitus reipublicae, in qua non leges magistratibus, sed legibus magistratus imperarent“. Vgl. hierzu auch Pierre Grégoire, Syntagma Juris Universi, Frankfurt a. M. 1611, XLVII, 16, 8 (Censorum de quibus erat iurisdictio seu cognitio), fol. 975b, und ebd., XLVII, 16, 18, fol. 976b (Censorum apud Platonem iurisdictio).

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willkürlich und den neuen gesellschaftlichen Anforderungen Rechnung tragend, das akzeptiert werden muss, auch wenn eine derartige Urteilsmöglichkeit natürlich einer uneingeschränkten Macht sehr nahe kommt. Nur so kann die Zensur dort eingreifen, wo das Gesetz nicht mehr ausreicht. Somit wird sie zu einer wirkungsvollen Ergänzung der Gesetzgebung und einem nützlichen Unterstützungsorgan des Staats und kann dadurch gegebenenfalls die Lücken in der Rechtsordnung schließen.47 Hier zeigt sich ein typisches und bedeutendes Thema der Rechtslehre des Althusius: Die Zensur ist eine Waffe, die nicht nur gegen die Untertanen, sondern auch gegen die Könige verwendet werden kann. So wie in früheren Zeiten die Zensurgewalt gegen die Könige bei den Hebräern den Propheten und bei den Lazedämoniern den Ephoren zuerkannt wurde, so wird auch in der althusischen „Politica“ den Vertretern des Gemeinwesens Zensurgewalt über den König übertragen. Im althusischen Rechtssystem sind nämlich die Ephoren „auch Zensoren des obersten Magistrats“.48 Die althusischen Hinweise auf die __________ 47 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XXIX, 15, S. 613; vgl. auch VII, 50, S. 123, wo er die stärkere Wirksamkeit des zensorischen im Vergleich zum ordentlichen Verfahren unterstreicht: „Hac morum censura neglecta, mores civium corrumpi, et civitatem labefactari solere, experientia testatur, uti corpora, quae medicinas vacuandis humoribus necessarias omiserunt. Non tamen publicorum aut privatorum criminum cognitionem suscipiebant censores. Haec n. magistratuum decretis ac sententiis finiebantur: sed omnis animadversio eorum vitiorum erat, quae nec legib. neque magistratuum judiciis, vindicabantur, et in nota magis, quam judicatione consistebat, et ignominiam notato, non infamiam adferebat. Quanquam nec magistratus ulli tam accurate scelera ulciscuntur, quin maxima pars publicam declinet animadversionem, ac leges ita perrumpat, ut bestiae majores araneorum telas subtiles, quib. exiguas muscas irretiri videmus“.

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Ebd., XXX, 4, S. 630-631: „Apud Judaeos videtur prophetis jus censurae demandatum fuisse, etiam in reges […]. Romani quoque semper suos morum censores habuisse leguntur. Lacedaemonii suos ephoros, regum censores habebant. Atque his ephoris, optimatibus et ordinibus regni, censurae jus et potestas in ipsum summum magistratum est data, prout dixi sup. cap. 18. et c. 38.“. Siehe auch ebd., VII, 51, pp. 123-124: „Apud Judaeos tales censores fuisse amicos et prophetas regis, quos vocabant, existimat Danaeus, quos gravissimos, sanctissimos et liberissimos vitae regis, et omnium civium censores fuisse arbitrator. […] Putant enim interpretes quidam, id officium non temporarium, sed perpetuum fuisse. Graeci habuerunt suos sophronistas, qui moribus juvenum erant praefecti: habuerunt quoque Gynecocosmos, qui in parum modestas mulieres animadvertebant: Lacedaemonii habuerunt Ephoros, ipsorum regum censores: Athenienses suos Thesmothetas, domi morum inspectores, foris illos, quos nominabant episcopos. Romani nullo tempore geminis censoribus caruerunt“. Zum Repräsentationsprinzip bei Althusius siehe insbesondere Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Zur Frage des Repräsentationsprinzips in der „Politik“ des Johannes Althusius, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische

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Kapitel XVIII (über die Ephoren und ihre Aufgabe) und Kapitel XXXVIII (über die Tyrannis und ihre Gegenmittel) beschäftigen sich mit dem Ausgangspunkt dieser Theorie: dem Widerstandsrecht.49 Schon Machiavelli zählte in den Discorsi die Zensur neben dem Volkstribunat zu den wirkungsvollsten Sicherheitsmaßnahmen der Freiheit der Res publica.50 Die Hauptquelle für Althusius stellt in diesem Zusammenhang aber der Calvin-Schüler Lambert Daneau dar, dessen juristische und theologische __________ Theorie (Anm. 7), S. 513-542, und Luca Calderini, La „Politica“ di Althusius tra rappresentanza e diritto di resistenza, Mailand 1995. 49 Hierzu siehe u. a. Peter Jochen Winters, Das Widerstandsrecht bei Althusius, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische Theorie (Anm. 7), S. 543-556; Dieter Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: Emilio Bonfatti/Giuseppe Duso/Merio Scattola (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der „Politica methodice digesta“ des Johannes Althusius (Wolfenbütteler Forschungen, 100), Wiesbaden 2002, S. 49-112; Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht, Notwehr und die Repräsentation des Gemeinwesens in der Politica des Althusius (1614) und in der schottischen Althusius-Rezeption, 1638-1669, ebd., S. 291-314, sowie ders., Widerstandsrecht, Untertanen und Vaterlandsliebe. Die „Politica“ des Johannes Althusius von 1614 und ihre Rezeption in einem ständisch-fürstlichen Konflikt (16471652), in: Carney u. a. (Hg.), Jurisprudenz (Anm. 10), S. 261-283; zuletzt Diego Quaglioni, Tyrannis, in: Ingravalle/Malandrino (Hg.), Johannes Althusius (Anm. 12), S. 325-337. Zum Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit siehe ferner Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 1999, sowie ders., Self-Defence and Religious Strife in Early Modern Europe. England and Germany 1530-1680, Aldershot 2002, und jetzt ders., Widerstandsrecht, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 12, Basel 2004, S. 714-720. Zu den theologischen und juristischen Grundlagen des Widerstandsrechts in den calvinistischen Staatslehren vgl. außerdem Christoph Strohm, Das Verhältnis von theologischen, politisch-philosophischen und juristischen Argumentationen in calvinistischen Abhandlungen zum Widerstandsrecht, in: Angela De Benedictis/Karl-Heinz Lingens (Hg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jh.), Frankfurt a. M. 2003, S. 141-174. 50 Vgl. Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio, I, 5 (Dove più sicuramente si ponga la guardia della libertà [di una res publica, se] nel popolo o ne’ grandi); III, 1, 3 (A volere che una setta o una repubblica viva lungamente è necessario ritirarla spesso verso il suo principio). Vgl. hierzu Michel Senellart, Machiavélisme et raison d’État XIIe-XVIIIe siècle, Paris 1989, sowie ders., „Census et censura“ (Anm. 41), hier S. 264. Zum Problem der politischen Ordnung bei Machiavelli vgl. Gennaro Sasso, Machiavelli e gli antichi, Neapel 1987; Nicola Matteucci, Alla ricerca dell’ordine politico. Da Machiavelli a Tocqueville, Bologna 1984; vgl. jetzt auch Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, München 2006.

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Lucia Bianchin

Argumentationen für die „Politica“ des Althusius von großer Bedeutung sind.51 In seinen „Politices Christianae libri septem“ weist Daneau der Zensur die folgenden, hier in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit angeführten Aufgaben zu: An erster Stelle die Überwachung des Lebens und der Regierung des höchsten Magistrats, dann die Überwachung der Sitten der Bürger und schließlich die Überwachung der öffentlichen Ordnung. Die Rede Daneaus gipfelt in einer eindringlichen Ermahnung, dass in jeder Staatsform die Wahl des Magistrats mit größter Sorgfalt zu treffen sei, da dieser auch den König, den Hüter der Gesetze, und alle Stände überwachen soll (die Römer nannten diesen Magistrat Censor).52 Althusius greift in mehreren Textstellen das Bild der Ephoren als „regum censores“ auf und arbeitet seine Lehre über die Zensur insbesondere im Kapitel über die Ephoren und ihre Aufgaben weiter aus. Dabei wird im Sinne einer Grundlehre der Machtbegrenzung eine gegenseitige Zensur zwischen dem Summus Magistratus und den Ephoren festgesetzt. Der Summus Magistratus und die Ephoren kontrollieren sich somit gegenseitig und gewährleisten dadurch die Einhaltung der jeweiligen Aufgabenbereiche.53 Die Zensur mit __________ 51 Zum Autor und seinen Werken siehe jetzt ausführlich Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie Mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, Berlin 1996. 52

Vgl. Lambert Daneau, Politices christianae libri septem, Genf 1596, VI, 4, S. 420428, und ebd., S. 472 f. 53 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 11), XVIII, 91 (Mutua censura et observatio inter regem et ephoros utilis), S. 308: „Observandum hic, ut ephorum officium est curare, ne summus magistratus degeneret, faciendo, aut omittendo, quod non oportet: sic etiam summi magistratus officum est, curare, ne quis ephororum suo imperio limitato, in suorum subditorum vel regni perniciem abutatur. Haec mutua inter regem et status, seu ephoros, correctio, censura et observatio, regni statum salvum, sartum et tectum conservat, atque eundem ab omnibus periculis, malis et incommodis liberat. [...] Oportet, ait, ut sit regnum optimorum hominum potestate et multitudinis libertate temperatum, ut neque ii, qui plurimum autoritate valent, tenues homines, vel infimi potentibus invideant, illorumque imperium detrectent. Sic fiet, ut alii aliorum ope et auxilio firmerentur, omnesque inter se vinculo societatis indissolubili costringantur“; sowie ebd., XVIII, 113 (Mutuus inter ordines generales et speciales syncretismus et censura libera), S. 319: „Consultum est, ut hi ordines generales et speciales inter se, certis modis et rationibus devinciantur, et a se invicem pendeant, atque alius alterius ope et consilio opus habeat. Deinde, ut quilibet ordo intra suas contineatur metas, ne alium laedere possit, atque certa habeat remedia, quibus alter adversus alterius injurias tutus esse possit: ut nimirum ecclesiastici ordinis ambitio, equestris ordinis insolentia, atque plebeii ordinis licentia, coerceantur, et injuriae alterius in alium praecaveantur. Unde quaedam temperata et mutua Reipublicae gubernandae ratio existit, tantopere a

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ihrer typischen Freiheit in der Form und im Gerichtsverfahren erweist sich einmal mehr als ein Rechtsinstitut, das in der Staatsordnung zwar eine Ausnahme darstellt, in vielen Fällen aber gerade der Bewahrung der Rechtsordnung dient. Die Zensur des Missbrauchs der Herrschergewalt ist das bedeutendste Beispiel dafür, dass diese Zensur in der „Politica“ des Althusius sowohl eine Sicherungsnorm als auch eine verfassungsrechtliche Garantie darstellt, die die sittliche und politische Ordnung vor jenen Übertretungen schützen soll, für die es in der Rechtsordnung kein Gegenmittel gibt.

__________ philosophis laudata, quae publicae tranquillitatis custos et humanae societatis vinculum“. Allgemein hierzu siehe Norbert Achterberg, Gewaltenteilung bei Althusius, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische Theorie (Anm. 7), S. 497-512.

Ein Rechtsformat für die Moderne: Lex und Iurisdictio in der spanischen Spätscholastik Von Massimo Meccarelli, Macerata

A. Einleitung Die theoretischen Entwürfe, die im 16. und 17. Jahrhundert in die Moderne weisen, markieren einen Raum, in dem sich die Dimension des Rechts auf neue Art und Weise mit sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen verbindet. Dieser Beitrag befasst sich aus rechtshistorischer Perspektive mit den Denkansätzen, die von der spanischen Spätscholastik entwickelt wurden. Die Gründe für diese Betrachtung, die bei einem Rechtshistoriker als ‚Grenzübertritt‘ erscheinen könnte,1 liegen in der besonderen Aufmerksamkeit, die jenes theologische und politikwissenschaftliche Laboratorium der Moderne (gleichsam die ‚katholische Antwort‘ auf die Rechtsmodernisierung durch die neu entstandenen reformatorischen Konfessionen) den spezifisch juristischen Themen widmet.2 __________ 1 Der heuristische Wert der Rechtsgeschichte besteht m. E. auch in der Fähigkeit, in jene ‚Grenzgebiete‘ vorzustoßen, in denen der interdisziplinäre Dialog und die Integration des Wissens zum unverzichtbaren Instrument für die Entschlüsselung der Rechtserfahrung werden. Für eine methodologische Begründung siehe Mario Sbriccoli, Histoire de la criminalité et histoire pénale. Le problème des sources juridiques dans l’histoire du crime et de la justice criminelle, in: International Association for the History of Crime and Criminal Justice Bulletin 14 (1991), S. 89 ff.; ders., Storia del diritto e storia della società. Questioni di metodo e problemi di ricerca, in: Paolo Grossi (Hg.), Storia sociale e dimensione giuridica. Strumenti di indagine e ipotesi di lavoro, Mailand 1986, S. 131 ff. 2 Wie Grossi in der Einleitung des Bandes Paolo Grossi (Hg.), La Seconda Scolastica nella formazione del diritto privato moderno, Mailand 1973, S. 2, feststellt, entsteht die Spätscholastik „come esigenza di ripensamento globale dell’architettura cristiana della società, nel più rigoroso ancoraggio alla tradizione ma anche nella più aperta disponibilità ai problemi e alle soluzioni che l’evoluzione delle strutture economiche e della riflessione teologico-giuridica aveva messo in cruda ma viva evidenza soprattutto nelle trame del provocante discorso umanistico e riformato.“

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Massimo Meccarelli

In der Neuzeit erleben wir einen Prozess mit der Tendenz zur Neubegründung der Rechtsordnung auf einer von den historischen (und somit auf dem römischen Recht fußenden) Fundamenten, die von der Rechtslehre des ius commune geprägt waren, unabhängigen Basis. Bis zu dieser Epoche war es dem ius commune aufgrund des Fortbestandes der einheitlichen Auffassung der respublica christiana gelungen, sich als theoretischer Horizont zu etablieren, in dem die Entwicklungen der europäischen Rechtserfahrung eine einheitliche Lesart und Einordnung fanden. Die Modernisierung betrifft also den Kern der spätmittelalterlichen Rechtsauffassung. Tatsächlich wird die ‚Autonomie des Rechts‘ selbst zur Diskussion gestellt, und dies in zweifacher Hinsicht: Unter dem Aspekt der Dynamik der Rechtsentwicklung ist mehr und mehr zu beobachten, dass die Politik den Primat über das Recht zu erlangen versucht. Unter dem Aspekt des Verhältnisses zwischen Wissen und den theoretischen Prozessen der Beschreibung (und Bildung) der entsprechenden Rechtsordnung mündet die Modernisierung darin, dass sich der politische Gedanke in autonomer Form durchsetzen kann. Zudem übernehmen die politische Philosophie und die Theologie eine Ordnungsfunktion der Rechtsdimension. Im Hinblick auf den ersten Aspekt trägt die Spätscholastik dazu bei, die theoretischen Voraussetzungen für die strategische Ausrichtung der katholischen Kirche nach dem Konzil von Trient festzulegen. Diese ist durch den Versuch gekennzeichnet, die territoriale (oder sagen wir sogar: staatliche) Dimension der Macht zu berücksichtigen, ohne darauf zu verzichten, der päpstlichen Autorität eine universale Dimension zuzuerkennen.3 Dieser einheitlich__________ 3

In der Tat sei mit Paolo Prodi, Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al moderno dualismo tra coscienza e diritto, Bologna 2000, S. 269 ff., daran erinnert, dass die katholische Kirche insgesamt im 16. Jahrhundert damit beschäftigt ist, eine eigene Ausprägung des „processo di modernizzazione e di formazione delle nuove Chiese territoriali“ zu liefern, in der das traditionelle Schema Papsttum – Kaiserreich als institutionelle Repräsentation der respublica christiana neu überdacht wird. Ein willkommener Anlass war das Konzil von Trient. Wie man weiß, leisteten die Theologen der Spätscholastik dabei einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Argumentation in der Diskussion. Siehe auch Paolo Prodi, Il concilio di Trento di fronte alla politica e al diritto moderno, in: ders./Wolfgang Reinhard (Hg.), Il concilio di Trento e il moderno, Bologna 1996, S. 15-25 (die deutsche Fassung trägt den Titel: Das Konzil von Trient und die Moderne, Berlin 2001). Vgl. ferner Italo Birocchi, Alla ricerca dell’ordine. Fonti e cultura giuridica nell’età moderna, Turin 2002, S. 161 f. Für eine Einordnung der spanischen Spätscholastik in den historischen Kontext, in dem sie sich entwickelt hat, siehe Rainer Specht, Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit, in: Frank Grunert/Kurt Seelmann (Hg.), Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik, Tübingen 2001, S. 3-17, und in demselben Band Norbert Brieskorn, Lex Aeterna. Zu Francisco Suarez Tractatus de legibus ac Deo legislatore, S. 49 f.

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universalistische Charakter spiegelt sich in der Neudefinition der Verfassungsordnung wider. Im Hinblick auf den zweiten Aspekt erneuert die Spätscholastik das Verhältnis zwischen Recht, Theologie und Politik auf eine Weise, die nicht unmittelbar auf die Subordination der scientia iuris abzielt, sondern sich, wenn überhaupt, dieser als Ausführungsinstrument der durch die Theologie definierten programmatischen Ansätze zur Errichtung der neuen politischen Realität bedient. Die Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte hat die Bedeutung des politischen und juristischen Denkens der Spätscholastik für die Moderne in ihrer Vielfalt hervorgehoben. Mit einer erneuerten Lesart der thomistischen Naturrechtslehre – die eine solch bedeutsame Rolle bereits in der Theologie und Rechtslehre des Mittelalters eingenommen hatte4 – versuchen die Theologen-Juristen, die verschiedenen Richtungen der sich entfaltenden Moderne in Einklang zu bringen,5 indem sie daraus eine konkrete Perspektive für die aktuelle Rechtsordnung ableiten. Es handelt sich nur scheinbar um eine konservative Entscheidung. Sie entsteht tatsächlich in einem theoretisch-methodologischen Kontext,6 in dem das theologische und politische Wissen schon sehr wohl in der Lage ist, sich von gefestigten Fundamenten zu befreien und neue Bezugspunkte zu bilden.

__________ 4 Siehe Michel Villey, La formation de la pensée juridique moderne, Paris 2003, S. 329 f.; Christoph Bergfeld, Katholische Moraltheologie und Naturrechtslehre, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der Neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II/1, München 1977, S. 1019 f. 5 Diese positioniert sich mitten in der Auseinandersetzung zwischen Intellektualismus und Voluntarismus. Vgl. Villey, Formation (Anm. 4), S. 336; Birocchi, Alla ricerca (Anm. 3), S. 160; Franco Todescan, Lex, natura, beatitudo. Il problema della legge nella scolastica spagnola del sec. XVI, Padova 1973, S. 89 f.; Guido Fassò, Storia della filosofia del diritto. II: L’età moderna, Bologna 1968, S. 77; Adriano Cavanna, Storia del diritto moderno in Europa. Le fonti e il pensiero giuridico, Bd. I, Mailand 1982, S. 330; Prodi, Storia (Anm. 3), S. 344 f. 6 Der Modernisierungsansatz besteht im Übrigen vor allem in einem methodologischen Interesse. Insbesondere geht es darum, die traditionelle Methode mit neuen Konzepten und Inhalten außerhalb der epistemologischen Referenzbasis des traditionellen Juristen durchzusetzen. Die Autoren der Spätscholastik integrieren in ihre eigene Argumentation auch Instrumente, die von neuen Denkrichtungen wie der des juristischen Humanismus formuliert wurden; dies jedoch, ohne sich dem mos italicus entgegenzustellen. Siehe Villey, Formation (Anm. 4), S. 332; Francisco Carpintero Benitez, „Mos italicus“, „mos gallicus“ y el Humanismo racionalista. Una contribución a la historia de la metodologia juridica, in: Ius commune 6 (1977), S. 111-115 und 146.

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Thomas lehrte, dass das Naturrecht vor allem eine objektive und historische Bedeutung habe; es diene nicht dazu, einen unveränderlichen Katalog von Prinzipien zu entwerfen – vielmehr sei es das intellektuelle Instrument zur Identifikation des Gerechtigkeitssinns in seinen auf Basis der verschiedenen historischen Umstände immer wieder erneuerten Manifestationsformen.7 Dies will sagen, dass die Regeln des Naturrechts in der Natur der Dinge zu finden seien.  Dies ist eine Erkenntnis, die von allen Spätscholastikern geteilt wird. Unterschiedlich sind jedoch ihre daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen.8 Es handelt sich nicht um einen Verrat an dem Aquinaten, sondern vielmehr um eine Instrumentalisierung – das heißt, die Entdeckung der aktuellen Anwendbarkeit der Lehre von Thomas im Sinne des anthropozentrischen Geistes der Moderne.9 Auf Basis der bereits erfolgten historiographischen Untersuchungen ist es möglich, die spätscholastische Entwicklung des thomistischen Naturrechtsbegriffes in drei Richtungen zu gliedern. In einer ersten Perspektive bildet die objektive Bedeutung des Naturrechts die Voraussetzung für die Anerkennung eines weltlichen Wertes des Rechts.10 __________ 7

Vgl. Paolo Grossi, Modernità politica e ordine giuridico, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 27 (1998), S. 18-20; ders., L’ordine giuridico medievale, Bari-Roma 1997, S. 78-85; Manuel António Hespanha, Introduzione alla storia del diritto europeo, Bologna 1999, S. 177 f. (ursprünglicher Titel: Panorama histórico da cultura jurídica europeia, Lisabon 1999); Annabel S. Brett, Liberty, Right and Nature. Individual Rights in Later Scholastic Thought, Cambridge 1997, S. 89-97; Jürgen Miethke, Ai confini del potere. Il dibattito sulla potestas papale da Tommaso a Guglielmo d’Ockham, Padova 2005, S. 27-49 (ursprünglicher Titel: De potestate Papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000); Diego Quaglioni, La giustizia nel Medioevo e nella prima età moderna, Bologna 2005, S. 55-81, bes. S. 68-73. 8 Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 79-91; Bergfeld, Moraltheologie (Anm. 4), S. 1019 f.; Merio Scattola, Naturrecht als Rechtstheorie: Die Systematisierung der ‚res scholastica‘ in der Naturrechtslehre des Domingo de Soto, in: Grunert/Seelmann (Hg.), Ordnung (Anm. 3), S. 22-24. 9

Vgl. Todescan, Lex (Anm. 5), S. 89 f.; Italo Birocchi, Causa e categoria generale del contratto. Un problema dogmatico nella cultura privatistica dell’età moderna, Turin 1995, S. 207 f.; ders., Alla ricerca (Anm. 3), S. 160. Pietro Costa, Civitas. Storia della cittadinanza in Europa. 1. Dalla civiltà comunale al Settecento, Roma-Bari 1999, S. 112, erklärt: „la Seconda Scolastica usa gli angusti arredi della tradizione per celebrare in realtà un nuovo rito; ma il rito, ancorché nuovo nei contenuti, è necessariamente condizionato dagli apparati che lo rendono possibile.“ 10 Man denke z. B. an Soto, Molina, Gabriel Vazquez. Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 86 f.; Birocchi, Causa (Anm. 9), S. 255; Villey, Formation (Anm. 4), S. 331 f.

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Die Anerkennung eines weltlichen Charakters der Naturrechtslehre impliziert jedoch nicht die Negierung eines göttlichen Fundaments auch in der juristischen Dimension; sie führt kein säkularisiertes Recht ein.11 In einer zweiten Perspektive der Entdeckung des ius naturale durch den Intellekt wird der rationale Charakter (im Sinne der Schaffung eines Vernunftsrechts) unterstrichen, während der bei Thomas zentrale historische Charakter in den Hintergrund tritt.12 In einer dritten Perspektive setzt man den Akzent auf das voluntaristische Profil, durch das das Naturrecht seine juristische Wirkung erhält.13 __________ 11 Wie Birocchi, Alla ricerca (Anm. 3), S. 162, feststellt, bestand der weltliche Charakter in der Tat nicht in der Negation jenes Fundamentes, sondern in der Tatsache, dass er den Menschen in den Mittelpunkt stellte und darauf ausgerichtet war, „esclusivamente a configurare le norme per la società civile.“ Vgl. Hespanha, Introduzione (Anm. 7), S. 179 f.; Prodi, Storia (Anm. 3), S. 339-349. Diego Quaglioni, „Assolutismo laico“ e ricerca del diritto naturale, in: Il pensiero politico 25 (1992), S. 96-106, hat gezeigt, wie die Weltlichkeit des Naturrechts im 16. Jahrhundert selbst – welche bestimmt war, „la frattura verso una fondazione nuova del diritto, della morale e della politica […] rispetto al mondo della scolastica e delle sue costruzioni intellettualistiche, teologico-giuridiche o teologico-politiche che fossero“ zu kennzeichnen – eher dazu neigt, sich als „forma di desacralizzazione del potere“ denn als Phänomen der „secolarizzazione“ des Rechts darzustellen. Hinsichtlich der „ragnatela di significati“, auf deren Basis die Konzepte von Weltlichkeit und Säkularisierung entstehen, siehe Francesco Migliorino, Rileggendo Francisco Suarez, in: Antonio Padoa Schioppa/Gigliola di Renzo Villata/Gian Paolo Massetto (Hg.), Amicitiae pignus. Studi in ricordo di Adriano Cavanna, Mailand 2003, S. 1451-1461. Vgl. auch Franco Todescan, Le radici teologiche del giusnaturalismo laico. I: Il problema della secolarizzazione nel pensiero giuridico di Ugo Grozio, Mailand 1983; Michael Stolleis, „Konfessionalisierung“ oder „Säkularisierung“ bei der Entstehung des frühmodernen Staates, in: Ius commune 20 (1993), S. 1-23. 12 Man denke beispielsweise an Figuren wie De Vitoria. Vgl. Villey, Formation (Anm. 4), S. 341-346; Daniel Deckers, Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria (1483-1546), Freiburg i. Br. 1991, S. 68-193; Brian Tierney, The Idea of Natural Rights: Studies on Natural Rights, Natural Law and Church Law: 1150-1625, Atlanta 1997, S. 257-259; Hespanha, Introduzione (Anm. 7), S. 179 f.; Carlo Galli, Introduzione a Francisco de Vitoria, De iure belli, Bari-Roma 2005, S. V-VIII; Paolo Cappellini, Sulla formazione del moderno concetto di ‚dottrina generale del diritto‘, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 10 (1981), S. 335 ff. 13 Man denke hier an Fernando Vazquez de Menchaca oder Francisco Suarez. Vgl. Villey, Formation (Anm. 4), S. 331 f. und 358-361; Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 85-91; Paolo Grossi, La proprietà nel sistema privatistico della Seconda Scolastica, in: ders. (Hg.), Scolastica (Anm. 2), S. 122-125; Costa, Civitas (Anm. 9), S. 112; Michel Bastit, La naissance de la loi moderne. La pensée de la loi de Saint Thomas à Suarez, Paris 1990, S. 348 ff.; Brett, Liberty (Anm. 7), S. 5-9 und 165-205; Luisa Accati, Volontà e autorità. Francisco Suarez e la naturale privazione dell’etica, in: Quaderni storici 105 (2000), S. 627 f.; Prodi, Storia (Anm. 3), S. 327 und 346-349; Gustaaf P. van Nifterik,

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Diese Denkrichtungen repräsentieren drei dynamische Profile der Rechtsphänomenologie, die miteinander interagieren, um die Ebene der verlorenen Ordnung zu rekonstruieren: Verwissenschaftlichung der objektiven historischen Realität, Rationalisierung der Rechtsdimension, Primat der Politik. Diese Profile sind jedoch vor allem eine Antwort auf das Erfordernis der Bestätigung der theologischen Ordnung und ihrer gleichzeitigen Aktualisierung. Das Problem der Scholastiker ist die Abgrenzung von den durch Luther und Calvin verfochtenen protestantischen Rechtslehren. Deren reformistischer Elan erforderte ein Überdenken des Rechts ausgehend von der Zentralität der Heiligen Schrift. Die Scholastiker waren im Gegensatz dazu daran interessiert, in der neuen Ordnung die weltlichen Regeln, die traditionell in der Rechtserfahrung der katholischen Länder verankert sind, zu bewahren.14 Beispielsweise erlaubt der bereits erwähnte weltliche Ansatz des Naturrechtsbegriffes der zweiten Scholastik, Rechtsquellen wie das römische Recht und damit eine Rechtsordnung mit mittelalterlicher Tradition beizubehalten, die die Autorität des Papstes in den Vordergrund stellt. Dies bedeutete, die weltliche, rechtliche und politische Dimension der katholischen Kirche zu bestätigen. Auf der Suche nach neuer Legitimation der obersten religiösen Autorität und auf der Basis einer gleichzeitig rationalen, intellektualistischen und historistischen Idee der Offenbarung etablierten die Theologen ein strukturelles Gleichgewicht zwischen den spirituellen Anforderungen einerseits und den sozialen und politischen andererseits. Die katholische Kirche wurde gleichzeitig als Gemeinschaft der Gläubigen, die von der Sünde erlöst und für das ewige Heil auserwählt sind, und als juristisch organisierte irdische Gesellschaft errichtet. Das Gleiche könnte man im Hinblick auf die rationalen Implikationen der spätscholastischen Lehre feststellen. Diese führen zur Einordnung des Naturrechts als Basis der subjektiven Rechte des Individuums, indem sie eine __________ Fernando Vazquez on the Prince and Law, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie, Berlin 2004, S. 347-370. 14 Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 47-59; Villey, Formation (Anm. 4), S. 331 f. Es liegt nicht in unserer Absicht, ein wesentlich komplexeres Thema, das die Geschichtsschreibung verschiedentlich hinsichtlich des lutherischen und umfassender des protestantischen Rechtsdenkens behandelt hat, zu vereinfachen. Beispielsweise hat sich gezeigt, wie sich in der Tat in der Entwicklung der protestantischen Reflexion über das Recht eine Wiederentdeckung des römischen und des kanonischen Rechts vollzieht. Vgl. z. B. Richard H. Helmholz (Hg.), Canon Law in Protestant Lands, Berlin 1992; Prodi, Storia (Anm. 3), S. 231-246; Isabel Deflers, Lex und Ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons, Berlin 2005, S. 78-173.

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Überleitung vom objektiven zu den subjektiven Naturrechten (verstanden als angeborene Rechte) bilden. Es wird also ein Naturrecht betont, das durch die Aktivität des Subjekts festgelegt wird und ein Instrument der Bestätigung seiner juristischen Identität darstellt. Dies ist nicht unvereinbar mit dem thomistischen Fundament. Dennoch kennzeichnet es eine veränderte Zielsetzung des Instruments naturrechtlich-rationaler Begründung. Im theoretischen Horizont des Mittelalters war diese Mittel der Anerkennung der historischen Dimension. Im neuen modernen Horizont ist sie Mittel der Konkretisierung eines juristischen Anthropozentrismus.15 Die strategische Valenz dieses Ansatzes ist hinreichend bekannt: Sie ist in die neue Geopolitik einzuordnen, in der sich ein neuer juristischer Raum (das Völkerrecht) manifestierte, und zugleich in die neuen außereuropäischen Rechtstraditionen, die jedoch eine Verankerung gerade in der europäischen Rechtsordnung erforderten. Auch die voluntaristischen Tendenzen betreffen die Etablierung einer zweiten Ebene des Gemeinschaftssinns in der kirchlichen Rechtsordnung; eine relativ eigenständige und in die Hände des Menschen gelegte Ebene, die die Regeln des eigenen Verhaltens unabhängig vom Eingriff Gottes festlegte. Die Autonomie betraf nicht die Werte und Grundsätze, sondern deren mögliche konkrete Auswirkungen. Die Tatsache, in das Zentrum der Rechtsdimension den König als Gesetzgeber zu stellen, stand somit nicht im Kontrast zu der Möglichkeit, eine aufrichtig theokratische Perspektive zu bewahren. Dennoch erlaubte es der voluntaristische Ansatz, das Recht an (auch moralische) Werte zu knüpfen, ohne es auf die Heilige Schrift zu beschränken.  Diese Überlegungen ermöglichen eine Beschreibung des Beitrags bzw. der Position der Spätscholastik im Zusammenhang mit den Modernisierungstendenzen. Sie geben jedoch keine spezifischen Antworten auf die hier betrachtete Fragestellung: Das Verhältnis von juristischer und politischer Dimension der Rechtsordnung; sie betrifft die Entscheidung, welches Rechtsformat angewendet wird, um der Moderne entgegenzutreten. Eine solche Antwort können wir nur formulieren, wenn wir uns von der Hypostasierung der Tendenzen lösen und die spezifischen juristischen Instrumente analysieren.16 __________ 15 Vgl. Villey, Formation (Anm. 4), S. 341-346; Tierney, Idea (Anm. 12), S. 257-259; Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 109-113. 16

Der Einschätzung von Prodi, Storia (Anm. 3), S. 345-346, hinsichtlich der Überbewertung des „metodo di indagine rivolto a cogliere le filiere di pensiero in quanto tali“, der das Risiko birgt, „genealogie astratte“ zu formulieren, und der Einladung, diesen als „espressione del particolare momento storico“ zu werten, ist beizupflichten.

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B. Die juristischen Instrumente der Modernisierung Wählen wir als Blickwinkel die Darstellung der von der Lehre des ius commune geprägten Ordnungskategorien des Rechts. Wie die Spätscholastik angemerkt hat, steht sie vor dem Problem der Modernisierung unter Beibehaltung eines universalistischen und traditionalistischen Horizonts; dadurch ist es möglich, den Anwendungsgrad der Kategorien des ius commune zu untersuchen – dies betrifft vor allem ihre Nachwirkungen im Hinblick auf Schlüsselkategorien von Rechtssystem und Verfassungsordnung. Ziel ist es, nachzuvollziehen, welchem Anpassungsdruck sie unterliegen, der politischen Macht ein geeignetes Rechtsformat zu liefern. Auf diese Weise soll auch betrachtet werden, wie sich vor einem solchen Horizont der Modernisierung das Verhältnis zwischen Recht, Theologie und Politik erneuert. Die folgenden Ausführungen beschränken sich dabei auf die Analyse der Begriffe lex und iurisdictio.

I. Lex In der Lehre der Scholastiker, auch dort, wo keine allgemeine voluntaristische Einordnung vorliegt, nimmt die lex eine besondere Stellung ein; das condere legem wird als typische und spezifische Tätigkeit des politischen Oberhauptes dargestellt.17 Man entdeckt das Gesetz als Regierungsinstrument und empfiehlt, davon Gebrauch zu machen.18 Jedoch entfernt sich der Begriff von __________ 17 Vgl. Francisco Suarez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore, in decem libros distribuitus, Lugduni, sumptibus Horatii Cardon, 1613, lib. I De natura legis in communi, cap. VIII Utrum sit de ratione legis, ut publica potestate feratur, nn. 6-9; ebd., lib. III De lege positiva humana […], cap. I Utrum sit in hominibus potestas ad leges ferendas, nn. 4-7. Auch Domingo Soto, Tractatus de iustitia et iure, Lugduni, Apud Simphorianum Beraud, 1582, lib. I, quaestio I De lege in communi, articulus III post princ., präzisiert: „Leges condere non cuiusque, sed reipublicae est, eiusque vicem gerentis seu curam habentis.“ In der Tat „lex est regula dirigens in commune bonum“, und dies ist ein Vorzug gerade der respublica. Bei Soto wird das voluntaristische Element aus dem intellektualistischen abgeleitet, das dessen Voraussetzung zu bilden scheint. Er integriert insbesondere die Definition von Thomas von Aquin, nach der das Gesetz rationi ordinatio ad bonum comune ist, und er unterstreicht das Moment der promulgatio; Vgl. Todescan, Lex (Anm. 5), S. 84-86; Brett, Liberty (Anm. 7), S. 141147. Zur Zentralität des Gesetzes in der Auffassung der Rechtsordnung der Spätscholastik siehe Michel Villey, La promotion de la loi et du droit subjectif dans la Seconde Scolastique, in: Grossi (Hg.), Scolastica (Anm. 2), S. 60-67. 18 Vgl. z. B. Ludovico Molina, De iustitia et iure tractatus […], Venetiis, apud Sellas, 1611, Tractatus V De iurisdictione et variis generibus potestatum publicarum, iudicumve, disputatio 68, Humanam legem tam civilem quam Ecclesiasticam, quis condere

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lex nicht von der Lehre des ius commune.19 Im Übrigen war auch bei Thomas von Aquin selbst20 eine starke Bindung des lex-Begriffes an eine objektive Dimension vorhanden. Die rationabilitas wird beispielsweise als konstitutives Element des Gesetzes selbst anerkannt. Man bestätigt somit, dass die potestas condendi legem, da sie auf einer göttlichen Grundlage beruht, niemals sine ratione wirken kann.21 Gleichermaßen wird die Zentralität der iustitia bei der Gestaltung des ius anerkannt,22 in der Tat wird darauf hingewiesen, dass eine lex, die sich als iniusta erweist, nicht zu respektieren ist, da „lex iniusta non est lex“.23 __________ possit […], n. 2: „Dicendum vero est cum D. Tho. […] melius rempublicam legibus gubernari, quam prudentia praepositorum sine legibus.“ 19

Zu den Eigenschaften des Rechtsbegriffes in der Doktrin des ius commune vgl. Grossi, L’ordine (Anm. 7), S. 135-144; Luca Mannori/Bernardo Sordi, Storia del diritto amministrativo, Roma-Bari 2001, S. 39 f. Hinsichtlich der Bedeutung des ius commune in der spanischen Rechtserfahrung der Neuzeit (auch im Hinblick auf die Lehre von Juristen wie Diego Covarruvias) siehe zuletzt Alonso Romero/Maria Paz, Derecho patrio y derecho comun en la Castilla moderna, in: Italo Birocchi/Antonello Mattone (Hg.), Il diritto patrio. Tra diritto comune e codificazione (secoli XVI-XIX), Rom 2006, S. 101-126. 20

Vgl. Grossi, Modernità (Anm. 7), S. 18 f.

21

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. VI De interpretatione cessatione et mutatione humanarum legum, caput IX Utrum aliquando lex tota per seipsam cesset causa eius cessante; ebd., lib. III De lege positiva humana […], caput XX Utrum intentio legislatoris, seu ratio legis sit intrinseca forma eius, nn. 10-11; lib. I De natura legis in communi, cap. VIII Utrum sit de ratione legis, ut publica potestate feratur, nn. 9 f.; vgl. auch Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 68, Humanam legem tam civilem quam ecclesiastica, quis condere possit, n. 2; Juan Mariana, De rege et regis institutione, Toledi, Apud Petrum Rodericum, 1599, lib. I, cap. II, S. 23. Auch in diesem Fall ist die Übereinstimmung mit der Lehre des ius commune offensichtlich; man denke z. B. an Jacopo Menochio, De arbitrariis iudicum, quaestionibus et causis, Venetiis, 1590, lib.II, casus LXXXII, nn. 11-12, der die Auffassung vertritt, dass der Gesetzgeber „statuere quod sine ratione et publico commodo esset“, denn „lex nihil aliud sit, quam recte a numine Deorum tracta ratio alioqui, […] quod ratione caret, extirpari debet.“ Vgl. Massimo Meccarelli, Arbitrium. Un aspetto sistematico degli ordinamenti giuridici nell’età del diritto comune, Mailand 1998, S. 50; Grossi, Modernità (Anm. 7), S. 19. 22 Vgl. z. B. Soto, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 17), lib. III, quaestio I De iure, articulus III Utrum ius sit obiectum iustitiae. Vgl. Scattola, Naturrecht (Anm. 8), S. 3034. 23 Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana […], caput XIX Utrum acceptatio populi sit necessaria in lege civili ut perfecte constituatur,

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Lex, man denke an Mariana, ist nicht zufällig an den mos patrium geknüpft, so dass sie selbst die Grenzen der königlichen Macht setzt, als Kern, der durch die königliche Macht der Derogation des bestehenden Rechts nicht antastbar ist.24 Ein objektives Fundament des Rechts wird im Übrigen auch anerkannt, wenn auf die naturrechtliche Grundlage der lex Bezug genommen wird. Soto, aber wir können auch Suarez als Beispiel nehmen, geht von der Prämisse aus, dass die lex humana stets an das Naturrecht geknüpft ist. Er folgert daraus, dass eine solche Verbindung sich auf unterschiedliche Weise äußern kann: per modum conclusionis, also durch die logische Übertragung des Naturrechts-

__________ et vim habeat obligandi, n. 11; er fährt fort: „Praesertim quando ex parte materiae est iniusta, quia rem iniquam praecipit; tunc enim non solum ad acceptandum non obligat, verum etiam neque si sit acceptata. Quia non solum non tenetur subditi acceptare illam, verum etiam non possunt, quando est clare et manifeste de re iniqua.“ Ähnliche Bemerkungen finden sich bei Garcia Mastrillo, Tractatus de magistratibus, eorumque imperio et iurisdictione, Lugduni, 1621, lib. III, cap. III, nn. 80-92; bezugnehmend auf die Lehre von Thomas von Aquin spricht er von lex iniusta ex defectu potestatis, ex defectu formae debitae, aber auch ex defectu finis. D.h. wenn „princeps non publicum intendat comodum, sed privatam suam, aut cuiuscumque utilitatem“ [n. 85]. Somit betont er, dass „lex debet esse possibilis“ [n. 88]; „lex debet esse conveniens loco et tempori“ [n. 92]. 24 Mariana, De rege et regis institutione (Anm. 21), lib. I, cap. IX, S. 101: „Licebit quidem Regibus, rebus exigentibus, novas leges rogare, interpretari veteres atque emollire: supplere si quis eventus lege comprehensus non est. Pro suo tamen arbitratu leges invertere, ad suam libidinem, & commodum referre quae agit omnia, nulla moris patrij institutorumve reverentia, proprium tyrannorum esse vitium credat: neque in legitimos Principes cadere ita se gerere, ut legibus solutam potestatem obtinere & exercere videantur.“ Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 84 f.; Alan C. Soons, Juan de Mariana, Boston 1982, S. 50-57; Francisco Tomas y Valiente, Génesis de la Constitución de 1812. I: De muchas leyes fundamentales a una sola Constitución, in: Anuario de Historia del derecho Español 65 (1995), S. 31 f.; Harald E. Braun, Juan de Mariana and Early Modern Spanish Political Thought, Burlington 2007 S. 43 ff. Auch Fernando Vazquez de Menchaca, Controversiae usu frequentium, Francoforti ad Moenum, sumptibus Ioannis Theobaldi Schoenwetteri, 1599, lib. I, cap. I, n. 28, nn. 1-9, 28 f., bekräftigt, indem er Decio zitiert, dass die Herrscher „leges transgredi non possunt, quae quasi sponsio (hoc est contractus publicus) esse intelliguntur, cuius transgressio longe turpior, & intolerabilior est, quam transgressio contractus privati” [n. 28]; „Denique quod princeps legibus civilibus solutus sit, intelligitur de legum tantum civilium solemnitatibus“, wo sich in der Tat nicht eine derogatio „naturali rationi aequitatis, aut iustitiae“ abzeichnet [n. 29]. Vgl. Brett, Liberty (Anm. 7), S. 165-186; van Nifterik, Fernando Vazquez (Anm. 13), S. 360-365.

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prinzips; oder per modum determinationis, wenn der Gesetzgeber durch lex humana das Naturrechtsprinzip an die historischen Gegebenheiten anpasst.25 Noch offen scheint die Debatte bezüglich der Bedeutung des consensus populi für das Inkrafttreten von Gesetzesmaßnahmen; aus theoretischer Sicht wird die Gesetzgebungskompetenz als dem princeps von Gott durch den populus übertragene Macht betrachtet.26 Nicht wenige Scholastiker schließen sich dieser Auffassung an; man denke an Vitoria, Molina, Vazquez de Menchaca, Mariana.27 Neben der Bedeutung des gubernare mit dem Gesetz wird auch der Rechtsprechung eine wichtige Rolle im Prozess der Rechtsschöpfung und -anwendung beigemessen. Für Molina ist der Richter ein medicus instructus, der auf die Richtlinien der peritia artis zurückgreift, aber jedes Mal deren Eignung in Bezug auf die Umstände bewertet und auf ihre Anwendung verzichtet, wenn sie sich als schädlich erweisen sollten.28

__________ 25 Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 82-89; Bergfeld, Moraltheologie (Anm. 4), S. 1018; Villey, Formation (Anm. 4), S. 360-364. 26 In der zeitgenössischen Lehre des ius commune gibt es viele Juristen, die ihn als Voraussetzung betrachten, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung; vgl. z. B. Giovanni Battista De Luca, Il dottor volgare, Roma, stamperia di Giuseppe Corvo, 1673, Proemio cap. V Delli requisiti della legge, nn. 2 und 14; Mastrillo, De magistratibus (Anm. 23), lib. III, cap. III, n. 108. 27 Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 81-83; Soons, Juan de Mariana (Anm. 24), S. 50-57. Wie man weiß, wird das Buch von Mariana, De rege et regis institutione (Anm. 21), auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es verbreitete in der Tat eine Lehre des Widerstandsrechts im Kontrast zu den theologischen Prinzipien, die die Lehrmeister der theologischen Fakultät der Sorbonne vertraten. Vgl. Arrest de la Court de Parlement. Ensemble la Censure de la Sorbonne contre le livre de Iean Mariana intitulé De regis et rege institutione, Paris, 1610, S. 4-13. 28 Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 68, Humanam legem tam civilem quam ecclesiastica, quis condere possit, n. 2: „Sicut medicus instructus pertita artis accedere debet ad curandum infirmum, attamen simul uti debet prudentia, ut pro qualitate circumstantiarum concurrentium adhibeat remedia ac medicamenta, moderamen interdum apponendo praeceptis universalibus artis, et interdum ea deferendo, quando viderit nociva fore, neque in eo eventu et cum eis circumstantiis illa intelligi: ita iudex, legum peritia instructus accedere debet ad iudicandum, caeterum utendo simul prudentia, ut pro qualitate circumstantiarum concurrentium moderamen interdum adhibeat dispositionibus universalibus legum, interdumque illa omnino omittat quando per Epicheiam iudicaverit illas in eo eventu et cum eis circumstantiis ex mente ipsorummet legumlatorum locum habere.“

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Dieses charakteristische Element ist im Übrigen auch in den Positionen nachzuvollziehen, die sich stärker auf eine neue Zentralität des Gesetzes ausrichten. Ich denke zum Beispiel an Suarez, bei dem der Fokus nämlich auf der lex regis als neuem Schwerpunkt der Rechtsordnung liegt.29 Er betrachtet das Gesetz nicht mehr so sehr in seiner Finalität, sondern als aktuelle, durch Willensäußerung hervorgebrachte Regel.30 Damit nimmt er die Thesen auf, die schon Ockham formuliert hatte.31 Der Weg von Suarez scheint jedoch der zu sein, eine Kompatibilität des neuen Voluntarismus mit der vorher existierenden Auffassung und dem bestehenden System zu finden. Er gehört zu denen, die – wie bereits ausgeführt – ausschließen, dass eine lex iniusta bindend ist. Die juristische Definition von lex, die Suarez formuliert, schlägt in der Tat erneut jenen Mittelweg zwischen voluntas und ratio vor, der allgemein seine Auffassung der Rechtsordnung inspirierte.32

__________ 29

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana […], caput XIX Utrum acceptatio populi sit necessaria in lege civili ut perfecte constituatur et vim habeat obligandi. Vgl. Villey, Formation (Anm. 4), S. 355 ff.; Bastit, Naissance (Anm. 13), S. 307-359. 30 Migliorino, Francisco Suarez (Anm. 11), S. 1464, weist darauf hin, dass das Konzept der lex bei Suarez aus den folgenden Elementen besteht: „preminenza della volontà sulla ragione, carattere eminentemente imperativo della legge, distinzione tra sfera filosofica e sfera teologica, conseguente autonomia della politica anche nella sua condizione puramente naturale dalle finalità ultramondane che sono invece proprie della dimensione spirituale.“ Wie Todescan, Lex (Anm. 5), S. 85 f., erklärt, ist das Gesetz für Thomas von Aquin „rationi ordinatio ad bonum comune“; hier wird somit der Zusammenhang ratio-voluntas zugunsten der ersteren aufgelöst; in der lex spiegelte sich die typisch mittelalterliche Rechtsauffassung, derzufolge „era lo Stato che esisteva in funzione del diritto, e il suo compito fondamentale, la sua effettiva giustificazione, consistevano nella tutela di un ordinamento, quello giuridico, che nella sua stessa origine metafisica, la legge naturale, si poneva rispetto ad esso come del tutto indipendente.“ Vgl. auch Villey, Formation (Anm. 4), S. 358. 31

Suarez ist nicht der einzige. Man denke auch an Fernando Vazquez de Menchaca. Vgl. Fassò, Filosofia (Anm. 5), S. 86. Zu dem Wendepunkt, der durch die Lehre von Ockham im Spätmittelalter gekennzeichnet ist, vgl. Miethke, Ai confini del potere (Anm. 7), S. 277 ff.; Roberto Lambertini, La povertà pensata, Modena 2000, S. 189 ff. 32 Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana […], caput XX Utrum intentio legislatoris, seu ratio legis sit intrinseca forma eius, nn. 9-12; vgl. Meccarelli, Arbitrium (Anm. 21), S. 47-51.

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Dies stellt man auch fest, wenn man das Profil der interpretatio legis, und insbesondere seine Theorie der authentischen Interpretation betrachtet, die als Interpretationsform dargestellt wird, die „sit auctoritate illius qui potest legem condere“.33 Wie wir wissen, dient die Einführung des Begriffs der authentischen Interpretation in Bezug auf den Rechtsanwendungsprozess dazu, den Parameter der politischen Autorität an Stelle der wissenschaftlichen Maßgeblichkeit durchzusetzen (die hingegen im ius commune üblich ist). Dennoch ist bei Suarez ein solcher Ansatz nicht festzustellen. Der Begriff der authentischen Interpretation ist hier in der Tat noch frei von jener anti-jurisprudenziellen Prägung, die daraus ein echtes Mittel zum Bruch mit der Tradition der interpretatio gemacht hätte. Suarez erklärt nämlich, dass die interpretatio authentica nicht in einer „nuda declaratio sensus prioris legis“ besteht. Es handelt sich vielmehr um einen Eingriff, der „mutatio etiam aliqua, vel addendo, vel minuendo“ auslöst. Mehr als eine autoritäre Klarstellung des Gesetzes ist sie ein Instrument, das dem princeps zur Verfügung steht, um das Gesetz „ad commune bonum“ zu aktualisieren.34 Bedeutsam ist die Spezifizierung, dass die authentische Interpretation „vel ab ipsomet legislatore, vel successore, vel superiorem iurisdictionem habente“ ausgeübt werden kann; der funktionale Charakter der authentischen Interpretation besteht in der Tat eher in einer Fähigkeit, „interpretari sensum, in quo lex recipienda est, et observanda“, als darin, die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers zu klären.35

__________ 33

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. VI De interpretatione cessatione et mutatione humanarum legum, caput I De ratione recte interpretandi legem humanam quoad legitimum sensum eius, n. 1. Zur interpretatio legis bei Suarez siehe auch Robert Schnepf, Francisco Suarez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation, in: Grunert/Seelmann (Hg.), Ordnung (Anm. 3), S. 91-99 und 105 f.; in demselben Band Ernesto Garzon Valdés, Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung. Einige Thesen von Francisco Suarez, S. 118 f. 34

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. VI De interpretatione cessatione et mutatione humanarum legum, caput I De ratione recte interpretandi legem humanam quoad legitimum sensum eius, n. 3. Vgl. Meccarelli, Arbitrium (Anm. 21), S. 48 f. 35

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. VI De interpretatione cessatione et mutatione humanarum legum, caput I De ratione recte interpretandi legem humanam quoad legitimum sensum eius, n. 2. Im Übrigen, erklärt er, „lex non procedit a persona, nisi habente potestatem, et lex semper pendet ab eadem potestate, in quacumque persona sit; ergo qui in eadem potestatem succedit sempre potest praedecessorum leges interpretari.“

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E s handelt sich somit nicht um ein Instrument der Rechtssicherheit, sondern der Rechtsangemessenheit. Dies ist ein Konzept, das letzten Endes noch auf der Prägung und Bedeutung der interpretatio (im Sinne des von den Juristen des ius commune entwickelten Begriffes) beruht. Suarez scheint sich mit der interpretatio authentica nicht von dem rechtswissenschaftlichen Ansatz lösen zu wollen, der in jener Zeit die Rechtschaffung charakterisiert; vielmehr handelt es sich bei ihm um einen – vielleicht etwas naiven – Versuch, den Schwerpunkt des jurisprudenziellen Mechanismus zu verlagern, ohne dessen Bruch vollziehen zu wollen. Im Übrigen bleiben bei Suarez auch die typischen Eigenschaften der interpretatio im Sinne des ius commune bestehen. Er würdigt beispielsweise die interpretatio ex usu desumpta und weist auf die „assertio communis Doctorum“ hin, dass „consuetudinem esse optimam legum interpretem“.36 Außerdem hebt er die interpretatio doctrinalis hervor, die „magnam inducit probabilitatem.“37 Noch bedeutungsvoller ist das Festhalten an der Verbindung zwischen interpretatio und rationabilitas legum. Diese Voraussetzung, sagt Suarez unter Berufung auf Panormitanus, legitimiert restriktive Auslegungen der Norm – „secundum rationem naturalem etiamsi non sit in lege expressa“ –, die dort erfolgen können und müssen, wo es möglich ist, Ungerechtigkeiten „seu aliam absurditatem in ipsa lege“ zu vermeiden.38 Diese Öffnung erscheint sehr bedeutsam, wenn man berücksichtigt, dass in diesen Jahrhunderten die Normen eine ‚angemessene‘ Auslegung erforderten, da sie technisch frei von Merk-

__________ 36

Ebd., n. 4.

37

Ebd., n. 6. Somit erscheint Suarez nicht sehr weit entfernt von den im ius commune vertretenen Meinungen, die dem Richter als exsecutor legis die Aufgabe der Konkretisierung der „effectum legis“, d.h. den „finem iuris ad quem fuit statutum“ zuerkennen (Mastrillo, De magistratibus [Anm. 23], lib. I, cap. I, n. 16); und die die Figur des Richters charakterisieren durch die administratio iustitiae als Suche nach der substantiellen Gerechtigkeit (ebd., lib. II, cap. III, n. 8 ff.). 38

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. VI De interpretatione cessatione et mutatione humanarum legum, caput V Quando et quomodo possit lex per interpretationem restringi, n. 3. „La ragione si dice anima della legge e il legislatore si deve supporre una persona molto savia e ragionevole“, schrieb De Luca, Il dottor volgare (Anm. 26), Proemio cap. VII Del modo di osservare, praticare e interpretare le leggi, n. 9; daher muss man im Zweifelsfall „sempre abbracciare quell’interpretazione, o opinione, che più si adatti alla ragione naturale.“ Im Falle von Gesetzen mit fraglicher Bedeutung erläutert ebenfalls ders., Il principe cristiano pratico, Roma, 1680, cap. XVI, n. 12, „l’interpretazione non si deve regolare dal rigore della lettera, e dalla significazione grammaticale delle parole; ma principalmente dalla ragione.“

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malen der Allgemeinverbindlichkeit und Abstraktheit waren und nicht systematisch koordiniert wurden. All dies zeigt, wie diese Aufwertung des Gesetzes als Instrument zur Rechtsmodernisierung nicht zu einer Reduzierung des ius im Gesetz führt. Auch unter diesem Aspekt hat der Fortbestand des ‚alten‘ Systems noch Vorrang vor den Projektionen auf das ‚Neue‘. Anders gesagt, werden die Manifestationen des ‚Neuen‘ in diesen theoretischen Arbeiten allesamt von ‚alten‘ Rechtsinstrumenten geleitet.

II. Iurisdictio Zu ähnlichen Ergebnissen kommen wir, wenn wir die juristische Form der politischen Macht betrachten. In der Lehre von Thomas von Aquin kommt die Autorität von Gott, nach dessen Willen sich jede politische Gruppierung organisieren sollte, ohne im Voraus das Modell festzulegen: Der populus ist Mittler seiner Autorität und der Monarch, das Subjekt, das diese Autorität vom Volk erhalten hat, übt eine Führungsfunktion ad bonum commune aus, um die Güter zu verteilen und das Recht zu bestimmen.39 Die reale konkrete Machtkonstellation konfiguriert sich im Grunde genommen ausgehend von der historisch gegebenen natürlichen Ordnung. Dies ist auch bei den spanischen Scholastikern die Basis der Verfassungsordnung. Im Hinblick auf die juristischen Instrumente liefert das ius commune ein Schlüsselkonzept: die iurisdictio.  Iurisdictio ist in der Tat zweckmäßig für dieses neue Szenario, unabhängig davon, welche Auffassung den einzelnen Scholastiker bei der Entwicklung des Modernisierungsansatzes leitet. Einerseits sichert sie die Möglichkeit, die Organisation der politischen Mächte ausgehend von der historisch gegebenen Ordnung durchzuführen; andererseits ermöglicht sie es, Gebilde zu formen, die Homogenisierungstendenzen des bestehenden politischen Pluralismus in der Perspektive eines Gerichtsbarkeitsstaates fördern können,40 das heißt, eines __________ 39

Villey, Formation (Anm. 4), S. 334; Miethke, Ai confini del potere (Anm. 7), S. 39-

43. 40 Zum Begriff „Gerichtsbarkeitsstaat“ siehe Maurizio Fioravanti, Stato e costituzione, in: ders. (Hg.), Lo stato moderno in Europa. Istituzioni e diritto, Roma-Bari 2002, S. 3-14, 21-25; Mannori/Sordi, Storia (Anm. 19), S. 36 ff.; zur Komplexität der materiellen Verfassung im Entstehungsprozess der Staatsform in der Neuzeit vgl. u. a. Bartolomé Clavero, Iurisdictio nello specchio. O el silencio de Pietro Costa, in: Pietro Costa, Iurisdictio. Semantica del potere, (Mailand 1969), Reprint Mailand 2002, S. XXXII; Stolleis, Konfessionalisierung (Anm. 11), S. 12 ff.; Anton Maria Hespanha,

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Staates mit einem hegemonialen Oberhaupt, das seine Legitimation auf die Fähigkeit stützt, das Gleichgewicht und die Aufrechterhaltung eines Netzes von untereinander relativ autonomen untergeordneten Mächten zu garantieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass es sich nicht um eine exklusive Eigenschaft der Spätscholastik handelt. Eine Haltung, die geneigt ist, die Modernität der Verfassungsordnung mit Hilfe, oder jedenfalls ausgehend von den ständischen Dynamiken und der (noch in der Neuzeit) pluralistischen sozio-politischen Ordnung zu errichten, ohne auf die Perspektive der staatlichen Souveränität in dem von Bodin präzisierten Sinn (s. u.) einzugehen, findet sich auch bei anderen besonders charakteristischen Figuren des Modernisierungsprozesses.41 Im Übrigen wurde bereits auf die Vielfalt der Übereinstimmungen bei den bekanntesten Juristen der protestantischen Welt und der Spätscholastik hingewiesen.42 Versuchen wir nun zu beschreiben, wie dieses Konzept bei den Spätscholastikern Anwendung findet. __________ Représentation dogmatique et projets de pouvoir. Les outils conceptuels des juristes du ius commune dans le domaine de l’administration, in: Erk Volkmar Heyen (Hg.), Wirtschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, Frankfurt am Main 1984, S. 22-28. 41 Man denke an Althusius; vgl. Costa, Civitas (Anm. 9), S. 88-94; Hasso Hofmann, Rappresentanza – Rappresentazione. Parola e concetto dall’antichità all’Ottocento, Mailand 2007 (ursprünglicher Titel: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 42003) S. 435-454; Diego Quaglioni, Majestas (jura majestatis), in: Francesco Ingravalle/Corrado Malandrino (Hg.), Il lessico della Politica di Johannes Althusius, Florenz 2005, S. 221-229, und in demselben Band Angelo Torre, Universitas (Losaeus), S. 339-360; Lucia Bianchin, Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna, Bologna 2005, S. 30-37 u. 280-292, bes. 280-283; Giuseppe Duso, Una prima esposizione del pensiero di Althusius: la dottrina del patto e la costituzione del regno, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 25 (1996), S. 65-126; Corrado Malandrino, Il Syndakat di Johannes Althusius e Emden. La ricerca, in: Il pensiero politico 28 (1995), S. 370-383; Karl-Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988; Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979, S. 19 ff.; Peter Jochen Winters, Die „Politik“ des Johannes Athusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963, S. 170-266; Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Aalen 51958, S. 56 ff. Hinsichtlich des Ansatzes von Melanchthon vgl. Deflers, Lex (Anm. 14), S. 184-222, bes. S. 211 f. 42

Vgl. u. a. Galli, Introduzione (Anm. 12), S. VIII; van Nifterik, Fernando Vazquez (Anm. 13), S. 347-370; Prodi, Storia (Anm. 3), S. 361 f.; Felix Hafner/Adrian Loretan/Christoph Spenlé, Naturrecht und Menschenrecht: Der Beitrag der spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte, in: Grunert/Seelmann (Hg.),

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Iurisdictio quid sit Beginnen wir mit der Definition. Hier liegen die Auffassungen vollkommen auf einer Linie mit der mittelalterlichen Tradition. Molina entwickelt seinen Gedankengang ausgehend von der Formulierung des ius commune, dass „iurisdictio est potestas de iure publico introducta, cum necessitate iurisdicendi, aequitatisque statuendae.“ Aber er ergänzt dieses Prinzip, indem er unterstreicht, dass die iurisdictio „non solum iudicium, ferreque sententiam in subditos, sed etiam leges illis condere, praecepta alia eis iniungere, ministros publicos illis creare“ beinhaltet.43 Auf dieser Linie argumentiert auch Francisco Suarez, wenn er erklärt, dass iurisdictio normalerweise als potestas dominativa politica seu gubernativa und nur in eingeschränktem Sinne als reine potestas iudicandi, zu betrachten ist,44 oder wenn er erklärt, dass „ad ferendas leges necessariam esse potestatem iurisdictionis.“45 __________ Ordnung (Anm. 3), S. 145; Hofmann, Rappresentanza (Anm. 41), S. 433; Birocchi, Causa (Anm. 9), S. 203 f.; Costa, Civitas (Anm. 9), S. 158; Brett, Liberty (Anm. 7), S. 165 und 205-210; Hespanha, Introduzione (Anm. 7), S. 180; Tomas y Valiente, Génesis (Anm. 24), S. 32; Cappellini, Formazione (Anm. 12), S. 337 ff.; Robert Feenstra, Der Eigentumsbegriff bei Hugo Grotius im Licht einiger mittelalterlicher und spätscholastischer Quellen, in: Okko Behrends et al. (Hg.), Festschrift für Franz Wieacker zum 70. Geburtstag, Göttingen 1978, S. 209-234; Robert Feenstra, L’influence de la Scolastique espagnole sur Grotius en droit privé: quelques expériences dans des questions de fonde et de forme, concernant notamment les doctrines de l’erreur et de l’enrichissement sans cause, in: Grossi (Hg.), Scolastica (Anm. 2), S. 377-401; vgl. auch Hans Thieme, Qu’est ce-que nous devons à la Seconde Scolastique espagnole?, ebd., S. 7-21, Franz Wieacker, Contractus und Obligatio im Naturrecht zwischen Spätscholastik und Aufklärung, ebd., S. 223-239; Todescan, Radici teologiche (Anm. 11), S. 9-18; Winters, Politik (Anm. 41), S. 61-78; Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Karlsruhe 1955. 43

Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisidictione, disputatio 2 Iurisdictio quid, nn. 1-4: Daher, kurz gefasst, „iurisdictio est id, a quo publicae potestates formaliter habent, ut publicae potestates sint“ [n. 1]. 44

Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana […], caput I Utrum sit in hominibus potestas ad leges ferendas, n. 10: „adverto iurisdictionem adaequate et proprie sumptam significare potestatem dominativam politicam seu gubernativam […] Et in hac significatione iurisdictio intrinsece includitur in imperio politico ne tyrannicum sit. […]. Aliquando vero iurisdictio sumitur stricte iuxta nominis etymologiam pro mera potestate judicandi.“ 45 Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. I De natura legis in communi, cap. VIII Utrum sit de ratione legis, ut publica potestate feratur, n. 6. Er zitiert eine breite Basis der kanonistischen und zivilrechtlichen Lehre. Bedeutsam ist auch die von ihm

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Wie man sieht, wird die Kategorie der iurisdictio angewendet, um der (neuen) legislativen Gewalt eine verfasungsmäßige Grundlage zu verschaffen. Der Schwerpunkt des juristischen Definitionsmodells der politischen Macht ist durchweg jurisprudenziell. Vom Rechtsstandpunkt aus gesehen, besteht die politische Macht, auch wenn sie sich als condere legem äußert, im ius dicere und im statuere aequitatem. Sie machen sich somit die im Begriff der iurisdictio immanente Bedeutung zu eigen, die man in drei Punkten zusammenfassen kann.46 1. Iurisdictio legitimiert Mächte, die Garanten einer vorher existierenden und vorausgesetzten Rechtsordnung sind. Sie begründen nicht die Rechtsordnung, sondern sichern deren Existenz und ihr korrektes Funktionieren ab. Unter diesem Aspekt sind sie stets abgeleitet. 2. Das Konzept der iurisdictio beinhaltet die Macht im Allgemeinen, nicht nur die Judikative. Hier finden wir jene andauernde Osmose zwischen Verwaltung und Justiz wieder, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Entwicklung des neuen Organisationsmodelles zur Definition des Verhältnisses zwischen Politik und Recht begleitet. 3. Schließlich der dritte Punkt: Iurisdictio ist ein symbiotisches Konzept. Sie kennzeichnet eine Synthese von Regierungsmächten und legt nicht einzelne Umsetzungsdynamiken fest, d.h., um mit Costa zu sprechen, „iurisdictio, come tale, non svolge nessuna funzione significante“.47Sie betrifft sämtliche Modalitäten der Manifestation und Ausübung von Macht, muss sich jedoch mit anderen systematischen Ansätzen verbinden, um sich zu konkretisieren.48

__________ illustrierte ratio: „legislatio est potissimus actus quo respublica gubernatur, ideoque propter eius commune commodum ferri debet, ut vidimus, ergo per se spectat ad potestatem gubernativam reipublicae, ad quam pertinet eius commune bonum procurare: haec autem est potestas iurisdictionis.“ 46 Vgl. Costa, Iurisdictio (Anm. 40), S. 123; ders., Civitas (Anm. 9), S. 29 ff.; Hespanha, Représentation (Anm. 40), S. 3-28; Grossi, L’ordine (Anm. 7), S. 131 ff.; Jesus Vallejo, Ruda aequidad ley consumada. Conceptión de la potestad normativa (1250-1350), Madrid 1992; Mannori/Sordi, Storia (Anm. 19), S. 37-39; Clavero, Iurisdictio (Anm. 40), S. XXXV ff.; Carlotta Latini, Rex sub lege. Contrattualismo e voluntas del re medievale nelle percezioni di Walter Ullmann, in: Teoria del diritto e dello stato. Rivista europea di cultura e scienza giuridica 3 (2005), S. 557-569. 47 48

Costa, Iurisdictio (Anm. 40), S. 123.

Z. B. wird iurisdictio an Ordnungskriterien geknüpft, die den Inhalt des Kräfteverhältnisses zwischen den Mächten kennzeichnen; dies ist der Fall beim arbitrium. Vgl. Meccarelli, Arbitrium (Anm. 21), S. 133 f.

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Diese Charakteristika finden wir auch in dem von den Scholastikern angewendeten Konzept der iurisdictio. 2. Qui possunt creare magistratus Bestätigungen dieses Zusammenhanges zwischen der spätscholastischen Lehre der iurisdictio und dem ius commune entdecken wir auch, wenn wir nun das Thema vom Gesichtspunkt der Amtsinhaberschaft und der Modalitäten ihrer Zuerkennung betrachten. Offensichtlich gibt es ein Bewusstsein der Führungsrolle, die der rex hodie einnimmt. Das geht so weit, in ihm die Quelle aller anderen im eigenen Königreich gültigen iurisdictiones anzuerkennen. Dennoch bleibt der Ursprung dieser Macht (wie bereits angesprochen) abgeleitet.49 Das Thema der Amtsinhaberschaft verlagert sich somit schnell auf die etwas andere Ebene der Erwerbsmodalitäten. Sicherlich ist der princeps der Protagonist der Schaffung von iurisdictiones, aber er besitzt nicht das Monopol.50 Des Weiteren werden die Quellen der Zuerkennung der Gerichtsbarkeit auch objektiv bezeichnet: lex, aber auch consuetudo51 und praescriptio52. __________ 49 Die oberste potestas iurisdictionis, erklärt Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. I De natura legis in communi, cap. VIII Utrum sit de ratione legis, ut publica potestate feratur, n. 8, „per essentiam in Deo est; communicatur autem regibus per quandam participationem.“ Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 3 Quanta iurisdictio sit in potestatibus laicis, maxime supremis, n. 2, stellt zudem fest, dass die Macht im Falle der Vakanz zur respublica zurückkehrt; diese kann also entscheiden, einen neuen rex mit den Befugnissen, die sie für angemessen hält, einzusetzen: „si tamen casu ita regnum vacaret, ut nullus omnino superstes esset, qui ius ea via ad regnum haberet, tunc totum ius et administratio reipublicae devolveretur ad ipsam rempublicam, ut erat antequam sibi moderatorem constitueret, ac proinde integrum tunc ipsi esset, vel constituere sibi de novo Regem, quem vellet, legibusque, quibus vellet, eum astringere, arctando ac minuendo illi iurisdictionem, vel eligere sibi quodvis aliud regiminis genus vellet.“ Molina verweist dann auf Covarruvias und communiter auf die anderen doctores. Auch Vazquez de Menchaca, Controversiae usu frequentium (Anm. 24), lib. I, cap. 1, n. 3, spricht von Übertragung von iurisdictio durch den populus auf den princeps. Vgl. Brett, Liberty (Anm. 7), S. 171 f.; van Nifterik, Fernando Vazquez (Anm. 13), S. 352-360; Deckers, Gerechtigkeit (Anm. 12), S. 294-341; Tomas y Valiente, Génesis (Anm. 24), S. 31 f. 50 Vgl. Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 12 De iudicibus constituitis a dominis infra Regem diversorum suorum populorum num ordinarii sint, n. 1 f, disputatio 14 Iudices seu potestates delegatae quae sint, disputatio 15 Delegare, aut etiam subdelegare, quis possit, quis non item. Auch hierauf gibt das ius commune die direkte Antwort, vgl. Mastrillo, De magistratibus (Anm. 23), lib.I, cap. VI, n. 3 (allgemeiner cap. II, III, IV, VI, VII, X); Pacifico Giordani, Elucubrationum diversarum, quibus plerasque Episcopi munus spectantia […]

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Es existieren somit Bereiche von iurisdictio, die auf durch den princeps relativ unantastbaren Quellen beruhen; es gibt Subjekte, die mit relativer Autonomie die Teilung oder Parzellisierung der Macht verfolgen können. Im Übrigen weist Suarez selbst darauf hin, dass verschiedene Typologien von reges mit unterschiedlicher Macht auch im Hinblick auf die Schlüsselprofile existieren, wie zum Beispiel die potestas legislatoria, die nicht jeder König vollständig innehat.53 All dies zeigt, dass die Spätscholastik sich noch nicht im theoretischen Horizont der Souveränität bewegt. Wir sprechen hier vom Souveränitätsbegriff im engen Sinne, d.h. wie von Bodin dargestellt, als „puissance absolue et perpetuelle“,54 originär und exklusiv, losgelöst von dem natürlichen historischen Kontext, der seine Legitimität bestimmt. So gesehen bedeutet Souveräni-

__________ diligenter explicatur, Venetiis, 1673, 17, lib.XIII, tit. III De iurisdictione ordinaria, n. 2; Sebastiano Vanti, Tractatus de nullitatibus processum ac sententiarum, in Tractatus universi iuris, Venetiis, 1584, to. IV, rub. De nullitate ex defectu iurisdictionis, n. 31. 51

Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 14 Iudices seu potestates delegatae quae sint, n. 2. Vgl. Gerolamo Del Monte, De finibus regundis, in Tractatus universi iuris, Venetiis, 1584, to. III, pars II, cap. LXI n.4; Vanti, Tractatus de nullitatibus (Anm. 50), rub. De nullitate ex defectu iurisdictionis, n. 31; Giovanni Bertacchini, Repertorium, Venetiis, Apud Nicolaum Bevilaquam et socios, 1570, v. Iurisdictio; Mastrillo, De magistratibus (Anm. 23), lib. I, cap. XVI, n. 29; Marco Antonio Pellegrini, De privilegibus et iuribus fisci, Venetiis, 1626, lib. I, tit. 2 De iis qui iura fiscalia habent, n. 79. 52

Diego Covarruvias, In Caput Quamvis pactum de pactis Relectio, in: Opera omnia, Venetiis, 1581, to. I, § Tertius, n. 1; Bertacchini, Repertorium (Anm. 51), v. Iurisdictio. 53 Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana [...], cap. XIX Utrum acceptatio populi sit necessaria in lege civili ut perfecte constituatur et vim habeat obligandi, n. 6, erwähnt es im Hinblick auf das Königreich von Aragonien; „ibi supremus legislator non est solus Rex, sed Rex cum regno.“ 54

Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris, Du Puis, 1583, Reprint Aalen 1977, S. 122. Vgl. Janine Chanteur, La loi naturelle et la souveraineté chez Jean Bodin, in: Théologie et droit dans la science politique de l’état moderne, Rom 1991, S. 283294; Costa, Civitas (Anm. 9), S. 69-73; Grossi, Modernità (Anm. 7), S. 27-36; Diego Quaglioni, I limiti della sovranità. Il pensiero di Jean Bodin nella cultura politica e giuridica dell’età moderna, Padova 1992; ders., La sovranità, Roma-Bari 2004, S. 50-53; Michael Stolleis, Staat und Staatsräson. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, bes. S. 172-188; Thomas Berns, Souveraineté, droit et gouvernementalité. Lectures du politique moderne à partir de Bodin, Paris 2005, bes. S. 79-84.

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tät eine Diskontinuität in der Wahrnehmung der Verfassungsordnung, die sich in der Spätscholastik nicht wieder findet.55

3. Die hierarchische Zusammensetzung Die gerade formulierten Gedanken sollten uns nicht zu der Annahme verleiten, dass in der Spätscholastik neue Elemente hinsichtlich der Wahrnehmung von öffentlicher Macht und Politik fehlen.56 Mit Sicherheit handelt es sich nicht um ein ‚verlängertes Mittelalter‘. Die Scholastiker nehmen die unterschiedliche Phase in der Rechtserfahrung wahr und möchten deren Protagonisten sein. Als resistent erweisen sich vor allem die epistemologischen Ansätze.57 Im Übrigen war in soziologischer (oder geopolitischer) Hinsicht die Realität, mit der sich die Theoretiker auseinandersetzten, ein „Konglomerat von Subjekten“, versammelt um den König, vereint durch eine Vielzahl von Abhängigkeiten,58 die für die Legitimierung und Konservierung des Gleichgewichts der Mächte unabdingbar waren. Um die internen Machtverhältnisse in einem unter der Hegemonie eines Königs stehenden Territorium zu stützen, eignete sich die iurisdictio sehr gut. __________ 55 Costa, Civitas (Anm. 9), S. 112, bemerkt: „Quando la più spregiudicata cultura dell’assolutismo faceva ormai prevalere il principio della sovranità, la Seconda Scolastica si manteneva fedele alla tradizione esprimendo con grande chiarezza la logica costitutiva.“ 56

Vgl. Prodi, Concilio (Anm. 3), S. 17 f.

57 Vgl. in diesem Sinne Grossi, Proprietà (Anm. 13), S. 118 ff. Auch Migliorino, Francisco Suarez (Anm. 11), S. 1455, verweist auf das Risiko, zu „liquidare troppo in fretta i conti con le rotture epistemiche che si sono consumate da un sistema di pensiero all’altro.“ Im Übrigen handelt es sich hier um ein Phänomen, das sich auch in anderen Laboratorien der Moderne findet, die sogar stärker auf die Wende des Souveränitätsstaates ausgerichtet sind. Man denke an das Frankreich von Bodin und Montaigne, wie Grossi, Modernità (Anm. 7), S. 29-39 hervorgehoben hat; vgl. auch ders., Giustizia e diritto tra medioevo ed età moderna, in: Filosofia politica 15 (2001), S. 55 f. Quaglioni, Assolutismo laico (Anm. 11), S. 105-106, unterstreicht bezüglich der ‚weltlichen‘ Modernität von Montaigne, den „rapporto in gran parte ambiguo che teorici cinquecenteschi (tutti!) conservano con l’universo dottrinale ereditato da una plurisecolare esperienza“, in dem Sinne, dass „non tutti i fili che collegano l’esperienza dell’assolutismo laico all’esperienza di un’età morente s[ono] così bruscamente recisi“. 58

Vgl. Mannori/Sordi, Storia (Anm. 19), S. 18. Die zeitgenössischen Juristen selbst sind sich dessen sehr wohl bewusst. Vgl. z. B. De Luca, Il dottor volgare (Anm. 26), lib. III Della giurisdizione, parte I, cap. I Donde nascano le difficoltà e le questioni di questa materia che si sia resa tanto difficile e intricata, nn. 1-2.

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Sie erforderte neben der Einheit im Pluralismus auch eine hierarchische Ordnung desselben. Die Anwendung von iurisdictio als Maßeinheit der Macht stellt kein Hindernis dar, die komplexe Artikulation der politischen Macht mit einem Monarchen zu vereinbaren.59 Auch in der Auffassung der Scholastiker scheint die seit dem Mittelalter bekannte organische Metapher des Körpers anwendbar. Deren Chiffre beruht auf der „idea di una necessaria diseguaglianza collaborativa fra gli elementi dell’insieme“, dies ist eine zur Idee der Ordnung komplementäre Logik.60 Die Würdigung des Pluralismus der Gerichtsbarkeit vor dem Hintergrund der Moderne ist im Übrigen eine Antwort auf die Theorien einer göttlichen Machtbasis des Monarchen.61 Das Neue gegenüber der Tradition ist nicht die Logik der Vertikalität an sich, sondern die Repräsentation der Spitze der Hierarchie (die, befreit von der Abhängigkeit einer externen Legitimation, originär und exklusiv ist).62 In der Spätscholastik dient das Hierarchiekriterium jedoch in Anlehnung an die Tradition vor allem zur Verteilung der Quantität, und nicht zur Unterscheidung __________ 59

Vgl. z. B. Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 8 Iudex latissime sumptus, ut comprehendit potestatem omnem, alius ordinarius, alius delegatus, et alius arbiter, n. 1, disputatio 3 Quanta iurisdictio sit in potestatibus laicis, maxime supremis, n. 2; Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. I De natura legis in communi, cap.VIII Utrum sit de ratione legis, ut publica potestate feratur, nn. 6-9; Diego Covarruvias, Practicae Quaestiones, in: Opera omnia, Venetiis, 1581, to.I, caput IV De summa Regis iurisdictione, n. 1. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang der von Mariana, De rege et regis institutione (Anm. 21), S. 23, verwendete Ausdruck: „regia maiestas quasi multitudinis custos“. Zur Unterstützung der Zunahme der geopolitischen Rolle der spanischen Monarchie durch die Spätscholastik vgl. Jesus Lalinde Abadia, Una ideologia para un sistema, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 8 (1979), S. 83 ff.; vgl. auch Braun, Juan de Mariana (Anm. 24); Prodi, Concilio (Anm. 3), S. 14 f. 60 Costa, Civitas (Anm. 9), S. 12 und ausführlicher 6-13 bzw. 65 f.; Hespanha, Introduzione (Anm. 7), S. 75 ff. 61 Accati, Volontà (Anm. 13), S. 626 f.; Migliorino, Francisco Suarez (Anm. 11), S. 1471 f. 62

Dies ist auch bei Bodin der Fall. Siehe Costa, Civitas (Anm. 9), S. 68-73. Die mittelalterliche Logik der Anwendung der Hierarchieordnung bedeutet in der Tat, wie er ebd., S. 9 erklärt, „evidenziare la pluralità degli enti e il regime delle loro differenze e nello stesso tempo disporre le parti in una catena disupremazie ed obbedienze, imprimere ad esse una dimensione ‚verticale‘.“ Dies dient der mittelalterlichen Rechtslehre dazu, „rafforzare, entro la gerarchia, l’autonomia delle parti.“ In der von Bodin aufgezeigten Perspektive hingegen wird die Hierarchie als „simbolo di legittimità“ zum „strumento di descrizione di un organismo politico-giuridico determinato“; sie dient dazu, die „effettiva dipendenza delle parti dal vertice“ zu ermöglichen [S. 72]. Vgl. Quaglioni, Sovranità (Anm. 54), S. 53-55.

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der Qualität.63 Die verschiedenen iurisdictiones verfügen, obwohl ihre Herkunft und Subordination gegenüber der obersten Gerichtsbarkeit klar ist, über einen Autonomierahmen; sie werden ex proprio munere „et non quasi alterius vices“ ausgeübt.64 Es ist nicht so, dass die Autoren der Spätscholastik sich nicht mit dem Problem einer Funktionalisierung der pluralistischen hierarchischen Ordnung an der einheitlichen Spitze (und somit einer Erstarkung der letzteren im Verhältnis zur ersteren), das zwischen 16. und 17. Jahrhundert verbreitet ist, auseinandersetzen. Es scheint jedoch, dass die Instrumente zur Erreichung dieses Ergebnisses andere sind. Insbesondere erscheint mir das Interesse für das Instrument der iurisdictio delegata von Bedeutung. Dieser Aspekt der Lehre der iurisdictio erweist sich als nützliche Ordnungskategorie in der Modernisierungsperspektive der zweiten Scholastik. Die Macht zu delegieren, stellt ein Vorrecht des princeps, iudex ordinarius und delegatus principis dar. Die delegati inferiorum haben diese Möglichkeit nicht, es sei denn, ihnen wurde ausdrücklich eine Macht der Sub-Delegation eingeräumt. Der Unterschied ist deutlich: der delegatus nutzt eine iurisdictio aliena; er besitzt nicht die proprietas der ihm übertragenen iurisdictio, nicht de iure suo, in der Tat kann der Delegierende zusätzlich zu der Macht, die Vollmacht zu widerrufen, diese im an und quantum modulieren.65 Der delegatus

__________ 63 Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana […], cap. I Utrum sit in hominibus potestas ad leges ferendas, n. 7, erklärt, dass die potestas superior eines magistratus einer communitas „est species cuiusdam dominii [...] est dominium jurisdictionis quale est in Principe seu Rege.“ Wie bereits oben erwähnt, ist für die gubernatio communitatis der einzige Typ von potestas die iurisdictio, dieselbe, die der König über sein Reich ausübt. 64 Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 8 Iudex latissime sumptus, ut comprehendit potestatem omnem, alius ordinarius, alius delegatus, et alius arbiter, n. 3: „Sunt vero potestates ordinariae, non sola suprema, a qua aliae derivantur, sed etiam quae a suprema derivantur; modo tamen ex proprio munere ad id creato ac constituito iurisdictionem excerceant, et non quasi nudas alterius vices, absque munere proprio gerentes.“ 65 Vgl. Jean Gillot, Tractatus de iurisdictione et imperio lib. II, cap. XXII, n. 1, in: Tractatus universi iuris, Venetiis, 1584, to. III, pars I; De Luca, Il dottor volgare (Anm. 26), lib. III Della giurisdizione, cap. II Della distinzione delle diverse specie di giurisdizione e d’imperio, n.11; Carlo Pellegrini, Praxis vicariorum, Romae, 1666, pars II, praemissum III De tribus personis ad iudicii substantiam requisitis, et primo de iudice, n. 20; Giordani, Elucubrationum diversarum (Anm. 50), lib. XIII, tit. VI De iudice delegato, nn. 5-11; Giovanni Grassi, Arbor iurisdictionum, Primum principale, n. 10, in: Tractatus universi iuris, Venetiis, 1584, to. III, pars I. Vgl. Hespanha,

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unterscheidet sich somit vom ordinarius gerade durch die Abhängigkeit, die ihn hinsichtlich der Herkunft der eigenen Macht bindet; er erreicht mit der iurisdictio nicht jene originäre Autonomie, die zum letzteren Typus gehört. Wenn man einen ‚qualitativen‘ Unterschied im Pluralismus der Mächte hervorheben wollte, könnte man diesen gerade in der Abgrenzung zwischen delegiertem und ordentlichem Richter identifizieren. Davon sind Spuren auch in den Abhandlungen unserer Scholastiker zu finden.66 Die iurisdictio delegata ermöglicht die Schaffung von Apparaten, die Macht verteilen, indem sie deren spezifische Funktionen unterscheiden. Die delegatio scheint eine vertikale und effektiv hierarchische Artikulierung der iurisdictio zu fördern.67 Damit schafft sie die Voraussetzungen für die Überwindung des traditionellen Systems der iurisdictio hin zu einem monistischen Modell der Machtorganisation.

C. Die Neudefinition der Autonomie des Rechts Ich werde nun versuchen, einige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Frage des Verhältnisses zwischen religiöser Konfession und juristischer Transformation kann man unter Bezugnahme auf verschiedene theoretische Argumentationsebenen beantworten. Ich habe versucht, die Ebene des instrumentellen Charakters der juristischen Dimension für das Projekt der theologischen Umgestaltung der Gesellschaft zu erfassen. Aus dieser historisch-juristischen Perspektive wird bestätigt, dass ein strategisches Profil des neuen, von der Spätscholastik untersuchten Rechtsformates die Neudefinition des Verhältnisses zwischen politischer Macht und Recht ist; dies im Einklang mit der Strategie der römischen Kirche, sich mit „forme ed espressioni tipiche dello Stato moderno“ auszustatten.68 Aber es ist __________ Représentation (Anm. 40), S. 19-21; Vallejo, Ruda aequidad (Anm. 46), S. 52-70; Meccarelli, Arbitrium (Anm. 21), S. 138-146. 66 Vgl. Molina, Tractatus de iustitia et iure (Anm. 18), Tractatus V De iurisdictione, disputatio 8 Iudex latissime sumptus, ut comprehendit potestatem omnem, alius ordinarius, alius delegatus, et alius arbiter, n. 1, disputatio 14 Iudices seu potestates delegatae quae sint, disputatio 15 Delegare, etiam subdelegare, quis possit, quis non item; Suarez, Tractatus de legibus (Anm. 17), lib. III De lege positiva humana […], cap. IV Corollaria ex superiori doctrina, nn. 9-12. 67

Vgl. Meccarelli, Arbitrium (Anm. 21), S. 137; Hespanha, Représentation (Anm. 40), S. 21. 68

Prodi, Storia (Anm. 3), S. 270.

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ebenso klar, dass eine solche staatliche Perspektive sich nicht durch Erneuerung des konzeptionellen Horizonts bildet (z. B. Souveränität, funktionale Unterscheidung zwischen Verwaltungsakt, Gesetz und Urteil), der eine Alternative zu der gewohnten epistemologischen Dimension darstellt. Es ist eine andere Modernität, welche die Spätscholastik realisieren möchte. Sie vollzieht sich im Kontext einer Kirche, die eine Wiedererlangung der Einheit des Glaubens anstrebt, durch die sie in der Lage ist, die Kontrolle der kulturellen Entwicklung und der dominierenden Denkmodelle zurückzuerobern; dies unter Berücksichtigung eines geopolitischen Horizonts, der – auch in der Moderne – weiterhin universal bleibt; sie schaut nicht nur auf das durch die protestantische Reform veränderte europäische Binnenland, sondern auch darüber hinaus, auf die neuen außereuropäischen Welten, in denen die Christianisierung (und Eroberung) vollendet werden sollen.69 In dieser Hinsicht erscheint mir, dass der innovative Faktor – auch wenn es banal klingen mag – in der Tatsache liegt, dass die Theologen Werke über Recht schreiben. Dies fügt sich in das Bild einer neuen Zentralität der Theologie, die sich als Wissenschaft begreift, die Lösungsschlüssel für Probleme verschiedener Gebiete (ökonomische, politische, juristische, soziale) bereithält.70 __________ 69 Vgl. Adriano Prosperi, Intellettuali e Chiesa all’inizio dell’età moderna, in: Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia. Annali 4: Intellettuali e potere, Turin 1981, S. 159-252 und bes. 165-167 bzw. 219-221. Nicht zufällig hebt Prodi, Storia (Anm. 3), S. 270, hervor, dass sich unter den Charakteristika der Staatlichkeit in der neuen Kirchenordnung nach dem Konzil von Trient nicht die Territorialität wiederfindet. Mit spezifischerem Bezug auf die Spätscholastik: Lalinde Abadia, Ideologia (Anm. 59), S. 61-156; Pereña Vicente, La escuela de Salamanca y la duda indiana, in: Demetrio Ramos (Hg.), La etica en la conquista de America, Madrid 1984; Andrea A. Cassi, Ius commune tra vecchio e nuovo mondo. Mari, terre, oro nel diritto della conquista (14921680), Mailand 2004, S. 26-33; Italo Birocchi, La formazione dei diritti patrî nell’Europa moderna tra politica dei sovrani e pensiero giuspolitico, prassi ed insegnamento, in: Birocchi/Mattone (Hg.), Diritto patrio (Anm. 19), S. 41 f. 70

Vgl. José Barrientos Garcia, Los tratados „De legibus“ y „De iustitia et iure“ y la escuela de Salamanca de los siglos XVI y XVII, in: Salamanca, revista de estudios, Monografico: Salamanca y los juristas 47 (2001), S. 373. Wie Prodi, Storia (Anm. 3), S. 340, erläutert, muss die Theologie in der Vorstellung der Autoren von Tractatus de iustitia et iure in der Spätscholastik „enucleare i principi ispiratori della condotta umana, così come avviene per la filosofia, di modo che su questa base possa essere razionalmente costruito l’edificio del diritto in rapporto alla ragione naturale, alla Scrittura, alla filosofia, alla storia umana.“ Vgl. auch Birocchi, Alla ricerca (Anm. 3), S. 277; Juan Belda Plans, La Escuela de Salamanca y la renovación de la teologia en el siglo 16, Madrid 2000; Galli, Introduzione (Anm. 12), S. VI. Zum Ende der

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Was unser Erkenntnisobjekt betrifft, liegt somit sicherlich eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Theologie und Recht vor. Der Prozess der Einbeziehung der Rechtsphänomenologie in die Theologie, als Objekt einer wissenschaftlichen Überlegung, scheint jedoch nicht die Autonomie des Rechts – im Sinne des typischen rechtswissenschaftlichen Entstehungsprozesses des ius commune – in Frage zu stellen.71 Die beiden analysierten Begriffe, bestätigen in zweierlei Hinsicht diese Schlussfolgerung: In der Theorie der lex haben wir gesehen, wie zentral die Rechtsauslegung im Sinne der interpretatio noch ist. In der Theorie der iurisdictio haben wir gesehen, wie sehr die Rechtslehre als Instrument dient, die neuen theologisch-politischen Architekturen, die man in der modernen Ordnung schaffen wollte, realisierbar zu machen. Die Modernisierung ist unter diesem Aspekt vor allem ein Ergebnis, das mit den von der Rechtswissenschaft formulierten Theorien erzielt wurde. Dies zeigt, dass die Rechtsdimension noch einen zentralen Platz unter den Regeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung behält, wenn auch in einem veränderten Wertesystem. In diesem Sinne möchte ich sagen, dass die Modernität von der Spätscholastik eher als Rechtsformat72 denn als politisches Format verstanden wird. Die (neuen) Ansätze zur Begründung der Ordnung, die aus der theologischen Reflexion der Spätscholastik hervorgehen, implizieren eine instrumentelle Kooperation mit der existierenden Rechtswissenschaft, um sich __________ Unabhängigkeit des juristischen Denkens als Moment der Entstehung der Moderne vgl. Quaglioni, Giustizia (Anm. 7), S. 93 ff. 71 Auch Cavanna, Storia (Anm. 5), S. 280, vertritt die Ansicht, dass in der Entstehung der neuen „visione cattolica del mondo“, die durch die Spätscholastik entstanden ist, jene „relativa autonomia della scienza del diritto, in quanto disciplina che possiede un proprio statuto, cioè un proprio linguaggio fatto di tecniche e di concetti tanto plastici nell’uso quanto lungamente elaborati e patrimonio di una tradizione che funge anche da mediazione rispetto ai fenomeni sociali e politici che il diritto è chiamato a regolare“ fortbesteht. Vgl. Villey, Formation (Anm. 4), S. 332 f.; Giovanni Ambrosetti, Diritto privato ed economia nella Seconda Scolastica, in: Grossi (Hg.), Scolastica (Anm. 2), S. 52. 72 Grossi, Proprietà (Anm. 13), S. 117 f., hat hervorgehoben, dass „anche per quei singolari operatori culturali che sono i teologi della Seconda Scolastica l’unico modo di far scienza è quello che passa attraverso i canali obbligati della conoscenza giuridica; anche per essi […] l’aproccio prevalente per l’analisi della realtà sociale è quello che fa perno sull’istrumentario tecnico e concettuale elaborato e collaudato nella ‚scientia iuris‘,“ dies behindert nicht die Suche nach neuen und, wo erforderlich, auch diskontinuierlichen Lösungen hinsichtlich der aus dem Mittelalter überlieferten juristischen Instrumente; dies ist in einer Veredelung des juristischen Wissens der Weg, auf dem innovative Ergebnisse erzielt werden.

Lex und Iurisdictio in der spanischen Spätscholastik

311

entfalten zu können. Damit soll nicht unterstellt werden, dass zwei getrennte Momente der Rechtsschaffung existieren. Vielmehr soll das Gegenteil bekräftigt werden, d.h. dass das System der Konzepte und Ordnungskategorien des Rechts, die durch die lange Tradition des ius commune entwickelt wurden, nunmehr durch eine präjuristische Entwicklung geprägt wird, die in der Lage ist, deutliche Veränderungen zu bewirken.73 In dieser Erhaltung des strategischen Wertes der Rechtswissenschaft in Bezug auf die Dynamik der Rechtsentstehung, zeichnet sich somit eine bedeutende Diskontinuität ab: Die neue Theologie, die mit den Instrumenten des ius commune auf das Recht einwirkt, übernimmt die Kontrolle der Voraussetzungen der juristischen Entwürfe, d.h., um mit Grossi zu sprechen, die „diagnosi conoscitiva della realtà sociale“.74 Letztere zeichnet sich – wenn auch in der Vielfalt der spätscholastischen Ansätze – durch einen authentischeren anthropozentrischen Charakter aus und verliert jene starke naturalistische und objektivistische Herkunft, die es ermöglichte, dem Juristen die Rolle des sacerdos iuris und seiner Wissenschaft den Charakter der vera philosophia zuzuerkennen. Dies bedingt eine Vielzahl von Konsequenzen. Aus dieser Perspektive gesehen, zeichnet sich eine grundlegende Veränderung der Identität des Juristen (und damit der Eigenschaften des Rechts) ab.75 Um die Zentralität des Juristen zu bewahren, war es notwendig, das Ende des Rechtsprimates, d.h. der Rechtsautonomie, bis hin zur Vergessenheit seines ontischen Charakters, zu akzeptieren: Diese Tendenz hat die Moderne im Laufe von zwei Jahrhunderten effizient vollendet.

__________ 73

Vgl. Cappellini, Formazione (Anm. 12), S. 336 f.

74

Grossi, Proprietà (Anm. 13), S. 209; zur unterschiedlichen Auffassung des Mittelalters vgl. ders., L’ordine (Anm. 7), S. 144 f.; Quaglioni, Giustizia (Anm. 7), S. 83-91. 75 Insbesondere denke ich an das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Produktion der Rechtswissenschaft einerseits und der politischen Dimension andererseits. Letztere wird nicht mehr auf erstere reduziert. Dies kennzeichnet den endgültigen Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Grossi, Modernità (Anm. 7), S. 14; ders., Giustizia (Anm. 57), S. 51-56.

Die Sünde des Naturrechts aus römischkatholischer Sicht – Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre Von Mathias Schmoeckel, Bonn

A. Einleitung Welche Konfession hat unser Recht? Diese Frage erscheint auf den ersten Blick verfehlt. Schafften es nicht schon die Juristen der römischen Antike erfolgreich, die Jurisprudenz als eigenständige Wissenschaft von der Theologie zu trennen? Aber noch mit der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert stellte sich die Frage, wie die Rechtswissenschaft ihren Wahrheitsanspruch ohne den Rekurs auf die Kirche aufrechterhalten konnte. Der Streit um den mos gallicus war bereits vorher ein erster Ansatz gewesen, die Wahrheit säkular, nämlich durch die richtige Methode zu erweisen. Durch diese erkenntnistheoretische Trennung gelang es der Rechtswissenschaft, als „katholische Wissenschaft“1 ein einigendes Band für ganz Europa und somit eine Art Ersatz für die verlorene Glaubenseinheit zu werden: Die europäischen Staaten akzeptierten die Rechtsordnung jedenfalls in Grundzügen und bildeten so mehr und mehr statt einer Glaubens-, eine Rechtsgemeinschaft. Die Rechtswissenschaft lernte, sich noch weiter von der Theologie zu trennen, um sich möglichst vor dem Vorwurf der Konfessionalität zu immunisieren. Seit dem 18. Jahrhundert konnte man diesen Weg beschreiten, um jeden Zusammenhang von Recht und christlicher Religion zu verleugnen.2 Auf diese Weise konnte das europäische Recht sich international im 19. Jahrhundert durchsetzen. __________ „Katholisch“ meint hier im Sinne des griechischen h^nlifhãs, so wie im nizänischen und apostolischen Glaubensbekenntnis, „allumfassend“ und darf daher nicht mit „römisch-katholisch“ verwechselt werden. Diese Wortdeutung verkennt Reiner Tillmanns, Im Namen der Kirche – Zum Schutz der Bezeichnung „katholisch“ nach § 12 BGB, in: Neue Juristische Wochenschrift 2006, S. 3180-3183. 1

2 Hierzu s. mein Beitrag: Die katholische Wissenschaft, Wolfenbüttel 2007, noch nicht erschienen.

Mathias Schmoeckel

314

Aber dennoch können die Einflüsse der Theologie auf die Rechtsordnung nicht einfach verleugnet werden. Carl Schmitt hat nicht ohne Grund das Verfassungsrecht als „säkularisierte Theologie“ bezeichnet.3 Doch lange Zeit hat man sich diesen Fragen nicht gewidmet, um die Autorität des Rechts nicht zu gefährden. Gerade erst hat sich eine Gruppe amerikanischer Rechtshistoriker zusammengefunden, um die christliche Prägung der europäischen Rechtsordnung wieder in Erinnerung zu rufen.4 Zum anderen scheint die Eingangsfrage auch deshalb falsch zu sein, weil das Recht als selbständige Disziplin auch eigenen Regeln unterliegt. Es hat nicht nur seine eigene Terminologie, sondern auch seine spezifischen Fragestellungen. Theologische Überzeugungen und juristische Lehren müssen sich nicht immer berühren und erst recht nicht bedingen. Allenfalls entdeckt man bei den Autoren konfessionell geprägte Motive und Grundannahmen, die sich in ihrem Werk wieder finden. Der konfessionelle Kontext des Autors kann so mittelbar auch juristische Positionen prägen. Bei der Arbeit an meiner Habilitation fiel mir beispielsweise auf, dass es vor allem Calvinisten, später Pietisten waren, die sich gegen die Folter aussprachen.5 Aber auch wenn dies kaum Zufälle sind, muss dieser Zusammenhang nicht unbedingt eine Folge der calvinistischen Theologie sein, sondern kann aus anderen, innerhalb dieser Gruppe prägenden Einflüssen herrühren. Die Suche nach konfessionellen Prägungen fällt zudem schwer, weil spätestens mit der Reformation im 16. Jahrhundert die einfache Zuordnung einer Person zu einer Glaubensrichtung endet: Es gab jetzt nicht nur eine Vielfalt von Konfessionen mit verschiedenen religiösen Ausgangspunkten zur Gesellschaftsordnung, sondern es entstanden auch innerhalb aller Konfessionen so mannigfaltige Anschauungen und Gruppierungen, dass der Glauben letztlich individuell gefärbt war.6 Diese Bedenken schließen die Existenz von Vorfragen der Jurisprudenz, die nur theologisch zu klären sind, jedoch nicht aus: Die aus dem Problem der Transzendenz folgenden Positionierungen des Menschen im Verhältnis zu Gott, __________ 3

Carl Schmitt, Politische Theologie, München 1934, S. 49.

4

Dazu mein Beitrag: Procedure, Proof and Evidence, in: John Witte jr. (Hg.), Cambridge Companion to Law and Christianity, Cambridge 2007, noch nicht erschienen. 5 Verf., Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter (Norm und Struktur, 114), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 549 ff. 6

Ebenso Christoph Strohm, hier in diesem Band; s. auch hier u. Kapitel IV.3.

Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre

315

den Mitmenschen und der übrigen Schöpfung, die richtige Konzeption der Ehe,7 die Zulässigkeit einer Lüge8 und ähnliches mehr sind Wertungen, die der Jurisprudenz vorgegeben werden; Wertungen, für die günstigstenfalls kohärente Rechtsregeln geschaffen werden, die aber nicht aus der Jurisprudenz heraus geschaffen werden können. Für die Frage, was richtig oder falsch ist, bot bis zum 19. Jahrhundert die Theologie die Antwort, nicht die Naturwissenschaft oder die Philosophie. Die Theologie bestimmte damit auch die Auffassungen bzw. „Vorurteile“ der Naturrechtslehrer. Ebenso lässt sich beobachten, dass bestimmte wissenschaftliche Ansätze überwiegend von einer Konfession getragen werden. Für die Entwicklung des Strafrechts im 16. Jahrhundert habe ich versucht, sowohl römisch-katholische9 als auch protestantische Entwürfe10 zu isolieren. Ebenso kann man beim Verständnis von Staatlichkeit zwischen Calvinisten und Lutheranern, die hier den Katholiken nahe standen, erhebliche Differenzen erkennen.11 Im Zuge der großen Veränderungen auch der Rechtsordnung im Laufe des 16. Jahrhunderts haben die Konfessionen offenbar einen erheblichen Einfluss ausgeübt.12 Doch in vielen Rechtsgebieten ist die Prägekraft der Konfession bisher noch vollkommen unerforscht. Die Naturrechtslehre beispielsweise hat man bisher als nicht von konfessionellen Fragen geprägte Materie betrachtet.13 Doch schaut man auf die Vertreter der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts, fällt immerhin das Fehlen __________ 7

Vgl. nur John Witte jr., From Sacrament to Contract. Marriage, religion and law in the Western tradition, Louisville Ky. 1997. 8 Dazu s. etwa die Beiträge in Ulrich Ernst (Hg.), Homo mendax. Lüge als kulturelles Phänomen im Mittelalter (Das Mittelalter, 8), Berlin 2004. 9 s. Verf., Der Entwurf eines Strafrechts der Gegenreformation. Prova, pena e penitenza in un sistema posttridentino, in: Marco Cavina (Hg.), Tiberio Deciani (15091582): Alle origini del pensiero giuridico moderno, Udine 2004, S. 207-234. 10 Vgl. mein Beitrag: Fragen zur Konfession des Rechts im 16. Jahrhundert am Beispiel des Strafrechts, in: Irene Dingel/Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit, Mainz 2007, S. 157-191. 11 s. Verf., Zwischen Idealstaat und Realpolitik: Machiavellismus in Ostfriesland um 1600. Des Ostfriesischen Cantzelars Thomae Frantzij Getreuwer Rath, in: Frederick S. Carney/Heinz Schilling/Dieter Wyduckel (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 131), Berlin 2004, S. 463525. 12

Harold Berman, Law and Revolution II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western legal Tradition, Cambridge Mass./London 2003. 13

Zuletzt der Beitrag von Christoph Link in diesem Band.

316

Mathias Schmoeckel

katholischer Autoren auf. In dieser Phase des Naturrechts sind es zunächst der Arminianer Grotius und der Anglikaner Hobbes, später auch der Lutheraner Pufendorf und der Lutheraner-Pietist Thomasius, die sich mit dem Naturrecht beschäftigen; und man kann fragen, ob nicht die gemeinsame Klassifikation als „Protestanten“ doch nur die gewichtigen trennenden Umstände verschleiert. Auffallend ist aber doch, dass sich auch unter den Kommentatoren dieser Werke zunächst keine Katholiken befanden. Sicherlich ist der Terminus lex naturalis ein viel älterer Begriff, der in die griechische Antike zurückreicht. Und in dieser Tradition steht auch die Scholastik und die spanische Spätscholastik, so dass es sehr wohl prominente katholische Autoren des Naturrechts gab. Das Besondere der Autoren des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts war jedoch, dass sie ihre Erkenntnisse unmittelbar aus der Natur, also ohne Ableitung aus dem ius divinum herleiten wollten. Hierdurch unterschieden sich Grotius und Pufendorf unmittelbar von den spanischen Autoren des Naturrechts und den übrigen römisch-katholischen Verfassern, die sich dem Naturrecht widmeten. Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob es spezifisch konfessionelle Gründe für das Wirken der protestantischen Naturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts gibt. War die Konfession also nicht nur individuell für die Autoren wichtig, sondern auch für ihren methodischen Zugang zur Rechtswissenschaft? Zu diesem Zweck soll zunächst der Einfluss von Melanchthons Naturrechtslehre auf die protestantischen Juristen des 16. Jahrhunderts angesprochen werden (B.). Danach (C.) sollen katholische Wertungen des 18. Jahrhunderts herangezogen werden, um zu zeigen, dass die Suche nach den konfessionellen Differenzen bereits den Zeitgenossen geläufig war. Dabei stütze ich mich auf einen Jesuiten des 18. Jahrhunderts, Ignaz Schwarz, der die konfessionellen Gemeinsamkeiten der protestantischen Naturrechtslehrer von Grotius bis Thomasius untersucht hat. Daraufhin gilt es, den konfessionellen Differenzen im Einzelnen nachzuspüren. Zunächst (D.) soll versucht werden, einen theologischen Ansatzpunkt zu isolieren, der zu einer konfessionellen Sicht auf die Natur des Menschen geführt haben könnte. Dazu bietet sich hier die Entwicklung der Erbsündelehre an. Schließlich sollen (E.) stichpunktartig die Frage der Bestimmung des Naturzustands, die Rechtsquellenlehre und die Position der Kirche überprüft werden. Dabei beschränke ich mich auf die Positionen von Grotius, die von den Konzeptionen der römisch-katholischen Kirche, zumindest ihrer herrschenden Position, abgegrenzt werden sollen.

Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre

317

B. Entwicklung der protestantischen Naturrechtslehre des 16. Jahrhunderts Die Rechtsquellenlehre ist das Fundament eines jeden Rechtssystems, indem sie festlegt, wie Gesetz und Recht zu gewinnen bzw. zu erkennen sind. Sie legt Kriterien fest, um eine Verbesserung der Rechtsordnung bestimmen zu können, und präzisiert die Voraussetzungen der juristischen Dogmatik. Sie ist bedingt durch den Zusammenhang des Rechts mit der übrigen Kultur einer Gesellschaft. Man kann ihre Entstehung historisch-soziologisch beschreiben oder sie juristisch-präskriptiv festlegen.14 Die Rechtsordnung wird dabei verknüpft mit der Legitimation der geltenden Herrschaftsordnung und Moralanschauung. Erst nachdem deren Geltung durch die Rechtsquellenlehre legitimiert wird, kann aufgrund einer juristischen Binnenlogik Recht kritisiert und verbessert werden. Systemwechsel führen daher meist zu einem Wandel der Rechtsquellenlehre; für das 20. Jahrhundert sind die neuen Theorien im Dritten Reich unter anderen von Carl Schmitt bekannte Beispiele.15 Die scholastisch geprägte Rechtsquellenlehre des Ius commune sah dabei in der Tradition von Augustinus16 eine klare Hierarchie der verschiedenen Rechtsmaterien vor: Aus der Gott eigenen Gerechtigkeit stamme ein göttliches Recht (ius divinum), das wie Gott ewig und unveränderlich sei und daher auch als lex aeterna bezeichnet wurde. Mit der Schöpfung entstehe auch ein ihr innewohnendes Recht, die lex naturalis oder naturae, das als Konkretisierung des göttlichen Rechts und damit als dessen Teilmenge zu begreifen sei. Der Welt wohne ebenso wie jedem Geschöpf Gottes ein solches in ihrer Natur begründetes Gesetz inne. Zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens schaffe sich der Mensch dagegen ein Gesetz, das nur auf seinem Schaffen beruhe und daher als lex positiva oder lex humana bezeichnet wurde. Da der Mensch Gottes Schöpfung nicht völlig verstehen könne, sei diese lex positiva nie mehr als ein Teil der lex naturae.

__________ 14 So differenziert Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre. Ein Lehrbuch, 2. Aufl., Köln u.a. 2001, S. 513 f.; Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, 11. Aufl., München 1999, S. 318 f. 15 Vgl. dazu Verf., „Auf der Suche Köln/Weimar/Wien 2005, S. 454 ff., 481 ff.

nach

der

verlorenen

Ordnung“,

16 Vgl. die klassische Studie von Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, München 1936, S. 41 ff.

Mathias Schmoeckel

318

Bei Thomas von Aquin, der die Hierarchisierung der Rechtsquellen deutlich ausformuliert,17 steht dies im Zusammenhang mit der Lehre der Erbsünde: Durch Adams Fall sei zwar die ursprüngliche Gerechtigkeit der Menschen und deren Neigung zur Tugend verlorengegangen.18 Aber selbst im status corruptus behalte der Mensch eine wenn auch eingeschränkte Möglichkeit zum Gebrauch seines Verstandes.19 Das Recht sei dabei ein Weg, um sich an den Geboten Gottes zu orientieren; denn vermittelt durch die vernunftgeleitete Erkenntnis des Naturrechts könne der Mensch Teilhabe am ewigen Gesetz erlangen.20 Vielen Klerikern des 12. Jahrhunderts erschien daher die Beschäftigung mit dem Recht als ein Weg der Gotteserkenntnis: Über die Kenntnis der lex positiva erschließe sich das Naturrecht, das als Vorstufe zum Verständnis der lex aeterna einen möglichen Weg darstellen sollte, Gott selbst zu verstehen.21 Dieser Weg konnte nicht die Hoffnung auf vollständige Erkenntnis begründen, sondern bestenfalls eine Annäherung sein: Der Mensch erliege Sünde nicht nur aufgrund der Erbsünde, sondern auch aufgrund der ihm inhärenten Begehrlichkeit (concupiscentia), die wie ein Zunder (fomes) immer wieder das Feuer der Sünde entfachen könne. Thomas spricht insoweit von der lex fomitis22. Diese Begehrlichkeit kann aber von der Vernunft wegführen und so die Erkenntnis des Naturrechts verhindern. Wichtig ist auch die Rolle der Kirche in der thomistischen Rechtsquellenlehre. Da alles Recht aus der lex aeterna, also von Gott selbst herrührt, kann auch alle Rechtserkenntnis nur durch das rechte Gottesverständnis erfolgen. Es kann demnach kein Recht geben, das im Widerspruch zur Lehre der Kirche vom göttlichen Willen steht. Insofern stützt diese Rechtsquellenlehre nicht nur die faktische Dominanz der Kirche bei der Rechtsauslegung, sondern begründet auch theoretisch den Herrschaftsanspruch der Kirche über das Rechtssystem im Dienst einer umfassenden Theokratie.23 Das Naturrecht selbst bietet dem Menschen also keine von Gott unabhängige Erkenntnis des __________ 17 Thomas von Aquin, Summa theologiae, hg. von P. Caramello, Rom 1952, Ia IIae, qu. 91 art.2, S. 414. 18

Ebd., Ia IIae qu. 85, art. 1, S. 386.

19

Ebd., Ia IIae, qu. 85 art. 2, S. 387 f.

20

Ebd., Ia IIae qu. 91 art. 2, S. 414.

21

So Andrea Padovani, Perché chiedi il mio nome?, Turin 1997, S. 203 ff.

22

Thomas von Aquin, Summa theologiae (Anm. 17), Ia IIae qu. 91 art. 6, S. 417.

23 So bereits Stefan Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, 42), Opladen 1983, S. 70 f.

Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre

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Rechts, sondern nur eine schrittweise von der Kirche begleitete Hinführung zur lex aeterna. Erkenntnisreich ist ein Vergleich dieses Konzepts mit Philipp Melanchthons Naturrechtslehre von 1521,24 der die Gesetze in natürliches, göttliches und menschliches Gesetz25 aufteilt und mit der Darstellung des Naturrechts beginnt. Dadurch wird die Überordnung des göttlichen Rechts zwar relativiert, aber auch bei Melanchthon darf das menschliche Gesetz dem göttlichen, zu dem insbesondere die Zehn Gebote gehören,26 nicht widersprechen.27 Darin ist aber keine strikte Hierarchisierung der Rechtsquellen zu sehen. Erst später äußert sich Melanchthon zum Verhältnis der Rechtsquellen zueinander,28 wobei vor allem klargestellt wird, dass alles Recht dem Willen Gottes bzw. der lex Dei entspricht bzw. entsprechen muss.29 Allgemein genießt das Gesetz bei ihm eine hohe Wertschätzung.30 Das Naturrecht bezeichnet bei Melanchthon jene Vorschriften, die sich aus der Natur des Menschen ergeben. Zwar lebe der Mensch nach dem Sündenfall nicht mehr in der ursprünglichen Harmonie und nach dem Gesetz der Natur. Doch stehe ihm immerhin noch sein verdunkelter Verstand und vor allem sein Gewissen als Quelle der Erkenntnis zur Verfügung.31 Durch das Studium des Wortes Gottes im Evangelium könne er den Willen Gottes und die lex Dei noch immer erkennen.

__________ 24 Dazu bereits Isabelle Deflers, Lex und ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons (Schriften zur Rechtsgeschichte, 121), Berlin 2005, S. 42 ff; Hans Liermann, Zur Geschichte des Naturrechts in der evangelischen Kirche, in: Walter Baumgartner u.a. (Hg.), Festschrift Alfred Bertholet zum 80. Geburtstag, Tübingen 1950, S. 294-324, 299 ff. 25 Philipp Melanchthon, Loci communes 1521. Lateinisch-Deutsch, übersetzt von Horst Georg Pöhlmann, 2. Aufl., Güterloh 1993, 3.5, S. 100. 26

Ebd., 3.47, S. 110.

27

Ebd., 3.121, S. 134.

28

Dazu Isabelle Deflers, Lex und ordo (Anm. 24), S. 43, mit Hinweis auf die „Oratio de veris legum fontibus et causis“ von 1550. 29 Dazu Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae“ im 16. Jahrhundert (Frühe Neuzeit, 52), Tübingen 1999, S. 37 f. mit Fn. 77. 30

Vgl. Guido Kisch, Melanchthons Rechts- und Soziallehre, Berlin 1967, S. 83, mit dem Hinweis auf wichtige, dort abgedruckte Reden Melanchthons. 31

Melanchthon, Loci communes 1521 (Anm. 25), 3.8, S. 100.

Mathias Schmoeckel

320

Im „Liber de anima“ erklärt Melanchthon das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen näher:32 Die Gottesgabe Gewissen macht das Naturrecht zu einer Rechtsquelle, die allen Menschen unabhängig von der Religion zu Eigen ist; denn Gott hat allen Menschen die Kenntnis dieser Vorschriften ins Herz gemeißelt. Insofern entspricht das Naturrecht nicht nur der Moralphilosophie, sondern bildet einen Teil der umfassenden Rechtsordnung.33 Seine verschiedenen Inhalte nach der Auffassung Melanchthons hat Isabelle Deflers jüngst zusammengestellt.34 Hervorzuheben ist dabei einerseits die veränderte Rolle der Kirche. Diesbezüglich hatte bereits Christoph Strohm auf die fehlenden Bezüge zur scholastischen Naturrechtslehre aufmerksam gemacht.35 Das päpstliche Recht nennt Melanchthon nämlich nur noch im Rahmen des menschlichen Gesetzes.36 Die Kirche hat kein Interpretationsmonopol mehr; jeder Mensch kann sein Gewissen anstrengen und auch die Rechte der Kirche sind an den Vorschriften des göttlichen Gesetzes zu messen. Die neue Rechtsquellenlehre weist der Kirche damit in der Gesellschaft eine neue Rolle zu und negiert so einen kirchlichen Herrschaftsanspruch. Andererseits ist auf Melanchthons Menschenbild hinzuweisen. Ganz lutherisch geprägt führt er 1521 aus, dass nach der Erbsünde nur Finsternis herrschen könne. Das Gesetz könne keinen Weg zur Erlösung bieten37 und sei auch kein Mittel, der Verdammung des Menschen nach dem Sündenfall zu entgehen. Die Gesetzeserkenntnis geschehe deshalb nicht durch den Verstand, sondern durch das Gewissen.38 Dies war wichtig, da dieses anders als der Verstand nicht perfektioniert werden kann und damit eben nicht den Weg zur Rechtfertigung bildet. __________ 32 Dazu Simone De Angelis, Anthropologie und Gesetz. Konzepte von der Natur des Menschen im 16. Jahrhundert: Vives und Melanchthon, in: Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.), Scientiae et artes (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 38), Wiesbaden 2004, S. 871-893, 881 f. 33

So die Kriterien bei Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (Anm. 29), S. 52.

34

Deflers, Lex und ordo (Anm. 24), S. 33 ff.

35

Dazu Christoph Strohm, Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon, in: Günther Frank (Hg.), Der Theologe Melanchthon (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 5), Stuttgart 2000, S. 339-356, 341. 36

Melanchthon, Loci communes 1521 (Anm. 25), 3.123, S. 134.

37

Ebd., 2.76, S. 74.

38

Darauf wies schon hin Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (Anm. 29),

S. 42.

Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre

321

Im Laufe der 1520er Jahre veränderte sich jedoch Melanchthons Auffassung,39 vor allem durch die Rezeption des Aristoteles graece und von Cicero, deren Werke Melanchthon in dieser Zeit edierte.40 Für Aristoteles und ihm nachfolgend Cicero hatte das Gesetz durchaus einen pädagogischen Wert. Indem es die Normen einer Gesellschaft deren Mitgliedern mitteile, könnten diese sich orientieren und versuchen, gute Bürger zu sein bzw. zu werden. Der späte Melanchthon entwickelte daher das Konzept eines pädagogischen Gebrauchs des Gesetzes als tertius usus legis bzw. usus politicus legis.41 Ab 1529 wird daher die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in den Zusammenhang der Naturrechtslehre gestellt.42 Damit einher ging eine veränderte Beurteilung des Sündenfalls. Der Mensch habe damit zwar den ursprünglichen Stand der Gnade verloren, aber er habe ähnlich wie bei Thomas eine ihm innewohnende Möglichkeit der Erkenntnis kraft seines Verstandes zurückbehalten. Melanchthon spricht dementsprechend in den 1530er Jahren von den notitiae naturales als Elementen der Gottesebenbildlichkeit.43 Es ist daher so richtig wie irreführend, auf den Einfluss Melanchthons für die nächsten hundert Jahre vor allem auf die Juristen hinzuweisen.44 So intensiv

__________ 39 Dazu bereits Strohm, Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon (Anm. 35), S. 346, S. 347 zum Einfluss Ciceros. 40

Dazu Verf., Recht durch Erziehung – Gesetz zur Bildung. Usus legis Reformatorum, in: Christoph Strohm (Hg.), Martin Bucer und das Recht (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 361), Genf 2002, S. 245-270. 1521 wies Melanchthon selbst, allerdings noch in einem verächtlichen Ton, auf die Übereinstimmung mit Aristoteles hin, s. Melanchthon, Loci communes 1521 (Anm. 25), 3.14, S. 102. Zur „Renaissance des Aristoteles durch Melanchthon“ bereits Liermann, Zur Geschichte des Naturrechts (Anm. 24), S. 294-324, 308. 41

Dazu etwa John Witte jr., Law and Protestantism, the legal teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002; Zur protestantischen Rechtsphilosophie nicht immer ganz überzeugend Berman, Law and Revolution II (Anm. 12), S. 73 ff.; Jochen Bohn, Herrschaft ohne Naturrecht. Der Protestantismus zwischen Weltflucht und christlicher Despotie (Erfahrung und Denken, 93), Berlin 2004, S. 126 ff. 42

Darauf wies schon hin Strohm, Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon (Anm. 35), S. 343. 43 44

Ebd., S. 344.

So Otto Wilhelm Krause, Naturrechtler des sechzehnten Jahrhunderts (Rechtshistorische Reihe, 15), Frankfurt a. M. u.a. 1982, S. 110; umgekehrt zum Einfluss der juristischen Lehre auf die Theologie durch Melanchthon s. Christoph

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die theologische Diskussion um die Möglichkeit der Verbesserung des Menschen durch verstandesmäßig angeleitete Gesetzeskunde als Ausfluss der Erbsündenlehre stritt, so unterschiedlich konnten auch die Stellungnahmen der Juristen ausfallen. Bei Johannes Oldendorp (1488-1567)45 zeigt sich die Übernahme von Melanchthons Naturrechtslehre vor allem in der Anordnung des Stoffes und der unmittelbaren Heranziehung der Zehn Gebote als Lex Dei.46 Unter Auswertung eines Digestenfragments von Ulpian (D. 1,1,3) mussten die römisch-rechtlich gebildeten Juristen unter „Naturrecht“ das verstehen, was die Natur allen Tieren lehre. Damit war das Naturrecht nichts spezifisch Menschliches, denn die Natur gebiete allen Lebewesen. Damit konnte die Vernunft für die Bestimmung des Naturrechts keine Rolle spielen. Indem sich Oldendorp insoweit an Ulpian hielt, hielt er eine Distanz zu Melanchthons Naturrechtslehre. Auch im Hinblick auf seine Rezeption der Zweiregimentenlehre47 blieb Oldendorp näher an Luther.

__________ Strohm, Die Voraussetzungen reformatorischer Naturrechtslehre in der humanistischen Jurisprudenz, in: ZRG KA 86 (2000), S. 398-413, 410 ff.; zur Rezeption der Ideen bei Bucer vgl. Cornel Zwierlein, Reformation als Rechtsreform. Bucers Hermeneutik der Lex Dei und sein humanistischer Zugriff auf das römische Recht, in: Christoph Strohm (Hg.), Martin Bucer und das Recht (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 361), Genf 2002, S. 29-99, 66. 45

Eingehend Berman, Law and Revolution II (Anm. 12), S. 73 ff.; Percy García Cavero, Johann Oldendorp, in: Rafael Domingo (Hg.), Juristas universales, Bd. 2, Madrid/Barcelona 2004, S. 137-140; Barbara Bauer, Jurisprudenz und Naturrecht, in: dies. (Hg.), Melanchthon und die Marburger Professoren (1527-1627), Bd. 2, Marburg 1999, S. 551-597, 559-571, 585-594; Bernhard Pahlmann, Johann Oldendorp (um 14881567), in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl., Heidelberg 1996, S. 313-316. Vgl. Johannes Oldendorp, b´p^dtdÌ seu elementaria introductio ad studium iuris et aequitatis, in: ders., Opera, Basel 1559, Reprint Aalen 1969, 2. Teil, S. 2 ff., 8 ff.; so auch Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (Anm. 29), S. 149; Barbara Bauer, Jurisprudenz und Naturrecht, in: dies. (Hg.), Melanchthon und die Marburger Professoren (Anm. 45), S. 551-597, 555 ff. Zu Oldendorps Naturrechtslehre s. ferner Witte, Law and Protestantism (Anm. 41), S. 160 ff. 46

47 Joannis Oldendorp, Van Radtslagende/ wo men gude Politie und ordenunge/ ynn Steden und landen erholden möghe. An den Erbarn Radt/ undd ghemeyne tho Hamborg, Rostock 1530, Reprint Glashütten i.T. 1971, c. 5.

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Johannes Schneidewin (1519-1571)48 löste den Widerspruch von Ulpian und Melanchthon dagegen durch eine Differenzierung: Indem er die begrifflich ältere Unterscheidung von ursprünglichem und nachträglichem Naturrecht übernahm,49 konnte er als ius naturale primaevum das bezeichnen, was sich auf den Instinkt, also die Natur bezog, wobei die Tiere einbezogen wurden, während das ius naturale secundarium das enthalte, was allein den Menschen aufgrund seiner natürlichen Vernunft betreffe.50 Matthaeus Wesenbeck (15311586)51 übernahm zwar diese Zweiteilung, betrachtete aber schon das erste Naturrecht als durch den Verstand begreifbar.52 Es wird insgesamt deutlich, dass der protestantischen Naturrechtslehre ein eminent politisches Moment innewohnte. Sie bildete ein wesentliches Element im Kampf gegen die päpstlichen Vorstellungen einer Oberhoheit der Kirche, obgleich das ius divinum bei allen Autoren weiterhin über dem Naturrecht stand.53 Offen bleibt aber einstweilen der Einfluss des Menschenbildes. Einmal wird der Mensch als nach der Ursünde nur auf Gnade angewiesen, ein anderes __________ 48 Vgl. Melchior Adam, Vitae Germanorum iureconsultorum et politicorum, qui superiori seculo et quod excurrit floruerunt, Frankfurt a.M. 1620, 179ff, vgl. [http:// www. uni-mannheim.de/mateo/camenaref/adam/adam3/s212.html, zuletzt eingesehen am 6.9. 2006]; Gerhard Köbler, Rezension zu Johannes Schneidewin, In quatuor institutionum Justiniani libros commentarii. Rihelius, Straßburg 1575, Reprint Frankfurt a.M. 2004, in: ZRG GA 123 (2006), S. 564 ff.; zu seinen Werken s. Alfred Söllner, Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2.1, München 1977, S. 501-614, v.a. 533. 49

Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (Anm. 29), S. 127 ff.; so unterteilte bereits Thomas von Aquin, Summa theologiae (Anm. 17), Ia IIae qu. 94 art. 4, S. 428 f. 50 Johannes Schneidewin, In quatuor Institutionum Imperialium D. Justiniani libros, hg. von Matthaeus Wesebeck, Straßburg 1573, I.1. n. 4 und 5, S. 7 f. 51

Robert Feenstra, Matthäus Wesenbeck (1531-1586) und das römisch-holländische Recht (mit einer Bibliographie seiner juristischen Schriften), in: Heiner Lück/Heinrich de Wall (Hg.), Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 175-243; Heiner Lück, Einführung: Die Universität Wittenberg und ihre Juristenfakultät, in: ebd., S. 13-33; Javier Barrientos Grandon, Matthaeus Wesenbeck, in: Domingo (Hg.), Juristas universales (Anm. 45), S. 246-248. 52 Matthaeus Wesenbeck, In Pandectas Iuris Civilis et Codicis Iustiniani Libros IIX. Commentarii olim Paratitla dicti, Lyon 1605, tit. I n. 5, S. 18. 53

Dazu auch Götz Landwehr, Die Einheit der Rechtsordnung in der Rechtsgeschichte. Göttliches und weltliches Recht, Privatrecht und öffentliches Recht, in: Karsten Schmidt (Hg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung. Hamburger Ringvorlesung (Hamburger Rechtsstudien, 85), Berlin 1994, S. 31-60, 36 ff.

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Mal als lernfähig angesehen. Dass hierbei die Lehre der Erbsünde eine entscheidende Rolle spielte, wird aus dem oben Gesagten deutlich. Um noch deutlicher werden zu lassen, dass die Theologie einen Einfluss auf die Betrachtung des Naturrechts ausübte, sollen zunächst katholische Autoren zu Worte kommen, bevor die Entwicklung der Dogmatik zur Erbsündenfrage kurz dargestellt werden soll.

C. Katholische Vorbehalte gegenüber den Naturrechtslehrern Eine konfessionell gefärbte Sicht auf das Naturrecht ist keine neue Erfindung, sondern entspricht der Wahrnehmung der Frühen Neuzeit. Ich werde im Folgenden versuchen, die nicht unproblematische Rezeption der großen protestantischen Naturrechtlehrer des 17. Jahrhunderts bei den Katholiken nachzuzeichnen. Das Werk des Arminianers Hugo Grotius stieß zum Beispiel durchaus auch auf katholischer Seite auf Bewunderung; zum einen wegen seiner Gelehrsamkeit, vor allem aber wegen seines neuen Ansatzes, der geradezu eine neue Disziplin entstehen ließ. Die innovativen Ansätze bei Grotius veranlassten die katholischen Gelehrten zum Teil, über die verschiedenen theologischen und philosophischen Fehler, auf die auch Pufendorf hingewiesen hat, hinweg zu sehen. Man glaubte diese im Werk emendieren zu können.54 Folglich wurde von den protestantischen Vertretern des Naturrechts Grotius im 18. Jahrhundert auf katholischer Seite noch am meisten geschätzt. Allerdings gab es hier auch kritische Stimmen, die auch seine Originalität in Zweifel zogen.55 So wogen aus der Sicht der Katholischen Kirche seine theologischen Fehler insgesamt so schwer, dass „De jure belli ac pacis libri tres“ am 26.3.1626 indiziert wurde. Auch weitere, vor allem die theologischen Werke wurden in-

__________ 54 So Ignatius Schwarz S.J., Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium, ad normam Moralistarum nostri temporis, maxime Protestantium, Hugonis Grotii, Puffendorfi, Thomasii, Vitriarii, Heineccii, Aliorumque ex recentissimis adoratae, et ad crisin revocatis eorum principiis, primum fusiore, tum succinctiore methodo pro Studio Academico, praesertim Catholico, accomodatae, Pars prima elemento gemino comprehensa, De jure naturae, Venedig 1760, S. 67. 55

Zitiert wurde die Bemerkung von Thomasius, Grotius habe das Naturrecht nicht neu erfunden, das nur „ein wenig unter der Banck gelegen“ habe, sondern habe lediglich den „Staub weggewischt“, vgl. Christian Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae, Halle/Magdeburg 1720, Reprint Aalen 1963, S. 56.

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diziert.56 Folglich wurde „De jure belli ac pacis“ zunächst nur in protestantischen Gebieten gedruckt.57 In der Forschung des 19. Jahrhunderts wurde über eine mögliche Konversion des zunehmend irenisch eingestellten Grotius debattiert,58 so dass Grotius’ Schriften möglicherweise der römisch-katholischen Kirche näher stehen könnten, als man zunächst meint. Allerdings wurde die Indizierung von „De jure belli ac pacis“ erst im 20. Jahrhundert durch äußeren Druck beendet,59 so dass hier nicht weiter von einer solchen Nähe des Grotius ausgegangen wird. Katholische Autoren warfen Grotius vor, die Gottesbildlichkeit des Menschen nicht richtig zu erkennen, den freien Willen zu stark zu betonen und die Differenz zwischen Altem und Neuem Testament nicht ausreichend zu beachten. Teilweise zog er tatsächlich die frühen Konzile den besseren späteren vor. Vor allem aber leugnet Grotius das Gnadenrecht der Päpste.60 Wesentlich deutlicher fallen die Urteile über die anderen Großen des Naturrechts aus: Hobbes wird wegen seiner Nähe zum Machiavellismus als „author pestilens“ beschrieben und sei gleichfalls den Katholiken zu Recht verboten.61 Pufendorf irre sich, indem er zu sehr auf das Individuum abstelle und nur den Wert des glücklichen Lebens auf Kosten des ewigen Lebens betone.62 Vor allem verwechsele Pufendorf Recht und Moraltheologie.63 Dieser unterscheide Jurisprudenz und Theologie in objectis, weil die Jurisprudenz auf die äußeren, die Theologie dagegen auf die inneren Handlungen abstelle, sowie in fine, insoweit __________ 56

Index Romanus, hg. von Albert Sleumer, 10. Aufl., Osnabrück 1951, S. 143 f. listet auf: Apologeticus eorum [1626], Poemata [1626], De imperio summarium potestatum circa sacra [1753], Annales et historiae de rebus belgicis [1659], Opera omnia theologica [1757], Dissertationes de studiis instituendis [1660], Commentatio ad loca quaedam novi testamenti, quae de antichristo agunt [1672], Dissertatio de coenae administratione [1672], Explicatio decalogi [1672]. 57

Datum nach Thomas Moosheimer, Hugo Grotius, in: Kleinheyer/Schröder (Hg.), Deutsche und europäische Juristen (Anm. 45), S. 176-182, 179. 58 Vgl. J. N. Britschar, Hugo Grotius, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon, 2. Aufl., 5. Bd., Freiburg i.B. 1888, S. 1299-1307, 1304 m.w.L. 59 s. Hasso Hofmann, Hugo Grotius, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl., München 1995, S. 52-77, 54; Index Librorum Prohibitorum (1600-1966), hg. von Jesus M. De Bujanda, Montreal/Genf 2002, S. 409. 60 Zu den Vorwürfen s. Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 54), Bd. 1, S. 69. 61

Ebd., Bd. 1, S. 69 f.

62

Ebd., Bd. 1, S. 75.

63

Ebd., Bd. 1, S. 7 f.

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die Jurisprudenz dem irdischen, die Theologie dem ewigen Leben dienen solle. Da aber beide Fächer auf die beatitudo und felicitas des Menschen zielen, irre sich Pufendorf bei dieser Trennung. Entsprechend sei das Recht in der Gesellschaft nach Pufendorf nur der Verwaltung der saecularia bestimmt und diene nicht ausreichend den Zielen des ewigen Lebens.64 Dieser sei daher ein Ketzer und man solle es der katholischen Jugend verbieten, Pufendorf zu lesen. Dass dies nicht überall so gesehen wurde, zeigt die Tatsache, dass Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Franz I. in ihren Reflexionen über die Erziehung des Erzherzogs Josef anordneten, dass die Einführung in das Natur- und Völkerrecht auf der Basis des „petit livre de Pufendorf“ stattfinden sollte, das lediglich mit Rücksicht auf den Entwicklungsstand des Prinzen zu kürzen sei: „Pour l’instruire dans le droit naturel et des gens, le petit livre de Puffendorff doit servir de base, et Bartenstein aura soin d’y ajouter les réflexions les plus utiles et convenables au Prince.“65 Damit wurden nicht nur Protestanten wie Friedrich II.66, sondern auch katholische Monarchen wie Kaiser Josef II. mit dem Buch von Pufendorf unterrichtet. Bezüglich Thomasius ist die katholische Kritik der Auffassung, er führe als Autor nur die Gedanken Pufendorfs weiter, aber er sei kein emendator, sondern allenfalls ein depravator Pufendorfs.67 Insgesamt werden die bedeutenden Werke des Naturrechts aus katholischer Sicht wegen ihrer großen Gelehrsamkeit und ihres politischen Gehalts durchaus als Gefahr gesehen. So wirft man den Protestanten die Auffassung vor, durch die eigene große Bildung alles Frühere umgestoßen zu haben:68

__________ 64

Pufendorf trennt hier entsprechend der lutherischen Kirchenverwaltung.

65

Vgl. dazu: Reflexionen über die Erziehung des Erzherzogs Joseph nebst dem von Franz I. und Maria Theresia angeordneten Studienplan mit Ergänzungen. 6 bzw. 20 Februar 1754, in: Hermann Conrad (Hg.), Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias, Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht, Köln 1964, S. 61 (62). Mit dieser Grundeinstellung der Monarchin dürfte auch zu erklären sein, wieso Karl Anton Frh. v. Martini 1754 ordentlicher Professor für Naturrecht, Institutionen und Römische Rechtsgeschichte wurde, vgl. nur Hagen Hof, Karl Anton Freiherr von Martini, in: Kleinheyer/Schröder (Hg.), Deutsche und Europäische Juristen (Anm. 45), S. 266-270. 66

Ernst Bratuschek, Die Erziehung Friedrichs des Großen, Berlin 1885, S. 3 ff.

67

Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 54), Bd. 1, S. 81. 68

Ebd., Bd. 1, S. 84.

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„Quia protestantica eruditio, hoc nostro aevo, est tota in eo, ut disciplinam juris Naturae, & Gentium, ab antiquis Patribus (si credere fas est) tantopere neglectam, a Scholasticis orthodoxis adeo confusam, atque corruptam, et Papisticis tenebris eruant; ad usum academicum reforment: & ad boni publici emolumentum illustrent.“

Die Auswahl von Wertungen katholischer Gelehrter über die großen Naturrechtslehrer des 17. Jahrhunderts zeigt, dass durchaus konfessionelle Gräben erkannt wurden. Dieses Ergebnis ist noch wenig erstaunlich, weil es der Auffassung von der fundamentalen Spaltung der Gesellschaft im „konfessionellen Zeitalter“ entspricht. Die genannten Stellungnahmen deuten folglich inhaltliche Differenzen an, die es im Folgenden weiter auszuloten gilt.

D. Das Problem der Erbsünde I. Protestantische Anschauungen Fragt man, ob der Mensch solche notitiae connatae hat, dass er das Recht erkennen kann, zielt man theologisch auf das Problem der Erbsünde. Im Folgenden kann weder eine dogmenhistorische Entwicklung dieser schwierigen Frage noch eine Darstellung der uneinheitlichen Positionen in der Nachfolge Melanchthons geleistet werden.69 Stattdessen sollen die Implikationen dieser Lehre verdeutlicht und Hinweise auf theologische Prägungen von Grotius und den anderen Naturrechtslehrern gegeben werden. Nach der Schöpfungsgeschichte war der Mensch zunächst rein und frei von Anlagen, die für seine Umwelt ein Problem werden könnten: Geschaffen nach dem Bilde Gottes (1 Mos 1,27) war er anfangs frei von Sünde und brauchte kein Gesetz, um seine schädlichen Triebe in Schach zu halten. Allerdings konnte sich der Mensch aufgrund seiner Freiheit Gottes Befehl widersetzen. Erst als Strafe für den Sündenfall verlor der Mensch die ursprüngliche Gnade, indem Gott zwischen den Menschen Feindschaft schuf (1 Mos 3,15). Genau genommen gewinnt Grotius damit seine naturrechtliche Ordnung nicht aus der allgemeinen Natur des Menschen, sondern leitet sie aus einem als historisch aufgefassten Vorgang ab. Für die Zeit der ursprünglichen Gerechtigkeit im Paradies brauchte der Mensch kein Gesetz, sondern erst im Anschluss an den Sündenfall.

__________ 69 Dazu eingehend Anselm Schubert, Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 84), Göttingen 2002, S. 26 f. zur Literaturgeschichte.

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Man kommt dabei zur Frage, wie der Sündenfall zu begreifen ist, als chronologischer Ablauf oder als Deutung der Menschennatur: Trat die Sünde erst später auf und wurde der Mensch erst von diesem Zeitpunkt an sündig, oder liegt die Anfälligkeit für die Sünde in der menschlichen Natur und war damit seit der Schöpfung angelegt, so dass der Sündenfall nur das Problem aktualisierte? Auch Augustin hat den Sündenfall historisch gedeutet: Waren Geist und Fleisch zunächst geistlich, war nachher der Geist mit dem Problem der Fleischlichkeit konfrontiert. Die Lüsternheit (concupiscentia) erfasst seither den ganzen Menschen, so dass er für Sünden anfällig ist. Was Adam geschah, gilt dabei für die gesamte Menschheit, welche die Ursünde quasi mit begangen hat. Umso wichtiger ist für den Menschen im gefallenen Zustand das Wirken Gottes, der nur aufgrund seiner Gnade den Menschen doch noch zur civitas Dei führen kann. Dieser Ansatz wurde besonders für Martin Luther wichtig, der den Menschen als „simul justus & peccator“ sah, also als unweigerlich und stets von seiner Natur her sündig, so dass nur der freie göttliche Wille die Gnade bewirken kann.70 Die natürliche Sündhaftigkeit aller Menschen wird damit zum Ausgangspunkt von Luthers Rechtfertigungslehre. Der menschliche Naturzustand ist damit ganz allgemein die Sündhaftigkeit; es ist die Natur des Menschen, welche die Probleme der Gesellschaft entstehen lässt. Sünde ist für Luther daher eine Verderbnis von „des hertzen grund mit allen krefften“. Die Ursünde bestimmt die Person und ist ein „geprech […] an der Natur“. Dabei ist es genau die Fleischeslust, die concupiscentia, die diese Verderbnis an der Natur des Menschen bewirkt. Sie ist eine „continua motio, non est quiescens qualitas“71. Die ursprüngliche Gerechtigkeit des Menschen, durch die er bis zum Fall Adams nicht der Sünde ausgeliefert war, deutete Luther als übernatürliche Zugabe Gottes. Diese zusätzliche Eigenschaft wurde ihm zwar nach dem Fall Adams genommen, doch kann sie durch Gottes Gnade auch nach dem Sündenfall wieder gewährt werden.72 Allerdings wirken sich weder die Wegnahme noch die mögliche erneute Gewährung auf die menschliche Natur aus.73 Da nach aristotelischer Terminologie die ursprüngliche Gerechtigkeit immer nur __________ 70

Dazu Berman, Law and Revolution II (Anm. 12), S. 110.

71

Martin Luther, Die Disputation „de iustificatione“ vom 14. Januar 1536 (Schriften Bd. 39. I), ad XX, S. 125 Z.10 f. 72

Vgl. Charles Trinkaus, Luther’s Hexameral Anthropoplogy, in: Heiko A. Oberman (Hg.), Studies in the History of Christian Thought, Leiden 1979, S. 150-168, 155. 73

Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 34.

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entweder Substanz oder Akzidens sein konnte, lag es für Luther nahe, sie als Akzidens zu deuten.74 Daher konnten auch die lutherischen Bekenntnisschriften unabhängig vom Sündenfall ein einheitliches Menschenbild geben: Der Mensch ist seiner Natur nach ganz und gar verdorben.75 Ausgehend von den eingeborenen Verstandeskräften des Menschen konnte man mit dem späteren Melanchthon ein anderes Menschenbild entwickeln. Es war leicht, auf eine „urständliche Gerechtigkeit“ Adams zu schließen, die durch den Sündenfall nicht wegfallen konnte. So lehrte es Michael Bajus in Löwen ab 1564.76 Gerade im Hinblick auf die Gottesebenbildlichkeit schloss die Föderaltheologie des 17. und 18. Jahrhunderts auf die Möglichkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen. Adam habe zwar nicht alle Kräfte, aber er könne Gott um das bitten, was er benötige, und könne selbst diese Defizite erkennen.77 Selbstverständlich gab es Kritik an solchen Positionen. Matthias Flacius Illyricus betonte gegen Melanchthon, dass es dem Menschen aufgrund seiner geringen Verstandeskräfte unmöglich sei, Gottes Ordnung zu erkennen. Das Naturrecht könne daher nicht als letztes Band zwischen Gott und dem gefallenen Adam verstanden werden.78 Er leugnete nicht nur die Existenz von notitiae connatae, sondern begriff den Sündenfall als Ereignis, das zwei unterschiedliche Epochen trennt: Die erste Zeit, in der der Mensch durch seine innere Gerechtigkeit nach dem Gesetz leben konnte, und nach dem Fall die Epoche des Evangeliums, in der allein die Gnade des Herrn den Menschen erlösen könne.79 Flacius begriff die Gottesebenbildlichkeit und die Erbsünde damit im Gegensatz zu Luther als substanziell, so dass die Ursünde die Substanz des Menschen verändern musste.80 Es war jedoch Melanchthons Lehre, die weithin und vor allem auf das reformierte Lager wirkte. Auch für Calvin gibt es einen engen Zusammenhang von Tat- und Erbsünde. Das peccatum originale sieht er als eine „vivax energia“, die im Menschen unaufhörlich wirkt und neue Früchte hervorbringt. __________ 74

Ebd., S. 39.

75

Ebd., S. 12; zur Möglichkeit der Erkenntnis eines Naturrechts bei Luther s. Bohn, Herrschaft ohne Naturrecht (Anm. 41), S. 65 ff. 76

Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 42.

77

Ebd., S. 128, 132; 18 zur Kontinuität zu den Lehren des 17. und 18. Jahrhundert.

78

Dazu eingehend Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (Anm. 29), S. 91.

79

Ebd., S. 92 f.

80

Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 37, 124 f.

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Es bewirke einen Mangel an Urgerechtigkeit (iustitia originalis) und bilde die Quelle aller weiteren Verfehlungen und Sünden der Menschen:81 „Non enim natura nostra boni tantum inops et vacua est, sed malorum omnium adeo fertilis et ferax, ut otiosa esse non possit.“

Adams Sünde verdirbt danach als Wurzel der Menschheit jede einzelne Seele und das ganze Menschengeschlecht, also die menschliche Natur:82 „fuisse Adamum humanae naturae non progenitorem modo, sed quasi radicem, atque ideo in illius corruptione merito vitiatum fuisse hominum genus.“

Der Mensch ist damit wesensmäßig zum Bösen hingezogen. Umso wichtiger wird es, das eigene Leben zu kontrollieren und dem eigenen bösen Trieb zu wehren. Die Erbsünde folgt hier nicht aus der Rechtfertigungslehre, sondern begründet die Pflicht, Satan zu widerstehen. Aber auch die Fähigkeit, zu lernen und sich zu verbessern, sind substanzhafte Eigenschaften des Menschen.83 Der eigentliche Herrschersitz des göttlichen Ebenbildes läge im Verstand und im Gemüt, und beides seien Kräfte, die dem Menschen jedenfalls teilweise auch nach dem Sündenfall noch zu Gebote stünden.84 Aufgrund dieser verbleibenden Kräfte kann ein Naturrecht erkannt und befolgt werden.85 Die Arminianer nahmen den Strafcharakter der Sünde nach Adams Fall zurück. Stattdessen wurde ein substanzhafter Hang zum Bösen in allen Menschen angenommen, der jedem einzelnen von seinen Vorfahren vererbt werde.

__________ 81 Johannes Calvin, Institutio religionis christianae, II 1.8, in: ders., Opera Selecta, hg. von Petrus Barth/Wilhelm Niesel, Bd. 3, München 1967, S. 238. 82

Ebd., II 1.6, S. 236.

83 Zu den Möglichkeiten eines Naturrechts bei Calvin s. Bohn, Herrschaft ohne Naturrecht (Anm. 41), S. 67 ff, 104 ff. Bohn sieht (73) die nach Calvin verbleibenden Verstandeskräfte des Menschen, unterschätzt aber deren Bedeutung (78) 84 Dies betont mit weiteren Quellennachweisen Hans Helmut Esser, Zur Anthropologie Calvins, in: Hans-Georg Geyer u.a. (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?“. Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 269-281, 271, 279. 85 Josef Bohatec, Calvin und das Recht, Graz 1934, S. 6 zur Vernunft, S. 7 zum Gewissen; zusammengefasst in: ders., Calvins Lehre von Staat und Kirche, Breslau 1937, Reprint Aalen 1968, S. 19 ff. Zur historischen, von Karl Barth ausgehenden Diskussion, inwieweit Calvin Naturrecht zuließ, vgl. Susan E. Schreiner, Calvin’s use of natural law, in: Michael Cromartie (Hg.), A Preserving Grace, Grand Rapids (Mich.) 1997, S. 51-76, 52 ff.; hier auch eine genau Analyse der Schriften Calvins zu den nach dem Sündenfall verbleibenden menschlichen Kräften.

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Hier bekam die Erbsünde also schon fast einen erbbiologischen Charakter. Die Sünde überträgt sich danach „propagatione, non imaginatione“86. Aus dem Gesagten folgt, dass es 1.) keine einheitliche Position der Protestanten gab, sondern eine Fülle von Interpretationen. Uneinigkeit besteht ferner 2.) darüber, ob die Sünde auf dem Wirken des Teufels oder rein aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur beruht. Offen ist, ob man historisch zwischen dem Wesen der Menschen vor dem Sündenfall und postlapsal differenzieren kann. Schließlich kann die Erbsünde 3.) als Ursache oder sogar wesensmäßig identisch mit den Tatsünden verstanden werden, ebenso die Sündhaftigkeit der Menschen als Strafe für die Ursünde des Urvaters. Immerhin stimmen Luther und Calvin insoweit überein, dass die Erbsünde die Natur des Menschen bestimmt. Dies ist die Grundlage, auf der eine Ableitung des Naturrechts aus dem Wesen der Menschen erfolgen konnte.

II. Lehre des Tridentinums Das Profil wird jedoch schärfer, wenn wir diese Gruppe von Positionen mit der Lehre des Tridentinums vergleichen, das der Frage der Erbsünde einen eigenen Titel widmete. Durch den Sündenfall verliert der Mensch danach die Gottesähnlichkeit (similitudo) und behält nur noch die Gottesbildlichkeit (imago Dei). Deutlich wird damit ausgesagt, dass Adams Sünde die Natur des Menschen verändert: Es gibt nicht die eine Natur, sondern die prä- und postlapsalen Naturen des Menschen. Zwar übertrage sich die Erbsünde „propagatione non imaginatione“ seit Adam auf alle Menschen. Die Taufe nehme aber bei jedem Menschen alle Schuld hinweg. Bei jedem Menschen zähle nur die Schuld, die er in seinem Leben nach der Taufe begeht oder tilgt. Das peccatum originale bewirke zwar nicht die Sündhaftigkeit, allerdings eine Veränderung der menschlichen Natur aufgrund der neuen Sündenanfälligkeit: Wie nach der Abnahme von Fesseln schmerzende Druckstellen zurückbleiben, so verbleibe nach der Ursünde eine Empfänglichkeit für Sünden. Dem postlapsalen Mensch wohne etwas Zunder (fomes) inne, der ihn jederzeit für neue Sünde aufflammen lässt. Die menschliche Konkupiszenz könne ihm aber nicht zur völligen Verdammnis gereichen. Es bleibe ein heiler Rest in der menschlichen Natur

__________ 86

Dazu Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 194 mit Fn. 334.

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nach dem Sündenfall vorhanden.87 Die Erbsünde sei nur eine Anlage, kein personal vorhandener böser Wille; der Mensch sei nicht an und für sich sündig.88 Was sich nach dem Fall Adams als allgemeine Verkehrtheit des Menschen bzw. ein Mangel des Zustands fände, könne durch die Taufe aufgehoben werden. Die von Gott abgewandten Kinderseelen würden durch den Akt der Taufe seinsmäßig verändert.89 Danach bleibe es dem freien menschlichen Willen überantwortet, ob er sich dem Heil oder der Sünde zuwende.90 Allein entscheidend sei der Einfluss des Sündenfalls für die Menschen daher nicht: Durch ihn ginge nur das zusätzliche Geschenk (donum superadditum) der Gottesähnlichkeit verloren, der freie Wille bleibe jedoch erhalten. Jeder sammele nur seine eigenen Tatsünden und sei für die Erbsünde nicht verantwortlich. Aus diesem Grund galt die Gesellschaft durch das Wesen des Menschen nicht von vornherein als bedroht. Die Frage nach der Natur des Menschen stellte sich nach dem Tridentinum also anders: Zunächst war zeitlich zwischen der Natur prä- und postlapsale zu differenzieren. Eigentlich muss man noch auf die Sintflut und den neuen Bund Gottes mit den Menschen eingehen (1 Mos 8,21). Für die Zeit des neuen Bundes kam der Kirche eine entscheidende Rolle in der Anleitung der Menschen zu. In diesem Zusammenhang steht die Entwicklung der Bußlehre zu einem wahrhaften Bußsakrament. Die spirituelle Führung der Menschen durch ihre Beichtväter, also die Kirche, sollte ihnen helfen, ihren freien Willen zum Guten zu wenden. Diese kurzen Skizzen sollen dartun, dass ein theologisch begründeter Ansatzpunkt des Naturrechts möglich ist und daher durchaus konfessionelle Prägungen des Naturrechts in Betracht kommen. Um die Differenzen weiter zu ergründen, soll im Folgenden auf die verschiedenen Konzeptionen des Naturrechts sowie auf die Rechtsquellenlehre eingegangen werden.

__________ 87 Dazu Wilhelm Dantine, Das Dogma im tridentinischen Katholizismus, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2, Göttingen 1980, S. 411-498, 448; in Bezug auf DS 1515 – NR 347. 88

Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 50.

89

Dantine, Das Dogma im tridentinischen Katholizismus (Anm. 87), S. 450; Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 48 ff. zur Position von Kardinal Robert Bellarmin. 90

Ebd., S. 458.

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III. Verschmelzungsprozesse seit dem 17. Jahrhundert Diese klare Trennung von protestantischen und katholischen Lehren gibt jedoch insbesondere für das 17. Jahrhundert ein falsches Bild wieder und soll nun mit einigen kurzen Hinweisen korrigiert werden. Bekanntlich erschien bereits Michel de Montaigne der wilde Indianer wie die Wildfrucht, die besonders köstlich schmeckt. Die Indianer sind folglich Menschen nahe am Naturzustand, die nicht durch die europäische Kultur verfälscht seien. Insofern konnte er an ihm die wahre Funktionsweise des Menschen erkennen und dadurch zu neuen Erkenntnissen gelangen.91 Der nach außen Katholizismus bekennende Jurist und Philosoph differenzierte damit nicht nach der Zeit vor und nach dem Sündenfall; vielmehr nahm er eine einheitliche Natur des Menschen an, deren Charakter er erst ergründen wollte. Er schloss sich damit nicht der Lehre des Tridentinums an. Allerdings ist es grundsätzlich kaum möglich, Montaigne einer Konfession eindeutig zuzuordnen. Die Annahme eines allgemeinen menschlichen Urzustandes lieferte aber eine Grundlage, die von den Naturrechtslehrern des 17. Jahrhundert mehrfach übernommen wurde. Grotius leitet sein Naturrecht aus dem geselligen Trieb des Menschen her. Daraus stammt die Sorge für die Gemeinschaft bzw. die Furcht vor dem Unrecht, aus dem das Recht entsteht.92 Gott habe das Naturrecht in die Herzen der Menschen im Moment der Schöpfung gebracht. Mit der Schöpfung habe Gott den Menschen ihre Fähigkeiten und ihre Wünsche gegeben.93 Auf diese Weise gelte es unveränderbar für alle Zeiten und Orte.94 Auch er folgte damit einer Auffassung von der substanziellen Prägung des Menschen, die sich gut mit seinem Arminianismus erklären lässt. Die allgemeine Furcht vor den in der Natur des Menschen liegenden Defiziten, welche die Gesellschaft bedrohen, ist dann die Triebfeder für die Entwicklung einer Rechtsordnung, die auf solche Prädispositionen eingeht.95 Allerdings kann Grotius auch durch Montaignes Gleichsetzung der Protoplasten mit den Indianern beeinflusst worden sein.

__________ 91 Michel de Montaigne, Essais, hg. von Pierre Villey, 2. Aufl., Paris 1992, I.31 Des cannibales, S. 205. 92 Hugo Grotius, De iure praedae commentarius, hg. von Hendrik. G. Hamaker, Den Haag 1868, Reprint Boston 2006, Vorrede, n.6,8,9,19. 93

Ebd., c. 2, 9.

94

Ebd., c. 3, 33.

95 Richard Tuck, Natural Rights Theories. Their origin and development, Cambridge 1979, S. 58 zu den Menschenrechtsideen bei Grotius.

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Die reformierte Lehre von der durch Schwächen geprägten, vererblichen Natur des Menschen wirkte nach dem Befund von Anselm Schubert im 17. Jahrhundert zurück auf das lutherische Lager und beeinflusste lutherische Autoren ab 1645.96 Gerade bei Pufendorf werde dieser reformierte Einfluss sowie der Impetus gefunden, diesen Ansatz auszubauen.97 Bei den Pietisten wurde dagegen die Bedeutung der Erbsünde zurückgedrängt. Egal wie sündig der Mensch von Natur aus ist, er habe die Pflicht, dagegen anzugehen. Entscheidend allein sei sein Erfolg, dagegen anzukämpfen. Jeder einzelne sei damit für seine eigenen Taten und Sünden verantwortlich. Deutlich wird, wie im protestantischen Lager sich die konfessionellen Prägungen verwischen. Ähnliches gilt für den katholischen Bereich. Cornelius Jansen (1585-1638) stellte wieder auf die Erbsünde als konstitutiv für den status naturalis ab: Der Sündenfall verderbe Vernunft und Willen der Menschen ganz und gar, so dass der Einzelne auf die göttliche Gnade angewiesen sei.98 Gerade die Jesuiten standen in diesem Punkt auf der Seite des Tridentinums und bekämpften die Jansenisten. Die herrschende katholische Position dagegen stellte gerade nicht auf die Veränderung der Menschennatur ab. Für sie blieb es bei der Einsetzung des Menschen in die göttlich geschaffene Ordnung mit der Pflicht zur Befolgung von Gottes Befehlen, um die Glückseligkeit zu erlangen.99 Ein Blick auf juristische Werke deutscher Katholiken zeigt ebenfalls eine allmähliche Beeinflussung durch die Naturrechtslehre. Franziscus Schmier OSB (1680-1728)100 hatte immerhin keine Hemmungen, Grotius und Pufendorf zu zitieren.101 Ausführlich setzte er sich mit deren Auffassungen auseinander. Naturrecht definiert er aber als „ordinatio Divinae Sapientiae, per dictamen synteresis Naturae rationali manifestata […]“102. Das Naturrecht ist damit durch __________ 96

Schubert, Das Ende der Sünde (Anm. 69), S. 125, 220.

97

Ebd., S. 148.

98

Heribert Smolinsky, Art. Jansen/Jansenismus, TRE 16, Berlin/New York 1987, S. 502-510, 504. 99

Louis Cognet, Le jansenisme (Que sais-je, 960), Paris 1960, 35 f.; Christine AxtPiscalar, Art. Sünde VIII, TRE 32, Berlin/New York 2001, S. 400-436, 410. 100 Zu ihm s. Johann Friedrich von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts, 3. Buch, Stuttgart 1880, S. 165, er war Mönch in Ottobeuren, wurde in Salzburg juristisch promoviert, dort auch Professor des kanonischen Rechts und Rektor der Universität. 101

Franziscus Schmier, Jurisprudentia canonica civilis seu Jus Canonicum universum, Avignon 1738, I.I.II n. 37, S. 68. 102

Ebd., I.I.II n. 48, S. 69.

Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre

335

Gott geschaffen und dem Menschen durch sein Gewissen jedenfalls teilweise erkennbar. Der Dekalog könne damit wie von den protestantischen Autoren behauptet Naturrecht enthalten.103 Man könne das Naturrecht jedoch nicht wie Grotius und Pufendorf aus der menschlichen Gesellschaft schließen, da der Mensch sehr wohl auch als Eremit leben könne.104 Das Naturrecht fungiert daher als Grund, warum den Menschen Fehlverhalten vorgeworfen werden kann; da sie durch ihr Gewissen wissen könnten, dass ihre Tat nach dem Naturrecht als Unrecht anzusehen sei, könnte ihre Schuld festgestellt und damit ihre Tat bestraft werden.105 Das Naturrecht könne auch nicht als Ausdruck dessen gelten, was billig und gerecht (™mfb¬hbf^, aequitas) sei, sondern sei dem Charakter nach Gesetz, das nicht aufgrund allgemeiner Überlegungen derogiert werden könne.106 Im Ergebnis kommt dies der Lehre des Thomas von Aquin nahe: Das Naturrecht ist von Gott gesetztes Recht, aus dem man kein Rechtssystem deduzieren kann, weil es nicht vollständig erschlossen werden kann; aber was erkannt wird, kann das menschliche Recht legitimieren. Das Werk des um einige Jahre älteren Franz Schmalzgrueber SJ (1663-1735) beruft sich gerade im Naturrecht auf Schmier,107 aber in großem Maße werden auch andere Naturrechtsautoren der spanischen Schule oder auch Protestanten wie Wesenbeck und Pufendorf zitiert. Berührungsängste mit dieser Literatur finden sich nicht. Schmalzgrueber betont zunächst, dass Naturrecht die Möglichkeit verstandesmäßiger Erkenntnis voraussetze.108 Naturrecht ist für ihn daher „ordinatio rationis, per sapientiam divinam facta, ut per lumen rationis a Deo omnibus maifestata […]“109. Diese Definition übernahm er weitgehend von Schmier, doch dominiert bei ihm stärker die Bedeutung der Vernunft, dank der das Naturrecht erkannt wird und gleichsam bekannt gegeben ist. Das Naturrecht enthält nach Schmalzgrueber nicht nur allgemeine Prinzipien, wie es Vertreter der spanischen Naturrechtslehre vorgeschlagen hätten, sondern auch spezielle Regeln, insbesondere als Folgerungen aus den allgemeinen Grund__________ 103

Ebd., I.I.II n. 65, S. 70, n. 110, S. 74.

104

Ebd., I.I.II n. 75 ff., 70 f., n. 85, 71.

105

Ebd., I.I.II n. 141, S. 76.

106

Ebd., I.I.II n. 197, S. 80.

107

Zu Schmalzgrueber s. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur (Anm. 100), 3. Buch, S. 160 f.; Constant van de Wiel, History of Canon Law, Louvain 1991, S. 159. 108

Franciscus Schmalzgrueber, Jus ecclesiasticum universum, Bd. 1, Rom 1843, Diss. Prooem. § II, n. 46, S. 24. 109

Ebd., Bd. 1, Diss. Prooem. § II, n. 54, S. 28.

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336

sätzen.110 Da das Naturrecht der Vernunft entspreche, könne man seinen Inhalt auch danach bestimmen, was den Menschen ruhig mache und das öffentliche Wohl fördere.111 Auf diese Weise gelangt Schmalzgrueber zu einer Reihe von Geboten, die er aus allgemeinen Prinzipien und ihren Konsequenzen gewinnt. Er teilt sie in Gebote 1.) gegenüber Gott, wie etwa Gott zu lieben, 2.) Gebote gegenüber sich selbst wie z.B. die Maxime des „honeste vivere“ oder das Verbot der Lügen sowie schließlich 3.) in Gebote gegenüber dem Nächsten, etwa das Prinzip des „neminem laedere“ oder die Obrigkeit zu achten. Mit diesem Absatz endet aber die Behandlung des Naturrechts bei Schmalzgrueber. Obgleich also theoretisch die Möglichkeit einer weitergehenden Deduktion von Naturrechtssätzen möglich ist, schließt er sich im Übrigen der katholischen Tradition an und bearbeitet den überkommenen Rechtsstoff der Kanonistik. Bei einem Autor am Ende des 18. Jahrhunderts, Jacob Anton von ZallingerThurn (1735-1813),112 wurde dann das Naturrecht vollständig rezipiert. Das Werk des Augsburger Kirchenrechtslehrers, die „Institutionum juris naturalis et ecclesiatici publici libri V“ erschienen erstmals 1784 und waren Papst Pius VI. gewidmet, der den Autor sogar für das Werk belobigte.113 Sie sind somit frei vom Verdacht der Häresie.114 Zwar wies er nur ausnahmsweise auf Grotius hin.115 Hobbes und Pufendorf werden dagegen ausführlich vorgestellt, letzterer zudem so häufig zitiert,116 dass der Veracht entsteht, dass gerade dieser Autor für Zallinger als Vorbild und Maßstab diente. Schon allein aus diesem Grund lässt sich hier eine Verbindung der katholischen mit der protestantisch__________ 110

Ebd., Bd. 1, Diss. Prooem. § II, n. 57, S. 31.

111

Ebd., Bd. 1, Diss. Prooem. § II, n. 64, S. 33.

112

Von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur (Anm. 100), 3. Buch, S. 250 f.; Michael Ott, Jacob Anton Zallinger zum Thurn, in: Catholic Encyclopedia, [http://www.newadvent.org/cathen/15745d.htm, zuletzt 22.11.2006]; Amandus van der Wey, J. A. von Zallinger zum Thurn und seine Kantschrift, Diss. Rom, Paderborn 1936. 113 Vergleiche dazu: van der Wey, Jakob Anton Zallinger zum Thurn (Anm. 112), S. 9 ff. (13). Zallinger war ursprünglich Mitglied des Jesuitenordens und studierter Philosoph, hatte sich aber viel mit der Physik beschäftigt. Zum Kirchenrecht kam er erst sehr spät. Erst 1777 nahm er eine Stelle als Kirchenrechtslehrer an der katholischen Studienanstalt in Augsburg an, die er bis 1807 ausfüllte. Er legte bei seiner Arbeit sehr viel Wert auf die Philosophie und ebenso auf das „natürliche Privat- und Staatsrecht“ (S. 13). Ergebnis seiner Arbeiten ist das oben genannte Werk von 1784. 114

Jacob Zallinger, Institutionum juris naturalis et ecclesiastici publici libri V, 1. Aufl., Augsburg 1784; 2. Aufl., Utrecht/Ghent 1823; 3. Aufl., Rom 1832. 115

Etwa ebd., c. 14 § CXIX, S. 175.

116

Ebd., c. 4 § XXIII, S. 40ff zu Hobbes, § XXIV, S. 43 ff. zu Pufendorf.

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337

naturrechtlichen Tradition erkennen. Zur Rechtfertigung seiner Zitation führt Zallinger an einer Stelle aus, Pufendorf habe die universale Rolle der römischkatholischen Kirche anerkannt.117 Entscheidend ist vor allem, dass es nach Zallinger möglich ist, Rechtsregeln aus der Natur zu deduzieren.118 Zwar dürfte keine Deduktion die Tatsache in Frage stellen, dass Gott die Natur perfekt gestaltet habe und an diese Perfektion gebunden sei. Gott gebe dem Menschen die Freiheit zur Handlung, aber die menschlichen Handlungen erzielten ihre Perfektion nur in Bezug auf Gott.119 Schließlich sei Gott das principium essendi auch des Naturrechts.120 Daraus schloss Zallinger auf im Wesentlichen zwei Vorbehalte: Jede Deduktion des Naturrechts müsse alles vermeiden, was Gottes Autorität in Frage stelle, und die höchsten Gebote der christlichen Religion beachten, wie beispielsweise Gott zu lieben und die menschliche caritas gegenüber Gott und dem Nächsten zu üben.121 Durch diesen Vorbehalt der christlichen Religion nach dem Verständnis der katholischen Kirche konnte Zallinger sich im Folgenden ohne Probleme aus dem Fundus von Pufendorfs Rechtslehre bedienen und jederzeit die Ergebnisse nach eigenem Gutdünken anpassen. Diese kleine Auswahl von katholischen Autoren der deutschen Rechtslehre im 17. und 18. Jahrhundert zeigt, wie das Naturrecht immer stärker in die Rechtslehre der deutschen Katholiken Einzug hielt. Es gab schon im 17. Jahrhundert nur wenig Berührungsängste, aber ein wissenschaftliches Bedürfnis, sich mit den Vertretern des protestantischen Naturrechts auseinanderzusetzen. Allmählich erfolgte eine Annäherung, die bei Zallinger sogar in eine Verbindung umschlug. Der durchschlagende Erfolg der Naturrechtslehrer im 18. Jahrhundert verdankt sich damit auch einer Aufweichung der konfessionellen Gegensätze bzw. einem vielgestaltigen Rezeptionsprozess, in dessen Folge die konfessionellen Prägungen nur noch biographisch für die einzelnen Individuen und aufgrund der zahlreichen Überlappungen sehr schwer zu erkennen sind.

__________ 117 Ebd., l.2 c. 1 § CLXVII, S. 241, dabei wird Samuel Pufendorf, Le droit de la nature et des gens, hg. von Jean Barbeyrac, Basel 1732, Reprint Caen 1989, I.I n. 13, S. 13, offenbar missverstanden. 118

Zallinger, Institutionum juris naturalis (Anm. 114), c. 2 § X, S. 14.

119

Ebd., c. 2 § IX, S. 14.

120

Ebd., c. 4 § XXI, S. 35.

121

Ebd., c. 4 § XXII, S. 37ff.

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Dies erleichterte oder ermöglichte sogar die Kant-Rezeption im katholischen Österreich.122

E. Die Sicht von Ignaz Schwarz S.J. I. Zur Person Die „Institutiones juris publici universalis, nature et gentium“123 von Ignaz Schwarz (1690-1763)124 erlauben es dennoch, selbst für die spätere Zeit konfessionell begründete Gegensätze in der Beurteilung des Naturrechts zu erkennen. Schwarz war der erste Geschichtsprofessor an der Universität Ingolstadt und hatte wissenschaftlich ein großes Renommee. Das genannte Werk stammt damit von keinem ausgebildeten Juristen, sondern von einem gebildeten und historisch bewanderten Jesuiten. Gerade aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Societas Jesu nahm Schwarz in den Fragen der Erbsünde die Position des Tridentinums ein und musste die Auffassung des Jansenismus ablehnen. Aus diesem Grund konnte er den Gegensatz zu den protestantischen Autoren besonders klar formulieren. Das Werk ist erstaunlich kenntnisreich geschrieben und zitiert auch heute meist vergessene Autoren des Naturrechts, z.B. die diversen Kommentatoren und Abbreviatoren Grotius’ und Pufendorfs; dagegen werden erstaunlicher Weise Leibniz und Christian Wolff kaum bzw. überhaupt nicht zitiert. Eine Stärke des Werkes liegt gerade darin, die Meinungsverschiedenheiten der protestantischen Autoren untereinander aufzudecken und zu sammeln. Insofern erliegt Schwarz nicht der Versuchung, von einer einheitlichen Naturrechtslehre der Protestanten zu handeln. Vielmehr weiß er gut zwischen den Autoren zu __________ 122 Vgl. z. B. Bruno Schmidlin, Der Begriff der bürgerlichen Freiheit bei Franz von Zeiller, in: Walter Selb/Herbert Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751-1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien/Graz/ Köln 1980, S. 192-225. 123 Genauer Ignatius Schwarz S.J. , Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium, ad normam Moralistarum nostri temporis, maxime Protestantium, Hugonis Grotii, Puffendorfi, Thomasii, Vitriarii, Heineccii, Aliorumque ex recentissimis adoratae, et ad crisin revocatis eorum principiis, primum fusiore, tum succinctiore methodo pro Studio Academico, praesertim Catholico, accomodatae, Pars prima elemento gemino comprehensa, De jure naturae; Pars secunda De jure gentium, Venedig 1760. 124 Zur Person s. Harald Dickerhof, Land, Reich, Kirche im historischen Lehrbetrieb an der Universität Ingolstadt (Ignaz Schwarz 1690-1763) (Ludovico Maximilianea. Forschungen, 2), Berlin 1971, S. 35; zum vorliegenden Werk S. 132 ff.

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differenzieren, obgleich es ihm darum geht, alle protestantischen Autoren zu widerlegen. Seine theologischen Deutungen stimmen mit den Positionen des Tridentinums überein, soweit sich dies nach heutigem Kenntnisstand ermessen lässt. Seine Zitate, auch die der protestantischen Gegner, sind korrekt in Bezug auf Fundstelle und Inhaltswiedergabe. Insofern handelt es sich um ein ernstzunehmendes, höchst gelehrtes und stimmig argumentierendes Werk. Dank seiner dezidierten theologischen Position konnte er sich dem Zeitgeist entgegenstellen und eine groß angelegte Kritik der Naturrechtslehre formulieren. Anhand einiger wesentlicher Punkte der Naturrechtslehre sollen die der Kritik zugrunde liegenden Differenzen im Folgenden noch einmal verdeutlicht werden. Es wird sich dabei herausstellen, dass sich die theologischen Prägungen der neuen Rechtsquellenlehre auch auf die juristischen Dogmen auswirkten.

II. Die Sünden des Naturrechts 1. Welcher Naturzustand? Für Grotius gab es nur einen Naturzustand.125 Das der Kreation zugrunde liegende Recht könne selbst Gott nicht ändern, ohne ungerecht zu werden, denn das Naturrecht sei ein Diktat der Vernunft.126 Weil aber den Menschen auch nach dem Sündenfall noch Vernunft verblieben sei, könnten sie dieses Recht erkennen. Die Ureltern Adam und Eva konnten ihr Recht folglich aufgrund ihrer Vernunft bestimmen. Gleichzeitig sei ihnen nach dem Sündenfall ein Hang zum Bösen inhärent, den Grotius offenbar Arminius folgend als Wesensmerkmal des Menschen begriff. Gerade aus diesen natürlichen Anlagen konnte Grotius den Trieb zur Gesellschaft, den Willen zur Verteidigung der eigenen Güter und die Gefahr für die Güter anderer, die vom Menschen allgemein ausgeht, annehmen. Entsprechend muss das Naturrecht nach Grotius Antworten auf diese Rechtsfragen bereithalten. Sowohl die Rechtsfragen als auch das Recht kann man insoweit unmittelbar der menschlichen Natur entnehmen. Grotius leistete aber noch wesentlich mehr als die Entwicklung dieser Annahmen, insoweit er aus diesen ein immer weiter ausdifferenziertes Normengeflecht erstellte.

__________ 125

Dazu Stephen Buckle, Natural Law and the Theory of Property. Grotius to Hume, Oxford 2002, S. 24 f. 126

Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis, 1,1,x,1.

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Da Rechtsfragen und -antworten direkt aus der menschlichen Natur entnommen wurden, trat nach Grotius die zeitliche Differenzierung zwischen Zuständen vor und nach dem Sündenfall zurück. Insoweit die menschlichen Ureltern keiner Vorurteile vermittelnden Kultur angehörten, konnten sie das Naturrecht ebenso rein gewinnen wie wilde Stämme in unzivilisierten Gegenden, so wie es sich bereits Montaigne vorgestellt hatte.127 Schon Thomasius erhob daher gegen Grotius den Vorwurf, die Stellung der menschlichen Ureltern mit denen der Indianer zu verwechseln.128 In der katholischen Tradition kam dem Naturzustand dagegen keine besondere Bedeutung zu, da in die Zustände vor und nach dem Sündenfall zu unterscheiden war. Prälapsal war die Natur mit dem Menschen perfekt geschaffen: Es gab keine Kriege, keine Geschäfte und keinen Bedarf für Versorgung mit Kleidung und Essen (I.10, 14). Das Leben im Paradies gewährte alle Möglichkeiten, der Mensch habe über alle Mittel verfügt, insbesondere Verstand und freien Willen, um glücklich zu werden. Im Stand der Unschuld hatte er dabei noch nicht die Pflicht, die Glückseligkeit anzustreben. Die Sünde Adams, verstanden als caput morale humani generis129, wird im Tridentinum als Tat aller Menschen gedeutet und damit jedem einzelnen zur Last gelegt. Über die Tat hinaus handelt es sich um eine habituelle Schuld, die sich in den Nachkommen der Protoplasten erhält – selbstverständlich mit der einzigen Ausnahme der Immaculata.130 Die Strafen nach der Erbsünde sind jedoch accidentales und nicht essentiales, haften also nicht der Natur des Menschen an.131 Daher sind die nach der Taufe Wiedergeborenen rein von aller Sünde, selbst die Erbsünde wird von ihnen genommen. Erhalten bleibt nach der Lehre des Tridentinums nur der peccati fomes, der Zunder der Sünde. Das Buch Genesis wird dabei rein geschichtlich gedeutet. Zunächst entwickelte sich die Gesellschaft bis zur Sintflut. Danach segnet Gott Noah und seine Nachkommen und erlässt ein besonderes Verbot des Götzendienstes. Mit

__________ 127

S. dazu o. Anm. 91.

128

Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae (Anm. 55), l.1 c. 2 n. 24, S. 35 Fn. (l). Zur Rechtsquellenlehre von Thomasius s. Liermann, Zur Geschichte des Naturrechts (Anm. 24), S. 309 ff. 129

Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 123), Bd. 1, S. 19. 130

Ebd., Bd. 1, S. 18.

131

Ebd., Bd. 1, S. 20.

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John Selden (1584-1654)132 könnte man daher aus der Bibel das Naturrecht der Hebräer entnehmen.133 Allerdings gilt dies wieder nur für eine bestimmte historische Epoche, denn erst später entstehen die Nationen und Herrscher.134 Dieser Zustand verändert sich aber ebenso bzw. grundlegend durch die Menschwerdung Jesu Christi und das Neue Testament. Später zeigen uns die Lehren der Kirchenväter den Willen Gottes und lehren die Menschen so auch das Naturrecht.135 Zusammenfassend könnte man sagen, dass es für Ignaz Schwarz – auf der Basis des Tridentinums stehend – nicht den einen Naturzustand des Menschen gibt, aus dem auf die Gesellschaft des Menschen geschlossen werden könnte. Vielmehr konstatierte man aus katholischer Sicht eine anhaltende historische Entwicklung, die sich vor allem aus der göttlichen Intervention ergibt. Gott bleibt oberster Gesetzgeber, von seiner Autorität getragen sind die Aussagen des Alten und Neuen Testaments sowie die Kirchenväter. Die Gesellschaftsordnung kann immer nur aus dem jeweiligen historischen Zustand insbesondere im Hinblick auf den letzten geäußerten Willen Gottes eruiert werden. 2. Bestimmung der Autoritäten Für die katholische Kirche blieb die Stellung Gottes als „creator naturae humanae, ita & naturalis legis“ bestimmend.136 Daraus folgte eine Normenhierarchie, in der das natürliche Gesetz auf der göttlichen Autorität gründet und mit Gottes Willen jederzeit verändert werden kann; das Naturrecht regierte daher nicht allein. Damit gewannen Altes und Neues Testament eine gesteigerte Autorität, denn nunmehr konnten sie als Äußerungen des göttlichen Willens als über dem Naturrecht stehend betrachtet werden: „Divina vetus in Testamento veteri; nova in novo Naturae legi est superaddita a Deo.“

Gott blieb damit der höchste Gesetzgeber und behielt sein Recht zur Veränderung der Gesetze:

__________ 132 Zu diesem Werk vgl. nun Jason P. Rosenblatt, Renaissance England’s Chief Rabbi: John Selden, Oxford 2006. 133 Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 123), Bd. 1, S. 34. 134

Ebd., Bd. 1, S. 38, 39f.

135

Ebd., Bd. 1, S. 51, 52.

136

Ebd., Bd. 1, S. 2.

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342

„Hujus qualiscunque jurisdictionis, seu legis, origo prima est Deus, legislator summus, non enim est potestas nisi a Deo vel immediate, vel mediate: […]“.

Auch wenn man aus der Natur Gesetzeszustände ablesen wollte, musste man nach möglichen Differenzen zum sonst geäußerten göttlichen Willen fragen. Insofern veränderte sich nicht nach der offiziellen katholischen Auffassung während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die schon in der Scholastik formulierte Stellung der lex naturae zwischen der lex divina und der lex positiva. Grotius dagegen konnte sein Naturrecht durchaus vom ius divinum trennen und als eigenständige Erkenntnisquelle begreifen: Die Rache gegen den, der das eigene Recht verletzt, erschien Grotius nach Naturrecht zulässig; der Zweikampf sei auch zum Beweis der Unschuld zulässig.137 Duelle wurden durch das Tridentinum jedoch ausnahmslos verboten als Verletzungen des göttlichen Rechts. Grotius konzedierte immerhin, dass die göttlichen und menschlichen Gesetze zu einem anderen Ergebnis kommen könnten. Das Alte wie das Neue Testament kann man nach dieser neuen protestantischen Auffassung als schriftliche Darlegung des Naturrechts interpretieren.138 Insoweit stimmte Grotius mit dieser Position überein. Er argumentierte durchaus mit der Bibel und bezeichnet das Neue Testament als Gesetz Christi. Aber es fragt sich, inwieweit andere Quellen hinzutreten konnten.139 Die Hinzunahme der Kirchenväter als Autoritäten widersprach ebenso wenig dem Vorgehen Grotius’. Bei der Ehe stützte sich die Kirche konsequent auf die Kirchenväter, päpstliche Dekretalen und Autoren der Scholastik sowie der spanischen Spätscholastik.140 Im Gegensatz zu Schwarz und der offiziellen Position der Kirche zitierte Grotius jedoch eine Fülle von antiken, nichtchristlichen Autoren als Autoritäten, etwa neben den antiken griechischen und lateinischen Autoren auch jüdische Gelehrte wie Maimonides. So entsteht bei ihm eine eigenständige Mixtur der Quellen aus dem Neuen Testament, dem Alten Testament und den antiken nichtchristlichen Autoren. Das Ergebnis verglich er mit den Anschauungen der Kirchenväter oder der antiken Philosophen. Grotius schöpfte aus dieser Verbindung die Kraft zu neuen Ansichten. __________ 137

Vgl. Grotius, De jure belli ac pacis (Anm. 126), L.2 c. 20 § 8 n. 4; c. 15 § 15.

138

Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 123), Bd. 1, S. 45. 139

Vgl. Grotius, De jure belli ac pacis (Anm. 126), II.5.

140 Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 123), Bd. 2, S. 26 ff.

Perspektiven einer protestantischen Rechtsquellenlehre

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Umfangreich zitiert er beispielsweise christliche und heidnische Autoritäten zur Frage, ob die Lüge zulässig sein kann, ohne dabei zwischen der Autorität der Autoren zu differenzieren.141 Danach wirft er die Frage nach einer vermittelnden Lösung auf.142 Die Lüge kann ihm zufolge im Ergebnis aus fünf Gründen zulässig sein, etwa weil sonst das Leben eines Unschuldigen nicht gerettet werden kann. Grotius leitet dies aus der natürlichen Freiheit her. Diese Auffassung kollidiert nach Schwarz mit der katholischen Lehre,143 nach der die Entscheidung über die Zulässigkeit der Autorität der Kirche nicht dem Einzelnen überlassen wird. Die Zitation nichtchristlicher Autoren war aus katholischer Sicht dagegen nur dann unschädlich, wenn die klare Hierarchie der Autoritäten Beachtung fand. Aristoteles sowie die anderen nichtchristlichen Autoren durften, wie Schwarz ausführt, nicht als unumstößliche Autoritäten angesehen werden. Ihre Lehre gelte nur solange und insofern, als kein Widerspruch zur Bibel oder anderen kirchlichen Autoritäten gefunden werde.144 Im Ergebnis erweiterte Grotius durch seine zahlreicheren Autoritäten die Gestaltungsmöglichkeiten für die Bestimmung seines Naturrechts. Dabei setzten sich oft die herkömmlichen Wertungen, wie etwa im Fall des Eherechts, durch. Für den Inzest ermittelte er die üblichen Präzisierungen,145 was für die Katholiken aus dem Buch Leviticus in Verbindung mit der päpstlichen Lehre __________ 141 Den geistesgeschichtlichen Hintergrund verdeutlicht Andrea Tagliapietra, Filosofia della bugia, Milano 2001, S. 282 ff., 296 ff., der nach Thomas von Aquin erst bei Montaigne und Bacon wieder einsetzt. Aus juristischer Sicht Leonhard Adam, Die Lüge im Recht, in: Otto Lipmann/Paul Plaut (Hg.), Die Lüge, Leipzig 1928, S. 152-186. 142

Vgl. Grotius, De jure belli ac pacis (Anm. 126), III.1.9 und 10. Dazu Hélène Bouchilloux, Grotius et la question du droit de mentir, in: Luc Fosneau (Hg.), Politique, droit et théologie chez Bodin, Grotius et Hobbes, Paris 1997, S. 131-154; zum Standpunkt der katholischen Kirche, insbesondere des Tridentinums, vgl. Gregor Müller OSB, Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge (Freiburger Theologische Studien, 78), Freiburg u.a. 1962, S. 195 f. Jetzt auch Leif Böttcher, Von der Lüge zur Mentalreservation. Über den Einfluss von Moralphilosophie und -theologie auf das Bürgerliche Recht, Göttingen 2007, S. 193 ff., hier findet sich auch der größere dogmenhistorische Rahmen. Böttcher stellt jedoch nicht auf das hier für wesentlich angesehene Freiheitsmoment ab. 143 Schwarz, Institutiones juris publici universalis, nature, et gentium (Anm. 123), Bd. 2, S. 41 ff.; der Sache nach liegt Grotius’ Position allerdings nicht weit entfernt, vgl. Böttcher, Von der Lüge zur Mentalreservation, S. 196. 144

Ebd., Bd. 1 (Anm. 123), S. 48.

145

Ebd., Bd. 2 (Anm. 123), S. 5, 14.

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folgt.146 Dabei setzten sich an markanten Stellen seine protestantischen Prägungen durch, etwa wenn er aus der größeren Kraft der Männer für sein Naturrecht auf die stärkere Stellung des Mannes in der Ehe schloss.147 Grotius konnte sich zwar auf Eph 5,23 berufen, aber für die katholische Kirche blieb die Ehe ein Sakrament, das sich die Ehepartner notwendigerweise gegenseitig und gleichberechtigt spenden. Das Tridentinum gebot, der Kirche zusätzliche Definitionsmacht im Eherecht anzuerkennen. An manchen Stellen entwickelte Grotius aber auch neue wegbereitende Auffassungen wie etwa sein Prinzip des Rechts auf Selbstverteidigung. Je größer der Kanon der konsultierten Autoritäten ist, desto leichter kann man Widersprüche feststellen. Die Frage, wie mit den Widersprüchen umgegangen werden soll, beunruhigte jedoch nur die katholische Seite, die eine Hierarchie des Naturrechts verschiedener Verpflichtungsgrade aufstellte, um die richtigen Ergebnisse sicherzustellen.148 Grotius wog dagegen frei nach der natürlichen oder moralischen Nützlichkeit ab. 3. Die Stellung der Kirche im Naturrecht Damit verlagert sich das Problem auf die klassische Frage des „quis iudicabit“. In Grotius’ Werk ist es ohne Unterlass der Autor selbst, der die Abwägungen trifft, auch wenn er seine Gründe offen legt und dabei nachzuweisen versucht, dass er die Wertungen aus obersten Prinzipien ableitet. Das Tridentinum verteidigte dagegen die Definitionsmacht der Kirche. Verteidigt wurde nicht nur die Stellung des Papstes als Stellvertreter Gottes, sondern auch das Recht der Kirche, von der Sünde loszusprechen. Um den einzelnen Gläubigen zu erreichen, war die Hierarchie notwendig, gleichzeitig die Unterwerfung des Menschen unter die Gerichtsgewalt seines Bischofs, der über die Lossprechung entschied. Gerade die Hierarchie der katholischen Kirche erscheint daher als Palladium der Religion.149 Die Annahme einer kirchlichen Autonomie oder eines Herrschaftsrechts des Fürsten in Religionssachen ist verfehlt.150 Denn Christus selbst errichtete die Herrschaft der Kirche; da er als Lehrer, nicht als Kriegsherr

__________ 146

Ebd., Bd. 2, S. 31.

147

Ebd., Bd. 2, S. 5, 8.

148

Ebd., Bd. 1 (Anm. 123), S. 31.

149

Ebd., Bd. 2 (Anm. 123), S. 243.

150

Ebd., Bd. 2, S. 257.

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kam, ergibt sich die Bedeutung der rechten Lehre.151 Die Fürsten herrschen nur Dei gratia.152

F. Zusammenfassung Die Untersuchung hat zunächst die politischen Konsequenzen der neuen Rechtsquellenlehre deutlich gemacht: Die Möglichkeit einer von der Kirche unabhängigen Erkenntnis des Rechts widersprach dem päpstlichen Anspruch, als oberste Glaubensautorität auch die Gültigkeit von Rechtslehren bestimmen zu können. Insoweit ist die Attraktivität der frühneuzeitlichen Naturrechtslehre auch unmittelbar verständlich, die die Gefahr des Entstehens einer Theokratie bannte und eine Unabhängigkeit der Rechtserkenntnis garantierte. Die Übersicht über die ersten Stellungnahmen zum Naturrecht hat die Bedeutung der Theologie, insbesondere der Lehre von der Erbsünde aufgezeigt. Für die Ableitung des Rechts aus der menschlichen Natur ist es entscheidend, ob man den Mensch substanziell als sündig oder als zum Guten fähig ansieht. Noch entscheidender für die Annahme einer Naturrechtslehre überhaupt ist jedoch die Auffassung, eine allgemeine Natur des Menschen annehmen zu können, die sich selbst durch den Sündenfall nicht verwandelt. Erst dann konnte man den Zustand der Protoplasten mit dem der Eingeborenen fremder Kontinente gleichsetzen. Man darf also bei Grotius nicht nur die Fortführung der scholastischen Naturrechtslehre feststellen.153 Selbst wenn man von der veränderten Hierarchie des Naturrechts im Hinblick auf die lex aeterna absieht, muss man beachten, dass die Rezeption des Naturrechts nur aufgrund konfessionell bestimmter Vorgaben möglich war. Wegen der Bedeutung der Theologie für die Naturrechtslehre ist nicht nur zwischen einer juristischen und einer philosophischen Richtung des Naturrechts zu trennen.154 Vielmehr ist auf die Differenzen zwischen protestantischen und katholischen Positionen aufmerksam zu machen, zumindest bis ins 17. Jahrhundert. Die Dominanz der Naturrechtslehre in der Französischen Revolution weist auf Rezeptionsvorgänge im katholischen Lager hin, die noch der __________ 151

Ebd., Bd. 2, S. 260.

152

Ebd., Bd. 2, S. 261.

153

Christoph Link, Hugo Grotius als Naturrechtslehrer, Tübingen 1983, S. 17.

154

So Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (Anm. 29), 196 ff., S. 206.

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näheren Untersuchung harren. Es ist einerseits ein Einfluss des Jansenismus zu vermuten, obgleich dieser durch die Kurie abgelehnt und unter Louis XIV ab 1680 verfolgt wurde. Andererseits verstand man die Lehren des Naturrechts immer weniger als theologisch bestimmte Position, sondern allgemein als Gebote der Menschlichkeit und damit als philosophisch gebotene, für die Gesellschaft notwendige Regeln.155 Im Hinblick auf die Prozesse gegenseitiger Beeinflussung der Konfessionen hinsichtlich der Erbsündenlehre wird verständlich, warum Grotius und die anderen Autoren zunehmend auch von Katholiken rezipiert werden konnten. Nur so ist es zu verstehen, dass Grotius für den internationalen Rechtsverkehr zwischen souveränen Staaten zunehmend als Autorität in protestantischen und katholischen Ländern gelten konnte. Sein Hauptwerk und die Naturrechtslehre allgemein verstand man zunehmend als Grundlage des europäischen Rechtsverkehrs, ohne dass hier konfessionell unterschieden wurde. Damit lässt sich beobachten, wie eine zunächst protestantische Idee ihres konfessionellen Gewandes entledigt wurde, und so zu einer Grundannahme aller europäischen Staaten wurde. Der Papst wurde gezwungen, seine Position zu korrigieren, um weiterhin Mitglied der Staatengemeinschaft zu bleiben. Die kulturellen Gemeinsamkeiten Europas beruhen damit nicht nur auf einer Rechtsordnung, sondern auch auf gemeinsamen theologischen Konzeptionen. Dieses bis heute wirkende europäische Recht ist nicht nur stärker christlich geprägt, als man bisher wahrhaben wollte. Auch die prägende Kraft der Reformation in der Jurisprudenz ist größer, als man bisher annahm. Wesentliche Regeln der heutigen Rechtsordnung sind vielleicht nicht in sich selbst christlich oder gar protestantisch, sind aber jedenfalls historisch ohne diese Anstöße nicht zu erklären.

__________ 155 So der schweizerische Protestant Emeric de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite & aux affaires des nations & des souverains, Neuchatel 1773, Bd. 1 II.1 § 2, S. 241: „Les offices de l’humanité sont ces secours, ces devoirs, auxquels les hommes sont obligés les uns envers les autres, en qualité d’hommes, c’est-à-dire en qualité d’êtres faits pour vivre en société, qui ont nécessairement besoin d’une assistance mutuelle, pour se conserver, pour être heureux, & pour vivre d’une maniere convenable à leur nature. Or les nations n’étant pas moins soumises aux loix naturelles que les particuliers […].“

Herrschaftsbegründung und Kirchenhoheit bei Hugo Grotius1 Von Christoph Link, Erlangen

A. Herrschaftsbegründung Mein Doppelthema bereitet in seinem ersten Teil, der staatlichen Herrschaftsbegründung, gewisse Schwierigkeiten dadurch, dass Grotius in seinem publizistischen Hauptwerk „De jure belli ac pacis von 1625“2, das in seiner Langzeitwirkung allenfalls mit dem „Leviathan“ des Thomas Hobbes und Rousseaus „Contrat social“ vergleichbar ist, keine in sich konsistente Staatslehre entwickelt – ebensowenig übrigens wie eine Lehre vom Völkerrecht im modernen Verständnis. Worum es ihm geht, ist ein System von Rechten und Rechtsverletzungen zu entwerfen, das sich vom Individuum und privaten Vereinigungen bis hin zur Staatengemeinschaft aufbaut und dessen argumentatives Fundament eine spezifische Rechts- und Rechtsquellenlehre bildet. Das Problem besteht also darin, die über das Gesamtwerk verstreuten und in unterschiedlichen Zusammenhängen stehenden Äußerungen über die Rechtsgrundlagen politischer Herrschaft zu einem aussagekräftigen Gesamtbild zusammenzufügen. Diese Schwierigkeit erklärt auch viele Interpretationsdifferenzen in der überaus reichhaltigen Grotius-Literatur in Vergangenheit und Gegenwart.3 __________ 1

Reinhard Richardi zum 70. Geburtstag in alter freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet. 2 Hugo Grotius, De iure Belli ac pacis libri tres, in quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur, zuerst Paris 1625 (dt. Übersetzung von Walter. Schätzel, 1950), hier nach der von Johannes Friedrich Gronovius und Johannes Barbeyrac kommentierten, von Meinardus Tydeman edierten Ausgabe Traiecti ad Rhenum 1773, auf die sich auch die Seitenangaben beziehen (i. Folg. zitiert: JBP) Übersicht über Auflagen, Kommentierungen und Übersetzungen in der von Hans Ulrich Scupin u. Ulrich Scheuner hg., von Dieter Wyduckel bearb. Althusius-Bibliographie, Berlin 1973, S. 103 f. 3 Genannt seien insbes. Lotte Barschak, Die Staatsanschauung des Hugo Grotius, Bijtragen voor Vaderlandsche Geschiedenis en Ouheidkunde, s’Gravenhage 1926, III,

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Christoph Link

I. Naturrecht als Vernunftrecht 1. Säkularisierung des Naturrechts? Primäre Grundlage allen menschlichen Gemeinschaftslebens ist für Grotius das Naturrecht. Bei einem Autor des 17. Jahrhunderts wäre eine solche Feststellung eine Trivialität, hätte die Naturrechtsidee bei Grotius nicht eine neue, aus der Tradition heraustretende Qualität. Das Entscheidende scheint mir dabei nicht die Säkularisierung des Naturrechts zu sein, für die Grotius seit dem 19. Jahrhundert immer wieder verantwortlich gemacht wird. Das berühmte „Etiamsi daremus…“4 hat eine lange theologische Vorgeschichte; es stellt den Menschen nicht in eine Welt ohne Gott, sondern enthält eine Absage an den rechtsetzenden Voluntarismus, auch an ein voluntaristisches Gottesbild.5 __________ S. 193 ff., IV S. 9 ff.; Ernst Lewalter, Die geistesgeschichtliche Stellung des Hugo Grotius, in: Dt. Vierteljahreshefte f. Lit.wiss. u. Geistesgesch. 11 (1933), S. 262 ff.; Paul Ottenwälder, Zur Naturrechtslehre des Hugo Grotius, Tübingen 1950; Malte Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, Köln/Graz 1959; ders., Art. „Grotius“, in: StLexGörrG, 2, 19867, Sp. 1092 f.; Erik Wolf, Hugo Grotius, in: ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 253 ff.; Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 249 ff.; Karl-Heinz Ziegler, Art. „Grotius, Hugo“, in: HRG 1, 1971, Sp. 1815 ff.; Günther Hoffmann-Loerzer, Topik und Politikwissenschaft, in: ARSP 63 (1977), S. 379 ff.; ders., Grotius, in: Hans Maier u. a. (Hg.), Klassiker des politischen Denkens, 1, 3. Aufl., München 1969, S. 300 ff.; Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien 1979, S. 232 ff.; 238 f. u. ö.; ders., Hugo Grotius als Staatsdenker, Tübingen 1983; Wolfgang Fikentscher, De fide et perfidia – Der Treugedanke in den Staatsparallelen des Hugo Grotius (Sitzungsber. d. Bay. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., 1), München 1979; Hartmut Schiedermair, Hugo Grotius und die Naturrechtsschule, in: Bodo Börner (Hg), Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschr. f. K. Carstens, Köln 1984, S. 477 ff.; Hasso Hofmann, Hugo Grotius, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. München 1995, S. 52 ff.; Reinhard Zimmermann/D. L. Carey-Miller, Generis humani iuris consultus: Hugo Grotius (15831645), in: Jura (1984), S. 1 ff.; Christoph A. Stumpf, The Grotian Theology of International Law, Berlin 2006. 4

(Das zuvor über das Naturrecht Gesagte behielte seine Gültigkeit auch dann,) etiamsi daremus, quod sine summo scelere nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana (JBP Prol. 11 [S. X]). Dazu u. zum Folgenden jetzt Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 51 ff. m. Nachw. 5 Dazu James Staint Leger, The „etiamsi daremus“ of Hugo Grotius, Diss. Rom 1962; Link, Grotius (Anm. 3), S. 14 f.; Hofmann, Grotius (Anm. 3), S. 71 ff., jeweils m. w. Nachw. – Zur Vorgeschichte Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl., Reprint Aalen 1958, S. 74 f. und (berichtigend) Welzel, Naturrecht (Anm. 3), S. 94.

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Es ist die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens, des Glaubens an einen nicht willkürlich handelnden Gott, der mit der Vernunft sein eigenes Lebensprinzip in seiner Schöpfung realisiert hat. Für das Recht bedeutet das, dass Rechtsidee und Gerechtigkeit, mithin dem Naturrecht, eine Realität zukommt, deren Erkennbarkeit auch von menschlicher Gotteserkenntnis abstrahiert gedacht werden kann, dass – wie Grotius einmal provokativ formuliert – selbst Gott das Naturrecht nicht ändern kann.6 Dem frommen Theologen, der Grotius auch ist, kommt es freilich nicht in den Sinn, als Quelle solcher Vernunft den Schöpferwillen Gottes in Zweifel zu ziehen, der den Menschen eben als vernunftbegabtes Wesen geschaffen hat.7 2. Der consensus omnium Grotius ist sich der hohen Anforderungen bewusst, die ein solcher Ideenrealismus an den Nachweis vernünftiger Rechtssätze stellt. Er deduziert sie nicht als Konklusionen aus obersten Prinzipien, also aus einem abstrakten System religiöser oder ideologischer Provenienz. Als Nachweis der Vernunftgemäßheit einer Regel dient ihm vielmehr die Fülle menschlicher Rechtserfahrung aller Zeiten und bekannten Kulturen. Der consensus omnium ist Indiz für die Richtigkeit einer Norm.8 Diese breite empirische Basis verhindert allzu rasche inhaltliche Verengungen: Die Variationsbreite menschlicher Erfahrung unter unterschiedlichen historischen, religiösen, sozio-kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen lässt Grotius in einer manchmal wertfrei anmutenden Argumentation und topischen Methodik9 verschiedene rechtliche Problemlösungen und Formen politischer Ordnung als gleichermaßen naturrechtlich legitim bestimmen. 3. Die Entkonfessionalisierung des Naturrechts Dieses offene, insbesondere nicht durch theologische Apriori verengte Naturrechtsverständnis ermöglicht es Grotius, in einer Zeit religiöser Auseinandersetzungen (auf die noch zurückzukommen ist), mitten im Zusammenprall der großen konfessionellen Blöcke des Dreißigjährigen Krieges eine Naturrechtslehre zu entwerfen, die für Katholiken wie für Protestanten gleichermaßen Verbindlichkeit beanspruchte, ja mehr noch: Für Christen wie

__________ 6

JBP I 1.10.5 (S. 11).

7

Das zeigt Grotius schon in den auf das „etiamsi daremus“ folgenden Sätzen (JBP Prol. 11 [S. X]). 8

JBP Prol. 40 (S. XXV).

9

Dazu Hoffmann-Loerzer, Topik (Anm. 3), S. 392 ff.

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Heiden,10 denn die Entdeckung der Neuen Welt hatte den Blick über Europa hinaus geweitet und die Handelsinteressen der seefahrenden Nationen verlangten auch hier nach einem gemeinsamen Rechtsboden. Sollten dessen Fundamente nicht nur auf bloßer Macht gründen, so konnten sie nur auf dem Grund des allen Menschen gemeinsamen Vernunftbesitzes gelegt werden.11 Es ist eine „Rechtsordnung ohne Souverän“12, d.h. ohne päpstliche Rechtssuprematie, aber auch ohne den späteren Voluntarismus eines Thomas Hobbes, für den der Wolf im Menschen an die künstlichen Ketten des Gesetze gelegt werden muß und allein die Autorität des von der Gesellschaft zu ihrem Schutz eingesetzten Herrschers rechtsverbindlich über Gut und Böse entscheidet, nicht ein als gut und gerecht vorgegebenes Naturrecht. 4. Naturrecht als verbindliche Rechtsethik Und es ist eine Ordnung, die Recht und Moral zwar unterscheidet, aber nicht voneinander trennt.13 Bonum und aequum sind im Naturrecht14 zu einer lebendigen Rechtsethik verbunden. Nicht das ist bei Grotius das Neue, hier steht er durchaus in der scholastischen Tradition; das eigentlich Neue, ja Revolutionäre ist die Dichtigkeit und Kohärenz des so gewonnenen Rechtssystems. Es umfasst – mit unmittelbarem Geltungsanspruch – nahezu alle Aspekte menschlicher Gemeinschaft. Es ist – im positiven Sinne des Wortes – ein Prozeß totaler Verrechtlichung aller Bereiche des Soziallebens im gesellschaftlichen, staatlichen und überstaatlichen Raum; Recht ist für Grotius, um ein glückliches Wort Erik Wolfs zu zitieren, die „Grundwissenschaft des sozialen Lebens“,15 es ist eine Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz und kann gerade deshalb nur als vernünftige, durch Konsens der Vernünftigen akzeptierte Ordnung Bestand haben. Indem Grotius dieses Programm bis ins einzelne ausformt, indem er die sozialen Beziehungen der Menschen als Rechtsbeziehungen begreift, bleibt auch in der staatlichen Gemeinschaft kein __________ 10

JBP Prol. 48-50 (S. XXXIII f.). Dazu Link, Grotius (Anm. 3), S. 13 f., 19 f.

11

JBP I 1.10.1 (S. 9 f.); II 15.8 (S. 473): Nam id ius (naturae) ita omnibus hominibus commune est, ut Religionis discrimen non admittat. – Dazu eingehend Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 11 ff. 12

Hofmann, Grotius (Anm. 3), S. 73.

13

Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 26 ff.

14

JBP II 18.4.3 (S. 526); dazu Hofmann, Grotius (Anm. 3), S. 67, 74.

15

Grotius (Anm. 3), S. 261. Sie beruht auf der neuzeitlichen „Idee, dass Ordnung und Unordnung scharf und genau getrennt sind oder getrennt werden können“ (Merio Scattola, Krieg des Wissens – Wissen des Kriegs, Konflikt, Erfahrung und System der literarischen Gattungen am Beginn der frühen Neuzeit, Padova 2006, S. 7).

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rechtsfreier Raum, der dem Kalkül der Macht zur Ausfüllung überlassen ist.16 In diesem Sinne gebührt Grotius ein Ehrenplatz in der Ahnenreihe des Rechtsstaatsprinzips.

II. Herrschaft aus Vertrag Damit ist das Naturrecht auch das Fundament der Staatlichkeit, es begründet und begrenzt alle Herrschaftsgewalt. Es ist nicht deckungsgleich mit dem ius civile, dem positiven staatlichen Recht, aber es bleibt doch dessen Maßstab und Richtschnur.17 Für dieses bildet – wie auch sonst im Gemeinschaftsleben – der Vertrag die Grundfigur aller rechtlichen Kommunikation, d.h. auch das ius civile hat seinen Ursprung im Vertrag.18 1. Naturstand und Sozialvertrag Dessen Notwendigkeit folgt aus der vorstaatlichen Befindlichkeit des Menschen und – wie stets in den Naturrechtssystemen der Folgezeit – zeichnet auch Grotius sein Staatsbild auf die Folie des vorangegangenen Naturstandes, aus dessen Ausdeutung dann wie von selbst die jeweiligen staatlichen Herrschaftsstrukturen folgen.19 Das Staatsbild ist darum notwendige Konsequenz des Menschenbildes. Während Hobbes aufgrund seiner pessimistischen Anthropologie aus dem Chaos eines Krieges aller gegen alle den Staat als kraftvolle Zwangsordnung hervorgehen lässt, in der es gegenüber dem Herrschergebot keine Berufung auf übergeordnete Rechtswerte geben kann, entwirft Grotius ein Vierteljahrhundert zuvor das Kontrastmodell: Nicht der Fluch ungezähmter Freiheit, sondern ein appetitus societatis,20 ein Naturtrieb des Menschen zur Gemeinschaftsbildung und zur gemeinschaftlichen Bewältigung sozialer Probleme ist Ursache der __________ 16 Wolf, Grotius (Anm. 3), S. 254; das gilt auch für eine auf Nützlichkeitsgesichtspunkte reduzierte Politik (JBP Prol. 57 [S. XXXVI f.]), dazu Hofmann (Anm. 3), S. 79. 17

JBP Prol. 16 (S. XIII); III 23.5.3 (S. 1024) u. ö.

18

JBP Prol. 15 f. (S. XII f.). Dazu noch immer wichtig Diesselhorst, Versprechen (Anm. 3), bes. S. 34 ff. 19 Zu den Wandlungen dieser „theoretischen Grundfiguren“ in der Folgezeit Michael Stolleis, Aufklärung und öffentliches Recht, in: Heinrich de Wall/Michael Germann (Hg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschr. f. Ch. Link, Tübingen 2003, S. 851 ff. (858 f.). 20

JBP Prol. 6, 7, 9 (S. V f., IX).

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Staatsentstehung. Grotius’ Staat trägt deshalb auch deutlich freiheitlichere Züge als der seines späteren englischen Antipoden. Denn bei aller hoheitlichen Ordnungskompetenz liegt dessen Primäraufgabe nicht allein in der Sicherheitsgewährleistung, sondern auch in der einvernehmlichen Lösung der Gemeinschaftsaufgaben. Die Bindung aller Hoheitsgewalt an das Naturrecht hebt dessen ursprünglichen Freiheitsbezug nicht auf, sondern erhält und sichert die Freiheit im Rahmen der Sozialverträglichkeit. Die alte Hypothese des Gesellschaftsvertrags wird von Grotius differenziert. Danach bewirkt der appetitus societatis zuerst den Zusammenschluß zum populus als einer rechtlich handlungsfähigen Einheit.21 Vertragsparteien sind die patres familiarum, die Hausväter.22 Das Volk bildet die erste und umfassende consociatio publica, in der das Mehrheitsprinzip herrscht.23 2. Der Herrschaftsvertrag Entscheidend für die Begründung des Staates als rechtlich geordneter Territorialverband24 ist jedoch jener zweite Vertrag, der die Verfassungsstruktur des Gemeinwesens bestimmt. Als Grundtypen stehen hier Demokratie25, Aristokratie26 und Monarchie27, aber auch eine Fülle legitimer Mischformen28 zur Wahl. Gerade diese Offenheit vermeidet eine Fixierung auf den starren Kanon der aristotelischen Staatsformenlehre, die atypische Staatsge-

__________ 21 JBP Prol. 15 f. (S. XII f.); II 5. 17 (S. 289); II 5.23 (S. 294). Dazu Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert (Abh. d. Bay. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl, 70), München 1970, S. 75; Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 116 ff. 22

JBP II 5.23 (S. 294). Zur Inpflichtnahme der Stände in früheren Grotiusarbeiten s. Barschak, Staatsanschauung (Anm. 3), III, S. 214, 216, 231. 23

Dazu JBP II 5.17 (S. 289).

24

Michael Stolleis, Jus belli ac pacis und der frühmoderne Staat, in: Mario Ascheri u.a. (Hg.), „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert“: Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 993 ff. (996); Scattola, Krieg des Wissens (Anm. 15), S. 122 ff. 25 JBP II 9.8.1 (S. 369); zu Grotius’ Vorbehalten gegenüber demokratischen Staatsformen Barschak, Staatsanschauung (Anm. 3), III, S. 224 f. 26

JBP I 3.8.11 (S. 105).

27

JBP I 3.13.1. (S. 119).

28

JBP I 3.15 ff. (S. 121 ff.).

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staltungen nur als „monstro simile“29 wahrzunehmen vermochte. Andererseits ist Grotius Skeptiker genug, um nicht das Heil von einer Verfassungsform allein zu erwarten: „Man kann sich keine Regierungsform vorstellen, die von Nachteilen und Gefahren völlig frei wäre.30 3. Unbeschränktes und beschränktes imperium Dieser Herrschaftsvertrag hat damit drei Aspekte. Zum einen begründet er die oberste Gewalt, die summa potestas und macht damit den Staat zur vollkommenen consociatio,31 zum corpus artificiale.32 Zum anderen bestimmt er mit der Staatsform auch den Träger der Hoheitsgewalt: Die Mehrheit in der Demokratie, ein ständisches Optimatengremium in der Aristokratie, einen Herrscher oder eine Dynastie33 in der Monarchie. Und schließlich wird darin über verfassungsrechtliche Bindungen, über Beschränkungen oder die Unbeschränktheit der Herrschaftsübertragung entschieden.34 Wichtig ist, dass der Herrscher Vertragspartner, also vertraglich gebunden ist, dass er nicht – wie __________ 29

So bekanntlich Samuel Pufendorf (Pseudon. Severinus de Monzambano), De statu Imperii ad Laelium fratrem liber unus (1667), cap. 6 § 9, über das Alte Reich. 30

JBP I 3.8.1 (S. 98).

31

Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl., München 2003, S. 119 ff. – JBP I 1.14 (S. 18): „Est autem civitas coetus perfectus liberorum hominum, juris fruendi et communis utilitatis causa sociatus“. 32

JBP II 3.1. (S. 364 f.).

33

Auch in der Erbmonarchie muss sich deshalb die konkrete Thronfolge auf eine ursprüngliche (vertragliche) Einsetzung gründen (JBP I 3.10.5 [S. 111]; II 7.15 [S. 330]). 34 JBP I 3.17.1 (S. 125); s. a. I 3.8.2 (S. 98); 11 (S. 105); 10.4. f. (S. 111 f.); I 3.14 (S. 121); I 3.16. 1 f. (S. 122 f.); I 3.20 (S. 128 ff.) u. ö. – Die Staatsgewalt bleibt auch dann souverän, wenn sie gegenüber den Untertanen vertragliche Bindungen im Hinblick auf die Regierungsführung eingeht (JBP I 3.16.1 [S. 122]). Damit ist nicht nur die von Grotius unbezweifelte Bindung an das natürliche und göttliche Recht gemeint, sondern auch an solche Regeln, an die sie ohne ausdrückliches Versprechen nicht gebunden wäre (ebd.). Dazu gehören leges fundamentales, aber auch das Regieren nach den von der summa potestas selbst gegebenen Gesetzen. In diesen Fällen ist nicht die Souveränität an sich betroffen, sondern nur die Art ihrer Ausübung. Darin zeichnet sich die spätere Unterscheidung von maiestas realis und personalis ab (dazu Rudolf Hoke, Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnaeus, Aalen 1968, S. 54 ff., 221 ff.; ders., Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft im 17. Jhdt., in: Der Staat 15 [1976], 211 ff./225 f.) Für das ius civile kann die legibus soluta potestas also nur kraft ausdrücklicher Promissio des Herrschers aufgehoben werden (JBP ebd., vgl. auch II 4.12.1 [S. 260]). Allerdings gebietet es die Staatsklugheit, auch ohne eine solche Verfassungsbindung gesetzeskonform zu regieren (De imperio summarum potestatum circa sacra – s. u. Anm. 81 – VI 19 – I S. 59).

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dann bei Hobbes – außerhalb des vertraglichen Nexus steht, da sich die Partner des Gesellschaftsvertrags einander nur gegenseitig die Unterwerfung unter eine absolute Staatsgewalt versprechen. Das alles hat Grotius nicht erfunden. Die Vertragstheorie hat eine lange Vorgeschichte35 und ihre naturrechtliche Ausformung ist – wenn auch mit charakteristischen Abweichungen – etwa bei Althusius36 vorgebildet. Neu ist aber, dass Grotius hier nicht das Idealbild eines christlichen Staates entwirft, sondern nahezu wertfrei die unterschiedlichsten Gestaltungsformen an historischen Beispielen, vorzugsweise aus Antike und Altem Testament vorführt. Dabei ist das Volk so frei, sich seiner Rechte auch völlig zu entäußern, ja sich sogar in Knechtschaft zu begeben. Die spätere Lehre vom „imperium herile“, in dem der Herrscher nicht dem Gemeinwohl verpflichtet ist, sondern seinem eigenen Nutzen dient, diese Karikatur eines Herrschaftsvertrages ist hier – soweit ich sehe – zum ersten Mal rechtlich durchgeformt.37 Sie beruht auf dem Grundsatz volenti non fit iniuria. Freilich entsteht nicht jeder Staat durch derartige Verträge. Auch Eroberung oder Herrschaftsusurpation heben die Staatsqualität nicht auf.38 Darauf ruht letztlich der moderne Völkerrechtssatz, dass die Völkerrechtssubjektivität von Staaten nicht die Legitimität ihrer Regierung zur Voraussetzung hat.

__________ 35 Übersicht bei Hans-Jürgen Becker, Art. „Herrschaftsvertrag“, HRG II, 1978, Sp. 108 f.; Henning Ottmann, Art. „Vertragstheorien“, StLexGörrG7, V. 1989, Sp. 728 ff.; Wolfgang Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 9, Stuttgart 1990, S. 901 ff.; Hartmut Kliemt, Zustimmungstheorien der Staatsrechtfertigung, Freiburg 1980 – zu entsprechenden Entwürfen der spanischen Spätscholastik Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Antike und Mittelalter, 2. Aufl., Tübingen 2006, S. 374 f., 387 ff. – Quellensammlung: Alfred Voigt (Hg.), Der Herrschaftsvertrag, Neuwied am Rhein 1965 (übers. v. Peter Badura u. Hasso Hofmann). 36 Insbesondere fehlt bei Grotius der dritte Vertrag mit Gott, den auf menschlicher Seite Volk und Obrigkeit gemeinsam schließen, dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, S. 108; vgl. auch Kersting, Vertrag (Anm. 35), S. 916 ff. 37 JBP I 3.8.4-14 (S. 99 ff.); I 3.8.12 (S. 114 ff.); II 5.31 (S. 302). Zur staatstheoretischen Bedeutung der Lehre vom imperium herile Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1966, S. 140; Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 33, 41, 81, 115 f., 132. 38

JBP I 3.8.6 (S. 100).

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Aber solche Kontrastmodelle zur „normalen“ Gemeinschaftsordnung39 markieren Ausnahmen vom Regelfall der (fiktiven) vertraglichen Herrschaftsbegründung. Und diese verlegt die ursprüngliche summa potestas in das Volk.40 Es ist missverständlich, insoweit von „Volkssouveränität“41 zu sprechen, da in diesem Begriff neuere Konnotationen mitschwingen, nämlich die antiabsolutistische Stoßrichtung; der Gegensatz zur Herrschersouveränität, der jedenfalls als prinzipieller Antagonismus Grotius noch fern liegt,42 wenn er auch beides durchaus in Beziehung setzt.

III. Natürliches und göttliches Recht als Herrschaftsschranken Die so begründete Herrschaftsgewalt ist – soweit im Herrschaftsvertrag nichts anderes bestimmt – eine umfassende. Dies muß man wohl daraus schließen, dass Grotius eine Vielzahl von Autoren mit unterschiedlichen Katalogen von Souveränitätsrechten zitiert (nicht aber Bodins berühmte „vrayes marques de la souveraineté“), ohne selbst eine abschließende, über Beispiele hinausgehende Aufzählung zu bringen.43 Die Hoheitsrechte verschmelzen dadurch zu einer einheitlichen „facultas moralis civitatem gubernandi“.44 Umfassend heißt aber nicht unbeschränkt. Selbstverständlich ist für Grotius – wie für Bodin – die Bindung an das Naturrecht und an das ius divinum, wobei Bindung heißt, dass beide aller legitimen Herrschaftsausübung Grenzen ziehen. Nicht ausgeschlossen ist dadurch, dass ius civile naturrechtlich gegebene Freiheiten beschränkt oder naturrechtlich erlaubtes Verhalten verbietet und sanktioniert.45 Bildet das ius naturale im oben beschriebenen Verständnis die allgemeine Basis der Herrschaftsgewalt, so liegen die Dinge beim ius divinum komplizierter. Obwohl auch das Naturrecht seine Wurzeln in Gottes Schöpferwillen hat, so hat Gott doch durch Offenbarung als ius divinum voluntarium weiteres

__________ 39

JBP I 3.8.14 (S. 107).

40

JBP I 3.8.2 (S. 98).

41

Dazu Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 146 ff.

42

Stolleis, Geschichte (Anm. 36), S. 107 zur entsprechenden Althusius-Kontroverse.

43

JBP I 3.6 (S. 95 f.).

44

JBP I 3.6.1 (S. 95); vgl. Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 137 ff.

45

JBP II 3.5; II 5.5; II 11.8.3; II 12.12.2 (S. 234, 267, 400, 416).

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Recht gesetzt,46 das zwar das Naturrecht nicht ändert, aber doch in ganz bestimmten Punkten konkretisiert oder ergänzt.47 Allerdings entwickelt hier der Jurist Grotius seine Lehre in strenger Parallelität48 zum menschlichen positiven Recht. So wie eine staatliche Norm nur denjenigen Adressaten verpflichten kann, dem sie bekanntgemacht wurde, so auch das ius divinum positivum. Die Offenbarung galt entweder dem Volk Israel oder aber der ganzen Menschheit (nämlich bei Erschaffung der Welt, nach der Sintflut, schließlich durch Christus49). Gleichwohl ist auch dieses universale Offenbarungsrecht für Heiden nicht rechtsverbindlich, da es ihnen nicht bekanntgemacht wurde.50 Rechtliche Verpflichtungskraft kann es deshalb nur in und zwischen christlichen Staaten erzeugen. Dort aber gilt es als unmittelbare Rechtsquelle.51 Daraus ergeben sich für die staatliche Rechtsordnung keineswegs nur periphere Konsequenzen: Wucher- und Konkubinatsverbot52, Einehe53, Inzestverbot54, Ausschluß von Sippenhaftung für Straftaten55 und jeden auf Zwangsbekehrung gerichteten Ketzerrechts56. Bei dem Jüdischen Gesetz dagegen verzichtet Grotius zum Nachweis der mangelnden Verpflichtungskraft auf alle theologische Argumentation,57 für ihn fehlt es schon an dem über das Volk Israel hinausgehenden Adressaten, soweit es sich nicht – wie jedenfalls bei der 2. Tafel des Dekalogs58 – um positiviertes Naturrecht handelt. Indes stellt auch das Mosaische Gesetz __________ 46 Insoweit ist es allein mit der Vernunft nicht erkennbar (JBP I 1.10.2 [S. 10]). Dazu u. zum Folgenden jetzt eingehend Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 71 ff. 47

Insbesondere kann es naturrechtlich Erlaubtes verbieten: JBP I 2.5.1 (S. 36 f.); s. a. II 20.42 (S. 618 f.); I 2.6.2 (S. 42 f.). 48

Hofmann, Grotius (Anm. 3), S. 70, 74.

49

Dazu und zum folgenden eingehend Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 232234 (m. Nachw.). 50

JBP I 1.15.2 (S. 19).

51

JBP I 1.13 und 15 (S. 18 ff.).

52

JBP II 20.42 (S. 618 f.).

53

JBP II 5.11 (S. 275).

54

JBP II 20.42 (S. 618 f.).

55

JBP II 21.14.4 (S. 665 f.).

56

JBP II 20.50.1-3 (S. 633 f.).

57

Ansätze allenfalls in JBP I 2.7.7 (S. 50 f.).

58 Zur nicht ganz widerspruchsfreien Einordnung der 1. Tafel s. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 233 Anm. 6.

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keine quantité négligeable dar, da es als Gottes Gesetz nicht naturrechtswidrig sein kann und damit die unwiderlegliche Vermutung dafür begründet, dass sich die summa potestas innerhalb der naturrechtlichen Schranken hält, wenn sie die Rechtsordnung ganz oder teilweise daran ausrichtet.59 Mit dieser Behauptung, die freilich die logische Konsequenz seiner Rechtslehre ist, hat Grotius später vielfältige Kritik auf sich gezogen.60

IV. Natürliche Freiheitsrechte und iura quaesita Sein offener Naturrechtsbegriff, der eine Vielzahl von Gestaltungsvarianten zulässt, hindert Grotius auch an einer eindeutigen Abgrenzung von im Herrschaftsvertrag unveräußerlichen, natürlichen Individualrechten und solchen, die auf dem Altar der Staatlichkeit zu opfern sind. An dieser Frage, nämlich an der stärkeren Betonung der verstaatlichten oder der nichtverstaatlichten Freiheit, scheiden sich bekanntlich in der späteren Vernunftrechtslehre die den Absolutismus begünstigenden und die diesen eindämmenden Tendenzen. Bei Grotius fehlt noch die antiabsolutistische Stoßrichtung. Zwar betont er gelegentlich, dass in ursprüngliche Freiheitsrechte nur aufgrund eines klaren Rechtstitels eingriffen werden kann, aber das gilt gleichermaßen auch für kraft ius civile erworbene Rechte (iura quaesita).61 Dies ist folgerichtig, da er grundsätzlich von der Notwendigkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung natürlicher Freiheiten ausgeht. Grotius verdeutlicht dies am Eigentumsrecht.62 Ungeachtet seiner zivilrechtlichen Ausformung wurzelt es im Naturrecht.63 Eingriffe können daher nur aus Gründen des öffentlichen Wohls erfolgen und sind entschädigungspflichtig.64 Rechtstitel dafür ist das herrscherliche do-

__________ 59 JBP I 1.17.3 (S. 27); ausgenommen sind nur diejenigen Bestandteile, die Christus durch allgemeinen oder speziellen actus contrarius aufgehoben hat. 60 S. z. B. Heinrich Cocceji/Samuel v. Cocceji, Grotius illustratus, 4 Bde., 1744-52, I 1 § 17 (S. 124), dazu Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 287. 61 JBP II 14.8 (S. 460). Grotius lehnt hier eine Unterscheidung beider ausdrücklich ab. Betonung des Rechtsverzichts bei der Staatsgründung z. B. JBP I 3.2.1 (S. 83); I 3.12.1 (S. 114 f.); II 4.14.1 (S. 262). 62

Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 163 ff.

63

JBP III 20.9 (S. 980).

64

JBP III 20.7.1; III 20.10 (S. 980 f.).

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minium eminens, das Ober„eigentum“,65 das aber nicht ein echtes Eigentum des Souveräns am Staatsgebiet im Sinne früherer und späterer Patrimonialstaatstheorien begründet, sondern nur eine Inhalts- und Schrankenbestimmungsbefugnis sowie – äußerstenfalls – eine Enteignungsermächtigung.66 Seinem rechtsstaatlichen Engagement entsprechend sieht Grotius ganz allgemein das Äquivalent zu derartig weiten Eingriffsmöglichkeiten gerade im gerichtlichen Schutz staatsbürgerlicher Rechte.67

V. Das minimierte Widerstandsrecht Die Parteinahme für den Ordnungsgedanken, in der sich nicht zuletzt das merkantile Interesse des Angehörigen einer Handelsnation an Rechtssicherheit spiegeln mag, bestimmt auch Grotius’ Stellung zum Widerstandsrecht. Auch ein Bruch des Herrschaftsvertrags begründet weder für Volk noch Stände ein Recht zur Rebellion.68 Damit setzt er sich nicht nur in entschiedenen Gegensatz zu Althusius,69 sondern auch zur hugenottischen Widerstandsrechtfertigung wie überhaupt zur monarchomachischen Doktrin beider Konfessionen. Für Grotius folgt dies aus dem Gesellschaftsvertrag, der gerade um der Erhaltung der __________ 65 JBP II 14.75; II 21.11.3; III 19.7; III 20.7 (S. 459 f.; 661; 968; 979 f.). Dazu allg. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 167 ff., speziell zu Grotius S. 167 f. m. w. Nachw.; Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 58 ff. 66

JBP I 1.6 (S. 6).

67

JBP I 3.1.2 (S. 82); I 3.2.1 (S. 83); II 14.6.2 (S. 459).

68 Gegen ein Widerstandsrecht der „niederen Obrigkeiten“ (magistratus inferiores) JBP I 4.6 (S. 56 ff.). Zu den ungenannten „viri eruditi nostro saeculo“, gegen die Grotius hier polemisiert, dürfte wohl Althusius zählen. Dazu und zum folgenden Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916, Reprint 1961, S. 23 ff.; Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 193 ff.; ders., Jus resistendi. Zum Widerstandrecht im deutschen Staatsdenken, in: Audomar Scheuermann u.a. (Hg.), Convivium utriusque iuris. Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, Wien 1976, S. 55 ff. m. w. Nachw. 69 Politica methodice digesta (1603), Reprint d. Ed. 3 (1614) 1961, 18.65 (S. 297): für die Ephoren als aktives Widerstandsrecht, für die Untertanen als Gehorsamverweigerungsrecht (18.48 und 94 [S. 290 f., 310]; 19.1, 10, 35 ff. [S. 326, 330, 342 f.]); Dt. von Heinrich Janssen/Dieter Wyduckel, Berlin 2003, S. 175, 176, 185 f., 197 f., 203 f.). Dazu Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit, in: Karl-Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, S. 513 ff. und Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt, Berlin 1999, S. 72 ff. (jeweils m. w. Nachw.).

Herrschaftsbegründung und Kirchenhoheit bei Hugo Grotius

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öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung willen geschlossen wurde.70 Die legitimen Schutzbedürfnisse der Gesellschaft sind nun in ordentlichen Rechtsmittelverfahren kanalisiert.71 Lediglich zwei Ausnahmen ist Grotius zuzugestehen bereit, dann nämlich, wenn der Herrscher eigenmächtig sein dem Gemeinwohl verpflichtetes Regiment in ein imperium herile verkehrt,72 oder aber wenn er zum Volksverderber, zum hostis populi wird. Hier sind noch die säkularisierten Reste der alten Lehre von Großtyrannen spürbar: Eine solche Pervertierung der summa potestas zerschneidet das Band zwischen Herrscher und Beherrschten, der alte Naturstand lebt wieder auf und die Gewaltherrschaft kann vom Volk mit dem Recht des Stärkeren abgeschüttelt werden.73 Dies alles gilt freilich nur für das aktive Widerstandsrecht. Dass Rechtsgeboten, die dem natürlichen wie dem göttlichen Recht widerstreiten, nicht Folge zu leisten ist, das stehe – so Grotius – bei allen Wohlmeinenden außer Diskussion („apud omnes bonos extra controversiam“).74 Indes äußert er sich nicht zu den rechtlichen Konsequenzen eines solchen Ungehorsams. Er ist aber Realist genug, um ihn nicht zu einem naturrechtlichen Gebot ohne Rücksicht auf die individuellen Folgen für den Betroffenen zu erheben.75

B. Grund und Grenzen des imperium circa sacra I. Die niederländischen Religionswirren Wichtig ist, dass Grotius ein aktives Widerstandsrecht auch aus religiösen Gründen ausschließt.76 Diese Frage führt zum zweiten Teil meines Vortrags, dem Problem der Kirchenhoheit – und sie ist mehr als die erste in das persönliche Schicksal Grotius’ verwoben. Bekanntlich hatte Grotius in den innerprotestantischen Konflikten Partei ergriffen, die in den nördlichen Niederlanden mit erbitterter Intransingenz ausgefochten wurden.77 Sie hatten __________ 70

JBP I 4.2.1 (S. 146).

71

JBP I 3.1.2 (S. 82).

72

JBP I 3.10 (S. 172).

73

JBP I 3.11 (S. 172 f.).

74

JBP I 3.9.1 (S. 109); I 4.1.3. (S. 145).

75

JBP I 4.7.2 f. (S. 159 f.).

76

JBP I 4.6.4 (S. 157 f.).

77 Dazu und zum Folgenden Link, Grotius (Anm. 3), S. 7 ff.; Hofmann, Grotius (Anm. 3), S. 55 ff.; Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 128 f. (jeweils m. Nachw.).

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ihren Ursprung in unterschiedlichen Wurzeln der niederländischen Reformation, markierten aber auch politisch-soziale Frontstellungen. Gegen die Prädestinationslehre des orthodoxen Calvinismus formierte sich eine aus humanistisch-erasmischen Quellen gespeiste, konfessioneller Toleranz verpflichtete Opposition, deren Manifest die von den Anhängern des Leidener Theologen Jacobus Arminius verfasste „Remonstranz“ von 1610 bildete.78 Zu den Remonstranten zählte auch Johan van Oldenbarnevelt, der als Landesadvokat einflussreichste Staatsmann der nördlichen Provinzen. Kirchenpolitisch vertraten sie – auch dies gegen den Widerstand des strengen Calvinismus – eine weitgehende staatliche Kirchenhoheit nach Art der anglikanischen Staatskirche. Als in den entstandenen Unruhen Oldenbarnevelt einen Truppeneinsatz gegen die Contraremonstranten vorbereitete, durchkreuzte dies der Statthalter Moritz von Oranien durch Einberufung der Dordrechter Synode (1617/18), die Remonstranz und Remonstranten verurteilte. Oldenbarnevelt wurde wegen Hochverrats hingerichtet. Sein Sturz riß auch Grotius mit, der eine Verteidigungsschrift für Oldenbarnevelt,79 dazu einen Nekrolog auf Arminius verfasst und als Generalfiskal der Provinz Holland energische Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zu verantworten hatte.80 Er wurde mit anderen führenden Remonstranten verhaftet und zu lebenslanger Haft mit Vermögenskonfiskation verurteilt. Die von seiner Frau vorbereitete dramatische Flucht in einer Bücherkiste fand ihre Darstellung auf zahlreichen Kupferstichen. Aus der erwähnten Verteidigungsschrift für Oldenbarnevelt erwuchs sein staatskirchenrechtliches Hauptwerk, das erst zwei Jahre nach seinem Tod im Druck erschien: „De imperio summarum potestatum circa sacra“.81

__________ 78 Carl Bangs Art. „Arminianer“, RGG4, Bd. 1, 1998, Sp. 772 ff.; Thomas Kaufmann, Art. „Arminius, Jacobus”, ebd, Sp. 778 f.; ders., Art. „Dordrechter Synode“, ebd. Bd. 2, 1999, Sp. 946 f.; Georg Plasger, Art. „Niederlande (II 3)“, ebd. Bd. 6, 2003, Sp. 299 ff. (300). 79 Ordinum Hollandiae et Westfrisiae Pietas, 1613. – Vgl. auch Hugonis Grotii Conciliatio dissidentium de re Praedestinaria et gratia opinionum, abgedr. in: Hugo Grotius, Argumenti Theologici, Juridici, Politici, 1652, Reprint 1980, S. 236 ff. und: Hugonis Grotii Oratio habita olim in Senatu Amstelodamensi, quare multa continet de jure summarum potestatum circa sacra…, ebd. S. 443 ff. 80

In mortem Arminii (1609), in: Poemata collecta…, 2. Aufl., 1639, S. 262 ff.

81

Paris 1647, hier nach d. 2-bändigen Ausg. Neapoli 1780 (zit. ISP).

Herrschaftsbegründung und Kirchenhoheit bei Hugo Grotius

361

II. Die Kirche als Staatsanstalt 1. Religion und Staat Grotius entwirft darin das Bild eines gemäßigten Staatskirchentums.82 Nur die summa potestas ist in der Lage, den Religionsstreitigkeiten zu wehren.83 Aber mehr noch: in scholastischer Tradition nimmt sie Grotius auch für das Seelenheil der Untertanen in Pflicht.84 Daneben bietet die Religion aber auch allein die Gewähr für ein an den Geboten der Sittlichkeit orientiertes Gemeinschaftsleben.85 2. Die „actiones internae“ Dies alles erfordert eine umfassende Herrschaft der Staatsgewalt auch über den religiösen Bereich, aber Grotius setzt sogleich hinzu: soweit er in die staatliche Kompetenz fällt („quatenus eorum cura ad civitatem pertinet“).86 Damit ist eine erste und grundsätzliche Einschränkung gemacht: Die actiones internae, also der persönliche Glauben ist dem Zugriff der weltlichen Gewalt per definitionem entzogen, ihre Macht erstreckt sich nur auf die öffentliche Religionsausübung.87 Und auch hier endet ihre potestas an den Geboten des ius divinum.88 Zwar obliegt dem Herrscher die Fürsorge für den wahren Glauben, aber er hat doch hier keine eigentliche Rechtsgewalt, die über den Schutz der religiösen Institutionen hinausgeht, insbesondere ist ihm alle zwangsweise Proselytenmacherei verwehrt.89

__________ 82

Ähnlich Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 128.

83

ISP I 4 (I S. 5 f.): Oratio…in senatu (Anm. 79), S. 448, 452 s. u. ö.

84

Herrschaftszweck ist auch die aeterna beatitudo (ISP I 4 f. [I S. 6 f.]; I 10 ff. [I S. 9 ff.]). 85 JBP II 20.44.3 (S. 621); ISP I 2; I 13; IV 7 (I S. 4, 10, 17 f. ). – Zum Folgenden jetzt auch Stumpf, Grotian Theology (Anm. 3), S. 132 ff. 86

JPB I 3.6.2 (S. 96); ISP III 1 (I S. 19). Dass sich diese Kompetenz nicht auf die Entscheidung der Prädestinationsfrage erstreckt und dass insoweit staatlicherseits die unterschiedlichen Auffassungen zu tolerieren sind, stellt Grotius in seiner Oratio… in senatu (Anm. 79) klar. (S. 446 ff., bes. 478 f., 485, 494 ff.) Lediglich bei Störungen der öffentlichen Ordnung durch solche theologische Streitigkeiten ist die Obrigkeit zum Einschreiten berechtigt (ebd. S. 490 f. 495, 502 ff.). 87

JBP I 4.6.4 (S. 157 f.).

88

ISP I 3.5 (I S. 21).

89

ISP VIII 2; VIII 4 (II S. 19, 21), s. a. III 1, III 5 (II S. 19 f., 21 f.).

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3. Das ministerium ecclesiasticum als Staats- und Kirchenamt So kann man sagen, dass die Kirche als rechtlich verfasste Institution Staatsanstalt ist, aber auch dabei gilt es zu differenzieren: Nicht nur soll sich der Herrscher bei der Führung des Kirchenregiments des Sachverstands der Theologen versichern,90 Grotius unterscheidet hier zudem – wie auch sonst – zwischen Herrschaftsgewalt (imperium) und deren Ausübung (functio).91 Nur in Ausübung hoheitlicher und richterlicher Funktionen handeln die kirchlichen Organe als Amtswalter (vicarii) der Summa potestas.92 Im geistlichen Bereich untersteht das kirchliche Amt jedoch allein Christus, seine auf das Heilshandeln Gottes bezogenen und insoweit begrenzten actiones schließen alle obrigkeitlichen Einwirkungen a limine aus. Dazu gehört etwa auch die Handhabung der Schlüsselgewalt93 und alles seelsorgerliche Handeln, das sich allein auf den inneren Menschen richtet.94 Nur im Hinblick auf Rechtshandlungen, die den äußeren Rechtsstatus der Gläubigen berühren, bedient sich Gott der Obrigkeit als protector des wahren Glaubens.95 Da das geistliche Amt somit funktional nicht Teil der staatlichen Ämterorganisation ist, untersteht es der summa potestas nicht ex natura, sondern nur ex ordine.96 4. Kirchliches Selbstordnungsrecht als regimen directivum Die umfassende Herrschaftsgewalt circa sacra schließt weiterhin nicht ein kirchliches Selbstordnungsrecht aus. Wie jeder Vereinigung kommen auch der Kirche natürliche Korporationsrechte zu, die sich in einer weitgehenden Selbstverwaltung konkretisieren. Sie übt insoweit freilich nur ein regimen directivum, kein regimen imperativum.97 Alle Zwangsgewalt bedarf der staatlichen Dele-

__________ 90

ISP VI 2 (I S. 50).

91

ISP II 1-3 (I S. 12 f.).

92

ISP IV 11 (I S. 37); VIII 10 (II S. 23); IX 4 (II S. 27); XII 4 (II S. 105).

93

ISP IX 8 (II S. 31).

94

ISP IX 5 ff. und 9 ff. (II S. 28 ff., 31 ff.).

95

ISP II 6; IV 5 (I S. 16, 32), IX 22 (II S. 42).

96 Nur mit dieser Einschränkung, nämlich abgesehen vom eigenständigen Kompetenzbereich des ministerium ecclesiasticum kraft ius divinum, trifft die Interpretation Erik Wolfs zu, Grotius fordere die verfassungsrechtliche Einheit der obersten Spitze von kirchlicher und staatlicher Gewalt (Grotius [Anm. 3], S. 294). 97

ISP IV 6 (I S. 24).

Herrschaftsbegründung und Kirchenhoheit bei Hugo Grotius

363

gation.98 Das imperium directivum gründet sich dagegen auf den Konsens der Gläubigen (ex consensu membrorum),99 nicht auf eine eigene, von Christus verliehene Leitungsgewalt. Zur Bildung eines solchen Konsenses sind in Einzelfragen besonders die Synoden berufen.100 Hier steht Grotius durchaus in calvinistischer Tradition. Sie schimmert auch in seiner Ämterlehre durch, nämlich in der zwingend gebotenen Einrichtung des Diakonats,101 dagegen zählt er die (Laien-) presbyter zwar zu den gottgefälligen, aber „non omnino necessariis muneribus“.102 Andererseits ist er auch offen für das Bischofsamt,103 dessen Besetzungsmodus freilich vom Herrscher bestimmt wird (soweit er sich nicht selbst die Ernennung vorbehält).104 Hier wirkt wohl das anglikanische Vorbild maßstabbildend. 5. Kirchenhoheit und ius divinum Schließlich, und das scheint mir besonders wichtig, bestimmt das Offenbarungsrecht, das ius divinum positivum, im Bereich des imperium circa sacra in besonderer Weise Inhalt und Schranken der Souveränität, da Gott hier unmittelbar oder durch Christus detaillierte und ausführliche Regeln vorgegeben hat.105 Die Kirchenhoheit ist m. a. W. nach den Grundsätzen des christlichen Bekenntnisses zu führen106 und deshalb ist die summa potestas hier von Haus aus enger begrenzt, inhaltlich weit stärker determiniert, als im profanen Herrschaftsbereich.107

Damit sind zwei entgegengesetzte Interpretationen in der Grotiusliteratur zu korrigieren: Zum einen stellt Grotius keineswegs „profana und sacra in gleicher Weise in die Macht und Willkür des summum imperium“, wie es Karl Rieker __________ 98

ISP ebd. und IX 3, 11 ff. (II S. 27, 33 f.).

99

Grundsätzlich gilt hier – ex iure naturali – das Mehrheitsprinzip (ebd.).

100

ISP VII 3 ff. (II S. 3 ff.).

101

ISP X 1 (II S. 45 f.).

102

ISP XI 13 ff. (II S. 85 ff.).

103

ISP XI 2 ff. (II S. 74 ff.).

104

ISP X 14 ff. (II S. 56 ff.).

105

ISP III f.; IV 1 (I S. 21, 30).

106

ISP III 15 (I S. 28) – s. a. III 7 11 ff. (I S. 22, 24 ff.); IV 1 f. (S. 30 f.); III 5 (I S. 21). 107

ISP III 15 (I S. 28 f.).

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1893 meinte.108 Zum anderen verkennt auch Erik Wolf in seiner schönen Grotius-Würdigung den frühneuzeitlichen Souveränitätsbegriff, wenn er aus den eben genannten Schranken schließt, dass bei Grotius weder staatliche noch kirchliche Obrigkeit „im Bodinschen Sinne souverän“ seien.109 Auch für Bodin stand die Bindung des Herrschers an die „loix de Dieu“ außer Frage.110 Und diese Bindung konkretisiert sich bei Grotius (wie dann auch bei Pufendorf)111 nur in besonderer Weise im sensiblen Bereich der Kirchenhoheit. Gerade hier hat Grotius einen Weg gewiesen, auf dem ihm dann die frühe deutsche Vernunftrechtslehre, vermittelt durch Pufendorf, gefolgt ist, nämlich den Souveränitätsanspruch des absoluten Herrschers mit dessen Verpflichtung auf zwingende Bekenntnisgrundsätze bei der Führung des Kirchenregiments in Einklang zu bringen. Und selbst Thomasius, der die rechtliche Normativität des ius divinum leugnet und dessen Bindungswirkung auf den Gewissensbereich beschränkt, begrenzt die souveräne Allmacht in sacris unter dem Gesichtspunkt der „Natur der Sache“,112 die eine bekenntniskonforme Führung der Kirchenhoheit zwingend gebietet. Stärker als bei seinen territorialistischen Nachfolgern lebt aber die von Grotius gewollte Gestaltung der staatskirchenrechtlichen Ordnung noch aus der alten Einheit von Glaube und Recht, die zunächst die Glaubensspaltung überdauert hatte. Indes weist das Bemühen, die Staatseinheit gegenüber den streitenden Konfessionen in toleranter Offenheit zu wahren, bereits in die Zukunft des religiös neutralen Staates.

__________ 108 Die rechtliche Stellung der Evangelischen Kirche Deutschlands, Leipzig 1893, S. 251. 109

Wolf, Grotius (Anm. 3), S. 294.

110 Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583, Reprint Aalen 1961, I 8 (S. 131, 133, 155), dazu Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität I, Frankfurt/Main 1970, S. 339 ff., 338 ff.; Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 90 f. 111 112

Näher dazu Link, Herrschaftsordnung (Anm. 3), S. 240 ff. m. eing. Nachw.

Christian Thomasius, Vollständige Erläuterung der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit…, mitgetheilet v. A. R. J. B(ünemann), 1. Th. (1738), 2. Aufl., Frankfurt/Leipzig 1740, Reprint Aalen 1981, S. 334; dazu Link, Souveränität-Toleranz-Evangelische Freiheit, in: ZRG.KA 86 (2000), S. 414 ff. (424 f.).

Jakob Lampadius und die Auseinandersetzung um die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Von Merio Scattola, Padua

A. Europäische Traditionen Wenn man sich das politische und juristische Denken des sechzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigt, findet man sich mit einer Vielzahl von Stilrichtungen konfrontiert, die stark voneinander divergierten, besonders in den Grundelementen ihrer Pragmatik, also in Ort, Schöpfer und Empfänger des Wissens. Wo wurde die Lehre von der Politik geschaffen? Auf Universitäten, in privilegierten Akademien, auf den königlichen, päpstlichen oder kaiserlichen Kanzleien, in den Kirchenversammlungen, in den Ratsversammlungen der Städte und der Ständevertretungen oder in den Konversationskreisen um die Fürsten? Von wem wurde das politische Wissen geschaffen? Von Professoren der Theologie, der Jurisprudenz oder der Philosophie? Von Juristen, Richtern, Anwälten? Von Fürsten, Adligen und Standespersonen? Von Räten, Geheimräten und Sekretären? Für wen schrieb (oder sprach) man über Politik? Für junge Adlige, die sich für das Hofleben vorbereiteten? Für Bürger aus dem dritten Stand, die ein öffentliches Amt anstrebten? Für die Parteianhänger einer Debatte in einem Abgeordnetenhaus? Für andere Räte und Sekretäre oder für einen offenen Kreis von Freunden, die derselben „respublica literaria“ angehörten?1 Anhand dieser drei Kriterien – Wo, Von wem und Für wen? – kann man leicht feststellen, daß die Strömungen des politischen Denkens in der frühen Neuzeit einige Konstanten aufwiesen, da bestimmte Inhalte sehr oft nur in gewissen literarischen Formen vorkamen, als ob ihre Behandlung nur nach den Regeln eines strengen Stiles erfolgen mußte. Aus dieser statistisch bedeutenden Verbindung zwischen Inhalt und Form ergeben sich getrennte Traditionen, die spontan aus dem historischen Hintergrund hervortreten und mehr oder weniger mit nationalsprachlichen Gemeinschaften zusammenfallen. __________ 1 Vgl. Merio Scattola, L’ordine del sapere. La bibliografia politica tedesca del Seicento, in: Archivio della Ragion di Stato 10-11 (2002-2003), S. 5-39.

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Mit diesen Kriterien kann man zum Beispiel beobachten, daß die politische Auseinandersetzung in Frankreich vorwiegend von Juristen mit einem starken historischen Interesse durchgeführt wurde,2 oder daß die politischen Schriftsteller in Italien Sekretäre, Räte, Geheimräte und Agenten waren, die die literarische Gattung der „Discorsi“ bevorzugten, um jede Art von Ausnahmelehre damit abzuhandeln.3 Auch das politische Denken im Heiligen Römischen Reich war in der frühen Neuzeit von sozial- oder kommunikationsgeschichtlichen Besonderheiten und stilistischen Gepflogenheiten bedingt, denn es hatte einen ausgeprägt akademischen Charakter: Es war ein Wissen, das nicht nur auf Universitäten übertragen, sondern auch spezifisch für akademische Kreise geschaffen wurde. Die politische Diskussion in den deutschen Territorien war nämlich mit der Verbreitung einer universitären Lehre der Politik eng verbunden, die sich von den ersten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts an rasch behauptete. Der Institutionalisierungsprozeß der Politik beschränkte sich aber nicht nur auf die Einführung neuer Lehrstühle, sondern schuf auch ein neues akademisches Fach, das durch ein besonderes System eigener literarischer Gattungen gestaltet und durch einen strengen Kodex geregelt wurde, der alle Aspekte der neuen Disziplin umfasste.4 Eine ähnliche Beobachtung läßt sich auch für das Fach des öffentlichen Rechts oder des deutschen Reichsrechts bestätigen, und anhand solcher Feststellung kann man leicht behaupten, die politische Debatte im Heiligen Römischen Reich habe vorwiegend mit den Mitteln der universitären Auseinan__________ 2

Vgl. Corrado Vivanti, Assolutismo e tolleranza nel pensiero politico francese del Cinque e Seicento, in: Luigi Firpo (Hg.), Storia delle idee politiche, economiche e sociali. Volume quarto. L’età moderna, Turin 1980, 1, S. 13-93. Vgl. Diego Quaglioni, Autosufficienza e primato del diritto nell’educazione giuridica preumanistica, in: Angela De Benedictis (Hg.), Sapere e/è potere. Discipline, dispute e professioni nell’università medievale e moderna, Bologna 1990, S. 125-134. 3 Christophorus Coler, De studio politico ordinando epistola, in: Publius (oder Caius?) Cornelius Tacitus, De situ, moribus et populis Germaniae libellus, Hanoviae: Apud Claudium Marnium et heredes Ioannis Aubrii, 1602, S. 117; Gabriel Naudé Bibliographia politica, 1633, in: Kaspar Schoppe/Gabriel Naudé, Gasparis Scioppii Paedia politices et Gabrielis Naudaei Bibliographia politica ut et eiusdem argumenti alia, hg. von Hermann Conring, Helmestadii: Typis et sumptibus Henningi Mulleri, 1663, S. 72. Zur Definition der „Discursus” vgl. Jakob Bornitz, Discursus politicus de prudentia politica comparanda, hg. von Johann Bornitz, Erphordiae: Sumptibus Henrici Birnstilii, 1602, Bl. A4r. 4 Vgl. Merio Scattola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna, Mailand 2003, S. 21-32, wo das literarische System der politischen Gattungen rekonstruiert wird.

Jakob Lampadius und die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches

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dersetzung stattgefunden. Ein bezeichnendes Beispiel ist in dieser Hinsicht die Diskussion über die Staatsräson im Reich, welche die italienischen, außeruniversitären „Discorsi“ in die akademischen Gattungen der Disputation und des Traktats verwandelte und, wie Michael Stolleis vermutet hat, die heiklen Lehren der Ausnahme in einer wissenschaftlichen Darstellung entschärfte und „verrechtlichte“.5

B. Die politischen Optionen Wenn unsere Annahme richtig ist, kann man die politische Debatte in Deutschland auch als eine Auseinandersetzung zwischen akademischen Positionen rekonstruieren.6 Selbstverständlich waren die Konflikte, die das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert beherrschten und sich im Dreißigjährigen Krieg niederschlugen, religiöser, politischer und juristischer Natur; sie fanden aber ein geeignetes Forum vor allem in der gelehrten Kommunikation, in dem wissenschaftlichen Verhaltenskodex und in den literarischen Gattungen, die der universitären Diskussion ihre charakteristische Form verliehen. Den kämpferischen Auseinandersetzungen auf den Schlachtfeldern und den Verhandlungen in den Kanzleien entsprach das Wechseln von Argumenten in den Hörsälen, so daß der Konflikt durch die Sprache der Universitäten ausgeformt, durchgeführt und ausgetragen wurde. In einer Formel: Die politische Sprache des Heiligen Römischen Reiches war im siebzehnten Jahrhundert vorwiegend die Sprache der Universitäten, der gelehrten Politik und der Jurisprudenz.7 Das Werk des Johannes Althusius ist ein gutes Beispiel für diese politische Sprache, die sich mit den Mitteln der gelehrten Kommunikation verbreitete. Seine ersten juristischen Schriften gehörten zur Gattung der „methodus“, der kurzen und gut gegliederten Darstellung für den Unterricht, sowie die „Dicaeologica“, sein letztes und größeres Werk, eine „methodische“ Darlegung sämtlicher juridischer Materien war. Auch die „Politica“ wurde als ein schul__________ 5 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band. Reichspublizistik und Policeywissenschaft (1600-1800), München 1988, S. 209-212. 6

Roderich von Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. Zweite Abtheilung, München/Leipzig 1884, VII, 4, S. 38-45, besonders S. 38: „Die Entwicklung der Gegensätze war noch im Fluß; mit Gewalt rangen sie im feindlich gespaltenen Reiche.“ 7 Rudolf Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft im 17. Jahrhundert, Aalen 1968, S. 21-38.

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mäßiges Lehrbuch verfaßt. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß Althusius dasselbe Textbuch benutzte, um seine Entscheidungen als Syndicus der Stadt Emden durch gelehrte Begründungen zu rechtfertigen. Die Forschungen von Heinz Antholz, Corrado Malandrino und Michael Behnen haben nämlich gezeigt, daß die auffallende Erweiterung und Vertiefung föderalistischer Argumente ab der zweiten Auflage der „Politica methodice digesta“ vom Jahre 1610 wesentlich mit den Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Emden und dem Grafen von Oldenburg in Verbindung stand.8 Anscheinend mußte man, bevor man gegen den eigenen Territorialfürsten in den Krieg zog, einen dicken Traktat schreiben. In demselben Sinn kann man auch die ganze Editionsgeschichte der „Politica“ als eine Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der „monarchomachischen“, reformierten und ramistisch gesinnten Partei und den Verteidigern des „monarchophilen“ und aristotelisch orientierten Lagers betrachten. Man kann daher die Werke von Johannes Althusius einerseits und Henning Arnisaeus andererseits in ihrem historischen Ablauf parallel lesen und beobachten, wie sie aufeinander antworten und mit den Mitteln der akademischen Gelehrsamkeit versuchen, einander zu überbieten.9 Nochmals ein akademisch ausgetragener politischer Konflikt. Wenn wir diese Perspektive verallgemeinern, lassen sich auch die Konflikte im Dreißigjährigen Krieg als Positionen einer gelehrten juristischen und politischen Debatte ablesen, und diese Auseinandersetzung gibt sich vorwiegend als eine Diskussion über die Verfassung des Reiches zu erkennen, in der vier Hauptpositionen vertreten wurden. Johannes Gryphiander, Dominicus Arumaeus, Theodor von Reinkingk verstanden das Heilige Römische Reich als eine reine Monarchie;10 Tobias Paurmeister sah in ihm eine __________ 8 Heinz Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Leer (Ostfriesland) 1954; Corrado Malandrino, Il ‚Syndikat’ di Johannes Althusius a Emden. La ricerca, in: Il pensiero politico 28 (1995), S. 359-383; Michael Behnen, ‚Status regiminis provinciae.’ Althusius und die ‚freie Republik Emden’ in Ostfriesland, in: Giuseppe Duso/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Berlin 1997, S. 139-158. 9

Merio Scattola, ‚Controversia de vi in principem.’ Vertrag, Tyrannis und Widerstand in der Auseinandersetzung zwischen Johannes Althusius und Henning Arnisaeus, in: Angela De Benedictis/Karl-Heinz Lingens (Hg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jh.), Frankfurt am Main 2003, S. 175-249. 10 Iohannes Gryphiander, Disputatio historico-politico-iuridica de statu imperii Romano-Germanici antiquo-moderno, Ienae: Typis Henrici Rauchmaul, 1612; Dominicus Arumaeus, Discursus academici de iure publico, Ienae: E typographeo

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Oligarchie, in der die Monarchie den Gesetzen unterworfen war;11 Arnold Clapmar und Johannes Limnaeus interpretierten es als eine Mischverfassung aus Monarchie und Aristokratie;12 Jean Bodin hatte es schon 1566 als eine aristokratische Republik bezeichnet, und eine entschieden aristokratische Lehre wurde 1640 auch von Bogislaus von Chemnitz unter dem Pseudonym Hippolitus a Lapide vertreten.13 Selbst die Zeitgenossen erkannten dieses Schema als eine passende Beschreibung aller Alternativen in der Debatte an.14 __________ viduae Rauchmaulianae, 1615, 1, S. 7: „Monarchicum statum contra Bodinum et Paurmeisterum et alios esse adserimus“. 11 Tobias Paurmeister, De iurisdictione imperii Romani libri II, Hanoviae: Impensis Petri Kopffii, 1608, II, 1, 7-10, S. 322-324: „[Aristoteles] Politicorum libro quarto, cap. tertio [1290a 13-16] […] ²PMKEVGfER non pro TEVIOF„WIM, sed rectae reipublicae specie accipit, ita ut regnum et optimatum imperium complectatur […]. Cum vero et ipsi [optimates] tantae civitati, nisi per unum autoritate et potentia prae caeteris armatum consuli non posse animadverterent, principem sive regem OEX‡ R³QSR crearunt, cui certis limitibus circumscripta potestas, non perpetua et ad haeredes transitoria, sed usufructuaria ad vitam, non suo, sed populi nomine ac iure administranda commissa est. Quam gubernandi speciem FEWMPIfERҏ OEX‡ RSQ³R philosophum appellare, et speciem XÚR XV³T[R X¢N TSPMXIeEN [Politica, III, 11, 1287a 4-5] non constituere, sed sub aristocratiae genere relinqui ex Aristotele ante diximus.“ 12

Arnold Clapmar, De arcanis rerumpublicarum libri sex, Lugduni Batavorum: Apud Iacobum Marci, 1644, (1. Aufl. Bremen 1605), V, 20, S. 281-283; Johannes Limnaeus, Liber primus iuris publici Imperii Romano-Germanici, Argentorati: Typis et sumptibus Friderici Spoor, 1645, (1. Aufl. Straßburg 1629), Bl. S2r: „Illis autem omnibus calculum nostrum subducimus, imperiumque mixtum ex monarchia et aristocratia arbitramur, ita tamen ut aristocratiae lumen clarius apparere statuamus.“ Vgl. Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre (Anm. 7), S. 152-224; ders., Johannes Limnaeus, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, Frankfurt am Main 1977, S. 100-117. 13

Jean Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem, 1566, in: ders., Œuvres philosophiques, hg. von Pierre Mesnard, Paris 1951, 6, Status Germanorum, S. 188b189a; Bogislaus von Chemnitz [Pseud. Hippolithus a Lapide], Dissertatio de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico, o.O. 1640, I, 17, S. 241-247. Vgl. Rudolf Hoke, Staatsräson und Reichsverfassung bei Hippolithus a Lapide, in: Roman Schnur (Hg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975, S. 407-439; ders., Hippolithus a Lapide, in: Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (Anm. 12), S. 118-128. 14 Georg Braudlacht, Epitome iurisprudentiae publicae universae […]. Una cum Iacobi Lampadii iurisconsulti De republica Romano-Germanica tractatu utilissimo, Ienae: Impensis Iohannis Birckneri, 1671, (1. Aufl. 1622), I, 2, 9, S. 11: „Forma quoque eiusdem pro diversitate temporum dimetienda. Primis quippe temporibus a Romulo regium fuisse statum constat, verum Tarquinio Superbo, rege ultimo. Rege eiecto, aristocraticus factus, qui paulo post in democratiam degeneravit, donec tandem dicta Lege Regia imperium in unum translatum, dominatus monarchicus effectus, et in hunc

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C. Jakob Lampadius Auch die Dissertation von Jakob Lampadius über die Reichsverfassung war eine akademische Angelegenheit und erhielt ihre historische Bedeutung als Teil der gelehrten Debatte. Jakob Lampadius war 1593 im heutigen Calenberger Land geboren.15 1611 bis 1614 studierte er Jura in Helmstedt und verteidigte 1612 eine Disputation zum Bürgschaftsrecht unter Johannes Voltenius und 1614 eine zu den Besitzschutzinterdikten des Prätors unter Johannes Lotichius (1576–1650).16 1615 kam er in den Dienst des Herzogs von BraunschweigWolfenbüttel und Calenberg Friedrich Ulrich, der ihn zum Präzeptor seines jüngeren Bruders, Rudolf, ernannte. Mit ihm besuchte Lampadius die Universität Tübingen; nachdem aber der braunschweigische Prinz 1616 starb, setzte Lampadius sein Studium in Marburg, Gießen und Heidelberg fort, wo er am 23. Februar 1620 („7. Calendas Martii“) unter Reiner Bachoff von Echt (Reinhardus Bachovius Echtius, 1575-1640) mit einer „Dissertatio de iurisdictione, iuribus principum et statuum imperii“ zu einem Doctor iuris promoviert wurde.17 Nach einem Jahr als Assessor am Reichskammergericht in __________ usque diem Romano-Germanicum Imperium aut summa monarchia praelucescit, quamvis in regimine non parum sit temperans.“ 15

Adolf Köcher, Lampadius (Lampe), Jacob, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1883, 17, S. 574-578; ders., Jakob Lampadius. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theorien des 17. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 53 (1885), S. 402429; Richard Dietrich, Jakob Lampadius. Seine Bedeutung für die deutsche Verfassungsgeschichte und Staatstheorie, in: ders./Gerhard Oestreich (Hg.), Forschungen zu Staat und Verfassung. Festgabe für Fritz Hartung, Berlin 1958, S. 163-185; ders., Lampadius, Jakob, in: Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1982, 13, S. 454a-456a; Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln/Wien 1975, S. 144-145 und 339-347. 16

Johannes Voltenius, Disputatio de fideiussoribus, quam […] sub praesidio Iohannis Voltenii Oldenburgensis, ventilandam proponiti Iacobus Lampadius Leosteniensis, Helmaestadii: Ex typographeio Iacobi Lucii, 1612; Johannes Lotichius, Disputatio de interdictis, […] sub praesidio clarissimi viri domini Ioannis Lotichii, professoris publici, publice ventilandam proponit Iacobus Lampadius, Leosteino-Brunswigius, Helmaestadii: Ex officina typographica Iacobi Lucii, 1614. 17 Jacobus Lampadius (Resp.), Dissertatio de iurisdictione, iuribus principum et statuum imperii, quam propitio numine ex decreto et authoritate magnifici et amplissimi iurisconsultorum ordinis in illustri academia Heidelbergensi, praeside amplissimo et excellentissimo viro domino Reinhardo Bachovio Echtio, iuris utriusque doctore et professore longe clarissimo, pro consequenda in utroque iure doctorali laurea publica disquisitioni subiecit Iacobus Lampadius Leosteino-Brunsvigius, Heidelbergae: Typis Iohannis Georgii Geyderi, 1620.

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Speyer erhielt er einen Ruf als außerordentlicher Professor des öffentlichen Rechtes nach Helmstedt und 1621 kam er als Hofrat in die Regierung Herzog Friedrich Ulrichs von Wolfenbüttel. Wegen seiner diplomatischen Fähigkeit wurde er mit wichtigen Missionen beauftragt und vertrat 1627 BraunschweigWolfenbüttel auf dem Kurfürstentag in Mühlhausen,18 1631 auf dem Konvent der Evangelischen in Leipzig, bei den Bündnisverhandlungen mit Gustav Adolf von Schweden und 1634 bei dem Konvent der evangelischen Stände in Frankfurt.19 Nach dem Tode Friedrich Ulrichs im Jahre 1634, mit dem die Wolfenbütteler Linie ausstarb, wurde Lampadius Mitglied der Interimsregierung und nach der Teilung des Herzogtums trat er in die Dienste der Calenbergischen Linie. In Hannover wurde er 1638 Vizekanzler und vertrat 1640 Herzog Georg auf dem Reichstag in Regensburg.20 Unter Christian Ludwig, Nachfolger Georgs, wirkte er ebenfalls als Vizekanzler und Geheimrat in der Verwaltung des Landes, bis er 1643 mit der Vertretung Calenbergs auf dem Westfälischen Friedenskongreß in Osnabrück beauftragt wurde.21 Hier erwies er sich dank seiner diplomatischen Fertigkeiten als Wortführer der protestantischen Stände sowohl gegenüber dem Kaiser als auch gegenüber Schweden, besonders in der Frage der säkularisierten Kirchengüter,22 konnte aber nur mit __________ 18

Michael Frisch, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, Tübingen 1993, S. 81-87; Martin Heckel, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629 – eine verlorene Alternative der Reichsverfassung, in: Gerhard Köbler/Hermann Nehlsen (Hg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 351-376. 19 Johannes Kretzschmar, Gustav Adolfs Pläne und Ziele in Deutschland und die Herzöge von Braunschweig und Lüneburg, Hannover/Leipzig 1904; Günter Barudio, Gustav Adolf der Große. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1982, S. 585601. 20 Kathrin Bierther, Der Regensburger Reichstag von 1640/1641, Kallmünz (Oberpfalz) 1971, S. 117-119 und 135-145; Michael Reimann, Der Goslarer Frieden von 1642, Hildesheim 1979, S. 5-19. 21 Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, Münster 1959, S. 200: „Der tüchstigste Jurist des Kongresses war der Gesandte von Braunschweig-Wolfenbüttel, Dr. Jacob Lampadius“ und S. 343-373; Klaus Malettke, Scheffers Gesandtschaft nach Osnabrück. „Stände seyn nicht nur Räthe, die man hören, sondern deren Räthen man auch folgen müsse“, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 501-522; Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. von Franz Bosbach/Christoph Kampmann, Paderborn 1998, S. 505 und 688. 22 Richard Dietrich, Landeskirchenrecht und Gewissensfreiheit in den Verhandlungen des Westfälischen Friedenskongresses, in: Historische Zeitschrift 196 (1963), S. 563-583.

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mäßigem Erfolg die Stellung der welfischen Herzogtümer verteidigen, die, zwischen den Kriegsparteien schwankend, im Jahre 1642 den Goslarer Frieden mit dem Kaiser geschlossen hatten.23 Er starb 1649 während der ersten Verhandlungen zur Exekution des Friedensinstruments. Neben seiner Dissertation veröffentlichte Lampadius 1633 unter dem Pseudonym ‚Scipio Aretinus’ eine „Gründliche Deduction, wie es mit dem Keyserlichen Religions Edict und der Geistlichen vermeynten Vorbehalt eygentlich bewant und was dieselbe beyderseits vor Krafft und Würckung haben“.24 In den Ausgaben von Hermann Conring und Johann Georg Kulpis sind drei weitere Schriften beigedruckt: „Interpretatio de usucapione pro herede, Discursus de natura nummi“ und ein „Opusculum posthumum de maiestatis civilis auctoritate et officio circa religionem“, das identisch mit einer Denkschrift vom Jahre 1647 ist, die von den protestantischen Ständen als Verhandlungsgrundlage benutzt wurde.25 Die Entstehungsbedingungen der Dissertation aus dem Jahre 1620 sind noch dunkel und lassen Raum für Spekulationen. Wie Lampadius in der Widmung an Herzog Friedrich Ulrich erklärt, hat er in dieser Schrift seine Erfahrungen am Reichskammergericht in Speyer gesammelt und in seinen Mußestunden niedergeschrieben. Die Dissertation wurde aber in Heidelberg im verhängnisvollen Jahre 1620 verteidigt, als die Pfalz ein europäisches Zentrum reformierter Bemühungen war und der Pfalzgraf Friedrich V. in Prag zum König von Böhmen gegen Ferdinand II. erhoben wurde. Dieser Umstand wird sowohl im Titelblatt als auch in der Widmung klar hervorgehoben, in denen Ort und Tag der Dissertation genau angegeben werden „Dabam Heidelbergae, Anno M.DC.XX. 7. Calendas Martii“, also am 23. Februar 1620. Ohne weiter zu spekulieren, ist also die Dissertation von Lampadius die Schrift eines lutherischen Juristen und Diplomaten, veröffentlicht und vorgetragen in einem ausgeprägt kalvinistischen und konfessionell geladenen Kontext. Die gelehrte Diskussion nahm von dieser Schrift zuerst keine Kenntnis, bis Hermann Conring nach Helmstedt berufen wurde. Hier ist seine Erzählung: __________ 23 Derek Croxton/Anuschka Tischer, The Peace of Westfalia. A Historical Dictionary, Westport (Connecticut)/London 2002, Lampadius, Jacob, S. 157-158; Wilhelm Langenbeck, Die Politik des Hauses Braunschweig-Lüneburg in den Jahren 1640 und 1641, Hannover/Leipzig 1904; Reimann, Der Goslarer Frieden von 1642 (Anm. 20), S. 96166. 24 Helmut Urban, Das Restitutionsedikt. Versuch einer Interpretation, München 1968, S. 173-179; Frisch, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. (Anm. 18), S. 140-182. 25

Dietrich, Landeskirchenrecht und Gewissensfreiheit (Anm. 22), S. 565.

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„Cum anno seculi huius trigesimo secondo Brunsvigae, quo omnis Serenissimi Ducis Friderici Ulrici aula, relicto Wolfenbuttelo, periculi a praesidio tunc ostili evitandi caussa confugerat, mihi etiam, ex Batavis praeter expectationem ad naturalem philosophiam in academia Iulia docendam evocato, aliquandiu haerendum esset, commodum accidit, ut in familiarem amicitiam ab amplissimo viro Iacobo Lampadio iurisconsulto et consiliario principali fuerim recepto. […] Et vero isthac occasione, ex frequentibus de republica sermonibus, incensus est in me ardor, imperii statum omnem penitius cognoscendi. […] Cum autem et sua quaedam huius argumenti legenda vir amplissimus, qua me prosequebatur, summa benevolentia offerret, perquam placuit illa, quam academico more pro obtinendo doctoris titulo Heidelbergae habuerat, praeside Reinero Bachovio iurisconsultorum Germaniae fortassis principe, disputatio: quandoquidem novissimum imperii statum omnem non proletarie visa mihi est exhibere. Quapropter non desii quoque recensitam libelli illius editionem flagitare, inque id operam meam apud typographum Leidensem, quicum multa mihi familiaritas intercesserat, polliceri. Sed illud tertio demum post anno impetravi: quo a summo viro curae et possessioni meae transcriptum libellum, novo indito titulo De republica Romano-Germanica, eaque forma qua iam tum Elzevirii aliarum aliquot rerumpublicarum descriptiones ediderant, feci in Hollandia 26 typis excudi.”

Die neue Edition der Dissertation erfolgte also 1634 bei dem Drucker Jan Maire in Leiden.27 Schon in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit in Helmstedt hielt aber Hermann Conring, der eigentlich als Professor der Medizin berufen worden war, auch Vorlesungen über Politik und Reichsverfassung und besorgte zuerst neue Ausgaben von der „Germania“ des Tacitus und der „Politica“ des Aristoteles.28 In seinen Vorlesungen über das Reichsstaatsrecht benutzte und kommentierte er ausführlich das Buch von Lampadius,29 ein Umstand, der noch __________ 26

Hermann Conring, Benevolo lectori, in: Jacobus Lampadius, De republica Romano-Germanica liber unus. Cum annotatis Hermanni Conringii ad partes priores duas ac tertiae capita VII, hg. von Hermann Conring, Helmaestadii: Typis ac sumptibus Henningi Mulleri, 1671, Bl. ):():(1r–2r. 27 Jacobus Lampadius, Tractatus de constitutione imperii Romano-Germanici. Auctore Iacobo Lampadio iurisconsulto, [hg. von Hermann Conring], Lugduni Batavorum: Ex officina Ioannis Maire, 1634. 28

Conring, Benevolo lectori (Anm. 26), Bl. ):():(3r–v.

29 Ebd., Bl. ):():(2v–3r: „Ego ex illo usque tempore, siquando academicam nostram iuventutem visum ex re fuit, ad communis imperii accuratiorem peritiam manuducere, in dissertationibus meis filum huius libelli tantum non semper fui secutus, quod et docendi ordo et saltim de praecipuis reipublicae capitibus acri iudicio instituta tractatio illud me facere invitaret nec reliquorum eius methodi epitomatorum quisquam responderet perinde desiderio. Hac occasione autem a me saepius (frequenter enim repetere illam institutionem, studium iuvandae nostrae adolescentiae et commodi publici amor me

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bemerkenswerter ist, weil Conring kein Handbuch, weder für die Politik noch für das Staatsrecht verfaßte, denn seine Methode war, die eigene Lehre durch die Disputationen und Dissertationen seiner Schüler darzustellen.30 Sein Handbuch zum Reichsstaatsrecht ist also in der posthum erschienenen Sammlung seiner Dissertationen aus dem Jahre 1730 und in der Schrift des Lampadius zu suchen.31 Nunmehr in den Lehrbetrieb aufgenommen, genoß die Dissertation des Lampadius einen breiten und raschen Erfolg. 1640 ließ Conring eine dritte Auflage in Helmstedt drucken;32 1642 erschien eine neue Edition des Leidener Verlegers;33 1653 wurde sie in Jena zusammen mit der „Epitome iurisprudentiae publicae universae“ von Georg Braudlacht aus dem Jahre 1622 wieder aufgelegt;34 1661 und 1666 erfolgten zwei weitere Nachdrucke dieser __________ adegit) libellus ille fuit illustratus, idque semper quidem ea quae decebat quamve ipse auctor laudavit, libertate, nunc tamen accuratius nunc levius prout auditorum captus imo et, ne quid dissimulem, meus quoque, hisce in literis profectus erat.“ 30

Hermann Conring, Hermannus Conringius Naamani Bensenio, in: Naaman Bensen, Exercitatio politica de summae potestatis subiecto, Helmestadii: Cura Henningi Mulleri, 1651, Bl. A1r–v; ders., Benevolo lectori (Anm. 26), Bl. ):():(3v: „Stetit autem omnis mea ad Lampadium opera plaerumque non nisi in dissertationibus (qui fere meus semper mos fuit docendi) extemporaneis. Ad calamum, quod meminerim, non nisi bis quaedam dictavi et prima quidem vice ad perpauca duntaxat loca, sexto autem post quinquagesimo anno ad libellum integrum, itidem tamen nulla praevia scriptione et tantum extemporanea memoriae suggestione in id usus.“ 31 Ders., Operum tomus II [...], continens varia scripta ad historiam prudentiam civilem, et ius publicum imperii Romano-Germanici spectantia, inprimis Commentaria in Iacobum Lampadium et Nicolaum Machiavellum, hg. von Johann Wilhelm Goebel, Brunsvigae: Sumtibus Friderici Wilhelmi Meyeri, 1730. Vgl. vor allem: ders., Dissertatio de republica imperii Germanici communi, Lampadio praemissa, S. 5-22; Iacobus Lampadius, De republica Romano-Germanica liber unus. Auctore Iacobo Lampadio iurisconsulto. Cum annotatis Hermanni Conringii ad partes priores duas et tertiae capita VII, S. 22-237; Hermann Conring, Discursus ad Lampadium posterior ex manuscripto editus. Tractatus de republica Romano-Germanica, S. 238-461. 32

Jacobus Lampadius, Tractatus de republica Romano-Germanica […]. Editio secunda auctior et emendatior, [hg. von Hermann Conring], Helmaestadii: Typis Henningi Mulleri, Impensis Ieremiae Rixneri, 1640. 33

Ders., Tractatus de constitutione imperii Romano-Germanici. Auctore Iacobo Lampadio iurisconsulto, [hg. von Hermann Conring], Lugduni Batavorum: Ex officina Ioannis Maire, 1642, S. 377. 34

Ders., Tractatus de republica Romano-Germanica, in: Georg Braudlacht/Iacobus Lampadius, Epitome iurisprudentiae publicae universae conscriptae a Georgio Braudlacht Westphalo et Tractatus de Republica Romano-Germanica Iacobi Lampadii, Ienae: Impensis Iohannis Birckneri, 1653.

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Sammlung in Jena und Arnstadt,35 die wieder 1671 in einer ergänzten Ausgabe erschien36. In demselben Jahr 1671 erschien aber auch die dritte und endgültige Edition von Herrmann Conring,37 der aus dem Nachlaß des Lampadius auch die Schrift „De maiestatis civilis auctoritate et officio circa religionem“ herausgab38 und die ersten Kapitel der Dissertation mit seinen Anmerkungen kommentierte. Die übrigen Teile des Kommentars wurden erst 1730 in der Edition der gesamten Werke Conrings veröffentlicht.39 Eine zweite bedeutende Ausgabe mit Verbesserungen und Ergänzungen von Johann Georg Kulpis erschien 1686 in Straßburg, und zwei Jahre später wurde in Jena die letzte und „novissima“ Auflage veröffentlicht.40 Insgesamt wurden also zwölf Auflagen in den siebzig Jahren zwischen 1620 und 1688 gedruckt, und die Dissertation von Lampadius wurde dadurch – wie Richard Dietrich schrieb – „mit Anpassung an die Verhältnisse nach 1648 durch Conring, der sich als Schüler des Lampadius empfand, und Kulpis zu einem auflagenhohen Standardwerk des akademischen Unterrichts über die staatsrechtlichen Verhältnisse des Reichs in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts“.41 Wie erklärt sich dieser Erfolg eines sonst nicht bekannten Autors? Wir haben schon bemerkt, daß der entscheidende Punkt in der Rezeptionsgeschichte dieses Werkes kam, als Hermann Conring es als Vorlage seiner Vorlesungen __________ 35

Ders., Tractatus de republica Romano-Germanica, in: Georg Braudlacht/Iacobus Lampadius, Epitome iurisprudentiae publicae universae conscriptae a Georgio Braudlacht Westphalo et Tractatus de Republica Romano-Germanica Iacobi Lampadii, Ienae: Impensis Iohannis Birckneri, 1661; ders., Tractatus de republica RomanoGermanica, in: Georg Braudlacht, Epitome iurisprudentiae publicae universae, Arnstadiae: Impressa a Nicolao Singio, 1666. 36

Ders., Tractatus de republica Romano-Germanica, in: Braudlacht, Epitome iurisprudentiae publicae universae (Anm. 14). 37

Ders., De republica Romano-Germanica liber unus (Anm. 26).

38

Ders., De maiestatis civilis auctoritate et officio circa religionem opusculum posthumum, in: ders., De republica Romano-Germanica liber unus (Anm. 26), S. 173184. Diese Schrift wiederholt die Argumente, die man in der Dissertation im Abschnitt über die religiösen Befugnisse des Magistrats liest. Vgl. ders., Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 16-29, S. 5-11. 39 Conring, Discursus ad Lampadium posterior ex manuscripto editus (Anm. 31), S. 238-461. 40 Jacobus Lampadius, De republica Romano-Germanica liber. Cum remissionibus et supplementis Iohannis Georgii Kulpis, Argentorati: Sumptibus Iohannis Friderici Spoor et Reinhardi Waechtler, 1686; ders., De republica Romano Germanica liber. Editio novissima multis notis auctior, Ienae: Typis ac sumptibus Müllerianis, 1688. 41

Dietrich, Lampadius, Jakob (Anm. 15), S. 455b.

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wählte. Damit wurde die Dissertation in die akademische Sprache aufgenommen, die zum großen Teil auch die Sprache der politischen und juristischen Diskussion im Heiligen Römischen Reich war. Dabei erfuhr sie einige kleine, aber bemerkenswerte Veränderungen. Conring, oder Lampadius hinter ihm, strich nämlich jeden Bezug auf eine konfessionelle Bindung ab und das nunmehr bedenkliche Heidelberg und das verhängnisvolle Jahr 1620 wurden durch das berufsmäßige Speyer ersetzt. Jetzt las man im Widmungsbrief „Dabam Spirae Nemetum“ ohne Datum, als ob die Schrift aus der Feder eines Fachmanns entstammt wäre, in der deutlichen Absicht, die Schrift zu entkonfessionalisieren. Gleichzeitig wurde auch ihre literarische Gattung geändert. Lampadius hatte seine Schrift als dissertatio bezeichnet, während der übliche Name für die Erlangung des Doktortitels disputatio war. Eine Dissertation könnte auch als Disputation gelten, war aber meistens von ausführlicherem Inhalt und ausgedehnterer Form. Christoph Besold verfaßte 1614 zum Beispiel eine „Disputatio de politica maiestate in genere“ von dreißig Seiten und behandelte später dasselbe Thema in einer „Dissertatio politico-iuridica de maiestate“, die 210 Seiten umfasst.42 Der Dissertation folgte der Traktat, der im System der akademischen Gattungen noch detaillierter sein sollte. Auf ähnliche Weise wurde auch die Dissertation des Lampadius in die Gattung des Traktats aufgenommen, indem Conring ihren Titel änderte. Sie hieß nicht mehr „Dissertatio de iurisdictione, iuribus principum et statuum imperii“, was auf eine Spezialabhandlung über die Reichsgerichtsbarkeit hindeutete, sondern erhielt zwei Titelblätter. Auf dem ersten stand „Tractatus de constitutione imperii Romano-Germanici“, und damit wurde die Schrift als ein Traktat über die Reichsverfassung vorgestellt. Das zweite Titelblatt erklärte, daß ein Traktat über die Reichsverfassung eigentlich ein Traktat über das gesamte deutsche Staatsrechts ist, und lautete daher: „Tractatus de republica Romano-Germanica“. Mit demselben Titel wurde das Werk auch in den darauffolgenden Auflagen bezeichnet, mit der einzigen Änderung, daß Conring es 1671 zu einem „Liber“ umbenannte.43 __________ 42 Christoph Besold, De politica maiestate in genere, in: ders., Collegii politici classis prima, reipublicae naturam et constitutionem XII disputationibus absolvens, Tubingae: Typis Iohannis Alexandri Cellii, 1614, disp. 2, S. 1-30; ders., Dissertatio politicoiuridica de maiestate in genere eiusque iuribus specialibus, Argentorati: Sumptibus haeredum Lazari Zeztneri, 1625, S. 1-210. 43 „Liber“ ist die Bezeichnung, die Conring für die eigenen Traktate bevorgzugte. Vgl. Hermann Conring, De civili prudentia liber unus, Helmestadii: Typis et sumptibus Henningi Mulleri, 1662.

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1634 wurde also die Dissertation von Lampadius uminterpretiert: einerseits wurde sie entkonfessionalisiert, andererseits wurde sie in das System der akademischen Gattungen eingegliedert, in dem sie als eine vollständige Abhandlung der Reichsverfassung und als eine Zusammenfassung des deutschen Staatsrechts galt. Diese Intention wäre freilich zwecklos gewesen, wenn sie sich auf keine wesentlichen Elemente des Textes hätte beziehen können. Tatsächlich entsprachen diese unansehnlichen Veränderungen dem Kerngedanken der Dissertation, die auf zwei Grundannahmen basierte: 1. daß eine religiöse Einstellung keineswegs zum Verständnis der Reichsverfassung beiträgt und eher schädlich ist und 2. daß Jurisdiktion dasselbe wie „Verfassung“ bedeutet, ein Programm, das man mit den Stichwörtern „Enttheologisierung“ und „Juridifizierung“ zusammenfassen kann.44

D. Zwei Argumentationsmuster Conring datierte den Beginn des deutschen Staatsrechts als selbständiges universitäres Fach auf das zweite Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts. „Dominicus Arumaeus omnium primus coepit ius publicum docere professus Ienae. Hic primus excitavit doctores ad iuris publici professionem“.45 1608 war schon „De iurisdictione imperii“ Tobias Paurmeisters erschienen und 1618 hatte Theodor von Reinkingk sein „De regimine saeculari et ecclesiastico“ veröffentlicht. Lampadius stand also am Anfang des neuen Faches, das ihm damals zwei große Argumentationsmuster anbot; er lehnte aber beide ab und wählte eine dritte Möglichkeit.46 __________ 44

Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band. (Anm. 5), S. 127-130; ders., ‚Konfessionalisierung’ oder ‚Säkularisierung’ am Anfang des modernen Staates?, in: Ius commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 20 (1993), S. 1-23; ders., Säkularisation und Staatsräson in Deutschland um 1600, in: Luigi Lombardi Vallauri/Gerhard Dilcher (Hg.), Cristianesimo, secolarizzazione e diritto moderno, Baden-Baden/Mailand 1981, 1, S. 611-626; Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt (Anm. 15), S. 348-369; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, München 1992, S. 121-144; Merio Scattola, Gelehrte Philologie vs. Theologie: Johannes Caselius im Streit mit den Helmstedter Theologen, in: Herbert Jaumann (Hg.), Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus, Wiesbaden 2001, S. 155-157. 45 Conring, Dissertatio de republica imperii Germanici communi (Anm. 31), S. 1112. Vgl. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt (Anm. 15), S. 121-172. 46 Horst Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform: Politische Ideen in Deutschland 1600-1750, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, 3, Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung,

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Ein erstes Argumentationsmuster erklärte Reichsverfassung und Kaisertum im Rahmen einer politischen Theologie und umfaßte drei unterschiedliche Varianten, die man idealtypisch mit den drei Konfessionen im Reich identifizieren kann. Die lutherische Linie, die von Theodor von Reinkingk im „Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico“ und noch klarer in der „Biblischen Policey“ vertreten wurde, kann auch als „politica Christiana“ bezeichnet werden,47 ging auf Martin Luthers „Großen Katechismus“ und Philipp Melanchthons „Loci communes theologici“ zurück und begründete die politische Herrschaft mit einem direkten Gebot Gottes, das keiner menschlichen Vereinbarung – keines Bündnisses und keines Vertrages – bedarf, um sich geltend zu machen. Die Herrschaft von König und Kaiser fließt nämlich aus dem vierten Gebot, das alle Sorten von Autorität begründet und unmittelbar als angeborene Idee in der Seele aller Menschen wirkt.48 In diesem Sinn ist die Autorität der Eltern die erste Stufe und der Ursprung jeder weiteren Obrigkeit.49 Da das Königreich am ähnlichsten mit der göttlichen Herrschaft über die Welt

__________ München 1985, S. 264-271; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band (Anm. 5), S. 154-186. 47 Luise Schorn-Schütte, Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die ‚Politica Christiana’ als Legitimationsgrundlage, in: dies. (Hg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – ‚Res Publica’Verständnis – konsensgestützte Herrschaft, München 2004, S. 195-232; dies., Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 32 (2006), S. 273-314. 48 Martin Luther, Der große Katechismus, 1529, in: ders., Werke in Auswahl, hg. von Otto Clemen und Albert Leitzmann, Berlin 1967, (1. Aufl. 1912), 4, S. 18; Philipp Melanchthon, Loci communes theologici, 1535, in: ders., Opera quae supersunt omnia. Volumen XXI, hg. von Karl Gottlieb Bretschneider und Heinrich Ernst Bindseil, Braunschweig 1854, Sp. 396; ders., Loci praecipui theologici, ebd., Sp. 703-707; [Nikolaus Gallus oder Niclas Amsdorff], Confessio et apologia pastorum et reliquorum ministrorum ecclesiae Magdeburgensis, Magdeburgi: Per Michaelem Lotterum, 1550, Bl. D4r. 49 Theodor von Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, Francofurti ad Moenum: Impensis Iosephi Dieterici Hampelii, 1651, (1. Aufl. Giessae Hessorum 1619), I, 1, 2, 9-12, S. 10: „Ratio naturalis tanquam rerum omnium rectissima arbitra […] divini splendoris radius […] recti consilii et recti iudicii fons et scaturigo […], per quam sui imaginem Deus ad nos, imo in nos venit […], cordibus hominum quasi insculpsit in quavis hominum societate, quae ad tutelam generis humani conducit, omnino et necessario constituendum esse gubernatorem quendam, penes quem sit illius societatis regimen et cura.“

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ist, muß es auch die beste unter den Regierungsformen sein,50 und auch das Heilige Römische Reich, als eine von Gott selbst eingesetzte Herrschaft, muß daher eine wahre Monarchie sein.51 Die Tatsache, daß die königliche Regierung die beste Verfassungsform ist, bedeutet keineswegs, daß die Herrschaft des Kaisers und des Königs uneingeschränkt ist, denn sie kann immer zu einer offenbaren Tyrannei ausarten, gegen welche die mittleren Obrigkeiten einschreiten sollen.52 Die politische Theologie der Reformierten basierte dagegen auf der Idee einer Vereinbarung zwischen Menschen und Gott, die in der Form einer Föderaltheologie entwickelt wurde, wie es auch bei Johannes Althusius der Fall war. Dieser setzte voraus, daß das Zusammenleben der Menschen in einer politischen Gesellschaft nur durch die Fürsprache der Transzendenz in einem Vertrag möglich war, der gleichzeitig Abschluß und Bedingung der menschlichen Vergesellschaftung war.53 Die dritte Möglichkeit einer politischen Theologie im frühen siebzehnten Jahrhundert war die katholische Lehre der indirekten Herrschaft des Papstes, die die politische Gesellschaft auf eine menschliche und naturmäßige Vereinbarung zurückführte und von der spanischen Spätscholastik und Roberto Bellarmino ausgebaut wurde.54 __________ 50 Ebd., I, 1, 1, 21-22, S. 5: „Nam cuius gubernatio ad Dei Optimi Maximi regimen proxime accedit, ut optima omnium est, ita et eius desiderium naturae ipsi a Deo ingenitum videatur […]. Est praeterea status monarchicus antiquissimus.“ 51 Ebd., I, 2, 2: De Sacri Imperii Romani statu, ubi reiectis Bodini et aliorum argumentis immotis fundamentis defenditur, statum imperii nostri Romano-Germanici esse monarchicum, S. 51-100. 52

Ebd., I, 1, 5, 43, S. 36: „Subditi vero, qui non sunt mere privati, sed magistratus personam sustinent et superiori subordinati ac in partem sollicitudinis et curae reipublicae assumpti tanquam ephori, tyrannum exercitio, si fundamentales, quas vocant, reipublicae leges pessundare et ipsa substantialia consociationis iura evertere moliatur, a gubernaculis removere possunt.“ 53 Merio Scattola, Teologia politica, Bologna 2007, S. 93-99; ders., Subsidiarität und gerechte Ordnung in der politischen Lehre des Iohannes Althusius, in: Peter Blickle/Thomas O. Hüglin/Dieter Wyduckel (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft. Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtausends, Berlin 2002, S. 356-359. 54 Ders., Teologia politica (Anm. 53), S. 91-93; ders., Eine innerkonfessionelle Debatte. Wie die Spanische Spätscholastik die politische Theorie des Mittelalters mit der Hilfe des Aristotelismus revidierte, in: Alexander Fidora/Johannes Fried/Matthias Lutz-Bachmann/Luise Schorn-Schütte (Hg.), Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2007, S. 139-161.

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Neben diesen theologischen Varianten galt auch ein politisches Argumentationsmuster, das sich grundsätzlich auf die Idee der maiestas bezog und kritisch oder lobend mit Jean Bodin auseinandersetzte.55 Dieses Argumentationsmuster beherrschte im Heiligen Römischen Reich das universitäre Fach der Politik, wie es durch die Werke von Henning Arnisaeus, Jakob Bornitz, Christoph Besold, Christian Liebenthal und anderen entwickelt wurde,56 war aber auch im Reichsstaatsrecht vertreten. Dominicus Arumaeus und derselbe Theodor von Reinkingk argumentierten auch mit der maiestas und deren Unterscheidungen. Der entscheidende Punkt dieser Argumentationsweise wurde von Arnisaeus am klarsten formuliert.57 Ein Gemeinwesen – argumentierte Arnisaeus – ist nämlich ein Ordnungsverhältnis zwischen Gebietenden und Gehorchenden, und jedes Verhältnis beginnt aus einem ersten Prinzip. Im politischen Bereich übt die maiestas die Funktion eines derartigen Prinzips aus, und tatsächlich, wenn sie wechselt, ändert sich oder stirbt auch das Gemeinwesen. Wer die maiestas in einer Gesellschaft innehat, der gibt einem Gemeinwesen seine besondere Form, so daß die Verfassung eines Reiches unmittelbar vom Inhaber der höchsten Herrschaft abhängt, von der Frage nämlich, ob er ein einziger Mensch oder ein Rat oder eine ganze Versammlung ist. So konnte das deutsche Staatsrecht des siebzehnten Jahrhunderts das beliebte Thema behandeln: „Was für eine Verfassung hat das Heilige Römische __________ 55 Vgl. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt am Main 1970, S. 395-424; ders., Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, S. 66-81; Rudolf Hoke, Bodins Einfluß auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts, in: Horst Denzer (Hg.), Verhandlungen der Internationalen BodinTagung in München, München 1973, S. 315-332; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts. Erster Band (Anm. 5), S. 170-185; ders., La réception de Bodin en Allemagne, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 24 (1995), S. 141156. 56

Merio Scattola, Die Frage nach der politischen Ordnung: ‚Imperium’, ‚maiestas’, ‚summa potestas’ in der politischen Lehre des frühen siebzehnten Jahrhunderts, in: Martin Peters/Peter Schröder (Hg.), Souveränitätskonzeptionen. Beiträge zur Analyse politischer Ordnungsvorstellungen im 17. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 1339; ders., La discussion sur la souveraineté et la naissance de la science politique dans les universités allemandes du XVIIe siècle, in: Gian Mario Cazzaniga/Yves Charles Zarka (Hg.), Penser la souveraineté à l’époque moderne et contemporaine, Pisa/Paris 2001, 1, S. 159-179. 57 Henning Arnisaeus, Doctrina politica in genuinam methodum, quae est Aristotelis, reducta, Amstelodami: Apud Ludovicum Elzevirium, 1651, (1. Aufl. Francofurti [ad Viadrum] 1606), I, S. 26; VII, S. 157-158; Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ‚Politica’ des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970; S. 212-244; Scattola, Dalla virtù alla scienza (Anm. 4), S. 262-269.

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Reich?“ und „Wem gehört die maiestas im Reich?“ Darauf konnte man antworten, daß das Reich eine Monarchie (Arumaeus, Paurmeister, Reinkingk) oder eine Aristokratie (Bodin, Hippolitus a Lapide) oder eine Mischform aus beiden (Limnaeus) oder sogar ein Ungeheuer (Pufendorf) war. Dieses Muster konnte variiert und vervollständigt werden. Schon Jean Bodin hatte zwischen Form des Gemeinwesens und Form seiner Verwaltung unterschieden. Hermann Kirchner trennte die maiestas realis, die im Gemeinwesen liegt und uneingeschränkt ist, von der maiestas personalis, die dem Herrschenden übertragen wird und begrenzt ist.58 Iohannes Limnaeus benutzte im Reichsstaatsrecht die Lehre der partes potentiales59 und die logische Unterscheidung zwischen indivisibilia und indivisa.60 __________ 58

Hermann Kirchner, Disputatio II, in: ders., Respublica, Marpurgi Cattorum: Rodolphus Huttwelckerus, 1608, 3, Bl. B1v–2r; Christian Matthiae, Disputationum politicarum secunda. De maiestate et potestate imperatoris, in: ders., Collegium politicum secundum iuxta methodum logicam conscriptum, Giessae: Excudebat Casparus Chemlinus, 1611, 6, S. 37; ders., Systema politicum in tres libros distributum, Giessae: Typis et sumptibus Casparis Chemlini, 1621, (1. Aufl. 1618), III, 2, 1, S. 301; Christoph Besold, De politica maiestate in genere, in: ders., Collegii politici classis prima, reipublicae naturam et constitutionem XII disputationibus absolvens, Tubingae: Typis Iohannis Alexandri Cellii, 1614, 3, S. 4; ders., Politicorum libri duo, Francofurti: In bibliopolio Iohanni Alexandri Cellii, 1620, (1. Aufl. 1618), I, 2, 1, 3, S. 54-55; ders., Dissertatio politico-iuridica de maiestate in genere eiusque iuribus specialibus, Argentorati: Sumptibus haeredum Lazari Zeztneri, 1625, I, 1, 4, S. 5; Henricus Velstenius, De maiestate et magistrato, in: ders., Centuria prima quaestionum politicarum, Witebergae: Excudebat Iohannes Schmidt, 1610, VIII, 3, Bl. A4v. Vgl. Scattola, Dalla virtù alla scienza (Anm. 4), S. 269-280. 59 Henning Arnisaeus, De iure maiestatis libri tres, Francofurti [ad Viadrum]: Sumtibus Iohannis Thymii, 1610, II, 1, 1-2, S. 207-212; ders., De republica seu relectionis politicae libri duo, Francofurti [ad Viadrum]: Impensis Iohannis Thymii, 1615, II, 6, 1, 40-45, S. 802b-803b; Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, 1625, hg. von B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp, Aalen 1993, I, 3, 17, S. 122-123. Vgl. Merio Scattola, La nascita delle scienze dello stato. August Ludwig Schlözer (17351809) e le discipline politiche del Settecento tedesco, Mailand 1994, S. 195-197; ders., Le tradizioni tedesche della costituzione mista alle soglie dell’età moderna, in: Filosofia politica 19 (2005), S. 102-103. 60 Limnaeus, Liber primus iuris publici Imperii Romano-Germanici (Anm. 12), X, 45, Bl. T3v: „ Distinguendum enim est cum metaphysicis inter indivisibilia et indivisa. Quorum illa ob simplicitatem suam divisionem respuunt, haec cum sint ex partibus conflata, licet qua sunt, unum sunt, id est indivisa, tamen divisio illis non repugnat. Multa enim dicuntur in iure civili individua, quae tamen vel consensu eorum, quorum interest vel iussu praetoris vel aliam ob causam divisionem recipiunt […]. Et sub hac classe consistit etiam maiestas, quae simul sumpta cum omnibus suis partibus, unum quid constituit, quod est totum potentiale, quod vocant indivisum. Ideoque pluribus in republica tribui non potest. Nihil tamen prohibet, quin partes in hoc toto

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E. Der juristische Weg des Lampadius Bezeichnenderweise wählte Lampadius weder den theologischen noch den politischen Weg, lehnte beide ab und entwickelte eine Argumentation, die ohne Konfession und ohne Souveränität in der Erklärung der Reichverfassung auskam. Gegenüber den theologischen Lösungen versuchte er, die Entstehung des Gemeinwesens auf eine Weise zu erklären, die die Wirkung Gottes in möglichst weite Ferne rückte und der katholischen und spätscholastischen Lehre sehr nahe kam. Die menschliche Natur – hob Lampadius an – stimmte im Unschuldszustand vollkommen mit den Geboten ihres Schöpfers überein und gehorchte spontan dem Gesetz Gottes. Der Sündenfall hat aber sämtliche Menschen in einen so tiefen Abgrund des Frevels hineingeworfen, daß die unbändige Zügellosigkeit der ausgearteten Seele die letzten Reste vom richtigen Verstand auszulöschen drohte, und die menschliche Gattung wäre vor lauter Mord, Raub und Unzucht zugrunde gegangen, wenn die Weiseren nicht nach einer Rettung gesucht hätten. Die menschlichen Gelüste waren aber durch keine innere Überzeugung zu bändigen, und man mußte also eine äußerliche Tugend oder Gewalt besorgen, die die wilden Begierden der menschlichen Seele bezähmen konnte.61 Dies war das Gemeinwesen, das also eine menschliche Erfindung oder Vereinbarung ist, deren Zweck in der irdischen und politischen Glückseligkeit der menschlichen Gattung besteht. „Unde cognoscitur communem humani generis in hac civili vita beatitudinem esse ultimum rerumpublicarum finem, quibus definita sit imperii politici potestas.“62 Alle Menschen gehörten theoretisch ein- und demselben Gemeinwesen; da aber die Vereinigung der ganzen Menschheit unmöglich war, haben sich die Menschen in verschiedene Gesellschaften unterteilt, wie sie die Verwandtschaft, die Ähnlichkeit der Sitten oder der Krieg zusammenführte. Wie auch Francisco de Vitoria, Domingo de Soto und Diego de Covarrubias argumentierten, kann sich keine Universalmonarchie auf die ganze Erde erstrecken, und das Heilige Römische Reich ist nur eines unter vielen Königreichen in der Weltge-

__________ unitae, secerni et divisim inter plures distribui possint. Alia enim potestas est creare magistratus, alia iubere leges, alia ducere bellum, alia rationem habere aerarii: quae qui confundere inter se et inseparabilia facere velit, idem officia aedilium, consulum, censorum, praetorum, una commisceret necessse est. Quae et ipsa in maiestate unita, inter magistratus diversa sunt.“ 61

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 4, S. 2-3.

62

Ebd., I, 5, S. 3.

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schichte.63 Dieser Meinung war auch Lampadius, der dem Gemeinwesen zwar eine religiöse Funktion,64 aber keine religiöse Begründung zugestand. Andere zeitgenössische Vertreter des Staatsrechts, wie Theodor von Reinkingk, Christoph Besold und Georg Braudlacht, behaupteten dagegen, das Heilige Römische Reich sei die vierte und letzte Monarchie, die bis zum Ende der Zeit dauern werde und also Teil einer Heilsgeschichte sei, die Gott direkt gestiftet habe.65 Wie Lampadius auf den theologischen Bezug verzichtete, so lehnte er auch die politische Lehre der maiestas ab. In seiner Argumentation kommt das Urproblem des deutschen Reichsstaatsrechts eigentlich nie vor: „Welche Verfassung hat das Reich? Wer hat die maiestas im Reich?“. Lampadius blendete die Idee der maiestas aus und an ihrer Statt benutzte er den Begriff iurisdictio, der breiter als unsere ‚Rechtsprechung‘ oder ‚Gerichtsbarkeit‘ war.66 Lampadius selbst verzeichnete elf unterschiedliche Bedeutungen dieses Wortes und wählte darunter die weiteste Definition: „Iurisdictio a iure, quod a iubendo, et dicere quod effectu teneat deducta, complures significationes induit: latissime omnem regendae reipublicae potestatem designat, cuius in quoquo imperio descriptio ius publicum dicitur.“67

__________ 63

Domingo de Soto, De iustitia et iure libri decem, hg. von Venancio Diego Carro, Madrid 1967, (1. Aufl. 1556), IV, 3, 2, S. 302a-307b; Diego de Covarrubias y Leyva, Regulae ‚Peccatum’, De regulis iuris, Libri 6. Relectio, Salmanticae: Excudebat Andreas a Portonariis, 1558, (1. Aufl. 1554), II, 9, 5-6, Bl. 68ra–71va. Merio Scattola, ‚Bellum’, ‚dominium’, ‚ordo’: Das Thema des gerechten Krieges in der Theologie des Domingo de Soto, in: Norbert Brieskorn/Markus Riedenauer (Hg.), Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit I, Stuttgart 2000, S. 120-124 und ders., Eine innerkonfessionelle Debatte (Anm. 54), S. 152-157. 64

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 5, S. 3.

65

Reinkingk, Tractatus de regimine (Anm. 49), I, 2, 1: De quarta monarchia, quae fuit et est Romanorum, S. 45-51; Christoph Besold, De iurisdictione imperii Romani discursus, ad praesentem reipublicae Germanicae faciem accommodatus, Francofurti: Apud Iohannem Bernerum, 1616, 2: An imperium Romanum quarta monarchia?, S. 59; 3: An monarchia Romano-Germanica ante extremum diem sit peritura?, S. 9-10; Braudlacht, Epitome iurisprudentiae publicae universae (Anm. 14), I, 1, 23, S. 8: „Imperium Romano-Germanicum est ultima et suprema monarchia, a Romanis incepta et virtute Caroli Magni ad Germanos translata, inque hodiernum idem continuata“; Limnaeus, Liber primus iuris publici Imperii Romano-Germanici (Anm. 12), X, 45, Bl. T3r. 66

Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt (Anm. 15), S. 186-213.

67

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 1, S. 1.

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Die Literatur zur Jurisdiktion des frühen siebzehnten Jahrhunderts kannte ähnliche Definitionen.68 Tobias Paurmeister hatte zum Beispiel 1608 die Jurisdiktion als eine Befugnis des Gemeinwesens definiert, die sowohl die Rechtsprechung als auch die Gesetzgebung umfasste.69 Sie sei aber wiederum ein Teil des imperium oder der maiestas,70 die aus zwei Elementen bestehe: der iurisdictio und der Kriegsführung.71 Damit führte Paurmeister die Diskussion __________ 68 Zur traditionellen und engeren Definition der iurisdictio, insofern sie nur die Rechtsprechung über schon gesetztes Recht umfaßt, vgl. Hubert van Giffen, Theses de iurisdictione et imperio, Altorphii: Typis Christophori Lochneri et Iohannis Hofmanni, 1589, 3-4, Bl. A1r–v: „Principio autem de verbo iurisdictionis, cuius multiplex est notio distinguendum. Alias enim iurisdictio, licet rarius, idem valet quod summum imperium, quod est principis aut reipublicae, ut est ius ferendae ac rogandae legis, ius belli ac pacis, ius vitae et necis, ius magistratuum populi Romani rogandorum, extrema provocatio et si qua alia sunt maiestatis (nam et ita dici solet) capita. Alias et plerumque iurisdictio de magistratuum potestate dicitur. Interdum et pro nuda notione et pro ipso edicto magistratus sumitur“; Scipione Gentili, De iurisdictione libri III, Francofurti: Apud Claudium Marnium et heredes Ioannis Aubrii, 1601, I, 1, S. 2: „Proprie igitur iurisdictio est notio civilium et criminalium caussarum cum statuendi et exequendi potestate“; Matthias Stephani, Tractatus de iurisdictione, Francofurti: Sumptibus Petri Kopffii, 1611, (1. Aufl. 1608), I, 3, 1-7, S. 50; Philipp Heinrich von Hoen, Disputatio iuridica de iurisdictione, mixto et mero imperio, Herbornae Nassoviorum: Ex officina typographica Christophori Corvini, 1608, 1, Bl. A2r: „Iurisdictio est notio causarum, lege aut magistratus iure aut extra ordinem competens“; Henricus Bocerus, De iurisdictione tractatus, singulari studio et rebus et methodo adornatus, Tubingae: Typis Cellianis, 1609, I, 1, S. 7: „Iurisdictio est potestas ius constitutum decernendi negociis, (vel exequendi in negociis) ad quae pertinet, compentens ei, qui aliis publice praeest, in res et personas eorundem“; II, 2, S. 45: „Eius species sunt iurisdictio specialis et imperium mixtum et merum“; Helfrich Ulrich Hunnius, De iurisdictione tractatus, Giessae: Typis Casparis Chemlinii, 1616, I, 1, 1, S. 21-22. 69 Paurmeister, De iurisdictione imperii Romani libri II (Anm. 11), I, 1, 3, S. 2-3: „Propria significatio latissima est illa, quae non tantum iuris privatim singulis postulantibus reddendi, sed et publice civibus universis constituendi potestatem, tam perpetuam reipublicae, quam pro tempore praetori et aliis magistratibus concessam, et sic tam RSQSUIeER quam HMOEMSHSWeER complectitur, idque verbi ipsius origine et natura sic designante.“ 70

Ebd., I, 2: De definitione iurisdictionis in genere et quatenus est pars imperii politici, S. 12-14, besonders par. 6-7, S. 13: „Cum autem non simpliciter de iurisdictione, sed de imperii Romani iurisdictione tractatio a me suscepta sit, eaque dupliciter consideretur, vel quatenus est in ipsa politia, sive ab uno sive pluribus regatur, vel in magistratibus sive perpetuis sive temporariis, de illa prius, de hac postea agimus. Priorem sic definire tentabimus, ut sit pars imperii politici, quae reipublicae Romanae tam in iure publice constituendo quam postulantibus singulis reddendo competit.“ 71 Ebd., I, 3: De imperio politico, quod vulgo ius maiestatis appellatur, S. 14-33, besonders par. 1, S. 15: „Imperium politicum definio reipublicae in personas ac res

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um Bodins Lehre der Souveränität auf die klassische und mittelalterliche Tradition des merum et mixtum imperium zurück.72 Lampadius schlägt aber eine noch breitere Definition vor. In seiner Dissertation wird die iurisdictio nämlich mit der potestas und dem imperium gleichgestellt und schließt alle Befugnisse ein, die zur Aufstellung und Verwaltung einer gerechten Ordnung in einem Gemeinwesen erforderlich sind. Sie ist im Grunde eine facultas gubernandi und umfaßt sowohl die Anordnung und Bewahrung der richtigen Religion als auch die Verwaltung der irdischen Güter im Hinblick auf den gemeinsamen Nutzen. Deswegen, wie Lampadius in der erwähnten Definition erinnert, muß sie das ganze öffentliche Recht umfassen, und daher war es durchaus folgerichtig, wenn Conring die Dissertation über die Jurisdiktion in einen Traktat über das Heilige Römische Reich umbenannte. In der Geschichte der Menschheit mußte die Jurisdiktion in diesem weiten Sinne gestiftet werden, als die Menschen zur Erhaltung und Beförderung ihrer Glückseligkeit in getrennte Gesellschaften zusammenkamen. Um ihre Begierde zu beschränken, mußten sie nämlich eine Zwangsgewalt einführen, die das Richtige gebieten, die Widerwilligen nötigen und die Verbrecher strafen konnte.73 Auch diese Lehre der Jurisdiktion erwähnt den Begriff der maiestas, sie verdrängt ihn aber an den Rand der Argumentation und stellt ihn so hoch, oder definiert ihn auf eine so abstrakte Weise, daß er im politischen Leben oder in der Reichsverfassung keine wahre Wirkung mehr ausüben kann. Wenn sich die Menschen vereinigen, um ein Gemeinwesen zu gründen – argumentiert Lampadius –, wird nicht nur ein aktives Prinzip, die Obrigkeit oder die Gerichtsbar__________ ditionis suae potestatem“ und par. 13, S. 21: „Sic igitur statuo imperium omne politicum hisce duobus capitibus, iurisdicendi ac belligerandi potestate, uno accessorio munerum tam realium quam personalium indictione contineri.“ 72 Ebd., I, 3, 22, S. 30-33; Stephani, Tractatus de iurisdictione (Anm. 68), I, 6, S. 6885; Hoen, Disputatio iuridica de iurisdictione (Anm. 68), 3-8, Bl. A3r–B4r; Bocerus, De iurisdictione tractatus (Anm. 68), II, 2, S. 45; IV: De mixto imperio, S. 149-175; V: De imperio mero, S. 177-233; Hunnius, De iurisdictione tractatus (Anm. 68), I, 1-5, S. 21242; Vgl. Rudolf Hoke, Imperium merum et mixtum, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1978, 2, Sp. 333-335. 73 Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 9, S. 4: „Sed cum ea vis ac ratio reipublicae propterea inoleverit, ut indomitae ac inquinatae mentis affectus tam a natura tracta ratione quam propriis scitis temperaret, non solum recta iustaque iuberet, sed etiam cogeret invitos imperata facere plectereque siqui delinquerent, ideo activa potentia praeditos esse oportet, qui ad clavum constituti regere debent rempublicam.“

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keit, eingeführt, wie wir soeben gesehen haben, sondern gleichzeitig muß auch ein entsprechend passives Moment da sein. Ein Gemeinwesen besteht also aus der Vereinigung von einer potentia activa gerendae reipublicae und einer potentia passiva et oboedientialis.74 Dieses Verhältnis ist das wahre und eigentliche Wesen einer Republik; es bleibt während deren ganzen Existenz bestehen und löst sich erst dann auf, wenn das Gemeinwesen zusammenbricht oder durch einen Krieg oder eine Tyrannei zerstört und von Gott vernichtet wird.75 Die maiestas fällt mit diesem Verhältnis zusammen und ist daher mit der abstrakten Essenz einer politischen Gesellschaft identisch, bevor sie irgendwelche Form annimmt. Sie ist also das Band, das eine Mehrzahl von Menschen verbindet, welche wissen, daß sie miteinander leben wollen und daß sie sich einer Obrigkeit unterwerfen müssen, ohne aber die Form und das Subjekt dieser Unterwerfung angeben zu können. Man könnte folgerichtig sagen, die maiestas sei jenes Angehörigkeitsgefühl, das eine Gemeinschaft zusammenhalte. Lampadius erklärt diesen entscheidenden Umstand durch die philosophischen Begriffe von Essenz und Existenz.76 „Postremo cum illa activa regendae reipublicae potentia, quatenus primo et formaliter citra respectum dependentiae et participationis consideratur, formet rempublicam et actuet, et vero omnis actus qui materiae immergitur, sit actus vel essentiae vel exsistentiae, precium me facturum puto, si ex his reipublicae naturam, tanquam formali principio definivero. Actus igitur essentiae ut in omni re, ita quoque republicae talem actum inducit, qui esse reipublicae constituat, quique toti sit speciei communis; et licet non sit extra materiam, non tamen est in materia propria, sed communi, ut anima rationalis in homine; actus vero existentiae in individuis tantum consistit, materia

__________ 74

Ebd., I, 10, S. 4.

75

Ebd. I, 11, S. 4: „Utraque autem potentia subiectum desiderat, in quo consistat, quocirca cum activam gerendae reipublicae potentiam aliis, aliis contra passivam ac obedientialem inesse oporteat, in proclivi est, hos passive se habere et obsequi gloria fruisci, quamdiu constiterit reipublicae compages.“ 76

Die glücklicke Handhabung philosophischer Begriffe wurde auch von den Vertretern des Reichsstaatsrechts als großer Vorteil dieser Schrift hervorgehoben. Vgl. Johann Georg Kulpis, In Iacobi Lampadii De republica Romano-Germanica librum remissiones et supplementa quaedam, in: Lampadius, De republica Romano-Germanica liber (Anm. 40), S. 332-333: „Caeterum aestimarunt peritiores hanc tractationem Lampadianam. I. Ob insignem scientiae philosophicae aliorumque praesidiorum, queis hic felicissime proceditur, applicationem, cuius ope vulgaria illa et praescriptione quadam inveterata dogmata, in omnium fere iurisconsultorum libros relata, deseruisse poterat et confutasse, multa alia etiam accuratius ac antea erat factum definiverat Lampadius. Speciminis loco nominari possunt, quae parte prima de mixtura iurium maiestatis, item parte tertia de axiomate illo, tantum potest princeps in suo territorio quantum imperator in imperio, praeclare disseruit, ut de infinitis aliis nil dicam.“

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scilicet propria non communi. Et forma quidem est eadem essentialis, sed non accidentalis propter conditionem propriae materiae seu subiecti. Ex his recte intellectis dignoscere licet formam cuiusque imperii essentialem et subiectum adaequatum, non esse, vel monarchiam vel aristocratiam vel democratiam, sed formas has esse accidentales subiecto tantum communi, differentes. Etenim respublica separatis temporibus et unum et paucos et multos potest habere dominos, qui quidem subiecto existentiae differunt, non vero actu essentiae. Nec enim essentiam reipublicae Romanae concidisse quis dixerit, cum exactis regibus maiestas ad optimates transiret, nec speciem humanam simul ac unum individuum interierit. Maiestas igitur essentialiter toti reipublicae ut subiecto adaequato inhaeret, extra respectum unius vel plurium, quo respectu maiestas recte dicitur indivisibilis non quidem ratione obiecti, sed potestatis occupatae in rebus administrandis. At in subiecto communi existentiae pro ut res in republica gerendae divisionem vel species 77 recipiunt, ita maiestas potest in disparatis subiectis consistere.“

Nach dieser Erklärung muß jedes Gemeinwesen als eine ewige Form verstanden werden, ähnlich wie das Wesen des Menschen, das sich in verschiedenen Individuen verwirklicht und nicht vernichtet wird, wenn ein Mensch stirbt. In diesem Sinn haben die Staaten ein sehr langes Leben, denn ihr Wesen besteht in einem inneren, sehr abstrakten Band, das sie in ihrer Geschichte zusammenhält und unabhängig vom Wechseln der Herrschenden und Beherrschten immer weiter besteht.78 Ein Staat könnte seine Verfassung vollständig ändern und könnte sogar sein Gebiet und alle seine Untertanen verlieren und neue erhalten, er würde trotzdem derselbe Staat bleiben. Insofern können die Staaten in ihrem Wesen durch die Geschichte nicht geändert werden; kein historisches Ereignis könnte einen Staat vernichten oder ins Leben rufen, sondern ein Gemeinwesen wird von selbst, ohne Ursache, entstehen und zugrunde gehen, wenn das gemeinsame Gefühl, das alle Veränderungen erleiden kann, plötzlich auftaucht oder verschwindet. Die Staaten existieren in einer göttlichen Ordnung, sind ewige Formen und ihre Existenz wird nicht durch die Geschichte bedingt, sondern nur von der Vorsehung Gottes.

__________ 77 78

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 58-60, S. 16-17.

Braudlacht, Epitome iurisprudentiae publicae universae (Anm. 14), I, 1, 9, S. 11: „Forma quoque eiusdem pro diversitate temporum dimetienda. Primis quippe temporibus a Romulo regium fuisse statum constat, verum Tarquinio Superbo, rege ultimo. Rege eiecto, aristocraticus factus, qui paulo post in democratiam degeneravit, donec tandem dicta Lege Regia imperium in unum translatum, dominatus monarchicus effectus, et in hunc usque diem Romano-Germanicum Imperium aut summa monarchia praelucescit, quamvis in regimine non parum sit temperans.“

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Diese Lehre der ewigen maiestas war gegen Jean Bodin und seine deutschen Anhänger, wie Henning Arnisaeus, ausgerichtet, welche darauf bestanden, daß die Form der maiestas Form und Existenz des Gemeinwesens unmittelbar bedingt, so daß ein neues Gemeinwesen entsteht, wenn die Verteilung seiner Herrschaftsrechte geändert wird.79 In dieser Hinsicht sollte man annehmen, daß sich drei verschiedene Gemeinwesen – ein königliches, ein demokratisches und ein kaiserliches – in der Geschichte des römischen Reiches einander abgelöst haben und daß das Reich der deutschen Nation ein viertes und ganz neues Gebilde war. So wäre aber die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches unmöglich. Die Tatsache, daß die abstrakte maiestas immer sich selbst gleich bleibt, bedeutet nicht, daß die Staaten keine Veränderung erfahren. Im Gegenteil, in ihrer Existenz müssen sie eine ununterbrochene Kette von Veränderungen ertragen. „Inconstans certe et mutabilis species apprime congruit; etenim si imperium ab incunabulis repetitum per seculorum ad nostram usque aetatem decursum aliquanto politiori animo perquirimus: me Christe! Quam variae deprehenduntur metamorphoses!“80 Alle Veränderungen, die wir in einem Gemeinwesen wahrnehmen, gehören aber nicht zur maiestas, sondern zur iurisdictio, zur Verteilung der Befugnisse, die sich immer durch eine lange Geschichte von Rechtshandlungen gestaltet. Die maiestas ist eine leere Identität; die Reichsverfassung ist dagegen die Summe aller historischen Veränderungen, die man erlernen muß, um die Lage eines Gemeinwesens und vor allem des Heiligen Römischen Reiches richtig zu beurteilen. „At tot factarum nostrae reipublicae transfigurationum ignoratio, maximos fere ut minimos superioris aetatis ingenti et pernitioso errore imbuisse cognoscitur.“81 Die Verfassung des Reiches kann man daher nur anhand von Geschichte und Jurisprudenz beschreiben. Wenn die maiestas die abstrakte Essenz des Gemeinwesens ist, die sich immer gleich bleibt, hat es dann keinen Sinn, sich zu fragen: „Wer hat die maiestas?“, „Welche ist die Form der Reichsverfassung?“. Man muß dagegen fragen: „Wer hat die iurisdictio?“ Auf diese Frage kann man aber nicht auf politisch-philosophische oder politisch-theologische Weise antworten, sondern __________ 79

Arnisaeus, Doctrina politica (Anm. 57), VII, S. 157-158; ders., De republica (Anm. 59), II, 1, 1, 12, S. 296a: „Nam ea [= maiestas] est praecipua reipublicae pars, ex cuius mutatione mutatur tota respublica.“ 80

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), Serenissimo principi ac domino, dn. Friderico Ulrico, Bl. 3r. 81

Ebd.

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die Lösung ergibt sich durch das juristische Handeln und wird in historischen Dokumenten geliefert: Man kann nur juristisch und historisch verfahren. Für die Reichsverfassung hat diese Lehre der maiestas und der iurisdictio tiefgreifende Folgen. Alle frühneuzeitlichen Auslegungen der Souveränität bestanden nämlich darauf, daß ein einheitliches Element in der Lehre der maiestas immer vorhanden sein muß. Bei Althusius sind zum Beispiel die iura maiestatis unteilbar, die dem Volk angehören, während die Verfassung jedes Gemeinwesens eine Mischverfassung aus unterschiedlichen Elementen ist; bei Arnisaeus ist dagegen das Subjekt der Verfassung immer einheitlich, während die iura maiestatis teilbar sind.82 Nach den Grundsätzen von Lampadius sind dagegen sowohl die Herrschaftsrechte als auch ihre Träger teilbar. Da die Essenz jeder Republik, die maiestas, die Einheit der Gesellschaft im Prinzip gewährleistet, wird jede Art von Teilung in der Existenz des Gemeinwesens, in der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten, möglich. So können unterschiedliche Befugnisse von verschiedenen Trägern auf verschiedene Weise, mal aristokratisch, mal monarchisch, mal demokratisch, verwaltet werden. Dies ist auch der Fall des Reiches, das in bestimmten Materien vom Kaiser allein und monarchisch und in anderen vom Kaiser und den Reichsständen zusammen und also aristokratisch regiert wird.83 Obwohl die iurisdictio auf diese Weise in einzelne Befugnisse unterteilt wird, die verschiedenen Trägern zuerkannt werden, ist dieses Subjekt in seiner Kompetenz und in seinem Gebiet nicht minder unabhängig als dasjenige, das allein über alle iura maiestatis verfügt. Zum Begriff einer potestas summa gehört nämlich nicht so sehr ein unermeßlicher Umfang, sondern die vollständige Unabhängigkeit.84 __________ 82

Scattola, Le tradizioni tedesche della costituzione mista (Anm. 59), S. 97-108.

83

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 61, S. 17-18: „Scilicet sit unius in manu divini cultus moderatio ut apud Lacedaemonios, pauci iurisdicendi potestatem obtineant, de bello decreverint omnes, expedita hic esset miscendae reipublicae ratio, quae ex omnibus accidentibus species constaret. Sed et tam in cultu numinis, quam rebus civilibus ut et bello, tot sunt distincta genera et rerum partes, ut facillime separatae speciei imperia recipiant, unde et unus et pauci et multi in separatis reipublicae partibus poterunt rerum potiri; fieri etiam potest ut unus et multi, item pauci et multi, item unus et pauci rempublicam quisque in suo obiecto gubernent, quod quia in nostro imperio accidit, et solius Caesaris et statuum Caesarisque commune imperium ex disiunctis rerum generibus depingere fert animus, ut ubi solius Caesaris est potestas, ibi regale imperii genus, ubi commune statuum cum Caesare imperium, aristocratiam ibi liceat agnoscere.“ Vgl. Limnaeus, Liber primus iuris publici Imperii Romano-Germanici (Anm. 12), X, Bl. S1r-V1r, hier par. 38, Bl. T2v: „Caeterum idem imperium nostrum non pure aristocraticum esse, sed monarchia mixtum constat“. 84 Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), I, 62, S. 18: „Nec minus maiestatem habet, qui unius reipublicae partem independenti potestate gubernat, quam

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Auf diese Weise kann man das Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsständen erfolgreich erklären und die Frage beantworten, ob auch letztere superioritas oder sublimis iurisdictio, „hohe Fürstliche oder LandsObrigkeit“ genießen.85 Zuerst muß man aber bedenken, daß jede iurisdictio entweder „formalis et independens, ac proinde suprema et maiestatica“ oder „dependens, precaria ac magistratus iure competens“ ist. Die Voraussetzung für die suprema iurisdictio ist ihre Unabhängigkeit; die königliche Würde ist dagegen keine Bedingung dafür, und regia iurisdictio bedeutet daher nur die erste und höchste Jurisdiktion in einem Königreich, von der alle anderen abhängen.86 Auf dieser Basis muß man die Vermutung von Andreas Knichen zurückweisen, daß die Fürsten dieselbe Jurisdiktion im eigenen Territorium haben, die der Kaiser über die ganze Erde beansprucht.87 Wenn der Kaiser nämlich eine Befugnis über die ganze Erde hätte, hätte sie auch in jedem einzelnen Territorium auf der Erde und die Fürsten würden keine eigene iurisdictio besitzen. Andererseits ist es nicht möglich, daß sowohl der Kaiser als auch ein Fürst dieselbe Jurisdiktion in demselben Territorium beanspruchen, denn in einer Ordnung kann das Erste nicht zweimal vorkommen. Deswegen fällt auch Tobias Paurmeister in einen Widerspruch, wenn er den Ständen eine suprema iurisdictio anerkennt, die doch vom Kaiser abhängt.88 Im Reich kann die iurisdictio oder die potentia activa gerendae reipublicae, die die religiösen und weltlichen Angelegenheiten verwaltet und als Gesetzgebung oder Rechtsprechung wirkt, daher entweder bei dem Kaiser allein oder bei den Ständen sein. Die Geschichte des Reiches, juristisch betrachtet, lehrt uns aber, daß die Befugnis der Rechtsprechung allein dem Kaiser zusteht, weil er das höchste Appellationsrecht hat und also die Urteile aller anderen Richter berichtigen darf. Die religiöse Gesetzgebung wurde vom Augsburger Frieden __________ qui suo solius imperio rempublicam absolvit, seu qui solus rerum omnium potitur. Etenim non amplitudo et ratio obiecti maiestatem definit, sed formalis et independens rerum gerendarum potestas. Et quae potestas politica a nulla alia ratione dependentiae et causalitatis patitur, ea summa est et prima atque adeo maiestatica. Ex obiecto autem maiestatem non esse aestimandi vel inde cognoscitur, quod maiestas et magistratus circa res easdem versentur.“ 85

Besold, De iurisdictione imperii Romani discursus (Anm. 65), S. 1.

86

Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), II, 36, S. 42.

87 Andreas Knichen, De sublimi et regio territorii iure synoptica tractatio, Francofurti: In officina literaria Paltheniani collegii, 1603, (1. Aufl. 1600), I, 216-217, S. 20; Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), II, 37, S. 42-43. 88 Paurmeister, De iurisdictione imperii Romani libri II (Anm. 11), I, 6, S. 41-49; Lampadius, Dissertatio de iurisdictione (Anm. 17), II, 38, S. 43.

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den Ständen allein zuerkannt. Die zivilrechtliche Gesetzgebung gebührt dagegen zum Teil dem Kaiser allein, zum Teil dem Kaiser und den Reichsständen zusammen. In den Materien, die ihm allein zustehen, hat der Kaiser superioritas sive suprema iurisdictio. In den zwischen Kaiser und Ständen gemeinsamen Materien, steht die superioritas dem Reichstag zu, und in diesem Fall genießen die Fürsten die superioritas in ihren Territorien.89 Nach demselben Muster einer juristisch argumentierten und historisch fundierten Verteilung der Kompetenzen innerhalb einer Art transzendenter Einheit kann die ganze Reichsverfassung erklärt werden. Diese Auslegungsmethode grenzt sich sowohl gegen theologische Hypothesen als auch gegen das politische Interpretationsmuster der Souveränität ab. Sie sucht nach einem mittleren Weg zwischen Theologie und Politik und findet ihn in der Jurisprudenz und in der Geschichte. Dies ist auch die Methode, die Hermann Conring in Helmstedt erbte und verbreitete. Er auch vermied die große Frage „Wer hat die Souveränität im Reich?“, „Welche Verfassung hat das Reich?“ und löste die Reichsverfassung als juristisches Gebilde in seinen historisch gewachsenen Bestandteilen auf. Dies war auch die Methode, die sich im Fach des deutschen Staatsrechts nach dem Dreißigjährigen Krieg behauptete und die politisch-philosophischen Alternativen ablöste. Sie fand ihre Erfüllung im Programm der Universität Halle, im „Ius und Historie“90 und im Reichsstaatsrecht des achtzehnten Jahrhunderts, dessen Entwicklung also in der Dissertation und in der Lehre des Lampadius vorgezeichnet war. Eine Lehre, die sich behaupten konnte, weil sie auf den religiösen Bezug verzichtete und stattdessen wissenschaftlich-juridisch argumentierte.

__________ 89 90

Ebd., II, 39-45, S. 43-45.

Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; ders., Jurisprudenz und Historie in Halle, in: Norbert Hinske (Hg.), Halle. Aufklärung und Pietismus, Heidelberg 1989, S. 239-253.

Theorien der Herrschaftsbegründung und Konfession – zum Zusammenhang von Luthertum und theokratischer Theorie Von Heinrich de Wall, Erlangen

A. Einleitung „Nulla religio tam honorifice de magistratu politico sentit, quam religio lutherana“1 – mit diesen Worten stellt der königliche Hofprediger und Konsistorialassessor in Kopenhagen, Hector Gottfried Masius, in seinem Buch „Interesse Principum circa religionem Evangelicam“ im Jahr 1687 einen Zusammenhang zwischen der Konfession und der politischen Theorie her.2 Zum Beleg führt er die Lehren lutherischer Theologen und Juristen an, die die seiner Ansicht nach richtige Antwort auf die entscheidende Frage für die Bewertung einer Staatslehre – die nach der Herkunft der höchsten Gewalt – geben: dass nämlich die höchste Gewalt im Staat unmittelbar von Gott übertragen wird. Das Buch Masius’ stellt einen Versuch dar, diese Aussage zu begründen, Masius ist bei Christian Thomasius auf heftigen Widerspruch gestoßen, den dieser 1688 in seinen „Monatsgesprächen“ formuliert hat. Es folgte ein Hin und Her gegeneinander gerichteter Schriften, das sogar zu diplomatischen Verwicklungen zwischen dem Brandenburgischen und dem Dänischen Hof führte. Frank Grunert hat diese Kontroverse beleuchtet.3 Dass freilich auch Thomasius __________ 1 „Keine Religion denkt so ehrenvoll über das politische Amt wie die lutherische Religion.“ 2 Heinrich de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, Aalen 1992, S. 112, Anm. 77. 3 Frank Grunert, Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728), Tübingen 1997, S. 51 ff. mit Nachweisen zur Kontroverse Masius – Thomasius.

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Lutheraner war, dass also die Auseinandersetzung über die Richtigkeit der These von der unmittelbaren göttlichen Herkunft der höchsten Gewalt von zwei Lutheranern, Thomasius und Masius, geführt wurde, lässt aber an des letzteren Analyse, dass es die lutherische Religion sei, die nach seiner Auffassung am ehrenvollsten über das politische Amt denkt, zweifeln. Masius selbst war noch in eine andere Auseinandersetzung über die politische Theorie entlang konfessioneller Grenzen verwickelt. Um seine Aussage, dass die Calvinisten politisch unzuverlässig seien, entwickelte sich nämlich eine Kontroverse mit dem reformierten Johann Christoph Beckmann, in die sich auch, freilich nicht öffentlich, Samuel Pufendorf eingeschaltet hat.4 Im übrigen wendet sich Masius auch gegen den Katholizismus bzw. in seiner Terminologie „Papismus“ und dessen politische Lehren. Dass jedoch der Calvinismus sein Hauptgegner ist, ist für die Kontroversen im Protestantismus nicht ganz untypisch.5 Es beruht darauf, dass die monarchomachischen Lehren mit ihrer Befürwortung eines Widerstandsrechtes der politischen Gemeinschaft gegen die Obrigkeit mit dem Calvinismus identifiziert wurden6 und diesem deshalb, aus der Sicht lutherischer Vertreter des monarchischen Fürstenstaats wie Masius, der Vorwurf der politischen Unzuverlässigkeit nicht erspart blieb. Auch die Lehren Johannes Althusius’ mit ihrer magistratisch-ständischen Komponente fanden keine Gnade bei Masius und anderen. Dennoch: Dass Masius gerade bei Konfessionsgenossen – Thomasius und Pufendorf – auf Kritik gestoßen ist, wirft die Frage auf, ob der von ihm behauptete Zusammenhang zwischen politischer Lehre und Konfession in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen tatsächlich bestand, ob also das Luthertum tatsächlich „ehrenvoller“ über den Staat gelehrt hat als andere Konfessionen. Masius selbst sieht als Prüfstein dafür die Frage, ob die höchste Gewalt unmittelbar von Gott übertragen wird. Insofern legt seine Aussage, dass die lutherische Religion am ehrenvollsten über das politische Amt denkt, die __________ 4

Dazu s. ebd., S. 55 ff.

5

S. z.B. auch Christoph Besold, Synopse der Politik, dt. Übersetzung der Ausgabe 1637, übers. von Cajetan Cosmann, hg. von Laetitia Boehm, Frankfurt a.M./Leipzig 2000, S. 64. 6 Zu diesem Zusammenhang und insbesondere zur Bedeutung juristischer Argumente jetzt instruktiv Christoph Strohm, Das Verhältnis von theologischen, politisch-historischen und juristischen Argumentationen in calvinistischen Abhandlungen zum Widerstandsrecht, in: Angela De Benedictis/Karl-Heinz Lingens (Hg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jh.)/Sapere, coscienza e scienza nel diritto di resistenza (XVI-XVIII sec.) (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 165), Frankfurt a.M. 2003, S. 141-174.

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Untersuchung nahe, ob in der Auseinandersetzung um die theokratische oder andere Herrschaftsbegründungen, die auch schon vor Masius und Thomasius geführt wurde, eindeutige konfessionelle Zuordnungen möglich sind. Anhand einer Reihe von Beispielen soll im folgenden Hinweisen auf einen solchen Zusammenhang in der Staatslehre der frühen Neuzeit nachgegangen werden.

B. „Maiestas a Deo est“ – Bedeutung und Positionen Der genauere Blick auf die einschlägigen Lehren erweist, dass hinter dem Satz, dass die „maiestas a deo“ sei, eine beträchtliche Brandbreite von Positionen verborgen ist. Dass die Staatsgewalt von Gott sei, sagt zunächst über die Position des Schreibers in den Diskussionen um die politische Herrschaft wenig aus. Dass es keine Gewalt gebe als die von Gott, so Röm. 13,1, auf den sich zahlreiche Theoretiker beziehen, braucht nicht mehr zu bedeuten, als dass die staatliche Herrschaftsgewalt genauso eine Gabe Gottes ist wie die gesamte Schöpfung. Diese Aussage schließt nicht aus, dass Gott lediglich als causa remota der Staatsgewalt angesehen wird, deren eigentliche causa proxima und causa efficiens in der civitas, der staatlichen Gemeinschaft gesehen wird. So gesehen sind auch die naturrechtlichen Vertragstheorien mit dem Satz, dass die maiestas a deo sei, durchaus verträglich. Etwas anderes wäre auch im Anbetracht der Autorität der Offenbarung und des christlichen Hintergrunds der Staatslehre der frühen Neuzeit kaum denkbar. Dem gegenüber stehen aber Modelle der Herrschaftsbegründung, die eine unmittelbare Autorschaft Gottes für die Herrschaftsgewalt annehmen. Danach wird die unmittelbar auf Gott zurückgehende Herrschaftsgewalt ohne dazwischentretende Wirkursache auf die Herrscher übertragen. Dass die maiestas a deo sei, wird hier gewissermaßen als ein unmittelbares Wirken Gottes in der Welt verstanden.7 Auch die Anhänger dieses Modells waren natürlich nicht so töricht anzunehmen, dass die Herrscher ihrer Zeit durch den Besuch eines Himmelsboten zu ihrer Herrschaftsgewalt gekommen seien. Auch sie kennen die üblichen Übertragungswege staatlicher Herrschaft wie Erbschaft oder auch Wahl, ein Sachverhalt, mit dem sich im Heiligen Römischen Reich jeder politische Theoretiker konfrontiert sah. Allerdings werden diese Übertragungsweisen als bloße modi acquirendi maiestatis gesehen, als Methoden, mit denen lediglich die Person des Herrschers ausgewählt, designiert wird, auf die dann die Herrschaftsgewalt selbst als unmittelbare Gabe Gottes übertragen wird. Dies sind die eigentlichen, strengen theokratischen Lehren, die Masius __________ 7

S. zum Folgenden de Wall, Staatslehre Johann Friedrich Horns (Anm. 2), S. 106 ff.

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wohl nicht nur für richtig, sondern für eine lutherische Spezialität ansieht. Auch solche, im strengen Sinne „theokratischen“ Lehren kommen aber in durchaus unterschiedlichen Varianten vor. Zu bedenken ist nämlich, dass es in vielen Werken, die sich mit der civitas beschäftigen, gar nicht in erster Linie um die Erarbeitung einer Theorie der Begründung staatlicher Herrschaft geht. Die Frage nach Grund, Entstehung und Übertragung der maiestas wird vielfach nur am Rande gestreift. Dies ist etwa bei den nicht seltenen Werken der Fall, in denen es nicht um eine systematische Darstellung der res publica geht, sondern die Ratschläge für gutes Regieren darstellen, namentlich den so genannten Fürstenspiegeln. Insofern ist eine Zuordnung der entsprechenden Autoren zu den theokratischen Staatslehren nur unter Vorbehalt möglich – findet sich in solchen Werken die Aussage, dass die maiestas immediate a deo sei, hat ein solcher Satz möglicherweise gar keine zentrale Bedeutung für den Diskussionszusammenhang des Werkes. Mit diesem Vorbehalt soll nachfolgend ein kurzer Überblick über einschlägige Werke des 16. und vor allem 17. Jahrhunderts gegeben werden.8

I. Der Theokratiegedanke in Fürstenspiegeln des 16. und 17. Jahrhunderts Als Beispiel für noch unmittelbar von den Ereignissen der Reformation beeinflusste, frühe Theorieansätze mag hier das „Regentenbuch“ (1559) Georg Lauterbecks (od. -bachs) stehen.9 Lauterbeck liefert keine systematische Darstellung politischer Institutionen, sondern versucht in seinem Fürstenspiegel, aus Bibelstellen und antiken Schriftstellern Ratschläge für ein gutes Regiment zu gewinnen. Dem Satz, dass alle Obrigkeit von Gott ist, wird zum Nachweis,

__________ 8

Eine systematisierende und den zeitgenössischen Diskussionszusammenhang der politischen Philosophie insgesamt einbeziehende, grundlegende und zusammenfassende Darstellung jetzt bei Horst Dreitzel, in: Helmut Holzhey/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4/1, Basel 2001 (= Ueberweg 4/1), S. 607 ff., insbes. 715 ff. Wenn hier etwas abweichende Gruppierungen gebildet werden, liegt das nur am auf die theokratische Herrschaftsbegründung beschränkten Fragehorizont dieses Beitrags, bedeutet aber keineswegs eine Distanzierung von der Dreitzel’schen Darstellung. 9 Georg Lauterbeck(-bach), ca. 1510-1578, Mansfeldischer Kanzler und fürstlich Brandenburgischer Regierungsrat in Kulmbach (Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle und Leipzig 1732-1750, Reprint Graz 1961), vgl. zu ihm Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, S. 88 f.

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dass dieser „Stifter, Herr und Patron aller Obrigkeit und Regiment“ ist, der Traum Nebukadnezars (Dn. 4) zur Seite gestellt.10 Als späteres Werk ist auch die „Biblische Policey“ (1653) Dietrich (od. Theodor) Reinking(k)s in die Reihe der Regimentstraktate und Fürstenspiegel einzuordnen und berührt daher die Frage der Begründung der Staatsgewalt eher am Rande. Neben dem Verweis auf die lutherische Lehre dienen ihm ebenfalls mehrere Stellen des Alten Testaments zur Begründung der These, dass alle Obrigkeit direkt von Gott verliehen wird.11 Auch Veit-Ludwig von Seckendorf vertritt in seinem „Teutsche(n) Fürsten – Stat“ (1656) diese These, die aber bei ihm besonders starke sittliche Bindungen impliziert.12 Auch dieses Werk ist weniger eine systematische „Staatslehre“ als eine Anleitung zum guten Regieren.13 Ebenso wie die anderen Beispiele dieser Gattung bietet es wenig an theoretischer Fundierung des theokratischen Gedankens, der dafür lediglich auf ganz wörtlich genommene Formeln (dei gratia) und Bibelzitate gestützt wird.

__________ 10 Georg Lauterbeck, Regentenbuch (neue Aufl. 1557), Frankfurt a. M. 1600, 1 II c 1, S. XXXI. 11 Dietrich Reinkingk, Biblische Polizey, ed. 5, Frankfurt a. M. 1701, lib. II ax I sq (S. 109 ff.), ax XI (S. 130 ff.). Zu Reinkingk s. Christoph Link, Dietrich Reinkingk, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1987, S. 78-99 (insbes. S. 95 f.) und Stolleis, Geschichte (Anm. 9), S. 150 f., 218 f.; s. a. Erik Wolf, Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Karl Larenz (Hg.), Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1943, S. 94 f., Gerd Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl., Heidelberg 1996, S. 346 ff. 12

Dies vor allem in dem späteren Christen-Staat (1685), s. z.B. 1. Buch cap VI § 5 (S. 37), aber auch bereits Teutscher Fürsten-Staat, anderer (2.) Teil, cap I n. 6, 8 (S. 57 f.), cap VII, 1. Teil (S. 111). 13

Zu Seckendorf s. Milos Vec, Seckendorff, in: Michael Stolleis (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, S. 558 f.; Stolleis, Staatsdenker (Anm. 11), S. 139 ff.; ders., Geschichte (Anm. 9), S. 352; Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, München 1977, S. 9 ff. (insbes. S. 12 ff.), Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen (Anm. 11), S. 368 ff.; Hans-Peter Schneider, Justitia universalis. Quellenstudien zur Geschichte des „Christlichen Naturrechts“ bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a.M. 1967, S. 253 ff.; Wolf, Idee (Anm. 11), S. 98 ff., Gustav Marchet, Studien über die Entwicklung der Verwaltungslehre in Deutschland, München 1885, S. 1 ff.; Georg Lenz, Theokratie und Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Internationales Recht, Bd. 11 (Festschrift für Rudolf Laun zu seinem 80. Geburtstag), Göttingen 1962, S. 255 überschätzt m. E. die Bedeutung Seckendorfs für den theokratischen Gedanken.

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II. Die Lehre von der doppelten Majestät Eine andere Gruppe von Autoren, zu denen Matthias Bortius und Benedikt Carpzov (1595-1666) gehören, scheint auf den ersten Blick ebenfalls zu den Propagandisten der unmittelbaren göttlichen Stiftung des Herrschaftsrechts zu zählen. Diesen Eindruck lassen Sätze wie „majestas regni sui imperii prima et summa est, quia pendet immediata a Deo“ entstehen.14 Allerdings gehören diese Publizisten zu den Vertretern der Lehre von der doppelten Majestät.15 Sie unterscheiden zwischen der maiestas realis und der maiestas personalis. Die maiestas realis stellt dabei die auf Gottes Schöpfung beruhende staatliche Herrschaftsgewalt dar, die ursprünglich der civitas als der Gesamtheit der Staatsbürger zukommt. Zur Ausübung der staatlichen Herrschaft wird ein Teil dieser Gewalt auf einen bestimmten Herrscher (oder eine Gruppe) übertragen. Dieser Teil bildet die maiestas personalis, das persönliche Herrscherrecht. Hier wird nicht nur der Versuch deutlich, Ansätze zu einer abstrakten „Staatssouveränität“ mit der noch ganz herrschenden Vorstellung der maiestas als eines einer konkreten Person zustehenden Rechts im Sinne der „Herrschersouveränität“ in Einklang zu bringen, sondern auch die These von der unmittelbaren göttlichen Herkunft der maiestas mit der Einsetzung des Herrschers durch die civitas bzw. ein Wahlgremium.16 Demgegenüber gehen die „genuinen“ Theokraten von einer ungeteilten Souveränität als persönliches Recht eines einzelnen (oder einer konkreten Gruppe) aus, um die Vorstellung eines aus Menschenhand verliehenen Herrschaftsrechtes mit ihren „demokratischen“ Implikationen zu bekämpfen. Insofern zählen die Theoretiker der Unterscheidung von maiestas realis und __________ 14 Matthias Bortius, Natura Jurium Majestatis & Regalium, in: Doninicus Arumaeus (ed), Discursus Academici de Jure Publico, Jena 1615, cap 6, I (S. 908). S. a. cap V, I ff., (S. 900 ff.); s. a. Benedikt Carpzov, Commentarius in Legem Regiam Germanorum (1640), Hanoviae (Hanau), 1669, cap I sect II n 44-46, vgl. auch Rudolf Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus, Aalen 1968, S. 85. 15 Zu dieser Lehre ausführlich; Hoke, Johannes Limnaeus (Anm. 14), S. 54 ff.; Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966, S. 477 ff.; ferner Stolleis, Geschichte (Anm. 9), S. 180 f.; Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 48, 52 ff., 16 Vgl. Johann Sauter, Die Entwicklung der abendländischen Staatsidee, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 27 (1933/34), S. 72-98, 189-213, 319-343, (S. 199 ff.); Hoke, Johannes Limnaeus (Anm. 14), S. 77.

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personalis gerade zu ihren Gegnern.17 Deren Annahme einer maiestas realis der civitas ist für die Theokraten inakzeptabel. Eine bemerkenswerte Ausformung der Theorie von der doppelten Majestät findet sich bei Christoph Besold (1577-1638).18 Danach bezieht sich die maiestas realis, die der Republik als Gesamtheit zusteht, auf die Verfassung des Reiches, die auch durch den höchsten Fürsten nicht zu ändern ist. Die maiestas personalis dagegen beinhaltet – unterhalb der Verfassung – alle „Obliegenheiten einer Staatsführung im Sinne der rechten Entscheidungen für das Wohl der Republik“,19 also umfassende Herrschaftsbefugnisse. Der maiestas personalis werden die Begriffsmerkmale zugeschrieben, die die Souveränität nach der Lehre Jean Bodins charakterisieren. Sie wird nämlich definiert als die „höchste und dauernde und von den Gesetzen losgelöste Macht …, die sich auf Dinge und Personen erstreckt, die im Bereich ihrer Botmäßigkeit liegen bzw. daselbst in Erscheinung treten.“20 Anders als die maiestas realis wird die maiestas personalis auf eine Person oder auf eine Mehrheit von Personen übertragen. Aus der Tatsache, dass der Kaiser sein Amt aufgrund der Wahl durch die Kurfürsten erhält, lässt sich nicht ableiten, dass er eine Gruppe von Höheren über sich hat. Die Kurfürsten bilden insofern nur eine „Mittelursache und geben dem gewählten Kaiser keine Art von Macht, sondern ernennen allein die Person, die jene unmittelbar von Gott herkommende Macht ausüben muss.“21 Besolds Ausführungen bringen die Lehre von der doppelten Maiestät und die theokratische Herrschaftsbegründung weitgehend in Einklang. Die maiestas realis wird nicht als ein Recht der civitas als Personengemeinschaft behandelt, sondern mit der Verfassung identifiziert. Allerdings ist die Zielrichtung der konsequentesten Theokraten, nämlich eine von konkurrierenden Herrschaftsträgern, der Gesamtheit der civitas oder deren Repräsentanten möglichst unbeschränkte monarchische Herrschaftsgewalt zu begründen, bei Besold nicht so deutlich, der auch Ansätze für eine föderalistische Theorie,

__________ 17

Vgl. Hoke, Johannes Limnaeus (Anm. 14), S. 77.

18

S. dazu z.B. Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), S. 659 ff.; Laetitia Boehm, Christoph Besold (1577-1638) und die universitäre Politikwissenschaft seiner Zeit, in: Besold, Synopse der Politik (Anm. 5), S. 317 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Anm. 15), S. 59 ff.; Friedel-Walter Meyer, Christoph Besold als Staatsrechtler, Diss. Jur. Erlangen 1956, S. 54 ff. 19

Besold, Synopse der Politik (Anm. 5), S. 46, Nr. 11.

20

Ebd., Nr. 13.

21

Ebd., S. 47.

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Sympathie für eine gemischte Staatsform und Begründungsmuster für die Rechtsgebundenheit der Herrschaft entwickelt.22

III. Theokratie und „Protestantischer Aristotelismus“ Konsequente Lehren von der unmittelbaren göttlichen Legitimation der Herrschergewalt stammen von meist lutherischen, vom politischen Aristotelismus geprägten Theoretikern. Der „protestantische Aristotelismus“ war durch die Vermittlung Melanchthons zur Schulphilosophie des Luthertums geworden.23 Diese Theorien sehen die civitas – in Anlehnung an die aristotelische Anthropologie des zoon politicon – als Ergebnis eines natürlichen Geselligkeitsstrebens, nicht freiwilliger Einigung der Menschen. Da man den Gedanken der natürlichen Entstehung der civitas aufgrund des als gottgegeben aufgefassten Geselligkeitstriebes sehr gut durch das Modell der unmittelbaren Verleihung der Herrschaftsgewalt durch Gott ergänzen konnte, bot sich hier ein Ansatz, die Unabhängigkeit der Staatsentstehung von jeglicher menschlichen Einwirkung zu behaupten und in scharfem Kontrast zu den Theorien von der vertraglichen Begründung der Herrschaftsgewalt die alleinige Urheberschaft Gottes zu betonen.24 Am Rande tauchen theokratische Gedanken auch bei Henning Arnisaeus auf, den Horst Dreitzel als Exponenten des protestantischen Aristotelismus dargestellt hat. Arnisaeus lehnt mit Hinweis auf eine göttliche Intervention bei der __________ 22 Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), S. 659 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Anm. 15), S. 59 ff. 23

Ausführlich Stolleis, Geschichte (Anm. 9), S. 82 ff.; Brückner, Staatswissenschaften (Anm.13), S. 150 ff.; s. a. Hans Maier, Die Lehre der Politik an den älteren deutschen Universitäten, in: ders., Politische Wissenschaft in Deutschland, München 1969, S. 15-52, 28 ff.; Horst Denzer (Hg.), Jean Bodin, Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, München 1973, S. 297 ff.; ferner Dreitzel, Politischer Aristotelismus, in: Ueberweg 4/1, (Anm. 8), S. 639 ff.; zur Aristoteles Rezeption durch Melanchthon und ihre Bedeutung für die Wissenschaft in Deutschland ausführlich Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, insbes. S. 166-186. Zu Melanchthons Kommentar der Politik des Aristoteles jetzt Isabelle Deflers, Lex und Ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons, Berlin 2004, S. 199 ff. 24

Vgl. Fritz Wolters, Über die theoretische Begründung des Absolutismus in: Kurt Breysig (Hg.), Grundrisse und Bausteine zur Staats- und Gesellschaftslehre, zusammengetragen zu den Ehren Gustav Schmollers usw., Berlin 1908, S. 201 ff., 212 ff.

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Verbindung von Herrscher und Unterworfenen die Vertragsidee ab und beruft sich dabei auf Röm. 13,1 ff., das Standardargument der lutherischen Theokraten.25 Hinweise auf eine theokratische Ausrichtung seiner Lehre geben auch einige Zitate Hermann Conrings. So äußert er sich in der „dissertatio de maiestate civili“ dazu, ob die in der politischen Realität seiner Zeit ja bestehenden Wege der Auswahl eines Herrschers etwa durch Wahl oder Erbfolge die These von der unmittelbaren göttlichen Herkunft der Herrschergewalt in Frage stellen: „Nec sors, nec electio, nec successio, est maiestatis causa: sed mediante uno illorum modorum maiestas, quae a deo est, certae personae committitur“.26 Wahl oder Erbfolge sind nicht Ursache der Herrschaftsgewalt, sondern lediglich Arten und Weisen von deren Übertragung auf bestimmte Personen. Auch ist der weltliche Herrscher für ihn „vicarius dei“ und leitet seine Macht aus der Herrschaft Gottes über die Welt ab.27 Allerdings geht es Conring nicht in erster Linie darum, die göttliche Legitimation des jeweiligen Herrschers zu behaupten, sondern nur die der maiestas als solcher. Die konkrete Herrschaft geht nicht unmittelbar auf Gottes Willen zurück. Ob die Menschen nämlich einem oder mehreren die maiestas verleihen, und wie sie der jeweilige Herrscher erlangt, ob durch Wahl oder kriegerische Gewalt, beruht ganz auf menschlichem Willen.28 Wenn die Herkunft der maiestas immediate a deo betont wird, soll damit klargestellt werden, dass die civitas die Souveränität nicht aus eigenem Recht übertragen und entziehen kann. Diese Argumentation richtet sich vor allem gegen Vorstellungen einer ursprünglichen „Volkssouveränität“ wie sie in den Theorien der spanischen Spätscholastik und bei den Monarchomachen auftauchen. Bei Conring steht __________ 25 Henning Arnisaeus, De jure majestatis libri tres, Frankfurt/Main 1689, lib 1 cap VI n 8 (S. 89); vgl. Otto von Gierke, Johannes Althusius, 3. Aufl., Breslau 1913, S. 68 Fn. 31 und S. 70 Fn. 38; Bei Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica“ des Henning Arnisaeus (ca. 1575-1636), Wiesbaden 1970, wird dieser Aspekt nur sehr kurz (S. 381) behandelt. Fast gleichzeitig mit Arnisaeus betont auch Jakob Bornitz die unmittelbare göttliche Herkunft der maiestas, s. Adolf Dock, Der Souveränitätsbegriff von Bodin bis Friedrich dem Großen, Strassburg 1897, S. 34; siehe zu Bornitz Stolleis, Geschichte (Anm. 9), S. 116 und Nachw. S. 198 Fn. 434. 26

„Weder das Los, noch die Wahl, noch die Nachfolge sind Grund der Herrschaft; vielmehr wird durch eine jener Arten und Weisen die Maiestas, die von Gott ist, einer bestimmten Person anvertraut.“ 27

Hermann Conring, Dissertatio de maiestate civili, in: Opera, 4, S. 580 ff. 1677, §§ XI ff. (S. 582 f.), XVII (S. 583 f.). 28

Conring, Dissertatio (Anm. 27), § XIV ff. (S. 583).

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zudem die Rechtfertigung der Staatsgewalt als notwendige Folge menschlichen Zusammenlebens im Vordergrund. Diese ist zwar gottgewollt, allerdings geht deshalb die jeweilige Herrschergewalt nicht auf unmittelbare Intervention Gottes zurück.29 Den hier genannten beiden Autoren ist die gegenüber den theokratischen Spuren weit überwiegende Betonung des aristotelischen Erbes gemeinsam. Ihnen geht es um die Darstellung der Staatsgewalt als natürliches und vernünftiges Ergebnis und Erfordernis menschlichen Zusammenlebens, das nicht auf willkürlicher Entscheidung des Individuums, sondern auf dem gemeinsamen Geselligkeitstrieb beruht. Die theokratischen Elemente dienen eher der Adaption dieser Lehre an ihr Christentum als einer politischen Tendenz zur Rechtfertigung der jeweiligen Fürstenherrschaft.

IV. Theokratische Lehren in der lutherischen Orthodoxie in der Mitte des 17. Jahrhunderts In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren theokratische Lehren recht weit verbreitet.30 Gleichzeitig setzte freilich das Vordringen rational-naturrechtlichen Gedankenguts in die deutsche Lehre ein, markiert durch das Wirken Samuel v. Pufendorfs. Außerdem forderten auch die Thesen Thomas Hobbes’ zur kritischen Auseinandersetzung auf. Die naturrechtlichen Vertragsmodelle, die als Gegner der Theorien eines göttlichen Rechts der Könige neben andere, namentlich die monarchomachischen Lehren traten, führten zu einer deutlicheren Profilierung mancher theokratischen Lehre. Mit dem Hinweis auf die Theoretiker des „Divine Right of Kings“, namentlich auf James I., Charles I., dessen Verteidiger Claudius Salmasius (Claude Saumaise) und vor allem Robert Filmer, wird auch deutlich, dass derlei Lehren nicht auf das Reich beschränkt waren. Hier traten aber insbesondere Autoren hervor, die zum Umfeld der lutherischen Orthodoxie gehörten. Nicht nur Autoren, deren überwiegendes Arbeitsgebiet die Politik und verwandte Disziplinen waren, gehörten zu den Vertretern theokratischen Gedankenguts, auch lutherische Theologen befanden sich darunter.31 Dadurch wird die These Masius’ von der Verbindung __________ 29

Vgl. dazu Walter Lang, Staat und Souveränität bei Hermann Conring, Diss. Iur. München 1970. 30 Zusammenfassend jetzt Dreitzel, in: Uberweg 4/1 (Anm. 8), S. 715 ff. m. w. Nachw.; s. a. de Wall, Die Staatslehre J. F. Horns (Anm. 2), S. 112 ff. 31 Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), S. 718 f.; Grunert, Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus (Anm. 3), S. 50 ff.

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von theokratischer Herrschaftsbegründung und lutherischer Lehrtradition, die Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist, zunächst unterstützt. Als Beispiel ist hier der Däne Johannes Wandalin (1624-1675), Bischof von Seeland, mit seinen „De Jure regno anhypeuthynu et legibus humanis libri 1-6“ (Kopenhagen 1663 ff.) zu nennen, der ausdrücklich jegliche Art von ursprünglicher Gewalt bei Volk oder civitas ablehnt und die direkte Verleihung einer „ungebundenen“ Königsmacht durch Gott dagegensetzt.32 Dagegen will Valentin Alberti (1635-97), einer der Köpfe der Leipziger Orthodoxie,33 in seinem „Compendium juris naturae“ (1676) immerhin eine konkurrierende Einsetzungskompetenz „civitatis, seu populi“ anerkennen, allerdings nur im genannten Sinne, dass durch Wahl etc. lediglich die Person des Monarchen designiert, nicht aber die Herrschaftsmacht übertragen wird. So kann er dennoch die Behauptung der unmittelbaren göttlichen Herkunft der Herrschaftsmacht aufrechterhalten.34 Der Wittenberger Theologieprofessor und Generalsuperintendent Abraham Calov (1612-86) bezeichnet es sogar als „generalis sententia sancti spiritus“, dass alle staatliche Gewalt unmittelbar von Gott stamme.35 Unter den Juristen ist Caspar Ziegler in Wittenberg zu nennen. Zwar wollte er dem Naturrecht grotianischer Prägung den Weg in die deutschen universitären Curricula ebnen, betont in seinem Grotius-Kommentar aber ausdrücklich die direkte Übertragung der Herrschaftsgewalt durch Gott. Auch wenn er zugesteht, dass das Volk immerhin die Person aussuchen kann, auf die die Majestät übertragen werden soll, hält er wie Valentin Alberti lediglich an der Designationsthese fest. In seinem Kompendium „de juribus majestatis“ von 1681 betont Ziegler noch einmal seine Thesen.36 Außerhalb Wittenbergs sind

__________ 32 Johnannes Wandalinus, De Jure Regno anhypeuthynu et legibus humanis liber 1-6, Havnia (Kopenhagen), 1663-1667, lib II cap 1 (S. 112). Nicht zufällig begegnen uns mit ihm und Masius zwei Dänen als besonders konsequente Theokraten. Erinnert sei hier an die absolutistische lex regia.

33

Zu ihm Nicolaus Hieronymus Gundling, Vollständige Historie der Gelehrtheit, Dritter Teil (von 6) (Historia Literaria Sec. XVII), Frankfurt und Leipzip 1735, (posthum) hg. von Wolffgang Ludwig Spring. 34

Valentin Alberti, Compendium Juris Naturae, Lipsiae 1676, cap XIV § 3 (S. 210).

35

Zit. nach Sauter, Entwicklung der abendländischen Staatsidee (Anm. 16), S. 30.

36 Caspar Ziegler, De Juribus Majestatis (1681), Wittenberg 1698, lib 1 cap I § 46 (S. 31 f.).

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noch beispielsweise Johannes Felwinger (1616-81)37 und Heinrich von Cocceji (1644-1719) zu nennen. Wie auch das Beispiel des Rintelner und Hallenser, ebenfalls lutherischen Juristen Heinrich Bode (1652-1720)38 zeigt, wurde die These von der direkten Übertragung der Herrschaft durch Gott bis ins 18. Jahrhundert hinein vertreten.39 Die Argumente für die Behauptung der unmittelbaren göttlichen Herkunft und für den Umfang der monarchischen Herrschaftsgewalt werden in den meisten theokratischen Lehren aus einem beschränkten Fundus entnommen. Neben dem Hinweis auf 1. Sam. 8 und Dan. 4 sind der Verweis auf Röm. 13, die Konstruktion der Souveränität aus dem 4. Gebot, die insbesondere bei Robert Filmer eine entscheidende Rolle spielt, und die Gleichsetzung der Königs- mit der Gottesherrschaft verbreitet.40 Spezifisch lutherisch sind diese Begründungen an sich nicht. Allenfalls die Betonung von Röm. 13,1 könnte man hier nennen. Die gemeinsame Zielrichtung dieser Theorien ist die Gegnerschaft gegen eine vertragliche bzw. aus dem Willen der zur civitas vereinigten Unterworfenen hergeleitete Begründung des Staates und der maiestas. Dieser wird entgegengehalten, dass die staatliche Gemeinschaft keinesfalls als Ergebnis eines freiwilligen Zusammenschlusses der in einem egalitären Naturzustand lebenden Individuen zu erklären sei. Vielmehr sei der Mensch als soziales Wesen ursprünglich in Gemeinschaften eingebunden, von einfachen Beziehungen wie dem des Mannes zur Frau oder des Vaters zu den Kindern bis hin zu komplexen Gebilden, die im staatlichen Gemeinwesen gipfeln. Substrat, Materie des Staates ist somit eine in Gemeinschaften strukturierte civitas. __________ 37 Johannes Paulus Felwinger (1616-81), Professor in Altdorf (Zedler); s. a. August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslehre, 1. Teil, Göttingen 1793, S. 87 ff.; Gerhard Henkel, Untersuchungen zur Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch die deutsche Staatstheorie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Diss. Jur. Marburg 1967, S. 86 f. und Otto von Gierke, Johannes Althusius, 2. Aufl., Breslau 1981, S. 70 Fn. 38. 38

Heinrich v. Cocceji, Juris Publici Prudentia, Frankfurt/Oder 1965, cap XXI § 2 (S. 346) „sacra deique vicaria potestas“; vgl. Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten), Wien/Köln/Graz 1979, S. 81 Fn 76; zu Cocceji Stolleis, Geschichte (Anm. 9), S. 246 m. w. N. 39 Maximilian Joh. Hommens, Heinrich von Bode, Diss. Saarbrücken 1975, insbes. S. 332 ff.; vgl. zu Bode auch Schneider, Justitia universalis (Anm. 13), S. 320 ff.; s. a. etwa zu Augustin Leyser Link, Herrschaftsordnung (Anm. 38), S. 92. 40 Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft (2 Bände), Köln/ Weimar/Wien 1991, Bd. 2, S. 488 f. weist auf die besondere Bedeutung dieser „kosmologischen Analogie“ für die katholische Staatstheorie hin. Freilich taucht sie auch in protestantischen Lehren auf, so bei Johann Friedrich Horn, Politicorum Pars Architectonica, de Civitate (1664), Frankfurt 1672, lib II cap I § XII (S. 182 ff.).

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V. Die systematische Herleitung des theokratischen Gedankens bei Johann Friedrich Horn Über diese Varianten hinaus ging vor allem der Wittenberger Johann Friedrich Horn (ca. 1629-1665), dessen Werk „Politicorum Pars Architectonica, de Civitate“ wohl die ausführlichste und systematischste Darstellung einer streng theokratischen Theorie ist.41 Auch er verweist auf die einschlägigen Bibelstellen, womit – so Horn – die unmittelbar göttliche Herkunft der maiestas schon hinreichend bewiesen sei.42 Freilich schließt er dem eine von ihm so genannte „politische“ Herleitung an, die nach Umfang und Gewicht der Argumente den Schwerpunkt seiner Lehre ausmacht. Außerdem verteidigt er sie ausführlich gegen konkurrierende zeitgenössische Modelle, unter ihnen vor allem gegen das von Thomas Hobbes. Nicht umsonst setzt sich dann Samuel Pufendorf in seinem „Jus Naturae et Gentium“ gerade mit Horn auseinander.43 Horns Staatslehre beruht auf eng miteinander zusammenhängenden Prämissen. Zum einen geht er davon aus, dass menschliche Herrschaft zwei körperlich voneinander unterschiedene Subjekte voraussetzt, einen Herrschenden und einen Beherrschten. Zum anderen kennt er als Rechtssubjekte nur Individuen. Schließlich betont auch Horn die aus der Sozialnatur des Menschen folgende ursprüngliche Existenz vorstaatlicher Gemeinschaften und der civitas.

__________ 41 S. dazu de Wall, Die Staatslehre Horns (Anm. 2), insbes. S. 116 m. Nachw.; Ausführlich auch Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), S. 720 ff.; s. a. ders., Monarchiebegriffe (Anm. 40), Bd. 2, S. 503 ff.; ders., Protestantischer Aristotelismus (Anm. 25), S. 84 ff.; ders., Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen Rechts- und Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 210 ff.; Harald Dickerhof, Land, Reich, Kirche im historischen Lehrbetrieb an der Universität Ingolstadt (Ignaz Schwarz 1690-1763), Berlin 1971, S. 143 ff.; von Gierke, Johannes Althusius (Anm. 25), S. 70 f.; Sauter, Staatsidee (Anm. 16), S. 72 ff. (95); Link, Herrschaftsordnung (Anm. 38), S. 79 ff., Dieter Wyduckel, Wittenberger Vertreter des Ius Publicum, in: Heiner Lück/Heinrich de Wall (Hg.), Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur, Köln/Weimer/Wien 2006, S. 291 ff. (332 ff.). 42 Johann Friedrich Horn, Politicorum Pars Architectonica, de Civitate, Frankfurt 1672, lib II cap I § IX n 4 (S. 172). 43

Samuel Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium (1672) (The Classics of International Law No. 17, ed. by James Brown Scott), Vol. 1: Text der Ausgabe v. 1688, Oxford/London 1934, lib VII cap III §§ 3 ff., s. a. de Wall, Die Staatslehre Horns (Anm. 2), S. 128 ff.

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Für Horn ist der unmittelbare Grund für die Genese der civitas wie der vorstaatlichen societates nicht jeweils ein Vertrag zwischen den Individuen, sondern der natürliche Gemeinschaftstrieb des Menschen. Zwar wird die civitas nach Horn gebildet, „damit die Menschen sicherer und angenehmer leben“. Auf den ersten Blick könnte dieser Satz auf eine zweckrational eingegangene, auf freiem Willensentschluss beruhende Verbindung schließen lassen und so die Grenzen zu den naturrechtlichen Vertragstheorien verwischen. Allerdings ist hier auf die aristotelische Metaphysik zu verweisen, auf die Horn sich beruft: Wie jeder Gegenstand strebt danach auch der Staat zur Verwirklichung des ihn bestimmenden Zieles. Dieses Ziel ist aber objektiv vorgegeben und damit unabhängig vom Willen der Individuen. Obwohl die civitas wie auch die vorstaatlichen Gemeinschaften eine natürliche, vorgegebene Existenz besitzen, kommt ihnen, und hier liegt ein Bruch in Horns Lehre, keinerlei über ihr Wesen als Summe der Individuen hinausgehender Eigenwert zu. Auch die civitas ist lediglich quasi-corpus.44 Sie kann damit keine Trägerin eigener Rechte sein. Dieser strenge Individualismus führt nun nicht etwa zu einer Stärkung der politischen Stellung des Einzelnen, sondern dient dazu, ihn ebenso als politischen Faktor auszuschalten wie die staatliche Gemeinschaft. Da nämlich eine Herrschaft der Individuen über sich selbst begrifflich ausgeschlossen ist, die civitas selbst aber nicht Trägerin eigener Rechte ist, können beide nicht Ausgangspunkt und Träger der Staatsgewalt sein. Für Horn ist die staatliche Herrschaftsmacht auch nicht etwa – wie bei Hobbes – das Ergebnis der Summe der Unterwerfungserklärungen der Individuen. Daher ist die maiestas für ihn gar nicht anders erklärbar als durch göttliche Verleihung. Ebenso wie in den vorstaatlichen Gemeinschaften, in denen ebenfalls eine auf göttliche Verleihung beruhende Herrschaftsgewalt besteht, überträgt also Gott dem Monarchen einen Teil seiner Herrschaft über die Welt, die maiestas ist daher „immediate a deo“. Dabei ist Gott hier keinesfalls als Chiffre für eine denklogische Voraussetzung staatlicher Herrschaft nach Art der Kelsenschen

__________ 44 Horn, Politicorum Pars Architectonica (Anm. 42), lib I cap 1 § 1 n 10 f. (S. 75); lib II cap I § XVIII n 38 ff. (S. 202), dazu näher de Wall, Staatslehre Horns (Anm. 2), S. 63 ff.; Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), S. 721; Ulrich Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, I. Teil, Tübingen 1959, S. 55 ff.; von Gierke, Johannes Althusius (Anm. 25), S. 70 f.; ders., Das Deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde. (18681913), Reprint Darmstadt 1954, Bd. IV, S. 411 ff.; Sauter, Die Entwicklung der abendländischen Staatsidee (Anm. 16), S. 95; Link, Herrschaftsordnung (Anm. 38), S. 80 f.

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Grundnorm zu verstehen. Vielmehr wird der Herrscher tatsächlich als vicarius dei verstanden und daraus seine besondere Legitimation begründet.45 Das Hornsche Modell der Staatsentstehung und Herrschaftsbegründung kann folgendermaßen thesenartig zusammengefasst werden: Die civitas entsteht wie die vorstaatlichen Gemeinschaften durch natürlichen Zusammenschluss der Menschen aufgrund ihres Geselligkeitstriebes. Sie ist kein durch einen Vertrag geschaffenes Kunstprodukt. Der civitas kommt aber kein über ihr Wesen als Summe der Individuen hinausgehender Eigenwert zu. Sie kann auch keine Trägerin eigener Rechte sein. Der Begriff der Herrschaft setzt einen Herrschenden und einen Beherrschten voraus. Die Herrschaft eines (Rechts)Subjektes über sich selbst ist begrifflich ausgeschlossen. Weil kein Individuum im Besitz der Herrschaft über sich selbst ist, kann auch ein solches Recht nicht auf die civitas übertragen werden. Diese kann daher auch nicht selbst Ausgangspunkt oder Grund der Herrschaftsmacht sein. Unmittelbarer Grund aller Herrschaftsmacht ist vielmehr Gott. Prinzipiell schließt eine solche Herleitung der Staatsgewalt „immediate a deo“ eine vertragsmäßige Verbindung zwischen Monarch und Untertanen noch nicht aus. Denkbar ist ja, dass Gott lediglich das Amt des Monarchen stiftet und die Übertragung auf eine bestimmte Person durch Vertrag zwischen dieser und den Untertanen erfolgt. Dies würde aber der eigentlichen Intention Horns widersprechen, eine politische Rolle des Staatsvolkes, und sei es vermittelt durch eine ständische Repräsentanz, auszuschalten. Ganz deutlich wird dies dort, wo er selbst die denkbar absolutistische Theorie Hobbes’ deshalb kritisiert, weil sie wegen ihrer vertragsmäßigen Begründung der Staatsgewalt „das aufrührerische Volk mit dem ... Werkzeug ausstattet, ... den König seines Thrones nach Belieben zu entheben“.46 Allerdings muss auch Horn die in der Realität bestehenden Mitwirkungsrechte – etwa von Wahlkörperschaften bei der Königswahl – ebenso erklären wie den Übergang der maiestas im Rahmen der Erbfolge. Die verschiedenen realen Möglichkeiten des Übergangs der Herrschaftsgewalt, insbesondere die Wahl, werden bei ihm in der bereits für Christoph Besold und andere beschriebenen Weise nach Art der Designationsthese zu bloßen modi

__________ 45 Horn, Politicorum Pars Architectonica (Anm. 42), lib II cap I § X ff. (S. 178 ff.); s. dazu auch de Wall, Staatslehre Horns (Anm. 2), S. 116 ff. m. Nachw.; Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 40), Bd. 2 S. 503 ff.; ders., Protestantischer Aristotelismus (Anm. 25), S. 84 ff.; Link, Herrschaftsordnung (Anm. 38), S. 80 f. 46

Horn, Politicorum Pars Architectonica (Anm. 42), lib II cap I § XIX n 9 (S. 205).

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acquirendi maiestatis abgewertet.47 Wenn einer Körperschaft das Recht der Königswahl zusteht, ist dies nichts anderes als das Recht, die Person zu designieren, auf die die maiestas unmittelbar von Gott übergeht.48 Auch wenn man in der Unterscheidung von causa und modus acquirendi die Anerkennung der Trennung von Amt und Person des Herrschers sehen möchte,49 bedeutet diese Konstruktion die völlige sachliche Entwertung dieser Unterscheidung. Zwar ist das unmittelbare Wirken Gottes in der Welt hier zurückgenommen auf den metaphysischen Vorgang der Übertragung der Herrschaftsgewalt. Gleichwohl erhält auch die jeweilige Herrscherperson eine ganz unmittelbare göttliche Legitimation. Dass die Theorie Horns, obwohl sie mit ihrer rationalistischen Argumentation und ihrem auf die Spitze getriebenen Individualismus, sowie in den Einzelheiten des Souveränitätsbegriffs durchaus auch moderne Züge aufweist,50 bei Pufendorf als dem Vertreter einer naturrechtlichen Vertragstheorie auf heftige Kritik stieß, nimmt wenig Wunder. Schon der Vorstellung der natürlichen Entstehung der civitas begegnete er mit ätzender Kritik: Wenn man, wie Horn, jede menschliche Handlung bei der Gesellschaftsbildung ausblende, könne man ebenso gut die natürliche Entstehung von Schiffen behaupten, die ausgehend von Bäumen, die zu Planken werden, schließlich ein Schiff formen.51 Auch ein Mensch mit geringem Verstand könne – so ein weiterer Kritikpunkt Pufendorfs an Horn – den Unterschied zwischen Allen und Einzelnen, zwischen der Versammlung des Volkes und den in ihren Häusern verstreuten Individuen begreifen.52 Horn verkenne darüber hinaus, dass die maiestas nichts weiteres ist als die Kehrseite des Versprechens der Bürger, der Herrschergewalt keinen Widerstand entgegenzusetzen. Wenn Horn ferner die Möglichkeit der Übertragung der Herrschergewalt in einem pactum subiectionis deshalb leugne, weil die civitas selbst diese nicht besitze, übersehe er die Möglichkeit, die __________ 47

Horn, Politicorum Pars Architectonica (Anm. 42), lib II cap I §§ X ff. (S. 178 ff.).

48

S. dazu de Wall, Staatslehre Horns (Anm. 2), S. 80 f., 119 m. Nachw.

49

So wohl Dreitzel, Monarchiebegriffe (Anm. 40), Bd. 2, S. 504 f., 517, 519.

50 So gehört Horn zu den Systematisierern des Souveränitätsbegriffs und arbeitet die Einheit der Staatsgewalt deutlich heraus, dazu näher de Wall, Staatslehre Horns (Anm. 2), S. 157 ff., s. a. S. 37 ff., 225 f.; vgl. a. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 38), S. 85; Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), S. 723. 51 52

Pufendorf, De Jure Naturae (Anm. 43), lib. VII cap. I § 5 (Bd. 2, S. 117).

Pufendorf, De Jure Naturae (Anm. 43), lib. VII cap. V § 5 (Bd. 2, S. 186), hier freilich bezogen auf die Leugnung der Möglichkeit einer Demokratie als „richtige“ Staatsform, in unserem Zusammenhang aber ebenso verwendbar.

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civitas als causa productiva der maiestas zu begreifen. So könne auch ein Chor Harmonien erzeugen, die in den Einzelnen vorher nicht angelegt waren. Ähnlich hält Christian Thomasius Horn entgegen, dass die maiestas unmittelbar aus der Unterwerfung der Bürger entstehe, auch wenn Gott mittelbar deren Autor sei, indem er den Menschen gebiete, die societas civilis zu errichten.53 Horns Theorie fehlt für ein solches Modell in der Tat das theoretische Rüstzeug, das Pufendorf mit seiner Unterscheidung zwischen den physischen und moralischen Entitäten entwickelt. Danach kann menschlichen Handlungen durch eine intellektuelle Wertung eine über ihre körperliche Wirkung hinausgehende moralische Wirkung zuerkannt werden. So können die Unterwerfungserklärungen der Bürger als Quelle der Souveränität aufgefasst und kann entsprechend auch einer Mehrzahl von Individuen als persona moralis eine eigene Verbandspersönlichkeit zugeordnet werden. Die civitas wird nicht nur, wie bei Horn, als Objekt staatlicher Herrschaft, sondern als verselbständigtes Rechtssubjekt betrachtet.54 Schließlich wird so auch die Vorstellung ermöglicht, der Einzelne könne Teil der civitas und trotzdem deren Souveränität unterworfen sein: Die Herrschaft des Volkes über sich selbst und damit dessen Souveränität, die bei Horn wegen der physischen Trennung von Herrscher und Beherrschtem unmöglich ist, wird dadurch denkbar. Wenn Pufendorf Horn vorwirft, dieser zerstöre die Basis jeder Übereinkunft und jedes Fundamentalgesetzes über die Regierung der Staaten, wird aber auch deutlich, worum es jenseits dieser einzelnen Kritikpunkte in Horns Theorie einerseits, in Pufendorfs Vertragslehre andererseits eigentlich geht. Wie die anderen Theokraten erkannte Horn, dass jede Vertragstheorie einen Ansatzpunkt dazu bietet, dem Herrscher Pflichten aufzuerlegen, für deren Erfüllung er dem Volk oder den Individuen gegenüber verantwortlich ist. Auch die bloße Denkmöglichkeit, in einem Herrschaftsvertrag Rechte zurückzubehalten, musste aus der Perspektive Horns die Staatsgewalt schwächen, selbst wenn diese Möglichkeiten in der zeitgenössischen Staatslehre noch sehr schwach aus__________ 53 Christian Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae, ed. 7, Halle 1720, Reprint Aalen 1963, lib III cap VI § 71 f. (S. 568). Immerhin hebt Thomasius im Anschluss an Pufendorf gegen Hugo Grotius hervor, dass dies keineswegs nur eine expost Sanktion Gottes durch bloßes Geschehenlassen bedeutet und sieht sich insofern in einer Mittelposition zwischen Horn und Grotius. Dem schließt Thomasius eine Widerlegung des Arguments der Theokraten an, Römer 13,1 mit seiner Aussage „non est potestas, nisi a deo“ bedeute eine biblische Fundierung der unmittelbaren göttlichen Verleihung der maiestas. Thomasius weist darauf hin, dass dieser Satz nicht bedeute, die maiestas stamme ohne andere Ursachen nur von Gott, er bedeute nicht „potestas est non nisi a deo“. 54 S. dazu Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994, S. 233.

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geprägt waren.55 Er versucht demgegenüber jeden Ansatzpunkt für ein Widerstandsrecht möglichst zu vermeiden. In politischer Hinsicht stehen sich Horn und Pufendorf im übrigen nicht sonderlich fern. Beiden ging es um die Legitimation einer möglichst stabilen Monarchie.56 Man kann nun dieses Sozialmodell als Ideal der lutherischen Fürstenstaaten sehen und dadurch den Zusammenhang zwischen politischen Theorien und Konfession herstellen. Allerdings muss man dann anerkennen, dass dieser Zusammenhang keineswegs nur durch theokratische Theorien der Herrschaftsbegründung, sondern auch durch die Vertragslehre Pufendorfs und anderer hergestellt wird.

VI. Theokratische Theorien außerhalb des Luthertums Überdies kommt eine theokratische Herrschaftsbegründung auch nicht ausschließlich bei Lutheranern vor. Unter den Reformierten mit einer streng theokratischen Lehre ist als erstes Theodor (od. Dirck) Graswinckel (1601-1666) zu nennen, ein niederländischer Jurist.57 Er vertritt in seiner „dissertatio de jure majestatis“ (Den Haag 1642) ganz explizit theokratisches Gedankengut. Seine Argumentation ist dabei ausgesprochen biblizistisch, indem er das ganze Arsenal der aus Bibelstellen zu gewinnenden Argumente vorführt.58 Dabei tritt er zwar vehement der Auffassung entgegen, dass das Volk Quelle oder Inhaber der maiestas sein könnte. Diese werde vielmehr direkt von Gott auf einen Herrscher übertragen. Allerdings geschieht dies zum Wohl des Volkes, nicht des Herrschers, „non ab homine, sed a deo in bonum subditorum“.59 Die Verteidigung eines fürstlichen Despotismus ist mit dieser Rückbindung der

__________ 55

Kersting, Gesellschaftsvertrag (Anm. 54), S. 233 ff.

56

Pufendorf, De Jure Naturae (Anm. 43), lib. VII cap. VI § 3 (S. 213 f.).

57

S. z.B. Ulrich Huber, De Jure Civitatis libri tres, Ed. quarta, Frankfurt und Leipzig, 1708, lib I sect II cap I n 27 ff. (S. 36); sect VII cap IV n 11 ff. (S. 265 f.) und Schlözer, StatsRecht (Anm. 37), S. 86, Anm. 9: „eine lächerlich-scheußlichere Verteidigung des übertriebensten monarchischen Despotismus gibt es nicht.“ (vgl. dazu Henkel, Untersuchungen [Anm. 37], S. 59); ähnlich Robert v. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (3 Bände), Erlangen 1855-58, I, S. 234; „Graswinckelisch“ zu argumentieren bedeutet bei Schlözer, Statsrecht (Anm. 37), S. 88, ein Verdikt; vgl. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 38), S. 153. Zu Graswinckel s. Zedler, UniversalLexicon (Anm. 9), 11, S. 324; Georg Jellinek, Adam in der Staatslehre, Heidelberg 1893, S. 11. 58

Theodor Graswinckel, De Jure Maiestatis, Hagae Comitis 1642, cap I (S. 1 ff.).

59

Graswinckel, De Jure Maiestatis (Anm. 58), cap II (S. 11 ff.); s. a. cap VII.

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maiestas an das Gemeinwohl sicher nicht beabsichtigt. Allerdings bleibt es hier bei einem unverbindlichen, moralischen Appell.60 Dagegen gehört Johann Christoph Beckmann (1641-1717), der sich, wie bereits eingangs erwähnt, gegen den Vorwurf Masius’ zu wehren veranlasst sieht, die Reformierten seien in dieser Frage unzuverlässig, nur sehr bedingt hierher. Beckmann entwickelt eine recht eigentümliche Lehre,61 in der er zwar betont, dass Gott nicht nur als prima und universa causa der Schöpfung auch Autor der maiestas ist, sondern darüber hinaus deren Umfang im einzelnen festlegt. Andererseits folgert er aber die Souveränität der Staatsgewalt auch aus der sibi-sufficientia der staatlichen Gemeinschaft. Die maiestas kommt dieser selbst als persona moralis zu, die aber vollständig durch einen Monarchen (oder auch ein Gremium) repräsentiert wird (hier nimmt Beckmann die von Grotius entwickelte Unterscheidung von subiectum commune und subiectum proprium der Souveränität auf). In dieser Eigenschaft als Repräsentant der respublica ist der Monarch vicarius dei in terris.62 Die Lehre Beckmanns, der überdies von der vertragsmäßigen Entstehung der menschlichen Gemeinschaften ausgeht, ist in der Tat mit den konsequent theokratischen Auffassungen nicht in Einklang zu bringen. Insoweit ist Masius’ Gegnerschaft konsequent. Auch unter den römisch-katholischen Staatslehrern gab es ausgesprochene Theokraten.63 Dabei mag man bei Wilhelm von Schröder (1640-1688) noch hervorheben, dass er ein Konvertit war.64 Er hält der Lehre von der vertragsmäßigen Entstehung (und Einschränkbarkeit) der monarchischen Gewalt den Hinweis auf die verbindliche Festlegung monarchischer Rechte in 1. Sam. 8,11 ff. entgegen.65 „Dieweil nun alle christlichen Fürsten und Potentaten den __________ 60

Graswinckel, De Jure Maiestatis (Anm. 58), cap VI (S. 34); vgl. Henkel, Untersuchungen (Anm. 37), S. 94. 61 S. dazu auch Grunert, Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus (Anm. 3), S. 65 f.; zu Beckmann ferner Dreitzel, in: Ueberweg 4/2 (Anm. 8), S. 845 f. 62 Johann Christoph Beckmann, Politica Parallela, XII, 4, s. a. ders., Meditationes Politicae, ed. 3, Frankfurt/O. 1679, cap. XII § 4 (S. 168). 63 S. dazu auch Dreitzel, in: Uberweg 4/1 (Anm. 8), S. 677 ff.; 723 ff.; de Wall, Staatslehre Johann Friedrich Horns (Anm. 2), S. 114 f. 64

Definitiv keine Konvertiten, aber ebenfalls zu den Theokraten zu zählen sind – zwei Generationen vorher – der Jesuit Adam Tanner (1572-1632) und Adam Contzen (1573-1635), Beichtvater des bayerischen Kurfürsten Maximilians I., dessen Aussagen freilich ausgesprochen unklar sind. 65 Zu 1. Sam. 8,11 ff. in der Staatslehre s. Annette Weber-Möckl, „Das Recht des Königs, der über Euch herrschen soll“ (Historische Studien, 27), Berlin 1986, inbes. S. 115 ff.

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ursprung ihres standes und regierung, als eine regierungs-art von Gott immediate herrührend, von dieser ersten institution und installation des Königs Saul her derivieren, so kan ja nicht gesagt werden, daß dieselbige der Status Principum oder die Monarchia ein gewisser vergleich sey, welcher von den Fürsten und dem volck anfänglich getroffen worden“ (1686).66 Die Bindungen der Monarchien in Fundamentalgesetzen, Wahlkapitulationen etc., wie sie ja zu seiner Zeit üblich waren, beruhen für Schröder auf Konzessionen, die die Fürsten in Notlagen zu machen gezwungen waren. Soweit sie die Fürstenrechte einschränken, binden sie den Monarchen rechtlich nicht, weil deren Umfang eben in der Bibel festgelegt sei. Allerdings bedeutet dies keinen Freibrief für Tyrannei, ist doch der Monarch „Glied am Leibe Christi und sein Herr im Himmel“ und unterliegt daher der Gewissensbindung zur Regierung nach christlichen Grundsätzen.67 Hier geht es weniger um eine Herleitung und Legitimation der Staatsgewalt als eine Minimierung der juristischen Wirkkraft von Abmachungen über ihre Beschränkung. Dagegen stellt Frank Albrecht Peltzhoffer (1643-1710)68 in seiner „neu entdeckte(n) Staatsklugheit“ (1710) unmissverständlich fest: „Und obwohlen es unterlaufen zuweilen mittelbare Ursachen, als durch Erb- oder wahlmässige Folge; Jedoch Gott allein ist die unmittelbare Ursach, die den Ober-Herrschaftlichen Gewalt einem jeden Regenten ertheilet,…“.69 Neben Röm. 13 gibt Peltzhoffer Beispiele aus der Sagenwelt und überhöht die Monarchie als die der himmlischen Regierung nächste Staatsform.70 Freilich mutet diese Redensammlung zum Teil wie ein Märchenbuch an.

__________ 66 Wilhelm von Schröder, Disquisitio Politica vom absoluten Fürstenrecht, in: ders., Fürstliche Schatz und Rentkammer (1686), 4. Aufl., Leipzig 1713. Hier benutzte Ausgabe Leipzig 1744, § IV (S. 373). Zur Lehre Schröders Dreitzel, in: Ueberweg 4/1 (Anm. 8), 725 f., ders., Ständestaat (Nachw. Ueberweg 4/1 [Anm. 8], S. 748/823); ders., Monarchiebegriffe (Anm. 40), Bd. 2, S. 501 ff.; ders., Protestantischer Aristotelismus (Anm. 25), S. 83 f. 67

Schröder, Deutsche Juristen (Anm. 11), §§ V ff. (S. 374 ff.).

68

Peltzhoffer entstammt einer freiherrlichen Familie im Herzogtum Krain und wurde zunächst Jesuit, heiratete dann aber später (Zedler [Anm. 9]). Neben dem genannten Werk verfasste er noch „Arcanorum status libri decem“, s. Stolleis, Geschichte (Anm. 9), S. 202. 69

Franz Albrecht Peltzhoffer, Neu entdeckte Staatsklugheit, Frankfurt und Leipzig 1710, 8. Rede, N 3 S. 42. 70

Peltzhoffer, Staatsklugheit (Anm. 69), 9. Rede, S. 51.

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C. Der Zusammenhang zwischen theokratischer Herrschaftsbegründung und Luthertum Versuchen wir zusammenzufassen, was dieser Befund für die Ausgangsfrage nach dem Zusammenhang zwischen der lutherischen Konfession und der theokratischen Theorie der Herrschaftsbegründung bedeutet. 1. Die theokratische Herrschaftsbegründung in dem Sinne, dass die Staatsgewalt unmittelbar von Gott, ohne Zwischentreten der Civitas übertragen wird, dient der Legitimation und Stabilisierung monarchischer Herrschaft, indem die Unabhängigkeit der Staatsentstehung von jeglicher menschlichen Einwirkung behauptet wird. Sie richtet sich damit gegen monarchomachische Tendenzen, aber auch gegen naturrechtliche Vertragstheorien. Soweit monarchomachische Lehren als spezifisch reformiert gelten können, sind solche theokratischen Herrschaftsbegründungen gegen eine typisch reformierte Lehre gerichtet. 2. Konsequent theokratische Herrschaftsbegründungen sind zwar nicht exklusiv lutherisch. Auch vereinzelte Reformierte und Katholiken argumentieren in dieser Weise. Man kann aber durchaus konstatieren, dass die Mehrzahl der Theokraten Lutheraner gewesen sind und dass eine gewisse Verbindung zwischen lutherischer Orthodoxie und theokratischen Lehren unverkennbar ist. Dabei haben sich auch einige lutherische Theologen besonders hervorgetan. 3. Freilich stammen auch die schärfsten Gegner theokratischer Herrschaftsbegründungen, namentlich Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius, aus dem Luthertum. Insofern ist der eingangs zitierte Satz Masius’, dass keine Religion so ehrenhaft über den Staat urteile wie die Lutherische, zu modifizieren: Aus seiner Sicht müsste man sagen, dass unter denjenigen, die die seiner Auffassung nach richtige Lehre von der Herrschaftsbegründung vertreten, besonders viele Lutheraner waren. Keineswegs aber führt das Luthertum unbedingt zu einer theokratischen Auffassung. Der Zusammenhang von Konfession und Herrschaftsbegründung ist insofern deutlich zu relativieren.

Wirkungen des konfessionellen Denkens auf das juristische Werk Samuel von Pufendorfs Von Detlef Döring, Leipzig

In Emanuel Hirschs immer noch sehr lesenswerten „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ findet sich folgende Aussage: „Das Natur- und Völkerrecht Pufendorfs ist ... das erste Beispiel einer streng rational aufgebauten Universitätswissenschaft ohne jeden christlichen oder theologischen Bezug.“1 Niemand wird bestreiten können, daß es in Pufendorfs Intention stand, ein auf der Natur des Menschen gegründetes, über die Grenzen der Religionen und der Konfession hinaus als verbindlich geltendes Rechtssystem zu entwickeln. Das Ergebnis bildet bekanntlich die Säkularisierung des Naturrechts, an der Pufendorf zwar keinen alleinigen, aber doch einen wesentlichen __________ Samuel von Pufendorfs Schriften werden, wenn nicht anders angegeben, nach folgenden Ausgaben zitiert (in Klammern die im Text gebrauchten Abkürzungen): Samuel Pufendorf, Gesammelte Werke, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Berlin 1996 ff. Band 1: Briefwechsel, hg. von Detlef Döring, Berlin 1996 (Pufendorf, Briefwechsel). Band 2: De officio, hg. von Gerald Hartung, Berlin 1997 (Pufendorf, De officio). Band 4, 1 u 2: De jure naturae et gentium, hg. von Frank Böhling, Berlin 1998 (Pufendorf, De jure naturae). Band 5: Eris Scandica und andere polemische Schriften über das Naturrecht, hg. von Fiammetta Palladini, Berlin 2002 (Pufendorf, Eris Scandica). Band 9: Jus feciale divinum, hg. von Detlef Döring, Berlin 2004 (Pufendorf, Jus feciale). Samuel Pufendorf, De concordia verae politicae cum religionae christiana, in: Samuel Pufendorf, Dissertationes academicae selectiores. Frankfurt/M. und Leipzig 1679, S. 465-497 (Pufendorf, Dissertationes). 1 Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 1, Gütersloh 31964, S. 83.

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Anteil genommen hat. Daß sein System gleichwohl ohne Gott und ohne Religion nicht denkbar ist, läßt sich in der Beschäftigung mit seinem Oeuvre bald erkennen: Die erste Pflicht des Menschen besteht bei Pufendorf im Glauben an Gott als Schöpfer der Welt, woraus sich die Notwendigkeit seiner Verehrung ergibt. Weiterhin ist die Einhaltung der Gebote des Naturrechts nur im Blick auf das Strafgericht Gottes gewährleistet, und schließlich beruht die Existenz des Naturrechtes bei Pufendorf letzten Endes auf einem Befehl Gottes.2 Wir finden aber noch weitere religiöse Einflüsse, die Pufendorfs Denken verschiedentlich prägten. In mehreren meiner eigenen Untersuchungen ist die These unterbreitet worden, daß Pufendorf in seinen letzten Lebensjahren stark chiliastisch geprägte Vorstellungen entwickelte, wonach durch Gottes Eingreifen eine neue „cultura christianae pietatis“ heraufkommen werde, deren Träger wiedergeborene Christen sind, für die das vernunftbegründete Naturrecht keine Bedeutung mehr besitzt;3 ich werde nochmals darauf zurückkommen. Man kann und muß auch untersuchen, inwieweit Pufendorfs Verständnis des Naturrechts von seiner Konfession, also vom Luthertum her beeinflußt worden ist; hier spielen insbesondere die anthropologischen Voraussetzungen eine große Rolle. Ich möchte in meinem heutigen Vortrag einen anderen Aspekt in die Diskussion einbringen – den Einfluß der konfessionellen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts auf Pufendorfs Naturrechtslehre. Heinrich von Treitschke hat in seinem bekannten, schwungvoll geschriebenen, aber von Ungenauigkeiten und Fehlern strotzenden Essay über Pufendorf4 die Auffassung vertreten, jener sei mit allen Wissenschaften vertraut gewesen, nur nicht mit der Theologie und der Medizin.5 Nichts ist irriger als diese These. Pufendorf war einer der großen Laientheologen jener Zeit; er steht so an der __________ 2

Der Mensch ist auf Grund seiner Schwäche zur Socialitas bestimmt: „Cum autem non aliter, quam observata lege naturali, id obtineatur; intelligitur quoque a Creatore obligatum hominem ad isthanc servandam, tanquam medium non ex arbitrio hominum inventum, ac ex eorum libidine mutabile, sed expresse ab ipso Creatore huic fini procurando constitutum. Qui enim alicui pro imperio injugit finem, censetur quoque eundem obligasse ad usurpanda illa media, sine quibus finis non potest obtineri.“ (Pufendorf, De jure naturae, II, 3, 20, S. 155). 3

Vgl. zuletzt Pufendorf, Jus feciale divinum, Einleitung, S VII-LXXVIII.

4

Heinrich von Treitschke, Samuel Pufendorf, in: ders., Aufsätze, Reden und Briefe, hg. von Karl Martin Schiller, Meersburg 1929, S. 315-399, hier S. 323. 5 Daß selbst letzteres nicht stimmt, zeigt ein Blick in den überlieferten Katalog der pufendorfschen Bibliothek, die von nur wenigen Disziplinen mehr Bücher aufwies als für die Medizin. Vgl. Fiammetta Palladini (Hg.), La Biblioteca di Samuel Pufendorf. Catalogo dell’asta di Berlin del settembre 1697 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 31), Wiesbaden 1999.

Wirkungen konfessionellen Denkens auf Pufendorf

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Seite von Persönlichkeiten wie Gottfried Wilhelm Leibniz oder Veit Ludwig von Seckendorf. In deren Überlegungen stellte das Verhältnis der Konfessionen zueinander ein ganz wesentliches Moment dar. Das Nebeneinander und Gegeneinander der Konfessionen, aber auch der zahlreichen Sekten und religiösen Sonderrichtungen hat auch Pufendorf von seiner Jugend an beschäftigt; in den verschiedenen Stadien seiner Biographie ist er immer wieder mit konfessionellen Fragen konfrontiert worden. In seiner Kindheit erlebte er die Drangsale des Dreißigjährigen Krieges, der bekanntlich zumindest auch ein Konfessionskrieg gewesen ist.6 Durch sein Studium in Leipzig lernte er eine der führenden lutherisch orthodoxen Theologischen Fakultäten kennen, die sich übrigens während der Studienjahre Pufendorfs sehr im Kampf gegen den sogenannten Synkretismus der Helmstedter Theologischen Fakultät engagierte, also in der Ablehnung aller Versuche konfessioneller Annäherungen. In Holland stieß er auf ein Gemeinwesen, in dem zwar der Calvinismus dominierte, in dem aber auch fast alle anderen religiösen Gruppierungen mehr oder minder toleriert wurden. Gleiches läßt sich von der Kurpfalz unter Karl Ludwig sagen, wo er sieben Jahre als Professor in Heidelberg wirkte. Karl Ludwig war es auch, der immer wieder Anlauf nahm, die Konfessionsspaltungen aufzuheben. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hat sich Pufendorf mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Schweden, wo Pufendorf immerhin zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte, galt unter den Zeitgenossen als das protestantische Spanien des Nordens, also als Staat striktester lutherischer Ausprägung; weder Katholiken noch Reformierte wurden hier geduldet. Brandenburg-Preußen schließlich, wo Pufendorf seine letzten Jahre verbrachte, war ein Staat, in dem das Herrscherhaus seit Beginn des 17. Jahrhunderts reformiert war, die Untertanen aber weitestgehend an ihrem lutherischen Bekenntnis festhielten. Beide Religionsparteien existierten hier in einem durchaus nicht spannungsfreien Verhältnis zueinander. Pufendorf selbst stand sein ganzes Leben über immer in engen Kontakten zu Geistlichen, er hat zeitweilig selbst Predigten gehalten, er ist hin und wieder als Gutachter in theologischen Sachfragen in Erscheinung getreten, er gehörte in Schweden pietistisch gefärbten religiösen Konventikeln an, und am Ende seines Lebens hat er sogar versucht, ein neues theologisches System zu entwerfen, festgehalten in dem postum erschienenen fragmentarischen Werk „Jus feciale“, das in Anlehnung an die reformierte Föderaltheologie ein höchst eigenwilliges „Systema novum theologicum“ entwickelt.7

__________ 6 Vgl. verschiedene Aufsätze zu diesem Thema in: Franz Brendle/Anton Schindling (Hg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, Münster 2006.

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Beachten wir weiterhin, daß die Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg in ihrem Charakter noch weiterhin durch die bestehenden scharfen konfessionellen Gegensätze bestimmt wurden, sollte es in der Summe der hier nur angedeuteten Beobachtungen als fraglich erscheinen, ob Pufendorf tatsächlich, wie James Tully zu Beginn der neunziger Jahre behauptet hat, eine „new morality“ suchte, die in einer Unabhängigkeit von den konfessionellen Gegensätzen in der Lage wäre, die Zustimmung aller Europäer zu gewinnen und so den Frieden zu sichern bei gleichzeitiger Zulassung des Praktizierens der rivalisierenden Glaubensrichtungen.8 Wir wollen diese These im folgenden überprüfen. Pufendorf verstand sich selbst, bei allen noch so heftigen Streitigkeiten mit den Theologen seiner Kirche, als Lutheraner durch und durch. Nicht seine Gegner, meint er, sondern er selbst stünde in der Tradition Luthers. Zuerst und vor allem erfordert der strikte Konfessionalismus Pufendorfs die eindeutige Grenzziehungen zu den anderen religiösen Bekenntnissen, zum Katholizismus sowieso, aber auch zum Calvinismus. Die Widerlegung und Bekämpfung der „falschen Lehren“ dieser Kirchen beschäftigen ihn in allen Phasen seiner Biographie. In seinen theologischen und kirchenrechtlichen Schriften, in unterschiedlichem Maße aber auch in seinen historischen Arbeiten stoßen wir immer wieder auf Kritik an den anderen Konfessionen.9 Es stellt sich die Frage, ob sich diese Kritik auf die religiösen und kirchlichen Aspekte beschränkte oder ob sie sich auch auf die Konstruktion seines naturrechtlichen Systems erstreckte.

__________ 7 Das Werk hat freilich auch einen politischen Hintergrund. Der Zusammenschluß der Protestanten soll den Widerstand gegen Frankreich stärken. Letztendlich überwiegen jedoch die theologischen Interessen Pufendorfs, vgl. Pufendorf, Jus feciale, Einleitung, S. XXXI. Pufendorf ist, wie bereits erwähnt, mit seinen Bestrebungen zur Gruppierung der Laientheologen zu rechnen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht ohne einige Bedeutung war. Wir finden sie in der Hauptsache im protestantischen Raum, man trifft auf sie jedoch auch bei den Katholiken. Ihren Hintergrund bildete die Kritik an der bestehenden Kirche, vor allem aber an den Theologen, denen Herrsch- und Streitsucht sowie die Verdunkelung der reinen Lehre vorgeworfen wird. 8 Samuel Pufendorf, On the Duty of Man and Citizen According to Natural Law, hg. von James Tully, übers. von Michael Silverthorne, Cambridge 1991, S. XVIII. 9 Daß Atheisten jedem Staatswesen aufs äußerste gefährlich sind, betont Pufendorf in seinen naturrechtlichen Schriften immer wieder; sie sind daher aufs strengste zu verfolgen.

Wirkungen konfessionellen Denkens auf Pufendorf

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Für Pufendorf ist die Religion das wichtigste Band, das den Staat zusammenschließt; ohne Religion ist er eigentlich nicht lebensfähig, denn erst die Ehrfurcht vor dem göttlichen Wesen (metus divini Numinis) motiviert den Menschen letztendlich zur Befolgung der Gesetze.10 Der Verehrung Gottes kommt also zentrale Bedeutung bei der Sicherung eines funktionierenden Staatswesens zu. Es ist daher von äußerster Wichtigkeit, daß die menschliche Seele (animus) mit dem Verlangen angefüllt wird, das höchste Wesen zu verehren.11 Daraus resultiert nicht nur die Pflicht, Atheisten als Staatsfeinde auf das äußerste zu verfolgen, sondern auch die Notwendigkeit, alle Lehren zu bekämpfen, die der rechten Verehrung Gottes entgegenstehen. Es gäbe, so weiterhin Pufendorf, „Sekten“ der christlichen Kirche, die von der Reinheit der ursprünglichen Kirche abgekommen sind und Dogmen vertreten, die als staatsfeindlich zu bezeichnen sind, die den Staatskörper zersetzen und schließlich ruinieren.12 Eines der wesentlichsten Kennzeichen des rechten Charakters eines Staates bildet nun für Pufendorf die uneingeschränkte, ungeteilte, ungehinderte Souveränität der ihn beherrschenden Gewalten,13 allein auf diesem Wege kann die im Naturzustand nicht zu garantierende Sicherheit des Menschengeschlechtes tatsächlich gewährleistet werden.14 Daraus ergibt sich __________ 10 „Nam in libertate naturali, si metum divini Numinis removeas, ubi quis propriis viribus fisus fuerit, quaelibet imbecillioribus pro libitu inferet, ac honestatem, pudorem, fidem inter inania vocabula reputabit, nec ad recte faciendum aliter, quam sensu propriae imbecillitatis adigetur.“ (Pufendorf, De officio, I, 4, 9, S. 26). 11 „Uti ergo isthaec persuasio, & quae praeterea super cultu Numinis recta ratio, aut singularis revelatio tradit, animo rite excolendo ante omnia est implantanda: ita quae huic repugnant opiniones solicite excludendae.“ (Pufendorf, De jure naturae, II, 4, 4, S. 165). 12 Es gäbe Sekten, „qui a primaeva Religionis puritate degeneraverunt“ und Dogmen vertreten, die der wahren Politik (vera politica) widersprechen. Weiter heißt es: „Ex scitis verae politicae constat, omnia illa, quae unionem, qua civitas connectitur, dissolvunt, existiabilem morbum in Republica producere, ac ad convulsionem & ruinam civitatis gradum struere.“ (Pufendorf, Dissertationes, § 11, S. 487). Letztere Feststellung zielt auf die Gefahren, die von einer unabhängig von der weltlichen Gewalt existierenden geistlichen Macht ausgehen, gilt aber auch für die Irrlehren der Sekten. 13 „Inter affectiones imperii primo loco occurit, quod idem sit, et dicatur summum. Cujus denominationis potissima causa haec videtur, quia major quam isthaec potestas homini in hominem nequit competere, quam ut hic ad istius arbitrium vires opesque suas adplicare ad bonum publicum teneatur, ac juri vitae, et necis obnoxius sit.“ (Pufendorf, De jure naturae, VII, 6, 1, S. 696). Vgl. auch Pufendorf, De officio, II, 9, 1, S. 76. 14 „Quemadmodum summum imperium civile ad incolumitatem generis humani, et ad tollendas infinitas status naturalis miserias institutum est; ita illud sacrosanctum et inviolabile ab omnibus haberi generis humani quam maxime interest. Atque illud

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die Forderung der völligen Entpolitisierung von Religion und Kirche. Jeder Versuch der Geistlichen, sich in die Politik zu mengen, kann nur zur Schwächung und letztendlich zum Ruin des Staates führen. Der Staat würde so zwei Köpfe erhalten, wobei die „potestas sacra“ in der Versuchung steht, die bürgerliche Gewalt sich unterzuordnen.15 Hier sieht Pufendorf Lehren am Wirken, die besagen, es könne im Staat eine von der weltlichen Obrigkeit unabhängige Macht geben, die die Gewissen der Untertanen unter Androhung ewiger Strafen beherrscht und ihnen daher Anweisungen geben kann, die den Befehlen der weltlichen Macht zuwiderlaufen. Bei einer solchen Konstellation droht die Entstehung eines irregulären, eines zweiköpfigen Gemeinwesens.16 Pufendorf polemisiert hier nicht abstrakt, sondern vor einem konkreten historischen Hintergrund. Wir begegnen an diesem Punkt einem besonderen Lebensthema Pufendorfs, dem unermüdlichen Kampf gegen die katholische Kirche und speziell gegen das Papsttum.17 Er ist in sämtlichen seiner Schriften zu greifen, wenn auch in unterschiedlichem Grade und unterschiedlicher Sichtbarkeit, am stärksten wohl in der Schrift „Von der Geistlichen Monarchie des Stuhls zu Rom“. Hauptfeind eines friedlichen Zustandes Europas ist für Pufendorf die katholische Kirche, speziell der Papst in Rom. Von diesem Gesichtspunkt her gesehen, ist für Pufendorf ein Ausklammern der konfessionellen Differenzen bei seinem Entwurf des Naturrechtes schlechthin undenkbar. Deren Existenz ist sozusagen allgegenwärtig. Schlimmer ist sicher noch der Atheismus, den Pufendorf jedoch für wenig einflußreich hält und __________ quidem a nemine cordato in dubium revocatur, quin nefas sit, imperantibus, quamdiu intra potestatis suae limites versantur, resistere.“ (Pufendorf, De jure naturae, VII, 8, 1, S. 726 f.). 15

„Hoc enim modo civitatem fieri bicipitem, imo imperium civile potestati alteri subjici, & ab illa velut precario dependere manifestum est.“ Dabei besitzt die geistliche Gewalt eine größere Macht, da sie über die Seelen der Bürger gebietet: „Cum aeque imo efficacius imperet, qui est Dominus animarum, quam qui est Dominus corporum; & qui jussis suis vim per comminationem poenae aeternae addit, quam qui temporalem duntaxat poenam repraesentat.“ (Pufendorf, Dissertationes, § 11, S. 488). 16 „Si enim aliquis imperet facere sub poena mortis naturalis, alius persuadeat civibus, ipsos eo facto poenam mortis aeternae incursuros, uterque suo jure, seorsim & independenter sibi competente; sequitur, non tantum cives etsi innocentes, puniri jure posse, sed & in irregularem ac biciptem statum dissolvetur civitas.“ (Pufendorf, De jure naturae, VII, 4, 11, S. 672). 17 Schon in seinen frühsten uns überlieferten Texten, Vorträge aus seiner Leipziger Studienzeit, tritt uns die schärfste Verurteilung des Katholizismus entgegen. Vgl. Samuel von Pufendorf, Kleine Vorträge und Schriften. Texte zu Geschichte, Pädagogik, Philosophie, Kirche und Völkerrecht, hg. von Detlef Döring, Frankfurt/M. 1995, S. 2178.

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daher kurz abtut. Die katholische Kirche dagegen ist eine ganz andere Macht. Bei Lichte besehen ist ihm der Katholizismus eine antichristliche und satanische Erscheinung. Religionsgespräche mit Katholiken, wie sie z. B. Leibniz immer wieder versucht, werden von Pufendorf entschieden und vehement abgelehnt. Die Verbreitung des Katholizismus in protestantischen Staaten gefährdet deren Sicherheit, und Pufendorf scheut nicht davor zurück, sich an der Verfolgung solcher missionarischen Tendenzen aktiv zu beteiligen.18 Dabei geht es aber nicht allein um den Katholizismus als politische Größe, vielmehr steht auch der Inhalt der katholischen Glaubensartikel im Gegensatz zur wahren Verehrung Gottes und damit im Gegensatz zur Einhaltung des Naturrechts, das jene Verehrung voraussetzt. In „De jure naturae et gentium“ werden diejenigen Meinungen aufgezählt, die der wahren Religion, den guten Sitten und der menschlichen Gesellschaft überhaupt gefährlich sind; deren Ausrottung ist im höchsten Interesse des menschlichen Geschlechtes.19 Es fällt nicht schwer, die meisten dieser falschen „Opiniones“ der katholischen Kirche zuzuordnen. Zu den nicht zu duldenden Auffassungen zählen u.a.: 1. Der Mensch könne sich von seinen Sünden loskaufen, ohne sein Leben verbessern zu müssen (gegen die Beichte). 2. Gott habe Gefallen an Einrichtungen wie dem Mönchswesen, die der Vernunft und den Interessen des Staates entgegenstehen. 3. Ein Mensch könne so viele gute Werke verrichten, daß der Überschuß der damit erworbenen Verdienste anderen zugute kommen kann (gegen die Heiligenverehrung). 4. Wegen der Verdienste Christi seien die Menschen nicht verpflichtet, ein rechtschaffenes Leben zu führen, da ihnen diese Verdienste angerechnet werden (gegen die katholische Messe). 5. Gott besäße Gefallen an Gebeten, durch die anderen Menschen Schaden zugefügt wird und insbesondere ungerechte Kriege erfolgreich geführt werden können (gegen die seitens der Katholiken geführten Religionskriege). 6. Der Mensch dürfe sündigen, wenn er nur den Kultus genau ausübt und auf dem Sterbebett „pia causa“ hinterläßt. 7. Es sei gestattet, die eigene Religion mit Feuer und Schwert zu verbreiten, wie man auch nicht verpflichtet sei, Andersgläubigen

__________ 18

Ein Beispiel bildet das Vorgehen gegen den Königsberger Theologieprofessor Johann Philipp Pfeiffer, dem katholisierende Tendenzen vorgeworfen werden, wie er auch später tatsächlich zum Katholizismus übergetreten ist. Vgl. Detlef Döring, Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller (Historische Forschungen, 49), Berlin 1992, S. 122-129. 19

Pufendorf, De jure naturae, II, 4, 4, S. 165-167.

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gegenüber das Wort zu halten, sondern sie wie Rebellen behandeln darf.20 Die Schlußfolgerung lautet dann: „Hae igitur et similes opiniones plane sunt eradicandae, quippe quae officium hominis erga Deum destruunt, ac firmum studium mores ad sanam rationem componendi intercipiunt.“ Die katholische Kirche, das wird hier nicht expressis verbis gesagt, aber natürlich gedacht, ist daher dem Gemeinwesen gefährlich; sie müßte eigentlich verboten werden, nur stehen dem, wie Pufendorf an anderen Stellen konstatiert, verschiedene Hindernisse entgegen, vor allem bestehende Verträge und Gründe der Staatsräson. Ein politisches Handeln, das der Sicherung der Aufgaben des Staates dient, ist also ohne die wahre, d. h. nicht durch falsche Lehren korrumpierte Religion nicht möglich. Die „solida religio“ steht gegen die „religio superficaria“, wie sie der Katholizismus verkörpert. Eine wahre Politik kann sich nur auf ein unverfälschtes Christentum stützen. Kirche und Staat sind dann keine getrennten Einrichtungen, sondern dienen dem gleichen Ziel. Ist so die in der Literatur immer wieder behauptete völlige Trennung zwischen Religion und Ethik bei Pufendorf als unzulässige Modernisierung seiner Gedankenwelt zu bestreiten, so ist doch in diesem Zusammenhang einer neueren bzw. reaktivierten Tendenz21 entgegenzutreten, die Pufendorf ganz und gar in die Vergangenheit rückt, indem er zum Verfechter und Vertreter des lutherischen Staatsgedankens deklariert wird. Luthers Staatsauffassung wird hier in die Tradition eines vor allem in Deutschland beheimateten obrigkeitsstaatlichen Denkens eingeordnet, das den Staat als von Gott angeordnete autoritäre Zwangsanstalt definiert. Auch für Pufendorf sei der Staat ein Instrument der Repression, seine Legitimation bestehe zuerst in seiner Aufgabe, die Boshaftigkeit der Menschen in Schach zu halten. Pufendorf befinde sich hier noch weit entfernt vom Optimismus der Aufklärung, die den Staat als Element des Fortschritts von Vernunft und Kultur betrachtet, und sei ganz der von Luther gepredigten pessimistischen Beurteilung des Menschen als ein von der Erbsünde verdorbenes Geschöpf verpflichtet. Wie Luther sei Pufendorf auch ein Verteidiger absolutistischer, jeden Widerstand verdammenden Staatsvorstellungen gewesen. Letztendlich habe er unter der Maske des Naturrechtes nichts anderes vertreten als die überkommenen politischen Ideen des Luthertums, allerdings radikalisiert durch den Gebrauch von „termes du __________ 20 Eine Aufstellung der Gebräuche des Katholizismus, die der Einhaltung der Vorschriften des Naturrechtes entgegenstehen, gibt auch Pufendorf, Dissertationes, § 15, S. 493 f. 21 Vgl. schon Leonard Krieger, The politics of discreation. Pufendorf and the acceptance of natural law, Chicago/London 1965. Vgl. zu Kriegers Positionen Döring, Pufendorf-Studien (Anm. 18), S. 26-29.

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rationalisme“.22 Ich will mich hier nicht über die Stichhaltigkeit der Darstellung der Staatsauffassung Luthers und des Luthertums äußern oder über den „Obrigkeitsstaat“ Reflexionen anstellen. Da man sich in den eben zitierten Texten u.a. auf meine Untersuchungen zu Pufendorf beruft, möchte ich allerdings zur These, Pufendorf sei ein modern maskierter Vertreter des lutherischen politischen Denkens gewesen, Position beziehen. Man wird Pufendorf gewiß nicht gerecht, wenn er zum Aufklärer par excellence erklärt wird, und man wird ihm aber ebensowenig gerecht, wenn er uns als Mann der Vergangenheit gezeigt wird, der bestenfalls alten Wein in neuen Schläuchen verkauft. Sicher kann man aus Pufendorfs naturrechtlichen Schriften Zitate klauben, die scheinbar seine Verhaftung an Denkmodellen der Vergangenheit belegen, entscheidender doch sind die Intentionen seines Systems in ihrer Gesamtheit und diese sprechen eben keine immer eindeutige Sprache. In mancher Hinsicht steht er Luther und dem Luthertum nahe, die freilich wiederum keine erratischen Blöcke darstellen und mit einigen wenigen Definitionen erfaßt werden können, sondern einen durchaus oszillierenden Charakter besitzen. Sicher ist sein Menschenbild pessimistischer geprägt als etwa das seines vernunftorientierten Landsmannes Leibniz, andererseits ist er davon überzeugt, daß auf Erden eine Verbesserung des menschlichen Lebens erfolgen kann. Die „entia moralia“, das ist der Bereich der Menschen, sind nämlich auf eine „perfectio vitae humanae“ ausgerichtet.23 Dem Staat kommt auf diesem Wege eine Schlüsselstellung zu; seine Rolle beschreibt Pufendorf folgendermaßen: „Hier ist das Reich von Vernunft, Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Schönheit, Geselligkeit, Geschmack, Bildung und Wohlwollen.“24 Das menschliche Leben wird durch den Staat „ad maximum cultum, humanitatem et opulentiam provecta.“25 Zentrale Bedeutung besitzt der Begriff der Cultura __________ 22

Vgl. Alfred Dufour, La pensée politique de Pufendorf et la permanence de l’idée luthérienne de l’Etat, in: Dal „De jure naturae et gentium“ di Samuel Pufendorf alla codificazione prussiana del 1794, hg. von Marta Ferronato, Mailand 2005, S. 7-39. 23

Pufendorf, De jure naturae, I, 1, 3, S. 14.

24 Pufendorf, De officio, II, 1, 9, S. 62. Dort heißt es weiter: Vor der Gründung der Staaten entbehrte der Mensch „alle Annehmlichkeiten und Hilfsmittel, durch die menschliche Geschicklichkeit das Leben bequem und leicht macht.“ In der Streitschrift „Specimen controversiarum“ setzt Pufendorf den Status naturalis in einen Gegensatz zum Status der Kultur (cultura), „quae vitae humanae ex auxilio, industria, et inventis aliorum hominum propria meditatione et ope, aut divino monitu accessit.“ (Pufendorf, Eris Scandica, S. 134). 25

Samuel Pufendorf (Praes.), Dissertatio de civitate, Lund 1676, These XIV. Ausdrücklich wird dort betont, daß der Staat nicht nur eine bewahrende Funktion ausübt, indem er die Bosheit (malitia) des menschlichen Geschlechts bekämpft, sondern in der eben angedeuteten Weise kulturfördernd wirkt.

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animi bzw. Cultura vitae, deren Ausbildung in Pufendorfs späteren Schriften wachsende Bedeutung findet.26 In seinen letzten Lebensjahren tritt neben oder besser über die Cultura vitae eine Cultura Christianae pietatis; die Gesellschaft (socialitas) erreicht dann den höchsten denkbaren Grad der Vollkommenheit, nicht erst im Jenseits, sondern schon hier und heute.27 Die entscheidende Voraussetzung dafür bildet freilich die Wiedergeburt, aus der der Mensch als ein Wesen hervorgeht, das in seinem Handeln allein von der Liebe zu Gott und den Nächsten bestimmt ist. Man müßte hier näher untersuchen, inwieweit Pufendorf in der Entwicklung dieser Vorstellungen vom Pietismus beeinflußt worden ist, also von der großen reformatorischen Bewegung innerhalb des Luthertums seiner Zeit. Das kann an dieser Stelle nicht geschehen, deutlich dürfte aber geworden sein, daß jene Gedankenwelten wohl nun wenig mit Luther selbst zu tun haben, sie weisen vielmehr in die Zukunft, sie bilden in der Quintessenz Vorstellungen der sich formierenden Aufklärung und belegen somit, daß Pufendorf ein Mensch zwischen den Zeiten gewesen ist und sich nicht einfach in ein Schubfach einordnen läßt. Auf die kommende Aufklärung verweist Pufendorf auch in seinen wiederholten Darlegungen, die eine kontemplative Lebensführung ablehnen und die Forderung erheben, der Mensch müsse grundsätzlich einer nützlichen, dem Gemeinwohl dienenden Beschäftigung nachgehen. Auch dieses Verlangen zielt zuerst und vor allem gegen die katholische Kirche. Zur Pflicht des Menschen als Glied der Gesellschaft gehört es, den Vorteil des anderen zu fördern. Jeder hat seinen Gaben entsprechend der Allgemeinheit Nutzen zu bringen, und er ist angehalten, seine Talente zum Zwecke der Verbesserung des Lebens aller zu entwickeln.28 Gegen dieses Gebot verstoßen diejenigen, die „keinen ordentlichen Beruf lernen“ und „ihr Leben in Schweigen verbringen“.29

__________ 26 Vgl. Joseph Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941, zu Pufendorf s. S. 132-174. Heinrich Günter, Deutsche Kultur in ihrer Entwicklung, Leipzig 1932, S. 4 und 267. 27 „In speciali autem parte (gemeint ist eine von Pufendorf geplante, aber nicht geschriebene Moraltheologie), ubi virtutes Christianis commendatae sigillatim erant explicandae, ostendendum insuper fuerat, quomodo istae socialitatem in supremum et perfectissimum gradum evehant ...“ (Pufendorf an Justus Christoph Schomer, 6.10.1690; Pufendorf, Briefe, S. 287). 28

„Inter officia quorumlibet erga quoslibet, & quae propter communem socialitatem sunt exercenda, tertio loco id ponitur: ut quilibet alterius utilitatem, quantum commode potest, promoveat.“ (Pufendorf, De officio, I, 8, 1, S. 36). 29

Pufendorf, De officio, I, 5, 1 und I, 8, 2.

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Diese „leben wie die Mastschweine ... Sie sind Staub und nutzlose Erdenlast.“30 Was Pufendorf in seinen naturrechtlichen Schriften noch vergleichsweise moderat formuliert, wird an anderer Stelle in polemischer Schärfe vorgetragen: „Ansonsten gibt es keinen Grund dafür, der Welt überdrüssige und arbeitsscheue Menschen, die gerne in unförmiger Kutte daherschreiten, mit sinnlosem Gebrüll die Kirchen erfüllen und völlig geistesabwesend die sich dauernd wiederholenden Gebete zu Gott an den Kugeln des Rosenkranzes abzuzählen, auf öffentliche Kosten zu mästen.“31 Kennzeichen der wahren Politik bilden also die Verbannung des Müßigganges und das Verbot, von den Früchten anderer zu leben. Wer würde, schließt Pufendorf, hier nicht sofort an die katholische Kirche denken?32 War die katholische Kirche für Pufendorf gleichsam eine satanische Einrichtung, die mit ihren Lehren das Staatsgefüge aufs äußerste bedrohte, so war sein Verhältnis zum Calvinismus als der zweiten großen protestantischen Kirche zwar weit gemäßigter, aber doch nicht ohne erhebliche Distanz. Das Hauptproblem bildete für ihn die Prädestinationslehre der Reformierten, die nach Pufendorfs Sicht geradezu das Zentraldogma des Calvinismus ausmacht. Die Bestreitung des freien Willens erscheint ihm nicht nur in religiöser Hinsicht höchst bedenklich, sondern führt auch geradezu staatsgefährdende Konsequenzen mit sich. Für Pufendorf ist der Wille neben dem Verstand die wichtigste Eigenschaft des Menschen: „Der Wille ist der innere Antrieb, der den Menschen zum Handeln bringt ... Der Wille gestattet es also dem Menschen, zunächst einmal aus eigenem Antrieb zu handeln, d. h. er wird nicht durch irgendeinen inneren Zwang zum Handeln bestimmt, sondern ist selbst Urheber der eigenen Handlung.“33 Eine Bestreitung der Willensfreiheit läuft in Pufendorfs Augen darauf hinaus, den Staat sozusagen auszuhebeln, denn Bürger mit fatalistischer Gesinnung wären nicht motiviert, den Gesetzen Folge zu leisten. Dem Menschen können seine Handlungen nur dann zugerechnet werden, wenn er sie freiwillig vorgenommen hat. Ist er nicht in der Lage, mit freiem Willen zu handeln, ist nicht er haftbar, sondern derjenige, der ihn zwingt.34 Die Re__________ 30

Pufendorf, De officio, I, 8, 1.

31

Samuel Pufendorf, Die Verfassung des Deutschen Reiches, hg. und übers. v. Horst Denzer, Leipzig/Frankfurt/M. 1994, S. 267 (Caput 8, Paragraph 9). 32

„Hac in parte quantopere impegerit religio Pontificia quis non videt?“ (Pufendorf, Dissertationes, § 13, S. 491). 33 Pufendorf, De officio, I, 1, 9, S. 14. Zitiert nach folgender Ausgabe: Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übers. von Klaus Luig, Leipzig/Frankfurt/M., 1994, S. 28. 34

Pufendorf, De officio, I, 1, 10, S. 14.

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formierten werden in dem hier paraphrasierten Text nicht genannt, aber sie stehen gedanklich immer in der Nähe, wenn Pufendorf auf dieses Thema zu sprechen kommt, und das ist oft der Fall. In dem bereits zitierten Abschnitt in „De jure naturae et gentium“ über die dem Staat gefährlichen und daher auszurottenden falschen Lehren kommt Pufendorf auch auf die Stoiker und ihre fatalistischen Lehren zu sprechen. Die Meinung, alles Geschehen in der Welt verlaufe nach unwandelbaren, einmal von Gott festgelegten Gesetzen, raube nicht nur dem Menschen alle Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, sondern auch Gott wird jede Möglichkeit des Eingreifens in die Geschicke der Welt mittelst Wunder genommen. Die Menschen andererseits verlieren jede Hoffnung, durch innere Umkehr doch noch Gottes Gnade zu erringen.35 Die Calvinisten werden auch hier nicht ausdrücklich genannt, aber sie sind gemeint. In einer in etwa zur gleichen Zeit verfassten Schrift wird das klar gesagt: „Vergeblich aber werden jene bürgerlichen Gesetze vorgegeben und Strafen auf ihre Verletzung auferlegt, wenn es nicht im Vermögen des Bürgers liegt, diese einzuhalten oder zu verletzen. Dieser Lehre widerstreben diejenigen, die die menschlichen Handlungen, über welche in den Gerichten gerichtet wird, eine fatalistische Notwendigkeit zuschreiben und den Gebrauch des freien Willens in diesen Dingen vollkommen bestreiten. Diese Lehre wird einigen Calvinisten zugeschrieben und sie ist dem Staat aufs äußerste gefährlich.“36 In der Dissertation „De concordia verae politicae cum religione Christiana“ wird Pufendorf dann ganz deutlich: In den Gemeinwesen würden Gesetze erlassen, die die Sicherheit ihrer Bürger garantieren sollen. Diese Festlegungen seien jedoch völlig sinnlos, wenn die Bürger dem Fatalismus verfallen seien. Dieses Dogma, das das allergefährlichste sei (perniciosissimus), vertreten die Calvinisten. Das Ergebnis sei der innere Verfall eines Staates, der von ver-

__________ 35

„Cognatum huic dogma est, quod consecutiones causarum et effectuum, seu illa velut catena rerum a Creatore constituta tam immobilem habeat legem, ut Deus circa eandem ne in particularibus quidem casibus libertatis sibi quid reservarit. Per hoc enim miracula, et extraordinarium Dei auxilium, effectusque precum, poenitentiae, et emendationis perimi videntur.“ (Pufendorf, De jure naturar, II, 4, 4, S. 165). Die Frage der Möglichkeit von Wundern wird in der Kritik an der sogenannten LeibnizWolffschen Philosophie im 18. Jahrhundert eine große Rolle spielen. 36

„Frustra autem leges istae civiles feruntur, et inique poena ob easdem violatas exigitur, nisi penes cives sit eas observare aut violare. Huic dogmati adversantur, qui actiones humanas, super quibus in foro civili ratio solet exigi, fatali cuipiam necessitati, & quae usum liberi arbitrii in hujusmodi rebus plane extinguit, subjiciunt. Quod dogma Calvinianis quibusdam tribuitur: ac Reipublicae sane est perniciosissimum.“ (Pufendorf, Dissertationes, § 16, S. 494).

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zweifelten, melancholischen und verbrechensbereiten Bürgern bewohnt werde.37 Pufendorfs Hochschätzung des freien Willens des Menschen muß ihn eigentlich in eine Gegenposition zu Luther bringen, der die Willensfreiheit mit besonderer Vehemenz bestritt, am entschiedensten in „De servo arbitrio“. Hier ist sein Gegensatz zum zeitgenössischen Humanismus am größten, aber wohl auch zur modernen Welt überhaupt. Pufendorf, der die Schriften Luthers im allgemeinen nur sehr partiell zur Kenntnis nimmt, meint jedoch leichthin, der Streit um den freien Willen habe „eben das Haupt-Werck“ nicht betroffen,38 auch habe Luther seine anfänglich radikalen Positionen in der Willensfrage später abgemildert.39 Mit kritischen Anmerkungen bedenkt Pufendorf auch die Ablehnung der Monarchie durch die Reformierten und ihre Neigung zur Demokratie; das führe im Staat zu Unruhe und Umsturz.40 Das zielt natürlich gegen die sich auf das Gemeindeprinzip stützende Verfassung der reformierten Kirche. Man habe bemerkt, daß „der Geist dieser religion [der calvinistischen] die demokratische Freiheit begünstigt. Denn wenn einmal die Angelegenheiten der Religion und der Moral dem Votum des Volkes unterworfen sind, erscheint es unbillig, daß der Fürst allein über alle Staatsangelegenheiten entscheiden kann.“41 Die Ablehnung der Monarchie durch die Calvinisten, äußert sich Pufendorf noch klarer an anderer Stelle, resultiere aus der demokratischen Einrichtung ihrer Kirche. Wenn das Volk aber innerhalb der kirchlichen Gemeinde ein Mitspracherecht habe, dann wolle es dieses letztendlich auch in der politischen Gemeinde erhalten. Damit wird ein weiterer Grundpfeiler der „vera politica“ unterhöhlt, die Anerkennung des bestehenden Staates; an deren Stelle treten __________ 37 „Ac inprimis homines desperati, melancholici, ac rationale parum sanae, ubi semel facinoris quid animo conceperunt, pertinaciter persequuntur, quod fatali necessitate ad idem rapi sese arbitrentur, ac demum non citra horrendam blasphemiam causam peccati in Deum referunt, & se non nisi nuda instrumenta, quibus nihil imputari possit, jactant.“ (Pufendorf, Dissertationes, § 16, S. 494 f.). 38

Samuel von Pufendorf, Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, so jetziger Zeit in Europa sich befinden, 3. Auflage, Frankfurt/M. 1695, S. 815. 39

Pufendorf, Jus feciale, § 65, S. 70.

40

„Cum etiam haec boni civis virtus a vera politica commendetur, ut praesentem Reipublicae statum amet, & a rebus novandis abhorreat; hac quoque in parte non parum labis adhaerere multis Calvinianorum judicatur, dum in democratiam nimio amore propendent, & contra monarchias aversantur, ad easque convellendas sunt proclives.“ (Pufendorf, Dissertationes, § 17, S. 495). 41

Pufendorf, Die Verfassung (Anm. 31), 8, 7, S. 252.

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revolutionäre Umtriebe.42 Das Auftreten des Presbyterianismus in England wird so als gefährlicher Versuch der Schweizer und Holländer gewertet, ihre „democratische affection“ zu exportieren, was den Staat ins Chaos stürze.43 Wenn Pufendorf die Demokratie als Staatsform auch zuläßt, so bildet sie für ihn im Vergleich zur Monarchie jedoch die weitaus schlechtere Möglichkeit der Staatsbildung. Demokratische Freiheiten schwächen den Staat: Bei aristokratischen und demokratischen Staaten herrschen „Langsamkeit und Uneinigkeit/ ehe eine Resolution gefasst/ verzug ehe sie exequiret wird/ Ausbreitung der Heimligkeiten ...“44. Auch sonst weisen die pufendorfschen Schriften allenthalben Ausfälle gegen die Reformierten auf, denen auch vorgeworfen wird, sie trügen die Verantwortung dafür, daß sich die Reformation nicht in ganz Europa durchzusetzen vermochte.45 Es nimmt angesichts der Ausfälle Pufendorfs gegen die gefährlichen Folgen calvinistischer Glaubenssätze und Kirchenordnungen nicht wunder, daß ein anonymer Autor Pufendorf als Autorität zitiert, um die Rechtmäßigkeit der scharfen Angriffe zu belegen, die der Kopenhagener Hofprediger Gottfried Masius gegen den Calvinismus vorgetragen hatte und großes Aufsehen unter den Zeitgenossen erregten.46 Nach Masius garantiert allein die lutherische Konfession den inneren Frieden eines Staates, Katholizismus und Calvinismus dagegen sind ihm zuwider. Im darüber entbrennenden Streitschriftenkrieg, dessen prominentester Teilnehmer Christian Thomasius in Leipzig war, greift der erwähnte Anonymus, er bezeichnet sich als Wahrheitsliebender, ein und legt eine Blütenlese aus Pufendorfs Schriften vor, die belegen sollen, daß der berühmte Autor die gleichen Auffassungen vertritt wie Masius: „Ich habe der__________ 42

„Ac judicant prudentes, ad turbas istas, quae superioribus annis Angliam miserrime exercuerunt, non parum contulisse dogmata Genevensia, quae juventus Anglicana ibidem studiis operata ...“ (Pufendorf, Dissertationes, § 17, S. 495 f.). 43

Pufendorf an Thomasius, 1.11.1690 (Pufendorf, Briefe, S. 290).

44

Pufendorf, Einleitung (Anm. 38), S. 541.

45 „Aber da es schien/ daß diese Revolution solte allgemein werden/ kam Zvvinglius in der Schweitz/ und folgends Calvinus in Franckreich darzwischen/ welche an statt eben selbigen Weg zu folgen anfiengen/ wider die Gegenwart des Leibes Christi zu predigen ... und entblösseten die Religion von demjenigen/ was am meisten die Augen und äusserliche Sinne anlocket. Dannenhero das gemeine Volck einen Abscheu für ihnen bekam ...“ (Pufendorf, Einleitung, S. 824). 46 Vgl. Frank Grunert, Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus. Der Streit zwischen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius über Ursprung und Begründung der „summa potestas“, in: Fritz Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 5177.

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gleichen passages darumb aus des Herrn Puffendorffii Schrifften allegiret, damit man sehen möchte, daß dis eine unläugbare Warheit sey/ die D. Masius ... behauptet hat; und das nicht etwa Theologi allein so scharffsichtig in Calvini Schule gewesen/ sondern das kluge Politici und Historici zufoderst die Democratische Natur des Calvinismi angemercket haben.“47 Tatsächlich hatte sich Pufendorf, allerdings nur in Briefen, kritisch über Masius geäußert und dessen Zurückweisung gefordert, aber, wenn man genau hinsieht, nicht aus konsequenter inhaltlicher Ablehnung der Behauptungen des Theologen, sondern darum, weil sie von dem Hofprediger schlecht vertreten worden seien: „H. Masius hat ein nobel argumentum recht kahl elaboriret, und meritiret billig eine castigation.“48 Denken wir an Pufendorfs heftige Kritik an den politischen Folgen des Auftretens des Calvinismus, so wird uns deren inhaltliche Nähe zur Kritik des Kopenhagener Geistlichen deutlich. In einem Brief an seinen Freund Adam Rechenberg in Leipzig bricht dann ganz elementar das heraus, was Pufendorf über die Reformierten wirklich denkt: Wenn Masius richtig informiert wäre, dann hätte er sagen können, woraus die Unruhen in Deutschland entstanden seien, nämlich „von denen Calvinischen Consiliis“, die auch das Blutvergießen in den Niederlanden, in Frankreich und in England verursacht hätten: „wenn wir alle weren Lutherisch geblieben, wie wir von anfang warn, weren unsere sachen in weit beßren zustand.“ Durch der „Calvinisten naseweisheit“ sei „unser gantzes wesen fast übern hauffen geworffen“ worden.49 Pufendorf kritisiert Masius jedoch nicht nur wegen der fehlenden historischen Begründung seiner Angriffe auf den Calvinismus, sondern wegen des völlig inopportunen Zeitpunktes seines Vorgehens. Die Protestanten schweben in größter Gefahr, da der Papst mit aller Macht gegen sie rüste. Ein Streit zwischen Lutheranern und Calvinisten käme daher jetzt zum unrichtigsten Zeitpunkt. Allerdings hat Pufendorf noch einen anderen, einen inhaltlichen und schwergewichtigen Einwand gegen Masius vorzubringen, nämlich gegen dessen Erklärung des Ursprungs der Monarchie, indem er sagt, der König sei „immediate a Deo“, denn das verbiete z. B. das Widerstandsrecht gegen den katholischen König Jacob II. von England. Masius wür__________ 47 Aus den Schrifften des Hr. Sam. Pufendorfii Kurtzer aber Gründlicher Beweiß ... Daß der Calvinismus mit einer Monarchie incompatible sey ... Zum Druck befordert von Einem Warheit Liebenden. Gedruckt Anno 1692. 48 Pufendorf an Thomasius, 30.12.1688 (Pufendorf, Briefe, S. 235). An Rechenberg heißt es am 8.10.1690: „H. Masius wird die Reformirten nicht beißen. Der weis nicht recht wo es ihnen sitzet.“ (Pufendorf, Briefe, S. 288). Pufendorf nahm auch Anstoß daran, daß durch Masius Schrift das Verhältnis zwischen den protestantischen Konfessionen gestört würde, was den Katholiken zugute käme. 49

Pufendorf an Adam Rechenberg, 29.8.1691 (Pufendorf, Briefe, S. 320).

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de damit die jetzige Regierung in England, aber auch die in Holland „condemniren“.50 Diese Passage belegt im übrigen, daß die Behauptung, Pufendorf sei in der Tradition Luthers ein Gegner jedweden Widerstandsrechtes, inkorrekt ist.51 Es läßt sich zusammenfassend feststellen, daß Pufendorfs Rechtsvorstellungen keineswegs die bestehenden konfessionellen Gegensätze ausklammern oder beiseite setzen. Da die Religion in seinem System eine konstituierende Funktion einnimmt, ist es nicht gleichgültig, wie das jeweilige Glaubensbekenntnis beschaffen ist. Es gibt Glaubenssätze, deren Inhalt das Funktionieren des Staates einschränkt oder gar außer Kraft setzt.52 Das gilt insbesondere für die katholische Kirche. Die Vernachlässigung religiöser Differenzen, die in den Bereich der Politik hineinwirken können, wäre also, was die Erhaltung des Staates angeht, für Pufendorf fahrlässig und gefährlich. Eine Zeit, in der die religiösen Differenzen für die Herausbildung einer „natural law theory“ keine Rolle spielten, um wieder auf das Ausgangszitat unser Untersuchung zurückzukommen, war noch nicht gekommen.

__________ 50 Pufendorf an Christian Thomasius, 1.11.1690 (Pufendorf, Briefe, S. 289 f.). In einem späteren Brief an Rechenberg (29.8.1691) schildert Pufendorf gar, wie Masius die Reformierten widerlegen müsse (Pufendorf, Briefe, S. 316 f.). 51 Vgl. dagegen die überzeugenden Ausführungen zum Widerstandsrecht bei Thomas Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat, Göttingen 1995, S. 152-157. 52 Als einer der wenigen Interpreten sieht das Behme, Samuel von Pufendorf, (Anm. 51), S. 181.

Mitarbeiterverzeichnis Bianchin, Lucia, Dr., Università degli Studi di Trento, Dipartimento di Scienze Giuridiche Deflers, Isabelle, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar Döring, Detlef, Prof. Dr., Universität Leipzig, Historisches Seminar Frassek, Ralf, Priv-Doz., Dr., Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg, Juristische Fakultät Friedeburg, Robert von, Prof. Dr., Erasmus Universiteit Rotterdam, Faculteit der Historische en Kunstwetenschappen Hattenhauer, Christian, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft Hattenhauer, Hans, Prof. Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, ehem. Inh. des Lehrstuhls für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht Link, Christoph, Prof. Dr., Dres. h.c., Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Hans-Lierman-Institut für Kirchenrecht Maissen, Thomas, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar Meccarelli, Massimo, Prof. Dr., Università di Macerata, Istituto di Studi Storici Odermatt, Katharina, Dr., Engelberg (Schweiz) Quaglioni, Diego, Prof. Dr., Università degli Studi di Trento, Dipartimento di Scienze Giuridiche Scattola, Merio, Prof. Dr., Università di Padua, Dipartimento di Lingue e Letterature Anglo-Germaniche e Slave Schmoeckel, Mathias, Prof. Dr., Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte Strohm, Christoph, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, WissenschaftlichTheologisches Seminar de Wall, Heinrich, Prof. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, HansLiermann-Insitut für Kirchenrecht Wyduckel, Dieter, Prof. Dr., Technische Universität Dresden, Institut für Europäische Rechtsgeschichte

Personenverzeichnis (Lediglich in den Fußnoten zitierte Autoren von Sekundärliteratur wurden nicht aufgenommen.) Accursius 97, 254

Apel, Johann 51

Adam, Melchior 323

Aretinus, Scipio Jakob

Aegidius Romanus 94, 95 Agricola, Rudolph 241 Albericus de Rosate 96 Alberti, Valentin 403 Albrecht, Markus 91 Alexander von Hales 92 Alstedt, Johann Heinrich 169 Althusius, Johannes 12, 15, 19, 20, 29, 30, 127, 146, 154, 161, 162, 165, 167-192, 194-197, 199, 200, 202, 203, 205-208, 210-215, 217-228, 231-238, 239, 240, 242, 243, 245, 246, 248-250, 255, 257-261, 263, 265-276, 279, 280-283, 300, 354, 355, 358, 367, 368, 379, 389, 394 Alting, Heinrich 169 Amerbach, Basilius 12, 13, 239 Amerbach, Bonifacius 12, 19 Ammirato, Scipione 219 Amsdorf, Nikolaus von 132, 134 Amsterdam, Alardus von 241 Anhalt, Georg von 55 Anne von Österreich 151 Antholz, Heinz 215, 273, 368

Siehe Lampadius,

Aristoteles 23, 33, 155, 158, 240, 241, 321, 343, 369, 373, 400 Arminius, Jacobus 339, 360 Arnisaeus, Henning 129, 164, 169, 368, 380, 381, 388, 389, 400, 401 Arumaeus, Dominicus 368, 377, 380, 381 August von Sachsen 59 Augustinus von Hippo 22, 125, 158, 317, 328 Augustus 123 Azo 97, 123, 254

Bachoff von Echt, Reiner 370, 373 Bacon, Francis 150, 343 Bajus, Michael 329 Baldus de Ubaldis 96, 97, 139 Bale, John 135 Barbeyrac, Jean 337, 347 Barclay, William 122, 129, 173, 177182, 184, 191 Baron, Hans 156, 157

Personenverzeichnis

434 Bartenstein 326

Bortius, Matthias 398

Barth, Karl 330

Botero, Giovanni 219

Bartolus de Saxoferrato 43, 96, 139

Böttcher, Diethelm 123

Bauer, Anton 117

Böttcher, Leif 343

Bayle, Pierre 164

Boucher, Jean 131, 178, 181

Beckmann, Johann Christoph 411

394,

Behnen, Michael 222, 227, 271, 368 Bellarmin, Robert 131, 332, 379 Benedict, Philip 3 Bernard, Guillaume 91, 99 Bertacchini, Giovanni 263, 304 Besold, Christoph 376, 380, 381, 383, 390, 394, 399, 407 Beyer, Christian 51 Beyer, Leonhard 49 Beza, Theodor 12, 13, 78, 135, 146, 161, 181 Bilson, Thomas 134

Bourgeois, Loys 78, 79 Boxhorn, Marcus Zuerius 165 Braudlacht, Georg 369, 374, 383, 387 Braun, Konrad 10, 11 Brisson, Barnabé 263 Brück, Gregor 40, 54 Brutus, Stephanus Junius 178, 180 Bucer, Martin 22, 109, 160, 321 Buchanan, George 117, 161, 162, 164 Buchanan, William 178, 180 Buchholtzer, Georg 58 Bugenhagen, Johannes 132, 134, 144

40, 50, 52,

Bocerus, Henricus 384, 385 Bode, Heinrich 404 Bodin, Jean 108, 112, 217, 230, 267-270, 355, 364, 399

29, 91, 92, 97-103, 105113, 169, 173-177, 191, 231, 233, 236, 263, 265, 275-279, 300, 304-306, 369, 380, 381, 385, 388,

Bogislaus von Chemnitz 369, 381 Bohn, Jochen 330 Bonifaz III. 95 Bornitz, Jakob 366, 380, 401

Caesar, Gaius Julius 156, 161 Calenberg, Christian Ludwig von 371 Calenberg, Georg von 371 Calixt, Georg 7 Calov, Abraham 403 Calvin, Johannes 8, 22, 76, 77, 79, 82, 91, 92, 101-113, 127, 138, 139, 154, 171, 194, 201, 244, 246, 290, 329331 Camerarius, Ludwig 19, 20 Camerarius, Philipp 8

Personenverzeichnis Carpenter, Christine 121, 122 Carpzov, Benedikt 398

Cujaz, Jacobus Jacobus

435 Siehe

Cujacius,

Cartwright, Thomas 137 Caselius, Johannes 7 Cecil, William 117 Christian I. von Sachsen, Kurfürst 194 Chrysipp von Soli 23 Chupp, Jesse 232-235 Cicero, Marcus Tullius 23, 24, 27-29, 33, 156, 157, 160-162, 240-242, 245-248, 275, 278, 321 Cisner, Nikolaus 21, 22 Clapmar, Arnold 219, 369 Claude de Seyssel 98 Clement, Jacques 144 Cocceji, Heinrich von 357, 404 Cocceji, Samuel von 357 Coccejus, Johann 137 Coke, Edward 147 Coler, Christophorus 366 Connanus, Franciscus 245 Conring, Hermann 126, 147, 148, 372-376, 377, 385, 391, 401 Contzen, Adam 411 Coquille, Guy 150, 151 Covarruvias, Diego de 171, 172, 293, 303, 304, 306, 382, 383

da Monte, Piero 263 Dammann, Christof 84 Daneau, Lambert 236, 269, 281, 282 David 161 Davies, John 147 Decius 294 Deflers, Isabelle 91, 320 Del Monte, Gerolamo 304 Dio, Cassius 268, 269 Donellus, Hugo 8, 11, 12, 15-17, 19, 27, 176, 177, 244, 245, 248, 249, 254, 255, 257, 258, 260, 261 Dorleans, Louis 131 Dreitzel, Horst 126, 137, 161, 400 Du Moulins, Pierre 163 Duarenus, Franciscus 176, 177 Dumoulin, Charles 98 Duns Scotus, Johannes 93, 109

Edward der Bekenner (von England) 147 Eglon 144 Ehem, Christoph 19, 20, 23, 24 Ehlers, Joachim 120

Cruciger, Caspar d. Ä. 50

Ehud 144

Cujacius, Jacobus 176-178, 248, 254, 257

Elisabeth I. von England 218

131, 140,

436

Personenverzeichnis

Ellesmere, Thomas Egerton of 150

Galen, Clemens August 23

Emeric-de-Vattel 346

Gentili, Alberico 12

Erasmus von Rotterdam 124

Gentili, Scipio 8, 12, 15, 16, 191, 384

Erenbergk, Warmundus de Weyhe, Eberhard von

Siehe

Gerhard, Johann 127, 149 Gerhardt, Paul 73, 74 Gierke, Julius von 167

Fabricius, Jacob 136 Felwinger, Johannes Paulus 404 Fenner, Dudley 137 Ferdinand I. 9 Ferdinand II. 372 Filmer, Robert 402, 404 Flacius Illyricus, Matthias 329 Fliscus, Sinibaldus 96 Franc, Guillaume 78, 79

Gierke, Otto von 167 Giffen, Hubert van 384 Gillot, Jean 307 Giordani, Pacifico 303, 307 Giphanus, Hubert 8 Goeden, Henning 51 Goldast, Melchior 147 Goodman, Christopher 135

Franz I. von Frankreich 77, 103

Gothofredus, Dionysius 239

Franz I. von Österreich 326

Gottlieb von Polenz 163

Frantzij, Thomae 315

Goulart, Simon 15

Freher, Marquard 17, 18, 19

Graswinckel, Dirck Siehe Graswinckel, Theodor

Freigius, Johannes Thomas 245 Friedrich (der Weise) von Sachsen 33, 50, 67

Gregor VII., Papst 96 Gregor IX., Papst 38

Friedrich III. von der Pfalz 9, 240

Gregor XIV., Papst 15

Friedrich Ulrich von BraunschweigWolfenbüttel und Calenberg 370373

Greiter, Matthäus 78

Friedrich, Carl Joachim 2

auch

Graswinckel, Theodor 410, 411

Friedrich II. von Preußen 326

Friedrich V. von der Pfalz, Kurfürst 194, 372

15, 19, 27,

Gronovius, Johannes Friedrich 347 Grossi, Paolo 285 Grotius, Hugo 116, 147, 316, 324, 325, 327, 333-336, 338-340, 342346, 347-364, 381, 403, 409, 411

Personenverzeichnis Grunert, Frank 393 Grynaeus, Jacob 223 Gryphiander, Johannes 368 Gundling, Nicolaus Hieronymus 403 Gustav Adolf II. von Schweden 243, 371

437

Hotman, François 19, 20, 126, 150, 177, 180, 239 Hotson, Howard 223, 224 Howie, Robert 130, 137 Huber, Ulrich 410 Hunnius, Helfrich Ulrich 384, 385 Hunton, Philip 126, 147, 148

Haarstick, Niklas 91

Hus, Jan 194

Hammerstein, Notker 31 Hattenhauer, Christian 91

Innozenz III. 93, 263

Heinrich III. von Frankreich 129, 144

Innozenz IV. Siehe Fliscus, Sinibaldus

Heinrich IV. von England 121

Irnerius 43

Heinrich IV. von Frankreich 15, 129, 130

Iselin, Ludwig 12, 13

Heinrich V. von England 122 Heinrich von Susa Siehe Hostiensis Henricus de Segusio Siehe Hostiensis Hippolithus a Lapide Siehe Bogislaus von Chemnitz Hirsch, Emanuel 415 Hobbes, Thomas 116, 145, 155, 265, 316, 325, 336, 347, 350, 351, 354, 402, 405-407 Hoen, Philipp Heinrich von 19, 384, 385 Hofmann, Hasso 161 Horaz 149 Horn, Johann Friedrich 164, 404-410 Hortleder, Friedrich 147 Hostiensis 93-95

Jacob Anton Zallinger zum Thurn 337 Jacob II. von England 429 Jacobo, Joseph 270 Jakob I. von England 130, 131, 137, 140, 164, Siehe auch Jakob VI. von Schottland Jakob VI. von Schottland 178 Jansen, Cornelius 129, 334 Johann d.Ä., Graf Dillenburg 168

von

Nassau-

Johann der Beständige von Sachsen 144 Johann Friedrich II. von Sachsen 40, 55, 56 Johann IV. von Nassau-Dillenburg 223

438

Personenverzeichnis

Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar 56 Jonas, Justus 37, 50, 52, 144

Konstantin 84, 161 Krell, Nikolaus 194 Kulpis, Johann Georg 372, 375, 386

Jorissen, Matthias 81 Josef Ferdinand von ÖsterreichToskana, Erzherzog 326 Josef II. von Österreich 326 Jugler, Johann Friedrich 12 Julian 252 Jurieu, Pierre 163, 164 Justinian 16, 42, 161, 186, 237, 245, 252, 254

Labeo 251 Lagus, Konrad 37 Lampadius, Jakob 365, 370-377, 382, 383, 385-391 Languet, Hubert 138, 180 Lauterbach, Georg Siehe Lauterbeck, Georg Lauterbeck, Georg 396, 397 Lehmus, Johannes Georgius 35

Kahl, Johann 23-26, 28 Kant, Immanuel 117

Leibniz, Gottfried Wilhelm 338, 397, 417, 421, 423, 426

Karl Anton von Martini, Freiherr 326

Leyser, Augustin 404

Karl der Große 383

Liebenthal, Christian 380

Karl I. von England 126, 140, 144, 159, 160

Limnaeus, Johannes 389

Karl Ludwig von der Pfalz 417

Link, Christoph 315

Karl V. (röm.-dt. Kaiser und span. König) 55, 85, 103, 172

Lipsius, Justus 12, 169, 181, 222, 227, 263, 265, 268, 269, 274, 275

Karlstadt, Andreas-Rudolff Bodenstein von 34

Livius, Titus 156

Kaufmann, Thomas 14 Kern, Fritz 124 Kirchner, Hermann 381 Knichen, Andreas 390 Knox, John 218 Koch, Bettina 231, 232

369, 381, 383,

Lloyd, Howell 138 Lobwasser, Ambrosius 80, 81 Locke, John 164 Loisel, Antoine 140, 150 Lotichius, Johannes 370 Loyseau, Charles 151 Lubbertus, Sibrandus 225

Personenverzeichnis Luca, Giovanni Battista de 295, 298, 305, 307 Ludwig VI. 22 Ludwig XIV. von Frankreich 163, 346

439

Matthiae, Christian 381 Maximilian I. von Bayern 411 Maximilian I. von Habsburg 122

151,

Luther, Martin 13, 18, 20, 34-40, 44, 46, 48-50, 52, 53, 57, 58, 60, 67, 6976, 81, 82, 101, 109, 115, 132, 133, 135, 136, 144, 157, 161, 168, 183, 192, 200, 201, 230, 244, 290, 322, 328, 329, 331, 378, 418, 422-424, 427, 430

Machiavelli, Niccolò 118, 219, 281 Mager, Ute 91 Maimonides, Moses 342 Maire, Jan 373 Malandrino, Corrado 273, 368 Maria Stuart 218 Maria Theresia von Österreich 326 Maria Tudor 134, 218

Maximilian II. 9 Mayer, Christoph 91 Mazarin, Jules 151 McNeill, John T. 3 Medici, Maria von 218 Melanchthon, Philipp 21, 24, 25, 3335, 37-46, 50, 52, 127, 128, 144, 156, 157, 163, 168, 196, 241, 300, 316, 319-323, 327, 329, 378, 400 Menius, Justus 133 Menk, Gerhard 20, 222, 226, 228 Menochio, Jacopo 293 Meurer, Sebastian 91 Michel de Montaigne 150, 305, 333, 343 Miethke, Jürgen 91 Milton, John 144, 159-161

Mariana, Juan de 130, 152, 154, 181, 293-295, 306

Mohl, Robert von 410

Marinus de Carmanico 99

Molina, Luis de 130, 152, 288, 292, 293, 295, 301, 303, 304, 306-308

Marot, Clément 77, 78 Marshall, Stephen 142, 143

Molins, Charles des 29

Marsilius von Padua 161, 231, 232

Montesquieu, Charles de Secondat 165

Martinius, Matthias 189

Moritz von Oranien 360

Masius, Hektor Gottfried 393-395, 402, 403, 411, 413, 428-430

Moritz von Sachsen 55, 59

Mastrillo, Garcia 294, 295, 298, 303, 304

Moritz, Landgraf von Hessen-Kassel 11, 136 Moses 137, 161

Personenverzeichnis

440 Multzius, Jacob 149

Peltzhoffer, Frank Albrecht 412

Müntzer, Thomas 70, 71

Perkins, William 130, 137, 208

Murhard, Friedrich 124

Petrus Gregorius Tholosanus Pierre Grégoire de Toulouse

Naudé, Gabriel 366

Siehe

Pezel, Christoph 168

Naurath, Martin 224 Nederman, Cary J. 232-235

Pfeiffer, Johann Philipp 421 Philipp II. von Spanien 172

Nero 160 Nettelbladt, Daniel 250

Philip IV. von Spanien 147 Philipp Ludwig Dillenburg 161

Nicolaus von Cues 92

von

Nassau-

Phineas 143, 145 Obrecht, Georg 6 Ockham, Wilhelm von 93, 109, 296 Oldenbarnevelt, Johan van 360 Oldendorp, Johannes 322 Olevian, Caspar 137, 240, 243

Pierre Grégoire de Toulouse 29, 30, 173-177, 184, 185, 187-189, 218, 263, 265, 269, 274, 275, 279 Piscator, Johannes 189 Pius VI. 336 Planitz, Heinrich von 65

Opitz, Martin 81

Platon 23, 24, 109, 186, 240, 279

Osse, Melchior von 54

Plessis-Mornay, Philippe Du 180

Owen, David 129

Polo, Marco 212 Ponet, John 135

Panormitanus 298 Pareus, David 160, 164

Ptolemaeus von Lucca 158, 159

Parker, Henry 126

Pufendorf, Samuel von 155, 164, 221, 265, 316, 324-326, 334-338, 353, 364, 381, 394, 402, 405, 408-410, 413, 415-430

Paul III. 131 Pauli, Benedikt 51 Paulus 22, 28, 77 Paurmeister, Tobias 381, 384, 390

Popkin, Richard H. 229

368, 369, 377,

Pellegrini, Carlo 307 Pellegrini, Marco Antonio 304

Quaglioni, Diego 272 Quintilian 240

Personenverzeichnis Ramus, Petrus 186, 239-243, 245, 248, 249, 260 Rebuffi, Pierre 149, 150

Saul 161 Saumaise, Claude Claudius

Siehe Salmasius,

Savigny, Friedrich Carl von 4, 248250

Rechenberg, Adam 429, 430 Reibstein, Ernst 171

Savonarola, Girolamo 159

Reinhard, Wolfgang 1 Reinkingk, Dietrich von 378, 380, 381, 383, 397

368, 377,

Reinkingk, Theodor von Reinkingk, Dietrich von

Scheller, Nicolaus 56 Schilling, Heinz 1, 273

Siehe

Richard II. von England 121, 122 Rieker, Karl 363

Schlözer, August Ludwig 404, 410 Schmalzgrueber, Franz 335, 336 Schmier, Franziscus 334, 335 Schmitt, Carl 314, 317

Rittershusius, Konrad 8 Rohan, Henri de 151

Schneidewin, Johannes 323 Schomer, Justus Christoph 424

Rollock, Robert 137

Schoppe, Kaspar 366

Rose, Johann 56

Schröder, Wilhelm von 411, 412

Rose, Paul Lawrence 230 Rosenthal, Heinrich 149 Rossaeus, Guliemus 131 Rotondo, Antonio 229 Rousseau, Jean-Jacques 265, 266, 347

Schubert, Anselm 334 Schurff, Hieronymus Hieronymus

Siehe Schürpf,

Schürpf, Hieronymus 33-37, 39, 40, 42, 45, 46, 51 Schwarz, Ignatius S.J. 316, 324-326, 338, 340-343, 405

Rückert, Joachim 4 Rudolf von BraunschweigWolfenbüttel und Calenberg 370 Rutherford, Samuel 156, 162, 163

441

130, 131, 154-

Seckendorf, Veit Ludwig von 417

397,

Selden, John 341 Selnecker, Nicolai 56

Salisbury, John of 122 Salmasius, Claudius 160, 402 Salomo 161

Seneca, Lucius Annaeus 28, 267 Senellart, Michel 277 Severinus de Monzambano 353, Siehe auch Pufendorf, Samuel

Personenverzeichnis

442

Thomas von Aquin 93, 125, 153, 158, 172, 196, 288, 289, 292-294, 296, 299, 318, 321, 323, 335, 343

Sigonius, Carolus 265 Simons, Menno 83 Skinner, Quentin 138, 157 Sleidan, Johannes 134, 135 Soto, Domingo de 153, 288, 292-294, 382, 383

Thomasius, Christian 164, 316, 324, 326, 340, 364, 393-395, 409, 413, 428-430 Tieffenbach, Jacob 224

Spalatin, Georg 50, 71, 132

Tocqueville, Alexis de 265

Stein, Paul 136

Treitschke, Heinrich von 416

Stein, Peter 138

Treuer, Gotthilf 164

Stephani, Matthias 384, 385

Treutler von Kroschwitz, Hieronymus 19-21

Stintzing, Roderich von 249

Troeltsch, Ernst 3, 5

Stirling, James 143

Truchseß von Waldburg, Otto 10

Stolleis, Michael 4, 30, 367

Tuck, Richard 116

Stossel, Johan 56

Tully, James 418

Strieder, Friedrich Wilhelm 21 Strohm, Christoph 91, 320

Ullmann, Walter 138

Stuart, Sir James 143 Suarez, Francisco 131, 152, 155, 289, 292-294, 296-298, 301, 303, 304, 306-308

Ulpianus, Domitius 96, 97, 322, 323 Ursins, Jean de 121 Ursinus, Zacharias 137

Sulzer, Simon 19 Vanti, Sebastiano 304 Tacitus, Publius (oder Cornelius 147, 366, 373

Caius)

Varro, Marcus Terentius 277, 278

Tarquinius, Superbus 369, 387

Vazquez de Menchaca, Fernando 130, 153-155, 171, 172, 289, 294-296, 303

Teuteleben, Johann Ernst von 54

Vazquez, Gabriel 288

Theodosius 161, 233

Velstenius, Henricus 381

Tanner, Adam 411

Vermigli, Peter Martyr 135 Vigelius, Nicolaus 245

Personenverzeichnis

443

Vitoria, Francisco de 289, 295, 382

Windscheid, Bernhard 260

Volcmar, Bartholomaeus 149

Winters, Peter Jochen 2

Voltenius, Johannes 370

Wolf, Erik 2, 249, 350, 362, 364

Vultejus, Hermann 11, 19, 29, 245, 250, 260

Wolff, Christian 338 Wolgast, Eike 125, 127 Wolzendorf, Kurt 124

Wandalin, Johannes 403 Weber, Max 226

Wyduckel, Dieter 273

3, 199-202, 210, 216,

Werdenhagen, Johann Angelius 265 Wesenbeck, Matthaeus 323, 335 Weyhe, Eberhard von 168, 169 Wick, Johann 143 Wickmann, Johann 49 Wilde, Manfred 66 Wilhelm IV. 21 Wilhelm von Oranien 103, 129, 131, 148

Zallinger, Jacob Anton 336, 337 Zasius, Johann Ulrich 8, 9 Zedler, Johann Heinrich 396, 410 Zenon von Kition 23 Zepper, Wilhelm 161, 189 Ziegler, Caspar 403 Zwinger, Theodor 239 Zwingli, Ulrich

8, 13, 137, 160