Philosophie der Geschichte: Von der Antike zur Gegenwart 9783412214456, 9783412207571

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Philosophie der Geschichte: Von der Antike zur Gegenwart
 9783412214456, 9783412207571

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Alexander Demandt

Philosophie der Geschichte Von der Antike zur Gegenwart

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Ein Wort zuvor 9 I. Zum Begriff der Geschichte 1. Geschichtlichkeit  13 – 2. Mythos  16 – 3. Historie  19 – 4. Res gestae  21 – 5. Geschichte 23 – 6. Begriffsinhalt 25 – 7. Wissenschaft 28

II. Dekadenz von Anbeginn 1. Sündenfälle 34 – 2. Das Goldene Zeitalter 36 – 3. Asiatische Urzeitmythen 40 – 4. Das klassische Dekadenzmodell 42 – 5. Das Lebensaltergleichnis 48 – 6. Die Idee der Verjüngung 52

III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike 1. Mythische Stifter 55 – 2. Historische Erfinder 56 – 3. Progressive Zeit 59 – 4. Kulturentwicklung 61 – 5. Verbesserungen im Staatsleben 64 – 6. Fortschrittskritik 69

IV. Frühe Kreislauftheorien 1. Geschichte als Ritual im Orient 73 – 2. Das Rad der Geschichte 75 – 3. Ewige Wiederkehr 77 – 4. Regelkreise für Ereignisfolgen 82 – 5. Zeitalter und Weltperioden 85 – 6. Zyklik und Linearität 89



V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte 1. Die persische Weltalterlehre  91 – 2. Die Juden als auserwähltes Volk  93 – 3. Geschichte im Neuen Testament 98 – 4. Endzeit gemäß Daniel 103 – 5. Die Inkarnation als Epoche 107 – 6. Die Reichstheologie Eusebs 110 – 7. Augustins Zwei-Reiche-Lehre 113 – 8. Geschichtstheologie 118

VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance 1. Dekadenz bei Ibn Khaldun  124 – 2. Boccaccios Naturtheologie  125 – 3. Geschichte als Musterbuch bei Machiavelli 127 – 4. Bodin und die heiligen Gesetze der Geschichte 130 – 5. Bacon: Die Neuen sind die Alten 133 – 6. Vicos Kreislauflehre 135 – 7. Altertum – Mittelalter – Neuzeit 138

VII. Geschichte als Aufklärung 1. Frühe Stimmen aus Frankreich 140 – 2. Lessing und die Erziehung des Menschengeschlechts 142 – 3. Herder und die Humanität 145 – 4. Kant und der ewige Friede 149 – 5. Condorcet und Comte 155 – 6. Poppers offene Gesellschaft 159 – 7. Fortschritt schillert 161

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Inhalt

VIII. Der Historische Idealismus 1. Volksgeist bei Herder und Fichte 165 – 2. Schelling und die Offenbarung des Absoluten 168 – 3. Hegel und der Fortschritt zur Freiheit 171 – 4. Humboldt und die Individualität 180 – 5. Faktum und Idee 186

IX. Goethes universaler Individualismus 1. Unbehagen an der Geschichte 188 – 2. Antiquarisches Interesse 192 – 3. Poetische Gestaltung 194 – 4. Kreislauf statt Fortschritt 196 – 5. Paradigmatik 201 – 6. Anschauung und Aneignung 206



X. Der Deutsche Historismus 1. Entwicklung  212 – 2. Individualität  214 – 3. Staat  217 – 4. Politik  220 – 5. Di Pandorabüchse des Historismus 223

XI. Der Historische Materialismus 1. Der Grundtext 228 – 2. Basis und Überbau 230 – 3. Die Rolle der Revolutionen 233 – 4. Das christliche Erbe 239 – 5. Eine Wissenschaftsreligion 243

XII. Paradigmatische Geschichtskonzepte 1. Burckhardts Kulturkonstanten 248 – 2. Nietzsches ewige Wiederkehr 254 – 3. Max Webers Idealtypen 264 – 4. Paradigmatik 269

XIII. Morphologien der Weltgeschichte 1. Das Lebensalter-Gleichnis  270 – 2. Vorreiter  272 – 3. Spenglers Hoch­ kulturen 275 – 4. Toynbees „Theologia Historici“ 285 – 5. Eine Relativitätstheorie der Kultur 288

XIV. Geschichtsbiologismus 1. Gobineau und die Arier 292 – 2. Darwin und die Evolution 293 – 3. Chamberlain und die Rassenlehre 299 – 4. Freuds Pessismismus 305 – 5. Lorenz und die Höherentwicklung 309 – 6. Grenzen der Biologik 315

XV. Posthistorische Endzeit 1. Finis historiae 322 – 2. Die Geburt der Komödie 326 – 3. Geschichtslosigkeit 329 – 4. Themen der Zukunft 333

XVI. Zur Philosophie der Geschichte 1. Begriff Geschichtsphilosophie 336 – 2. Arsenal oder Prozeß? 338 – 3. Fortschritt 344 – 4. Dekadenz 348 – 5. Systemfolge 350 – 6. Säkularisierung 352 – 7. Realitätsgehalt 357



Ein Wort hernach 365



Inhalt

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Anhang Anmerkungen Kapitel I  367 – Kapitel II  368 – Kapitel III  370 – Kapitel IV  372 – Kapitel V  374 – Kapitel VI 377 – Kapitel VII 379 – Kapitel VIII 381 – Kapitel IX 383 – Kapitel X 386 – Kapitel XI 387 – Kapitel XII 389 – Kapitel XIII 391 – Kapitel XIV 392 – Kapitel XV 396 – Kapitel XVI 397 – Anmerkungen zu „Ein Wort hernach“ 401

Abkürzungen 402 Literatur 406 Detailübersicht 420

Lassen wir uns durch glänzende Systeme Nicht um die geschichtliche Wahrheit betrügen! Bachofen 1841

Ein Wort zuvor Im Jahre 1842 erhielt König Friedrich Wilhelm IV von Preußen, kürzlich inthro­ nisiert, von Zar Nikolaus I ein kostbares Geschenk: eine Kopie der beiden Rossebändiger des baltischen Bildhauers Peter von Clodt-Jürgensburg, die dieser für den Newskijprospekt zu Sankt Petersburg geschaffen hatte. Die überlebensgroßen Bronzen zierten die Eckkonsolen vor dem Schloßgartenportal hin zur Lustgartenterrasse und haben die Zerstörung des Schlosses 1951 überlebt. Sie stehen heute vor dem Kammergericht im Schöneberger Kleistpark. Der unerschöpfliche Berliner Volkswitz hat diesen beiden rossebändigenden Heroen nach 1848 Namen gegeben: „Der gehemmte Fortschritt“ und „Der beförderte Rückschritt“. Die beiden Spottnamen verweisen auf die Popularität einer Ordnungskategorie im Urteil über Vorgänge der eigenen Zeit. Seit dem Beginn der Aufklärung befand und sah man sich auf allen Lebensgebieten in einer raschen Veränderung und bewertete die Maßnahmen der Politiker, die Neuerungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die kulturellen Erscheinungen danach, ob sie progressiv und damit zeitgemäß und zukunftweisend oder aber konservativ, wo nicht gar reaktionär seien. Die Haltung des Preußenkönigs im Vormärz, nicht anders als die seines Schwagers an der Newa, schien den Berlinern nicht auf der Höhe der Zeit und mußte sich den Spott der Straße gefallen lassen. Die Denkfigur einer linearen Zeit, die uns entweder fortschrittlich aufwärts oder aber rückschreitend abwärts führt und in den Verfall, die Dekadenz, den Untergang mündet, die aber auch in zyklischen Wiederholungen ablaufen kann, ist keine Vorstellung allein der Neuzeit. Jüdische Propheten, griechische Philosophen und römische Dichter, Kirchenväter und neuzeitliche Denker haben darüber nachgesonnen, wie der Weg der Menschheit verläuft. Sie haben versucht, historische Erfahrung durch Sprachbilder, Gleichnisse und Mythen begreiflich zu machen, zu bewerten und in größere Zusammenhänge einzuordnen. Indem sie damit ihr Weltbild zum Ausdruck brachten, eine weltanschauliche Richtung vertraten, blieben die Positionen so kontrovers wie die politischen Ideologien, die bis heute auf unterschiedlichen Geschichtsphilosophien beruhen. * Mein Interesse an der vorliegenden Thematik reicht zurück in die Büdinger Schülerzeit, als ich im großväterlichen Bücherregal ein Werk mit dem provozierenden

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Ein Wort zuvor

Titel ›Der Untergang des Abendlandes‹ entdeckte. Aus der Marburger Studentenzeit vor fünfzig Jahren stammen die im folgenden benutzten Exzerpte aus Kant, Hegel und Nietzsche. Während der endlosen, aber lehrreichen Theoriedebatten 1966 bis 1974 an der Universität Konstanz mit den aufmüpfigen Studenten und meinen Mitassistenten Oettinger aus der Germanistik, Schleichert aus der Philosophie und Söhnen aus der Rechtswissenschaft hat sich mein Interesse an Geschichtstheorie und an Denkbildern für soziales Geschehen verstärkt. Ich habe begonnen, Metaphern für Geschichte zu sammeln. Anhand ihrer habe ich die politisch-historische Bildersprache durch die Zeiten verfolgt und das Ergebnis 1978 vorgelegt. Sprachbilder für Geschichte spiegeln Vorstellungen über den Gang der Ereignisse. Immer wieder erstaunlich ist, wieviele Grundgedanken der Moderne in der Antike bereits nachweisbar sind. Thematische Längsschnitte haben mich seither wiederholt gereizt, wenn mich wieder einmal die Muse Klio geküßt hat. Seit 1975 habe ich an der Freien Universität Berlin zum Geschichtsdenken Vorlesungen, Seminare und Kolloquien durchgeführt. Dabei konnte ich von den Anregungen meiner Kollegen und insbesondere von den Beiträgen meiner Studenten – vom 1. bis 14. Semester! – vielfach und dankbar profitieren. Die Begegnung mit klügeren jungen Leuten inner- und außerhalb der Universität gehörte neben der Freiheit des Forschens und Lehrens zu den schönsten Seiten des akademischen Daseins im späten zweiten Jahrtausend. Mehrere Einzelthemen dieses Buches wurden schon einmal behandelt, sowohl in früheren Aufsätzen, zusammengefaßt in meinen ›Historica Minora‹ (I 1997 ­Wissenschaftsgeschichte, II 2002 Geschichtsphilosophie, III 2005 Kulturgeschichte) als auch in meinen Büchern ›Der Fall Roms‹ (1984), ›Endzeit‹ (1993) und ›Apseudestata‹ (2006). Davon wurde manches übernommen. Ist es nicht statthaft, sich mit eigenen Federn – ich meine solche aus Stahl – zu schmücken? Das Grundkonzept des vorliegenden Buches ist eine seit 1982 mehrfach gehaltene Vorlesung. Bei der Auswahl der Autoren mußte ich mich auf solche beschränken, die als Klassiker gelten dürfen und den historisch und philosophisch interessierten Studenten nahegebracht werden sollten. Schwierig war zumal die Entscheidung zwischen den jüngeren Philosophen, deren bleibende Bedeutung noch nicht sicher erkennbar ist und ihrem momentanen Echo keineswegs entsprechen muß. Die Überzahl der Deutschen unter den hier berücksichtigten Denkern beruht weniger auf nationaler Eitelkeit als auf dem Eindruck, daß Geschichtsphilosophie in Deutschland neben Frankreich einen höheren Stellenwert hatte als im eher anschaulichen südromanischen oder stärker pragmatisch ausgerichteten englischen Schrifttum. Unvermeidlich war eine idealtypische Vereinfachung der dargestellten Positionen und der Verzicht darauf, jede Meinungsänderung der Autoren zu berücksichtigen. Auch ging es nie um eine Würdigung ihrer Leistung in anderen Bereichen oder gar um Patriarchenschlächterei. Im Hinblick auf die begrenzte Zeit, den verfügbaren Umfang und die anvisierte Leserschaft wurde auch abgesehen von der erforder-



Ein Wort zuvor

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lichen Auseinandersetzung mit der breitgefächerten Sekundärliteratur. Über die dadurch bedingten, mir schmerzlich bewußten Lücken und Mängel meiner Darstellung muß mich Leibniz trösten, der erklärte, qu’une imperfection dans la partie peut être requise à une plus grande perfection dans la tout. Aber das gilt ja nur „vielleicht“. Der Text wurde wiederholt durchgesehen, schließlich für meine letzte Vorlesung an der Freien Universität im Winter 2004/05 nachgebessert und seit Sommer 2010 auf meinem hessischen Landsitz für den Druck überarbeitet. Dank dem erneuten Entgegenkommen des Böhlau-Verlags, den geduldigen Recherchen von Dr. Alina Soroceanu in Berlin und einer Beihilfe der Thyssen-Stiftung erscheint nun das Ergebnis. Unentbehrlich war die wiederum unermüdliche technische, konstruktive und kritische Hilfe von Hiltrud Führer – ich denke an unsere so anregenden und ergiebigen Frühstücksgespräche. Die lange Inkubationszeit des Buches bestätigt das Wort von Friedrich Schlegel: „Das Druckenlassen verhält sich zum Denken wie eine Wochenstube zum ersten Kuß.“ Ich widme das Buch meinem Enkel Karl Heinrich Demandt, an Heikos zweitem Geburtstag noch im fernen China, zur künftigen Erinnerung an seinen Großvater. Lindheim, 29. Mai 2011

Einer der beiden Rossebändiger des deutschbaltischen Bildhauers Peter von ClodtJürgensburg, ein Geschenk von Nikolaus I an Friedrich Wilhelm IV, ehemals vor dem Berliner Stadtschloß, im Volksmund genannt: Der gehemmte Fortschritt.

Alexander Demandt

Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat. F. N.

I. Zum Begriff der Geschichte a. Penes Janum sunt prima, schreibt Varro, ad Janum pertinent initia factorum.1 „Bei Janus ist das Erste, zu Janus gehören die Anfänge der Taten“. Darum haben die Römer Janus als ersten aller Götter angerufen: Er war der Gott des Anfangs und des Endes, des Kriegs und des Friedens, der Gott der Zeit und der Ewigkeit. Sein Zeichen war der Schlüssel zum Schließen und Öffnen, sein Ort die Türe für Eingang und Ausgang, seine Finger stellten die Zahl 365 dar.2 Janus trug zwei Gesichter, er blickte in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich. So verbildlicht er Wesenszüge der Zeit und die Ambivalenz der Phänomene, wie uns das bei der Beschäftigung mit der Geschichte von Anbeginn begegnet. b. „Beschäftigung mit Geschichte“ ist ein mehrdeutiger Ausdruck, je nach der dahinter stehenden Absicht, dem gewählten Gegenstand und der angewandten Methode. Der Historiker befaßt sich mit Caesar und Kleopatra, mit Ausbruch und Abschluß des Golfkrieges – nicht aber mit „der Geschichte“. Geschichte ist nicht der Gegenstand des Historikers, sondern der Bereich, aus dem seine Gegenstände stammen, oder die Eigenschaft, die ein Gegenstand haben muß, damit ein Historiker sich mit ihm befassen kann. Der Historiker fragt: „Was ist geschehen?“ nicht: „Was ist Geschichte?“ Das ist keine historische Frage. Zuständig wäre dafür die Philosophie, im aristotelischen Sinne begriffen als Wissenschaft von den Wissenschaften. Aber Aristoteles beansprucht für sie kein Kompetenzmonopol.3 Denn er erklärt: „Wer auf irgendeinem Gebiet Fachmann ist, der sollte die Wesenszüge seines Arbeitsgebietes beschreiben können.“

1. Geschichtlichkeit 1a. Wesenszüge einer Sache erfaßt die Definition des Begriffs, mit dem wir sie bezeichnen. Nietzsche befand, daß nur das definiert werden könne, was keine Geschichte hat. Was sich ändert, was lebt, wird durch eine Definition mumifiziert. Nietzsches Bemerkung fußt auf Kant.4 Er betont, daß im strengen Sinne nur mathematische Begriffe definiert werden können. Von empirischen Begriffen sei eigentlich keine Definition möglich, sondern bloß eine Exposition oder Explikation, weil neue Beobachtungen auch an altbekannten Gegenständen neue Unterscheidungen ermöglichen oder erzwingen können, so daß ihre Identität zur Disposition steht.

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I. Zum Begriff der Geschichte

1b. Die Paradoxie der Identität thematisierte schon Heraklit: „In denselben Strom steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und wir sind es nicht.“5 Die Lösung bietet die Geschichte. Im Sinne von Geschichtlichkeit ist sie ein Dauerzustand, im Sinne von Geschehen bedeutet sie Veränderung. Sie ist der Inhalt der Zeit. Geschähe nichts, so würde mit dem Wort „Geschichte“ der Begriff „Zeit“ inhaltslos und entbehrlich.6 Zeitlosigkeit aber ist nur denkbar, wenn wir davon absehen, daß Denken selbst ein Vorgang ist und Zeit erfordert. 1c. Wir erleben die Zeit als Dimension der Bewegung, der Veränderung, weil unser Leben, unser Organismus selbst ständig in Bewegung ist. Dies wird uns vermittelt von unserem Bewußtsein, das mit der Gegenwart deckungsgleich ist und durch den momentanen Gedanken an Früheres und Späteres die Zeit als Strukturelement enthält. Unser Ich-Bewußtsein, die reine Subjektivität, ist sinngleich mit der Gegenwart, der höchsten Objektivität. Die Wörter „ich“ und „jetzt“ und „hier“ sind nicht zu trennen. 1d. Die Zeit als Inbegriff der Veränderung vollzieht sich an lebenden wie an toten Gegenständen, die eben dadurch Geschichte haben. Auch der standhafte Zinnsoldat hat seine Geschichte, so wie jeder Grashalm, jede Schneeflocke. Die Veränderungen im Leben der Menschheit erfolgen bald rascher, bald langsamer, ereignen sich regelhaft oder zufällig, sie schließen Phasen scheinbarer Ruhe ein, scheinbar deswegen, weil auch weit auseinanderliegende Schauplätze einander tangieren und affizieren; und solange irgendwo etwas passiert, ist das Ganze irgendwie im Fluß. Geschichtlichkeit erfordert Kontinuität. Jeder Zustand schließt an einen vorausgegangenen an und hat einen späteren zur Folge. Dennoch verläuft das Geschehen nicht gleichmäßig, sondern in Etappen. Das Wort „Zeit“ beruht auf einer Wurzel, die „Teilbarkeit“ bedeutet, wie denn Tag und Nacht, Sommer und Winter die Zeit einteilen und damit meßbar machen. 1e. Geschichtlicher Wandel ist permanent, kontinuierlich und im strengen Sinne unumkehrbar. Im laschen Sinne ist das anders. Umkehr und Wiederholung fand man in der Natur. Da der Mond zunimmt und abnimmt, Sommer kommen und gehen, Kräuter wachsen, welken und wieder ergrünen, erleben wir neben dem Crescendo auch ein Decrescendo. Bei der Periodizität in der Natur handelt es sich freilich um Epiphänomene zu linearen Prozessen, die eingebettet sind in die Evolution der Erdgeschichte, kosmisch in eine universale Entwicklung, die nach dem Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz vom Urknall zum Wärmetod verläuft. Die Weltgeschichte beginnt mit einer Katastrophe und endet in einer Sackgasse. Eine zweite Jugend kennt nur der Jungbrunnen in der Alexandersage oder Mephistos Hexenküche. Wiedergeburt ist eine religiöse Vorstellung. Der Tod erscheint als umgekehrte Geburt, indem der Mensch in den Schoß der Erde eingeht oder zu Gott aufsteigt. 1f. Die Geschichtlichkeit als universales Prinzip erfordert ein beharrliches Substrat, an dem sich die Veränderung abspielt. Wenn die Zustände wechseln, muß der



1. Geschichtlichkeit

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Gegenstand doch derselbe bleiben. Der Schmetterling ist von der Raupe über die Puppe zur Imago dasselbe Tier. Der Himmel morgens und abends, der Garten sommers und winters, die Stadt Jerusalem 1000 vor und 2000 nach Christus – sie alle bleiben dem Wandel zum Trotz dieselben Gegenstände, sonst könnten wir weder von Gegenständen noch von Wandel reden. Die Frage, welche Veränderungen ein Gegenstand unbeschadet seiner Identität durchmachen darf, ist eine Frage der Sprachregelung. Eine Herz-Transplantation mag der Patient überstehen, aber ein neuer Kopf erforderte einen neuen Paß. 1g. Die Identität stiftende Namengebung gehorcht teils praktischen, teils ideologischen Motiven. Wenn wir von den frühen Indianerkulturen Amerikas sprechen, setzen wir uns über die Tatsache hinweg, daß die „Indianer“ ihren Namen irrtümlich erhalten haben und daß Amerika erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts nach und nach so benannt worden ist. Zutreffend, aber unpraktisch wäre es, von den Kulturen jener Völker zu reden, die seit Kolumbus als „Indianer“ bezeichnet werden in einem Land, das wir seit Waldseemüller „Amerika“ nennen. Die Ägypter haben im 4. Jahrhundert ihre Religion, im 7. ihre Sprache gewechselt; sie haben Einwanderungen erlebt, haben ihre alten Kulturdenkmäler nach Kräften zerstört – sind sie noch dasselbe Volk? Im späten 19. Jahrhundert erwachte bei ihnen der Nationalismus, sie reklamierten die Pharaonen als Teil „ihrer Geschichte“. Zu Recht? Wer hat das zu entscheiden? 1h. Kant nennt das Bleibende „Substanz“, Platon nannte es „Idee“. Daß beide Begriffe dasselbe bezeichnen können, leuchtet schwer ein, weil wir uns Substanzen materiell und Ideen stofflos vorstellen. Dennoch sind beide Träger von Veränderung. So wie der Stoff gleichbleiben kann, wenn sich die Form ändert, so kann die Form dauern, wenn der Stoff wechselt: Ein Fluß bleibt derselbe, obschon das Wasser wechselt, ja er bleibt auch dann derselbe, wenn er sein Bett verlagert. Identität beruht auf Kontinuität. 1i. Geschichte erfordert eine Substanz, einen Gegenstand, der jene Veränderungen durchmacht, die wir als seine „Geschichte“ bezeichnen. Um Geschichte haben zu können, muß der Gegenstand somit erst einmal begrifflich dasein. Die gedankliche Präexistenz eines Gegenstandes ist die Voraussetzung für die Rede von seiner Geschichte. Da alle Gegenstände irgendwann entstanden sind, nennen wir deren Entstehungszeit ihre Vorgeschichte. Dieser Begriff enthält einen Anachronismus, denn in der Vorgeschichte des Milchstraßensystems oder der Französischen Revolution gab es diese noch nicht. Durch einen solchen Vorgriff lösen wir das Dilemma, daß die Priorität logisch dem Gegenstand, historisch jedoch der Geschichte zukommt. Denn wenn auch der Gegenstand in begrifflicher Form seiner eigenen Geschichte vorhergeht, so geht er doch nicht jeder Geschichte vorher. 1j. Entstehen und Vergehen sind keine Veränderungen des Gegenstandes, der entsteht oder vergeht.7 Doch lassen sich auch Entstehen und Vergehen dann als Formen der Veränderung denken, wenn wir an Erscheinungen wie Wolken denken,

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I. Zum Begriff der Geschichte

die dann nicht Gegenstände, sondern Zustände von Wasserdampf sind. Gründung und Auflösung eines Vereins bedeuten Entstehen und Verschwinden eben dieses Vereins, jedoch nur Veränderungen im Leben der Mitglieder. Was entsteht, das entsteht aus etwas; was vergeht, das vergeht in etwas. Betrachte ich sein Entstehen und Vergehen, so erscheint der Gegenstand als Teil einer größeren Geschichte, ist er selbst Zustand eines sich wandelnden Gegenstandes.

2. Mythos 2a. Die Frage „Was ist Geschichte?“ gilt dem Begriff „Geschichte“. Er hat selbst Geschichte und zeigt darin wandelnde Bedeutungen. Die Wortgeschichte wirft Licht auf den Sinn des Begriffs. Omnis rei inspectio etymologia cognita planior est, heißt es bei Isidor von Sevilla,8 die Einsicht in jede Sache wird klarer, wenn wir die Begriffsgeschichte erkennen. Der Historiker, der die Geschichte nach dem Wesen seines Faches befragt, befindet sich anderen Forschern gegenüber in einer privilegierten Situation. Denn er kann sein gewohntes methodisches Besteck verwenden, kann die Wissenschaftsgeschichte erforschen, ohne die erlernte Methode wechseln zu müssen. Ein Physiker oder Mediziner müßte, um Entsprechendes zu können, außer der Physik oder der Medizin auch noch Geschichte studieren. Die Vergangenheit bietet zu allen Fragen nach dem Wesen eines Faches Anschauungsmaterial. Die letzte Antwort darauf müssen wir zwar selber geben, aber im Dialog mit unseren Vorgängern finden wir sie leichter. Geschichte ist insoweit Objekt und Instrument der Erkenntnis zugleich. 2b. Wenn wir den Geschichtsbegriff zurückverfolgen, geraten wir in die Zeit des Mythos. Mit dem Wort „Mythos“ bezeichnen wir die ältesten, ursprünglich mündlichen Überlieferungen der Völker: exempli gratia die Epen Homers und Hesiods, ebenso die frühesten Teile der Bibel. Es handelt sich inhaltlich um zwei Arten von Erzählgut: um Kosmogonie und um Heldenlieder. Beide Male sind Götter beteiligt. 2c. Die Weltentstehungslehren der Juden im Buch Genesis des Alten Testaments und die der Griechen bei Hesiod wurden nach längerer mündlicher Weitergabe in der Zeit zwischen 900 und 700 v. Chr. aufgezeichnet. Sie verbinden Natur- und Menschheitsgeschichte, erzählen vom Ursprung des Kosmos und von der Erschaffung der Menschen, vom Ursprung des Bösen und vom Schicksal der Menschheit und ihrer Aufspaltung in Völker. Diese Texte geben Antworten auf die Frage nach den Gründen des Bestehenden, sie erklären das Sein aus dem Werden und sind insoweit ihrer Absicht nach historisch. Sehen wir ab von dem Wahrheitsgehalt und blicken nur auf den Sinngehalt, so dürfen wir diese Mythen als Frühform der Geschichtsphilosophie ansprechen, da es um Wesensaussagen über Menschen und Zeiten, um eine Deutung der Gegenwart aus der Vergangenheit geht. Insofern sind die ersten geschichtsphilosophischen Ansätze ebenso alt wie die früheste, im engeren Sinn historische Überlieferung.



2. Mythos

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2d. Gemeinte Geschichte liegt vor in der Form des Heldenliedes, der zweiten Gattung des Mythos. Musterbeispiele bieten die Epen Homers. Sie sind die ältesten griechischen Schriftdokumente. Die ›Ilias‹ entstand um 750 v. Chr. und beschreibt den „Zorn des Achill“, eine Schlüsselepisode von 50 Tagen aus dem Krieg um Troja. Die um 700 abgefaßte ›Odyssee‹ behandelt die Irrfahrten des Odysseus auf dem Rückweg von Troja nach Ithaka und enthält viel Märchenhaftes. 1795 hat Friedrich August Wolf in seinen ›Prolegomena ad Homerum‹ behauptet, die beiden Epen seien aus vorgefertigten Teilen verschiedener „Homeriden“ erst unter Peisistratos um 530  v. Chr. zusammengesetzt worden, doch gilt heute die Ilias – einzelne Zusätze abgerechnet – als Werk Homers, wogegen die Odyssee möglicherweise von einer anderen Hand stammt. Daß jeweils alte, lange mündlich überlieferte Stoffe verarbeitet wurden, steht außer Frage. 2e. Heldenlieder, die militärisch-politische Taten durch mündliche Tradition festhielten, gab es in vielen archaischen Gesellschaften. Für die Kelten bezeugt sie Caesar; Ammianus Marcellinus berichtet, daß die keltischen „Barden“ Heldengedichte zum „süßen Klang der Leier“ rezitierten. Cato erzählte in seinen ›Origines‹, die alten Römer hätten sich beim Tafeln die Heldentaten ihrer Ahnen unter Flötenklang angehört.9 David hat vor Saul gewiß nicht nur Zither gespielt, sondern auch gesungen. Von Tacitus wissen wir, daß die Germanen Heldenlieder auf Arminius überlieferten. Sidonius Apollinaris berichtet von Heldenliedern am westgotischen Königshof, und Jordanes spricht von solchen auf den Westgotenkönig Theoderich, der 451 auf den Katalaunischen Gefilden gefallen ist. Die Goten überlieferten ihre Urgeschichte und die Taten der Ahnen in Liedern zur Kithara, die Hunnen besangen Attilas Tod.10 2f. Während die keltischen, römischen und germanischen Heldenlieder größtenteils verloren sind, besitzen wir in Homer nicht nur die Gesänge selbst, sondern auch in diesen Gesängen den Barden als Typus. In der Odyssee tritt nämlich ein blinder Sänger namens Demodokos auf und singt während eines Festes bei den Phäaken zu Ehren des unerkannten Odysseus die Geschichte vom hölzernen Pferd, mit dem jener die Trojaner überlistet hat. Hier haben wir einen Mythos im Mythos. Odysseus erscheint in doppelter Gestalt: als Hörender neben den Phäaken auf Scheria und im Lied als Handelnder unter den Achäern vor Ilion, so wie auch Homer in zwiefacher Person erscheint: als Dichter der gesamten Odyssee und als Sänger Demodokos im achten Gesang. Und weil Demodokos als blind bezeichnet wird, galt auch Homer selbst als blind. Seine ihm von den Göttern übertragene Aufgabe ist es, große Taten der Nachwelt zu verkünden, bedeutende Geschehnisse vor dem Vergessen zu bewahren.11 Diesen Zweck verfolgt seit Herodot auch der Historiker. Er verleiht dem Geschehen „Unsterblichkeit“.12 2g. Die Verbindung der Geschichte mit dem Gesang hat der Historie ihre Schutzpatronin beschert, die Muse Klio. Ihr Name ist von kleos – „Ruhm“ abgeleitet. In gewisser Weise ist sie die musischste der neun Musen, denn sie bewahrt die

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I. Zum Begriff der Geschichte

Erinnerung. Die Musen werden von Hesiod als Töchter des Zeus und der Mnemosyne, dem personifizierten Gedächtnis, eingeführt. Wie Homer beginnt Hesiod sein Epos mit dem Anruf der Musen, die das Wissen schenken und die Zunge lösen. Bei der hellenistischen Zuordnung der Musen erhielt Klio das Heldenlied, die Redekunst und die Historie zugewiesen. So führt Horaz sie ein.13 2h. Homer behandelt in der Ilias einen Stoff, der im Altertum maßgebend für den Geschichtsbegriff geblieben ist: das politisch-militärische Geschehen. Von einer Verherrlichung des Krieges ist er gleichwohl weit entfernt, hat er doch Nestor das Wort in den Mund gelegt: „Ohne Geschlecht, ohne Gesetz, ohne Herd muß der sein, der sich sehnt nach dem Krieg, dem schaudervollen im eigenen Volk“. Daß mit den großen Taten große Leiden verbunden sind, zeigt er zumal an dem „großen Dulder“ Odysseus. Die Götter verhängten Schmerzen über Trojaner und Argiver, damit der Sang davon auf die Künftigen komme.14 Die Geschichte wird hier zum Zweck der Historie. Die Ilias beschreibt einen entscheidenden Ausschnitt aus dem Kampf um Troja. Die poetisch verbürgte Beteiligung an jenem Zuge begründete die Zugehörigkeit zur griechischen Welt, so wie die im zweiten Buch Moses verzeichnete Teilnahme am Auszug aus Ägyptenland die Zugehörigkeit vom Judentum bewies. Immer mehr Völker und Städte haben sich in den Kreis der am Trojanischen Krieg Beteiligten hineingedrängt, um zum Griechentum, zur Kulturwelt zu gehören. Dutzende von Städten im Mittelmeerraum führten ihre Gründung auf homerische Helden zurück. Die Scholien zum Schiffskatalog der Ilias lehren, daß mit dem Verweis auf Homerverse sogar politische Streitfragen entschieden wurden.15 Den Gedanken einer mythologischen Ansippung bezeugen später die Aeneas-Sage (Vergil), mit der sich die Römer in die homerische Welt einfügten, und die mittelalterlichen Legenden von der trojanischen Herkunft der Franken (Fredegar) und von der makedonischen Herkunft der Sachsen (Widukind), womit sich die Germanen in die antike Tradition einklinkten. 2i. Der Kampf um Troja galt bis in die Neuzeit als historisches Ereignis. Die Kritik der Aufklärer hat ihn dann ganz in das Reich der Fabel verwiesen, vermutlich zu Unrecht. Mythen werden nicht erfunden, sondern ausgesponnen. So meinte schon Strabon, Homer habe ein reales Ereignis bloß ausgeschmückt, und dies scheint zuzutreffen.16 Schliemanns Ausgrabungen seit 1870 lassen vermuten, daß der homerischen Dichtung ein wahrer Kern zugrundeliegt. Dem widerspricht nicht, daß Homer selbst für seinen Bericht den Begriff mythos verwendet. Dieses Wort ist ursprünglich frei von dem Beigeschmack des Märchenhaften, Fabulösen und heißt dasselbe wie logos: nämlich Wort, Rede, Erzählung. Der Begriff „Mythos“ begegnet beispielshalber in der Odyssee, wo der Phäakenkönig Alkinoos damit die Lebensgeschichte des griechischen Heros vor Troja bezeichnet. Wenn im Geschehen der Odyssee Demodokos oder die Sirenen vom Kampf von Troja berichten, handelt es sich nicht um deren Erfindungen, vielmehr um die Wiedergabe dessen, was der Dichter als Geschehnis annahm.17 Der Mythos im Mythos ist kein Mythos.



3. Historie

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2j. Die literarische Form, in der die ältesten Mythen überliefert sind, ist das Epos. Dies gilt für die genannten Werke Homers, führt mit dem Gilgamesch-Epos aus dem 2. Jahrtausend aber noch sehr viel weiter in die Vergangenheit zurück. Mit dem Begriff „Epos“ bezeichnen wir heute längere Gedichte in gleichartigen Versen, die mythische oder historische Stoffe behandeln, jedenfalls Geschichten erzählen, denken wir an das Nibelungenlied in der deutschen Literatur, an Firdusis Königsbuch in der persischen, an Vergils Aeneis in der lateinischen, oder an das Mahabharata in der indischen. Gebundene Rede läßt sich leichter auswendig lernen als Prosa, daher dürfen wir für die mündliche Überlieferung in epischer Form ein höheres Alter annehmen. Das griechische Wort to epos bezeichnet indessen ursprünglich ähnlich wie mythos einfach das „Gesprochene“. Die früheste Form (w) epos ist mit lateinisch vox – „Stimme“ sprachverwandt. Homer verwendet epos und mythos bedeutungsgleich und häufiger als logos, stets im Sinne von „Rede, Wort“, nie in unserem Sinne von „Epos“, wiewohl in der Odyssee auch die „Worte“ des Sängers Demodokos epē genannt werden.18 Insofern ist auch epos im Epos kein Epos.

3. Historie 3a. Die zweite Frühform geschichtlicher Erinnerung neben dem Mythos ist die Chronistik. Während der Mythos Vergangenes in poetischer Form der Gegenwart zum Bewußtsein bringt, notiert die Chronistik in kunstloser Prosa Gegenwärtiges zum Nutzen der Zukunft. Im Unterschied zu den Mythen gebraucht die Chronistik von Anfang an Schrift. Sie verzeichnet jährlich fortlaufend Herrscher, Beamte und bemerkenswerte Ereignisse, auch Naturerscheinungen. Chroniken wurden zumeist durch Priester in Prosa abgefaßt und reichen ebenfalls in frühe Zeiten zurück, am weitesten in Ägypten und Mesopotamien.19 In der mittelmeerischen Poliswelt ersetzen gewöhnlich Jahresbeamte die alten Könige. In Rom gab es die Pontifikal-Annalen;20 wir hören von Priestern, denen die Geschichtsschreibung oblag, von pontifices, penes quos scribendae historiae potestas fuit.21 In Griechenland finden sich verschiedene Listen von Beamten, Priestern und Siegern in Sportwettkämpfen schon vor Herodot.22 Aus dieser Wurzel hat sich die griechische Lokal-Chronik entwickelt, die seit Charon von Lampsakos im 5. Jahrhundert v. Chr. faßbar ist. Die römische Annalistik benutzt ebenfalls dieses Darstellungsgerüst. Hier wird nicht ein vorgegebener Sachzusammenhang in Zeiteinheiten aufgegliedert, wie im Werk des Thukydides, sondern ein vorgegebenes Zeitschema nachträglich mit Inhalt gefüllt. Die bedeutendste antike Weltchronik stammt von den Kirchenvätern Eusebios und Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. Sie hat alle älteren überflüssig gemacht. 3b. Während der Mythos Erzählgut weitergibt und die Chronistik einzelnes Geschehen festhält, will die Historiographie Ereigniszusammenhänge darstellen.

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I. Zum Begriff der Geschichte

Sie übernimmt vom Mythos die Konzentration auf das Denkwürdige und von der Chronistik die zeitliche Anordnung. Im 6. Jahrhundert v. Chr. erwachte in der ionischen Philosophie die Kritik im Namen der Wahrheit. Schon die Vorsokratiker haben den Dichtern vorgeworfen, Unwahrheiten zu verbreiten. Xenophanes von Kolophon und Heraklit griffen die Mythographen deswegen an.23 Aus dem Geiste der ionischen Aufklärung protestierte Hekataios um 500 v. Chr. gegen die herrschenden Überlieferungen und setzte ihnen das Pathos der Wahrheit entgegen: „So spricht Hekataios von Milet: Ich schreibe, wie es mir wahr zu sein scheint, denn die Meinungen (logoi) der Griechen sind zahlreich und lächerlich“.24 Im 5. Jahrhundert, als die Skepsis schon weiter fortgeschritten war, haben die Zweifel an der Geschichtlichkeit der mit Mythos bezeichneten Erzählungen dazu geführt, dem Begriff „Mythos“ das Fabulöse anzuhängen, das er bis heute trägt.25 Der alexandrinische Gelehrte Eratosthenes meinte, der Weg des Odysseus sei ebensowenig zu ermitteln wie der Schuster, der dem Windgott Aiolos seine Blasebälge genäht hat.26 3c. Die Einordnung des Mythos in die Geschichtsüberlieferung unternahm ­der römische Gelehrte Varro († 27 v. Chr.). Er unterschied drei Phasen der Geschichte. Das intervallum ignotum (1) datierte er von der Entstehung des Menschen bis zur ersten Sintflut, dem cataclysmus prior – der zweite soll den Weltuntergang brin­gen –, das intervallum mythicum (2) rechnete Varro von dort bis zu ersten Olympiade im Jahre 776 v. Chr., mit der die Jahreszählung nach den Siegerlisten begonnen haben soll, das intervallum historicum (3) zählt von dort bis zur Gegenwart.27 Der Übergang von mythischer Erzählung zu historischer Berichterstattung hat sich zuerst bei den Griechen vollzogen. Bei den Juden fehlt das. Innerhalb des Alten Testamentes ist ein solcher Fortschritt nicht feststellbar. Dort gibt es nur religiöse und moralische Wertung, keine historische Kritik. Keiner der jüngeren Autoren zweifelt dort an Angaben eines älteren. Ist die Bibel nicht das „Wort Gottes“? 3d. Kritische Geschichtstradition steht unter dem griechischen Begriff historia. Das Lateinische besitzt im Wort fabula, abgeleitet von fari – sprechen, ein Äquivalent für mythos, aber kein sinngleiches Wort für historia. Die Römer haben das Wort darum übernommen – so schon Plautus.28 Historia heißt so viel wie Erkundung, Erforschung in beliebigen Gegenstandsbereichen, aber mit dem Ton auf Zuverlässigkeit.29 Das zugehörige Verb historeō bedeutet „bezeugen, erzählen“. Herodot, der pater historiae, nannte sein in Prosa geschriebenes Geschichtswerk programmatisch die „Darstellung seiner Forschungen“ (historiēs apodexis) im Gegensatz zum bloß überlieferten, unzuverlässigen Mythos. Herodot benennt seine Zeugen im allgemeinen zwar nicht, aber da, wo er an ihrer Verläßlichkeit zweifelt, sagt er das. In solchen Fällen betrachtet er als seine Aufgabe legein ta legomena; er habe die Pflicht, das Erzählte weiterzuerzählen, nicht aber, alles zu glauben.30 So ist der Begriff historia bereits ursprünglich mit dem Wahrheitsanspruch verbunden. 3e. Isidor von Sevilla bietet folgende Definition: Historia est narratio rei gestae, per quam ea, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur. Dicta autem Graece historia



4. Res gestae

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apo tou historein, id est a videre vel cognoscere. Historie ist demgemäß die Erzählung von Taten, wodurch das, was in der Vergangenheit verrichtet wurde, bekannt wird. Das griechische Wort historia geht zurück auf die Bedeutung „sehen“ oder „er­kennen.“31 Das Wort ist etymologisch verwandt mit lateinisch videre (sehen) und deutsch „wissen“. Der Begriff historia hat seine Verwendung bei Aristoteles für alle Erfahrungswissenschaft32 bewahrt bis ins 18. Jahrhundert. ›Historia naturalis‹ heißt noch bei Bodin 1566 und bei Buffon 1749 die Naturforschung schlechthin. 3f. Neben dem dominanten Begriff historia finden wir im griechisch-römischen Sprachbereich noch weitere Ausdrücke für historische Darstellung, etwa ganz allgemein logos oder dihēgēma für Bericht, apomnēmata oder hypomnēmata – commentarii für Memoiren, hōrographiai – annales (libri) für Jahrbücher, fasti für Jahreslisten, monumenta für beliebige Denkwürdigkeiten oder Erinnerungsträger usw. Die Fachausdrücke für die historischen Gattungen schillern. 3g. Bei Herodot ist das Folgenschwere noch nicht vom Unterhaltsamen, das Politische noch nicht vom Ethnologischen geschieden. Dies geschah erst zu Ende des 5. Jahrhundert v. Chr. durch Thukydides, den bedeutendsten Historiker des Altertums, vielleicht der gesamten europäischen Geschichtsliteratur.33 Thukydides wählte als Gegenstand den von ihm selbst miterlebten Peloponnesischen Krieg zwischen Sparta und Athen. Dessen Darstellung ist völlig durchrationalisiert, es gibt bei ihm kein waltendes Schicksal, keine vergeltenden Götter. Die Menschen werden mit ihren guten und schlechten Seiten dargestellt, die Motive und Faktoren nüchtern analysiert. Der Bericht baut auf sorgfältig gesammelten Zeugenaussagen auf und soll, als ein „Besitz für alle Zeiten“ den Lesern zeigen, was sie in ähnlichen Krisensituationen von den Menschen zu gewärtigen haben, solange die menschliche Natur dieselbe bleibt.34 Von der modernen Zeitgeschichte unterscheidet er sich nur insofern, als Thukydides seine eigenen Überlegungen zum Geschehen den Handelnden in den Mund legt. Das ist ein Stilmittel der gesamten antiken Historiographie. Die Reden sind strenggenommen unhistorisch, aber das sagt Thukydides selbst, indem er einräumt, da, wo er keine Quellen habe, seinerseits die Reden so zu formulieren, wie sie gehalten worden sein könnten.

4. Res gestae 4a. In der Zeit zwischen Homer und Thukydides haben sich Konventionen herausgebildet über die Ereignisse, die als überliefernswert galten, über die literarischen Formen, in denen sie dargestellt wurden, und über den Wahrheitsanspruch, dem sie genügen mußten. Trotzdem kennen die alten Sprachen keinen allgemein üblichen Sammelbegriff für den Gegenstandsbereich der Geschichte. Aristoteles muß ihn umschreiben: Die historia behandele, was sich zu einer bestimmten Zeit zutrug, auch wenn es (anscheinend) ohne Zusammenhang war, wie der Zufall es gerade fügte.35 Aristoteles verwendet die Worte praxis und pathos, Tun und Leiden, als

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I. Zum Begriff der Geschichte

Inhalt von Geschichte. So war das schon bei Homer (s. o.), so ist das noch im Nibelungenlied, wo die erste Strophe die arebeit im Sinne von Mühe, Plage thematisiert. Die Menschen sind mithin einerseits aktives Subjekt für das, was geschieht, andererseits passives Objekt für das, was mit ihnen geschieht. 4b. Einen zusammenfassenden Begriff für das historische Geschehen kennt das Griechische ebensowenig wie das Hebräische der Bibel. Herodot verwendet ta genomena ex anthrōpōn für das, „was durch Menschen entstanden ist“ oder einfach ta erga, „die Werke“.36 Bei Thukydides bezeichnet der Plural ta Hellēnika oder ta Mēdika (zu ergänzen: pragmata) die Taten oder Angelegenheiten der Griechen beziehungsweise der Perser.37 Polybios gebraucht pragmatikē historia oder einfach pragmateia beziehungsweise pepragmena für „politische Geschichte“.38 4c. Im Lateinischen steht res gestae (die Taten) für Geschichte als Geschehen, im doppelten Gegensatz einerseits zu historia (rerum gestarum) für Geschichte als Erzählung und andererseits zu den fiktiven res fictae.39 In Einzelfällen gibt es schon früh die Verwendung von historia für das Geschehen selbst, so in der Definition von historia in der Rhetorik ›Ad Herennium‹ aus der Zeit um 85 v. Chr.: historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota.40 Die damit vollzogene Gleichsetzung von Darstellung und Inhalt im Geschichtsbegriff findet sich ebenso in der Verwendung von antiquitates für frühere Ereignisse und für Berichte über solche, sowie in der Doppelbedeutung von bios – vita. Damit kann sowohl das gelebte Leben als auch das erzählte Leben gemeint sein. Jeweils besteht ein genetischer Zusammenhang im Geschehensablauf. Dies wird von den Begriffen historia, res gestae, antiquitates nebst ihren griechischen Äquivalenten nicht gefordert. Für uns bildet eine als „Geschichte“ bezeichnete Ereignisfolge im Idealfall eine innere Einheit, eine Entwicklung, orientiert am organischen Leben des Einzelnen, mit Geburt, Höhepunkt und Tod.41 Das Geschehen ist hier durch Kausalitätsprinzip und Entwicklungsgedanken zusammengehalten. 4d. Da wo dem Geschehen in einer Zeit, einem Zeitalter bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden sollen, begegnet uns selten im Griechischen chronos,42 öfter erscheinen hingegen Begriffe wie aiōn (Ewigkeit, Zeitabschnitt) und genea (Generation, Geschlecht) im Griechischen; im Latei­nischen aevum (Lebensdauer), saeculum (Jahrhundert), aetas (Zeitalter) oder t­empora (Zeiten). Das saeculum Augustum, die tempora Christiana, lassen ahnen, was gemeint ist.43 Aber daß Plinius den Ausdruck nostra aetas auf die vor über 200 Jahren abgeschlossenen Punischen Kriege ausdehnt, das überrascht.44 4e. Die erzählte Geschichte hat früher einen eindeutigen Begriff gefunden als die geschehene Geschichte, und darin spiegelt sich eine Bewußtseinsentwicklung: Im Akt des Erzählens und Überlieferns bildet sich das Erzählens- und Überlieferungswürdige heraus, das, was aus der Menge des Geschehens bewahrt zu werden verdient. Dies ist nicht von Anbeginn vorgegeben, so wie wir wohl meinen, daß die Geschichte der Historie vorgegeben sei, sondern gewinnt seine gedanklich greifbare



5. Geschichte

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Form erst durch die Versprachlichung und eine Unterscheidung des Bedeutsamen vom Unwesentlichen, des Außergewöhnlichen vom Alltäglichen.

5. Geschichte 5a. Die Geistesgeschichte des Mittelalters ist durch Christentum, Reichsgedanken und Latinität untrennbar an die Spätantike gebunden. Somit zeigen sich im Mittelalter auch keine Wandlungen im Geschichtsbegriff. Solche begegnen erst mit der Entstehung des Hochdeutschen im 16. Jahrhundert, mit der Entwicklung unseres Wortes „Geschichte“. Es wurde in der Neuzeit zunächst nur für den Gegenstandsbereich der Historie, für die res gestae verwendet. „Geschichte“ kommt von „Geschehen“, der Stamm „scheh“ weist in ein Wortfeld der Bewegung, der Veränderung. Althochdeutsch „gesciht“ bedeutet nach Grimms Wörterbuch soviel wie Zufall, Ereignis, Geschehnis. In dieser Verwendung wird der Begriff zunächst überwiegend im Neutrum „das Geschicht“ gebraucht, seit dem 17. Jahrhundert in dem noch heute üblichen Femininum „die Geschichte“. Stets ist zunächst noch dazu der ­Plural zu denken, denn jede Geschichte ist individuell, eine von vielen Geschichten, eines von vielen Geschehnissen. Luther übersetzte in seiner Verdeutschung der Bibel den Titel praxeis apostolōn mit: die „von der Apostel Geschichte“ und meinte damit ganz im ursprünglichen Sinne die Geschichten, die „Taten der Apostel“, nicht die „Erzählung von den Taten der Apostel“, wie wir heute, unrichtig den ­Ausdruck „Apostelgeschichte“ auffassen, indem wir die Apostel aus Subjekten des Handelns in Objekte des Erzählens verwandeln. 5b. Luther hat die Wortform „Geschichte“ als Plural verstanden, als die „Ge­­ schehnisse“, so wie pragmata und res gestae gleichfalls Pluralbildungen sind. Im 17. Jahrhundert kam indes „Geschichte“ als Kollektivsingular für eine Menge von Stoff auf,, ähnlich wie die Wörter „Wasser“ und „Luft“, wie „Butter“ und „Speck“. Man kann Geschichte als Studienfach nicht mit dem unbestimmten Artikel verbinden. Im Rahmen der Bedeutung für Geschehnis hat das Wort „Geschichte“ jeweils einen anderen Sinn, ob ich sage, daß mir „eine Geschichte“ passiert ist – das wäre die alte individuelle Verwendung – oder daß „die Geschichte“ meines Lebens glücklich war – dies ist die neue kollektive Verwendung.45 5c. Wie langsam diese zweite Bedeutung an Boden gewann, läßt sich am Aufkommen der Begriffe „Weltgeschichte“ oder „Universalgeschichte“ im 18. Jahrhundert ablesen.46 In dieser Verbindung macht es keinen Unterschied, ob die neue ­kollektive oder die alte, pluralfähige Bedeutung gemeint ist, denn es gibt ja sowieso nur eine einzige Weltgeschichte. Seitdem sich der Kollektivsingular durchgesetzt hat, ist „Weltgeschichte“ ein Pleonasmus. Geschichte ohne einschränkendes At-­ tribut ist allemal Menschheitsgeschichte. Nur diese ist allerdings gemeint, nicht die Geschichte der Natur.47 Ansätze zu einer Weltgeschichtsschreibung gibt es auf Griechisch in den 40 Büchern der Geschichtsbibliothek Diodors unter Augustus,

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I. Zum Begriff der Geschichte

in der Weltchronik Eusebs unter Constantin und auf Arabisch bei Ibn Khaldun 1377. 5d. Unser modernes Wort „Geschichte“ bedeutet nicht nur „einzelnes reales Geschehnis“ und „Gesamtheit von realen Geschehnissen“ (res gestae), sondern ebenso den Bericht darüber (historia). Neben der Geschichte, die passiert, ohne daß sie erzählt werden muß, gibt es die Geschichte, die erzählt wird, ohne daß sie passiert sein muß, so wie die ›Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf‹. Das alte Wort für erzählte Geschichte lautet Märe. Uns ist in alten maeren wunders vil geseit, so beginnt das Nibelungenlied. Dieser Begriff hatte dasselbe Schicksal wie mythos im Griechischen: Im Zuge eines wachsenden Wahrheitsanspruches verwandelte er sich vom Ausdruck für berichtetes Geschehen zu einem solchen für unglaubwürdiges Erzählgut, zum „Märchen“. 5e. Das Grimmsche Wörterbuch bringt als frühesten Gewährsmann für die Verwendung des Wortes „Geschichte“ im Sinne von „Erzählung“ Aventinus, den bayerischen Geschichtsschreiber und Zeitgenossen Luthers. Mit der doppelten Verwendung desselben Terminus für die Wirklichkeit und für deren sprachliche Wiedergabe holt die deutsche Sprache einen Zustand ein, der bei Engländern und Franzosen schon erreicht war. Denn dort bedeutet history bzw. l´histoire ja sowohl die Darstellung als auch das Dargestellte. Dies geht zurück auf die schon antike, im Mittelalter geläufige Verwendung des lateinischen historia für das Geschehen, die res gestae. Im Deutschen ist mithin das Umgekehrte passiert wie in der romanischen Terminologie. Unser Wort „Geschichte“ bedeutet primär das Geschehen, sekundär dessen Darstellung. Das Wort historia bedeutet umgekehrt primär die Darstellung, sekundär das Geschehen selbst. Vorherrschend blieb in beiden Sprachbereichen indessen die jeweils primäre Bedeutung. Daher ist es im Englischen möglich, einem Buch den Titel zu geben „A History of Cyprus“, während wir im Deutschen sagen „(Die) Geschichte Cyperns“. Dort denkt man zuerst an die Darstellung, hier zuerst an die Ereignisfolge. 5f. Hegel hat in der Doppeldeutigkeit des Wortes „Geschichte“ einen tiefen Sinn gesehen. In seiner Geschichtsphilosophie erklärte er: „Die Vereinigung der beiden Bedeutungen müssen wir für höherer Art als für eine bloße äußerliche Zufälligkeit ansehen.“48 Die Gleichsetzung des Geschehens mit seiner Wiedergabe ist sprachpraktisch meist harmlos, philosophisch aber auch durch den denknotwendigen Zusammenhang zwischen Gegenstand und Vorstellung nicht gerechtfertigt, weil es zutreffende und irrige Vorstellungen gibt, welch letztere nur durch die Annahme vorstellungsunabhängiger Gegenstände zu berichtigen sind. Wenn Kant 1784, Hume zitierend, schrieb, daß die Geschichte mit der ersten Seite des Thukydides beginne,49 so meinte er damit die verläßliche Überlieferung eines prinzipiell von der Bezeugung unabhängigen Geschehens. Das Problem ist alt: Alexanders Hofhistoriograph Kallisthenes brüstete sich damit, so wie Homer den Achill groß gemacht habe, so mache er Alexander berühmt.50 Das Umgekehrte trat ein.



6. Begriffsinhalt

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5g. Der Historiker macht die Geschichte fertig. Seriös: zu dem, als was sie erscheint, nicht zu dem, was sie ist. Für den strengen Idealisten ist die Geschichte ein Produkt der Historie, wie für den echten Materialisten die Historie ein Produkt der Geschichte ist. Die Gründe für beide Positionen halten sich die Waage. Geschichte und Historie sind nur zusammen denkbar. Erst wenn eine Geschichte passiert ist, kann ich sie erzählen. Aber nur, wenn ich einen Begriff von Geschichte habe, kann ich sie als Geschichte wahrnehmen. Das Bild des Möglichen bestimmt die Gestalt des Wirklichen. Geschichte liefert den Inhalt, Historie bietet die Form. Geschichte hat die zeitliche, Historie die logische Priorität. Nachzusinnen, welche Priorität die Priorität hat, ist ein Streitfall zwischen idealistischen und materialistischen Monisten. Echte Idealisten können sich Gedanken ohne Gegenstände vorstellen, konsequente Materialisten können ungedachte Dinge denken, sich selbst als Denkende wegdenken. Wer, wie ich, weder das eine noch das andere vermag, ist ein Dualist. Idealisten und Materialisten sind sich darin einig, daß Geschichte und Historie im Grunde dasselbe, aber trotzdem voneinander verschieden sind, denn sonst gäbe es kein Prioritätsproblem. Geschichte und Historie bezeichnen zwei Seiten derselben Medaille. Sie können nicht gleichgesetzt und nicht getrennt werden. Geschichte wäre ohne Historie unsichtbar, Historie wäre ohne Geschichte gegenstandslos.

6. Begriffsinhalt 6a. Geschichte als bloße Ereignisfolge ist ein Sammelsurium. So hat Gottfried Benn einmal den Ploetz aufgeschlagen und findet dort zum Jahr 1805: „einer wird abgesetzt, einer wird Gouverneur, einer wird zum Haupt ernannt, einer hält einen pomphaften Einzug, einer verabredet etwas, einige stellen gemeinsam etwas fest, einer überschreitet etwas, einer legt etwas nieder, einer entschließt sich zu etwas, einer verhängt etwas, einer hebt wieder etwas auf, einer trennt, einer vereint, einer schreibt einen offenen Brief, einer spricht etwas aus, einer kommt zu Hilfe, einer dringt vor, einer verfügt einseitig, einer fordert etwas, einer besteigt etwas, überschritten wird in diesem Jahr überhaupt sehr viel – , im ganzen ergibt sich auf dieser Seite 3mal Waffenstillstand, 1mal Intervention, 2mal Einverleibung, 3mal Aufstand, 2mal Abfall, 2mal Niederwerfung, 3mal Erzwingung“. Dazu Benns Kommentar: „Man kann sich überhaupt keine Tierart vorstellen, in der so viel Unordnung und Widersinn möglich wäre, die Art wäre längst aus der Fauna ausgeschieden. Der Ploetz hat aber vierhundert Seiten. Auf jeder Seite ereignen sich dieselben Verba und Substantiva – von Menes bis Wilhelm, von Memphis bis Versailles. Vermutlich hat aber jeder einzelne der Handelnden sich als geschichtlich einmalig empfunden.“51 Die Komik dieser Passage beruht darauf, daß Benn alle Eigennamen ausblendet. Dies zeigt, wie fest diese mit unserem Geschichtsbegriff verbunden sind. Völlig zu Recht haben Menes und Wilhelm sich als einmalig begriffen. Aber

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I. Zum Begriff der Geschichte

diese Einmaligkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß beide nachts geschlafen und tags regiert haben. 6b. Was also ist Geschichte? An seriösen Definitionsvorschlägen mangelt es nicht. Es gibt Hunderte von unterschiedlichster Ausrichtung, unterschiedlich­ster Länge. Die umfassendste füllt ein ganzes Buch,52 die knappste besteht aus drei ­Worten und stammt von dem amerikanischen Autokönig Henry Ford: „Geschichte ist Quatsch.“ Freilich ist das streng genommen keine Definition, ebensowenig wie die meisten anderen. Sie belehren uns nicht darüber, was Geschichte ist, son­­ dern darüber, was Geschichte „eigentlich“ ist, d. h. was der Schreibende von ihr hält. 6c. Immer wieder begegnen Werturteile. Ein Vorläufer von Henry Ford ist Voltaire, der die Geschichte 1764 als fable convenue hingestellt hat, ein Nachfolger ist Theodor Lessing, der sie 1916 die „Sinngebung des Sinnlosen“ nannte. Positiver lautet es bei Droysen, der vom „Bewußtwerden und Bewußtsein der Menschheit“ sprach, bei Lord Acton 1887, der die Geschichte als das „Gewissen der Menschheit“ bezeichnete, oder bei Johan Huizinga 1942: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt.“ 6d. Man weiß nicht immer, ob die Geschichte oder die Historie definiert wird. Letztere steht im Vordergrund, wo andere Literaturgattungen metaphorisch herangezogen werden. Cicero bezeichnete die Historie als opus oratorium, das Werk eines Redners, Quintilian als carmen solutum, ein Heldenlied in Prosa.53 Jean Paul nannte sie einen Roman, Novalis eine Anekdote, Jakob Grimm eine Mär, Proudhon eine Posse, Du Bois-Reymond ein Drama, Toynbee eine Tragödie, Theodor Lessing eine Tragikomödie, Otto Hintze ein Epos, Fukuyama eine Komödie. Treffend heißt bei Hegel:54 „Der Geist des Verfassers und der Geist der Handlungen, von denen er erzählt, ist einer und derselbe.“ 6e. Die Geschichtswissenschaft behandelt das Verhalten von Menschen, namentlich im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu Gruppen und ihre Einbindung in Traditionen. Das Individuum ist für den Historiker interessant, soweit es in einem synchronen oder diachronen Zusammenhang steht, in den es sich einfügt, von dem es sich abhebt. Historie hat es mit vergangenen Handlungen und Ereignissen zu tun, die grundsätzlich datierbar und lokalisierbar sind und, bei entsprechender Quellenlage, namentlich identifizierbaren Menschen zugeordnet werden können. Diesen Aspekt hatte Benn ausgeklammert, weshalb seine Wesensbestimmung so komisch wirkt. Eine historische Behauptung besteht nicht nur aus Prädikaten, sondern enthält zudem einen Personennamen, eine Ortsangabe und eine Zeitbestimmung. Sie besagt, daß da und da, dann und dann, das und das stattgefunden hat. Genauer: daß der und der, das und das getan oder erlitten hat. Varro55 definiert die res humanae: qui agant, ubi agant, quando agant, quid agant. Der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist jeweils ein singuläres Phänomen, ein einmaliger Vorgang, eine Individualität.56



6. Begriffsinhalt

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6f. Die Begriffsbestimmung der Geschichte durch das, was Menschen tun und was ihnen zustößt, ist nicht hinreichend genau. Eine Definition darf weder zu eng noch zu weit sein, wie es in der Spätantike bei Martianus Capella heißt.57 Nicht alles, was Menschen erleben, ist gleichermaßen geschichtswürdig. Wenn wir einen Vorfall ein „historisches Ereignis“ nennen, so ist das eine Auszeichnung und unterstreicht die Bedeutsamkeit des Vorgangs. Stets gab es für den Historiker eine Rangordnung der Ereignisse nach ihrer Wichtigkeit, so wie sie jeder in seiner Lebens­ geschichte erkennt. An einen beliebigen Sonnenuntergang erinnern wir uns nicht so leicht wie an eine Sonnenfinsternis, so schreibt ein Zeitgenosse Ciceros.58 6g. Die Notwendigkeit, unter allem Geschehen das Berichtenswerte auszuwählen, war den Historikern allzeit bewußt. Die Griechen nannten das Erinnernswürdige axiologon, die Römer memoratu oder memoriā dignum. So bemerkt Ammianus Marcellinus, es gäbe Leser, die unwillig darüber seien, daß er nicht jedes Wort notiere, das der Kaiser bei der Tafel gesprochen habe, nicht jede Strafe berichte, mit der das Dienstvergehen eines Soldaten geahndet wurde. Nicht jeden Wachposten an den Grenzen, nicht jeden Besucher beim Stadtpräfekten könne er erwähnen. Eine solche Vollständigkeit widerspreche den praecepta historiae, den Prinzipien der Geschichtsschreibung, die es nur mit den großen, herausragenden Ereignissen (negotiorum celsitudines) zu tun habe, nicht mit dem täglichen Kleinkram (humilium causarum minutiae). Auch ein Physiker, so Ammian, versuche nicht, die Atome zu zählen.59 Friedrich der Große erklärt in seinen ›Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg‹, es sei nicht erheblich, aus welchem Stoff der Rock von Albrecht Achill gewesen sei oder welchen Schnitt der Kragen von Johann Cicero gehabt habe. Derartiges übergehe er.60 Ibn Khaldun bestätigt die ebenso notwendige wie sinnvolle Beschränkung für die islamische Historiographie.61 Das Programm einer histoire totale, wie es die Schule der ›Annales‹ entwickelt hat, ist, wörtlich genommen, ein Unding.62 6h. Herodot nennt seine Auswahlprinzipien gleich eingangs. Er berichte von erga megala kai thaumasta, großen und erstaunlichen Taten der Griechen und Perser und den Gründen, weshalb sie gegeneinander Krieg geführt haben. Kämpfe bringen ein Höchstmaß an Leistung wie an Leiden und beschäftigen daher die Gemüter. Bei Thukydides kommt ein anthropologisches Erkenntnisinteresse hinzu. Er meint, im Kriege fielen die Konventionen weg, da zeige sich der wahre Mensch im Guten wie im Bösen. In der römischen Historiographie herrscht zudem eine didaktische Absicht. Hier bietet die Geschichte einerseits Beispiele, exempla, für das, was sich wiederholen könnte und daher prognostisch bedeutsam ist, andererseits Muster für vorbildliches Handeln, das nachzuahmen sei, und für minderwertiges Verhalten, das vermieden werden sollte.63 6i. Zusammenfassend schreibt ein spätrömisches Lehrbuch: Geschichtsschreibung ist der Bericht über Taten in Krieg oder Frieden, die geschehen und denkwürdig sind – historia est rerum gestarum et dignarum memoria relatio. Drei Pflichten

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I. Zum Begriff der Geschichte

habe der Historiker zu erfüllen: sein Bericht sei wahr, deutlich und kurz. Wahr sind Überlieferungen – so der Autor –, wenn deren Alter und Zuverlässigkeit genau geprüft wurde und das Erforschte freimütig dargestellt ist, ohne Furcht, ohne Gunst, ohne Neid. Deutlich ist der Text, wenn das Geschehen mit der Angabe von Zeit und Ort und Art der Handlung in klaren Worten formuliert wird. Kurz ist er, wenn nichts Überflüssiges oder Nichtssagendes eingeflochten wird. Es sei die Aufgabe der Historie, uns zu vermitteln, was zu vermeiden, was zu erstreben ist.64 6j. Der modernen Geschichtswissenschaft geht es weniger darum, der Zukunft ein Bild unserer Gegenwart zu vermitteln, als darum, unsere Gegenwart aus der Vergangenheit zu begreifen. Dies verändert die Relevanzkriterien. Als wesentlich gilt einerseits alles, was Folgen hatte, und andererseits alles, was durch ein Tertium comparationis Vergleiche mit gegenwärtigen Erscheinungen erlaubt, was ähnlich oder andersartig ist. 6k. Sowohl das kausale als auch das typologische Erkenntnisinteresse ist imstande, selbst scheinbar unwesentlichen Ereignissen oder Erscheinungen Bedeutung zu entnehmen. Zwar springen die wichtigen Geschehnisse ins Auge, doch läßt sich bei keiner anscheinend unerheblichen Tatsache von vorne herein behaupten, daß sie unter allen Umständen irrelevant sei. Eine neue Fragestellung kann bisher Unwichtiges plötzlich bedeutsam machen. Entscheidend ist stets der Zusammenhang, in dem eine Tatsache steht oder in den sie gestellt werden kann. In summa: Der Historiker versteht unter „Geschichte“ die Gesamtheit menschlicher Lebensäußerungen der Vergangenheit, soweit sie Aussagewert für einen kulturellen Zusammenhang besitzen.65 Ihre Kenntnis verleiht unserem Weltbild eine zeitliche Tiefenstruktur und damit eine Dimension, die ein Verständnis der Gegenwart allererst ermöglicht.

7. Wissenschaft 7a. Zugang zur Vergangenheit des Menschen vermittelt uns die Wissenschaft von der Geschichte. Wissenschaft ist methodisches Bemühen um gültige Erkenntnis in systematischem Zusammenhang. Methodisch ist ein Bemühen, das unter einem leitenden Gesichtspunkt nach einem Plan verfährt. Eine Erkenntnis ist gültig, sofern sie nicht nur dem einzelnen Erkennenden einleuchtet, sondern fachlicher Kritik standhält und Zustimmung aller Sachkundigen und Gutwilligen erfährt oder verdient. In einem systematischen Zusammenhang steht sie dann, wenn sie einer übergeordneten Fragestellung entspringt und Teil einer höheren Ordnung, einer wie auch immer gedachten Ganzheit ist. Die Geschichtswissenschaft ermittelt Fakten, die in einem kausalen oder sozialen Kontext stehen und einen Erkenntniswert darstellen. 7b. Die Möglichkeit, Vergangenes zu erforschen, das ja direkt unzugänglich bleibt, ergibt sich aus der Erinnerung an Selbsterlebtes. Ihre Zuverlässigkeit läßt



7. Wissenschaft

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sich an gegenwärtig greifbaren Befunden, wie Briefen und Reiseandenken prüfen und durch Zeugenaussagen bestätigen. Mit diesen Verfahren lassen sich dann auch Ereignisse und Zustände aus früherer Zeit erschließen. 7c. Historisches Wissen beruht auf der Auswertung von Quellen oder Dokumenten. Dies sind meist alte Texte oder Gegenstände, denen eine Handlung oder eine Begebenheit zugrunde liegt, die aus ihnen erschlossen werden kann. Eine Quelle ist das Ende eines Entstehungsprozesses und der Anfang eines Erkenntnisprozesses, der den Entstehungsprozeß aufrollt. Quellen müssen nach allgemeinen Erfahrungsregeln interpretiert werden und liefern so die Erkenntnis von zahllosen Fakten, über die kein begründeter Zweifel besteht. Ein sprachliches Problem entsteht zuweilen hinsichtlich der Benennung, ob man z. B. das antike Sparta als Stadt bezeichnen darf oder den Begriff „Polis“ verwenden muß. Hier entscheidet die Absicht des Forschers, ob es ihm vornehmlich um Verständlichkeit oder um Genauigkeit geht. In der Frage, ob der „Fall Barbarossa“ 1939 als Angriff oder als Überfall zu bezeichnen ist, handelt es sich um politische Pädagogik. 7d. Kontroversen gelten überwiegend der Gewichtung von Gründen und der Bedeutung einzelner Fakten, einerseits in ihrem kausalen Zusammenhang, andererseits in ihrem Aussagewert für ein größeres Ganzes. Hier können oft nur weitere Quellen oder eine präzisierte Begrifflichkeit Klarheit schaffen. Dabei bewegen wir uns noch immer im Bereich der Geschichtsforschung, in der argumentiert wird. Dies gilt gleichfalls für die „kontrafaktische Geschichte“, die erörtert, was hätte geschehen können, indem sie subjektive Erwartungen früherer Menschen fortschreibt oder durch den Hinweis auf reale Vergleichsfälle objektive Möglichkeiten als Alternativen zum Geschehen plausibel macht.66 7e. In der Geschichtsschreibung, die Ereignisfolgen erzählt oder kulturelle Phänomene beschreibt, kommen literarische, ästhetische und praktische Gesichtspunkte sowie Deutungsabsichten ins Spiel. Hier ist Stil gefordert. Klio war eine Muse, denn Historiographie ist die Kunst, einen vorgegebenen Stoff eindrucksvoll darzustellen. Die Auswahl der Begebenheiten muß einleuchten, ihre Wiedergabe überzeugen. Die Schwerpunkte und die Abgrenzung obliegen dem Autor und können von Bearbeiter zu Bearbeiter verschieden sein, so wie etwa auch die Beschreibung derselben Stadt, derselben Landschaft von Darsteller zu Darsteller anders ausfallen kann. Hier gibt es eine gewisse künstlerische Gestaltungsfreiheit. 7f. Jede Darstellung von Geschichte behandelt einen Ausschnitt aus dem vergangenen Geschehen, der bei einer Biographie durch Geburt und Tod natürliche Grenzen hat, und auch sonst mit Anfang und Ende inhaltlich motiviert sein sollte.67 Das ist oft strittig. Je größer die Komplexe sind, desto näher kommen wir mit der Periodisierung dem Bereich der Geschichtsphilosophie. Im engeren Rahmen, so beim Übergang von der Römischen Republik zur Kaiserzeit gibt es kaum Varianten. Anders im europäischen Kontext bei der Zeitenwende vom Altertum zum Mittelalter. Hier konkurrieren ein gutes Dutzend seriöser Vorschläge.68 Der Grund für

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I. Zum Begriff der Geschichte

die unterschiedliche Abgrenzung liegt in der Mehrzahl von Möglichkeiten der Akzentuierung, je nachdem der Schwerpunkt auf die religiöse oder die politische Veränderung gelegt wird, ob man die römische oder die germanische Sicht wählt, die Vorgänge im Westen oder im Osten in den Blick nimmt. Eine welthistorische Epochenschwelle wie die für das christliche Geschichtsbild konstitutive Inkarnation oder die von Jaspers so genannte „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 v. Chr., als der „Mensch, mit dem wir bis heute leben“, entstand, ist eine geschichtsphilosophische These.69 7g. Wo Geschichte als Ganzes gemeint ist, wo Weltperioden abgegrenzt, Entwicklungslinien herausgestellt, Triebkräfte benannt werden, handelt es sich um Kultur- oder Geschichtsphilosophie. Sie fragt nach dem Grundlegenden und Grundsätzlichen, nach den großen Tätigkeitsbereichen in ihrem zeitlichen und funktionalen Zusammenhang,70 nach dem Gang der Geschichte und dem Umgang mit ihr, ihrem Sitz im Leben.71 7h. Mitunter wird dieser konstruktiven Geschichtsphilosophie die analytische Geschichtsphilosophie gegenübergestellt, der es in kritischer Absicht um den Geltungsanspruch und die Begründungspflicht historischer Aussagen geht. Meist steht dafür der Begriff der Geschichtslogik oder Geschichtstheorie,72 die ein Teilgebiet der allgemeinen Wissenschaftstheorie ist. Im Unterschied zu ihr bezeichnet Historik73 im deskriptiven Sinn die technische Arbeitsweise der Historiker. Hier handelt es sich um Quellenkritik, um Darstellungsformen und um Deutungsansätze und deren Wahrheitsgehalt. A RBEITSSCHEMA DER HISTORIE Handlungen

Geschichten

(Welt)geschichte

Geschehen

Quellen Geschichtsforschung Historik (deskriptiv)

Geschichtswissenschaft Geschichtsschreibung Geschichtsdeutung Geschichtsphilosophie

Geschichtstheorie (kritisch) „Voraussetzung für“

„behandelt“

„gehört zu“



7. Wissenschaft

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7i. Die Geschichtswissenschaft ist nur eine, aber die umfassendste Wissenschaft vom Menschen. Die Medizin behandelt Funktionsstörungen des menschlichen Organismus in praktischer Absicht. Die Psychologie erforscht das Denken und die Gefühle der Menschen von heute in theoretischer Absicht; in praktischer Absicht erstrebt die Psychiatrie Lebenshilfe. In der Soziologie geht es um die gesellschaftlichen Phänomene und Probleme, in der Politik um die Durchsetzung von Ansprüchen und die Ordnung der Gemeinschaft, in der Ökonomie um die Erzeugung von Lebensgütern und die Versorgung der Gemeinschaft. Die Ethnologie erforscht das Leben der Völker, die Archäologie widmet sich der materiellen Hinterlassenschaft, die Anthropologie den natürlichen Voraussetzungen der Kultur, teils systematisch, teils historisch. Zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie steht die ­Kulturphilosophie. Alle Spielarten der Erforschung des Geisteslebens, auch die Überwissenschaft der Philosophie, sind zugleich mögliche Gegenstände der Historie. So heißt es bei Diodor: Die Historie ist die Prophetin der Wahrheit und die Mutterstadt (mētropolis) der gesamten Philosophie.74 7j. Der Anspruch der Geschichte auf Wissenschaftlichkeit ist nicht ohne weiteres einlösbar. Gewiß versucht sie, ein möglichst wahrheitsgetreues und umfassendes Bild von der Vergangenheit des Menschen zu gewinnen. Dabei erheben sich aber sieben Schwierigkeiten, die bewirken, daß alle Ergebnisse der Forschung nur bis zu ihrer Berichtigung gültig sind. Die erste Aporie betrifft die Verfügbarkeit von Quellen. Zahlreiche geschichtswürdige Ereignisse haben keine Spuren hinterlassen. Daher wissen wir nicht, wie die unvermeidlichen Lücken unseres Geschichtsbildes auszufüllen sind. Für die jüngere Vergangenheit liegt das Problem umgekehrt in der unübersehbaren Fülle von Dokumenten, deren Auswahl unumgänglich, aber oft anfechtbar ist. Das zweite Problem betrifft die Verläßlichkeit der Quellen. Berichte über Ereignisse, namentlich über Konflikte, sind oft bewußt oder unabsichtlich verfälscht, ohne daß wir dies durch andere Texte prüfen können. Das hinterläßt Unsicherheit. Bei zufällig erhaltenen Spuren eines Vorgangs erhebt sich die Frage, welche Schlüsse wir daraus ziehen dürfen. Was läßt sich nicht alles aus einer Brandschicht folgern? Ein drittes Dilemma betrifft den Aussagewert eines Befundes, seine Verallgemeinerungsfähigkeit. Handelt es sich um einen Einzelfall oder um ein Symptom für eine Gesamtsituation? Beweisen die frühen ägyptischen Funde in Kreta einen regelrechten Handel oder bloß gelegentliche Raubzüge? Verraten die Äußerungen Napoleons auf Sankt Helena etwas über seine wirklichen Pläne oder sind sie als nostal­ gische Träume nicht ernst zu nehmen? Hier geht es um Bewertung. Eine vierte Frage betrifft die Erklärung des Geschehens, den ursächlichen Zu­­ sammenhang zwischen Ereignissen. Inwieweit ist welches Spätere von welchem Früheren abhängig? Wie kommen wir vom post hoc zum propter hoc? Die dafür verwendeten Erfahrungsregeln sind selten frei von Ideologie oder einseitig gemachten Beobachtungen und darum nur bedingt verläßlich. Gelingen muß zudem ein Ver-

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I. Zum Begriff der Geschichte

stehen der Handelnden. Aber wie weit sind uns die Motive und Mentalitäten von Menschen früherer Zeiten zugänglich? Eine fünfte Schwierigkeit betrifft die sachgerechte Darstellung. Wie ist der Ausschnitt zu wählen? Wo sind die Akzente zu setzen? Wie stark darf vereinfacht, wie ausführlich muß berichtet werden? Dürfen wir Ereignisse von gestern in der Sprache von heute wiedergeben? Wie ist Genauigkeit gegen Faßlichkeit abzugrenzen? Welche Zustandsbeschreibungen müssen zum Verständnis des Geschehens eingeflochten werden? Wie läßt sich das vielfältige Nebeneinander der Abläufe in das eindimensionale Nacheinander auf den Druckzeilen verwandeln? Die sechste Unklarheit betrifft die Richtung des Geschehens. Gibt es langfristige Entwicklungen oder herrscht ein bloßes Hin und Her? Ist ein Sinn in all dem Treiben erkennbar und hat es Sinn, sich um die Erkenntnis des Treibens zu bemühen? Die siebente Dunkelstelle in dem ganzen Bild betrifft dann die unsichtbaren, aber gleichwohl wirksamen Triebkräfte im gesamten Geschichtsgeschehen. Mit dieser, wie schon mit der vorigen Aporie aber befinden wir uns bereits auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie.

Von der Ilias zur Psychopathologie – Das ist der Weg des Menschen Cioran

II. Dekadenz von Anbeginn a. Geschichtsüberlieferung und Geschichtsphilosophie haben psychologisch einen verschiedenen Ursprung. Die Geschichtsüberlieferung wurzelt im Stolz auf die Gegenwart und will deren große Taten an die Zukunft weitergeben. Die Geschichtsphilosophie dagegen erwächst aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit. Dieses äußert sich in einem pessimistischen Lebensgefühl, das in der griechischen Literatur von der archaischen bis zur hellenistischen Zeit vielfach belegt ist.1 Zeus erklärt bei Homer: „Wahrlich, kein Wesen ist elender als der Mensch, keines von allen, die auf der Erde sich regen und atmen.“2 Und Odysseus bestätigt mit fast den gleichen Worten: „Nichts ist so elend wie der Mensch.“3 Bei Theognis von Megara im 6. Jahrhundert v. Chr. heißt es, am besten für die Erdenbürger wäre es, nie geboren zu sein. Und wenn schon, dann so bald wie möglich zu sterben.4 Nach Herodot lehrt die Gottheit, es sei für den Menschen besser, tot zu sein als zu leben, denn das Glück weckt den Neid der Götter, wie das Schicksal des Polykrates bezeugt.5 Empedokles beklagte das jämmerliche Los der Menschen, und Sokrates befahl mit dem Schierlingsbecher in der Hand, dem Heilgott Asklepios einen Hahn zu opfern. War das kein Dank dafür, von dem Leben wie von einer Krankheit zu ge­nesen?6 b. Der personifizierte Pessimismus war Timon von Athen, der Menschenfeind. Er lebte zur Zeit des Perikles und wurde zum Muster eines Misanthropen stilisiert. Vom Undank seiner Freunde zutiefst enttäuscht, zog er sich in einen Turm bei Athen zurück und verfluchte seine Mitbürger. Nur den Alkibiades schätzte er. Gefragt warum? antwortete Timon: „Weil er Athen ins Unglück stürzen wird.“ Eines Tages bestieg er die Rednertribüne und verkündete, er besitze einen Feigenbaum, an dem sich schon mehrere Selbstmörder erhängt hätten. Leider müsse er diesen Baum fällen. Wer also von ihm noch Gebrauch machen wolle, der möge sich beeilen.7 Den Tod als die Krönung des Lebens pries im 3. Jahrhundert v. Chr. der Philosoph Hegesias von Kyrene, der erste Prediger des Nihilismus. Er erhielt von König Ptolemaios in Alexandria Redeverbot, weil er erfolgreich Selbstmord empfahl.8 Der hier zum Ausdruck kommende Weltschmerz mündete in eine Theorie der Dekadenz, die als Langzeitentwicklung gedacht ist.9 Das Unglück in der eigenen Lage wird Anlaß, einen Verfall von der Urzeit bis jetzt anzunehmen. Es ist aber ebenso ein Motiv, einen Aufstieg für die Zukunft zu erhoffen oder aber in allem Geschehen einen unbeständigen Kreislauf zu erblicken.

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II. Dekadenz von Anbeginn

c. Das Dekadenzbewußtsein ist die früheste nachweisbare „Geschichtsphilosophie“. Die von Horaz verspotteten laudatores temporis acti lassen sich bis in die Anfänge unserer Geschichtsüberlieferung zurückverfolgen. In der Ilias vergleicht Nestor die gegenwärtigen Helden mit den so viel größeren der früheren Zeit, und auch Odysseus wagt nicht, sich neben Herakles zu stellen. Athena in der Gestalt Mentors erklärt, die Söhne taugten gewöhnlich weniger als die Väter, und Homer selbst rühmt die Stärke der Trojakämpfer gegenüber seinen schwächeren Zeitgenossen.10 Somit geht es in Stufen abwärts: von den frühen Heroen zu den Trojakämpfern und von diesen zu Homer. Drei Ausdrucksformen dieses Gefühls dominieren: Zum ersten begegnen uns Mythen, die zur Veranschaulichung der Misere des Menschen dienen; zum zweiten gibt es Erfahrungsregeln, die eine modellhaft-abstrakte Erklärung für den Niedergang bieten; und zum dritten eignen sich Metaphern dazu, Parallelen zwischen dem Kulturverfall und dem organischen Geschehen in der Natur aufzuzeigen.

1. Sündenfälle 1a. Die frühesten Antworten auf die Frage nach dem Grund für die Nöte der Gegenwart finden sich in der Erzählung von Paradies und Sündenfall in der Genesis, im griechischen Prometheus-Mythos und in der Lehre von den Metall-Zeitaltern bei Hesiod. Die Aufzeichnung dieser Überlieferungen fällt ins 8. Jahrhundert v. Chr. Ihrer literarischen Gattung nach gehören sie in den Mythos. Wir dürfen sie als Berichte nicht wörtlich nehmen, sie wollen nicht wirklich Geschehenes überliefern, sondern Vorstellungen von solchem Geschehen in Bilder bringen. Schon antike Denker wußten, daß der Mythos die Ausdrucksform eines archaischen Denkens ist, das die abstrakte Begrifflichkeit noch nicht beherrscht – so Strabon über den griechischen, und Synesios über den biblischen Mythos.11 1b. Wenden wir uns zunächst der Genesis zu: Gott formt den Menschen aus einem Erdklumpen und setzt ihn in den Garten in Eden. Dort wächst der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von ihm solle der Mensch nicht essen, sonst müsse er am selben Tage noch sterben. Gott schafft die Frau aus der Rippe des Mannes als seine Gehilfin. Die Schlange redet der Frau ein, die Früchte führten keineswegs zum Tode, sondern vielmehr zur Erkenntnis. Die Frau ißt und gibt auch dem Mann, da werden ihre Augen aufgetan, beide erkennen, daß sie so nackt wie die Tiere sind, und nähen sich Schurze aus Feigenblättern.12 Demnach war wohl auch die Frucht eine Feige. Das zeigen spätantike Sarkophagreliefs. Im 5. Jahrhundert wurde in Gallien aus der Feige ein Apfel.13 Am Abend stellt Gott die Sünder zur Rede und bestraft sie: die Frau durch die Schmerzen des Gebärens, den Mann durch die Mühsal der Arbeit. Gott vertreibt beide aus dem Garten und verflucht den Acker, daß er von sich aus nur Disteln und Dornen trägt. Gott verkündet den Menschen die Sterblichkeit. Adam wohnt Eva bei, sie gebiert Kain und Abel, jener wird ein Ackerbauer, dieser ein Hirte.14



1. Sündenfälle

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1c. Eine geschichtsphilosophische Auslegung dieses Mythos – bei Schopenhauer das hors d’œuvre der Geschichte – hat Kant 1786 in seiner Schrift über den ›mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte‹ vorgenommen, und Schiller hat sich 1790 dieser Interpretation angeschlossen.15 Kant versteht die Paradiesvertreibung als eine Darstellung des Übergangs vom Naturzustand in den Kulturzustand. Anfangs lebt der Mensch in der sorglosen Unschuld der Natur. Im Kreise der Tiere gewinnt er seinen Lebensunterhalt als vegetarischer Sammler. Hierin kann durchaus eine alte Erinnerung an die Wildbeuter-Zeit verborgen sein. Der Autor des Mythos verbindet mit diesem Zustand die Vorstellung eines ungetrübten Glücks: der Mensch dachte nicht an die Zukunft und kannte weder Nahrungssorgen noch Todesfurcht. Der Glaube an das Glück der Urzeit taucht in säkularisierter Form später oft wieder auf, nicht zuletzt bei Rousseau und den von ihm abhängigen Autoren. 1d. Indem das Leben im urtümlichen Naturzustand als paradiesisch vorgestellt wird, erscheint der Austritt bedauerlich und wird erklärt als Sündenfall. Das Glück endet mit einem Ungehorsam gegen Gott. Mit dem Griff nach der verbotenen Frucht tritt der Mensch aus der Unterordnung unter Gottes Willen, aus dem Kreise der Natur heraus und handelt als freies, selbständiges Wesen. Durch die Tat des Bösen gewinnt er die Erkenntnis des Bösen. Kant sah in der Stimme Gottes das Symbol für den Instinkt, von dem sich der Mensch in dieser Situation gelöst hat. Indem er sich vor Gott versteckt, bezeugt er seinen Schrecken vor der ungewohnten Selbständigkeit. Analog dazu könnten wir in der Stimme der Schlange, d. h. des Teufels, die Stimme der Vernunft erblicken, die nun dem Instinkt gegenübertritt. Die Stimme Gottes, der Instinkt, befiehlt und droht; die Stimme des Teufels, die Vernunft, argumentiert und verspricht. Es heißt ja, die Schlange sei das listigste (phronimōtatos) der Tiere auf dem Felde, sie redet mit Gründen. Ihre Voraussage war richtig, daß die Menschen durch die Erkenntnis des Guten und Bösen sein würden „wie Gott“. Dies gibt Gott selbst zu: „Der Mensch ist geworden wie unsereiner“. Aus dem Stande der Erkenntnis gibt es dann keinen Weg zurück zum naiven Instinkt. Davor steht der Cherub mit dem Flammenschwert. Julian Apostata erklärte, die Schlange im Paradies habe den Menschen einen guten Dienst geleistet.16 1e. Die erste Handlung im neuen Stande der Erkenntnis war der Griff nach dem Feigenblatt. Das deutet Kant als Beginn der Technik, mit der wir die Natur in Dienst nehmen. Das Motiv hierfür ist jedoch nicht die Kälte, sondern die Scham. Der Mensch erkennt seine Sexualität und versucht, diesen Trieb zu bändigen. So beginnt die Herrschaft des Menschen über die Natur mit der Beherrschung der eigenen Natur. Gott selbst, heißt es, machte dem Menschen Röcke von Fellen und versetzte ihn damit in jenen bis heute in der jüdisch-christlichen Tradition dominanten Bewußtseinsstand, daß der Pelz des Schafes nicht für das Tier, sondern für den Menschen geschaffen sei. Auf die Vertreibung aus dem Paradies folgt die Entwicklung der Kultur. Adam gewinnt sein Brot im Schweiße seines Angesichts. Die

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II. Dekadenz von Anbeginn

Menschen vermehren sich und machen sich die Erde untertan, so wie Gott es ihnen befahl.17 Keinem Befehl Gottes wurde je so gründlich Folge geleistet wie diesem. Wir machen uns die Erde untertan, und man sieht, was dabei herauskommt. 1f. Der Mythos der Genesis zeigt, wie der Mensch als Naturwesen von Gott geschaffen wurde, als Kulturwesen jedoch sein eigenes Geschöpf ist. Gott hat dem Menschen die Sprache verliehen, aber schon die Benennung der Tiere überläßt er ihm. Der Fortschritt vollzieht sich über Versündigung. Denn der vorausgegangene Sündenfall wiederholt sich im Brudermord des Kain an Abel. Abel als Hirt verkörpert eine ältere, Kain als Ackerbauer eine jüngere Kulturstufe. der „Fortschritt“ fordert seine Opfer. Eva beging ein Vergehen, Kain begeht ein Verbrechen. Kain baut die erste Stadt, von ihm stammen die Musiker und Metallhandwerker.18 Kain wird somit eine Art Kulturheros. 1g. Nach der Vertreibung aus dem Paradies und der Verfluchung Kains wiederholt sich die Folge von Sünde und Strafe in der Genesis in der Sage von der Sintflut und in der vom Turmbau zu Babel. Beide Mythen verbinden eine göttliche Vergeltung für menschliche Verfehlung mit einer Erklärung für die Vielfalt der Völker. Der Sintflutsage folgt der Bericht über die Abstammung aller Menschen von Noahs Söhnen Sem, Ham und Japhet, die sog. Völkertafel.19 Der Turmbau zu Babel führt zur Aufgliederung der Völker in Sprachen. Im sündlosen Urzustand zuvor bildete die Menschheit noch ein ungeteiltes Ganzes. Das könnte zutreffen: Man möchte annehmen, daß wie die Lock- und Warnrufe bestimmter Tierarten in allen Ländern die gleichen sind, so auch die frühesten Laute, sagen wir: des Neandertalers in Mesopotamien und in der Provence Gleiches bedeuten, ehe sich gruppenbezogene Sprachen herausbildeten. Insofern bewahrt auch dieser Mythos Erinnerung.

2. Das Goldene Zeitalter 2a. Ganz ähnliche Aussagen wie im jüdischen finden wir im griechischen Mythos. Der Sintflutsage entspricht die Erzählung von Deukalion und Pyrrha; dem Sturz der rebellischen Engel durch Jahwe der Gigantenkampf; der verhinderten Opferung Isaaks die der Iphigenie in Aulis, dem erbrachten Opfer durch Jephta das durch Idomeneus. Gab es Kontakte über die Sprachgrenze? Die Parallelen zur Vertreibung aus dem Paradies bietet Hesiod von Askra in der Zeit um 700.20 Auch hier wird am Anfang der Geschichte ein Zeitalter angenommen, in dem die Menschen ohne Sorgen und Nahrungsprobleme in Eintracht mit den Göttern das Leben genossen. Diese Situation änderte sich, als Prometheus, „der vorher Kluge“, dem Göttervater das Feuer stahl und es den Menschen brachte. Als Strafe dafür verbarg Zeus die Nahrung unter der Erde, d. h. er zwang die Menschen zur Arbeit. Sodann schuf er eine trügerische Jungfrau, die von allen Göttern mit Liebreiz beschenkte Pandora. Diese brachte der törichte Bruder des Prometheus, Epimetheus, „der hinterher Kluge“, zu den Menschen. Hier öffnete Pandora ein Tonfaß (pithos), aus dem



2. Das Goldene Zeitalter

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Myriaden von Übeln sich auf die Menschheit ergossen. Seitdem schwirren sie in der Welt herum, allein die Hoffnung blieb darin. 2b. Die Grundvorstellung dieses Mythos ist dieselbe wie in der Genesis. Beide Male haben wir es zu tun mit einem dummen Mann (Adam und Epimetheus), mit einer bösen Frau (Eva und Pandora), einem klugen Dämon (Satan und Prometheus) und einem strafenden Gott (Jahwe und Zeus). Beide Male maßen sich die Menschen göttliche Rechte an und werden bestraft. Im Alten Testament ist das Kriterium der Gottähnlichkeit die Erkenntnis des Guten und Bösen, die dann zu technischer Betätigung führte; bei Hesiod ist es die Verfügung über das Feuer, das dem blitzeschleudernden Zeus vorbehalten war. Sowohl bei den Juden als auch bei den Griechen spielt in diesem Prozeß ein dämonischer Mittler eine Rolle. Die Schlange ist nach biblischer Vorstellung eine Inkarnation des Teufels21. „Satan“ bedeutet „Widersacher, Aufrührer“, er ist ein von Gott abgefallener Engel. Prometheus gehört zu den Titanen, die im Gigantenkampf von den olympischen Göttern überwunden werden mußten. Die Schlange und Prometheus sind somit widergöttliche Dämonen. Was beide auszeichnet, ist ihre Klugheit. 2d. Das Feuer als Attribut des Prometheus ist auch bei den Juden mit dem Teufel und der Hölle verbunden. Das Bindeglied liegt im Brandopfer. Im Tal Ben Hinnom bei Jerusalem, später Gehenna genannt, wurden in der Frühzeit die Erstgeborenen dem Moloch im Feuer geopfert. Bei Jesaja wurde daraus die Hölle, wo die Sünder nach ihrem Tode braten.22 Prometheus lehrte nach Hesiod23 die Menschen das Brandopfer, griechisch: holokauston. Auch dieser Mythos bewahrt eine Erinnerung: Es gab eine Zeit, da die Menschen das Feuer nicht kannten. 2e. Schließlich verbindet Satan und Prometheus das weitere Schicksal. Im Neuen Testament heißt es, daß am Ende der Zeit der Satan in Gestalt des Antichrist losgelassen werde,24 der offenbar zuvor gebunden war, so wie Zeus – nach Aischylos – den Prometheus an den Kaukasus schmiedete, wo ihn Herakles befreien wird, nachdem er Zeus das Ende seiner Herrschaft verkündet hat. 2f. In der germanischen Mythologie der ›Edda‹ finden sich ebenfalls weit­ reichende Parallelen hierzu: das Böse verkörpert Loki, der Gott des Feuers; sein Name bedeutet „Lohe“. Lokis Begleiter, der Fenriswolf, wird von den Göttern gefesselt, reißt sich am Ende der Tage aber wieder los. Daß Eva und Pandora, die schon Aventinus († 1534) in den ›bayrischen Annalen‹ identifizierte, als StammMütter der Frauen das Übel in die Welt gebracht haben, läßt vermuten, daß diese Mythen von unglücklich verheirateten Männern ersonnen und bewahrt wurden. Bestätigt – wenn man so will – wird dies durch den spätantiken Grammatiker Palladas, der die schöne Helena verantwortlich machte für den Krieg um Troja, die schöne Penelope für die Irrfahrten des Odysseus und sein eigenes Weib für sein persönliches Unglück.25 2g. Sündenfall und Prometheusmythos geben eine Antwort auf die Frage nach der elenden Gegenwart in Form eines Zweistufenmodells: die erste, frühere Phase

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II. Dekadenz von Anbeginn

schildert den Menschen im glücklichen Naturzustand, die zweite, gegenwärtige Phase beschreibt den Zwiespalt zwischen dem intellektuellen bzw. technischen Fortschritt und dem Rückschritt im Wohlbefinden. Dieses zweiphasige Modell ist von Hesiod weiter differenziert worden im Mythos der Metallzeitalter: Fünf Perioden lösen einander ab.26 2h. „Golden“ haben zuerst das Geschlecht hinfälliger Menschen unsterbliche Götter geschaffen, die himmlische Häuser bewohnen. Das war zu Kronos´ Zeit, als er noch König im Himmel war. Und die Menschen lebten wie Götter und hatten nicht Kummer im Herzen, fern von Mühen und frei von Not, nicht drückte das schlimme Alter auf sie, sondern allzeit behend an Beinen und Armen lebten sie freudig in Festen, weitab von allen Übeln; sie starben, als käme ein Schlaf über sie. Und alle die Güter waren ihr Teil; Frucht brachte der nahrungspendende Boden willig von selbst, vielfältig und reich. Sie schufen in Ruhe gerne und froh ihre Werke, gesegnet mit Gütern in Fülle. Doch als das Geschick dieses Geschlecht dann mit Dunkel umfing, wurden sie Geister genannt, Segenspender; sie haben dies Königsvorrecht zu eigen. 2i. Darauf schufen die Götter als zweites Geschlecht das silberne als weit geringeres, dem aus Gold an Gestalt nicht gleich und nicht an Gedanken. Sondern es wuchsen die Kinder einhundert Jahre und spielten töricht herum bei der Mutter, der sorglichen, drinnen im Hause; dann aber gereift und zur Jugendfülle gekommen, währte nur kurz noch die Zeit ihres Lebens, eigene Torheit brachte das Weh; denn sie hatten nicht Kraft, maßlose Gewalttat untereinander zu bannen, und ewige Götter verehren mochten sie nicht. Diese hat schließlich Zeus verborgen im Grimm. Aber nachdem nun auch dieses Geschlecht die Erde verborgen, nennt man sie mit Namen „die sterblichen Seligen drunten“. 2j. Zeus erschuf darauf ein drittes Geschlecht hinfälliger Menschen aus Erz, dem silbernen nirgendwo gleichend, Eschen entstammt, so furchtbar wie stark; die trieben des Kriegsgottes Geschäft, und Kornfrucht vom Felde aßen sie nicht. Stahlhart war ihr Herz, rüde Gesellen, gewaltig an Kraft. Ehern waren bei ihnen die Waffen, ehern die Häuser, ehern ihr Ackergerät; noch gab es kein schwärzliches Eisen. Und dann gingen auch die, von den eigenen Armen bezwungen, fort zum Hades hinunter. 2k. Aber nachdem auch dieses Geschlecht die Erde empfangen, hat noch ein viertes Zeus der Kronide geschaffen, gerechter und besser geartet, das der Heroen, ein göttliches Geschlecht, man nennt sie Halbgötter. Nun hat auch diese der böse Krieg teils vorm siebentorigen Theben hingemäht, teils vor Troja, der haarschönen Helena wegen. Dort umhüllte die einen der Tod, andern verlieh Zeus fern von den Menschen Nahrung und Wohnstatt. Sie haben ein Herz ohne Sorgen im Busen, dort auf den Inseln der Seligen, ein seliges Heroengeschlecht, dem der Acker dreimal im Jahre süß wie Honig die Früchte darbringt. 2l. Müßte ich selber doch nicht danach hier unter den fünften Menschen sein, nein, wär ich schon tot oder lebte erst später! Denn von Eisen ist jetzt das Geschlecht.



2. Das Goldene Zeitalter

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Und niemals bei Tage können sie ruhn von Mühsal und Weh, und niemals zur Nachtzeit sind sie verschont, und die Götter verleihn ihnen quälende Sorgen. Dennoch wird auch für sie zu den Übeln Gutes gemischt. Zeus aber tilgt einst dieses Geschlecht hinfälliger Menschen, wenn schon bei der Geburt ihr Haar ergraut ist. Dann wird fremd sein der Vater den Kindern, die Kinder dem Vater, nicht wird lieb sein der Gast dem Wirt, der Freund seinem Freunde, nichts ist der eigene Bruder. Bald mißachten sie dann ihre altersgebeugten Erzeuger und scheuen nicht die Götter; geben dann auch nicht ihren Eltern zurück den Entgelt für die Aufzucht. Eides­ treue wird nirgends gedankt, Gerechtigkeit nie, auch Redlichkeit nicht; wer Schlimmes vollbracht und Gewalttat verübt hat, der ist der Mann, den man ehrt. Das Recht sind die Fäuste. Und der Schlechte gewinnt und schädigt den Beßren, deckt mit krummem Gerede den Trug und beschwörts mit dem Meineid. Scheelsucht wird allerorts die elenden Menschen begleiten. Dann gehen Aidos und Nemesis (Ehrfurcht und rechtes Vergelten) fort zum Olymp, hinweg von den Menschen. Doch bleiben die bitteren Schmerzen hier – und nirgends ist Rettung im Unheil“.27 2m. In diesem Mythos entwirft Hesiod ein fünfgliedriges Verlaufsschema. Als Bezeichnung der einzelnen Perioden gebraucht er den Begriff für Generation, Geschlecht (genea), der sich auf die Menschen bezieht, er spricht noch nicht abstrakt von „Zeitaltern“. Diese Generationen sind gekennzeichnet durch Metalle: Gold, Silber, Erz (chalkeion – ehern, bronzen) und Eisen. Der Gedanke, die Qualität einer Zeit durch den Wert eines Metalls zu versinnbildlichen, ist orientalisch. Er begegnet uns im Alten Testament, im Koloß auf tönernen Füßen im Buche Daniel und in der Zarathustra-Tradition.28 Für die Abstufung von Gold zum Silber zum Gebrauchsmetall (Bronze, Eisen) wird der Marktwert ausschlaggebend gewesen sein. Die Reihung von Erz zum Eisen beruht sodann auf einer historischen Reminiszenz: Hesiod wußte, daß Bronze früher im Gebrauch war als Eisen, das in Griechenland erst nach 1000 bekannt wurde. In der Ilias ist von Eisen selten die Rede, in der jüngeren Odyssee öfter. Entsprechend reden wir – seit dem 19. Jahrhundert – auch von Bronzezeit und Eisenzeit. Greifbare historische Überlieferung liegt auch darin, daß Hesiod zwischen das eherne und das eiserne Geschlecht systemwidrig das unmetallische „heroische“ Geschlecht eingeschoben hat. Offenbar wollte er das Wissen von den Trojakämpfern noch anbringen, scheute sich aber, diese Helden mit dem ehernen Geschlecht gleichzusetzen. 2n. Hesiod benutzt den Mythos als Ausdrucksform für sein Zeitgefühl. Er beschreibt einen Abstieg in Stufen, auf deren letzter und tiefster er selber steht. Im 7. Jahrhundert vor Christus erlebte Hellas den Übergang von einer weitgehend ländlichen in eine überwiegend städtische Lebensform, und vielleicht gehörte Hesiod zu den Verlierern und brachte seine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck, die sein Mißgeschick als nicht bloß privates erklärt. Die Ausblicke sind düster, die Menschen benutzen ihre Intelligenz zu bösen Zwecken, und eines Tages wird auch das jetzige Geschlecht der verdiente Untergang treffen, wenn sie sich nicht bessern. Eduard

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II. Dekadenz von Anbeginn

Meyer verglich Hesiod mit den israelischen Propheten, die moralische Appelle an ihre Landsleute errichteten und zum Gehorsam gegen Jahwes Gebote aufriefen.29 2o. Eine solche Ermahnung hat natürlich nur Sinn, wenn die Dekadenz doch nicht zwangsläufig ist. Wie alle antiken Autoren rechnet Hesiod in der Moral mit einer Instanz, die Verfall abwenden kann. Von hier aus gewinnt sein Gegenwartsbild einen positiven Zug. Hesiod zeichnet die Arbeit nicht nur als Last, sondern auch als Erfüllung eines Lebens. Die Landwirtschaft trägt positive Züge, der Streit (eris) zwischen den Menschen hat seine gute Seite. Hesiod unterscheidet zwischen der bösen Eris, dem gehässigen Zank, und der guten Eris, dem edlen Wettstreit, der Konkurrenz. Dieses agonale Motiv im Wunsche, voranzukommen, muß jedoch gezügelt werden durch Dike, durch das Sittengesetz. Nur dieses kann verhindern, daß die Menschen sich gegenseitig auffressen wie Tiere. Hesiod glaubt, daß die Götter den Gerechten schützen und den Betrüger bestrafen. Als Ziel formuliert er nicht das äußere Wohlergehen, sondern Haltung und Leistung, die Tugend, vor welche die Götter den Schweiß gesetzt hätten.30 2p. Die Idee vom Goldenen Zeitalter war in der Antike verbreitet. Einstens soll Kronos-Saturn, der Vater von Zeus-Juppiter, regiert haben. Empedokles um 440  v. Chr. jedoch ließ Aphrodite-Venus herrschen, während Aratos in seinem Gedicht über den Nachthimmel aus der Zeit um 270 v. Chr. das Sternbild der Jungfrau mit der von Hesiod personifizierten Dike, der Gerechtigkeit gleichsetzt, die zu den Göttern entfloh31. In der Zeit des Augustus schilderten die Dichter Tibull und Ovid die aurea aetas: Golden war das Zeitalter, als die Menschen noch kein Gold kannten, ehe die auri sacra fames, der „verfluchte Hunger nach Gold“ die Menschen unzufrieden und gewalttätig machte. In jener Zeit lebten die Menschen in Frieden untereinander und in Freundschaft mit den Göttern. Es herrschte Freiheit und Gleichheit, man lebte im Einklang mit der Natur, die Erde spendete ihre Gaben ohne menschliches Mühen in ewigem Frühling; die Löwen fraßen Stroh und lagerten neben den Lämmern. Ovid beschreibt, wie über das silberne und eherne Zeitalter diese Vorzüge verloren gingen, bis zuletzt das eiserne Geschlecht mit allen Übeln der Gegenwart aufkam. In der Zeit des Augustus schilderte der Astrologe Manilius die Gebrechen der Zeit, die sittlichen und sozialen Mißstände, die der Kundige aus der Stellung der Sterne abzulesen vermochte. Unter Marc Aurel versetzte der Reiseführer Pausanias das glückliche, götternahe Leben des goldenen Zeitalters ins urzeitliche Arkadien, die ideale Landschaft der hellenistischen Dichter, und kontrastierte es mit der Sittenlosigkeit seiner Gegenwart.32

3. Asiatische Urzeitmythen 3a. Dekadenzvorstellungen beruhen auf Erinnerungen zumeist bejahrter Männer an die „gute alte Zeit“, denken wir an den greisen Nestor bei Homer.33 Ausdrucksformen sind vielfach archetypische Denkmodelle, das zeigt sich in der weiten Ver-



3. Asiatische Urzeitmythen

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breitung ähnlicher Motive, doch ist oft nicht zu entscheiden, ob eine Ideenübertragung oder eine Parallelerfindung vorliegt. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß wir zu der jüdisch-griechischen Tradition von Niedergangskonzepten Entsprechungen in der orientalischen Überlieferung vorfinden. 3b. Zu Hesiods Mythos vom goldenen Zeitalter und der Vision Daniels von dem Koloß auf tönernen Füßen (s. u!) stellt sich eine persische Variante: Zarathustras Metallbaum. Das um 600 n. Chr. aufgezeichnete, aber sehr viel älteres Gedankengut enthaltende Bahman Yasht erzählt, wie der Himmelsgott dem Propheten die Zukunft des Perserreiches im Traum offenbart. Zarathustra sieht einen Baum mit vier Ästen. Der goldene bedeutet die Zeit unter Vishtasp, der die reine Lehre annehmen werde. Es ist der griechische Hystaspes, der Vater des Darius. Der silberne Ast verweist auf Ardashir, den Gründer der Sassanidendynastie und Erneuerer des Zoroastrismus. Der Ast aus Stahl sodann symbolisiert die Herrschaft von Chosrau Anushirvan, und der aus verunreinigtem Eisen bestehende vierte Ast meint die folgende Herrschaft der „Dämonen mit zerteiltem Haar“, vielleicht die muslimischen Araber. Der Autor dieser Fassung lebte offenbar kurz vor dem Ende des persischen Weltreiches, als, wie er meinte, die Tugend dahingeschwunden war die die Menschen immer kleiner auf die Welt kamen. Eine andere Vision zeigt einen Baum mit sieben Ästen, die Stufen des Niedergangs durch Metalle von abnehmendem Wert verbildlichend34. 3c. Die Lehre von der glücklichen Urzeit gibt es ebenso im alten Indien. Strabon überliefert, Alexander sei auf dem Rückweg aus Indien von dem Brahmanen Kalanos begleitet worden, und dieser habe erzählt: „In alten Zeiten war die Welt so voller Gersten- und Weizenmehl wie jetzt voller Staub. Die Quellen gaben Wasser, Milch und Honig, Wein und Öl. Aber Völlerei und Üppigkeit machten die Menschen überheblich. Da zürnte Zeus und verhängte über sie ein Leben voller Arbeit. Darauf stellte sich mit Einsicht und Tugend die Wohlfahrt wieder her. Aber der Mensch ist wieder nahe an Überfluß und Hybris, und der Verlust aller Dinge steht bevor“. Hier wird ein Urglück mit einem Wechsel von Schuld und Strafe verbunden. Die indische Idee vom Goldenen Zeitalter bezeugt auch Al Biruni.35 3d. Ebenfalls aus der Alexanderzeit stammt ein chinesischer Text von dem taoistischen Philosophen Dschuang Dsi. Im ›Wahren Buch vom südlichen Blütenland‹36 beschreibt er die „Stufen des Verfalls“: „Die Männer des höchsten Altertums lebten inmitten des Unbewußten. Sie waren eins mit ihrem Geschlecht und erreichten Ruhe und Vergessenheit. Zu jener Zeit waren Licht und Dunkel in stillem Einklang; Geister und Götter störten nicht; die Jahreszeiten hatten ihre Ordnung; alle Wesen blieben ohne Verletzung, und die Schar der Lebenden kannte keinen vorzeitigen Tod; die Menschen hatten wohl Erkenntnis, aber die gebrauchten sie nicht: das war die höchste Einheit. 3e. Zu jener Zeit handelte man nicht, sondern ließ stets der Freiheit ihren Lauf. Als dann das leben verfiel, kamen Feuerspender (Sui Jen) und Brütender Atem

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II. Dekadenz von Anbeginn

(Fu Hi) zur Herrschaft über die Welt. Darum ging wohl alles seinen Gang, aber die Einheit war nicht mehr vorhanden. Als dann das leben noch weiter verfiel, da kamen der göttliche Landmann (Schen Nung) und der Herr der gelben Erde (Huang Di) zur Herrschaft über die Welt. Darum herrschte wohl Friede, aber die Dinge gingen nicht mehr ihren Lauf. 3f. Als dann das leben noch weiter verfiel, da kamen Yau und Schun zur Herrschaft über die Welt. Sie brachten die Strömung des Ordnens und Besserns in Lauf, befleckten die Reinheit, zerstreuten die Einheit, verließen den sinn und stellten statt seiner das Gute auf, gefährdeten das leben und errichteten statt seiner die Tugenden. Von da ab ging die Natur verloren, und man folgte dem Verstand. Verstand tauschte mit Verstand die Kenntnisse aus, und doch war man nicht mehr fähig, der Welt eine feste Ordnung vorzuschreiben. Darauf fügte man Formenschönheit hinzu und häufte die Kenntnisse. Aber die Formenschönheit zerstörte den Inhalt, und Kenntnisse ertränkten den Verstand. Da wurden die Leute vollends betört und verwirrt, und kein Weg führte mehr zurück zur wahren Natur und zum Urzustand“. Aus dieser Geschichtsphilosophie zieht Dschuang Dsi jedoch ganz andere Folgerungen als Hesiod. Während der Grieche dazu aufrief, das Verhalten und damit die Verhältnisse zu ändern, zieht sich der Chinese in die Kontemplation zurück.

4. Das klassische Dekadenzmodell 4a. Die Frage nach der Erklärung für die Misere der Gegenwart verlor nichts an Dringlichkeit, seitdem das mythische Denken einem stärker rationalen Zugriff weichen mußte. Das Problem blieb trotz allem Fortschritt der Vernunft unvermindert akut – nur ließ es sich nun schärfer fassen und mit Hilfe von Erfahrungen besser lösen, als dies der Mythos zu tun vermochte. Neben den anschaulichen Mythos trat das formale Modell, die Ereignisfolgeregel, der Erfahrungssatz. 4b. Schon Hesiod hat bei der Beschreibung des Silbernen Zeitalters eine Verbindung zwischen sorglosem Wohlergehen und dadurch verschuldetem Untergang angedeutet. Das silberne Geschlecht lebte töricht und leichtsinnig, vergaß die Ehrfurcht vor den Göttern und wurde deswegen gestürzt. Die Hybris, die Überheblichkeit, ist die Grundlage des Vergeltungsgedankens, wie er auch im Alten Testament herrscht: „Da aber Israel fett ward, ward es übermütig.... hat den Gott fahren lassen, der es gemacht hat ... Sie haben den Teufeln geopfert ... Und da es der Herr sah, ward er zornig und sprach: Ich will alles Unglück über sie häufen“, so im ›Liede Moses‹. Verallgemeinert wird die Ansicht dann in den ›Sprüchen Salomonis‹: „Wenn einer zugrunde gehen soll, wird sein Herz zuvor stolz.“37 Hier spielt der Gedanke mit, daß Gott den Untergang als Strafe verhänge. Diese religiöse Vorstellung ließ sich durch eine Erfahrung ersetzen: ein machtloses, einfaches Leben führt zu Genügsamkeit und Redlichkeit, ein Leben in hoher Stellung aber macht unersättlich und bedenkenlos.38



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4c. Unter den griechischen Philosophen wird diese Dekadenztheorie Pythagoras zugeschrieben: „Die Städte erleben zuerst den Überfluß (tryphē), dann den Überdruß (koros), darauf den Übermut (hybris) und zuletzt den Untergang (olethros)“. Den Gedanken finden wir zuvor bei Theognis und Solon, hernach bei Heraklit. Er wünschte seinen Landsleuten aus Ephesos: „Möge euer Reichtum lange erhalten bleiben, damit eure Schlechtigkeit ans Licht kommt“ – ein auf Erfahrung gestütztes Modell von Aufstieg und Verfall, das für antike Geschichtsdenker einflußreich geworden ist.39 4d. Der älteste Historiker, der dieses Modell benutzt, ist Herodot. Er verbindet bei Persern und Spartanern die genügsame Lebensweise mit militärischer Tüchtigkeit, die den politischen Erfolg ermöglicht. Umgekehrt läßt er Kroisos dem Kyros den Rat erteilen, wie dieser die eben unterworfenen Lyder im Zaume halten könne: „Befiehl ihnen, keine Waffen, aber warme Kleider zu tragen, laß sie Musik machen und Handel treiben, und du wirst sehen, wie sie aus Männern zu Weibern werden und sich niemals mehr gegen dich erheben.“40 Schon Xenophanes monierte das Luxusleben der Lyder, von denen seine Landsleute in Kolophon sich haben anstecken lassen. Musterbeispiel für Sittenverfall und Untergang durch Üppigkeit war die Stadt Sybaris in Unteritalien. Die Sybariten hatten ihren Pferden beigebracht, nach Flötenmusik zu tanzen. In der Schlacht gegen die Krotoniaten ließen diese ihre Flötenbläser aufspielen, worauf die Pferde von Sybaris auf die Hinterbeine stiegen und die Reiter abwarfen, so daß die Schlacht verloren ging und die Stadt zerstört wurde – so schreibt Aristoteles.41 4e. Die degenerierende Wirkung des Luxus ist als allgemeines Gesetz von Platon aufgestellt worden. Das Leben in der tryphē ruiniert die politischen Führer und damit die Systeme. Dabei wird das Gebot des rechten Maßes verletzt zum Schaden für das Ganze. Platon veanschaulicht dies am Niedergang des Perserreiches: die Verweichlichung der Prinzen im Genuß des Hoflebens sei die Ursache für ihre Untüchtigkeit, wie Kambyses, Xerxes und die Nachfolger bewiesen. Auf der anderen Seite seien die Griechen solange tüchtig und einträchtig gewesen, wie sie die Perser fürchten mußten. Die äußere Furcht erzeugt die Zucht im Inneren. Als Höhepunkt der griechischen Geschichte betrachtet Platon die Perserkriege. Dann jedoch habe der Abstieg eingesetzt. Denn die großen Staatsmänner Miltiades, Themistokles, Kimon und insbesondere Perikles hätten mit ihrem Machtstreben den Staat aufgebläht, das Volk begehrlich gemacht und damit in den Ruin geführt.42 Parallel zu diesem politisch-moralischen Niedergang beschreibt Platon die Verkarstung der Landschaft. Von den einst bewaldeten Höhen ist nur noch der Felsboden da, der den Regen nicht hält, wie die Knochen eines ausgemergelten Kranken.43 4f. Auf Athen ist das Dekadenzmodell ebenfalls von Xenophon angewandt worden. Er überliefert ein Gespräch zwischen Sokrates und dem jüngeren Perikles, in dem es um die Gründe für den Niedergang Athens geht. Sokrates erklärt: Das Gefühl der Überlegenheit, der Stolz auf die Erfolge der Bürger habe ihren Leicht-

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sinn ausgelöst, die Sucht nach Reichtum die Prozeßleidenschaft angestachelt und die politisch-militärische Disziplin untergraben, was dann in die Niederlage des Peloponnesischen Krieges geführt habe.44 4g. Die ausführlichste Benutzung des Dekadenzmodells finden wir dann bei Isokrates, der in der Zeit zwischen dem Peloponnesischen Krieg und Alexander den Niedergang Athens erlebte. Aus der Zeit des Krieges zwischen Athen und seinen abtrünnigen Bündnern 357 bis 355 v. Chr. stammen zwei Reden, der ›Areopagitikos‹ und die Friedensrede, in denen sich Isokrates gegen die Versuchung wandte, die Herrlichkeit des Attischen Reiches aus der Perikleszeit wiederherstellen zu wollen. Im ›Areopagitikos‹ heißt es: „Wir scheinen stark – also glaubt ihr, brauchen wir uns nicht zu sorgen ! Aber gerade dieses trügerische Gefühl der Sicherheit führt zu einer schlechten Politik. Nichts erhalten die Menschen ungemischt: Reichtum und Herrschaft erzeugen Unbesonnenheit und Zuchtlosigkeit; Armut und Einfachheit hingegen Besonnenheit und Maß. Wohlergehen schlägt um in Unglück und umgekehrt: was soll man wünschen? Endlos viele Beispiele gibt es dafür: Athen und Sparta vor anderen: nach den Perserkriegen waren wir stark. Als wir oben waren, haben wir den Peloponnesischen Krieg begonnen. Sparta stieg aufgrund seiner Disziplin empor und fiel ab, nachdem es die Vorherrschaft gewonnen hatte. Daraus müssen wir lernen!“45 4h. Den drohenden Niedergang demonstriert Isokrates in seiner Friedensrede an der Geschichte Athens zwischen den Perserkriegen als dem Höhepunkt und der Niederlage von 404 als dem Tiefpunkt. Der Abstieg habe mit der Gründung des Seereiches 477 eingesetzt und sei bereits in den Vorgängen von 460 sichtbar geworden. Gegen alles Recht hätten die Athener ihre ursprünglichen Bundesgenossen ausgeraubt und versklavt, um einer uferlosen Expansion willen einen großen Krieg angezettelt und so zuerst ihr Ansehen und dann ihre Stellung verspielt.46 +/–

III Außere Stärke (Macht, Reichtum)

II Innere Stärke (Virtus)

+

–/+ IV Innere Schwäche (Verweichlichung)

I Außere Schwäche (Armut, Machtlosigkeit)



4i. Die Ereignisfolgen, wie Isokrates sie beschreibt, in Regeln gebracht, ergeben das klassische Dekadenzmodell.47 Ein Leben unter harten äußeren Umständen (I) zwingt zur Entfaltung aller inneren Kräfte (II). Dabei wird eine höhere Leistungsfähigkeit entwickelt, als es die bloße Selbstbehauptung erfordert. Dieser Überschuß an innerer Stärke wird umgesetzt in eine Verbesserung der Lebensumstände. Man



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kommt zu Macht und über die Macht zu Reichtum (III). Nun kehrt sich die Wirkung um: So wie zuerst die menschliche Leistung die äußeren Verhältnisse verbessert hat, so untergraben anschließend die angenehmen Umstände die Leistungsfähigkeit. Macht führt zu Leichtsinn, Reichtum zu Bequemlichkeit: die Hybris erscheint. Nun ist man nicht mehr imstande, die gewonnene Position zu halten (IV). Dem inneren Verfall folgt der äußere Abstieg, und schließlich ist der Zustand der Mittellosigkeit wieder erreicht (V=I). Ob der Durchgang wiederholbar ist, bleibt unentschieden. 4j. Die Typik dieser Entwicklung weist Isokrates nach, indem er Parallelen zur Geschichte von Athen in Sparta, Theben und Thessalien herausarbeitet. Sodann macht er die Gegenprobe an der Geschichte von Megara. Diese Stadt habe sich immer mit einem bescheidenen Wohlstand begnügt und sei dafür vor Katastrophen bewahrt geblieben. Daß dies auf der moralischen Haltung und nicht auf der Staatsverfassung beruhe, folgerte Isokrates daraus, daß Athen und Sparta trotz ihrer unterschiedlichen Staatsordnung dasselbe Schicksal erlitten haben. Es ist die Natur der Macht und besonders die Natur der Macht zur See mit ihren Versuchungen, die ihre Inhaber moralisch korrumpiert und zum politischen Ruin führt.48 4k. Der Argumentationswert des Schemas beruht auf der Evidenz der Phasenfolge und auf dem Konsens über deren Bewertung. Einvernehmen besteht über den ersten Schritt. Die Entfaltung innerer Stärke unter dem Druck der äußeren Not gilt uneingeschränkt als wünschenswert. Die Meinungen über den zweiten Schritt sind geteilt. Der Durchschnittsbürger, den Isokrates vor sich hat, sieht in der Vermehrung von Macht und Reichtum den Sinn aller Mühen. Der echte Staatsmann, so Isokrates selber, hat jedoch Vorbehalte im Hinblick auf die Folgen. Auch über den dritten Schritt besteht keine Einigkeit. Der Menge ist ihre moralische Dekadenz gleichgültig, der weiterblickende Politiker indessen verurteilt sie angesichts dessen, was daraus folgt. Denn über den vierten Schritt, den äußeren Abstieg, besteht wieder Einigkeit. Das will niemand. 4l. Isokrates erhebt immer wieder die unpopuläre Forderung, daß das Volk seine eigenen Wünsche in Frage stellen lerne, und führt scharfe Angriffe gegen die Demagogen, die sich dem Volk als Vollstrecker seiner Wünsche anbieten, ohne diese Wünsche zuvor auf ihre Vereinbarkeit, ihre Erreichbarkeit und ihre Auswirkungen hin zu prüfen. Die Folgen seien Katastrophen der gehabten Art.49 Die athenische Selbstkritik liegt somit auf derselben Linie wie diejenige Platons an den Größen der attischen Geschichte, die dem Volk seine Begierden erfüllt statt ausgetrieben hätten.50 4m. Eine Schwierigkeit ergab sich für Isokrates daraus, daß Friedenspolitik zu seiner Zeit im Verdacht einer oligarchischen, das heißt antidemokratischen Tendenz stand. Dies resultiert aus der spezifischen Struktur des damaligen Krieges. Die Finanzierung der Rüstung wurde über außerordentliche Kriegssteuern den Reichen auferlegt, und bei der Verteilung eroberten Landes profitierten in erster Linie die

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Armen. Daher konnten die Kriegstreiber gewöhnlich auf die Zustimmung der Menge rechnen, die wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hatte. Um diesen Verdacht abzuwehren, erinnert Isokrates daran, daß die Demokratie schon zweimal im Kriege verloren gegangen sei, nämlich 411 und 404, beide Male durch äußeren Druck, weil den Nachbarn die Unberechenbarkeit der kriegslüsternen Masse suspekt gewesen sei. Der Friede dagegen habe der Demokratie noch nie geschadet.51 4n. Isokrates demonstriert an der Geschichte, daß der Krieg ein ungeeignetes Mittel ist für jemanden, der einerseits Wohlstand erringen und andererseits die Demokratie erhalten will. Anders als Platon läßt Isokrates Wohlstand und Demokratie als politische Ziele gelten. Dies ist deswegen möglich, weil er, im Gegensatz zu Platon, die Frage nach der besten Staatsform als unerheblich betrachtet. Denn es komme nicht auf die Gesetze, sondern auf die Gesinnung an. Das heißt hier: auf die Bereitschaft, die eigenen Wünsche der Kritik zu öffnen. Der Dissens zwischen dem weisen Politiker und der unklugen Menge liegt somit nicht in einem sachlichen Interessengegensatz, sondern lediglich darin, daß der Politiker der Menge einen Schritt voraus ist und deren Interessen von morgen bereits heute berücksichtigt. Wer Machtpolitik betreibt, meint Isokrates, arbeitet zuletzt seinen Gegnern in die Hände.52 Er führt den Zustand herbei, in dem der Mensch die Kontrolle über die Umstände verliert und seinerseits unter deren Gewalt gerät. * 4o. Wie für die griechische, so ist auch für die römische Geschichte mit dem Dekadenzmodell argumentiert worden. Das beginnt mit dem älteren Cato, der als Censor 184 v. Chr. für die Sitten im Senat und in Rom überhaupt zu sorgen hatte. Er erklärte, alle großen Städte gingen irgendwann zugrunde, entweder im Krieg oder im Frieden, nachdem die Macht den Reichtum und dieser den Luxus gebracht hätte. Friede mache träge. Ganz ähnlich dachte Polybios, der Historiker der Punischen Kriege. Er leitete den Aufstieg Roms zur Weltmacht nicht nur aus der politischen Verfassung, sondern auch aus der strengen Lebensweise der Römer ab. So hätten sie Hannibal widerstanden, und in der Überwindung der Niederlage bei Cannae 216 v. Chr. erblickt Polybios den Höhepunkt der inneren Stärke Roms. Danach freilich, als Rom keinen Feind mehr hatte, sei es mit bekannter Gesetzmäßigkeit bergab gegangen.53 4p. Die Besorgnis vor der korrumpierenden Wirkung des Erfolges ist auch in der römischen Politik selbst nachzuweisen. In der Auseinandersetzung um die Drohung Karthagos vertrat Scipio Nasica den Standpunkt, die Rivalin müsse als „Wetzstein“ Roms erhalten bleiben, während Cato sein ceterum censeo deswegen immer wiederholte, weil er den Dekadenzprozeß Roms schon so weit vorgeschritten glaubte, daß Rom sich einen Gegner nicht mehr leisten könne. Nach der Zerstörung Karthagos 146 v. Chr. erklärte Scipio Africanus öffentlich, die römische Herrschaft sei nun groß genug, und man solle die Götter lieber darum bitten, sie zu erhalten, statt sie noch immer zu erweitern.54



4. Das klassische Dekadenzmodell

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4q. In der späten Republik häufen sich die Klagen über den Sittenverfall. Der äußere Aufstieg Roms habe den inneren Niedergang bewirkt; nachdem die Feinde im Felde bezwungen seien, hätten diese nun durch ihren Einfluß die Römer besiegt; und seit es keine fremden Gegner mehr gebe, richteten die Römer die Waffen gegen ihre eigenen Eingeweide. Tatsächlich beruhten die spätrepublikanischen Bürgerkriege auf dem Ehrgeiz der militärisch erfolgreichen Prokonsuln. Zeuge der Krisenstimmung ist Sallust, der mit der Zerstörung Karthagos den Abstieg beginnen läßt und unter Caesar in der Geld- und Genußgier seiner Zeitgenossen die Wurzeln des Übels erblickte.55 Noch in den ersten Jahren des Augustus fand Livius die Schwäche des Reiches in seiner Größe begründet und glaubte, die raffgierigen Römer könnten in ihrem Luxus weder ihre Laster noch die Heilmittel dagegen ertragen. Geradezu verzweifelt fürchtete sodann Horaz, auf Rom laste seit dem Brudermord des Romulus ein Fluch, die Römer sollten auf die Schiffe gehen und im fernen Westen eine neue Heimat suchen. Der Übergang vom gesunden Landleben zu den Verführungen der Großstadt verschlechtere die Römer von Generation zu Generation. Zeitgenössische griechische Autoren stimmen zu, so Diodor.56 4r. Im frühen Prinzipat hat der ältere Seneca geklagt: in deterius cottidie data res est ... luxu temporum, nihil enim tam mortiferum ingeniis quam luxuria – „täglich wird es ärger, der Luxus der Zeit verursacht das, denn nichts wirkt tödlicher auf den Geist als das Luxusleben.“ Ebenso argumentierte sein gleichnamiger Sohn, der Philosoph. Er stellte die ermüdende pax romana an den Pranger.57 Im selben Sinne hat der ältere Plinius ein großes Klagelied über den inneren Verfall angestimmt. Mit dem Beginn der römischen Weltherrschaft, mit Handel und Verkehr, mit Wohlstand und Friede sei das Leben zwar angenehmer geworden (profecisse vita). Zugleich hätten sich aber die Interessen zunehmend aufs Materielle eingeengt. Die Künste der Habsucht (avaritiae artes) und die Fülle der Dinge (rerum amplitudo) ruinierten die Menschen, nur der Besitz mache noch Freude (sola gaudia in possidendo), alle anderen Lebenswerte (pretia vitae), insbesondere Kunst und Wissenschaft, seien dabei zu Fall gekommen. Trotz dauerndem Siegen sei Rom inzwischen von den Besiegten besiegt worden. Fremder Einfluß habe die guten alten Sitten zerstört. Griechische Ärzte beherrschten mit ihren Quacksalbereien die römischen Kaiser. Plinius zitiert den älteren Cato, der vor den griechischen Ärzten warnte. Die Sittenverderbnis (lues morum) entsprang der Expansion zum Weltreich.58 4s. Tacitus sah dies wenig später ebenso, obschon er auch der Antikritik das Wort gab. Es sei ein Zeichen menschlicher Schlechtigkeit, Vergangenes zu loben, Gegenwärtiges zu schmähen: vitio malignitatis humanae vetera semper in laude, praesentia in fastidio. In einem Zeitraffer kennzeichnet er die verderblichen Wirkungen der Zivilisation bei der Beschreibung der Maßnahmen seines Schwiegervaters Agricola als Statthalter in Britannien. Die zerstreut lebenden kriegerischen Kelten habe er bewogen, Städte zu bauen und ein friedliches Leben zu führen. Die Söhne der Vornehmen ließ er in den Freien Künsten ausbilden, sie lernten Latein, übten die Redekunst und tru-

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II. Dekadenz von Anbeginn

gen die Toga. Dann aber machten sich die Laster der Lüste und des Luxus bemerkbar, man schätzte die schattigen Säulenhallen, die warmen Bäder und die üppigen Gelage. Das nannten die Ahnungslosen humanitas, ein menschenwürdiges Leben, obschon es in Wahrheit ein Bestandteil der Unfreiheit, der servitus war. Die römische Herrschaft bietet – wie Kyros den Lydern – Annehmlichkeiten um den Preis der Freiheit.59 4t. Die Schattenseiten des Römerfriedens sah bereits Caesar, als er die Belgen die „kriegstüchtigen Kelten“ nannte, weil sie von dem verweichlichenden Einfluß der römischen Zivilisation am weitesten entfernt wohnten.60 Ganz ähnlich klagt Juvenal: „Jetzt leiden wir an den üblen Folgen eines lang dauernden Friedens, / Schwelgerei hat uns erfaßt und nimmt Rache am besiegten Erdkreis.“ Nunc patimur longae pacis mala, saevior armis / luxuria incubuit victumque ulciscitur orbem. Das einzige, was noch begehrt wird, sind Brot und Spiele, panem et circenses. Es verwundert nicht, wenn auch Augustinus die Sorglosigkeit im römischen Frieden tadelte, da sie den Römern erlaubte, wie Sardanapal zu leben. Augustinus begrüßte den Krieg, weil er die Wertlosigkeit irdischer Güter bloßstelle.61 4u. Einen Beweis für die korrumpierende Wirkung des großstädtischen Wohllebens bot ein Blick auf die Barbaren. Den verweichlichten und sittenlosen, über­ zivilisierten und übersättigten Zeitgenossen stellte man die unverdorbenen, kraftstrotzenden Naturvölker im Norden gegenüber. Schon die rauhe Witterung härte sie ab, die karge, einfache Kost erübrige die Ärzte, der bescheidene Besitz erspare ihnen die Rechtsanwälte. Diese urtümliche Lebensweise bewahre ihren Kriegsgeist, ihre virtus, und ihren Kinderreichtum, ihre fecunditas – Eigenschaften, die von den Griechen bei den Skythen beschrieben, von den Römern bei den Germanen gefunden und gefürchtet wurden, gefährlich für die im langen Frieden erschlafften Römer. Diese bei Strabon und Vitruv, bei Caesar, Horaz und Tacitus, ja noch bei Salvian im 5. Jahrhundert zu lesende Charakteristik der „edlen Wilden“ im Norden ist zwar im Sinne der Gesellschaftskritik stilisiert, aber trotzdem mehr als literarische Konvention.62 Das zeigt die Kriegsgeschichte. 4v. Das antike Dekadenzmodell hat auch in nachantiker Zeit so oft als Denkmuster gedient, daß es als „klassisch“ bezeichnet werden darf. Wir finden es in der arabischen Literatur bei Ibn Khaldun (s. u.). Es begegnet in einem Brief von John Adams an Thomas Jefferson, bezogen auf Amerika am 18. Dezember 1819, und am 11. Dezember 1880 schrieb Moltke, der ewige Friede sei kein schöner Traum, denn der Krieg sei ein Glied in Gottes Weltordnung, er entfalte die edelsten Tugenden. Allerdings müsse er geregelt und human geführt und so schnell wie möglich beendet werden.

5. Das Lebensaltergleichnis 5a. Der Dekadenzgedanke zeigt sich im Altertum nicht nur im Gewande eines Mythos oder in Form eines Modells, sondern ebenso als Ausdruck eines Lebensge-



5. Das Lebensaltergleichnis

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fühls, das sich in metaphorischer Form äußert. Der Begriff „Dekadenz“ selbst stammt zwar vom lateinischen decadere, herabfallen, doch erscheint er in der klassischen Literatur noch nicht in der modernen, übertragenen Bedeutung. Trotzdem ist die Vorstellung einer Abwärtsbewegung schon im Altertum für „Dekadenz“ geläufig, auch der Gedanke einer Rückwärtsbewegung kommt vor sowie das Denkbild eines zusammenbrechenden Gebäudes.63 5b. Am weitesten verbreitet ist das Lebensalter-Gleichnis.64 Es parallelisiert Staaten, Kulturen, Völker und ähnliche Traditionsgemeinschaften mit einem individuellen Lebewesen. Diese Gleichsetzung kann sowohl der Verbildlichung funktionaler Systeme dienen – der Staat erscheint als Organismus mit Kopf und Körper, Magen und Gliedern, Gesundheit und Krankheit – als auch zur Illustrierung von Entwicklungsphasen benutzt werden – hier ist von Jugend, Alter und Tod von Staatswesen die Rede. 5c. Die Übertragung der Individualentwicklung auf Geschichtsprozesse läßt sich schon im griechischen Denken nachweisen. Bekannt ist die von Platon und Aristoteles vertretene Ansicht, die Ägypter seien ein älteres Volk als die Griechen. Gedacht war dabei an die längere kulturelle Überlieferung und an die „Altersweisheit“ der Ägypter, denen gegenüber die Griechen noch Kinder seien. Die Römer haben dann auch vom Alter der Graecia gesprochen, sowohl um ihre Weisheit als auch um ihre Schwäche zu kennzeichnen.65 5d. Bedeutsam wurde das Lebensgleichnis in der Anwendung der Römer auf sich selbst. Wohl den ältesten Beleg liefert Polybios in den Worten des jüngeren Scipio vor dem brennenden Karthago 146 v. Chr., dessen Zerstörung er gemäß Senatsbeschluß selbst angeordnet hatte. Scipio versank in lang anhaltende Trauer, vergoß Tränen und zitierte die Weissagung Homers vom Ende Trojas: essetai hēmar – „Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt. / Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs.“ Scipio fühlte sich, berichtet Polybios, an den künftigen Untergang Roms gemahnt, den er erwartet habe, nachdem auch die Reiche der Assyrer, Meder, Perser und Makedonen verschwunden seien. Als Grund habe Scipio den Verweis auf das einzelne Menschenleben angeführt: so wie die Menschen seien auch die Staaten sterbliche Wesen. Kann man sich vorstellen, daß einer der alliierten Sieger bei der Potsdamer Konferenz 1945 auf die Idee gekommen wäre, das Schicksal des zerstörten Berlin sei auch einmal für Moskau, Washington oder London zu befürchten?66 Wir halten unseren Besitzstand für ewig, doch Polybios hat die naturnotwendige Vergänglichkeit aller Erscheinungen, auch der Menschenwelt, als allgemeines Gesetz formuliert: Jeder Körper, jeder Staat, jede Handlung hat ihre naturbedingte Zunahme bis zum Gipfelpunkt, und dann folgt der Niedergang wie in der belebten Natur.67 5e. Ganz ähnlich lautet dann die Ansicht von Sallust: Schließlich haben die körperlichen Vorzüge und die Gaben des Glücks wie einen Anfang so auch ein Ende, und alles, was entstanden ist, vergeht wieder, und was gewachsen ist, altert:

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II. Dekadenz von Anbeginn

postremo corporis et fortunae bonorum ut initium sic finis est, omniaque orta occidunt et aucta senescunt. Auch der Stadt Rom werde das Schicksal einmal ein Ende bereiten, und die Agonie beginne mit dem Bürgerkrieg. Von dieser Regel nimmt Sallust nur die geistige Tradition aus: Der Ruhm großer Erscheinungen vermöge die Zeiten zu überdauern.68 5f. In der späten Republik wurde der biologische Dekadenzvergleich von Lucrez auf die Geschichte der Welt insgesamt angewendet. Er betrachtete den Kosmos als ein Lebewesen, das geboren sei und sterben müsse, und diagnostizierte in seiner Zeit eine lange Reihe von Symptomen des Alterns. Die Erde, die einstmals alle belebten und unbelebten Wesen geboren habe, bringe nichts derartiges mehr hervor, die Erträge der Bauern würden immer schlechter, und zu Recht werde beklagt, daß in früheren Zeiten durch weniger Arbeit mehr zu erzielen gewesen sei. Lucrez denkt an das Goldene Zeitalter, in dem die Erde ihre Früchte freiwillig geliefert habe.69 5g. Auf den römischen Staat hat dann wieder Cicero den Lebensvergleich bezogen. Er parallelisierte die Anfänge Roms mit Geburt, Wachstum und Eintritt ins Alter von Reife und Kraft, um die einzelnen Stadien zu kennzeichnen. Romulus als Stadtgründer übernimmt dabei eine Art Erziehungsfunktion. Bis auf seine Gegenwart hat Cicero den Vergleich nicht fortgeführt, daher wissen wir nicht, wie er die Zukunft dachte. Zwar spricht er zuweilen vom Leichenbegräbnis der res publica, aber es ist bedenklich, darin seine wahre Meinung über den Fortgang der Dinge zu sehen. Denn es gibt auch Zeugnisse für seinen Glauben an Roms Ewigkeit, so in seiner Schrift über die Republik.70 Dasselbe Nebeneinander pessimistischer Ausblicke und hoffnungsvoller Verheißungen finden wir bei Horaz. Seine düsteren Diagnosen71 dürfen nicht als sein Zeitbild schlechthin verstanden werden. Der Dichter will aufrütteln. Es ist kennzeichnend für das Geschichtsdenken Roms seit der späten Republik, daß pessimistische und optimistische Strömungen nebeneinander herlaufen, die sich beide in denselben sozialen Gruppen, ja denselben Individuen nachweisen lassen. 5h. Eine konsequente Durchführung der Lebensalteranalogie bis an den Rand des Grabes hat erst Seneca geleistet. „Nicht ungeschickt“, schreibt Lactanz,72 „teilt Seneca die Geschichte Roms in Lebensalter ein. Das erste nennt er die Kindheit unter der Königsherrschaft des Romulus, unter dem die Stadt geboren und gleichzeitig erzogen wurde. Es folgt die Jugend unter den übrigen Königen, in denen Rom Größe gewann und allerlei Fähigkeiten erlernte. Unter Tarquinius wurde Rom sozusagen mündig und erwachsen, ertrug die sklavische Unterordnung nicht länger und warf das Joch der übermütigen Herrschaft ab, um nicht mehr Königen, sondern Gesetzen zu gehorchen. Die Zeit des Heranwachsens war mit den Punischen Kriegen beendet, im Vollbesitz der Kräfte begann die Zeit der Reife. Mit der Unterwerfung der Stadt Karthago, die lange Roms Nebenbuhlerin war, streckte Rom seine Hand aus über Länder und Meere, bis alle Könige und Völker besiegt waren



5. Das Lebensaltergleichnis

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und nichts mehr zu bekämpfen übrigblieb. Von da an mißbrauchte Rom seine Kräfte und ruinierte sich selbst. Damals begann das Greisenalter, als Rom durch Bürgerkriege zerfleischt und von inneren Übeln geplagt wieder in die Monarchie zurückfiel, gleichsam in eine zweite Kindheit. Denn nach dem Verlust der Freiheit, die sie unter Brutus´ Führung gewonnen und behauptet hatte, alterte Roma so rasch, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und die Kaiser als Krücke brauchte.“ Der Untergang Roms wird nicht ausgesprochen, aber den Glauben Senecas an das nahe Weltende kennen wir aus seinen ›Naturales quaestiones‹: Nicht lange dauere es mehr bis zum Untergang der Erde in den Fluten des Kataklysmos – nec longa erit mora exitii.73 5i. Die Idee vom nahen Weltenbrand (exustio) findet sich beim älteren Plinius, erkennbar daran, daß die Menschen immer kleiner, die Saaten immer weniger ergiebig würden. Plinius wundert sich darüber, daß die Griechen in einst unsicheren Zeiten so viel mehr für die Wissenschaft geleistet hätten als die Römer in Wohlstand und Frieden. Dies zeige: mores hominum senuere – die Sitten der Menschen sind gealtert. Symptom ist für ihn die Verlagerung des Interesses von der Erkenntnis auf Gewinn und Genuß.74 Auf die Natur übertragen sah Aelian im 2. Jahrhundert n. Chr. Symptome des Alterns: die Berge verlieren an Höhe, die Flüsse an Wasser, das Weltall findet so wie der Mensch unvermeidlich sein Ende. Im späten 3. Jahrhundert glaubte Solin, die Menschheit degeneriere auch physisch.75 5j. Die Vorstellung von der sittlich entarteten Gegenwart vertrat im wirtschaftlich gesegneten 2. Jahrhundert der Reiseschriftsteller Pausanias,76 die Idee der alternden Welt im 3. Jahrhundert der Kirchenvater Cyprianus. Er verteidigt sich gegen den Vorwurf, der Abfall der Christen vom Götterkult sei an der elenden Lage Roms schuld, mit dem Rückgriff auf Lucrezens Theorie vom alternden Kosmos.77 Der Winter bringe nicht mehr hinreichend Regen, der Sommer nicht mehr genug Wärme, der Frühling habe nicht mehr die alte Milde, der Herbst spende nicht mehr Früchte wie früher. Die Bodenschätze versiegten, die Menschen leisteten nicht mehr dasselbe wie einst – nicht der Bauer, nicht der Seemann, nicht der Soldat. Die Moral sinke allenthalben, auf dem Markt, vor Gericht, in den Künsten – was altere, können keine Jugendsymptome aufweisen. Die Welt stehe am Ende, daher lasse alles nach – wie die Sonne vor dem Untergang, der Mond vor dem Neumond, der alternde Baum, die versiegende Quelle. Dies Gesetz gelte auch für die Welt, es sei von Gott erlassen: omnia orta occidunt et aucta senescunt. Der Welt gehe es wie einem alternden Menschen. Heutzutage würden die Kinder bereits grauhaarig geboren. Was entsteht, eile seinem Ende zu, weil die Welt insgesamt im Sterben liegt.78 5k. Um 300 hat dann wieder Lactanz dieselbe Ansicht mit demselben Gleichnis verteidigt. Er überliefert die zitierte Version Senecas und bekennt sich zu ihr. Seneca hatte als republikanisch gesonnener Senator dasselbe Zeitbild wie Lactanz als Christ. Weder hat sich Seneca durch die äußere Macht des Imperiums blenden las-

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II. Dekadenz von Anbeginn

sen noch Lactanz durch den Triumph Constantins. Beide hätten mithin die Gegenwart auch optimistisch deuten können, und Zeitgenossen beider haben das getan. 5l. Hatte Lactanz die politische Version des Lebensgleichnisses aufgegriffen, so übernahm Augustinus die kosmologische. Nach dem Fall Roms 410 war von den Heiden wieder der Vorwurf gegen die Christen laut geworden, daß sie die alten Götter beleidigen, und wie Cyprian bediente sich Augustin der Lebensaltermetaphorik: „Du wunderst dich darüber, daß die Welt verkümmert? Wundere dich darüber, daß sie alt wird. Sie ist ein Mensch, wird geboren, wächst und altert. Viele Übel kommen im Alter: Husten, Schnupfen, Triefäugigkeit, Ängstlichkeit, Müdigkeit“ – Miraris quia deficit mundus? Mirare quia senuit mundus. Homo est, nascitur, crescit, senescit. Querelae multae in senecta: tussis, pituita, lippitudo, anxietudo, lassitudo inest. Wenn der Mensch alt wird, kommen die Plagen. Wenn die Welt alt wird, kommen die Nöte. Hat Gott schlecht für dich gesorgt, da er im Greisenalter der Welt Christus zu dir sandte?. Augustin verweist auf die Verjüngung des Einzelnen im Alter der Welt; die politischen, sozialen, wirtschaftlichen Mißstände können dem Christen nichts anhaben, sein Heil liegt im Himmel.79 5m. Die Vorstellung einer sterbenden Welt war in der Spätantike verbreitet. Eine Generation nach Augustinus brachte Salvian eine neue Variante, indem er die Vergnügungssucht seiner Zeitgenossen mit der Bemerkung zu treffen suchte, das römische Volk, gleichsam vom sardonischen Lachkraut vergiftet, stürbe lachend: moritur et ridet. Salvian hält an dem Gedanken des hohen Alters fest, erklärt aber, daß Rom nicht deswegen verende, sondern von den Steuern stranguliert werde. Die letzten Atemzüge würden Rom auf diese Weise abgeschnürt.80

6. Die Idee der Verjüngung 6a. „Das haben unsere Ahnen beklagt, das beklagen wir, das werden unsere Erben beklagen. Die Sitten seien verdorben, Nichtswürdigkeit regiere, immer schlimmer stehe es um die Menschheit, zu jedem Frevel erniedrige sie sich“ – hoc maiores nostri questi sunt, hoc nos querimur, hoc posteri nostri querentur, eversos mores, regnare nequitiam, in deterius res humanas et omne nefas labi. Mit diesen Worten kennzeichnete schon Seneca die Klage über die gesunkene Gegenwart als zeitlosen Gemeinplatz. Hatte er Unrecht? Das Dekadenzbewußtsein ist im Einzelfalle begreiflich, verliert aber auf die Dauer an Glaubwürdigkeit. Daher finden wir schon früh einen Versuch, das Bild des Alterns mit der Hoffnung auf einen Neubeginn zu versöhnen. Das Mittel hierzu ist der Gedanke der Verjüngung oder auch der Wiedergeburt. Er wurde zur Leitidee in der politischen Propaganda unter Augustus81, die Begriffe renovatio, restitutio und reparatio gehören zum Standardinventar der kaiserlichen Staatsideologie. Im 2. Jahrhundert n. Chr. hat der römische Epitomator ­Florus den Vergleich zwischen der Geschichte Roms und einem Menschenleben mit der Bemerkung abgeschlossen, daß unter Trajan eine Verjüngung eingetreten sei. Das



6. Die Idee der Verjüngung

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ist ein Bruch mit dem Bild, denn im Menschenleben gibt es derartiges nicht. Dennoch zeitigte dieser Gedanke seltsame Zwitterformen des Lebensaltersgleichnisses.82 6b. Im späten 4. Jahrhundert hat Ammianus Marcellinus das Bild in ein ewiges friedlich-würdevolles Greisenalter, ein otium cum dignitate ausklingen lassen. Er hat den Tod als Ende Roms einfach ausgeblendet. Ähnlich benutzte Symmachus das Bild, während sein christlicher Gegner Ambrosius der altgewordenen Roma noch hinreichende Lernfähigkeit zutraute, das Christentum anzunehmen.83 6c. Verjüngungsmetaphern häufen sich in der Zeit um 400 kurz vor dem Untergang des Reiches, in der letzten Blütephase der lateinischen Literatur. Bei Claudian wird Roma von Juppiter angehaucht, so daß ihr die Kraft wiederkommt und ihre ergrauten Haare nochmals Farbe gewinnen. Bei Prudentius ist es das Regiment der christlichen Kaiser, das diese Wirkung erzielt: Die personifizierte Roma renascens erklärt, sie fühle das Alter weichen und die Haare blond werden. Rutilius redet Roma an und empfiehlt ihr, die Haare zu färben, und zwar grün!84 Die für uns damit verbundene Komik war keinesfalls beabsichtigt, denn Grün ist die Farbe der Jugendfrische. Wie Prudentius so verwendet Rutilius den Begriff renasci für die Verjüngung. Er zählt die überstandenen Kriege auf und verheißt der Stadt: „Dich aber stellt wieder her, was andere Reiche zerstörte, / Wiedergeburt ist die Kraft, die aus dem Übel entspringt“ – illud te reparat, quod cetera regna resolvit / odo renascendi est crescere posse malis.85 Das Zeitgefühl einer Erneuerung korrespondiert demjenigen des Altgewordenseins, beides findet sich in der Spätantike nebeneinander und bezeugt den janushaften Charakter der Zeit. 6d. Die Verbildlichung von Aszendenz und Dekadenz ganzer Völker durch die Lebensalter eines einzelnen Menschen hat in der Renaissance bei den Humanisten selbst eine Wiedergeburt erlebt und findet sich in der Folgezeit bei zahlreichen Denkern: bei Rousseau und Herder, bei Hegel und Ranke.86 Die politische Rhetorik betont die wiederkehrende Jugend. Treitschke bescheinigte den Deutschen nach den Befreiungskriegen die erste, unter Bismarck eine zweite Jugend. Max Weber erwartete diese 1918, die dann die dritte wäre. Hitler stellte 1938 eine vierte fest,87 1945 begann eine fünfte, und die sechste erhoffte man mit dem Sturz des Kommunismus. So wird die Geschichte zum Jungbrunnen.

„Macht die Stadt Fortschritte?“ „Gewiß“, sagte Theophrast, „im Neid“. Gnomologium Vaticanum

III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike a. Die Idee des Fortschritts entspringt dem Phänomen des Fortschritts. Bereits in den Mythen vom Paradies und von Prometheus ist das Bewußtsein davon deutlich, daß der Mensch seine Kultur nicht immer besessen hat. Man wußte, daß er, anders als die Tiere, sich selbst und seine Lebensweise gestaltet und sie von einem naturgebundenen Anfangszustand allmählich auf das Niveau der Gegenwart geführt hat.1 Bewog die Not, die ihn zwingt, durch Arbeit sein Dasein zu fristen, den Pessimisten dazu, das Leben zu beklagen, so boten die dabei erzielten Verbesserungen dem Optimisten eine Grundlage für die Erwartung weiterer Fortschritte. Sehen wir ab von der allzeit strittigen Bewertung der janusköpfigen Zivilisierung, so ist das Bewußtsein von ihr ebenso alt wie die ersten Versuche einer geschichtlichen Selbstdeutung.2 b. Die Fortschrittlichkeit der Kultur erkannten die Griechen einerseits aufgrund des Vergleichs zwischen ihren Sitten und denen der Barbaren und andererseits durch die Erinnerung an eigene, jüngst erzielte Fortschritte im Können und Wissen. Ein Bewußtsein unterschiedlicher Zivilisationsstufen unter Zeitgenossen angeblich schon in mythischer Zeit zeigt bereits Homer. In der Beschreibung der Kyklopen stellt er „wilde“ und gesittete Lebensformen einander gegenüber.3 Der Unterschied zur griechischen Gesittung betrifft zum einen den Lebensstandard: Polyphem, der Kyklop, kennt noch keinen Wein, betrifft zum anderen die Staatsform: der Kyklop lebt allein in einer Höhle, nicht in Städten, und betrifft zum dritten den Umgang mit Fremden: diese gelten ihm nicht als Schutzbefohlene des Zeus Xenios, sondern als rechtlos. Sie werden ohne weiteres getötet und aufgefressen. Dies erschien dem homerischen Odysseus barbarisch. Kultische Menschen­ opfer allerdings kannten so wie die Israeliten auch die Griechen in ihrer Frühzeit.4 Die Sage vom Opfer Isaaks durch Abraham5 und der Mythos von Iphigenie in Aulis6 erklären die Beseitigung dieser Unsitte. Bei den Karthagern blieb sie üblich, doch forderte der Grieche Gelon in seinen Friedensverhandlungen 480 v. Chr. die Beseitigung dieses Brauchs.7 c. Nach Herodot wurde Hellas vor den Griechen von den Pelasgern bewohnt, die als Barbaren betrachtet wurden. Thukydides notiert, daß die Hellenen überhaupt anfangs wie Barbaren gelebt hätten, und Aristoteles bemerkt, daß die Speere bei Homer dieselbe Form hätten wie „noch jetzt“ die der Illyrier – sie bewahren somit noch einen Stand, den die Griechen selbst hinter sich gelassen haben. Auch



1. Mythische Stifter

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bei den Barbaren wird ein Fortschritt festgestellt: Macrobius berichtet um 400 n. Chr., wie die Gallier den Anbau von Ölbaum und Weinstock gelernt und sich so zivilisiert hätten.8

1. Mythische Stifter 1a. Wie die ältesten Zeugnisse für ein Dekadenzbewußtsein, so erscheinen auch die frühesten Belege für ein Fortschrittsdenken in mythischer Form. Es sind die Erzählungen, daß in der Urzeit Götter oder Halbgötter den Menschen das Leben erleichtert, ihnen die einzelnen Fertigkeiten und Einsichten übermittelt hätten. Hephaistos, der göttliche Schmied, und Athena, die Herrin der Weisheit, sollen den Menschen, die anfangs wie Tiere in Höhlen lebten, mit der Technik das bessere Leben ermöglicht haben.9 Die von Hephaistos erfundenen Dreifüße, die von selbst (automatoi) zu den Göttern rollten, um ihnen Nektar und Ambrosia zu bringen,10 blieben den Menschen vorenthalten. Doch Athena soll ihnen den Ölbaum, Poseidon das Pferd gestiftet haben. Der Streit zwischen den Göttern, wer den Menschen die größere Wohltat erwiesen habe, zeigte der Westgiebel des Parthenon.11 Hätte Poseidon damals gewonnen, hieße Athen heute Poseidonia. Die Imkerei und die Zubereitung von Käse verdankte man den Nymphen von Kyrene.12 Die Sternkunde vermittelte Merkur den Menschen.13 Den Wein schrieb man Dionysos zu, den Getreideanbau Demeter, lateinisch Ceres. Zuvor hätten die Menschen von Eicheln und Bucheckern gelebt.14 Schiller hat 1798 in seiner Ballade ›Das eleusische Fest‹ die Geschenke der Göttin und der anderen Olympier verherrlicht. Die Griechen wußten somit, daß all dieses nicht schon immer da war. Polybios meinte, die Götter seien einst Menschen gewesen, die für derartige Wohltaten vergöttlicht worden seien.15 1b. Die Griechen haben ihre größten Heroen als Wohltäter der Menschheit verehrt. So soll Herakles nicht nur allerlei Unholde besiegt und beseitigt haben, sondern er soll auch in ferne Länder vorgedrungen sein, bis zum Atlantik im Westen und zum Hindukusch im Osten. Der Sagenheld hat Dämme gebaut, Flußbetten gegraben und Gebirgspässe geöffnet. Viele Techniken wurden einem bestimmten mythischen Erfinder, einem prōtos heuretēs, zugeordnet. Summieren sich mehrere Leistungen bei demselben Urheber, so spricht die Ethnologie von einem Kulturheros. Die Griechen besaßen deren mehrere. Sie erhoben Daidalos zum Erfinder der Töpferscheibe, der Bildhauerei, des Zirkels, der Säge, ja des Fliegens, so im Mythos von Daidalos und Ikaros.16 Palamedes galt als Schöpfer der Schrift, der Zahlen, der Astronomie, der Seefahrt, der Gesetzesaufzeichnung, des Würfels und des Brettspiels.17 Der berühmteste Kulturheros ist Prometheus, er hat den Menschen selbst geschaffen, und zwar aus Lehm. Die Kaute wurde bei Panopeus in Mittelgriechenland gezeigt, wie Pausanias meldet. Der Lehm roch noch damals unter Marc Aurel nach Menschenfleisch.18 Bei Aischylos rühmt sich Prometheus, außer dem Feuer

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

noch weiteres gebracht zu haben: die Ziegelbrennerei, den Holzbau, die Zeitrechnung, die Zahlen, die Schrift, die Zähmung des Zugviehs, den Schiffsbau, die Heilkunst, die Deutung des Vogelfluges und die Eingeweideschau, die Hebung von Bodenschätzen, die Metallverarbeitung und überhaupt „alle Künste“: pasai technai.19 Der Begriff technē hat hier zum ersten Mal seine spätere Bedeutung.20 1c. Kulturheroen finden wir ebenfalls bei anderen Völkern. Nach der Genesis war es Kain, der die erste Stadt erbaut hat, unter seinen Nachkommen gelten Jabal als Patron der Viehzüchter und Zeltbewohner, Jubal als Stammvater der Flötenund Zitherspieler, Thubalkain als der erste Bronze- und Eisenschmied.21 Im persischen Königsbuch des Firdusi (um 1000) ist es der Sagenkönig Huscheng, der den Menschen das Feuer und andere Errungenschaften liefert, sein Sohn lernt das Schreiben von den Teufeln.22 Wie in der Genesis die Schlange verkörpert hier der Teufel die Klugheit. 1d. Mythische Stifter waren der Stolz von Städten. Den größten Anteil an den Erfindungen beanspruchten die Athener. Ihrem Stadtheros Theseus legte Euripides ein Lob auf die Entwicklung der Kultur in den Mund: Theseus erklärt, das Leben biete mehr Gutes als Schlechtes, und das sei den Göttern zu danken, die den ordnungslos, tierähnlich vegetierenden Menschen die Vernunft und die Sprache geschenkt hätten, desgleichen die Mittel gegen Hunger und Frost, Schiffahrt und Handel sowie die Seherkunde, so daß die Menschen sich allmählich selbst wie Götter vorkämen.23 Dies erinnert an den Sündenfall: die Menschen sind geworden wie Gott. Der zeitgleiche Historiker Thukydides betonte die erfolgverheißende Neigung der Athener zu allem Neuen im Gegensatz zu den konservativen Spartanern.24 Eine Generation später, um 380 v. Chr. feierte Isokrates Athen als die Wiege der Kultur: Sie sei nicht nur die älteste, größte und berühmteste Stadt der Welt, sondern hier habe auch die in Eleusis verehrte Demeter den Menschen den Getreidebau geschenkt, der die Menschen aus ihrem tierhaften Dasein herausgeführt hätte. Nicht von Anfang an hätten die Menschen alle jetzigen Güter besessen, sondern diese erst nach und nach gewonnen.25 Ein solcher Stolz auf die führende Rolle Athens ist im 2. Jahrhundert v. Chr. sogar inschriftlich verewigt worden.26

2. Historische Erfinder 2a. Nach den höheren Mächten, den Göttern und Heroen erscheint auch der handelnde Mensch als eigentlicher Motor des Fortschritts. Das klassische Zeugnis ist ein Fragment des Xenophanes von Kolophon aus der Zeit um 500 v. Chr.: „Die Götter haben den Sterblichen nicht von Anfang an alles offenbart, sondern erst im Laufe der Zeit (chronō) finden diese suchend das Bessere.“27 Xenophanes behauptet hier drei Dinge: Zum ersten sind es nicht die Götter, sondern die Menschen selbst, die das Bessere finden. Diese Ansicht entspricht der Ablehnung anthropomorpher Göttervorstellungen durch Xenophanes, er war Pantheist. Zum anderen wird ein



2. Historische Erfinder

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Entwicklungsprozeß angedeutet, der im Gedanken des prōtos heuretēs nicht enthalten war. Xenophanes benutzt das Präsens „sie finden hinzu“ (epheuriskousin) und nicht etwa das Präteritum. Er rechnet daher mit einem ständigen, in die Zukunft führenden Fortschritt. Zum dritten betrachtet Xenophanes die Errungenschaften als qualitative Fortschritte, er spricht vom „Besseren“. Woran er im einzelnen gedacht hat, wissen wir nicht, aber aus anderen Fragmenten wird klar, daß er den Lydern die Erfindung des Geldes zuschrieb und den Thales bewunderte, weil er die Sonnenfinsternis von 385 vorausgesagt habe. Das Lob der Lyder besteht zu Recht, aber die Voraussage des Thales ist unhistorisch, er hat die Verfinsterung als naturgesetzliches Phänomen erkannt.28 2b. Die Ablösung der Götter als Erfinder wurde in der Sophistik vollendet, indem die Götter selbst als Erfindung von Menschen betrachtet wurden. Dies behauptete Sisyphos in einem Satyrspiel von Platons Onkel Kritias.29 „Es gab einmal eine Zeit, da war das Leben der Menschen ohne Ordnung, ähnlich dem der Raubtiere, und es herrschte die rohe Gewalt. Damals wurden die Guten nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft. Und da scheinen mir die Menschen sich Gesetze als Zuchtmeister gegeben zu haben, damit das Recht in gleicher Weise über alle herrsche und den Frevel niederhalte. Wenn jemand ein Verbrechen beging, so wurde er nun gestraft. Als so die Gesetze hinderten, daß man offen Gewalttat verübte und daher nur insgeheim frevelte, da scheint mir zuerst ein schlauer Kopf die Furcht vor den Göttern erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten, sagten oder dächten. Er führte daher den Gottesglauben ein und sagte: Es gibt einen Gott, der ewig lebt, voll Kraft, der mit dem Geiste sieht und hört und übermenschliche Einsicht besitzt; der hat eine höhere Natur und achtet auf alles. Er hört, was unter den Menschen gesprochen wird; und was sie tun, kann er sehen. Und wenn du schweigend etwas Schlimmes sinnst, so bleibt es doch den Göttern nicht verborgen. Denn sie besitzen eine übermenschliche Erkenntnis. – Mit solchen Reden führte dieser Mann die schlaueste aller Lehren ein, indem er die Wahrheit mit trügerischem Worte verhüllte. Die Götter, sagte er, sie wohnen dort, wo es die Menschen am meisten erschreckt, von wo die Angst zu den Menschen herniederkommt wie auch der Segen für ihr armseliges Leben: aus der Höhe da oben, wo die Blitze zucken und des Donners grauses Krachen tönt, da, wo des Himmels gestirntes Gewölbe ist, das herrliche Kunstwerk der Zeit, der klugen Künstlerin, von wo der strahlende Ball des Tagesgestirns seinen Weg nimmt und feuchtes Naß zur Erde niederströmt. Mit Ängsten solcher Art schreckte er die Menschen und wies so passend und wohlbedacht der Gottheit an geziemender Stätte ihren Wohnsitz an und tilgte den ungesetzlichen Sinn.“ So hat jemand zuerst die Menschen glauben gemacht, daß es ein Geschlecht von Göttern gibt. 2c. Die Menschen werden auch in dem berühmten Chorlied aus der Antigone des Sophokles als Träger des Fortschritts bezeichnet. „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch“. Der Dichter zählt die staunenswerten Fertigkei-

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

ten des Menschen auf, der sich die Natur unterworfen hat und Staaten gründet, aber immer wieder in Versuchung gerät, die Gesetze der Moral zu brechen.30 Aus späterer Zeit kennt die griechische Überlieferung zudem zahlreiche Persönlichkeiten, die zum technischen und wissenschaftlichen Fortschritt Wesentliches beigetragen haben: Hippokrates zur Medizin, Hippodamos zum Städtebau, Iphikrates zum Militärwesen, Aristarch zur Astronomie, Eratosthenes zur Geographie, Heron zur Mechanik usw. 2d. Eine eigene Literaturgattung peri heurēmatōn befaßte sich mit diesen Neuerungen. Umfangreiche Erfinderkataloge überliefern Plinius maior und Hygin. Der Kirchenvater Clemens von Alexandrien bringt eine lange Liste und nennt acht Autoren, die solche Kataloge zusammengestellt haben.31 Für die reale Geschichte sind diese Kataloge nahezu wertlos, denn bloß in Ausnahmefällen wird dort eine Erfindung dem wirklichen Urheber zugeschrieben. Umso wichtiger sind diese Traditionen für das Geschichtsbewußtsein. Sie zeigen, wie die Vermehrung und Verbesserung der menschlichen Errungenschaften als historischer Prozeß, als Fortschritt verstanden wurde. Denn in der Regel beruhte der Anspruch auf eine erfolgreiche Neuerung auf dem Wunsch nach Lob und Ruhm für jene Stadt, die den Erfinder für sich reklamierte. 2e. Nicht nur einzelne Personen, sondern auch Völkern wurden Erfindungen und Führungspositionen im Zivilisationsprozeß zugeschrieben. Tatsächlich haben die Griechen nicht Weniges von den altorientalischen Kulturen übernommen, und das blieb ihnen bewußt. Als das älteste Kulturvolk galten die Ägypter. Schon Solon bewunderte ihre uralte Weisheit, wie Platon berichtet. Platon führte vieles auf den ägyptischen Ibis-Gott Theut zurück: Zahlen- und Rechenkunst, Landvermessung und Himmelskunde, Brett- und Würfelspiel und die Schrift.32 Aristoteles fand bei ihnen jene politischen und sozialen Einrichtungen, die dann die Griechen übernahmen, nachdem die „Not“ (chreia) das erforderlich gemacht habe. Bei Diodor heißt es, Ägypten habe der Welt das Städtewesen geschenkt, selbst Athen sei eine ägyptische Gründung.33 Anlaß dafür war offenbar die Gleichsetzung der ägyptischen Götten Neith, alias Isis, mit Athena. Herodot wußte, daß die Griechen das seit etwa 600 v. Chr. nachweisbare Geldwesen den Lydern und ihre seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. bezeugte Schrift den Phönikern verdankten, verlagerte dies jedoch in die mythische Vorzeit.34 2f. Hinter den orientalischen Völkern blieben auch die griechischen Stämme und Städte nicht zurück. Kritias wies den Sizilianern das Kottabos-Spiel und den Reisewagen zu, den Thessaliern den Lehnstuhl (thronos), den Milesiern das Schlafsofa, den Etruskern die getriebenen Gold- und Bronzebecher, den Phöniziern die Buchstaben, den Thebanern den Rennwagen, den Kariern den Lastkahn und den Athenern die Töpferscheibe.35 Um einzelne Erfindungen oder Erfinder gab es konkurrierende Überlieferungen. So wie sieben Städte behaupteten, die Heimat Homers zu sein,36 so stritten um Daidalos Ionier und Dorier, um Orpheus Thraker



3. Progressive Zeit

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und Makedonier, um die Erfindung des Dithyrambos die Städte Korinth, Naxos und Theben.37

3. Progressive Zeit 3a. Das Wissen der Griechen um den zivilisatorischen Fortschritt spiegelt sich nicht nur in der Überlieferung einzelner Erfindungen und Errungenschaften der Vergangenheit. Vielfach erscheinen sie als das Werk der unaufhaltsamen Zeit selbst. Die frühesten Belege für deren Fortschrittlichkeit stammen aus der ionischen Naturphilosophie. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts erklärte Thales aus Milet: „Nichts ist weiser als die Zeit, denn sie erfindet nach und nach alle Dinge“.38 Die Zeit, Chronos, ist hier personifiziert, sie wurde vielfach mit dem Gott Kronos, dem Vater des Zeus gleichgesetzt, so daß der gewöhnlich mythenfeindliche Fortschrittsgedanke sich selbst einer mythischen Denkform bediente. Als Darstellungsmittel blieb der Mythos lebendig, auch wo man seinen Überlieferungen nicht mehr glaubte. Dies zeigt bei Aischylos der gefesselte Prometheus sogar seinerseits: Indem die Zeit alt wird, lehrt sie jeden alles, auch den Zeus; und dem Menschen, meint Prometheus, bringe das Feuer künftig tausend Künste bei.39 Er bedarf der Götter nicht mehr. Der von Prometheus in Gang gesetzte Prozeß läuft aus eigener Kraft weiter. 3b. Die Progressivität der Zeit besteht sodann in der Vermittlung von Erkenntnis. Die Zeit, offenbart den Charakter eines Menschen, heißt es bei Theo­gnis im 6. Jahrhundert.40 Ein weiteres Zeugnis stammt aus der 10. Olympischen Ode Pindars von 474 v. Chr. Dort heißt es, bei der Geburt der olympischen Spiele habe Chronos, der Gott der Zeit, daneben gestanden, der allein die wahre Unverborgenheit (alatheia) ans Licht bringe. Er verkündete „vorausschreitend“, wie die Spiele begangen werden sollten.41 Die Zeit wird hier als Hebamme oder als Mutter der Wahrheit bezeichnet, ihre Handlung als ein Vorwärtsschreiten in die Zukunft bestimmt. Dies scheint das älteste Zeugnis für den Bildgehalt im Gedanken des Fort-Schrittes. Er ist ebenso im lateinischen Wort progressus – „Voranschreiten“ enthalten, einer Lehnübersetzung Ciceros von griechisch prokopē – „einen Weg freischlagen“,42 neben dem auch epidosis – „Zugabe, Zunahme“ verwendet wird. 3c. Abhängig von Pindar ist ein Fragment des Sophokles: „Nichts bleibt ver­ borgen. Die Zeit, die alles sieht und alles hört, bringt auch alles ans Licht.“43 Das Prädikat lautet anaptyssō, das entspricht dem lateinischen evolvo in der Bedeutung des Aufrollens einer Buchrolle, eines volumen. Der Gedanke der „Auswicklung“ führt dann zum Gedanken der „Entwicklung“, den wir heute eher mit Lebensvorgängen verbinden. Die organische Parallele, die Gellius selbst zieht, ist die Formel veritatem temporis filiam esse: die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit, die sie gebiert. Die Wahrheit verwandelt sich nicht mit den Zeiten, wie der Historismus wähnte,44 denn dann wäre sie temporum filia – sondern sie tritt wie bei einer Geburt mit biologischer Notwendigkeit im Lauf der Zeit an den Tag.

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

3d. Die Vorstellung, daß die Zeit voranschreitet und damit den Zivilisationsprozeß bewirkt, findet sich wieder bei Platon: „Als die Zeit voranschritt und die Menschheit sich mehrte, ist allmählich alles zu den Zuständen fortgeschritten, die heute herrschen.“45 Ähnliches lesen wir bei dem gleichzeitigen Tragiker Moschion. Er betrachtete ebenfalls die Zeit als die Mutter und Amme aller Dinge, sie habe auch die Menschen zu zivilisierten Wesen gemacht; ob sie sich dazu der Hilfe des Prometheus oder der Notwendigkeit oder der Natur bedient habe, scheint dem Autor unerheblich.46 Er nennt als Stufen des Fortschritts den Getreidebau, die Weinherstellung, das Ackern mit Zugtieren, den Bau von Häusern und Städten sowie die Bestattung der Toten in der Erde. Woher wußte man, daß dies nicht schon immer üblich war? Es ist archäologisch seit dem Neandertaler bezeugt. 3e. Die Griechen verstanden die Kulturgeschichte als Lernprozeß, wobei die weiter entwickelten Völker als Lehrmeister ihrer Nachbarn auftreten. Das Bewußtsein der translatio artium, in der die jüngeren Völker die Errungenschaften der älteren übernehmen, ist so alt und so verbreitet wie das der heurēmata selbst. Autoren wie Herodot und Platon waren sich klar darüber, daß die griechische Kultur jünger war als die der Ägypter und sich vieles von dieser angeeignet hatte.47 Flavius Josephus betrachtete die Chaldäer in Babylon als die ältesten Weisen und Abraham aus Ur als den Lehrer der Ägypter, von denen dann die Griechen gelernt hatten.48 Sie gingen freilich auch bei anderen Völkern in die Schule, vervollkommneten dann aber die Übernahmen ihrerseits, wie Platon bemerkte. Wo wie in Athen der Nationalstolz mitsprach, da betrachtete man sich freilich lieber als der Gebende denn als der Nehmende, so Platon im ›Menexenos‹ und Isokrates im ›Panegyrikos‹.49 3f. In noch stärkerem Maße empfanden sich die Römer als Schüler. Polybios berichtet,50 daß die Römer trotz ihrer konservativen Lebensweise es keineswegs als Einbuße an Selbstachtung ansähen, Errungenschaften von anderen Völkern bei sich einzuführen. Das Übernommene aber suchten auch sie jeweils zu verbessern, wie Cicero den jüngeren Scipio, den Freund des Polybios, sagen läßt. Cicero stellt es geradezu als Prinzip auf, daß die Römer sich alles aneigneten, was sie irgendwann und irgendwo an löblichen und nützlichen Dingen fänden.51 Athenaios zählt im einzelnen auf, was die Römer den Griechen, den Phöniziern, den Etruskern, den Samniten und den Spaniern im Bereich der Kriegskunst verdankten.52 3g. Den Fortschritt als kollektiven Lernprozeß verdeutlichte Polybios daran, wie beim Einzelnen das Erlernen der Schrift vor sich geht. Erforderlich sei eine gewisse Intelligenz, die Einsicht in den Nutzen des Lernstoffes und Geduld. Die Zeit und die Übung haben inzwischen, so schreibt er, den Kenntnissen und Fertigkeiten zu einem solchen Aufschwung verholfen, daß von den meisten eine methodische Wissenschaft (methodikē epistēme) entstanden ist. Anlaß für diese Bemerkung ist ein Exkurs über die Verbesserung der Nachrichtenübermittlung durch Feuerzeichen, die Polybios selbst so weit perfektioniert hatte, daß selbst einzelne Buchstaben signalisiert werden konnten, im Kriegsfall von hoher Bedeutung.53



4. Kulturentwicklung

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3h. Nicht nur im Militärwesen, sondern auch in der Literatur und der Kultur überhaupt sahen sich die Römer in einem edlen Wettkampf mit den Griechen, ahmten sie nach und wollten sie übertreffen.54 Cicero nannte Athen die Quelle, von der aus humanitas, doctrina, religio, fruges, iura, leges zu allen anderen Völkern gelangt seien. Athen sei die Erfinderin sämtlicher Künste und Wissenschaften, die Rom dann vollendete.55 Für einen Römer war es so selbstverständlich, daß die Späteren die Früheren nachahmen, daß Cassiodor einmal von der aemulatrix posteritas sprach.56

4. Kulturentwicklung 4a. Das Bewußtsein der antiken Autoren vom historischen Fortschritt äußert sich nicht nur in den Hinweisen auf einzelne Neuerungen und die Kräfte, die sie herbeigeführt haben, sondern fand auch Niederschlag in zusammenhängenden Erzählungen von den Anfängen der zivilisatorischen Entwicklung. Es ging um die Verbesserung der Lebensumstände, die Perfektion der Technik und namentlich um die Vermehrung des Wissens, auf das die Griechen so stolz waren. Schon von Demokrit, dem Begründer der Atomtheorie, wird das Wort überliefert, er wolle lieber ein neues Naturgesetz (aitiologia) finden als König von Persien werden. Damit ist ein Lebensgefühl ausgesprochen, das in der Vermehrung und Vertiefung des Wissens seine Erfüllung suchte.57 4b. Auf Demokrit wird ein bei Diodor überlieferter Entwurf der Kulturentstehung zurückgeführt.58 Er schreibt: „Über den Anfang der Geschichte haben wir folgende Kunde. Nach ihrer Entstehung führten die Menschen ein Dasein in der Art der Tiere, ohne jede Ordnung. Sie lebten weit zerstreut und suchten sich Futterplätze; wohlschmeckende Kräuter und Baumfrüchte waren ihre Nahrung. Von wilden Tieren bedrängt, halfen sie einander. So lernten sie sich kennen, indem die Furcht und ein gemeinsames Interesse sie zusammenführte. Ihre Laute waren anfangs verworren, später artikulierten sie Wörter und schufen Bezeichnungen für die Dinge, so daß man sich verständigen konnte. Auf der ganzen bewohnbaren Erde entstanden solche Vereinigungen, deren jede ihre eigene Sprache entwickelte. Diese Urhorden wurden die Ahnen der späteren Völker. Die ersten Menschen führten ein kümmerliches Dasein, da noch keinerlei zum Leben nützliche Erfindungen gemacht waren. Es fehlte Kleidung, Behausung und besseres Essen. Noch wußte man nichts vom Speichern der Früchte für Zeiten der Not, darum starben viele zur Winterszeit vor Hunger und Kälte. Erst Erfahrung machte die Menschen klug, man zog sich winters in Höhlen zurück und lebte von haltbaren Früchten. Als dann der Gebrauch des Feuers entdeckt war, wurden nach und nach auch die anderen nützlichen Einrichtungen, die Künste (technai) und Gewerbe erfunden, die das Leben angenehm machen. Allenthalben war die Not (chreia) die Lehrmeisterin der Menschen. Sie brachte ihnen die Erkenntnis (mathesis) der Dinge, denn der Mensch ist

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

ein begabtes Tier, das sich in jeder Lage seiner Hände, seiner Sprache, seines Verstandes bedient.“ Die Tiere zählte Demokrit zu den Lehrern des Menschen. Von den Spinnen habe er die Textilarbeit gelernt, von den Schwalben den Hausbau und vom Schwan und von der Nachtigall den Gesang.59 4c. Eine zentrale Rolle spielt der Entwicklungsgedanke bei Aristoteles. Aus­ gehend von Beobachtungen in der Biologie findet er allenthalben Vorgänge, die ­von der bloßen Möglichkeit, wie sie der Samen birgt, über allmähliche Zunahme ­(epdosis eis hauto) zur Vollendung (entelecheia) in Blüte und Frucht führen. Einen derartigen Prozeß erkennt er in einzelnen Kulturerscheinungen, etwa in der Geschichte der Tragödie, die für ihn die höchste Stufe der Poesie darstellt. Das begann mit improvisierten Liedern zur Phallusprozession und kulminierte in den Dramen des Sophokles.60 Entsprechend habe sich die menschliche Gesellschaft aus primitiven Anfängen weiterentwickelt. Aristoteles verweist auf den Kyklopen der Odyssee, der noch separat in seiner Höhle hauste, und zeigt den Fortschritt von der Hausgemeinschaft über das Dorf zur Stadt, die alles biete, was zum guten Leben ­ (eu zēn) erforderlich sei. Diesen Zustand nennt er das telos oder die physis, das Ziel oder die wahre Natur. Barbarische Sitten wie das Waffentragen und der Frauenkampf existierten nur noch bei weniger zivilisierten Naturvölkern.61 Zuerst bemühen sich die Menschen um das Notwendige wie Nahrung und Wohnung, dann um das Angenehme wie Kunst und Musik und zuletzt um das Überflüssige wie den Luxus oder das Zweckfreie wie die Philosophie und die Wissenschaft, die Aristo­ teles in naher Zukunft vollendet glaubt.62 4d. Den von Aristoteles behandelten Fortschrittskriterien hat sein Schüler Dikaiarchos aus Messene noch diejenigen aus der Landwirtschaft hinzugefügt.63 Im Naturzustand hätten die Menschen einfach als Sammler gelebt, „ohne die Erde zu verletzen.“ In der folgenden Periode hätten sie Tiere gezähmt, als erstes Schafe. Die dritte Phase hätte den Ackerbau gebracht, doch wäre dabei noch vieles aus den beiden vorangegangenen Abschnitten übernommen und weitergeführt worden. Mit dem Fortschritt in der agri cultura, der Pflege des Bodens, verbanden Cicero und Plutarch eine fortschreitende Kultivierung der Sitten; die cultura animi.64 Lateinisch cultura ist kein Sammelbegriff für fertiges Menschenwerk oder für einen Lebensstil wie „Kultur“ im Deutschen, sondern bezeichnet einen progressiven Vorgang, die Kultivierung des Wildwuchses sowohl in der freien Natur als auch in der des Menschen mit seinen angeborenen Trieben. Landbau, meinte man, mache friedlich, jedenfalls im Vergleich zum vorausgegangenen Nomadentum. Daher wird die dem frührömischen König Numa zugeschriebene Aufteilung des Bodens durch Grenzsteine als Befriedung gedeutet. Hier darf man freilich zweifeln: Um Streit zu vermeiden, wurde das Eigentum eingeführt, aber seit es eingeführt ist, streitet man um nichts lieber als um das Eigentum. 4e. Der Fortschritt in der Erkenntnis ist in der römischen Literatur vornehmlich von Lucrez und von Seneca herausgestellt worden. Lucrez (gest. 55 v. Chr.) hat ein



4. Kulturentwicklung

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auf Demokrit und Epikur fußendes Weltbild entworfen. In seinem Gedicht ›De rerum natura‹ wird eine Theorie der Zivilisationsentwicklung vorgestellt, die ausgeht vom tierischen Hordenleben der Menschheit.65 Es folgt die Einführung von Behausung und Kleidung; die Sprache und das Feuer werden verfügbar, Städtebau und Geldwesen, Gesetz und Religion erleichtern das Zusammenleben. Immer neue Erfindungen kommen hinzu, Ackerbau und Musik werden genannt. Als größten Fortschritt aber preist Lucrez die materialistische Philosophie Epikurs,66 die den Menschen von Aberglauben und Höllenfurcht befreie und die Vernunft allmählich zum Lichte führe. Nachdem einst der Sophist Kritias die Furcht vor den Göttern als nützliche Erfindung gepriesen hatte, wird nun deren Überwindung ebenfalls als Fortschritt gefeiert. 4f. In der römischen Kaiserzeit hält das Bewußtsein eines Wissensfortschritts an. Während Plinius die neuen Erkenntnisse der Astronomie nutzte und in den kommenden Jahrhunderten weitere Entdeckungen auf dem von den älteren Forschern eröffneten Wegen voraussagte, rühmte Strabon und nach ihm Cassius Dio die Erweiterung der geographischen Kenntnisse.67 Ebenso pries Seneca die Erfindungen der Vergangenheit. Er rief auf zu deren Mehrung und prophezeite weitere Einsichten in kommenden Jahrhunderten. Diese Erwartung künftiger wissenschaft­licher Erkenntnisse nimmt in den ›Naturales Quaestiones‹ geradezu emphatische Form an. Die alten Ansichten seien berichtigt worden, denn nichts sei von Anfang an vollkommen. So wie bisher große Entdeckungen gemacht wurden, werde jedes Zeitalter etwas zu tun finden. „Es wird die Zeit kommen, wo die heute noch verborgenen Geheimnisse der Natur entschlüsselt sein werden, wo die Menschen sich über unsere Torheiten wundern werden, und wo das heute auf wenige Völker beschränkte ­Wissen allgemein verbreitet ist.“ In seiner Tragödie ›Medea‹ erwartet Seneca in den Worten des Chores von künftigen Jahrhunderten die Entdeckung neuer Kontinente jenseits der ultima Thule im Atlantik.68 Schon Francis Bacon dachte 1625 in seinem 35. Essay hier an Amerika. Vielen Neuerungen ging eine Vision voraus. 4g. Die Annahme eines Wissensfortschrittes begegnet schließlich auch bei spätantiken und christlichen Autoren. Der Grammatiker Priscian schrieb um 500 im Prolog zu seinen ›Institutiones grammaticae‹, die späteren Menschen blickten immer weiter als die früheren: quanto iuniores, tanto perspicatiores. Dies hat zu dem seit Bernhard von Chartres im Mittelalter beliebten Bild von den Zwergen geführt, die auf den Schultern von Riesen sitzen: Auch wenn wir selbst kleinere Geister sind als Platon, Aristoteles und Augustinus, so sehen wir doch weiter als diese. Otto von Freising verband das höhere Wissen der Gegenwart mit dem inzwischen höheren Alter der Welt, im senium mundi werde die Menschheit zwar schwach, aber weise. Das habe selbst der Prophet Daniel vorausgesagt: pertransibunt plurimi et multiplex erit scientia, „viele werden seine Prophetie durchforschen, und das Wissen wird sich vermehren.“69 Das aber ändert nichts an der künftigen Verdammnis der verstockten Sünder.

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

4h. In ähnlicher Art hat auch Augustinus die Kulturgeschichte in sein Heilskonzept eingebaut. Ausführlich beschreibt er, was die Gnade Gottes dem Menschen geschenkt hat: die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die segensreichen und staunenswerten Werke der Natur und alles, was der Mensch im Zuge des Fortschritts daraus hat machen können. Die dunklen Seiten der Zivilisation werden nur angedeutet, insgesamt erscheint sie in blendendem Licht. Und trotzdem sei das kein Grund zum Stolz. Denn die Güter und Freuden dieser Welt dienten einerseits dazu, daß die von Gott zur Hölle Verdammten es wenigstens auf Erden schön hatten, und andererseits dazu, daß die zur Erlösung im Himmel Vorausbestimmten schon hienieden einen Vorgeschmack des Paradieses und Dank für die Gottesgüte empfänden.70

5. Verbesserungen im Staatsleben 5a. Der vierte Sektor des Fortschritts neben der Technik, der Landwirtschaft und der Erkenntnis ist die Politik. Die Vorzüge eines gut geregelten Zusammenlebens zeigen sich in progressiven Bereichen wie Seefahrt, Waffenherstellung und Städtebau. Das wichtigste Zeugnis dafür liefert Thukydides im ersten Buch zu seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Thukydides glaubte, dieser Krieg sei der größte aller Zeiten gewesen, weiß aber, daß dies alle Geschichtsschreiber behaupten, um die Wichtigkeit ihres Werkes zu unterstreichen und sichert sich gegen diesen Einwand durch seine sog. „Archäologie“. 5b. Anfangs seien die Bewohner des später Hellas genannten Landes nicht seßhaft gewesen, ein großes Völkergeschiebe habe geherrscht. Die Lebensweise war primitiv, große Städte gab es noch nicht. Der Trojanische Krieg brachte den ersten Zusammenschluß von zahlreichen Stämmen, der gemeinsame Hellenen-Name sei jünger. Minos auf Kreta habe die erste Flotte gebaut und ein Seereich errichtet. Damals sei Seeraub nichts Schimpfliches gewesen, die Männer gingen allgemein in Waffen wie heute noch die nördlichen Barbaren und die Griechen in den Bergen. Die Athener hätten als erste im täglichen Leben die Waffen abgelegt und ein üppiges Leben geführt, im Gegensatz zu den Spartanern. 5c. Mit fortschreitender Seefahrt, mit wachsendem Handel seien auch immer mehr Hafenstädte angelegt worden; zum Schutze des zunehmenden Reichtums habe man Stadtmauern gebaut. Thukydides weist auf den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Krieg hin. Die mächtigeren Städte hätten die schwächeren teils unterworfen, teils friedlich angegliedert, wobei das Streben nach Schutz ein Motiv dafür gewesen sei, daß sich die Kleinen freiwillig den Großen untergeordnet hätten. Sofern Homer ein zuverlässiger Zeuge sei – Thukydides läßt das offen, neigt aber dazu, es zu bejahen –, war das Heer Agamemnons nicht groß, Ausrüstung und Schiffsbau seien noch vergleichsweise primitiv gewesen. Thukydides erklärt, die Schiffe hätten noch keine Decks gehabt. Das größte Manko habe im Fehlen des Geldes bestanden; die Männer Agamemnons konnten nichts kaufen und mußten



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während der langwierigen Belagerung selbst Ackerbau treiben. Überhaupt sei ohne Geld – in Griechenland! – nichts Großes möglich gewesen. 5d. Die aufkommende Geldwirtschaft habe dazu geführt, daß in den Städten die erblichen Könige von Tyrannen verdrängt worden seien. Korinth habe unter seinen Tyrannen das Heerwesen entscheidend verbessert und sei durch seine Einkünfte die reichste und mächtigste Stadt geworden. Danach hätten die Tyrannen Siziliens neue, bessere Schiffstypen konstruiert, und gemäß diesen Vorbildern habe dann Themistokles die Athener dazu bewogen, eine Flotte zu zimmern. Dieser allgemeine Aufschwung habe zum Ausgreifen der Poleis und zum Kriegszustand mit den jeweiligen Nachbarn geführt. Hier zählt Thukydides die kriegerische Konkurrenz zu denjenigen Faktoren, welche die Entwicklung begünstigt haben. 5e. Als weitere Bedingung für den fortdauernden Aufschwung nennt Thuky­ dides die Beseitigung der Tyrannenherrschaft und die im Perserkrieg entstandenen größeren Bündnisse. Diese betrachtet er als etwas Neues: Unter dem Druck der äußeren Gefahr seien die Griechen zu bisher ungekannten Leistungen angespornt worden. Das attische Seereich Athens mit seinen Steuern, der peloponnesische Bund mit dem Kriegerstaat Sparta an der Spitze sind für Thukydides die politisch und militärisch stärksten Mächte der Geschichte. Um ihre Bedeutung zu verstehen, entwarf er diesen Abriß der technischen und staatlichen Entwicklung, die auf beiden Gebieten zu einer bisher nie erreichten Höhe geführt habe. 5f. Über den künftigen Gang der Geschichte macht Thukydides keine bestimmten Aussagen, aber er formuliert ein Erfahrungsgesetz: Solange sich Menschen bemühen, wie er das in Athen bemerkt, solange siegt wie in der Technik auch in der Politik das Neue notwendig über das Alte. Der Weg dazu sei die polypeiría, die Erfahrung auf allen Gebieten. Ein Zeitgenosse des Thukydides empfahl, den Fortschritt gesetzlich zu verankern: Hippodamos von Milet hat ein Gesetz vorgeschlagen, Erfindungen staatlich zu prämieren.71 Im frühen 4. Jahrhundert versicherte der große Arzt Hippokrates die ständigen Fortschritte der Heilkunde ließen in naher Zukunft die Vollendung der Medizin erwarten.72 Das hat sich dann doch verzögert. 5g. Die Vorstellung einer fortschrittlichen Entwicklung in Technik und Staats­ leben finden wir sodann in dem bei Platon aufgezeichneten „Mythos“ des Sophisten Protagoras.73 Er erzählt, wie die Götter die Tiere geschaffen und sie mit ihren jeweils lebensnotwendigen Fähigkeiten ausgestattet hätten. Diese waren vergeben, als der Mensch gebildet wurde. Daher erhielt er durch Prometheus das Feuer und die Technik. Der Mensch entwickelte die Sprache, versorgte sich mit Kleidung, Wohnung und Nahrung. Die Gründung von Städten drohte zu scheitern, weil die Menschen uneinig waren. Da sandte Zeus den Götterboten Hermes zu ihnen, der brachte ihnen den Sinn für Gerechtigkeit und Gemeinwohl, und zwar nicht wie die Begabung für das Flötenspiel oder die Heilkunst Einzelnen, sondern Allen. Und darum habe, so Protagoras, in Athen bei den gemeinsamen Angelegenheiten jeder Bürger die Fähigkeit und das Recht der Mitsprache.

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

5h. Platon hat dann auch seinerseits den Ursprung der Polis aus einer idealen Geschichte abgeleitet. Im zweiten Buch seiner ›Politeia‹ reflektiert er über die Entstehung des Staates aus der Bedürfnis-Struktur des Menschen. Weil ein Einzelner sich allenfalls kümmerlich am Leben halten könne, hätten sich die Menschen zusammengeschlossen. Die Vielfalt der Erfordernisse sei der Ursprung des gemeinsamen Arbeitens, Wohnens und Planens. Wo eine dauerhafte Wohngemeinschaft selbständiger Menschen besteht, rechnet Platon mit einem Staat. 5i. Auf das wichtigste und erste Bedürfnis der Nahrungsbeschaffung folgen Wohnungsbau und der Kleiderherstellung. Da die einzelnen Menschen teils zu diesem, teils zu jenem geschickt seien, habe es im Interesse einer möglichst guten und reichen Produktion gelegen, die Arbeit aufzuteilen und eine Spezialisierung vorzunehmen. Nur so sei eine höhere Leistung möglich. Platon schildert, wie sich so die Zahl der Handwerke allmählich vermehrt habe. Da nun aber nicht alles überall herzustellen ist, sei der Handel entstanden. Ein Staat ohne Handel scheint ihm undenkbar, Handel setze sowohl Überproduktion voraus als auch einen Kaufmannsstand. Der so geschaffene Markt bedürfe des Geldes. Um die Spezialisten für ihr besonderes Können freizustellen, habe man Tagelöhner eingeführt. 5j. Als Norm des Umgangs bestimmt Platon die Gerechtigkeit, die er auffaßt als den Ausgleich zwischen dem, was der Einzelne für die Gemeinschaft leistet und dem, was ihm von der Gemeinschaft zusteht. Platon sieht indessen, daß die Menschen immer mehr haben wollen. Ein Staat, der lediglich den Grundbedarf deckt, wird als Schweinestaat bezeichnet. Dem steht der üppige Staat gegenüber, der auch den Luxus kennt. Der Wunsch, mehr zu verbrauchen, als man herstellt, führt zur Expansion, zum Kriege, der ein Heer erforderlich macht, und zwar ein Berufsheer, weil dieses besser geschult sei. Damit ist Platon von der Staatsbildung zur Politik gelangt, er ist mitten in der Geschichte. 5k. Im III. Buch seines Alterswerkes über die ›Gesetze‹ geht Platon auf die ­Entstehung von Staat und Kultur nochmals ein. Sein Fortschrittskonzept entfaltet sich innerhalb eines zyklischen Phasenmodells; die einzelnen Abschnitte werden durch Flutkatastrophen getrennt. Nach der letzten Sintflut seien primitive Berg­ hirten übriggeblieben. Sie beherrschten bloß noch Töpferei und Webekunst.74 Im Laufe der Jahrtausende hätten dann einzelne Erfinder wie Daidalos, Orpheus und Pala­­­medes die Kultur vorangebracht, auch die Metallbearbeitung mußte erst ­entwickelt werden. All das vollzog sich sehr langsam, während die Menschen sich vermehrten. 5l. Die damalige, erste Gemeinschaftsverfassung ist für Platon – historisch sicher richtig – die patriarchalisch verfaßte Horde. Als Illustration verweist er auf die Kyklopen bei Homer, die ohne Rathaus und Gesetze in Höhlen hausten. Auch bei den zeitgenössischen Barbaren findet Platon noch derartiges. Kriege habe es damals noch nicht gegeben, die Menschen waren genügsam und hatten auch nichts, was sie einander rauben konnten. Das Leben war einfach, die Leute waren ehrlich.



5. Verbesserungen im Staatsleben

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5m. Als zweites Stadium der Geselligkeit betrachtet Platon die Anlage befestigter Siedlungen am Fuße der Berge, nachdem sich das Wasser weiter verlaufen hatte. Es bildeten sich größere Gemeinschaften. Sie bestanden noch aus Familienverbänden mit jeweils besonderen Gepflogenheiten. Jetzt wurde die Gesetzgebung nötig. Über sie entschied die Versammlung der Familienhäupter, der „Könige“, die vielleicht auch einen Oberkönig in der Art Agamemnons anerkannten. Wir haben hier mithin die Polis in aristokratischer oder monarchischer Verfassung. 5n. Der dritte Typus ist nun die reiche, voll entwickelte Stadt in der Ebene. Platon wählte als Beispiel Troja. Er spricht von einer zusammengesetzten Stadt, verweist auf die wachsende Größe und denkt an eine konsolidierte Gemeinschaft, die Kriege führen kann. Als vierten Staat führt Platon dann den Staatenbund an, eine Symmachie mehrerer Poleis zum gemeinsamen Zweck der Verteidigung und des Angriffs. Der Krieg erscheint hier als ein die Staatsbildung förderndes Element. Strabon interpretierte diese politischen Fortschritte bei Platon geographisch: Die Menschen zogen von den Bergen an die Hänge, dann in die Ebene und weiter auf die Inseln. Je näher die Menschen dem Wasser kommen, desto zivilisierter werden sie. Das Wasser verbindet, der meiste Verkehr geht über See. Platon sah darin ­freilich auch Schattenseiten, weil die Hafenstädte ein Element der Unruhe darstellen – mit neuen Waren kommen neue Ideen, dem Luxus folgt das Laster.75 5o. Platon bleibt beim Staatenbund stehen. Den Schritt vom Staatenbund zum Bundesstaat oder gar zum Flächenstaat hat er nicht vollzogen. Er und Aristoteles haben die Polis als Endpunkt des Fortschritts betrachtet; diese Grundform des Staates schien ihnen nicht mehr überholbar, einzig die Frage blieb offen, wie denn die ideale Verfassung der Polis aussähe, und ihr galten die Überlegungen der griechischen Staatstheoretiker. Platon entwarf in seiner ›Politeia‹ einen musterhaften Stadtstaat, den er gleichwohl nicht gegen den schließlichen Zerfall gefeit glaubte,76 während im „zweitbesten Staat“ der Nomoi eine Prozedur vorgesehen ist, wie die Gesetze zu verbessern sind.77 Hier wird mithin ein Fortschritt eingeräumt, ohne daß allerdings klar würde, ob er nicht bloß eine Anpassung an veränderte Umstände bedeutet. 5p. Das weitergehende Bewußtsein von politischem Fortschritt segelte im Kielwasser der faktischen Geschichte. Es war die Entfaltung des Imperium Romanum, das hier neue Denkanstöße gab. Dies zeigt sich bei Polybios. Obwohl er Grieche und ursprünglich Gegner Roms war, hat er sich von den Vorzügen dieses Staatswesens überzeugen lassen und erblickte in ihm den Gipfel des politischen Fortgangs. Alle bisherige Geschichte habe sich auf dieses telos zubewegt, vom Schicksal in diese Richtung gezwungen. Selbst Katastrophen hätten diesen Prozeß nur beschleunigt, sie stehen im Zusammenhang einer gesamtgeschichtlichen Ökonomie. Jetzt sei die Welt gleichsam ein einziger Organismus geworden.78 Der politische Fortschritt hat gemäß Polybios auch weitergehende Folgen. Er erklärte, in seiner Zeit gingen die Künste und Wissenschaften schneller voran als früher, weil das Imperium einen

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

gefahrlosen Verkehr gestatte.79 Die Möglichkeit einer freien Bewegung ist immer am römischen Reich gerühmt worden, nicht nur von Heiden wie Epiktet, sondern auch von Christen wie Orosius, und an diesem Punkte treffen sich zivilisatorische und politische Sphäre.80 5q. Fortschrittsbewußtsein im Bereich der Politik zeigen ebenfalls Ciceros Überlegungen zur römischen res publica.81 Er erklärt sie für die beste aller Staatsformen und dies nicht nur im Vergleich zu den geschichtlichen Verfassungen der Griechen, sondern auch zu den utopischen Idealstaaten. Cicero findet den Vorzug Roms darin, daß hier über ein halbes Jahrtausend politische Erfahrungen systematisch gesammelt und ausgewertet worden sei, eine Tradition sich in allen äußeren und inneren Schwierigkeiten bewährt habe, und dieses historische Faktum wiegt seiner Meinung nach selbst Platons geniale Ausführungen über den Idealstaat auf. 5r. Die Vorstellungen vom politischen Fortschritt in der Antike kulminieren in der Romideologie der Kaiserzeit. Mit der Konsolidierung des Imperiums unter Augustus traten die Untergangsvisionen der Bürgerkriegszeit zurück, die Angst vor dem Ende wich dem Ende der Angst.82 Zwar hat es bis in die Spätantike einzelne Gesinnungsrepublikaner gegeben, die den Kaisern die Beseitigung der senatorischen Freiheit verübelten,83 aber die herrschende Meinung war, daß die Pax Augusta die Lebensordnung vollendet habe. Vergil verkündete in seinem vierten Hirtengedicht, der saeculi novi interpretatio, die Wiederkehr des goldenen Zeitalters. In der Äneis erfüllt Augustus mit seinem imperium sine fine, seinem ewigen Weltreich, die Verheißung des Göttervaters. Den Römern sei die Aufgabe übertragen, die Völker zu regieren, ihnen Frieden, Recht und Gesittung zu bringen.84 5s. Die augusteischen Dichter und die Redner der Kaiserzeit haben Rom als Gipfel und Endpunkt der Weltgeschichte gepriesen, und auch die Griechen stimmen ein, so Strabon unter Augustus, Dion Chrysostomos, Plutarch und der jüngere Plinius unter Trajan sowie Aelius Aristides in seiner Rom-Rede unter Antoninus Pius.85 Die Expansion des Imperiums war abgeschlossen. Okzident und Orient trafen sich auf den Märkten von Alexandria.86 Auch die innere Geschichte erscheint als der gleichbleibende Endzustand vergangener Fortschritte. Sichtbarer Ausdruck des Aufstiegs war die Baugeschichte Roms.87 Unter Augustus beschreibt der Dichter Properz seine Vision, wie da, wo heute Marmorpaläste prangen, einst die strohgedeckten Hütten armer Hirten standen. Ebenso verherrlicht Ovid die Zivilisation der Aurea Roma, er lobt die Urbanität seiner Gegenwart – mögen andere die angeblich gute alte Zeit preisen! Haec aetas moribus apta meis! „dieses Zeitalter paßt zu meiner Lebensart.“88 5t. Erwartung zivilisatorischer Fortschritte bezeugt noch Marc Aurel. Aber er warnt: „Hoffe nicht auf Platons Staat, sondern sei zufrieden, wenn es in kleinen Schritten vorwärts geht.“ Eben dieses bemerkte unter ihm auch der Jurist Gaius in seiner Schrift über das Zwölftafelgesetz: Die Rechtsgelehrten seien imstande, das Rechtswesen von Tag zu Tag zu verbessern.89 Bis ins frühe 3. Jahrhundert traf das



6. Fortschrittskritik

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auch zu, doch bedeutet das spätantike Vulgarrecht eine Vergröberung, einen Niveauverlust der Jurisprudenz. Die Vorstellung von Fortschritt im religiösen Bereich finden wir schon bei Platon, wenn er meint, die Griechen hätten ursprünglich nur die Himmelskörper verehrt, und bei Herodot, der erklärte, Homer und Hesiod hätten den Griechen die Götter geschenkt.90 Die Römer betrachteten König Numa als Stifter ihrer wichtigsten Riten; Livius bemerkte, das Kultlied auf Juno Regina von 207 v. Chr. sei so schaudervoll (abhorrens et inconditum), daß er es nicht zitieren könne. Dem älteren Geschmack war es vielleicht angepaßt, aber unserem verfeinerten Empfinden, meint er, ist es zuwider.91 5u. Die religiöse Wende Constantins brachte dann eine abschließende Steigerung des antiken Fortschrittgedankens. Das Imperium Romanum Christianum erschien den Kirchenvätern Eusebios von Caesarea, Ambrosius von Mailand und namentlich Orosius als die letzte und höchste der Staatsformen.92 Das Christentum habe auf allen Gebieten, auch auf dem politischen, Besserung gebracht und verspreche weitere Fortschritte auf Erden. Es kam zu einer Verschmelzung der progressiven Reichsideologie mit der eschatologischen Heilsgeschichte. Sie zeigt bereits in der Spätantike einen säkularen Aspekt, ehe sie in der Aufklärung vollends verweltlicht wurde. 5v. So begleitet den Fortschritt auf der Ereignisebene ein Fortschrittsgedanke auf der Bewußtseinsebene bis zur letzten Phase des Altertums. Dabei geht es nicht allein um die Errungenschaften der Vergangenheit, sondern ebenso um Erwartungen an die Zukunft. Weitere Fortschritte wurden auf vielen Lebensgebieten prognostiziert: in den Bereichen der Erfindungen und Entdeckungen, in der Medizin, in der Philosophie, im Recht, im Staatsleben und in der Mission. Mithin wird man kaum sagen können, das historische Bewußtsein sei ein „junges Phänomen“, um 1750 entstanden.93 In der Regel sind es die Nutznießer der gegenwärtigen Lage, die mit weiteren Verbesserungen auf ihren Gebieten rechnen. Mit der Völkerwanderung ist das vorbei. Die Einnahme Roms 410 durch Alarich, der die Kirchen schonte, konnte ein Orosius noch mit seinem Fortschrittsbewußtsein vereinbaren. Die Goten hätten Gold gesucht und den Glauben gefunden. Den hatten sie freilich schon vorher, ihren Arianismus, und den behielten sie bei. Die Plünderung Roms durch Geiserich und seine Vandalen 455 war für Prokop beim besten Willen nicht mehr progressiv zu interpretieren. Dennoch zweifelte er am Fortbestand des Imperiums ebensowenig wie wir heute an der Zukunft der Demokratie.94

6. Fortschrittskritik 6a. Kritik am Fortschritt lag bereits im Paradieses- und Pandora-Mythos vor. Es wurde früh deutlich, daß die Technik sich allen Zwecken fügt, daß eine verbesserte Herrschaft über die Natur auch eine verbesserte Herrschaft über Menschen bedeutet und verbesserte Herrschaft gesteigerten Mißbrauch ermöglicht. Die Zivilisation

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

machte die Menschen nicht besser, nicht zufriedener, nicht menschlicher. Und so kommt es zur Kritik der fortschreitenden Vernunft an der fortgeschrittenen Zivilisation. 6b. Das Bewußtsein von den Grenzen des Fortschritts begegnet im Alten Testament im Kapitel 28 des Buchs Hiob aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Hiob zählt eine lange Liste menschlicher Errungenschaften auf, er nennt die Techniken, mit denen Metalle gefunden und bearbeitet werden, er beschreibt, wie die Menschen Gold und Silber, Onyx und Saphire aus der Erde holen – bloß Weisheit und Einsicht finde man so nicht. Man könne sie nicht ergraben, nicht erhandeln – dabei sei sie kostbarer als alles. Nur Gott kennt ihre Stätte. Er spricht zum Menschen: „Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und Meiden das Böse, das ist Einsicht.“ 6c. Innerhalb der griechischen Literatur wurde der Januskopf des Fortschritts gerade von denjenigen Autoren herausgestellt, die als Zeugen des Fortschrittsbewußtseins heranzuziehen waren. Sophokles ließ sein Chorlied über die Leistungen der Menschen ausklingen in ein Erstaunen über die Unbesonnenheit und die Verblendung.95 Thukydides entfaltete das Bild vom zivilisatorischen Prozeß just dazu, den Peloponnesischen Krieg als die größte bisherige Katastrophe zu erweisen. Die technisch-politischen Möglichkeiten dienen konstruktiven wie destruktiven Zwecken, daher besteht eine Korrespondenz zwischen den positiven und den negativen Seiten des Fortschritts, solange die Menschen als (un)moralische Wesen sich gleichbleiben. 6d. Als zweite Phase der Aufklärung nach der ionischen Naturphilosophie gilt die Sophistik am Ende des 5. Jahrhundert v. Chr. Sie hat, so wie Sokrates, statt der Natur den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gestellt. Dabei kam es auch zu fortschrittskritischen Positionen. Hippias von Elis beklagte den Konflikt zwischen der segensreichen Natur (physis) und den verderblichen Satzungen der Menschen (nomos),96 eine Antithese, die bis zu Rousseau, Sigmund Freud und Konrad Lorenz immer wieder variiert wurde. 6e. Breitenwirkung gewann die philosophische Kulturkritik in der kynischen Bewegung. Bereits Sokrates hatte im Gegensatz zu den Sophisten demonstrativ auf Wohlstand verzichtet, und sein Schüler Diogenes der Hund machte die Bedürfnislosigkeit zum Grundpostulat seiner Lehre.97 Er sonnte sich in seiner Tonne und suchte mit der Laterne auf dem vollen Markt nach Menschen, fand aber nur Geschäftemacher aller Art. Beim Anblick eines Wasser saufenden Hundes warf er seinen Becher weg. Als er Hunde sich in der Öffentlichkeit begatten sah, erklärte er alles Natürliche für gut und zeigte dies durch Handarbeit (Chirurgie). Zu Recht hätte Zeus den Prometheus an den Kaukasus geschmiedet, denn mit der Herrschaft über das Feuer habe die Verweichlichung des Menschen eingesetzt.98 Horaz beklagte die Tat des Prometheus im Hinblick auf das Kriegsgeschehen.99 Noch während der römischen Kaiserzeit finden wir in den Städten zahlreiche Kyniker. Kaiser Julian polemisierte in zwei Schriften gegen diese ungewaschenen, aufdringlichen Sozial­



6. Fortschrittskritik

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parasiten 362 n. Chr.100 Die christliche Askese setzte diese Strömung ins Mittelalter fort, doch kasteite man sich nicht für den Seelenfrieden jetzt und hier auf Erden, sondern für das Seelenheil dermaleinst im Himmel. 6f. Unter zivilisatorisch-technischem Aspekt hatte die antike Kultur ihren Höhepunkt im Hellenismus erreicht. Die späteren Erfindungen dienten großenteils Luxusansprüchen. Dies ist der Grund für die Fortschrittskritik eines Seneca, er hielt seine Gesellschaft für überzivilisiert. In seinem 90. Brief und an einigen Stellen der ›Naturales Quaestiones‹101 wandte er sich gegen die von Poseidonios vertretene Ansicht, die zivilisatorischen Fortschritte seien Philosophen und Wohltätern der Menschheit zu verdanken. Am Anfang ihrer Geschichte, so Seneca, hätten die Menschen in einem genügsamen Kommunismus, in allgemeiner Brüderlichkeit gelebt. Mit dem Lebensstandard seien die Laster gewachsen, die Menschen mußten sich gegen Verbrecher durch Gesetze, gegen Feinde durch Waffen schützen. Die Staatsgewalt wurde nötig und vernichtete die urtümliche Freiheit. Das Ergebnis des Fortschritts seien Luxus und Laster, Kochkunst und Kriegshandwerk. Wahre Philosophie diene nicht dem Wohlstand, sondern der Wahrheit, nicht der technischen Vernunft, sondern der rationalen Kritik im Dienst eines Lebens in genügsamer Eintracht und brüderlicher Glückseligkeit. Diogenes sei der wahre Philosoph, nicht Daidalos. Seneca meint, die Menschen sollten weniger über die Befriedigung als über die Folgen ihrer Bedürfnisse nachdenken. Ihm geht es, wie Cicero, Vitruv und Plinius Maior um die humanitas.102 Hier wird ein Konflikt angesprochen, der bis heute ungelöst ist. 6g. So wie wir den Fortschritt als Binnenfigur der christlichen Heilsgeschichte gefunden haben, so begegnet uns dort auch die Fortschrittskritik. Tertullian polemisierte in seiner Schrift ›De anima‹ (30) gegen die Seelenwanderung mit dem Argument, daß sie eine gleichbleibende Zahl von Lebewesen voraussetze. Dagegen aber spreche die Entwicklung der Menschheit, die sich vermehrt und ausgebreitet hat. Die Erde wird durch Verkehr, Landbau und Siedlung erschlossen, omnia iam pervia, omnia nota, omnia negotiosa: alles ist zugänglich, alles bekannt, alles geschäftig. Ubique populus, ubique res publica, ubique vita: überall Volk, überall Staat, überall Leben. In berüchtigten Einöden entstünden liebliche Landgüter, aus Wäldern, Wüsten, Sümpfen würden fruchtbare Äcker – heute gebe es mehr Städte als früher Hütten. 6h. Aber wohin führt das? Onerosi sumus mundo: Wir werden durch unsere ­Sittenlosigkeit der Welt zur Last. Die Gaben der Erde genügen uns nicht mehr, wir schlagen uns um ihretwillen die Köpfe ein. Iam nos natura non sustinet: die Natur hält den Menschen nicht mehr aus. Der Mensch wird zur Krankheit der Natur; ihre Heilmittel sind: Seuchen, Hunger und Krieg. Die Natur verschlingt ganze Staaten und schafft sich dadurch Erleichterung. Tertullian vergleicht das Handeln der Natur gegenüber dem Menschen mit dem Handeln des Menschen gegenüber der Natur. Wie der Arzt mit dem Messer, wie der Friseur mit der Schere, wie der Gärt-

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike

ner mit dem Beil die allzu üppig wuchernden Teile beseitigt, so vermindert die Natur die Menschheit, indem ihr Tun auf unser Geschick zurückschlägt. Das ist die Dialektik des Fortschritts, die Balance von Produktion und Destruktion, die sich in der Natur selbstläufig erneuert. 6i. Selbst das Streben nach Wissen geriet in die Kritik. Es wurde schon von Paulus gegenüber der Nächstenliebe abgewertet: „Das Wissen (gnōsis, scientia) bläht auf, Liebe (agapē, caritas) baut auf.103 Entsprechend wurden Vermehrung und Verbesserung der Erkenntnis von manchen Kirchenvätern für überflüssig gehalten. „Fleischliche Neugier“ trage nichts zum Seelenheil bei, alles Wissenswerte sei in der Heiligen Schrift enthalten, sie gelte es zu studieren und den Glauben zu stärken. So wie Paulus die Weisheit der Welt für Torheit vor Gott erklärte,104 haben Tertullian, Lactanz und die Apostolischen Konstitutionen aus der Zeit um 380105 die heidnische Literatur schlechthin verworfen und damit jeden Wissensfortschritt für eitel und nutzlos befunden. 6j. Hand in Hand mit dem Fortschrittsbewußtsein hat sich somit die Fortschrittskritik entwickelt. Schon die Griechen haben erkannt, daß mit dem Wohlstand der Neid wächst,106 daß die verbesserte Technik wie im guten so im bösen Sinne verwendet werden kann und namentlich im Kriege endloses Unheil anrichtet. Nulla salus bello.107 Es hat schon früh Versuche einer Schadensbegrenzung gegeben. So hing im Tempel der Artemis Amarynthia bei Eretria auf Euboia eine Inschrift aus dem Lelantinischen Kriege um 580 v. Chr., die jede Art von Fernwaffen (tēlebolos) als unritterlich verbot.108 Über den Erfolg hören wir leider nichts – mit Grund –, aber selbst der erwiesene Mißerfolg wäre ein Anlaß, ein vernünftiges Ziel wie jenes mit besseren Mitteln anzugehen – denn darin liegt der eigentliche Fortschritt.



Im großen Ganzen gibt es keinen Abstieg, sondern nur ein Netz pulsierender Bewegungen. Ernst Jünger

IV. Frühe Kreislauftheorien a. Im 12. Buch seiner ›Civitas Dei‹ wendet sich Augustin gegen die Kreislauftheorien Platons. Zyklische Vorstellungen, so meint der Kirchenvater, kennzeichneten das ziellose Umhertappen der Heiden. Der Christ hingegen wisse, daß die Geschichte vom Sündenfall zum Gericht voranschreite, daß nichts sich wiederhole, daß Christus nur einmal für unsere Sünden gestorben sei. Semel enim Christus mortuus est pro peccatis nostris. Augustin meint, wenn der ewige Wechsel wahr wäre, dann schwiege man besser, oder noch besser: man wüßte nichts davon. Ganz ähnlich hatte kurz zuvor Johannes Chrysostomos gegen die christenfeindlichen Lehren vom Kreislauf der Zeiten und vom Gesetz des Horoskops gewettert: Weder der Untergang von Sodom noch die Sintflut sei ein zweites Mal aufgetreten.1 b. Demgegenüber war für antikes Denken, wie Platon es zeigt, der Kreislauf die vornehmste Form der Bewegung. Er rangiert an der Spitze der Mobilitätsarten, denn er entspricht dem Umlauf der Gestirne, den Regungen der Seele und verbindet Wandel mit Stetigkeit wie der Kreisel.2 Die Konstanz der Rotation erlaubt Erkennung, während diese als unmöglich erachtet wird an Gegenständen, die sich im linearen Sinne dauernd ändern. Für den Christen war der Weltlauf ein singulärer Weg vom Urparadies zum Endparadies; der rotierende Kreis erschien daher als Bild der Sinnlosigkeit; für den Heiden war er das Symbol der Vollkommenheit. c. Die zitierten und ähnliche Stellen stützen die verbreitete Annahme, daß die Antike eine zyklische, das Christentum hingegen eine lineare Geschichtskonzeption vertreten habe. Nach dem, was über Dekadenz und Fortschritt zu bemerken war, läßt sich eine solche einfache Gegenüberstellung nicht aufrecht erhalten. Gleichwohl spielt der Gedanke von Kreisläufen im Geschehen bei den antiken Autoren eine wichtige Rolle. Das gilt für die altorientalische wie für die griechisch-römische Literatur.

1. Geschichte als Ritual im Orient 1a. Die einfachste Form der Zyklik besagt, daß die Geschichte aus einem Arsenal von vorgegebenen Ereignistypen zusammengesetzt sei, die sich wie ein Ritual unendlich oft wiederholen. Diese „Geschichtsvorstellung“, wenn sie überhaupt diesen Namen verdient, bestimmt das Denken vieler Naturvölker, die sich angesichts der Wechselfälle des Lebens mit dem Glauben an eine stabile Naturordnung trö-

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IV. Frühe Kreislauftheorien

sten. Diese vollzieht sich in der Form einer ewigen Wiederkehr, deren man sich durch Kulthandlungen symbolisch vergewissert. Ihnen wird zuweilen magische Bedeutung zugewiesen, indem das Unterlassen oder der fehlerhafte Vollzug von Ritualen die Naturordnung gefährdet. So bindet sich der archaische Mensch in das kosmische Geschehen ein und findet durch sein Wissen über die Natur seine Rolle in der Natur. In der Darstellung dieses Weltbildes sah Mircea Eliade die „Einleitung zu einer Philosophie der Geschichte.“3 1b. Spuren dieses Denkens finden sich in den Weltbildern der Hochkulturen, so bei den alten Ägyptern. Ihrem Geschichtsdenken liegt die Vorstellung einer gleichbleibendenWeltordnung, der Ma’ at, zugrunde. Sie wird in der Menschenwelt vollzogen durch den Pharao und seine Diener. Letztere erscheinen in den Texten gewöhnlich nur mit ihrem Titel, auch die Feinde bleiben meist anonym. 1c. Die geschichtlichen Ereignisse sind streng typisiert. Jeder Regierungsantritt beginnt damit, daß der König als Inkarnation des Gottes Horus das Chaos des vorangegangenen Interregnums beendet, das gar nicht stattgefunden haben muß. In der Regierungszeit werden die großen Staatsfeste notiert, die Stiftung von Kultanlagen, die Höhe der Nilüberschwemmung und Ähnliches. Dazu kommen die Vereinigung der beiden Länder, die rituellen Jagden sowie die Kriege. In diesen greift der Pharao niemals an, sondern schlägt nur Feinde nieder, die als Rebellen der göttlichen Ordnung hingestellt werden. Das normierte Resultat ist, daß die „Welt wieder wie bei ihrer Schöpfung“ ist – so Tutanchamun über das Ergebnis seines Wirkens.4 Das Muster für die Kriege der Pharaonen ist der Sieg der Götter Re und Horus in der mythischen Urzeit über ihre Feinde; nach ihm wurde noch in ptolemäischer Zeit die Schlacht bei Raphia 217 v. Chr. modelliert. Ja noch ums Jahr 400 n. Chr. beschrieb Synesios von Kyrene den Aufstand des germanischen Heermeisters Gainas gegen Kaiser Arcadius unter der Maske des Kampfes zwischen dem Gott Osiris und seinem bösen Bruder Typhos.5 1d. Das Geschichtsbild der alten Ägypter wird gerahmt von einem Goldenen Zeitalter am Anfang der Welt und einem Diluvium am Ende, das einen Neubeginn verheißt. Das Geschehen zwischen den Polen besteht aus einem Rondo ritueller Erneuererungen. Eine kulturelle oder politische Entwicklung kommt nicht vor, nicht einmal eine längere zusammenhängende Ereignisfolge. Es gibt keine Historiographie.6 Vielleicht fanden auch in der Realität keine langfristigen Vorgänge statt, die ein dynamisches Geschichtsbild gerechtfertigt hätten. 1e. Das Geschichtsdenken der altorientalischen Kulturen im Zweistromland ähnelt dem altägyptischen. So scheint sich hier die ebenfalls konstante Binnenstruktur in einen kosmologischen Kreislauf einzufügen. Als Element der Welten­ zyklik im orientalischen Denken dürfte die Sintflutsage zu werten sein. Sie ist früh als Fall einer periodischen Katastrophe verstanden worden. Die Sibyllinischen ­Orakel aus dem jüdisch-christlichen Alexandria schoben die Verfallsphasen vom Goldenen zum Eisernen Zeitalter zwischen Paradies und Sintflut, nachdem jedes



2. Das Rad der Geschichte

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der Metallgeschlechter seinen Untergang gefunden hatte. Die Katastrophen wiederholen sich periodisch nach dem Muster Schuld – Vergeltung – Schuld – Vergeltung... In der Genesis verspricht Gott Noah indes, keine weitere Flut zu schicken. Diese Nachricht läßt sich als Absage an eine Lehre deuten, die eine wiederkehrende Vernichtung der sündhaften Welt erwartete.7

2. Das Rad der Geschichte 2a. Die Vorstellung vom Kreislauf des Geschehens ist aus der Erfahrung mit der Naturzeit abgeleitet. Die Naturvorgänge erleben wir als zyklisch und wiederholbar. Scheinbare Kreisbewegungen beschreiben Sonne, Mond und Sterne um die Erde. Diese natürliche Zeiterfahrung ist in vierfacher Weise auf die Geschichte übertragen worden. Es ist zum ersten die Unaufhaltsamkeit der Veränderung; zum anderen die zweiphasige Pendelbewegung von Tag und Nacht, zum dritten der unberechenbare Wechsel des Wetters und zum vierten die regelmäßige Folge mehrerer Zustände, so die wiederkehrenden Großwetterlagen der Jahreszeiten, sämtlich herbeigeführt von der Drehung der Gestirne. 2b. Die Unaufhaltsamkeit der Zeit ist in altägyptischen Quellen mit einer rotierenden Töpferscheibe,8 in frühgriechischen Schriften mit einem rollenden Rad verglichen worden. Bereits Pythagoras soll vom Kreislauf der Notwendigkeit gesprochen haben, und zwar im Hinblick auf die Seelenwanderung. Im selben Sinne redete Seneca von circuitus, vices und orbes der Seele. Aristoteles bezeichnete die natürliche Bewegung aller Menschenwerke von der Entstehung zum Zerfall als Kreislauf, und seitdem ist das Rad eine geläufige Metapher für den Wandel aller Dinge.9 2c. Bei Marc Aurel heißt es: „Das ist der Kreislauf der Welt, auf und ab, von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Die Zeit läuft dahin wie ein „reißender Bergstrom“. Und so wie alles im Wandel ist, wandeln wir uns auch selber, und das ist gut und nötig so. Selbst im Neuen Testament gibt es eine Stelle dieser Art. Im Jakobusbrief lesen wir: „Die Zunge ist auch ein Feuer ... und zündet an allen unseren Wandel, wenn sie von der Hölle entzündet ist.“ Luther übersetzt mit „Wandel“ die lateinische Wendung: rota nativitatis, griechisch: trochos tēs geneseōs, wörtlich: Das Rad der Schöpfung. Indem es brennend gedacht ist, erinnert es an ein Folterwerkzeug wie das Rad des Ixion.10 2d. Im Sinne der Unaufhaltsamkeit reden auch wir noch vom „Rad der Geschichte“, das man bekanntlich nicht zurückdrehen kann.11 Es gibt wenige Metaphern für Geschichte, die so irreführend sind. Denn zum einen stimmt das Bild nicht, weil man jedes wirkliche Rad anhalten und zurückdrehen kann; und zum anderen täuscht die Aussage: so als ob man eine Krankheit nicht heilen, eine Regelung nicht rückgängig machen, einen Verlust nicht ausgleichen könne. Daß vergangene Ereignisse nicht ungeschehen gemacht werden können, ist trivial. Aber

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IV. Frühe Kreislauftheorien

ein vergangener Zustand ist in vielen Fällen wiederherstellbar.12 Darum ist der antike Radvergleich sinnvoller als der moderne. Er besagt, daß nichts ewig ist, daß wir mit der Vergänglichkeit rechnen sollten. * 2e. Die einfachste Regelform des ewigen Wandels ist die Zweiphasenfolge, das Auf und Ab, entsprechend dem Wechsel von Tag und Nacht. Sie wurde im 5. Jahrhundert v. Chr. durch den Philosophen Empedokles aus Agrigent in Sizilien als Weltgesetz beschrieben. Alles Geschehen beruht nach seiner Lehre auf dem Wettstreit von Liebe (philia) und Streit (neikos). Beide Kräfte sind gleichursprünglich und gleichstark, sie gewinnen abwechselnd die Oberhand im Verlauf der endlosen Zeit. Die Philia bewirkt die Vereinigung der Elemente zu einem Ganzen, der Neikos führt dessen Zerfall in Einzelteile herbei. Entstehen und Vergehen der Welt lösen einander ab in ewigem Kreislauf, in kosmischem Kyklos. Gegenstand dieser peristaltischen Zustandsfolge sind bei Empedokles überhaupt alle Naturphänomene, unter denen in den erhaltenen Fragmenten seines Weltgedichtes Historisches allerdings nicht eigens genannt wird.13 2f. Den Bezug dieses Verlaufsmodells zur Geschichte finden wir bei Herodot. Er wußte, daß Glück und Unglück, Aufstieg und Niedergang, Wachsen und Welken unweigerlich einander ablösen. Als der Perserkönig Kyros die Massageten angreifen wollte, da warnte ihn nach Herodot der gefangene Kroisos vor dem drohenden Umschlag des bisherigen Erfolges: „Die Angelegenheiten der Menschen bewegen sich im Kreise, und dieser Kreislauf beläßt nicht dieselben Leute im Glück“. Die Reiche kommen und gehen, die Städte wachsen und schrumpfen, darum sollte man beide Phasen bedenken.14 In römischer Zeit haben die Stoiker dieses ewige Auf und Ab, diesen Kreislauf der menschlichen Dinge als Grund dafür angeführt, daß die Geschichte kein lohnender Gegenstand des Nachdenkens sei, daß man sich vielmehr dem Geschehen in der Natur und den göttlichen Dingen zuwenden solle.15 2g. Eine mythische Begründung für diesen Wechsel im Leben bietet der „Neid der Götter“, die, nur um ihre Macht zu beweisen, das Herz des Pharao verhärten,16 den untadeligen Hiob ins Unglück stürzen und den glücklichen Polykrates ans Kreuz bringen.17 Eine rationale Erklärung liefert das klassische Dekadenzmodell: Erfolg führt zum Hochmut und Hochmut zum Fall.18 Eine theologische Deutung lesen wir bei Augustin, der die gottgewollte Folge von Morgen und Abend auf alle Einzeldinge der Schöpfung und auf diese als ganze übertrug: Gottes Werke haben ihren Anfang und ihr Ende in der Zeit, erleben Aufstieg und Niedergang, Fortschritt und Rückschritt, Gestaltgewinn und Gestaltverlust. In diesem Sinne konnte der Diakon Agapetos an Kaiser Justinian schreiben: Die menschlichen Angelegenheiten verlaufen im Kreise – darum soll man wenigstens am Glauben unwandelbar festhalten.19



3. Ewige Wiederkehr

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2h. Das Auf und Ab im Leben verdeutlicht das Bild vom Glücksrad, griechisch trochos bei Pseudo-Phokylides,20 lateinisch rota fortunae bei Cicero, Tacitus und Ammian.21 Dieses Bild hat seine bekannteste Fassung erhalten in den beiden Glücksliedern der ›Carmina Burana‹: O Fortuna/ velut luna/ statu variabilis/ Semper crescis/ aut decrescis./ Vita detestabilis/ nunc obdurat/ et tunc curat/ ludo mentis aciem,/ egestatem/ potestatem/ dissolvit ut glaciem. „O Fortuna/ wie Frau Luna/ wechselhaft und wandelbar/ ewig steigend/ und sich neigend/ Fluch der Unrast immerdar!/ Eitle Spiele/ keine Ziele/ also trügts den klaren Sinn./ Not, Entbehren/ Macht und Ehren/ schmelzen wie das Eis dahin.“22 2i. Noch prägnanter: Fortunae rota volvitur,/ descendo minoratus./ Alter in altum tollitur,/ nimis exaltatus./ Rex sedet in vertice,/ caveat ruinam,/ nam sub axe legimus/ Hecubam reginam. „Das Glücksrad kreist im ewgem Lauf,/ ich steige ab und falle./ Den Andern trägt es nun hinauf/ allzuhoch, wie alle./ König auf dem Scheitelthron,/ sei des Sturzes inne./ Hekuba liegt unten schon/ einstmals Königinne.“ Hecuba, griechisch Hekabe, war die Frau des Priamos und Königin von Troja, die nach dem Fall der Stadt ins tiefste Unglück stürzte. Sie galt in den Dramen des Euripides und den Metamorphosen Ovids als Beispiel für die Wandelbarkeit des Glückes. Unsere Redensart „Das ist mir Hekuba“ geht zurück auf Shakespeares ›Hamlet‹ , wo der Prinz sich fragt, weshalb ein Schauspieler um Hekuba trauern kann: What´s Hecuba to him? Zuvor brauchte der Schauspieler das Bild vom Glücksrad selbst, als er die olympischen Götter aufrief, das Rad zu zertrümmern und die Nabe vom Himmel zur Hölle hinabrollen zu lassen.23

3. Ewige Wiederkehr 3a. Neben dem regelhaften Zweitakt von Tag und Nacht liefert der Wechsel des Wetters ein zyklisches Interpretationsmuster für Geschichte. Ein begrenzter Vorrat von Ereignissen wiederholt sich, allerdings in unberechenbarer Reihenfolge, so wie Sonnenschein und Regen, Wind und Nebel, warme und kühle Tage sich ablösen, ohne daß etwas völlig Neues passiert. Mehrere antike Autoren betonen, daß ebenso in der Geschichte nichts grundsätzlich Neues geschehe, daß alles irgendwann schon einmal dagewesen sei. Der locus classicus steht im ›Prediger Salomonis‹ (1, 9): „Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.“ Also beruhige man sich! Nur: War denn nicht immerhin diese Erkenntnis etwas Neues? Jedenfalls nicht mehr für Seneca. Er tröstet sich angesichts des unvermeidlichen Todes mit der Erfahrung, daß die Wiederholung der Erlebnisse Überdruß erzeuge: Wachen und Schlafen, Hunger und Sättigung, Frost und Hitze, alles im Kreislauf verbunden: in orbem nexa sunt omnia. Es gibt auch für ihn nichts Neues, nicht einmal den Überdruß eben deswegen. Etwas genauer ist Marc Aurel. Bei ihm findet sich der bemerkenswerte Satz, daß jemand, der 40 Jahre alt gewor-

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IV. Frühe Kreislauftheorien

den sei, alles gesehen habe, was es in der Welt gibt, selbst wenn er zehntausend Jahre alt würde.24 Diese Äußerung resultiert aus einer Erfahrung, welche die An­­ nahme einer dauernden Neuerung korrigiert. Müßte man aber nicht wenigstens bereits zehntausend Jahre alt geworden sein, um so etwas vertreten zu können? 3b. Eine unvorhergesehene Wiederholung überrascht, und der damit verbundene Erklärungsbedarf bedient sich der Kreislauf-Metapher. Tacitus wundert sich über den Rückgang des Tafelluxus seit Galba, schließt einige Deutungsmöglichkeiten an und endet in der Bemerkung: „Vielleicht liegt in allen Dingen eine Art Kreislauf, so daß sich mit den Zeiten auch die Sitten wandeln“ forte rebus cunctis inest quidam velut orbis, ut quem ad modum temporum vices ita morum vertantur. Zwischen dem älteren und dem jüngeren Ereignis wird von einer Umdrehung der Zeit, vom Ablauf einer Periode gesprochen. Aurelius Victor im 4. Jahrhundert. bemerkt bei einer solchen Gelegenheit: „Alles dreht sich im Kreise, und nichts geschieht, was die mächtige Natur nach dem Ablauf einer Periode (spatium aevi) nicht wiederbringen könnte“ cuncta in se orbis modo verti nihilque accidere, quod rursum naturae vis ferre nequeat aevi spatio. Was einmal möglich war, ist wieder möglich.25 3c. Voraussetzung für die Annahme einer Wiederkehr gleichartiger Ereignisse ist die Erkenntnis, daß die menschliche Natur sich im Laufe der Geschichte nicht ändert. Programmatisch formuliert hat dies Thukydides.26 Die anthrōpeia physis zeigt sich in Not- und Ausnahmesituationen. Die stärkste Belastungsprobe ist der Krieg, der „Lehrer der Gewalt“. Hier brechen alle Konventionen zusammen, hier entpuppt sich der Kern – im Guten wie im Bösen. Namentlich im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg auf Kerkyra entfaltet Thukydides seine „Pathologie“. Der Kampf gewann eine Erbitterung, die alle Rücksicht, alle Menschlichkeit zugunsten des Parteien-Egoismus vergaß und selbst die Sprache korrumpierte. Begriffe, die als Werte der Gesamtheit gegolten hatten, wurden für die Interessen der Parteien pervertiert. So trat die Triebstruktur des Menschen zutage: die Hybris (die Selbstüberschätzung), die Pleonexia (das Immer-Mehr-Haben-Wollen), die Philoneikia (das Streiten um des Schadens willen), aber auch die Philotimia (der Ehrgeiz), die, von der Vernunft gezügelt, der Grund großer Leistungen sein könnte. 3d. Thukydides liefert auch den locus classicus für die Lehre vom naturgemäßen Recht des Stärkeren. Es ist der Melierdialog.27 Die Athener waren während des Krieges mit Sparta vor dem neutralen Melos erschienen und stellten das Städtchen vor die Wahl: entweder Anschluß an den Seebund oder Zerstörung. Sie beriefen sich dafür auf das ewige Naturrecht des Stärkeren. Die Melier appellierten an die göttliche Gerechtigkeit, mußten sich aber sagen lassen, daß sie ebenso situationsbedingt argumentierten wie die Athener. Wären die Rollen vertauscht, so die Athener, wäre das Ergebnis dasselbe, denn das Recht des Stärkeren entspreche dem Willen der Götter, wie in der Natur so in der Geschichte. Daß in der Welt allein das Recht des Stärkeren gelte, erklärten die Sophisten Thrasymachos und Kallikles bei Platon.28 Bei Schon Hesiod bringt die Fabel vom Habicht und der „Nachtigall“, die



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sich vergeblich durch Bitten aus seinen Krallen befreien möchte,29 und bei Horaz lesen wir, das Recht sei eine Erfindung der Schwachen.30 Wie die Starken darüber denken, lehrt die nicht überlieferte Antwort der Löwen, als die Hasen ihnen den Beschluß meldeten, alle Tiere wären gleich.31 3e. Die antike Auffassung von einer homogenen Geschichtszeit mit ewig gültigen Gesetzen erklärt die moralisierende Haltung gegenüber den Taten der Vergangenheit und die Hoffnung auf Ruhm bei den Menschen der Zukunft. So wie man das Recht beanspruchte, die früheren Handlungen zu richten, so sah man es als Pflicht an, sich dem künftigen Urteil zu stellen, unter den Augen der Nachwelt zu bestehen. Indem Homer die Taten Achills verherrlichte, erfüllte er den diesem zugeschriebenen Wunsch nach Ruhm und vertraute seinerseits auf Anerkennung für seine eigene poetische Leistung. Sie ist zugleich Mittel und Gegenstand des Ruhmes. Wir besitzen zahlreiche Zeugnisse für das Bestreben, nicht den Zeitgenossen, sondern den Nachfahren Eindruck zu machen; und immer wieder überrascht das keineswegs unberechtigte Vertrauen, Werke für die „Ewigkeit“ geschaffen zu haben, da diese Werke sich immerhin bis zu uns erhalten haben.32 3f. Die Überzeugung, daß die geschichtlichen Ereignisse grundsätzlich wiederholbar sind, erlaubt die Verwendung von Beispielen (exempla) aus der Historie zum Zwecke der Nachahmung oder Vermeidung.33 Seneca erklärte, Erziehung durch abstrakte Lehren sei langwierig und unsicher, durch konkrete Beispiele jedoch kurz und wirksam: longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla.34 In dem paradigmatischen Wert der res gestae sah die Antike den didaktischen Nutzen der historia als testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis.35 Polybios bezeichnete die Geschichte als die beste Schule der Politik im technischen Sinn, und Livius entnahm ihr Anschauung in der Ethik. Er wolle die großen Taten der Vergangenheit auf einen hohen Sockel stellen, damit jeder sie erkennen und wählen könne, was er um seiner selbst oder seines Staates willen nachahmen und was er unterlassen solle. Die exempla werden dabei den virtutes und vitia zugeordnet, und über diesen ethischen Gehalt der res gestae gibt es kaum Diskrepanzen.36 3g. Die paradigmatische Funktion hervorragender Taten aus der Geschichte, sei es im guten oder im bösen Sinne, bewog den Kaiser Augustus, praecepta et exempla aus der Geschichte zu sammeln und anzuwenden. So hat er zur Unterstützung seiner Familienpolitik mit Geschichte argumentiert. Als die großen alten Familien eine nach der anderen ausstarben, beschwor er das altrömische Familienbewußtsein, in der Hoffnung, dies würde die Senatoren überzeugen. Er erfuhr, daß Menschen, die genügend Geld besitzen, durch Maßnahmen und Beweisgründe schwer zu fassen sind. Reiche Leute sind kaum zu belehren.37 3h. Das Bewußtsein, in einer verpflichtenden Tradition zu stehen, war bei römischen Staatsmännern verbreitet und wurde ihnen in der Historiographie zugemutet. Die römischen Historiker verglichen die von ihnen berichteten Taten gerne mit entsprechenden Handlungen aus der Vergangenheit, die als Muster und Maßstab

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IV. Frühe Kreislauftheorien

herangezogen werden; und Rhetoren wie Valerius Maximus verfaßten große Sammlungen historischer Beispiele, zum bequemeren Gebrauch nach Sachgebieten ­sortiert: „Über Männer, die noch in hohem Alter Staatsdienste leisteten“, oder „Über Eltern, die den Verlust ihrer Kinder mit Fassung getragen haben“, oder „Über Frauen, die aus Eifersucht großes Unglück bewirkt haben“ usw., jeweils nach römischen und nichtrömischen exempla getrennt. Keine Rolle spielt dabei, wann die jeweilige Handlung stattgefunden hat. Nie sind Daten angegeben, wie überhaupt das chronologische Bewußtsein im antiken Geschichtsdenken schwach ausgebildet ist. So schreibt ein „ungebildeter Sophist“, Alexander der Große habe den Philosophen Karneades beschenkt, der zweihundert Jahre später gelebt hat. Aber auch ein respektabler Historiker meinte, die Einwohner von Troja hätten schwer an dem Einfall der Goten 262 n. Chr. getragen, da sie sich kaum vom Krieg gegen Agamemnon erholt hätten.38 3i. Neben dem literarischen Medium der Erinnerung gab es ein künstlerisches, die Ahnenbilder (imagines maiorum) der großen römischen Familien, durch welche das Gedächtnis an Taten der Vergangenheit wachgehalten wurde. Die Geschichte, die wir sehen, wirkt ja stärker als jene, die wir hören. Bei den Leichenbegängnissen der senatorischen Familien hat man die Porträtbüsten oder die Wachsmasken der berühmten Vorfahren mitgeführt, ihre Verdienste aufgezählt und dadurch bei der Jugend den Eifer zur Nachahmung der mores maiorum geweckt. Wir haben das Zeugnis des jüngeren Scipio, daß ihn das bloße Betrachten dieser Bilder bewogen habe, Entsprechendes zu leisten.39 Die Liebe zum Ruhm, die Hoffnung auf den Beifall der Nachwelt wurde so zu einer der stärksten Motivationen politischen Handelns, wogegen dann zunächst die Stoiker und später die Christen polemisiert haben – die Stoiker, indem sie den Lohn der Mühen allein ins Gewissen ver- lagerten, die Christen, indem sie die Liebe zu Gott als einzigen Beweggrund gelten ließen – zwei unhistorische Alternativen. Die Römer haben zeitgebundene Er­scheinungen zu zeitlosen Mustern guten oder üblen Tuns erhoben, haben Indi­ viduen zu Typen stilisiert, die dann im Rollenspiel auftreten (s. u.!). Caesar wurde zum Titel. 3j. Die Wiederholbarkeit von Ereignissen war sodann ein Topos der antiken Trostliteratur. Ein Unglück wird besonders schmerzhaft empfunden, wenn es beispiellos erscheint. Daher erklärt man dem Leidtragenden, daß dergleichen sich auch früher schon ereignet hat, eigentlich gar nichts Neues darstellt und mithin hätte erwartet werden können. So tröstete Seneca seinen Freund Lucilius über den Brand von Lugdunum-Lyon im Jahre 65 n. Chr. Neuheit verleiht einem Unglück Gewicht – novitas adicit calamitatibus pondus. Darum muß der Geschichtskundige durch Verweis auf Parallelen zeigen, daß es sich um einen Fall von vielen handle und der conditio humana zuzurechnen sei.40 3k. Verweise auf die Wiederholbarkeit von Ereignissen gibt es auch heute noch. Man denke nur an Wendungen wie „kein zweites München“, „kein neuer Elfter



3. Ewige Wiederkehr

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September“ oder an die paradigmatische Verwendung von Eigennamen wie Rubicon oder Canossa. Unter strikt historistischer Prämisse wäre das Unfug, denn wenn sich in der Geschichte nichts wiederholt, hat es auch keinen Sinn, eine Erscheinung aus der Vergangenheit erneut zu erhoffen oder zu befürchten. 3l. Die Annahme einer Wiederholbarkeit ist nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch bedeutsam. Sie gestattet den Analogieschluß von Früherem auf Späteres und umgekehrt. Mehrfach werden von antiken Historikern gegenwärtige Vorfälle zum Anlaß genommen, Nachrichten über frühere Ereignisse gleicher Art den Glauben zu schenken, den man ihnen bis dahin versagt hat.41 Das schlechthin Einmalige ist unbegreiflich und darum unglaubwürdig oder mythisch. 3m. Die Wiederkehr gleichartiger Erscheinungen hat Überlegungen darüber ausgelöst, wie das zu erklären sei. Dafür wurde die Atomtheorie Demokrits herangezogen. Cicero hat dagegen polemisiert. Nach Demokrit, so meinte Cicero, müßte es den Quintus Lutatius Catulus in der Unzahl der Welten auch unzählig oft geben, ja auch auf der Erde wäre er mehrmals möglich. Etwas anders argumentierte Plu­tarch. Wenn es eine unbegrenzte Anzahl von Dingen (hypokeimena) gibt, so ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß sich dieselben Erscheinungen wiederholen; gibt es aber nur eine bestimmte Anzahl, dann – so Plutarch – ist eine gelegentliche Wiederholung möglich.42 3n. Die historistische These der Unwiederholbarkeit gilt nur sensu stricto, nicht cum grano salis. Nicht genau, aber in etwa kehren Erscheinungen eben doch wieder, so wie Sonnenschein und Regen, Wolken und Wind sich auch nie genau, aber doch ungefähr wieder einstellen. Von Wiederholungen sprechen wir da, wo wir zwei einander folgende Ereignisse durch denselben Begriff bezeichnen. Unser Wortschatz ist begrenzt, muß auch beschränkt sein, denn sonst ließe sich das Chaos der Phänomene nicht sprachlich strukturieren. Genau genommen wiederholt sich nichts, weder in der Geschichte noch in der Natur. Jede Bundestagswahl, jeder Sonnenaufgang verläuft etwas anders. Erst durch Zeit- und Raumangaben spezifizieren wir die sprachlich gebildeten, wiederholbaren Typen, verleihen wir ihnen Einmaligkeit. Darum ist schon durch die Vesprachlichung des Geschehens ein Element der Wiederholbarkeit vorgegeben. * 3o. Die Vorstellung von der Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte fand Ausdruck in der Parallelisierung zwischen dem menschlichen Geschehen und dem Drama auf der Bühne. Die Allegorie vom Welttheater, auf dem die Menschen bloß Marionetten sind, gibt es in der antiken Literatur seit Platon. Marc Aurel erblickte in der Geschichte immer dieselben Bühnenspiele: am Hof von Hadrian und Antoninus Pius, von Philipp, Alexander und Kroisos: Die Szenen wiederholen sich, die Darsteller allein wechseln. So war das, so ist das, so wird das sein. Aus der Perspektive von oben zeigen sich allzeit gleichartige Schaubilder: Versammlungen, Heere, Bauern bei

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IV. Frühe Kreislauftheorien

der Arbeit, Hochzeiten, Scheidungen, Geburten, Todesfälle, Gerichtslärm, Einsamkeiten, bunte Barbarenvölker, Feste, Klagen, Märkte, Trubel – miteinander, gegeneinander. Diese Einsicht vom endlosen Einerlei in der Geschichte wurde in der Neuzeit wieder von Schopenhauer vertreten, Gottfried Benn hat sie persifliert.43 3p. Die Handlung auf der antiken Weltenbühne zeigt nicht die Geschlossenheit, die das wirkliche Drama besaß. Erst der christliche ›Ludus de Antichristo‹ und das Jedermann-Spiel auf dem Welttheater verbildlicht eine einheitliche Geschehensfolge und erfüllt darin seine volkspädagogische Aufgabe: tua res agitur. Die antiken Theatervergleiche dienen gleichfalls einem moralischen Zweck, doch lautet der: Bescheide dich mit der Rolle, die das Schicksal dir zuteilt. Betrachte sie als äußerlich und unwesentlich, aber spiele sie so gut wie möglich! Wenn sie zu Ende ist, so tritt ohne Murren ab.44 Kaiser Augustus brachte diese Metapher in seine letzten Worten zum Ausdruck: „Wenn ich mein Stück gut gespielt habe, so klatscht in die Hände und entlaßt mich von der Bühne mit Applaus!“45 3q. Theatermetaphorik liegt gleichfalls vor, wo Politiker in den Augen anderer oder selbstinszeniert in der Rolle früherer Gestalten erscheinen und damit einen vorgegebenen Typus verkörpern.46 Die den Rollentypus prägende Person zeichnet sich aus durch allgemeine Bekanntheit. Es sind Götter, mythische Heroen oder historische Figuren, zwischen denen in der Verwendung kein grundsätzlicher Unterschied gemacht wurde. Ihre Reputation wird als Verhaltensmuster oder als Verklärungsform in Anspruch genommen, so wenn Alexander der Große den Löwenhelm des Herakles, das Blitzbündel des Zeus oder die Hörner des Gottes Ammon trägt, wenn Marc Anton oder Caligula als Neos Dionysos posiert, wenn Nero den Apollon, Caracalla den Alexander redivinus spielt. Positive Prototypen waren Cato und Brutus, später Moses und David; negative Musterfiguren waren Spartacus und Catilina, später Sardanapal und Judas. In der praktizierten oder unterstellten Mimesis dieser Gestalten ist Geschichte als wiederholbar gedacht. 3r. Die Metaphorik des Rollenspiels bei Griechen und Römern spiegelt sich in den Bezeichnungen für „Maske“, denn es wurde ja maskiert gespielt. Im Griechischen wird „Maske“ mit „Gesicht“ (prosōpon) wiedergegeben, der Ausdruck ist vom Alltag auf das Theater übertragen worden. Im Lateinischen hingegen ist es umgekehrt. Die Maske, „durch welche man spricht“ (per-sonare) heißt persona, und dieser Begriff ist dann vom Theaterwesen in die Umgangssprache übernommen worden, wo er so viel wie unser Wort „Person“ bedeuten kann. Hier fassen wir in der Begriffsgeschichte eine Rückwirkung des im Theater abgebildeten Lebens auf die Vorstellung von diesem selber. Die Abbildung verändert das Abgebildete.

4. Regelkreise für Ereignisfolgen 4a. Wenn bei den antiken Vergleichen zwischen der Geschichte und einem Bühnenstück die Handlungseinheit fehlt, so besagt dies nicht, daß man eine solche



4. Regelkreise für Ereignisfolgen

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überhaupt nicht gekannt hätte. Sie tritt uns entgegen in einem Kreislaufmodell, das sich an der Folge der Jahreszeiten orientiert. Hierbei handelt es sich um regelhaft Ereignisketten, die mit dem zuvor besprochenen Wettermodell zwar die begrenzte Zahl möglicher Ereignistypen gemein haben, die Einzelereignisse aber in einer gesetzmäßigen Sequenz anordnen, indem sie nach dem Durchlaufen mehrerer Stadien am Ende zum Anfang zurückführen und insofern Kreisgestalt besitzen. Die jeweils verfliegende Zwischenzeit wird mit dem griechischen Begriff perihodos (Periode, Umlauf ), aiōn oder lateinisch aevum (Weltzeit, Ewigkeit) benannt, wonach dieselben „Symptome“ wiederkehren.47 Das Wort aiōn stammt aus der Biologie und meint ursprünglich die Lebenszeit,48 das Wort „Periode“ kommt aus der Astronomie und bezeichnet den Umlauf eines Gestirns. Dies ist auch der ursprüngliche Sinn von „Revolution“, während die Ausdrücke „Konstellation“ (von stella – Stern) und „Epoche“ (Anhalt) eine momentane Figuration am Himmel bedeuten. Der Terminus „Phase“ (von phaino – scheinen) gewinnt seine Anschaulichkeit von den Mondphasen. Noch heute stammen unsere wichtigsten Ordnungsbegriffe für Geschichte somit aus der Sprache der Astronomie für das Kreisen der Gestirne. 4b. Regelkreise werden einerseits für Teilbereiche der Geschichte angenommen, andererseits für das Gesamtgeschehen. Zunächst zu den Teilkreisen. Einen solchen hatten wir im klassischen Dekadenzmodell49 vor uns, seine Anwendung auf die Geschichte führt zur Theorie der Weltreichsabfolge.50 Ein anderer ist das Auf und Ab der Künste. Plinius konstatiert dies für die Bildhauerei,51 und Velleius sucht eine Erklärung. Er fragt sich, weswegen bestimmte Zeiten besonders reich an Größen auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kunst sind und weshalb sich diese nicht gleichmäßiger verteilen. Seine Antwort: Wettbewerb, Neid und Bewunderung (aemulatio, invidia, admiratio) entfachen die Geister. Was mit höchstem Eifer betrieben wird, erreicht naturnotwendig irgendwann seinen Gipfel. Auf dem Punkt der Vollendung aber ist es schwer, zu verweilen, drum fällt ganz natürlich das wieder zurück, was keinen Fortschritt mehr machen kann“ (naturaque quod summo studio petitum est, ascendit in summum, difficilisque in perfecto mora est, naturaliterque quod procedere non potest, recedit).52 Auch diese Wellentheorie wurzelt in der Sprachpraxis, indem die Merkmale, die einen als „Vollendung“ bezeichneten Zustand ausmachen, langsam zusammenkommen und langsam wieder verlorengehen. Dies veranschaulicht das Märchen vom Wolf und dem „Menschen“.53 4c. Das exemplum classicum für diese dritte Variante der Zyklik ist der Verfassungskreislauf, die anakyklōsis politeiōn, wie Polybios ihn in Anlehnung an Platon nannte. Es handelt sich um eine regelhafte Abfolge von Herrschaftsformen, die sich naturgemäß (physikōs) abspielt, indem sie mit dem Königtum beginnt, über dessen Mißbrauch als Tyrannis zur Aristokratie und über deren Entartung als Plutokratie zur Demokratie führt, bis diese selbst zur Anarchie ausufert und wieder in eine Monarchie, ein Königtum oder eine Tyrannis umschlägt. Damit vollendet sich nach Aristoteles der Kreis.54

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IV. Frühe Kreislauftheorien Königtum Tyrannis

Anarchie

Aristokratie

Demokratie Plutokratie

4d. Cicero übertrug dies von der Verfassungstheorie auf die Geschichte Roms: „Hier, d. h. mit der Vertreibung der Könige, beginnt der Kreislauf sich zu drehen, dessen natürlichen Umschwung (naturalem motum) ihr von Anfang an erkennen sollt.“ Die Königsherrschaft des Romulus und der folgenden Könige verwandelte sich in die Tyrannis des Tarquinius Superbus, die Republik der Patrizier danach läßt sich durchaus als Aristokratie begreifen. Diese nimmt plutokratische Strukturen an, die sich mit dem Demokratisierungsprozeß verbinden. Die späte Republik zeigt Züge einer Anarchie, in die sich insofern tyrannische Elemente hineinmischen, als die einzelnen Fraktionen führende Persönlichkeiten benötigten. Caesar brachte dann den Umschlag in die Monarchie. Er plante, das Königtum zu erneuern. Indem ebenso Octavian mit dem Gedanken gespielt hat, sich als neuen Romulus zu bezeichnen, bestätigt er, wie derartige Zyklusvorstellungen lebendig waren.55 4e. Wo bei griechischen und römischen Schriftstellern der Kreislauf in der Geschichte als Regel der Natur bezeichnet wird, ist die durchschnittliche Beschaffenheit der menschlichen Psyche gemeint, die Natur des Menschen, die den Grund für die Regel abgibt. Die Regel selbst hat bloß statistische Bedeutung: der Kreislauf spult sich ab, wenn man nichts dagegen unternimmt. Alle antiken Autoren, die sich mit ihm befaßt haben, taten dies in kritisch-praktischer Absicht, sie gaben Ratschläge zur Kontrolle der politischen Entwicklung. Der Handlungsspielraum ist immer der des Arztes. Man kann einiges, aber nicht alles. 4f. Aufgrund der Annahme, daß in der Geschichte zum einen ein begrenzter Kanon von Ereignissen vorliegt, und daß zum anderen gleiche Ursachen gleiche Wirkung erzeugen, war die Ansicht verbreitet, daß historisches Wissen politische Prognosen erlaube. Klio war nicht nur die Muse der Geschichtsschreibung, sondern auch der Weissagung; sie blickt wie Janus nach beiden Seiten.56 Damit ist mythisch dasselbe gesagt, was Thukydides auch vernünftig meinte begründen zu können: Wer einen bestimmten Ereigniszusammenhang, wie den Peloponnesischen Krieg, begriffen habe, der wisse, was in der Geschichte zu allen Zeiten passiere, den könne nichts mehr überraschen. Sobald eine ähnliche Situation eintrete, würden die Menschen sich wieder ähnlich verhalten. Auch Polybios verwies darauf, daß es für den Politiker keine bessere Schulung gebe als das Studium der Geschichte: sie lehre, aus



5. Zeitalter und Weltperioden

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den Anfängen das Kommende zu erkennen.57 Freilich erfüllt nur ein von Vorurteilen gereinigtes Bild der Geschichte diesen Zweck. Wir erkennen die Zukunft nur dann im Spiegel der Vergangenheit, wenn wir uns selbst durchschauen, wenn wir unserem Blick nicht selbst mit unseren Wünschen und Ängsten im Wege stehen. 4g. Fragen wir nach dem Realitätsgehalt dieser Annahme, so ist kritisch einzuwenden, daß sie die Wirklichkeit stark vereinfacht. Die auf diese Weise möglichen Prognosen bleiben immer allgemein. Nichtsdestoweniger ist das zugrundeliegende Denkmodell vernünftig. Es behauptet die Geltung von Kausalitäten, d. h. Ereignisfolgeregeln, ohne welche wir überhaupt keinen Anlaß hätten, vernünftigeres und unvernünftiges Verhalten zu unterscheiden. Denn als vernünftig bezeichnen wir ein Handeln, das aufgrund von Prognosen die möglichen Folgen einkalkuliert. Und solche sind immer nur da möglich, wo wir Erfahrungen versuchsweise auf die Zukunft anwenden. Insofern ist Ciceros Wort von der historia als magistra vitae richtig.

5. Zeitalter und Weltperioden 5a. Die behandelten drei Vorstellungen geschichtlicher Kreisläufe sind Schritte auf dem Wege zu einer historischen Synthese. Der erste Schritt lag in der Erkenntnis vom Wandel als solchem. Der zweite brachte die Einsicht in den begrenzten Vorrat an wiederkehrenden Ereignistypen. Der dritte erkennt regelhafte Ereignisfolgen. Dabei ist das antike Geschichtsdenken jedoch nicht stehen geblieben. Man versuchte, die Geschichte mit dem Kreislaufprinzip noch weiter, noch schärfer zu strukturieren und geriet dabei von der Konstruktion in die Spekulation. Dies geschah, als man meinte, daß die Geschichte ausgrenzbare Regelkreise nicht nur enthalte, sondern überhaupt aus solchen bestehe. Das Bild der Jahreszeiten wurde auf die Geschichte als ganze angewandt. Dies begegnet uns in drei Formen, indem die Geschichte erstens aus Teilkreisen zusammengesetzt wurde, indem sie zweitens insgesamt als Kreislauf oder drittens als einer unter mehreren erschien. 5b. Zunächst zur Einteilung der Geschichte in Perioden, in Zeitalter. Bei den Griechen fehlt eine Großgliederung der Geschichte. So wie sie keine allgemein anerkannte Jahreszählung besaßen, so kannten sie keine durch Nummern oder Namen bezeichneten Geschichtsabschnitte. Erst Varro überliefert solche für die Etrusker.58 Sie berechneten im achten saeculum die Gesamtdauer des nomen Etruscum auf zehn saecula. Der Begriff saeculum kommt von serere – „säen“ und bezeichnet ursprünglich die Zeit von der Aussaat über die Ernte bis zur erneuten Aussaat. Dieser Begriff für Jahreszeit wurde übertragen auf den Menschen, saeculum wurde zum Ausdruck für Lebenszeit, und zwar für die längstmögliche.59 Aus zahlenästhetischen Gründen hat sich seit Kaiser Claudius die Periode auf 100 Jahre eingespielt.60 Entsprechend der etruskischen Vorstellung mußte die Welt nach Ablauf eines Jahrhunderts durch ein Säkularfest erneuert werden. Unter Augustus im Jahre

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IV. Frühe Kreislauftheorien

17 v. Chr. ist der religiöse Sinn noch faßbar.61 Spätere Jubiläen, so die Tausendjahrfeier Roms, die Philippus Arabs 248 n. Chr. mit großen Pomp beging, waren reiner Rummel. Die Erinnerung an die erneuernde Kraft der Säkularspiele war gleichwohl bei einigen Gebildeten noch im 5. Jahrhundert so lebendig, daß Zosimos den Zerfall des Imperiums mit dem Verzicht auf diese Feste verknüpfte.62 5c. Das lateinische Wort saeculum dient als Äquivalent des griechischen aiōn, beides wird von Luther übersetzt mit „Welt“. „Wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird´s nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt.“63 Wir denken hier an Erde und Himmel, gemeint ist aber der alte laufende Aion und der neue kommende Aion. Das Verhältnis ist nicht räumlich, sondern zeitlich gedacht. Unser Wort „Welt“ geht zurück auf althochdeutsch weralt – englisch world – das aus wer – „Mann“ und alt – „Alter“ zusammengesetzt ist und somit ursprünglich dieselbe zeitliche Bedeutung besitzt wie saeculum. In der biblischen Verwendung haben die Zeitalterbegriffe saeculum und aiōn eine neue Dimension gewonnen. Sie bezeichnen nicht mehr einen Ausschnitt der Geschichtszeit, etwa das „Jahrhundert“, sondern die Geschichtszeit als ganze, von der Schöpfung zum Gericht. In der Wiedervereinigung des Menschen mit Gott rundet sich die Zeit, so wie im Hebräischen die fernste Vergangenheit und die fernste Zukunft mit demselben Begriff bezeichnet werden (olam), ähnlich dem deutschen „einst“. 5d. Die kosmologische Vorstellung eines einmaligen Geschichtskreislaufs liefert ebenfalls die organische Weltaltertheorie bei Lucrez. Der Dichter verglich die Weltzeit mit den Lebensphasen eines Einzelmenschen, der geboren wird, wächst, altert und stirbt. Dasselbe tat Augustinus, der die Nöte seiner Zeit aus dem Alt- und Schwachwerden nicht des Römerreiches, sondern der Welt erklärte. Der Materialist Lucrez stellte die Weltzeit ins Chaos, der Christ Augustin legte sie in die Hand Gottes. Die Binnenstruktur ist im Grunde beidemale ein geschlossener Kreislauf.64 5e. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen der christlichen und der heidnischen Kosmologie ist deren Lehre von der kosmischen Periodizität, der unendlichen Wiederholung des jetzigen Weltlaufs. Diese Form des Kreislaufdenkens, die anakyklōsis, läßt sich bei den Griechen bis zu Anaximandros von Milet in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts zurückverfolgen.65 Sie findet sich ebenso bei seinem Zeitgenossen Xenophanes von Kolophon, der regelmäßige Überschwemmungen (kataklysmos) annahm,66 und bei dem wenig jüngeren Heraklit von Ephesos, der die Welt periodisch im Weltenbrand (ekpyrōsis) aus Feuer entstehen und in Feuer vergehen ließ.67 Diese Lehre hat unter den Sokratikern insbesondere Platon beeinflußt und blieb dann ein Kernsatz der Stoa.68 So wie bei der biblischen Sintflut geht eine wachsende Schlechtigkeit (kakia) unter den Menschen voraus.69 Ein christlicher Vertreter der kosmischen Wiederkehr ist der alexandrinische Gnostiker Basileides in der Zeit Hadrians, der von den Kirchenvätern als Ketzer bekämpft wurde.70 5f. Die Grundidee der antiken Kosmologie besagt, daß die Naturgeschichte einen ewigen und unaufhaltsamen Prozeß darstelle, der durch regelmäßige Feuer-



5. Zeitalter und Weltperioden

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und Wasserkatastrophen gegliedert werde. Cicero sprach von periodischen eluviones exustionesque terrarum, Seneca von inundatio oder diluvium und conflagratio. Er glaubte gemäß dem Gesetz der Natur, den constituta naturae oder der lex mundi, an ein nahes Weltende: nec longa erit mora exitii, und berief sich auf den babylonischen Astronomen und Historiker Berossos aus der Alexanderzeit, nach dem ein Zusammentreffen der Planeten auf einer Linie im Sternbild des Krebses die regelmäßige Überflutung der Erde bewirke. Seneca sah die Menschheit im fortgeschrittenen Sittenverfall, die Natur aus dem Gleichgewicht geraten und erwartete Katastrophen aller Art, die den Menschen auf einen tierischen Stand zurückwerfen, in dem er wie in der Urzeit wieder Eicheln essen werde. Alles Leben werde vernichtet.71 5g. Nach der Katharsis des Untergangs aber kommt es zur Apokatastasis. Es erhebt sich eine neue Welt aus den Trümmern: antiquus ordo revocabitur. Alle Wesen erstehen neu. Geschenkt wird der Erde ein Mensch, der nichts von Verbrechen weiß, der unter besseren Vorzeichen geboren wurde: dabiturque terris homo inscius scelerum et melioribus auspiciis natus. Aber auch diese besseren Menschen werden nicht immer unschuldig bleiben, die Bosheit kehrt wieder und damit die Strafe72. Im gleichen Sinne rechnet Marc Aurel (XI 1) mit der periodikē palingenesis tōn holōn, der regelmäßigen Wiederentstehung aller Dinge. Macrobius gab einen langen Kommentar über die natürlichen Ursachen dieser regelmäßigen Katastrophen. Allerdings ginge dabei nur ein Teil der Menschheit zugrunde, einige Berg­ hirten überdauerten, und mit ihnen begänne die Kulturentwicklung aufs Neue. Selbst unter den Christen gab es Anhänger solcher Vorstellungen, etwa Origenes und Synesios.73 5h. Für die Periodizität der Welt sprachen drei Gründe. Es ist zum ersten der als Erinnerung gedeutete Mythos. Für den Weltenbrand verwies Platon auf die Sage von Phaëton, der den Sonnenwagen zu niedrig fuhr, so daß alles auf Erden verkohlte.74 Für die Sintflut erinnerte Platon an Deukalion und Pyrrha. Zeus hatte den Untergang der Menschheit beschlossen, darum riet Prometheus seinem Sohn Deukalion und dessen Frau Pyrrha, der Tochter des Epimetheus, einen großen Kasten zu bauen. Als Zeus dann durch Regen die Menschen ertränkte, überlebten die beiden und wurden Stammeltern der erneuerten Menschheit.75 5i. Eine zweite, rationale Erklärung beruht auf Beobachtungen im Gestein. Xenophanes fand paläontologische Muscheln und Fische in Kalkfelsen auf Bergen. Diese Fossilien waren für ihn das Zeugnis einer vergangenen Flutkatastrophe, deren mythische Form die erwähnte Sage von Deukalion und Pyrrha darstellt. Die dritte Begründung erwächst aus der Unvorstellbarkeit von Anfang und Ende der Zeit. So wie jeden einzelnen Zeitabschnitt möchten wir auch den Zeitenlauf insgesamt abgrenzen können. Seit Platon wird für ihn der Begriff Aion-„Ewigkeit“ gebraucht. Sein Kennzeichen ist die die unveränderliche Veränderlichkeit, die stabile Perio­ dizität. Ihre Formel lautet wie in der Bibel so bei Marc Aurel „von Ewigkeit zu Ewigkeit“.76

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IV. Frühe Kreislauftheorien

5j. Die Annahme der Periodizität der Welt beantwortet schließlich die Frage, warum der Weltprozeß nicht schon längst abgelaufen ist, warum er erst jetzt den gegenwärtigen Stand erreicht hat. Die Frage, warum jetzt ausgerechnet jetzt, weshalb hier ausgerechnet hier sei, wird damit beantwortet, daß eben dieser Eindruck eine Täuschung sei, daß die augenscheinliche Auszeichnung der Gegenwart nicht zutreffe, da sie sich unendlich oft wiederholt habe und wiederholen werde. Konsequenterweise hat Anaximandros nicht nur eine zeitliche Unzahl von Weltperioden, sondern auch eine räumliche Unzahl von Weltsystemen postuliert.77 5k. Dieser Erklärungszweck erfordert die Annahme, daß die Weltperioden genau gleichartig sind. Entstehung, Entwicklung und Untergang der Kultur wiederholen sich, alle Erfindungen, meinte Aristoteles,78 müßten immer wieder erneut gemacht werden. Nach dem Ablauf der nächsten Periode, erklärte der Aristotelesschüler Eudemos von Rhodos seinen Studenten, werde er wieder ebenso vor ihnen stehen wie jetzt;79 wieder werde Sokrates die Xanthippe heiraten, wieder werde er von Anytos und Meletos vor Gericht gebracht.80 So etwas kann nur gesagt werden, um das Problem der Einmaligkeit als Paradoxon zu identifizieren, ist aber nicht ganz so absurd, wie es klingt. In seiner Kritik an Epikur hat David Hume ausgeführt: Wenn die in begrenzter Zahl vorhandenen, stets beweglichen Elementarteilchen im Laufe der unendlichen Weltzeit wieder einmal im gleichen Verhältnis zueinander stehen, dann wiederholt sich der Weltlauf geradeso und immer wieder.81 5l. Platon hat das Problem vereinfacht. Er nahm als Periodengrenze die gleichartige Konstellation der Planeten. Die metaphorische Bezeichnung für diese Periode lautet das „große Jahr“. Sie wurde von ihm anscheinend auf 36 000 Jahre veranschlagt, doch gibt es verschiedene Angaben. Damit wird gesagt, das Gesetz der wiederkehrenden Jahreszeiten gelte auch für die Phasen des Kosmos. Mit der conversio magni anni und dem allgemeinen Neubeginn wurde die Erscheinung des Phönix verbunden, wie Plinius berichtet.82 Der circuitus des Weltenjahres und der göttliche Kreislauf der Natur wurden bis in die Spätantike vertreten.83 5m. Eine eigentümliche Variante zur kosmischen Drehbewegung bietet Platon in seinem Dialog über den Staatsmann.84 Hier unterscheidet er in einem Zweiphasenmodell eine Vorwärts- und eine Rückwärtsdrehung (anakyklēsis). Die Vorwärtsbewegung kommt zustande, indem der Gott oder der Daimon als Schöpfer und Ordner der Welt die Kurbel dreht, wogegen die Rückwärtsdrehung einsetzt, sobald er losläßt, wie bei einer Rolle, auf die ein Seil mit einem Gewicht gewickelt ist. Die Kraft, die das Zurückschnurren bewirkt, nennt Platon die der Welt natürlich beigemengte Stofflichkeit, die Materie (sōmatoeides). In der ersten, vergangenen Periode wandert die Sonne von West nach Ost, in der zweiten, gegenwärtigen von Ost nach West. Mit der Umkehr der Rotation (kyklēsis) läuft die Zeit zurück: die Toten erheben sich aus ihren Gräbern, die Alten werden wieder jung und verschwinden als Kinder in der Erde, der sie einst entsprossen sind. Während der Vorwärtsdrehung herrschte Kronos, die Menschen lebten sorglos und glücklich im Goldenen Zeital-



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ter; aber während der momentanen Rückwärtsdrehung im Zeitalter des Zeus vollzieht sich ein ambivalenter Prozeß: die platonische Schere. Mit der Kulturentstehung, wie wir sie von Demokrit kennen (s. o!), entwickelten sich nach und nach die Verhältnisse bis zu ihrem gegenwärtigen Zustand: das Wissen der Philosophen hat eine noch nie dagewesen Höhe erreicht, aber das Verhalten der Menge ist auf einem Tiefpunkt der Unordnung (anharmostia) angekommen, der die Zerstörung von allem nach sich zieht, so daß der Gott als Steuermann des Weltenschiffs wieder selbst das Ruder ergreift und einen neuen Kursus beginnt. Dieser Wechsel wiederholt sich endlos. * 5n. Die eingangs erwähnte Alternative zwischen einer linearen und einer zyklischen Gesamtschau der Geschichte betrifft die beiden letztgenannten Vorstellungen: ob die Weltzeit endlich sei und durch Schöpfung und Gericht eingerahmt werde, oder ob die Weltzeit unendlich sei und durch immer wiederholte Katastrophen gegliedert werde. Diese Kontroverse hatte ein modernes Nachspiel. Der Zweite Thermodynamische Hauptsatz besagt, daß die Gesamtheit der Ereignisse in einem geschichtlichen Prozeß zwischen einem „Urknall“ am Anfang und einem Kälteoder Wärmetod am Ende steht.85 Dies entspricht dem Weltbild Augustins. Auf der anderen Seite ist von H. Bondi, T. Gold und F. Hoyle eine periodische Theorie (steady state) entwickelt worden, die einen Phasenwechsel von Expansion und Kontraktion des Universums behauptet, so daß ein Modell ähnlich dem der antiken Weltzyklen entsteht. Die Verankerung der beiden Haltungen in verschiedenen geistesgeschichtlichen Traditionen hat Max Born unterstrichen.86 5o. Beide Theorien bieten eine Antwort auf die Frage, was jenseits der zeitlichen Grenzen der Empirie angenommen werden soll: biblisch das völlig Andere oder antik das Gleiche noch einmal, entweder die totale Negation oder die perfekte Identität. Wenn am Ende der Weltzeit das Chaos steht, dann könnte nach der antiken Zyklus-Theorie wieder der atomare Querschläger (clinamen) eintreten,87 den Epikur am Anfang der Formenbildung annahm, und dann beginnt der Durchgang von neuem. Die Aussicht darauf ist aber nach der herrschenden Meinung unter den Astrophysikern gering. Zeit und Ewigkeit lassen sich nur symbolisch verbinden. Das meinte jedenfalls Goethe am 3. November 1823 zu Eckermann: „Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit“.

6. Zyklik und Linearität 6a. Der Ursprung zyklischer Geschichtsvorstellungen liegt in der Naturbeobachtung. Sie zeigt eine Periodizität, die man früh ebenso in der Geschichte gesucht und gefunden hat. Auch das menschliche Handeln, das Schicksal von Völkern und Staa-

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IV. Frühe Kreislauftheorien

ten bewegt sich auf und ab und scheint den Zyklen in der Natur zu entsprechen. Die Ansicht, daß nur Naturvorgänge sich wiederholen, während historische Ereignisse einmalig seien, trifft nicht ganz. Denn genau wiederholen sich auch Natur­ vorgänge nicht, während historische Vorgänge wie Wahlen, Krisen und Konferenzen durchaus wiederkehren, wenn auch stets mit Besonderheiten. Die Frage der Wiederholbarkeit ist eine Sache der Sprachregelung. 6b. Die antiken Kreislaufmodelle zeigen in der Binnenstruktur, d. h. einphasig betrachtet, den Charakter von lineare Entwicklung: so im Weltenzyklus der Aufstieg von barbarischen Nomaden zur alexandrinischen Weltstadtzivilisation; so im klassischen Dekadenzmodell der Abstieg von der Aurea Aetas der Pax Augusta zum Chaos der Völkerwanderungszeit; so im Verfassungskreislauf die Entwicklung vom patriarchalischen Stammeskönigtum über Aristokratie und Demokratie zur absolutistischen Kaiserherrschaft. Diese Teilprozesse wurden als konsequent und in sich geschlossen erfahren und begriffen. Insofern ist die Ansicht von einer Wiederholung und einem Kreislauf in Teilbereichen des Geschehens empirisch triftig. Spekulativ ist die Übertragung der Periodizität der Epochen auf die Gesamtgeschichte. Hier stehen wir vor der Aporie, daß der Analogieschluß, auf dem alles empirische Wissen beruht, nur von Teilen auf andere Teile tragfähig ist, nicht der vom Teil auf das Ganze. Daß die Zukunft irgendwann in die Vergangenheit zurückmünden könnte, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. 6c. Varianten der Kreislauflehre haben die Antike überdauert. Die Vorstellung von Wiederholung im einzelnen begegnet uns wieder bei den paradigmatischen Konzeptionen von Goethe und Nietzsche; der Gedanke in sich gerundeter und einander ablösender Ereigniszyklen wird in der Geschichtsmorphologie von Spengler und Toynbee vertreten. Der Glaube, daß die Zukunft in gewisser Weise die Vergangenheit wiederbringe, liegt in der Verheißung einer Rückkehr zu Gott nach dem Weltgericht, in der Hoffnung der Aufklärung auf eine erneuerte Natürlichkeit und in der Prophezeiung der Wiederherstellung einer klassenlosen Gesellschaft durch den historischen Materialismus. Insofern könnten wir Salomons Wort, daß es nichts wirklich Neues unter der Sonne gebe, für die Grundfiguren der Geschichtsphilosophie bestätigen.88 Salomon liefert damit ein Argument für die Beschäftigung mit Geschichte: Willst Du das Neue kapieren, mußt du das Alte studieren.

Es gibt Leute, die sich über den Weltuntergang trösten würden, wenn sie ihn nur vorhergesagt hätten. Hebbel

V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte a. In den Zeitvorstellungen der Griechen und Römer begrenzt das Walten höherer Mächte den Handlungsspielraum der Menschen , sie greifen ein teils wie diese es verdienen, teils wie es den Launen der Götter gefällt. Schon die Ilias läßt aber erkennen, daß über den Göttern das Schicksal waltet, dessen Spruch unabänderlich ist. Die Zukunft steht fest; durch Zeichen und Orakel kann man sie ergründen, aber nicht ändern. Wer sie, wie Laios, der Vater des Ödipus, ändern will, erfüllt sie eben dadurch.1 Das Schicksal hat bei den Griechen und Römern viele Namen. Sie verweisen darauf, daß es den Menschen „trifft“ (Tyche), daß ihm etwas „zugeteilt“ wird (Nemesis, Heimarmene, Moira), daß ihm etwas „geschickt“, etwas „gebracht“ (Fortuna) oder „zugesprochen“ (Fatum) wird. Stets ist eine höhere Macht am Werk, die nicht näher bestimmt wird. Der Mensch muß es nehmen, wie es kommt; es dankbar zu nehmen, ist Weisheit. b. Der Schicksalsbegriff der Perser, der Juden und der Christen sieht anders aus. Bei ihnen wird das irdische Geschehen nicht von einer anonymen Himmelsmacht bestimmt, sondern aus einem von Gott persönlich erdachten und durchgeführten Heilsplan gedeutet, wonach die Geschichte kurz vor ihrer Vollendung steht. Das Handeln der Menschen ist hier nur noch soweit von Bedeutung, als es zum Willen Gottes in Beziehung steht, der sich nicht nur in den heiligen Schriften, sondern auch im irdischen Geschehen offenbart. So singen die Kinder Korah: „ Kommet her und schauet die Werke des Herrn, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet; der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt“.2

1. Die persische Weltalterlehre 1a. „In Persien geht zuerst das Licht auf, welches scheint und andres beleuchtet, denn erst Zoroasters Licht gehört der Welt des Bewußtseins an.“3 Mit dieser These fußt Hegel vermutlich auf der irrigen Angabe von Plutarch aus der Zeit um 100 n. Chr., daß Zoroaster, lateinisch Zarathustra, fünftausend Jahre vor dem Trojanischen Krieg gelebt habe.4 Kulturgeschichtlich zutreffend ist seine Ansicht vom Licht aus dem Osten. Dennoch ist das meiste, was wir von Zarathustra in persischer Überlieferung kennen, erst in spätsassanidischer Zeit, im 4. bis 6. Jahrhun-

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

dert n. Chr. gesammelt worden. Die ältesten Texte werden gleichwohl ins 7. Jahrhundert v. Chr. datiert.5 Zu den eschatologischen Überlieferungen zählt außer der pessimistischen Metallbaum-Allegorie ein optimistisches Periodenschema, das enge Verwandtschaft mit der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte aufweist. Die Ähnlichkeit wird wohl zu Recht auf persischen Einfluß zurückgeführt, nicht umgekehrt. Die Juden nahmen Anregungen aus Persien schon früh auf, dann verstärkt während des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert und wieder in der seleukidischen Zeit, wie das Buch Daniel dartut. 1b. Die persische Eschatologie hat im Laufe der Zeit verschiedene Formen angenommen. Eine von ihnen, die schon Theopomp im 4. Jahrhundert v. Chr. kannte6, rechnet mit einem Weltlauf von 12 000 Jahren. Während der ersten 3 000 Jahre bestehen das Reich des Lichtes und das Reich der Finsternis nebeneinander. Dieser dualistische Gegensatz ist das bekannteste Merkmal der persischen Religion. Das Licht oben steht unter der Herrschaft Ahura Mazdas, die Finsternis unten regiert Ahriman. Nach 3 000 Jahren eröffnet der Geist der Finsternis den Kampf gegen das Licht. Im Jahre 6 000 erschafft Ahura Mazda die Erde, die damit zum Schauplatz der Auseinandersetzung wird. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich zum Guten oder zum Bösen zu bekennen. Im Jahre 9 000 erscheint Zarathustra und verkündet die wahre Lehre. Alle tausend Jahre folgt ihm ein Prophet aus seinem Geiste. Im Jahre 11 000 beginnt der Endkampf des Tausendjährigen Reiches mit dem Sieg des Saoschyant, dem von einer Jungfrau geborenen Heilsbringer aus dem Samen Zarathustras. Es folgen die Auferstehung der Toten, das Weltgericht, die Vernichtung alles Bösen und die Einkehr eines ewigen Zustandes der Ruhe und der Seligkeit. Alle haben nur noch eine einzige Lebensform, eine einzige Verfassung (politeia) und eine einzige Sprache. Sie brauchen keine Nahrung und werfen keinen Schatten.7 1c. Für die Wirren der Endzeit besitzen wir das bei Lactanz überlieferte, aus Persien stammende »Orakel des Hystaspes«, der als Schutzherr Zarathustras und als Vater von Darius betrachtet wurde:8 „Es kommt eine Zeit, wo die Gerechtigkeit mit Füßen getreten, die Unschuld gehaßt wird, wo die Bösen die Guten ausplündern, weder Gesetz und Ordnung noch Zucht im Heere gelten. Niemand achtet die Alten, niemand übt Frömmigkeit, nicht Frauen, nicht Kinder werden geschont ... Dann werden die Gerechten und Freunde der Wahrheit sich von den Bösen trennen und in die Einöde fliehen. Der gottlose König, in Zorn entbrannt, wird mit einem großen Heer kommen und den Berg belagern, auf dem die Gerechten wohnen. Sie aber werden Gott um Hilfe anflehen, und er wird einen großen König vom Himmel senden, der sie befreit und alle Bösen mit Feuer und Schwert vernichtet“. 1d. Derartige Eschatologien begegnen uns vorwiegend im Orient. Varro berichtet von den Etruskern, die ja in vielfältiger Weise vom Osten beeinflußt waren, sie sähen sich im neunten saeculum der Welt, vor dem Ende des nomen Etruscum. Den Beginn des zehnten verkündete der Seher Vulcanius im Juli 44 v. Chr.. Plutarch bestätigt, daß die Etrusker an eine nahe metakosmēsis glaubten, an den Übergang zu



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einem anderen Zeitalter.9 Die späte Republik und das frühe Prinzipat wurden vielfach als welthistorische Epoche empfunden, so von Heiden, Juden und Christen.10

2. Die Juden als auserwähltes Volk 2a. Das jüdische Geschichtsbild11 steht in einem kosmologischen Rahmen: am Anfang Schöpfung und Paradies, am Ende Gericht und Erhöhung. Anfang und Ende betreffen jeweils die gesamte Menschheit. In der Zwischenzeit ist sie jedoch aufgesplittert in viele Völker. Die mythische Erklärung für die Vielfalt der Sprachen liefert die Geschichte vom Turmbau zu Babel; ein Gefühl für die Verwandtschaft aller Menschen spricht aus der Völkertafel der drei Söhne Noahs.12 2b. Unter diesen ist Sem, der Stammvater der Juden, der älteste und vornehmste, und bereits darin zeigt sich das Bewußtsein einer Sonderstellung des Volkes Israel. Seinen klassischen Ausdruck fand es in dem Anspruch, daß der Nationalgott Jahwe der einzige Gott überhaupt sei und Israel zu seinem auserwählten Volk erhoben habe. Diese Idee hat sich im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. entwickelt, doch bestand noch lange daneben die Vorstellung, daß die anderen Völker eigene Götter besäßen, die jedoch an Rang Jahwe nicht gleichkämen. Noch bevor die Juden selbst Könige hatten, haben sie sich einen Gott nach dem Muster eines asiatischen Despoten zugelegt. Er wird als König bezeichnet, sitzt auf einem Thron, umstanden vom Hofstaat der Erzengel und von den himmlischen Heerscharen. Gott weiß alles, darf alles und kann alles. Er versorgt seine Anhänger und zerschmettert seine Gegner. Israels Auserwählung spiegelt sich in dem Gedanken des „Bundes“ (griech. diathēkē, lat. testamentum). Der Bund zwischen Jahwe und Israel ist ein Vertrag. Gott ist Schöpfer und Lenker der Welt, er verheißt den Juden Schutz und das „Gelobte Land“ im kanaanäischen Palästina, Israel verspricht die ausschließliche Verehrung Jahwes und die Einhaltung der mosaischen Gesetze. Der „Bund“ folgt einem orientalischen Vertragsformular, wie es bei den Hethitern zwischen dem König und seinen Vasallen verwendet wurde. 2c. Es gibt verschiedene Überlieferungen über den Abschluß des Bundesvertrages. Schon Noah und Abraham erhielten gemäß der Bibel Verheißungen. Aber der konstitutive Bund ist der vom Sinai, der später mehrfach erneuert wurde, unter anderem von David.13 Voraussetzung ist jeweils ein Bruch des Bundes, wie er den Israeliten wiederholt von den Propheten vorgeworfen wurde. Zur Zeit des geteilten Reiches, seit dem 9. Jahrhundert vor Christus, bilden der Abfall vom alten Glauben, wachsende soziale Mißstände und die Bedrohung durch Assyrer und Chaldäer den Hintergrund prophetischer Endzeitpredigten. Die Assyrer und Chaldäer werden als Geißeln Gottes betrachtet, die das abtrünnige Israel bestrafen. Die Bedeutung der Propheten für das Selbst- und Geschichtsverständnis liegt darin, daß diese Männer den Konflikt überbrückt haben zwischen Israels ideologischer Sonder­ stellung und seiner politischen Demütigung. Aus der Auserwähltheit wurde eine

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besonders weitgehende Verpflichtung gefolgert, deren Verletzung durch eine entsprechend schwere Strafe geahndet wurde. Sie offenbart die Liebe Gottes nach dem Wort Salomos: „Denn welchen der Herr liebt, den straft er“.14 2d. Während der babylonischen Gefangenschaft im frühen 6. Jahrhundert verhieß Hesekiel die Rache des Herrn zunächst an den Sündern in Israel, sodann an den Feinden des Gottesvolkes, die vernichtet würden. Israel erlebt seine Wiedervereinigung, und der von Nebukadnezar 587 zerstörte Tempel zu Jerusalem ersteht in neuem Glanze. „Solches wird zur letzten Zeit geschehen.“ Gleichzeitig verkünden die Propheten aber auch einen neuen Bund, den Gott mit allen Völkern schließen werde.15 Dadurch würde die Einheit der Menschen wiederhergestellt. Dies soll sich unter der Herrschaft eines Sprosses aus Davids Haus vollenden. Ein Zeugnis dieser politischen Zukunftshoffnung ist der 72. Psalm. Dort wird das ewige Reich eines Friedensherrschers erwartet, das über die ganze Erde geht, „vor ihm werden sich neigen die Menschen aus der Wüste, seine Feinde werden Staub lecken, die Könige von Tharsis werden Geschenke bringen ...“ 2e. Die Hoffnung konzentrierte sich auf das Erscheinen eines Messias. Der Begriff bezeichnet den „Gesalbten“, denn die Salbung, ein altorientalisches Ritual, ist der wichtigste Teil bei der Einsetzung des jüdischen Königs. Verschiedene Persönlichkeiten sind mit dem Messias identifiziert worden, darunter der Perserkönig Kyros.16 Jedesmal freilich gab es eine Enttäuschung, und die Hoffnung wurde wieder auf die Zukunft verschoben. Der erste Sproß Davids, auf den sich größere Erwartungen konzentrierten, war Serubabel in der Zeit des Darius.17 Der bekannteste Messias ist Jesus, der letzte bisher war Jakob Frank, der im späten 18. Jahrhundert einen Hofstaat in Offenbach am Main einrichtete. Da auch er versagte, bleibt nur die Hoffnung, bis der Messias einst am Ende er Zeiten auf den Wolken des Himmels erscheint, um die irdischen Reiche zu stürzen. So beschrieb ihn das Buch Daniel.18 2f. Die Zeit des geteilten Reiches und der Babylonischen Gefangenschaft im 6. Jahrhundert v. Chr. war für die Ausbildung der jüdischen Endzeitlehre deswegen von Bedeutung, weil anstelle der nationalen Zukunftserwartung allmählich die Hoffnung auf eine gesamtgeschichtliche, ja kosmische Erneuerung trat. Die Voraussetzungen hierfür liegen einerseits in der Erniedrigung des Volkes Israel, das Kompensationen in der Verheißung suchte, und andererseits im Einfluß iranischer Eschatologie. 2g. Daraus ergibt sich eine Zweiteilung der Geschichte in zwei große Abschnitte, in diesen, unseren Aion und den kommenden Aion, von denen der erste, der gegenwärtige, alle Übel enthält, während der zweite, der künftige, wieder paradiesische Zustände bringen soll. „Die Blinden werden sehen, die Tauben hören, die Lahmen springen. Die Wüste wird blühen, das Land wird jubeln und die Erlösten wandern zu ewiger Wonne nach Zion“.19 Die völlige Andersartigkeit des kommenden Aion wird dadurch gekennzeichnet, daß von einer neuen Schöpfung, von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, von einer Zeit ewigen Lichtes die Rede ist, die sich



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an diesen Aion anschließt wie der Tag an die Nacht. „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander hüten. Kühe und Bären werden gemeinsam auf die Weide gehen, während ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Ochsen“. Es ist das Bild vom Goldenen Zeit­ alter der Zukunft.20 2h. Der Übergang von diesem zu jenem Aion ist durch eine dichte Folge außerordentlicher Ereignisse charakterisiert. Die Propheten sprechen von den „Geburtswehen“ der Endzeit. Mord und Totschlag stehen auf der Tagesordnung, der Messias naht auf den Wolken des Himmels, die Toten stehen auf, es kommt zum Endkampf zwischen Zebaoth mit seine Himmlischen Heerscharen und den Truppen Babels.21 Es folgt das Weltgericht, bei dem die Bösen ins Höllenfeuer, die Guten in die Gemeinschaft mit Gott gelangen. Das Gericht nimmt zuweilen die Züge einer kosmischen Katastrophe an. Bei Zephanja verheißt Gott die Vernichtung der Welt im Feuer seines Zorns. Das besagt die Sequenz im Requiem: Dies irae, dies illa solvet saeclum in favilla. Die gottlosen Völker werden ausgerottet und die gottesfürchtigen wieder mit einer gemeinsamen Sprache begabt, um dem HErrn zu lobsingen. Damit gewinnt das jüdische Geschichtsbild eine zyklische Gestalt: die paradiesische Freude der Urzeit wird am Ende erneuert. Die Wanderschaft des Volkes Gottes durch das irdische Jammertal ist beendet. Das Himmlische Jerusalem nimmt die Gerechtfertigten auf.22 2i. Wie die babylonische Gefangenschaft zu Endzeitvisionen geführt hat, so wiederholte sich das in späteren Notlagen der Juden regelmäßig. Am folgewirksamsten wurde das Buch Daniel,23 das während des Makkabäerkriegs gegen den Seleukiden Antiochos  IV entstand. Daniel war ein jüdischer Knabe, der angeblich 586 v. Chr. vom Chaldäerkönig Nebukadnezar aus Jerusalem nach Babylon verschleppt und als Page angestellt wurde, dort durch seine prophetischen Traumdeutungen und seine Standhaftigkeit im Glauben großen Eindruck machte und den Sturz der Chaldäer erlebte. Nebukadnezar, so heißt es, hatte einst einen schweren Traum, den ihm seine Zeichendeuter und Wahrsager nicht erklären konnten. Daniel aber vermochte es. Er trat vor den König und sagte: 2j. „O König, du schautest, und siehe, ein Bild – dieses Bild war gewaltig groß und sein Glanz außerordentlich – stand vor dir, und sein Anblick war schrecklich. Das Haupt dieses Bildes war von gediegenem Golde, seine Brust und seine Arme von Silber, sein Bauch und seine Lenden von Erz, seine Schenkel von Eisen, seine Füße teils von Eisen, teils von Ton. Du schautest, da riß sich auf einmal ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berge, traf das Bild auf seine eisernen und tö­nernen Füße und zertrümmerte sie. Da zerstoben mit einem Male Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold und flogen davon wie die Spreu im Sommer von den Tennen, und sie wurden vom Winde verweht, so daß keine Spur mehr von ihnen zu finden war. Der Stein aber, der das Bild zerschlagen hatte, wurde zu einem großen Berg

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und füllte die ganze Erde.“24 Diese Vision vom Koloß auf tönernen Füßen ver­ sinnbildlicht nach Daniel die Abfolge von vier irdischen und einem fünften himmlischen Reich. Die irdischen Reiche werden durch Metalle gekennzeichnet, die nach Wert und Haltbarkeit von oben nach unten abnehmen. Das fünfte Reich stellt der gewaltige Stein dar, der alles in Stücke schlägt und selbst zum Koloß anschwillt. 2k. So wie die Messiaserwartung ist das Schema der Weltreichsfolge keine ursprünglich jüdische Idee, diese verweist auf griechische Vorbilder. Schon Herodot kannte den Übergang der Herrschaft von den Assyrern zu den Medern und weiter zu den Persern „im oberen Asien“.25 Um 400 v. Chr. schrieb Ktesias von Knidos die translatio imperii von den Assyrern über die Meder zu den Persern.26 Als Abfolge in der Vorherrschaft, der summa imperii, werden nach dem Sieg der Römer über Antiochos III im Jahre 189 v. Chr. die drei orientalischen Reiche durch Aemilius Sura gedeutet, der Makedonen und Römer anschloß.27 Letztere hatte der Verfasser des Danielbuches noch nicht im Blick. 2l. Später erzählt Daniel einen eigenen Traum, der das Weltreichsschema im Bild von den vier Tieren aus dem Abgrund vorführt. Am Ende heißt es: „ Ich schaute: auf einmal wurden Throne hingestellt, und ein Hochbetagter nahm Platz; sein Gewand war weiß wie Schnee und sein Haupthaar rein wie Wolle, sein Thron war Feuerflamme und dessen Räder loderndes Feuer. Ein Feuerstrom ging von ihm aus; tausendmal Tausende dienten ihm und zehntausendemal Zehntausende standen vor ihm. Der Gerichtshof nahm Platz, und die Bücher wurden aufgetan. ... Mit einemmal wurde das Tier getötet und sein Leib vernichtet und dem Feuerbrande überliefert.“ Weiter heißt es: „Mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschen glich, und gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn gebracht. Und es wurde ihm gegeben Macht und Ehre und Herrschaft über alle Völker und Zungen. Ihm dienen sie, seine Macht ist eine ewige Macht, die nicht vergeht, und sein Reich ein ewiges Reich, das unzerstörbar ist.“28 Eine dritte Vision eröffnet den Sinn der Bilder. Sie symbolisieren die Reiche der Meder und Perser und den König von Griechenland, also Alexander, dem vier Könige folgen, bis schließlich einer ihrer Nachfolger – Antiochos IV – sich am Jerusalemer Tempel vergreift. In einer letzten Vision erfährt Daniel das Ende des frevelhaften Griechenkönigs.29 2m. Schon der neuplatonische Philosoph Porphyrios (s. u.) hat erkannt, daß diese angebliche Weissagung ein vaticinium ex eventu war, eine Kampfschrift aus dem Makkabäeraufstand. Ihre Entstehung läßt sich auf das Jahr 164 v. Chr. datieren, denn die Prophezeiungen werden immer zuverlässiger, je näher die Geschichte diesem Jahre kommt, d. h. je genauer der anonyme Autor sie kannte. Im Jahre 164 jedoch beginnt die Phantasie. Die weiteren Vorhersagen stimmen nicht mehr, der Messias blieb aus. *



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2n. Die nächste Notlage nach dem Makkabäerkrieg war die Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Herbst 63 v. Chr.30 Aus jener Zeit stammt das nach dem Vater des Methusalem benannte Henoch-Buch, 1773 von einem britischen Reisenden in Abessinien entdeckt. Ähnlich wie später Dante durchreist Henoch das Weltengebäude von der Hölle zum Himmel, berichtet über die Engel, die Sterne, den Messias, über seine Rückkehr und das Gericht über die Feinde Israels.31 2o. Als die Verwaltung Judäas durch die Prokuratoren Roms drückend wurde und unter Nero im Jahre 66 n. Chr. die Erhebung der Zeloten unter ihrem messianischen Führer Menachem auslöste, entstanden mehrere jüdische Endzeitvisionen. Zu ihnen zählt die in den Höhlen von Qumran am Toten Meer gefundene ›Kriegsrolle‹. Sie schildert mit militärischer Akribie den bevorstehenden Heiligen Krieg der „Kinder des Lichts“, unterstützt von Gott und seinen Engeln, gegen das von Belial und seinen Trabanten geführte Heer aus dem „Reich der Finsternis“, mit dem die Römer gemeint sind. Ihre Vernichtung führt zur ewigen Herrschaft Israels „über alles Fleisch“ und bringt so die Wende von der „eschatologischen Drangsal zum Anbruch der Heilszeit“. Sieger ist der Kriegsmessias aus dem Hause Davids. Zu ihm spricht der Prophet: „Es erhebe dich der Herr zu ewiger Höhe, wie einen starken Turm auf ragender Mauer, auf daß du die Völker mit der Kraft deines Mundes schlügest und mit deinem Szepter die Erde verwüstetest, mit dem Geist deiner Lippen die Frevler tötetest. Er mache deine Hörner eisern und deine Hufe ehern, stoßen sollst du wie ein Jungstier und die Völker zertreten wie Straßenkot. Denn Gott hat dich zur Zuchtrute der Herrscher bestellt, und alle Nationen werden dir dienen.“32 2p. Nach der Eroberung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 fanden die Juden Trost in weiteren Apokalypsen, überliefert durch das syrische Buch Baruch und das lateinische Vierte Buch Esra.33 Sie enthalten weitgehend denselben Stoff, sicher aus der Feder zweier palästinensischer Juden. Dem Ende gehen Zeichen voraus: „Bäume bluten, Steine schreien, Sterne hageln vom Himmel ...“ Die Schöpfung, heißt es, ist alt geworden, wie eine alte Frau, die ihre Jugendkraft hinter sich hat. Das Jüngste Gericht ist nahe, die Götzendiener erwartet eine gnadenlose Gerechtigkeit. Der Untergang Roms, des gottlosen vierten Reiches der Danielvision, steht bevor, und das Reich Gottes wird errichtet. Die Masse der Menschen endet im Feuerofen der Hölle, nur die wenigen Auserwählten gelangen zu Gott ins Paradies – so vermutlich der Autor und sein Leser. Der jüdische Aufstand war getragen von der Hoffnung auf einen endzeitlichen Sieg über die Kaiser. Antike Autoren überliefern Orakel auf einen siegreichen Herrscher aus dem Osten, weil sie dies ihrerseits auf den 69 n. Chr. in Alexandria erhobenen Kaiser Vespasian bezogen.34 2q. Endzeitprophetien ertönen dann wieder im Zusammenhang mit dem zweiten jüdischen Krieg unter dem Messiasanwärter Bar Kochba, dem „Sohn des Sterns“. Aus jener Zeit, um 140 n. Chr., stammt die Paradiesesvision des dritten Buches der Sibyllinen-Orakel, in griechischen Hexametern verfaßt,35 Ein mächtiger

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

König erscheint aus Asien, wirft die „Makedonen“ nieder, erobert Ägypten und stellt die Gottesherrschaft her. Die Götzenbilder werden ins Feuer geworfen, Obstbäume und Schafherden bringen den Menschen freiwillig ihre Güter, Wein und Honig, Milch und Weizen – soviel man will, wenig Arbeit und viel Freude. Das jüngere achte Buch prophezeit die Wiederkehr Neros unter Marc Aurel, den Untergang Roms durch einen König aus dem Osten beim fünften Erscheinen des Phönix und eine paradiesische Zukunft.

3. Geschichte im Neuen Testament 3a. Wer nach dem Geschichtsdenken im frühen Christentum fragt,36 steht vor dem Problem, was dort denn überhaupt „Geschichte“ heißen könne. Das Wort gibt es in der Bibel nicht, aber die Sache? Verstehen wir im modernen Sinn Geschichte als Inbegriff menschlichen Handelns, sofern es untereinander im Zusammenhang steht, könnte man bestreiten, daß im Neuen Testament von Geschichte geredet werde. Zwar galten Leben, Tod und Auferstehung Jesu als historische Fakten, da auf Geschichtlichkeit Wert gelegt wurde, wie die Nennung außerbiblisch bezeugter Römer37 und Juden38 in den Evangelien zeigt, aber das Handeln des Einzelnen steht nicht primär im dia- und synchronen Zeitbezug, sondern erscheint allererst, wo nicht ausschließlich unter dem Blickwinkel der moralischen Verpflichtung gegenüber dem Nächsten und der religiösen Verantwortung vor Gott. 3b. Das, was wir Geschichte nennen, ist für den frühen Christen, ähnlich wie für den frommen Juden, in erster Linie ein Handeln Gottes am Menschen. Gott stellt die Verhaltensnormen auf, er verteilt beziehungsweise verheißt nach dem Vergeltungsprinzip Lohn und Strafe und will damit den Menschen zum Heil, zum ewigen Leben im Paradiese führen. Daher sprechen wir von „Heilsgeschichte“. Dieser Begriff übersetzt den Terminus historia divina, sacra oder ecclesiastica der im Gegensatz steht zu historia humana, saecularis oder profana, der Geschichte in unserem Sinne, und zu historia naturalis, der gesamten Naturwissenschaft.39 Die Heilsgeschichte ist eine Interpretation der Profangeschichte, diese liefert den Stoff, jene den Sinn. Die Taten der Menschen und Völker erscheinen als Realisierung des Willens Gottes oder als Werke des Teufels. Heilswichtig ist alles, was Gottes Herrlichkeit offenbart, was seine liebende Fürsorge oder strafende Gerechtigkeit bezeugt, alles was dem Glauben dient. 3c. Die Geschichtsauffassung Jesu ist wie bei Johannes dem Täufer geprägt vom Endzeitbewußtsein, von der Erwartung des Übergangs vom alten Aion (saeculum) zum neuen Aion. Ein derartiges Krisengefühl war um die Zeitenwende verbreitet. Es ist mit der Messiaserwartung auf doppelte Weise verbunden worden. Die römische Staatsideologie bietet die weltliche Variante,40 die jüdisch-christliche Endzeiterwartung die geistliche. Dem Zeitalter des Augustus, dem Saeculum Augustum,41 war ein jahrzehntelanger Krieg im gesamten Mittelmeerraum vorausgegangen. Es



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schien unvorstellbar, daß dies so weitergehen könne, aber ebenso unglaublich war, daß es ein Ende nehme. Alle erdenklichen Staatsformen hatte man durchprobiert, von der Polis über den Stammes- und Volksstaat bis zum Großreich, von der patriarchalischen Monarchie über mehrere Spielarten der Oligarchie zur radika- len Demokratie – kein System hatte den Frieden gebracht. Lucrez entwarf die ­Szenerie des Weltuntergangs: Die machina mundi bricht an einem einzigen Tage zusammen. Eine verbreitete Verzweiflung, nicht nur bei den Gegnern Roms, ­sondern auch bei Sallust und Cicero, bei Horaz und Livius, weckte die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Altbewährten oder auf die Stiftung von etwas gänzlich Neuem.42 3d. Augustus hatte es gebracht. Er wurde von den Dichtern als Gott gefeiert, galt als „neuer Stern“, entging einem Kindermord und regiert nach seinem Tode mit dem Göttervater Juppiter gemeinsam den Himmel.43 Griechische Inschriften aus Kleinasien44 feierten die neue Ordnung als evangelion. Die frohe Botschaft von der Pax Romana fand ihre gültige Fassung in Vergils 4. Ekloge. Sie verhieß 40 v. Chr. die Geburt eines göttlichen Königskindes, unter dessen Herrschaft das Goldene Zeitalter wiederkehre. Möglicherweise schrieb Vergil das Gedicht unter Augustus und datierte es zurück, um sich als Prophet zu erweisen.45 Ovid behandelt den Mythos der aurea aetas in seinen Metamorphosen, und fortan verkünden Münzen die felicium temporum reparatio. Vergils Gedicht erhielt im Mittelalter die Überschrift ›Saeculi novi interpretatio‹. Der damals verheißene novus ordo saeclorum wurde seither vielmals, vorläufig zum letzten Mal 1937 unter Victor Emanuel III durch Mussolini proklamiert.46 3e. Die christliche Rede vom Endgericht in der „Fülle der Zeit“, genauer: der Erfülltheit (plēroma) der Zeit, beruht auf den Prophetien47 und der Predigt Johannes des Täufers. Als dessen Schüler verkündete Jesus das nahe herbeigekommene „Reich Gottes“ oder „Himmelreich“, wobei „Himmel“ in der Mehrzahl steht und statt „Reich“ genauer „Königsherrschaft“ (basileia) gesagt werden müßte.48 Dieser Begriff weckt politische Assoziationen, er stammt aus der Messias-Erwartung der Juden, die an die Wiederherstellung des Königtums Davids auf Erden glaubten. Gemäß den Evangelisten wird das Paradies für die Mehrzahl der Erlösten mit dem Jüngsten Gericht eröffnet, doch finden Einzelne – so der gute Schächer49 – schon vorher Aufnahme. Es handelt sich um eine Art Schlaraffenland, wo die Auferstandenen mit Gott und Jesus zu Gericht sitzen50 und zu Tische liegen, essen und trinken.51 Paulus hat diese Vorstellung bekämpft und die paradiesische Gaumenlust durch „Freude in dem heiligen Geist“ ersetzt.52 Die Hoffnung, mit Gott zu bechern und zu schmausen, blieb aber selbst bei Kirchenvätern lebendig. Das Himmelreich wird als Symposion gedacht nach dem Vorbild eines Gelages beim Kaiser.53 Sehr ähnlich zeigt sich die germanische Walhalla, wo die „erwählten“ Helden ihre Unsterblichkeit in Form eines Banketts genießen, allerdings beim Met und nicht beim Wein, der dem Götterkönig Odin vorbehalten ist.54

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3f. Jesus selbst wird von Paulus und den Evangelisten als der Messias betrachtet, „Christus“ ist die Übersetzung des hebräischen „Messias“ ins Griechische und bedeutet „der Gesalbte“ (chriō). Die Evangelien sind bemüht, alle Hinweise des Alten Testaments auf einen künftigen Heilsbringer als im Messias Jesus erfüllt zu erweisen. Er wird als Nachkomme Davids bezeichnet und soll in Bethlehem, der Heimatstadt Davids, geboren sein. Johannes der Täufer versteht sich bei den Evangelisten als Vorläufer des Messias, als welchen er angeblich Jesus ansieht. Der Einzug in Jerusalem auf der Eselin, die Palmen bei der Begrüßung, das Hosianna – all das sind Elemente des jüdischen Königszeremoniells. Jesus bekennt sich gemäß den Evangelisten vor Pilatus als König der Juden, erhält einen Purpurmantel, eine Dornenkrone und über seinem Kreuz steht sein Verbrechen: „Jesus aus Nazareth, König der Juden“.55 3g. Die Messiasidee bei Jesus steht im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von teils militanten, teils quietistischen Bewegungen. Die kriegerischen Vertreter sind die sogenannten Zeloten, die „Eiferer“. Das Neue Testament berichtet von fünf Messiasgestalten und ihren Aufständen: In den Evangelien ist von einer anonymen Erhebung in Galiläa die Rede, sowie von derjenigen des Barabbas in Jerusalem.56 Die Apostelgeschichte bezeugt drei Empörungen: die des Theudas, die des Judas von Gamala in Galiläa und die des namenlosen „Ägypters“.57 3h. Daneben gab es quietistische Bewegungen, die nicht zuschlagen, sondern abwarten wollten. Hierher zählen Johannes der Täufer mit seinen Jüngern58 und die Essener, obschon die ihnen zugerechnete Kommune von Qumran sich den Endkampf minutiös und martialisch ausgemalt hat (s. o!). Das Bild Jesu in den Evangelien schillert. Seinen von Matthäus in der Bergpredigt zusammengestellten Worten des Friedens stehen unverhüllt militante Äußerungen gegenüber.59 Sie wurden redaktionell nicht getilgt. Jesu Anhänger sympathisierten teilweise mit den Zeloten, so anscheinend Judas Iskarioth, Petrus mit dem Schwert und die Söhne des Zebedäus. 3i. Wie sich Jesus die mit dem Messias verbundene Eröffnung des neuen Weltzeitalters vorgestellt hat, ist unklar. Die Evangelisten bieten zwei Antworten. Die erste lautet, der Anbruch der Endzeit stehe unmittelbar bevor. Diese Ansicht verkündete Jesus im Hinblick auf Daniel.60 Die Gegenthese vom Evangelisten Johannes heißt, der „Fürst dieser Welt“, d. h. der Teufel als Herr des alten Aion, sei bereits gerichtet,61 so daß schon mit der Verkündung Jesu der neue Aion begonnen hätte. Diese Auffassung setzt ein anderes Verständnis des neuen Säkulum voraus: es wäre kein kosmisches, äußeres, spektakuläres Ereignis, sondern lediglich eine innere Umkehr im Herzen des einzelnen Christen. Nach Lukas sagte Jesus: „Das Königtum Gottes kommt nicht beobachtbar, es ist in euch drinnen.“62 Diese Deutung entsprang wohl der enttäuschten Naherwartung, die lebendig blieb. Denn bei Lukas folgt der Satz: „Der Menschensohn kommt wie ein Blitz“. 3j. Der Terminus technicus für das Erscheinen des Messias lautet Parusie oder Advent. Beides bezeichnet die feierliche Ankunft des hellenistischen Königs. Die



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Römer sprachen von adventus Caesaris. Ihm voraus reiten die Herolde. Dementsprechend brauchte man einen Vorboten des Messias. Im Alten Testament wurde mit einer Wiederkehr des Elias zu diesem Zweck gerechnet, das Neue Testament überwies Johannes dem Täufer diese Funktion, möglicherweise tat dies Jesus auch seinerseits. Die Erscheinung des Messias ist bei Jesus merkwürdig verdoppelt – einerseits in seinem eigenen Leben erfüllt, andererseits als Wiederkehr in nächster Zukunft erwartet. Vor dieser zweiten Parusie sollen nach den Worten des Auf­ erstandenen die Jünger allen Völkern das Evangelium predigen.63 Der Missions­ auftrag hebt das Christentum über die nationaljüdische Religion hinaus. * 3k. Die Vorstellungen von Zeitenwende und Zeitenende stehen bei Jesus im Vordergrund, erst Paulus wirft den Blick zurück auf die Vergangenheit.64 Für die äußere Geschichte hat er jedoch kein Interesse, die Taten und Schicksale der Juden, Griechen und Römer beschäftigen ihn nicht. Politik ist für ihn kein Thema. Die Obrigkeit ist von Gott, dem Untertan gebührt Gehorsam. Wenn Paulus dies der römischen Gemeinde einschärft,65 gab es dort wohl Neigung zum Widerstand gegen Nero. Der erste Petrusbrief fordert Gehorsam der Christen gegenüber den Römern, der Sklaven gegenüber den Herren, der Frauen gegenüber den Männern. Leid sei eine von Gott gesandte Prüfung, in der Nachfolge Jesu hinzunehmen. 3l. Das Interesse des Paulus an der Vergangenheit konzentriert sich auf die innere Geschichte. Er betrachtet das Gottesvolk unter Einschluß der Juden als ein alterndes Individuum. Im Galaterbrief heißt es: „Bevor der Glaube kam, war das Gesetz unser Zuchtmeister (paidagōgos), das uns auf Christus vorbereitet hat, damit wir durch den Glauben gerecht würden. Seitdem der Glaube nun da ist, stehen wir nicht mehr unter der Gewalt des Pädagogen“. Der „Pädagoge“ in seinem Bilde ist das mosaische Gesetz, der Zögling, das sind „wir“. Paulus meint damit aber nicht die von Jesus gestiftete Gemeinde, sondern zunächst die Juden bis zurück auf Abraham, sodann aber auch alle möglichen Adressaten der christlichen Botschaft, wie hier die Galater, samt deren eigenen Vorfahren, die nun zwar nicht dem Gesetz, aber den diesem gleichgeachteten heidnischen Bräuchen gehorcht haben.66 Damit haben wir als Kollektivsubjekt nicht mehr, wie im alten Testament, das Volk Israel, sondern wieder, wie in der griechischen Geschichtsphilosophie, die Menschheit vor uns. Erziehungsgegenstand freilich ist nicht wie bei den Griechen die Zivilisation, sondern wie im Alten Testament die religiöse Haltung, die zum Heil führt. Die Geschichte gliedert sich somit in drei Teile: ante legem von der Schöpfung bis zum mosaischen Gesetz, sub lege von dort bis zu Christus und sub gratia seither bis zum Jüngsten Tag. Letzteres sind die tempora Christiana.67 3m. Bedeutsamer als der Alte Bund mit Moses ist der Neue Bund durch Christus. Seine Erscheinung vergleicht Paulus im Galaterbrief mit dem Eintritt der Mündigkeit. Der junge Mann wird frei: „Solange der freigeborene Erbe unmündig

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ist, besteht zwischen ihm und einem Sklaven kein Unterschied, obschon ihm doch künftig alles gehört. Aber er untersteht Vormündern und Verwaltern so lange, wie es der Vater vorausbestimmt hat. So auch wir: solange wir unmündig waren, blieben wir Sklaven der Naturgewalten.“ Paulus denkt sich die Gemeinde als einen freigeborenen Knaben, dessen offenbar verstorbener Vater testamentarisch festgesetzt hat, in welchem Alter der Sohn das Verfügungsrecht über sein Erbe erhalten soll. Mit der Erbschaft meint Paulus den durch die Erlösung erreichbaren Zustand der Seligkeit, den Inhalt der Verheißung an Abraham, die in derselben Metapher bei ihm als Testament (diathēkē) erscheint.68 3n. Als Zeitpunkt der Mündigkeit wird die „Fülle der Zeit“ angegeben, in der Christus erschien: „Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das (mosaische) Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, daß wir die Kindschaft empfingen.“69 Luther verwendet den Ausdruck „erlösen“ für Termini, die den Loskauf aus dem Sklavenstande oder der Kriegsgefangenschaft bedeuten und im Neuen Testament metaphorisch für die Heilstat Christi gebraucht werden. Der Empfang der Kindschaft läßt sich auch als Adoption verstehen. Mit Loskauf und Adoption kommen hier nun zwei neue Bildelemente hinzu, die – wie das Mündigwerden – eine Änderung des Gewaltverhältnisses zum Ausdruck bringen. 3o. Zwischen der Lösung aus der Vormundschaft des Gesetzes und der Bindung in ein neues Kindschaftsverhältnis könnte man einen Widerspruch empfinden. Was ist das für eine Erlösung, die aus der Unterordnung unter das Gesetz in den Gehorsam gegenüber dem Messias führt? Der römische Begriff der Freilassung, emancipatio, bedeutet nicht nur Auflösung, sondern auch Wechsel des Gewaltverhältnisses, se emancipare wird sogar für die Tat eines Menschen gebraucht, der sich freiwillig in die Sklaverei eines anderen begibt. „Emancipare ist an sich nichts anderes als ein verstärktes mancipare“.70 Damit im Einklang steht, daß Paulus denselben Erlösungsakt in zweifacher Weise verbildlicht. Der Messias hat uns nicht nur freigekauft, sondern auch selbst gekauft, macht aber von seinem Eigentumsrecht keinen Gebrauch. „Wer ein Sklave des Herrn genannt wird, ist (in Wirklichkeit) ein Freigelassener des Herrn.“71 3p. Das Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament ist somit gekennzeichnet durch eine Zwischenphase. Einerseits ist Christus schon erschienen, andererseits ist der Tag des Herrn noch nicht angebrochen. Alle Zeugnisse deuten aber darauf hin, daß man ihn in allernächster Zeit erwartete, und dies glaubte auch Paulus. Die Naherwartung wurde jedoch durchkreuzt durch die Parusieverzögerung. Als die ersten Gläubigen gestorben waren, ohne daß der Herr zurückgekehrt war, erhob sich das Problem, was mit ihnen nun geschehe. Hier griff Paulus auf den jüdischen Gedanken der Auferstehung des Fleisches zurück72 – der nicht mit der griechischen Idee von der Unsterblichkeit der Seele zu verwechseln ist. Den Zeitraum bis zum Tage des Herrn füllte Paulus mit der Predigt des Evangeliums. Den Christen in



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Thessalonike, die Paulus angesichts des bevorstehenden Weltendes fragten, ob es denn noch Sinn habe, zu arbeiten und Vorrat anzulegen, empfahl er, weiterzumachen. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“,73 ein Satz, der über die Verfassung der Sowjetunion als Artikel 9 in die Constitution der Volksrepublik China von 1954 übergegangenen ist.74

4. Endzeit gemäß Daniel 4a. Die Geschichte des frühen Christentums ist geprägt durch die gestreckte Endzeiterwartung. Man mußte sich vorläufig auf Erden einrichten. Es entstanden heilige Schriften, eine Kirchenorganisation, eine Zuchtordnung, eine Glaubenslehre und ein Geschichtsbild. Die Bibel enthält einen Abriß der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, bis zum Ende der Zeit, dem Anfang der Ewigkeit. Schon die Jünger wollten von Jesus wissen, wann es soweit sei, doch dieser wußte es selber nicht.75 Er sprach jedoch von den bevorstehenden Geburtswehen des neuen saeculum, den Vorboten des Gerichts: Krieg und Not, Pestilenz und Erdbeben, Lügenpropheten und Messiasprätendenten.76 Der Zweite Petrusbrief verkündet wie Zephanja am „Tag der Verdammnis“ eine Feuerkatastrophe: Der Himmel zergeht mit großem Krachen, die Erde verbrennt. Dann aber kommen ein neuer Himmel und eine neue Erde.77 4b. Eine genaue Angabe über die Dauer des Weltenbrandes bietet dann Mani, der 276 n. Chr. hingerichtete persische Religionsstifter, der – nach Buddha, dem Propheten des Ostens, Zarathustra, dem Propheten der Mitte, und Jesus, dem Propheten des Westens – das „Siegel der Propheten“ sein wollte.78 In seinem ›Lebendigen Evangelium‹ bestimmt er die Dauer der ekpyrōsis auf 1468 Jahre.79 Nachdem am Anfang der Welt die Prinzipien des Guten und des Bösen nebeneinander bestanden, kam es in der zweiten noch gegenwärtigen Phase von 12 000 Jahren zu einer Mischung, bis das große Feuer im Endgericht die Welt samt den Bösen verschlingt, aber den auferstandenen Frommen die Befreiung, die Heimkehr ins Paradies beschert.80 4c. Einer historischen Feuerkatastrophe verdanken wir das älteste Zeugnis für den Begriff apokalypsis: dem Vesuvausbruch vom 24. August 79 n. Chr. Die Asche bewahrte uns in Herculaneum einen Papyrus des epikureischen Philosophen Philodemos von Gadara aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Apokalypsis bedeutet bei ihm „Enthüllung, Entblößung“. Im prophetischen Sinne verwendete dann der Apostel Paulus am Ende seines Römerbriefes apokalypsis mystēriou für die „Aufdeckung des Geheimnisses“ am Jüngsten Tag. Die etwa 90 n. Chr. verfaßte letzte Schrift der Bibel trägt den Titel Apokalypse, und fortan bezeichnet der Begriff die Vision des Weltuntergangs, der zugleich in eine neue Existenz hinüberführen soll. Das Buch, das seit etwa 160 n. Chr. einem Jesusjünger, dem Zebedaiden Johannes, zugeschrieben wird, systematisiert und dramatisiert das Endzeitgeschehen und ent-

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rollt eine Phantasmagorie des bevorstehenden Weltendes. Die Kirche als Gemeinde Gottes wird dem Imperium Romanum als dem Gefolge des Teufels gegenübergestellt, der Kampf beider beginnt mit der Erscheinung des Menschensohnes und endet mit dem Sturz des satanischen Rom, verbildlicht als große Hure Babylon. Es folgt die glückliche Zwischenzeit des Tausendjährigen Reiches, eine Vorstellung, die sich so verbreitet hat, daß für sie der Begriff Chiliasmus geprägt worden ist. Danach kommt es zum letzten Aufstand Satans und zu seinem endgültigen Sturz. Mit dem Jüngsten Gericht beginnt die ewige Seligkeit im Himmlischen Jerusalem für die Erlösten, das ewige Höllenfeuer für die Verdammten. 4d. Die Johannesapokalypse inszeniert die Zukunftsschau des Buches Daniel. Dessen Schema der Weltreichsfolge prägte das christliche Geschichtsdenken.81 Der erste christliche Kommentar zu einem Buch der Bibel, verfaßt um 200 von Hippolytos in Rom, galt dem Propheten Daniel. Natürlich hat man an dessen Geschichtlichkeit unter Nebukadnezar geglaubt. So wie es innerhalb der Bibel keine historische Kritik gibt, haben die Kirchenväter nirgends Zweifel an der Geschichtlichkeit dessen zu äußern gewagt, was im „Wort Gottes“ zu lesen war. Daniel ist in der Weltchronik Eusebs eine historische Gestalt und ein hellsichtiger Prophet, der Christus vorausgesagt habe. Hieronymus polemisiert in seinem Danielkommentar gegen die um 300 n. Chr. formulierte, tatsächlich zutreffende Fälschungsthese des Neuplatonikers Porphyrios, dessen 15 Bücher ›Gegen die Christen‹ auf Geheiß des frommen Kaisers Theodosius II im Jahre 448 verbrannt wurden.82 Um das Schema beibehalten zu können, hatte man es modernisiert. Die Lehre von den vier Weltreichen war seit der Entstehung des Imperium Romanum in der alten Form unbrauchbar. Um die Aktualität des Schemas zu erhalten, mußte man dessen Ende umdeuten. Das vierte Weltreich war nun nicht mehr das makedonisch-hellenistische, sondern das römische. Das gilt für die christliche wie für die jüdische Tradition.83 Die Vierzahl wurde beibehalten, indem das medische und persische Reich zusammengefaßt wurden. 4e. Der vom Messias gestürzte frevelhafte König konnte nicht mehr Antiochos Epiphanes sein, der ja längst tot war, sondern wurde mit dem erwarteten Antichrist, dem angeblich von Jesus vorausgesagten falschen Messias gleichgesetzt. Diese Figur aus den um 100 n. Chr. verfaßten Johannesbriefen84 hat zu vielfältigen Spekula­ tionen Anlaß gegeben. So wie der Autor der Johannesbriefe glaubte um 380 der heilige Martin, der Antichrist sei schon geboren.85 Ums Jahr 400 taucht er auf in dem syrisch überlieferten ›Testamentum domini nostri Jesu Christi‹. Da werden allerlei Schreckzeichen geschildert, die das Ende einleiten. Im Westen werde der Antichrist erscheinen in Gestalt eines fremdländischen Königs, eines trugreichen, gottlosen, mörderischen Herrschers, der das Römerreich verwüsten werde. Vermutlich ist hier Alarich gemeint.86 Aber auch andere verhaßte Herrscher wurden mit dem Antichrist identifiziert: so im 4. Jahrhundert Constantius II, im 5. Geiserich, im 6. Justinian.87



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4f. Aus der Neuinterpretation der Danielprophetie ergab sich die Überzeugung, das Römerreich werde bis zum Weltende bestehen. Auch nach dem Einbruch der Germanen konnte sich weder ein Christ noch ein Heide ein anderes politisches System als das Imperium vorstellen.88 Man glaubte wie einst Lactanz, wenn Rom fiele, falle die Welt.89 Dessen Annahme stützte sich auf die dunkle Aussage des Paulus,90 daß erst „hinweggetan werden müsse, was den Tag des Herrn aufhalte.“ Dieses katechon wurde seit der Mitte des 2. Jahrhunderts mit dem Römerreich identifiziert. Um die Schrecken der Endzeit hinauszuschieben, betete man für Kaiser und Reich.91 Wie verträgt sich das mit der zweiten Bitte im Vaterunser? 4g. Das Danielschema blieb die am häufigsten verwendete Periodisierung im Geschichtsdenken von Byzanz und über das Mittelalter hinaus. Die Unmöglichkeit eines fünften irdischen Reiches hatte Orosius erwiesen, indem er die Weltreiche den vier Himmelsrichtungen zuordnete: Babylon dem Osten, Karthago dem Süden, Makedonien dem Norden und Rom dem Westen.92 Damit war die Vierzahl nicht nur theologisch, sondern auch geographisch beglaubigt. Die Endzeitstimmung aus Daniel steigerte sich jeweils im Zusammenhang mit der Bedrohung des Neuen Rom durch Naturkatastrophen und Kriege, so beim Angriff der Araber 717 unter Maslama, beim Erscheinen der Kreuzfahrer 1204 unter Balduin von Flandern und beim Angriff der Türken 1453 unter Mehmed II. Stets hoffte man auf eine Retterfigur wie in der Kyffhäusersage.93 4h. In das Szenarium der Endzeitschrecken gehört der Angriff der wilden Nordvölker. Beim Propheten Hesekiel führt sie der Fürst Gog aus dem Lande Magog, in der Johannes-Apokalypse und bei späteren Autoren sind es die Stämme Gog und Magog, die nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches unter der Führung des losgebundenen Satan zum letzten Kampf gegen das Gottesvolk antreten.94 Das Motiv ist in den Alexander-Roman übernommen worden. Dort schließt der Makedone diese Barbaren durch ein Eisentor im hohen Norden ein, um zu verhindern, daß sie vorzeitig über die Kulturwelt hereinbrechen. Hier ist er die „aufhaltende Macht“. Aus dem Alexander-Roman gelangte das Motiv in den Koran,95 der eine ähnliche Endzeiterwartung bezeugt. Weltenrichter der Muslime ist Isa, Jesus. Der Erzengel Israfil, der auf dem Tempelberg von Jerusalem die Posaune des Jüngsten Gerichts blasen wird, geht auf hebräisch „Serafim“ zurück. Unter den Abbassiden um das Jahr 1000 erfuhr das Danielschema eine weitere Aktualisierung. Der Stein, der den Koloß der Weltreiche zerschmettert, ist nun nicht mehr der Messias, sondern Mohammed. Eine Variante bringt die Umdeutung des vierten Weltreichs von den Römern auf die Araber, so in koptischen, jüdischen und muslimischen Quellen. Selbst bei Joachim von Fiore gibt es die Deutung des vierten Weltreichs auf die Sarazenen.96 Die Idee vom Mahdi, der vor dem Erscheinen des Antichrist alle Muslime unter seiner Herrschaft vereinen wird, trägt messianische Züge.97 4i. Aus politisch-ideologischen Gründen blieb es im Abendland bei der Gleichsetzung des vierten Weltreichs mit dem Imperium Romanum, das mit der Translatio Impe-

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rii an die Deutschen übergegangen sei. Eine germanisierte Form der Danielprophetie findet sich im mittelhochdeutschen ›Annolied‹ aus der Zeit um 1080. Der unbekannte Kölner umschreibt die Visionen, die seiner Meinung nach auf die Römer und Julius Caesar hindeuten. Dieser habe die vier Stämme der Deutschen besiegt, die in das orosianische Schema eingepaßt und mit den antiken Völkern verwandtschaftlich verbunden werden. Die Sachsen im Norden gelten als Nachkommen der Makedonen Alexanders, die Franken im Westen als Abkömmlinge der Trojaner wie die Römer, die Baiern im Osten werden aus Armenien hergeleitet, während für die „übers Meer gekommenen“ Schwaben die Karthager als Vorfahren anzunehmen seien. Wurde der Bodensee zu einer Bucht des Mittelmeeres? Auch der Autor des Annoliedes glaubte, der Antichrist sei bereits geboren. Die unhaltbare Mischung aus Ton und Eisen im Bild vom Koloß auf tönernen Füßen paßt auf jede Gegenwart. Hieronymus sah darin den Gegensatz von Römern und Germanen in der Spätantike, Otto von Freising meinte im Widmungsbrief seiner Chronik damit das Stauferreich.98 4j. Die neuzeitliche Geschichtsdeutung nach Daniel beginnt in der Reformationszeit. Auf den Staat Karls V bezogen das Bild Thomas Münzer in seiner Allstedter Fürstenpredigt von 1524 und Luther in der Vorrede zu Daniel 1544. Für den Reformator war der Papst der Antichrist. In der protestantischen Historiographie des 16. Jahrhunderts ist die Vier-Reiche-Folge noch fest verankert.99 1556 diente sie der Weltgeschichte ›De quattuor summis imperiis‹ des Johannes Sleidan als Gliederungsprinzip. Sein Werk wurde bis in die Zeit der Aufklärung benutzt. Im katholischen Frankreich hielt trotz der fundierten historischen und ideologischen Einwände, die Bodin100 1566 gegen das Danielschema erhoben hatte, noch Bossuet 1681 an ihm fest, während in England Isaac Newton mit seinen postum 1733 erschienenen ›Observations upon the Prophecies of Daniel and the Apocalypse of Saint-John‹ die Zukunft zu ergründen suchte. 4k. Die schon von Münzer vorgenommene politische Instrumentalisierung des Danielschemas findet sich wieder bei der Eröffnung des „Parlaments der Heiligen“ durch Oliver Cromwell am 4. Juli 1653, aber auch bei seinen Gegnern, den Fifth Monarchy Men. Vergebens hatte Thomas Hobbes in seinem ›Leviathan‹ von 1651 darauf bestanden, daß the Kingdom of God erst mit der world to come zu erwarten sei. Das von Daniel prophezeite fünfte Weltalter einer goldenen Zeit wurde auf Erden herstellbar gewünscht, so in den demokratischen USA bei George Berkeley, bei den angloamerikanischen Postmillenniaristen und den lateinamerikanischen Quintomonarchisten. Noch auf dem Wieder Kongreß 1815 forderte der Kardinal Ercole Consalvi als Gesandter des Papstes die Wiederherstellung des 1806 erloschenen römischen Kaisertums, doch die Furcht vor dem Antichrist war nicht mehr zu vermitteln. Das Danielschema blieb gleichwohl lebendig, solange Moskau als drittes Rom galt und das russische Byzanz die Prophetie zu erfüllen schien – so noch bei Wladimir Solowjew, der Ende des 19. Jahrhunderts im Geiste des russischen Messianismus die All-Einheit der Menschen in christlicher Nächstenliebe vertrat.101



5. Die Inkarnation als Epoche

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4l. Das Denkmodell Daniels prägt noch immer das Geschichtsbild der Adventisten, der Zeugen Jehovas und der Heiligen der letzten Tage. Im Buch Mormon von 1830 heißt es: „Tut Buße, alle Enden der Erde, denn das Himmelreich ist nahe; ja der Sohn Gottes kommt in seiner Herrlichkeit.“102 In der politischen Rhetorik der Gegenwart spukt der eschatologische Endkampf, wenn bei born-again Christians von der „Achse des Bösen“ oder „Schurkenstaaten“, und wenn auf islamischer Seite vom „Großen Satan“ Amerika die Rede ist.103

5. Die Inkarnation als Epoche 5a. Die Weltreichsfolge hat für ein christliches Geschichtsbild den Nachteil, daß in ihr die Geburt Jesu keine epochale Rolle spielt. Denn das letzte Weltreich, das Imperium Romanum, bestand ja vor- wie hinterher. Darum gab es konkurrierend mit der Weltalterfolge auch andere Periodisierungen im christlichen Geschichtsdenken. Der unter Marc Aurel umgekommene Justinus Martyr teilte die Geschichte, so wie Paulus, in drei Abschnitte: vor Moses (ante legem), nach Moses (sub lege) und nach Jesus (sub gratia). Die kommende letzte Zeit rechnete er von der erwarteten Wiederkehr des Herrn an.104 Die heidnische Geschichte bleibt außer Betracht. 5b. Erweitert wurde diese Periodisierung um 180 n. Chr. durch Irenaeus von Lyon. Danach gliedert sich Gottes Heilsplan (oikonomia) in vier Stufen: erstens in den Bund (testamentum) mit Adam, zweitens in den mit Noah, drittens den mit Moses und viertens den durch Christus. In diesen Etappen vollzieht sich die „Erziehung des Menschengeschlechts“. Nachdem die Juden immer wieder abtrünnig geworden seien und ihre Propheten verfolgt hätten, hat Christus die endgültige Gemeinschaft mit Gott ermöglicht.105 Ausführlich schildert Irenaeus die Wonnen der Erlösten nach dem Untergang der alten Welt. Sie weilen dann teils im Himmel, teils im Paradies, teils im neuen, aus Edelstein erbauten Jerusalem, das sich vom Himmel herabgesenkt haben wird. Das verheißene ewige Festmahl mit Gott sei keinesfalls allegorisch zu verstehen. Papias von Hierapolis, ein Schüler des Jüngers Johannes, überliefere und verbürge die Worte Jesu: „Es werden Tage kommen, wo Weinstöcke wachsen, jeder mit zehntausend Reben, jede Rebe mit zehntausend Zweigen, jeder Zweig mit zehntausend Trauben, jede Traube mit zehntausend Beeren, deren jede tausend Maß Wein ergibt ... Ähnlich wird auch ein Weizenkorn zehntausend Ähren hervorbringen, jede Ähre zehntausend Körner, deren jedes zehn Pfund reinstes Mehl liefert. Alle Tiere werden friedlich und freundlich zu den Menschen sein“.106 * 5c. Die geschichtsphilosophische Bedeutsamkeit der Inkarnation konnte wie in dem Vierstadienmodell so auch in der Periodisierung durch die Idee der Weltenwoche zum Ausdruckgebracht werden. Dazu wurde die Geschichte entsprechend den

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

Schöpfungstagen der Genesis in sechs Abschnitte gegliedert, denen als siebenter die Sabbatruhe des Gottesreiches folge. Letztere wird im Hebräerbrief den Gläubigen verheißen.107 Ausgeführt wird die Parallele im apokryphen Barnabas-Brief aus der Zeit um 130.108 Dort werden nach dem 90. Psalm „denn tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag“ die sechs Schöpfungstage mit sechs Jahrtausenden gleichgesetzt. Am siebten Tag, dem Weltensabbat, sei alles vollendet, dann komme Gottes Sohn, richte die Gottlosen und verwandle Sonne, Mond und Sterne. Die zweite Parusie wird offenbar ins Jahr 6000 nach der Schöpfung gesetzt; über die erste ist nichts gesagt. 5d. Das Geschichtsmodell der Weltenwoche ist in der frühchristlichen Literatur mehrfach anzutreffen.109 Einflußreich wurde Lactanz. Auch er erklärte, die Welt werde entsprechend den sechs Schöpfungstagen sechs saecula zu je tausend Jahren bestehen und wähnte sich selbst am Ende es sechsten Zeitalters. Dieses aber beschloß er nicht mit dem Weltgericht wie Barnabas. Zwar erwartete er die Geburtswehen der Endzeit, deren Schrecken in den Evangelien110 angedeutet, in der Apostellehre zu Anfang des 2. Jahrhundert ausgeführt111 und von Lactanz breit ausgemalt werden.112 Dann aber folge am siebenten Tag das in der Johannesapokalypse dem Endgericht vorgeschaltete Tausendjährige Reich. In dieser Zeit werde Satan gebunden sein und Christus mit den in einer ersten Auferstehung wiederbelebten Märtyrern tausend Jahre das vollendete Gottesvolk regieren. Honig wird von den Felsen träufeln, Milch und Wein aus Quellen sprudeln; Löwen und Wölfe werden Gras fressen, die Tauben mit dem Habicht tändeln ... Anschließend folgt die zweite Auferstehung und der letzte Kampf mit Satan, der sich losreißt, aber samt seinen Trabanten gerichtet und vernichtet wird. Die Gottlosen schmoren in der Höllenglut, die Gerechten werden in Engel verwandelt zu einem Gottesdienst in Ewigkeit. 5e. Die Lehre vom Tausendjährigen Reich am letzten Tag der Schöpfungs­woche, der Chiliasmus, findet sich in der Antike bei Justinus Martyr, bei Hippolytos und Tertullian, im Mittelalter bei Joachim von Fiore, bei den Hussiten und Taboristen, sowie in der Neuzeit bei mehreren aus dem Protestantismus hervorgegangenen Glaubensgemeinschaften wie den Wiedertäufern, den Zeugen Jehovas und bei der Brüderbewegung der Darbysten.113 John Nelson Darby (1800 bis 1882) gliederte die Weltgeschichte ähnlich wie Lactanz in sieben Abschnitte, die er Dispensationen, Befreiungsschritte, nannte, deren sechster von Christi Himmelfahrt bis zu der in Kürze erwarteten Wiederkehr des Herrn währt.114 5f. Ein Problem der Millennaristen war, daß man wissen mußte, wieviel Jahrtausende die Schöpfung zurücklag, um berechnen zu können, wann das Ende der Welt eintreten würde. Theophilos von Antiochia datierte den Tod Marc Aurels 180 n. Chr. ins Jahr 5695 nach der Schöpfung.115 Der Verfasser der ersten christlichen Weltchronik Sextus Julius Africanus aus Jerusalem setzte um 220 n. Chr. die Geburt Christi ins Jahr 5500 nach der Erschaffung der Welt, so daß noch über



5. Die Inkarnation als Epoche

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250 Jahre auf die Posaune des Gerichts zu warten war. Hippolytos von Rom datierte sich im Jahre 234 ins Jahr 5738 nach der Schöpfung, kam somit zu einem ähnlichen Ergebnis. Euseb hat in seiner Weltchronik die Zeit vor Abraham nicht zu berechnen versucht, weil schwer zu schätzen ist, wie lange Adam und Eva im Paradies gelebt haben. Der Chiliasmus als Hoffnung auf ein tausendjähriges Friedensreich wurde bei Kant 1784 als Variante zum Ziel der Aufklärung zitiert (s. u!). Ein politisches come back erlebte der Begriff des Tausendjährigen Reiches im NS-Staat bei Anhängern Hitlers, obschon dieser selbst den Ausdruck als „Anmaßung“ ablehnte.116 * 5g. Die Verwendung der Schöpfungswoche als Muster für eine Periodisierung wird als „figurale“ oder auch „typologische“ Interpretation bezeichnet.117 Sie geht davon aus, daß der Text der Bibel einen verschlüsselten prophetischen Sinn enthalte. Die dort geschilderten Ereignisse werden als vorausweisende Abbilder (Typen) von späteren Vorgängen (Antitypen) verstanden, die sie symbolisch andeuten. Eine solche innerhistorische Metaphorik ist nicht auf die christlich-jüdische Denkwelt beschränkt, sie findet sich ebenso in der griechisch-römischen Überlieferung und ist wohl ein Kennzeichen mythischen Denkens überhaupt. Der Mythos dient als Spiegel der Gegenwart, wenn man die historischen Perserkriege in der sagenhaften Amazonomachie vorgebildet fand, wenn man im legendären Streit der Götter und Giganten die realen Kämpfe der Pergamener mit den Galatern entdeckte,118 wenn die großen Reisenden sich im Osten auf den Spuren von Dionysos, im Westen auf denen von Herakles wähnten. So enthielt der Mythos gewissermaßen die gesamte historia in nuce. 5h. In der Bibel selbst finden wir solche über sich selbst hinausweisenden Ereignisse, wenn bei Deutero-Jesaja der Durchzug durchs Rote Meer als Hinweis auf die Errettung aus dem babylonischen Exil aufgefaßt wird oder wenn Matthäus den Propheten Jonas im Bauche des Walfisches als Hindeutung auf Christus in der Unterwelt verstand.119 Der beliebteste Antitypus war Christus. Wo immer von Opfer, von ungerecht Verfolgten, ja bloß von Holz die Rede war, erkannte man einen Hinweis auf Christus. 5i. Die Kirchenväter haben die Bibel in diesem Sinne als Kompendium der Geschichte aufgefaßt und umgekehrt die Geschichte als einen fortlaufenden Kommentar zur Bibel verwendet. Dies geschah, indem Euseb den Tod des Maxentius im Tiber 312 mit dem Ende der Ägypter im Roten Meer verglich oder indem Orosius die zehn ägyptischen Plagen als Hindeutungen auf die zehn Christenverfolgungen auffaßte. Orosius schreibt: haec in figura nostri facta sunt und zitiert damit Paulus, der für lateinisch figura den griechischen Begriff typos benutzt.120 Nach diesem Verfahren hat man auch die Schöpfungstage als Präfiguration der Weltperioden verstanden.

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

5j. Die Inkarnation als Epoche liegt unserer modernen Zeitrechnung Anno Domini oder „nach Christi Geburt“ zugrunde. Sie geht zurück auf den römischen Mönch Dionysius Exiguus. Er führte die Ostertafeln des Kyrill von Alexandria für die Jahre 414 bis 442 fort, bezifferte die Jahre jedoch nicht mehr nach der Aera Martyrum, die mit dem Regierungsantritt des Christenverfolgers Diocletian 284 als dem Jahr 1 begann, was als Ärgernis empfunden wurde,121 sondern nach der Fleischwerdung des Herrn, indem er das 247. Jahr Diocletians mit dem 531. Jahr nach Christus gleichsetzte und damit den Herrschaftsantritt Diocletians auf 284 nach der Geburt Christi und diese ins Jahr 754 nach der Gründung Roms verlegte.122 Diese Jahreszählung wurde von Beda in seine Kirchengeschichte übernommen und hat sich dann im Mittelalter langsam gegen andere Ären durchgesetzt. Ihr religiöser Ursprung wurde mehrfach als anstößig empfunden, doch hat ihr praktischer Nutzen dazu geführt, daß nur das Etikett verändert wurde. Im Dritten Reich hieß es „n. Zw.“, nach der Zeitenwende, in der DDR „u. Z.“, unserer Zeitrechnung, in den Vereinigten Staaten gestattet die Deutung „c. e“. die Deutung christian era oder common era. Das Erbe der Heilsgeschichte in den Staaten zeigt sich in der Konzeption des National Museum of Natural History in Washington, wo die Geschichte der Vergangenheit von den Dinosauriern über den Neandertaler zu Perikles und Alexander, bis zu Caesar und dem Christenverfolger Diocletian ausgestellt wird.123 Die Kulturgeschichte beginnt dort erst mit der Christianisierung.

6. Die Reichstheologie Eusebs 6a. Die bisher skizzierten Geschichtsentwürfe dienten dem christlichen Selbstverständnis. Die Auseinandersetzung mit der heidnischen Umwelt erforderte jedoch zusätzlich eine Einordnung der tempora Christiana in den allgemeinen Geschichtsverlauf. Schwer wog die Anklage von Heiden wie Juden, daß die Christen eine willkürliche Neuerung gebracht, den Glauben der Väter verraten hätten. Die übliche Abwehr des Vorwurfs bestand darin, die Neuheit zu bestreiten. So wie die christliche Orthodoxie ihrerseits stets Häresien als neuerliche Irrlehren verurteilte, legte sie Wert darauf, sich selbst in der Vergangenheit zu verankern. Zu diesem Zweck verfaßte Eusebios von Caesarea124 seine Weltchronik. Sie diente dem Altersbeweis. Stichwortartig werden die Begebenheiten seit der Geburt Abrahams, umgerechnet 2105 v. Chr. bis zum Jahre 325 n. Chr., auf eine Zeitleiste eingetragen, um zu beweisen, daß die Geschichte der Juden, verstanden als Vorgeschichte der Christen, wesentlich weiter zurückreiche als die der Griechen und Römer. Die Weissagungen auf den Messias seit Jakob, Bileam und den späteren Propheten verknüpfen bereits im Neuen Testament die Geschichte der Christen mit derjenigen der Juden.125 Soweit diese aber die Gesetze brachen, ihre Propheten verfolgten und schließlich Christus nicht als Messias anerkannten, erscheinen sie als toter Ast am Baum der Gottesgemeinde – so Paulus im Römerbrief und Justin in seinem Dialog



6. Die Reichstheologie Eusebs

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mit dem Juden Tryphon. Der Barnabasbrief reklamiert Moses für die Vorgeschichte der Christen; die Juden hätten das Recht, sich auf ihn zu berufen, durch den Tanz um das goldene Kalb eingebüßt.126 Ebenso hat Bischof Theophilos von Antiochia unter Marc Aurel die biblische Überlieferung seit der Genesis für die Christen in Anspruch genommen. 6b. Wenn Kirchenväter von „unserer Geschichte“ sprechen, meinen sie nie die griechisch-römische Überlieferung, sondern stets die jüdisch-christliche Tradition der Bibel. Über das Verhältnis der beiden Vergangenheiten gingen die Ansichten auseinander. Rigoristische Autoren betrachteten die Heiden als den Dämonen, das heißt den Trabanten des Teufels verfallen. Konziliante Christen hingegen erklärten die Zeit vor der Verkündung des Evangeliums als Vorschule, als paidagōgia Theou, wodurch die Völker auf ihre Bekehrung vorbereitet worden seien. Damit gewann die neue Lehre eine zweite historische Wurzel. Neben die jüdisch-biblische Vorgeschichte trat die antik-heidnische. Clemens von Alexandria127 verstand die hellenische Philosophie als Wegbereiterin für die Offenbarung. Manche Kirchenväter gingen darin sehr weit, indem sie einzelne Philosophen wie Heraklit und Sokrates gewissermaßen als Strukturchristen betrachteten und Vergil, den Dichter der vierten Ekloge, als anima naturaliter Christiana bezeichneten.128 6c. So wie die jüdischen Apologeten, namentlich Philon von Alexandria im 1. Jahrhundert n. Chr., verficht Euseb in seiner ›Praeparatio evangelica‹ die These, daß Moses mit seinem Gesetz auch die Griechen beeinflußt und aus dem Zustand der Barbarei herausgeführt habe. Kennzeichen für Barbarei waren für ihn namentlich Menschenopfer, Kannibalismus und Tötung von Alten. Kronzeuge für den jüdischen Einfluß auf die Griechen ist für Euseb, Ambrosius und Augustinus kein Geringerer als Platon, der während seines angeblichen Ägyptenaufenthaltes den Propheten Jeremia getroffen und von diesem die monotheistische Lehre Moses‘ entlehnt habe. Euseb nennt Platon den „attischen Moses“.129 Der entscheidende Schritt, der das Christentum dann über das Judentum hinausgeführt habe, sei die Predigt des Evangeliums bei allen Völkern, die Universalisierung der Frohen Botschaft, die Katholizität. Mit dem Fall Jerusalems 70 n. Chr. hört für Euseb die jüdische Geschichte auf. Er betont die Einheit des Menschengeschlechts über alle kulturellen Unterschiede hinweg. Das Pfingstwunder vereint die nach dem Turmbau zu Babel zerstörte Sprachgemeinschaft wieder, nun im Glauben. 6d. Neben der vorchristlichen Geschichte erforderte auch die Zeit nach der Inkarnation, der ersten Parusie, eine Deutung, und zwar um so dringender, je länger die zweite Parusie auf sich warten ließ. Dieses Erfordernis erfüllte Eusebios mit seiner Kirchengeschichte. Ihr Thema sind die Geschicke der Gemeinde unter den Kaisern: die Ausbreitung des Glaubens und die Verfolgung der Gläubigen, die Einrichtung der Bistümer und die Streitigkeiten um deren Besetzung, die Bekräftigung der Orthodoxie und der Kampf gegen die Ketzereien. Euseb vertritt im Anschluß an Origenes einen christlichen Fortschrittsglauben. Gott habe unter allen Völkern

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

die Juden erwählt, um die Menschheit zu zivilisieren. Das über Moses den Völkern vermittelte Sittengesetz habe sich „wie ein Wohlgeruch“ (pnoē euōdēs) verbreitet und allenthalben die rauhen Bräuche durch friedliche Verkehrsformen ersetzt. Als dann die Menschen hinreichend vorbereitet waren, sei Christus als der Logos Gottes erschienen.130 6e. Im Anschluß an Melito von Sardes aus der Zeit von Marc Aurel und an ­seinen Lehrer Origenes erblickt Euseb in der Gleichzeitigkeit von Augustus und Jesus eine providentielle Fügung. Der Triumph der Römer über die Barbaren ge­­ währt irdischen Wohlstand, der Sieg der Christen über die Dämonen eröffnet den himmlischen Frieden. Das sind die „zwei Blüten des Guten unter den Menschen: die fromme Lehre und das Reich der Römer“. Augustus habe die Kriegslust der Barbaren gedämpft, habe anstelle der grausamen Tyrannei und der wankelmütigen Demokratie die Monarchie als naturgemäße und gottgewollte Herrschaft begründet, mit der nun aufgehobenen Städtefreiheit habe er die Poliskulte entwertet und durch den Kaiserfrieden der christlichen Mission die Wege geebnet. Euseb bezieht in kühner Wendung die Endreichsprophezeiungen der Psalmen und Propheten nicht auf den Neuen Aion der Zukunft, nicht auf den Messias, sondern bereits auf die Friedensbringer Augustus und Jesus.131 Er verschmilzt römisch immanente und christlich transzendente Geschichtsdeutung zu politischer Theologie. 6f. Eusebs Held ist der „gottgeliebte“ Constantin.132 Er habe vollendet, was unter Augustus begann: die Einheit in Leben und Glauben – ein Gott, ein Reich, ein Kaiser. Wie der Reichspräfekt zum Kaiser so verhält sich Constantin zu Gott, er ist dessen Stellvertreter auf Erden und bringt als weltliches und geistliches Oberhaupt für die Menschheit den Heiligen Geist zur Wirkung.133 Der Kampf gegen die Trabanten des Teufels ist nun in seine letzte Phase getreten, und sobald das Wort Gottes alle Völker erreicht hat, kann das Weltgericht stattfinden. Das römische Reich ist, wie bei Vergil, die letzte irdische Ordnung. 6g. Die Euphorie Eusebs unter Constantin ist nachvollziehbar. Der erkennbare göttliche Segen für Kirche und Reich aber hielt nicht an. Glaubenskämpfe zersetzten die Einheit der Gemeinde, die Barbarengefahr wuchs. 378 vernichteten die Goten das oströmische Heer bei Adrianopel. Franken und Alamannen plünderten Gallien, die Sachsen beherrschten die Nordsee und ihre Küsten. Desungeachtet vertrat Bischof Ambrosius von Mailand die eusebianische Romtheologie134 und eine universale Fortschrittsidee, indem er 384 gegen den heidnischen Senator Symmachus, der religiöse Toleranz angemahnt hatte, den Sieg des Christentums mit der Formel omnia postea in melius profecerunt verteidigte. In seinem Sechstagewerk beschreibt er, wie die Menschen durch Probieren, Üben und Nachmachen nach und nach die Naturgüter zu nutzen lernten.135 Auf die Religion angewandt war der Fortschrittsgedanke insofern gefährlich, als das Christentum um 400 schon längst nicht mehr die neueste Religion war. Wäre Ambrosius konsequent gewesen, so hätte er zur Gnosis oder zum Manichäismus konvertieren müssen.



7. Augustins Zwei-Reiche-Lehre

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6h. Am 24. August 410 eroberte Alarich Rom. Wie war das möglich? Dem Vorwurf der Heiden, der Abfall von den alten Göttern sei schuld, begegnete Augustinus mit seiner Zweireichelehre und sein spanischer Schüler Orosius in ungebrochenem Optimismus mit einer angepaßten Fortschrittstheorie.136 Ganz im Sinne Eusebs werden die zivilisatorischen Errungenschaften des Kaiserfriedens seit Augustus auf die Gnade des Mensch gewordenen Gottes zurückgeführt. „Ich habe gefunden, daß die Zeit in der Vergangenheit nicht nur ebenso schwer zu ertragen war wie die Gegenwart, sondern daß sie um so übler war, je weiter sie von der wahren Religion entfernt war. Solange das Evangelium unbekannt blieb, regierte blutige Mordgier. Als der Glaube erschien, ging die Gewalt zurück, und sie wird ganz verschwinden, sobald das Christentum allein herrschen wird – mit Ausnahme der fernen Schreckenstage des Antichrist vor dem Weltgericht.“137 Orosius meint wie viele seiner Zeitgenossen, daß man nur den rechten Glauben haben müsse, und alle Probleme verschwänden. Der bereits erreichte Zustand wird von dem Kirchenvater gefeiert: „Überall finde ich mein Vaterland, mein Gesetz, meine Religion, in allen Himmelsrichtungen stoße ich als Christ und Römer auf Christen und Römer. Sicherheit und Gastfreundschaft herrschen allenthalben. Ein einziger Gott hat diese Einigkeit geschaffen, er wird von allen geliebt und gefürchtet. Überall kann ich durch die Gesetze den Staat (res publica) anrufen, kann ich durch die Religion mein Gewissen befragen, durch den Verkehr die Naturgüter gewinnen. Alle Welt ist meine Heimat, alles ist allen gemeinsam, und das ist der Vorzug unserer Zeit vor den traurigen Zuständen der vorrömischen und vorchristlichen Zeit.“138 Orosius ließ sich durch die ins Reich eingebrochenen Germanen nicht beirren. Sie hätten Beute gesucht und den Glauben gefunden, sie seien bestrebt, das Reich mit ihren Kräften zu erhalten.139

7. Augustins Zwei-Reiche-Lehre 7a. Die Nachricht von den Goten in Rom wurde keineswegs überall so bagatellisiert wie bei Orosius. Ganz im Gegenteil. Sie erschütterte selbst Hieronymus im fernen Jerusalem.140 Seit achthundert Jahren hatte kein Feind die Ewige Stadt betreten – was bleibt, wenn Rom gefallen ist? Ein letztes Mal erhoben die Heiden die Klage, mit dem Christentum habe das Reich den Schutz der Götter verloren. Dagegen wandte sich Augustinus (354 bis 430), seit 396 Bischof von Hippo Regius im heimischen Nordafrika. In seinem umfangreichen Werk De civitate Dei lieferte er eine vernichtende Abrechnung mit dem römischen Stolz auf den Staat, mit seiner Religion und seinem Geschichtsbild, dem imperium sine fine Vergils, der felicitas temporum und der Pax Romana.141 7b. In aller Breite werden Absurditäten des heidnischen Götterglaubens und die Kalamitäten der römischen Geschichte vorgeführt. Was ist an dem Machthunger der Römer, an ihrer Ruhmsucht schon zu loben? Die Tugenden der Gottlosen sind

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

nur glänzende Laster;142 ihre politischen Taten, kulturellen Leistungen und religiösen Gebräuche sind für den Christen verächtlich. Die Idee der Praeparatio Evangelica und die Romtheologie der älteren Kirchenväter, die auch das säkulare Geschehen heilsgeschichtlich verstanden, hat bei Augustinus keine Spuren hinterlassen. „Der Lauf der Zeiten lehrt uns, die zeitlichen Dinge zu verachten und die ewigen zu erstreben“ – temporum cursibus ipsa nobis insinuetur doctrina contemnendorum temporum et appetendorum aeternorum. Historia war nur als Magd der Theologie nützlich. Sie diente zum besseren Verständnis der Heiligen Schrift143 und als Materialbasis für seine Apologie. Wenn Augustinus sich nicht gegen Euseb und dessen Reichstheologie wandte, so vermutlich deswegen, weil ihm die notwendigen Griechischkenntnisse fehlten.144 Zudem polemisierten rechtgläubige Kirchenväter gegen Heiden und Ketzer, nicht aber gegen andere katholisch-orthodoxe Autoren, auch wenn es, wie hier, nahe gelegen hätte. Anders als Euseb und Orosius sieht Augustin mit seiner Romkritik keinen Grund, Augustus, den Kaiserfrieden oder das Imperium Romanum zu bewundern oder mit Hieronymus die Eroberung der Urbs Aeterna durch die Goten zu beklagen.145 Er hält es mit Tertullian: nulla magis res aliena quam publica – nichts ist uns fremder als der Staat, als die Sache der Allgemeinheit.146 Den Christen als fremden Gast auf Erden bewegen allein Gottesliebe und Gottesfurcht, um nach der Auferstehung zu Gott emporzusteigen. Es dürfe den Christen nicht irre machen, daß die Mehrzahl der Menschen irdische Güter erstrebe und dem Teufel ergeben sei, deswegen sei der noch lange nicht Sieger, denn er werde am Ende überwunden.147 7c. Gegen die Romtheologie stellt Augustinus seine Zweireichelehre148 Sie beruht auf einem universalhistorischen Dualismus zwischen einem guten und einem bösen Prinzip, wie Augustinus ihn in seiner Frühzeit als Manichäer149 kennengelernt haben dürfte.150 So wie Mani sein ›Lebendiges Evangelium‹ nach der Zahl der Buchstaben des syrischen Alphabets in 22 Bücher einteilte151, so gliederte auch Augustinus sein Werk in 22 Bücher. Bei seiner Leitidee der civitas Dei152 oder civitas caelestis auf der einen Seite und der civitas diaboli oder civitas terrena auf der anderen, handelt es sich nicht um Staaten, sondern um die Gemeinde Gottes und die Gefolgschaft des Teufels. Die civitas Dei ist nicht die Kirche, wie das Mittelalter meinte.153 Sie ist eher das „Haus“ als das „Volk“ Gottes,154 die Trennung der Gruppen erfolgte bereits mit dem Brudermord Kains an Abel. Seitdem zerfällt die Menschheit unbewußt und unerkannt in die dereinst erlöste „Gemeinschaft der Heiligen“ aus dem Glaubensbekenntnis und die zur Hölle Verdammten. Beide Gruppen leben als civitas permixta miteinander und treten erst am siebten Weltentag, im Gericht auseinander.155 7d. Augustinus übernimmt von Lactanz das Gliederungsschema der Welten­ woche, doch ersetzt er die Jahrtausende durch jeweils zehn Generationen. Der erste Weltentag reiche von Adam zur Sintflut, der zweite bis Abraham, der dritte bis David, der vierte bis zur babylonischen Gefangenschaft, der fünfte bis Christus, bis



7. Augustins Zwei-Reiche-Lehre

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zur Wiedergeburt des Gottesvolkes. Im sechsten Zeitalter lebt Augustin selbst, doch lasse sich dies nicht berechnen. Augustin hatte zu viele Fehlkalkulationen kennengelernt. Darum polemisierte Augustin gegen die „Chiliasten“, die auf ein Tausendjähriges Reich mit Essen und Trinken ohne Maß spekulierten. Wann der siebente Tag anbreche, dieses wisse Gott allein.156 7e. Parallel zu den sieben Tagen der Schöpfungswoche benutzt Augustin die sieben Lebensalter des Menschen zur Veranschaulichung seiner Geschichtsvorstellung. Wie der Einzelne, so entwickelt sich auch die Menschheit, repräsentiert durch das Gottesvolk, von der infantia im ersten Stadium bis zur Sintflut, über die puerita bis zu Abraham, die adulescentia bis zu David, die iuventus bis zur babylonischen Gefangenschaft, die gravitas bis zu Christus und die senectus im sechsten, dem vorletzten, ehe das Gottesreich anbricht. Die erste Stufe heiße infantia, da der Mensch noch nicht sprechen (fari) kann, weil er sich an die Zeit vor der Sintflut nicht erinnert.157 7f. Wie alle frühen Christen glaubte Augustinus an das bevorstehende Jüngste Gericht. Doch zuvor müsse die Frohe Botschaft alle Völker erreicht haben158 und die vorherbestimmte Zahl der Erlösungsfähigen erfüllt sein.159 Sie dienen Gott als Ersatz für die mit dem Teufel von ihm abgefallenen Engel.160 Zu den Erlösten zählen Abraham, David und die Propheten sowie die wahren Christen. Natürlich rechnet sich Augustin selbst dazu. Die Auffüllung der Zahl der Erlösungsfähigen durch die Mission ist der einzige Vorgang, der als heilsrelevante Entwicklung für die Weltgeschichte in Betracht kommt.161 Diesen Prozeß sucht der Teufel im eigenen Interesse zu verzögern. Da er am Ende der Tage ausgespielt haben wird, verführt er die Menschen zur Sünde und bringt sie in die Hölle. Er verlangsamt so den Geschichtsablauf und verlängert sein Leben. „Der Teufel ist ein Egoist“ und eine reale Macht. Johannes nennt ihn „den Fürsten dieser Welt“. Der Mensch ist seit Adams Fall durch die Erbsünde gezeichnet,162 im übrigen spielen Dekadenz und Fortschritt im Geschichtsdenken Augustins keine Rolle. Die Gläubigen erwarten den Tag des Herrn. Er bringt den ewigen Weltensabbat, einen Tag ohne Abend, ein Ende ohne Ende. Augustins regnum sine fine erinnert an Vergils imperium sine fine, doch sei das ewige Reich nicht das Römerreich, sondern das Gottesreich.163 7g. Bürger im Gottesreich wird nicht jeder. Augustin unterscheidet den „Alten“ Menschen, der fleischlichen Interessen wie Wohlstand und Geselligkeit gehorcht, und den „Neuen Menschen“, den novus homo, der nur geistige Ziele wie Vernunft und Gottesfurcht anstrebt.164 Der Gedanke stammt von Paulus. Der Neue Mensch entsteht durch göttliche Gnade in Form einer Bekehrung, indem der „alte Adam ausgezogen“ und der Neue Mensch „angezogen“ wird, oder aber durch eine geistliche Wiedergeburt, wie es in den christlichen Namen Renatus, der „Wiedergeborene“, und Anastasios, der „Auferstandene“, zum Ausdruck kommt.165 Die Wiedergeburt zum Neuen Menschen wird indes nur den Erlösungsfähigen zuteil, die turba impiorum ist massa damnata und verbleibt im Stande des Alten Menschen. Diese

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Zweiteilung der Menschheit beherrscht die Weltgeschichte von Adam bis zum finis saeculi. Die große Masse der Gottlosen baut Städte, gründet Staaten, trägt die säkulare Kultur. Sie haben mit dem Erfolg für ihre zeitlichen Leistungen „ihren Lohn dahin“. * 7h. Augustins unpolitisches Geschichtsmodell hat in der Nachantike weniger Wirkung gezeigt als die Reichstheologie Eusebs. Das Schema der Weltenwoche jedoch hat um 630 Isidor von Sevilla übernommen, es findet sich ebenfalls um 730 bei Beda.166 Gedanken der Zweireichelehre Augustins und der politischen Theologie des Orosius verband der bedeutendste Geschichtsschreiber der Mittelalters, der Zisterzienserabt Otto von Freising (1112 bis 1158).167 Er verfaßte eine Darstellung der ersten Jahre seines Neffen Barbarossa, die Gesta Friderici, und eine Weltchronik De duabus civitatibus, deren Konzept er Augustinus entnahm, während er den Stoff aus Euseb, Orosius und späteren Autoren schöpfte. Otto teilte die Geschichte auf zwei Ebenen in jeweils drei Abschnitte. Die Heilsgeschichte hat einen Vorlauf in der heidnischen Zeit, das war ein verworfener (abjectus), niedriger (humilis) Zustand. Die finsterste Nacht (nox profundissima) beendete die Inkarnation, diese begründete das regnum oder die civitas Christi, die ecclesia. Das ist ein blühender (prosper), mittlerer (mediocris) Zustand, aber er enthält Gute und Böse noch ungeschieden. Die Trennung von Weizen und Spreu erfolgt im Jüngsten Gericht. Danach umfaßt die civitas Dei nur noch die Guten, ihr Zustand ist glücklich (beatus), vollkommen (perfectus). Anders als Augustins unsichtbare civitas Dei ist diese nun bereits gegenwärtig in der Kirche verkörpert. 7i. Die profane Geschichte der civitas terrena, bei Otto civitas perversa, beginnt in der Zeit ante gratiam wegen der Unkenntnis des Glaubens als elender Zustand (status miser), verschlechtert sich in christlicher Zeit, im tempus gratiae, wegen des verweigerten Glaubens (miserior) und wird künftig, wegen der göttlichen Strafe, am aller elendsten sein (miserrimus). Die civitas perversa ist mithin als Personengruppe ohne institutionellen Rahmen gedacht.168 Die erzählte Geschichte fügt sich in dieses Dreierschema nicht ganz zwanglos ein. Denn in der ersten glücklosen Phase werden die Patriarchen, Propheten und Makkabäer zu den Erlösten gerechnet. Die Geburt Christi zu Beginn des sechsten Zeitalters der Weltenwoche unter Augustus deutet Otto im Sinne der Romtheologie als providentielle Gleichzeitigkeit weltweiten Friedens mit dem Erscheinen des Erlösers.169 7j. Ottos Geschichtsbild enthält progressive Elemente. Zwar wandert die Menschheit durch das Jammertal, in hac valle lacrimarum,170 doch gibt es eine „Spur der Wahrheit“. Alle Macht und alle Weisheit sei im Orient entstanden und finde ihr Ende im Okzident. Verbunden damit sei im processus temporis ein Zuwachs an Wissen, das sich nun, im Greisenalter der Welt, vervielfältigt habe und weiter vermehre. Während die fiebernde Menschheit sich ihrem Krankenbett hin und her



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wälzt und die weltlichen Belange zurückgehen, wüchsen die geistlichen Kräfte, das Irdische zu verachten.171 Der entscheidende Fortschritt ist natürlich die Ausbreitung des Glaubens, das Wachstum der civitas Dei. Sie wurde durch die Konstantinische Schenkung von Gott auf den „höchsten Gipfel“, zur Monarchie über die Völker geführt. Mit Konstantin und Theodosius beginnt nach Gottes Ratschluß das Imperium Romanum Christianum, in dem sich die beiden civitates zur ecclesia permixta, zur gemischten Gemeinde vereinen und an dessen Spitze gleichberechtigt der Kaiser und der Papst stehen. Mit Karl dem Großen vollzog sich die Translatio Imperii zu den Franken und Deutschen, den Teutonici.172 Barbarossas Vorgänger Konrad III wird als 93. Kaiser seit Augustus gezählt.173 Otto wußte, daß die Kontinuität der Reichsidee von tiefen Krisen bedroht war. In ihnen erkannte er die Hinfälligkeit alles Irdischen, den notwendigen Abstieg jeder Entwicklung, die ihren Höhepunkt erreicht hat: die mutatio rerum, den rotatus mundi, das Rad der Fortuna, wie es in den ›Carmina Burana‹ besungen wird.174 Das Unglück soll die Sehnsucht nach dem Himmelreich wecken, das Glück einen Vorgeschmack von ihm gewähren. 7k. Entsprechend der christianisierten Danielvision, wonach Rom das letzte und größte der vier Weltreiche darstellt, erwartet Otto nach dessen Ende die Rückkehr des HErrn. Zuvor jedoch erscheine der Antichrist, der die civitas Christi erniedrigt und die civitas perversa erhöht, bevor er überwunden wird. Otto verheißt das Ende der Erde im Feuer und das Jüngste Gericht mit dem Höllensturz der Verdammten und der Erhöhung der Erlösten im Himmlischen Jerusalem, wo sie mit den Engeln in Ewigkeit zum Lobe Gottes jubilieren. Das ganze achte Buch seiner Chronik beschreibt die bevorstehende Endzeit.175 * 7l. Die Fleischwerdung Gottes bleibt Wendepunkt im christlichen Geschichtsdenken. Alanus ab Insulis († 1203) aus Lille parallelisierte die Epochen des Paulus mit den Jahreszeiten: ante legem mit dem Winter, sub lege mit dem Frühling, sub gratia mit dem Sommer und die Zeit nach dem Gericht sub specie aeternitatis mit dem Herbst, der Ernte des Weltenjahres.176 Etwas anders zeigt sich das zeitgleiche Dreistadienmodell des Zisterziensermönchs Joachim von Fiore (gest. 1202).177 Er unterschied das erste Zeitalter, das des Vaters (den Winter) von Adam bis Christus, bestimmt durch das Alte Testament, gekennzeichnet durch die Furcht, ausgefüllt durch Aktion, symbolisiert durch die Hochzeit; das zweite Zeitalter, das des Sohnes (den Frühling) von Christus bis in Joachims nahe Zukunft, etwa 1260, bestimmt durch das Neue Testament, gekennzeichnet durch den Glauben, ausgefüllt teils durch Aktion, teils durch Kontemplation, symbolisiert durch das Priestertum; das dritte Zeitalter, das bevorstehende des Heiligen Geistes (den Sommer), bestimmt durch ein neues, ewiges Testament, gekennzeichnet durch die Freiheit, ausgefüllt durch Kontemplation, symbolisiert durch das Mönchtum.

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7m. Die spätantiken Periodisierungen der Heilsgeschichte fanden noch in der Neuzeit Verwendung. Die Idee von der Weltenwoche steht auch bei Martin Luther. Seine für den Hausgebrauch angefertigte, 1541 erschienene »Supputatio annorum mundi« beginnt: „Sechstausend Jahre wird die Welt stehen, zweitausend ledig, zweitausend das Gesetz, zweitausend Christus. Dies sind sechs Tage einer Woche für Gott. Der siebente Tag ist der ewige Sabbat. Psalm 90 und 2. Petri 3. Tausend Jahre sind für den HErrn wie ein Tag“.178 Luther verbindet hier die Weltenwoche mit einer Dreiteilung der Geschichte, die auf Paulus zurückführt. 7n. Auf katholischer Seite vertrat noch Bossuet, der Lehrer Ludwigs XIV, das Konzept der Heilsgeschichte und zwar im Sinne der Politischen Theologie Eusebs.179 Doch gab es auch Kritik. Das biblische Alter der Welt von sechstausend Jahren wurde 1749 durch Buffon in seiner ›Histoire naturelle‹ auf 75 000 Jahre erweitert. Dennoch versicherte der große Naturforscher gegenüber der theologischen Fakultät von Paris am 12. März 1751, nie sei ihm in den Sinn gekommen, der Heiligen Schrift zu widersprechen. Die Einteilung der Weltgeschichte in sieben Abschnitte entsprechend der Schöpfungswoche behielt er bei.180 An Joachim haben dann Lessing, Hegel, Comte und andere angeknüpft. Das dritte Weltalter Joachims ist auch als drittes „Reich“ bezeichnet worden, ein Begriff, der allerlei Umdeutungen erlebt hat. Er wurde 1923 durch Moeller van den Bruck politisiert, indem er nach dem ersten Reich Karls des Großen und dem zweiten Reich Bismarcks ein drittes erhoffte, das auf nationaler und sozialer Basis Deutschlands Größe erneuern würde. Als Hitler vom religiösen Ursprung der Idee erfuhr, hat er am 10. Juli 1939 ver­ boten, den nationalsozialistischen Staat als „Drittes Reich“ zu bezeichnen. Goebbels indessen hat den Begriff unbeirrt weiterverwendet, selbst bei Hitler taucht er noch auf.181

8. Geschichtstheologie 8a. Die Heilsgeschichte besitzt innerhalb der geschichtsphilosophischen Modelle insofern eine Ausnahmestellung, als sie sich nicht mit konkret-immanenten Potenzen (wie der Natur) und allenfalls abstrakt-transzendente Faktoren (wie dem Weltgeist) begnügt, sondern einen religiösen Glauben voraussetzt und allenthalben den Willen des persönlichen Gottes erkennt. Die profane Sphäre des politischen und kulturellen Geschehens bleibt weitgehend ohne Interesse. Die historia sacra verzeichnet keine großen Taten und wunderbaren Werke von Menschen im Sinne Herodots, sie zeigt keine kausale Verkettung der Ereignisse wie bei Thukydides, keine geschichtsimmanente Entwicklung, wie Polybios sie bietet, sondern offenbart einen höheren Heilsplan für das Gottesvolk, so daß für diese Theorie oft ein eigener Terminus verwendet wird, man spricht von Geschichtstheologie. 8b. Wir finden eine solche metaphysische Geschichtslehre bei den monotheistischen Buchreligionen: in den Lehren Zarathustras, in der Bibel und im Koran.



8. Geschichtstheologie

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Überall wird die Menschheitsgeschichte als durchlaufender Prozeß begriffen, der von der Schöpfung zum Weltgericht führt und in seinem Verlaufe einen Kampf zwischen Guten und Bösen, Gläubigen und Ungläubigen aufweist. Dieser Dualismus wird durch Gott und Teufel personifiziert. Zwischen den Menschen und Gott gibt es Mittler, es sind erleuchtete Propheten und Heilsbringer, die Gottes Willen offenbaren. Die Heilsgeschichte steht in der Zeitreihe der Geschichtsphilosophien zwischen den tendenziell durch Rationalität geprägten Geschichtsbildern der Antike und der Moderne. Soweit letztere der Geschichte einen vorausbestimmten Gang und ein höheres Ziel zuweist, modernisiert sie christliche Heilsgeschichte. * 8c. Aktualisiert wurde ein heilsgeschichtliches Grundproblem, die religiöse Dignität von Geschichte und Politik, in der Meinungsverschiedenheit zwischen Euseb und Augustinus. Sie hat im 20. Jahrhundert zwischen dem Staatsrechtler Carl Schmitt und dem seit 1930 katholischen Theologen Erik Peterson eine Kontroverse ausgelöst, die weitreichende Fragen berührte.182 Zeigt die Entstehung der Pax Romana die Fürsorge Gottes, wie Euseb meinte? Oder ist und bleibt die Menschenwelt das Jammertal des 84. Psalms, wie Augustinus erklärte? 1922 hatte Carl Schmitt geschrieben: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ Die Souveränität entspricht der Allmacht Gottes, die Monarchie dem Monotheismus, der Ausnahmezustand den biblischen Wundern usw. Dafür verwendete Schmitt den Begriff „politische Theologie“.183 Die hier historisch wie methodisch vorhandene Nähe zwischen den beiden Sphären Religion und Recht erinnert an Euseb und seine theologische Rechtfertigung der römischen Geschichte und des Kaisertums. Auch Peterson zeigte 1935 die Parallelen, hielt sie aber aus katholisch-dogmatischer Sicht für illegitim. Er sprach von ihrem hellenistisch-jüdischen Ursprung und meinte, in christlicher Tradition lasse sich Politik nur auf arianischer, d. h. häretischer Basis legitimieren, wie an Euseb zu zeigen sei.184 Dieser hatte zwar das Nicaenum unterschrieben, wurde aber trotzdem des Arianismus beschuldigt. Anders als Euseb bestand Peterson auf einer scharfen Trennung von jenseitsbezogenem Glauben und diesseitsgebundener Politik, so wie Augustinus das vertreten hatte. Ist nicht jeder Versuch, das Himmelreich auf Erden herzustellen, des Teufels? Gottes Gerechtigkeit verwirklicht sich erst im Jüngsten Gericht. Nachdem die Rombegeisterung der eusebianisch denkenden Christen ins Chaos der Völkerwanderung geführt hatte, wurde klar, daß Euseb die christliche Verkündigung als politische Ideologie propagandistisch mißbraucht hatte. Quod absit. Daher sollte statt des Friedens auf Erden der Friede Gottes gesucht werden und jegliche politische Theologie erledigt sein. Dagegen wandte sich Schmitt 1970.185 Er zeigte, daß auch auf orthodox katholischer Basis Politik gerechtfertigt worden ist und gerechtfertigt werden kann. War

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte

doch für Jesus der Kaiser Tiberius, für Paulus gar der Despot Nero die gottgegebene Obrigkeit, die den Auftrag hat, das Schwert zu führen, und der auch Christen Gehorsam schulden.186 Und werden sie mißhandelt, so ist das nach menschlichem Maß ungerecht, aber nach biblischem Verständnis „Gnade“, denn es ist eine Prüfung, die himmlischen Lohn verheißt.187 Schmitt erklärt wie Paulus für Recht, was der Staat als Recht setzt. Das kann auch der Führer sein.188 Wenn zwei kluge Köpfe in seiner Sachfrage streiten, hat gewöhnlich jeder in gewisser Weise Recht und in gewisser Weise Unrecht. Letzteres ist hier offensichtlich. Sowohl die Position von Schmitt als auch die von Peterson führt, zu Ende gedacht, zu schwer akzeptablen Resultaten. Die Verbindung von weltlicher und geistlicher Macht in Constantin bei Euseb, seine Verquickung von Weltgeschehen und Heilsgeschichte degradiert die Religion, wie Peterson moniert, zu einer Magd der Politik, reduziert sie auf eine Ideologie im Dienste der christlich gerechtfertigten Macht. Ist alles, was geschieht, Gottes Wille, so müssen wir zu allem, was geschieht, Ja und Amen sagen. Das sei ferne, aber scheint von Carl Schmitt mit seinem Plädoyer für Euseb so gemeint zu sein.189 Die strikte Trennung von Heilsgeschichte und Weltgeschehen durch Augustinus wiederum entwertet letzteres und erschöpft sich im Nachweis seiner Profanität und Absurdität, die der Afrikaner minutiös vorführt. Das aber ist nur im Rahmen einer radikalen Jenseitsorientierung annehmbar, allein für Augustinus, Peterson und andere selbsterwählte Bürger der Civitas Dei. Hingegen Bürger der Civitas terrena, denen Gott einen „Geist des Schlafs“ gegeben hat, „Augen, die nicht sehen, und Ohren, die nicht hören“,190 sie werden in der Geschichte nicht demütig Gottes Finger begrüßen, sondern Menschenwerk erblicken und zwischen Ja und Nein unterscheiden. 8d. Die in allen geschichtsphilosophischen Konzeptionen wirksame Trost-Funktion besitzt in der Heilsgeschichte eine besondere Kraft, indem sie Gewißheiten ausspricht, die nicht durch unsichere Erfahrung und begrenzte Vernunft, sondern durch unerschütterlichen Glauben garantiert werden. Das Trostbedürfnis kann darin begründet sein, daß die Gläubigen wie die ersten Christen ungewöhnlichem Leid unterworfen waren. Nicht zufällig hat ja das heilsgeschichtliche Modell eine Erneuerung im historischen Materialismus erfahren, der seinerseits vor dem Elend der Arbeiter im 19. Jahrhundert gesehen werden muß. Wenn es eine Entsprechung gibt zwischen dem irdischen Elend und der Hoffnung auf höheres Heil, dann müßten wir wünschen, daß beides hinter uns läge.

Multa renascentur, quae iam cecidere. Horaz

VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance a. O seculum! O literae! Juvat vivere ... Vigent studia, florent ingenia – „O Jahrhundert! O Literatur! Es ist eine Lust zu leben ... Die Studien gedeihen, die Geister blühen.“ Mit diesem Jubelruf begrüßte Ulrich von Hutten in seinem Brief an Willibald Pirckheimer vom 25. Oktober 1518 seine Zeit. Es ist der Ausdruck eines Epochenbewußtseins, das mehrfach bezeugt ist. Um 1500 pries der Augustiner Aegidius von Viterbo vier Errungenschaften seiner Zeit: die Mission in Amerika (praedicatio ad gentes), den Neubau des Petersdoms (Vaticani templum inchoatum), die Erschließung der hebräischen Bibel (lex cognita) und die humanistische Predigt in gereinigtem Latein (elegantia laudum divinarum).1 Allbekannt ist das Morgenlied von Hans Sachs. „Wachet auf, es nahet gen den Tag, ich hör singen im Hag eine wunnigliche Nachtigall“. Richard Wagner hat aus diesem Lied vermutlich aus Rücksicht auf den katholischen Bayernkönig diejenigen Strophen ausgelassen, die seine Bedeutung entschlüsseln: „Nun daß ihr klärer mügt verstahn, wer die liebliche Nachtigall sei, die uns den hellen Tag ausschrei: ist Doktor Martin Luther.“ Mit dem „finstern Mittelalter“ – seit dem 15. Jahrhundert eine verbreitete Vorstellung – ist es nun vorbei.2 b. „Die Zeiten kommen wieder“, Le tems revient, war die Devise von Lorenzo il Magnifico, und dieses Lebensgefühl der aufblühenden Kultur äußerte sich in verschiedenen Bildern. Die vergangene Zeit erscheint als Winter, dem nun ein Frühling folgt; als eine Senke, aus der es jetzt wieder aufwärts geht; als eine Nacht, die endlich wieder in einen neuen Tag hinüberführt. Der Zeitenmorgen bringt Licht ins Dunkel, der schlafende Geist erwacht, wird neu belebt und erhebt sich wieder, nachdem er lange darniederlag. Der umgestürzte Baum der Kultur schlägt wieder aus. Albrecht Dürer sprach 1523 von der „itzigen Wiedererwachsung“ der Kunst und hoffte, durch seine Arbeiten und Schriften, die sich auf Euklid, Vitruv und Plinius stützten, das Niveau wieder zu erreichen, das vor tausend Jahren die Künste bei Griechen und Römern einst aufwiesen.3 c. Das neue Grün im Frühjahr, der wieder ausschlagende Baum liefert den Bildgehalt des Begriffs Renaissance. Er findet sich zuerst 1550 als rinascita bei Vasari. Das zugrunde liegende Zeitwort renasci wurde schon in der Antike metaphorisch verwendet,4 so für den Phönix aus der Asche, für die wiedererstandenen Städte Troja, Tyros und Rom, wie nach dem Galliersturm so nach dem Goteneinfall. Rutilius sprach 417 vom ordo renascendi, der Kraft, durch Unglück zu wachsen.5 Verjüngungsmetaphern in der zeitgenössischen Publizistik konterkarierten den Niedergang Roms in der Spätantike.6

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

d. Durch Jacob Burckhardts Buch ›Die Kultur der Renaissance in Italien‹ von 1860 wurde im deutschen Sprachgebiet „Renaissance“ als Epochenbegriff heimisch, den Jules Michelet 1855 in Frankreich durchgesetzt hatte. Gemeint ist die Zeit von etwa 1350 bis 1550, während der zunächst in der Toskana, dann in ganz Italien die antike Kultur ihre „Wiedergeburt“ erlebte, um in kurzer Zeit das gesamte Europa zu prägen. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand diese Bewegung in der Kunst. In Architektur und Malerei wurde der Formenkanon der Gotik abgelöst durch Vorbilder aus der griechisch-römischen Zeit. Die frühneuzeitliche Renaissance war nicht der erste Rückgriff auf die Antike. Ernst Robert Curtius konnte zeigen, daß es im Frankreich des 12. Jahrhunderts eine Protorenaissance gab, daß um 1000 eine ottonische, um 800 eine karolingische Renaissance die Antike zum Muster erhoben hat. Damit wurde das Wort Renaissance vom Epochen-Namen zum Typen-Begriff, ähnlich den Wörtern Barock oder Archaik. e. Ebenfalls dem 19. Jahrhundert entstammt der Begriff Humanismus. Er bezeichnet im Reich der Bildung, was die Renaissance im Reich der Kunst ausdrückt. Die Bildung, zuvor ein Privileg des Klerus, verweltlichte, genauer: verbürgerlichte. Hatte das Mittelalter den antiken Denkern bloß eine Vorschule für das Christentum, eine praeparatio evangelica, zugestanden – ähnlich schon Clemens, Origenes und Euseb im Anschluß an den Galaterbrief des Paulus –, so wurden die griechisch-römischen Autoren nun zu Vorbildern erhoben. Die Rangordnung wurde umgekehrt. f. Auch der Humanismus ist ein periodisches Phänomen. Die Zeit Wilhelm von Humboldts wird als Zweiter, die Bemühungen Werner Jaegers als Dritter Humanismus bestimmt. Zur Präzisierung des ersten, eigentlichen Humanismus verwendete Eduard Spranger daher den Begriff Renaissance-Humanismus.7 Nur diese Bewegung hat – anders als die abgeleiteten – ein Epochenbewußtsein entwickelt, das für das Geschichtsverständnis prägend werden sollte. g. Drei Mächte des Mittelalters hatten Anspruch auf das Erbe des Imperium Romanum erhoben: der römisch-deutsche Kaiser, der Papst und der byzantinische Basileus. Sie alle haben ihren Rang im späten Mittelalter verloren. Die Tradition des universalen Kaisertums erlosch, als Konradin am 29. Oktober 1268 in Neapel durch Karl von Anjou enthauptet wurde. Konradin war als Enkel Kaiser Friedrichs II der letzte Erbe des Stauferreiches. Er war im Kampf gegen den König von Frankreich und den Papst unterlegen. Die spätere habsburgische Kaiserwürde blieb bloß ein abendländischer Ehrenrang, die Zukunft gehörte den Herren der Territorialund Nationalstaaten. Die Sieger über die Staufer zerstritten sich. Papst Bonifaz VIII verkündete wieder einmal den weltlichen Vorrang des Papsttums, daraufhin ließ ihn Philipp IV der Schöne von Frankreich am 7. September 1303 in Anagni überfallen. Die Päpste mußten ihre Residenz nach Avignon verlegen, ihre weltpolitische Rolle war ausgespielt. 1440 bewies Laurentius Valla, daß die Urkunde der Konstantinischen Schen-



8. Geschichtstheologie

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kung eine Fälschung ist, und damit verlor die weltliche Herrschaft der Päpste ihre historische Legitimation. Die anhaltenden Kriege unter den christlichen Staaten erlaubten den türkischen Osmanen, das byzantinische Reich zu erobern. Am 29. Mai 1453 zog Mehmed II in Konstantinopel ein. Konstantin XI, der letzte Basileus, fiel auf der Mauer. Damit war auch der dritte Erbe Roms gestürzt. h. An die Stelle der alten Mächte traten neue. Neben Adel und Klerus stieg das Bürgertum empor. Es entfaltete sich nicht auf den Burgen, nicht in den Klöstern, sondern in den aufblühenden Städten. Die Wirtschaftshistoriker sprechen vom „Frühkapitalismus“ der Fugger und Welser, das Geldwesen erhielt eine neue Bedeutung. Ein wichtiges Werkzeug des Aufstiegs war die Bildung. Schulen und Universitäten entstanden allenthalben.8 i. Die neue Bewegung zeigte zunächst politisches Gepräge. In den oberitalienischen Städten erwachte bereits unter den Staufern ein Selbständigkeitsbewußtsein, das die Autorität des römischen Kaisers deutscher Nation in Frage stellte. Dem Selbstverständnis des deutschen Kaisertums, in der Nachfolge Konstantins zu stehen, wurde die Auffassung entgegengestellt, daß die Germanen die antike Tradition nicht fortgesetzt, sondern zerstört hätten. Die Theorie von der staatsrechtlichen Kontinuität wurde bestritten, das Imperium Romanum erklärte man mit der Völkerwanderung als erloschen. Darum griff man über die mittelalterlich-deutsche Geschichte unmittelbar auf das klassische Altertum zurück. Dies hat in Rom Cola di Rienzo, der Volkstribun von 1347, versucht, als er gegen Kaiser, Papst und Adel die römische Idee der Volkssouveränität erneuern wollte, dabei jedoch dem Bündnis seiner Gegner erlag.9 j. Das politische Motiv wurde durch ein kulturelles verstärkt. In der Renaissance knüpften die bildenden Künste, im Humanismus die gelehrten Studien und die Poesie wieder direkt an die griechisch-römische Antike an, deren Überreste nun sorgfältig gepflegt und durch den um 1450 von Johannes Gutenberg erfundenen Buchdruck verbreitet wurden. Anstelle des im Mittelalter verwilderten Lateins wurde Cicero zum Stilmuster erhoben. Man glaubte, die antike Kultur erneuern zu können. Im Vertrauen auf die seit Aristoteles vertretene These, Indien sei auch auf dem Weg über den Atlantik erreichbar,10 segelte Kolumbus nach Amerika. Die von Cicero überlieferte Lehre des Hiketas von Syrakus, nicht die Sonne, sondern die Erde vollziehe die Kreisbewegung,11 inspirierte Kopernikus zur Revolutionierung des Weltbildes. k. Neben die politische und kulturelle Erneuerung trat dann die religiöse. In der Reformation, deren Anfänge in England und Böhmen ja weit hinter die deutsche Bewegung zurückreichen, vollzogen sich eine Abwendung vom traditionellen Katholizismus und eine Rückkehr zum Neuen Testament, zur Urgemeinde und zu den Kirchenvätern. Alle drei Spielarten der neuen Denkrichtung – Renaissance, Humanismus und Reformation – beriefen sich auf die christlich-antike Vergangenheit. Die neue Zeit konstituierte sich durch den Rückgriff auf die alte.

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

1. Dekadenz bei Ibn Khaldun 1a. Wenn wir an Renaissance und Humanismus denken, vergessen wir leicht, daß es zunächst die Araber in Spanien waren, bei denen die griechischen Autoren ihre erste Wiedergeburt erlebten.12 Christliche Syrer hatten den Muslimen den Zugang eröffnet. Ausgehend von Alexandria, das 642 genommen wurde, gelangten die naturwissenschaftlichen und philosophischen Werke, zumal die des Aristoteles über Damaskus nach Bagdad. Hier wurden sie auf Befehl von Mamun, dem Sohn und Nachfolger Harun-al-Raschids, übersetzt.13 Als Historiker glänzten Tabari († 923) und Masudi († 956). Ein geistiges Zentrum entstand im spanischen Cordoba. 1b. Aus einer spanisch-arabischen Familie stammt der bedeutendste muslimische Geschichtsdenker Ibn Khaldun.14 Er bekleidete hohe Ämter an den Höfen Nordafrikas und starb 1406 in Kairo. 1377 vollendete er den ersten Band seines dreibändigen Geschichtswerks, die „Einleitung“, Muqaddima, die er das ›Buch der Beispiele‹ nannte.15 Es war die Zeit, da die Muslime im Westen von der christlichen Reconquista, im Osten von Timurs Mongolen schwere Rückschläge erfuhren. Dies verlangte eine Erklärung. Sie bot Ibn Khaldun mit seiner „neuen Wissenschaft“, deren Originalität ihn mit wiederholt geäußertem Stolz erfüllte.16 Der unkritischen älteren Historiographie in der Bibel oder im Alexanderroman setzte er das Pathos der Wahrheit entgegen, die aus sorgsamer Prüfung der Tradition zu ermitteln sei.17 Sein Thema, so schrieb er, seien bedeutsame Ereignisse und deren Wie und Warum, abzulesen aus den Gesetzmäßigkeiten des historischen Geschehens. 1c. In Anlehnung an Aristoteles18 beschreibt Ibn Khaldun die Kulturentwicklung, In der Urzeit findet er ein Nomadentum,19 das mit dem Bevölkerungswachstum und dem technischen Fortschritt, da wo die die Umstände günstig sind, zur Seßhaftigkeit und zum Stadtleben übergeht. Die natürliche Geselligkeit des Menschen führt zur Gruppenbildung und einer Herrschaftsorganisation, die zur Beschaffung der Lebensmittel, zur Abwehr der Feinde und zur Ordnung des Zusammenlebens unentbehrlich ist. Staaten sind bei Ibn Khaldun stets Monarchien, das Königtum ist die höchste erstrebenswerte Position.20 Das Stadtleben ermöglicht die Vervollkommnung aller menschlichen Fertigkeiten. 1d. Diese Höherentwicklung beruht nach Ibn Kahldun auf geographischen Gegebenheiten. Er vertritt die Klimatheorie des Hippokrates, die dieser in seiner Schrift ›Über die Umwelt‹ entwickelt hatte.21 Darin geht es um den Einfluß klimatischer und geographischer Faktoren nicht nur auf Krankheit und Gesundheit, sondern auch auf Wesensmerkmale von Menschen und Völkern. So wie die Griechen ihr Hellas priesen, so lobt Ibn Khaldun Syrien und den Irak. Am günstigsten sei die Luft in der mittleren, gemäßigten Zone. In den extremen Klimaten im Norden und Süden findet er noch barbarische Lebensformen, sogar Menschenfresserei.22 Die Unterschiede der Rassen und Hautfarben seien klimatisch bedingt, die Eigenarten der Völker beruhten teils auf ihrer Abstammung, teils auf ihrem Lebensraum, teils auf ihren Traditionen.23



2. Boccaccios Naturtheologie

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1e. Auf der Ebene der Stadtkultur hat die progressive Zivilisationsentwicklung ihr Ziel erreicht.24 Einen weiteren Fortschritt erwartet Ibn Khaldun nicht.25 Im Gegenteil: nun beginnt der Abstieg nach dem Muster des klassischen Dekadenz­ modells. Ausführlich schildert der Autor, wie das einfache, naturnahe Leben den Gemeinsinn (asabiya) und den Kriegsgeist begünstigt, was zu Macht führt, dann zu Reichtum und letztlich zum Luxus. Die Menschen begehren immer mehr und leisten immer weniger, Üppigkeit und Bequemlichkeit führen zur moralischen Entartung.26 Die Herrscher müssen fremde Amtsträger und Söldner anwerben; deren Kosten belasten die Steuerzahler, und in fünf Schritten erfolgt der Niedergang.27 Das Ende ist die Machtübernahme durch unverdorbene Nachbarn. Denn während die Städter degenerieren, bewahren die Beduinen ihre alte Tapferkeit und den Gemeingeist. Vom Reichtum der Städte gelockt, setzen sie sich in deren Besitz.28 Damit aber wiederholt sich der geschilderte Verfall. Ibn Khaldun unterbreitet den Herrschern ausführliche Vorschläge, die verblüffend an Machiavelli erinnern, doch ist er nicht davon überzeugt, daß der Niedergang aufzuhalten sei. Jede Dynastie versage in der dritten, spätestens der vierten Generation durch die Verführungen des Wohllebens.29 Ibn Khalduns Ausführungen sind gespickt mit historischen Beispielen aus der islamischen Welt; er muß sich nicht auf Platon oder Isokrates ­berufen. 1f. Mit seinem zyklischen Geschichtsdenken von Aufstieg und Niedergang nimmt Ibn Khaldun Vicos Folge von corsi und ricorsi (s. u!) vorweg und greift wie jener zur Analogie der Lebensalter. So wie jeder einzelne Mensch, so habe jede Dynastie, jede Stadtkultur ihr naturgesetzliches Werden, Blühen und Vergehen. Ist der Mensch vierzig Jahre alt geworden, hat er seine Höhe erreicht, die er eine Weile halten kann, ehe der Niedergang beginnt.30 So auch in der Politik. Unberührt vom Auf und Ab der Kulturen ist die religiöse Sphäre, der Islam. Mohammed als der gottgesandte Prophet, hat zwar den rechten Glauben gebracht, der auch den Aufstieg der arabischen Reiche ermöglicht hat, doch fällt deren weiteres Schicksal unter das Gesetz der Vergänglichkeit. Auf die Geschichtsphilosophie Europas hat Ibn Khaldun nicht gewirkt trotz der lobenden Worte Toynbees.31 Die mit den antiken Geschichtsdenkern übereinstimmenden Beobachtungen und Denkfiguren bestätigen die Einsicht Ibn Khalduns, daß die Menschen allzeit ähnlich sind.32

2. Boccaccios Naturtheologie 2a. Unter den frühen italienischen Zeugnissen für das neue Zeitbewußtsein ragt ein Brief hervor, den Florentiner Giovanni Boccaccio, der Dichter des Decamerone, 1372 an Jakob Pizzinga geschrieben hat.33 Diesen Brief kennzeichnet eine tiefe Wehmut, die ihm aus dem Vergleich der gegenwärtigen Zustände Italiens mit dem Glanze des römischen Reiches erwuchs. So wie sein Freund Petrarca im Epos ›Africa‹ den älteren Scipio verherrlichte, rühmt Boccaccio die Leistungen seiner

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

antiken Vorfahren auf allen Gebieten und stellt ihnen die trüben zeitgenössischen Verhältnisse gegenüber, insbesondere die Knechtung Italiens durch die Pharisäer und Barbaren, d. h. Franzosen (oder Kleriker?) und Deutsche. 2b. Dennoch sieht Boccaccio einen Hoffnungsschimmer, indem er Dante († 1321) und Petrarca († 1374) als Geister geradezu antiken Ranges betrachtet. Zu Recht sei Petrarca 1372 von Kardinal Philippe de Cabassoles als „ein wahrer Phönix“ gerühmt worden,34 der, wie jener Wundervogel sich aus der Asche erhob, die Musenkünste erneuert habe. Plinius überliefert, man sage, der Phönix stürbe und werde „aus sich wiedergeboren“, wofür er das Wort renasci verwendet.35 Dante und Petrarca, so Boccaccio, hätten durch ihr literarisches Werk den zugewachsenen Weg zum Ruhme wieder freigeräumt, so daß in ihrer Nachfolge wieder Leistungen möglich seien, die sich mit dem Altertum messen könnten. Ähnlich sahen das auch spätere Humanisten, so der schweizerische Reformator Vadianus, der 1518 zwischen Claudius Claudianus um 400 und Dante eine öde Zeit der Literatur, der Philosophie und der Theologie konstatierte, ehe Petrarca „dem Lager der Barbarei den Kampf ansagte.“36 2c. Boccaccio zitiert die vierte Ekloge Vergils: redeunt Saturnia regna. Die Rückkehr eines Goldenen, saturnischen Zeitalters – wie sie im 15. Jahrhundert auch Marsilio Ficino vertrat37 – war bei Vergil politisch motiviert, Konstantin und die Kirchenväter – insbesondere Lactanz und Augustinus – haben das Hirtengedicht theologisch umgedeutet und auf Jesus bezogen;38 Diese Interpretation erscheint im 9. Jahrhundert bei Christian von Stablo in seinem Matthäuskommentar und war im Mittelalter verbreitet.39 Indem Christus nicht nur von jüdischen Propheten, sondern auch von heidnischen Dichtern vorhergesagt worden sein soll, schien die Menschwerdung Gottes universal beglaubigt. Vergils Erneuerungsidee verstand Boccaccio nicht mehr politisch oder religiös, sondern kulturell: Kunst und Literatur erblühten aufs Neue. Die Metapher vom Licht, das bei Griechen und Römern geleuchtet hat, später unter der Herrschaft erst der despotischen Kaiser, dann der rohen Barbaren erlosch und neuerdings wieder zu strahlen beginnt, verwandte ­Boccaccio für die Malerei seines älteren Zeitgenossen Giotto.40 Allenthalben fassen wir wie im Handeln so im Denken die Abkehr von der mittelalterlichen Tradition, die Rückwendung zu den alten Klassikern. 2d. Ein Problem bot das Heidentum der antiken Autoren. Das wollte natürlich niemand erneuern. Dante fand den Ausweg, Vergil als maestro und Seelenführer auf der Traumreise durch das Weltengebäude zu wählen, wobei diesem das Inferno und das Purgatorium offenstanden, nicht aber das Paradies. Er war eben noch Heide. Boccaccio milderte den Gegensatz zur christlichen Lehre durch den geschichtsphilosophischen Entwurf einer natürlichen, antiklerikalen Theologie, den er in seine, um 1360 geschriebene ›Vita di Dante‹ einflocht,41 zumal auch dieser Dichter Anfeindungen der Kirche erlebt hatte. Boccaccio führt aus, daß die ersten Menschen aus dem Staunen über die Ordnung in der Natur zur Ahnung eines höchsten



3. Geschichte als Musterbuch bei Machiavelli

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Wesens gelangt seien. Zu seiner Verehrung seien Kunst und Dichtung entwickelt worden. Erleuchtet von der Natur, hätten die Menschen allmählich ein gesittetes Leben angenommen und Könige eingesetzt, und dieser Zivilisierungs-Prozeß sei durch die Poesie unterstützt worden. 2e. Einen ersten Höhepunkt fand Boccaccio in Solon, dem weisen Staatsmann und frommen Dichter in einer Person, der in Athen einen Musterstaat errichtete. Die Griechen als Lehrer hätten mit ihrer Weisheit, die Römer als Schüler mit ihren Waffen die Welt beherrscht. Der Heilige Geist, der sich in der Bibel offenbarte, habe bereits die heidnischen Poeten inspiriert, wie jeder erkenne, der sie mit Vernunft lese. Denn so wie die Bibel uns moralisch bessern und prophetisch belehren will, so taten dies auch die griechischen und lateinischen Autoren zuvor, beide bedienten sich der Allegorie und des mehrfachen Schriftsinnes. Insbesondere Vergil galt im Mittelalter als Zauberbuch.42 Die verhüllte Wahrheit, meint Boccaccio, sei allzeit reizvoller als die nackte. Er verband die Theologie mit der Poesie. Theologie sei die Poesie Gottes, so wie die Poesie die Theologie des Menschen. Die Spaltung der Geschichte in eine verblendete heidnische und eine erleuchtete christliche Zeit ist damit überbrückt.

3. Geschichte als Musterbuch bei Machiavelli 3a. Niccolo Machiavelli (1469 bis 1527) war wie Boccaccio Florentiner.43 Er diente der Republik als Diplomat – er führte Gesandtschaften auch nach Frankreich und Deutschland –, wurde nach der Rückführung der Medici durch die Spanier 1512 einer Verschwörung verdächtigt, gefoltert und entlassen. In den folgenden Jahren der erzwungenen Muße schrieb er seine ›Istorie fiorentine‹, eine Geschichte der Stadt Florenz vom Untergang des römischen Reiches in der Völkerwanderung bis auf seine Zeit (1525), weiterhin seine ›Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‹, wo er in den gesunden Anfängen Roms Beispiele für eine solide Politik suchte, und namentlich – schon 1513 – die berühmte Schrift ›Il principe‹. Alle Werke wurden erst 1532 gedruckt, nachdem der Autor seine beiden letzten Jahre nochmals in Staatsgeschäften verbracht hatte. Seine größte politische Leistung war der Aufbau einer Bürgerwehr anstelle der zeitüblichen Landsknechte, deren Unzuverlässigkeit ihn Gegenwart und Geschichte gleichermaßen lehrten. Historie diente Machiavelli als Musterbuch, als Sammlung von Fällen, die sich in ähnlicher Form zu wiederholen pflegen. 3b. Machiavelli war ein politischer Realist so wie vor ihm Thukydides und Tacitus. Mit diesen teilte er sein Menschenbild, das von jeglichen Illusionen und Sentimentalitäten gereinigt ist. Im Wesen, das heißt in ihrer Triebstruktur (passione), so meinte er, bleiben sich die Menschen durch die Zeiten gleich. An den antiken Klassikern geschult, sah er in der Geschichte zwei Kräfte wirken: fortuna, den unberechenbaren Zufall, der in jeder Lage einkalkuliert werden muß; und virtus, italienisch virtù, jene als „Tugend“ übersetzte Mischung aus Haltung und Leistung. Der Begriff „Tugend“

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

ist dann angemessen, wenn wir ihn im Ursinne von „taugen“ herleiten und als „Tauglichkeit“ verstehen. Es ist das römische Ideal der Männlichkeit, denn virtus kommt von vir und bezeichnet die Fähigkeit, sich durchzusetzen, sich zu behaupten. Virtù meint weniger den guten Willen als die moralische Kraft, die sich vor allem in Zeiten von Krieg und Not bewährt. Fortuna, die wechselhafte äußere Lage, die wir als gegeben hinnehmen müssen, und virtus, die innere Fähigkeit, die uns zu Gebote steht, werden vermittelt durch occasio, die Gelegenheit, die Fortuna der virtus bietet und in der sich die virtus entfaltet. Fortuna ist ein Weib, darum ist sie jungen Männern hold, die den Mut haben, zuzupacken und nicht den Alten, die viel wissen und wenig tun.44 3c. Im Hinblick auf die Moralität des Menschen ist Machiavelli Pessimist,45 in diesem Punkte teilt er die Auffassung der Kirche. Freilich läßt er deren Dogmatik auf sich beruhen, es gibt keine Anzeichen für eine kirchliche Frömmigkeit Machiavellis. Die altrömische Religion war – so schon Kritias und Polybios –ein klug erdachtes Mittel zur Disziplinierung des Volkes,46 die christliche Lehre aber ist, meint er, vom Klerus mißbraucht worden. Er hat Italien moralisch verdorben und politisch entmündigt. Das Papsttum befindet sich seit der Gründung Konstantinopels im Niedergang. Wo aber echtes Gottvertrauen fehlt, muß ein Staat verfallen.47 Die Kirche – und ebenso der Kaiser – ist keine göttliche Institution, sondern eine profane Macht wie jede andere. 3d. Aus nächster Nähe hat Machiavelli das Schicksal des Reformators und Bußpredigers Girolamo Savonarola miterlebt, dem es allein durch seine hinreißende Rede gelungen war, die lebenslustigen Florentiner in ein reuiges Volk in Sack und Asche zu verwandeln. 1498 vermochte ein Bund zwischen Papst und Adel, den Dominikaner zu stürzen. Er wurde der Ketzerei angeklagt, gefoltert und aufgrund gefälschter Protokolle verbrannt. Machiavelli führte den Sturz nicht auf die Drohpredigten von Gottes Strafgericht über Rom zurück, sondern auf das Versäumnis des Predigers, seine Anhänger zu bewaffnen. Erfolg hätten nur jene Propheten, die wie mit Worten so mit Waffen zu kämpfen verstünden.48 Das Christentum triumphierte erst an der Milvischen Brücke. 3e. Machiavelli glaubte weder an die Erlösung durch Gnade wie Augustin noch an die Besserung durch Erziehung wie Platon, sondern einzig an die Perfektion der Politik. Das lehrte ihn die Geschichte. Die Menschen sind Egoisten, mal kleinere mal größere, aber grundsätzlich einander darin gleich. Ungleich sind indessen die Möglichkeiten, die eigenen Leidenschaften auszuleben. Diese werden durch Sitten und Gesetze geregelt. Gesunde Staaten leben in Eintracht, genießen Freiheit und sind zu großen Leistungen fähig. Gesunkene Völker frönen dem Luxus, sind in Parteien zerrissen und verfallen früher oder später der Herrschaft eines Tyrannen oder eines Nachbarvolkes. Diese Zusammenhänge zu durchschauen ist für Machiavelli ein Gebot der Klugheit. Sie ist instrumentale Rationalität; deren Zwecke sind im Prinzip beliebig und nur nach ihrer Erreichbarkeit zu bewerten. Machiavelli ist oft als Ratgeber zur Ruchlosigkeit mißverstanden worden, so als vertrete er jenen Machiavellis-



3. Geschichte als Musterbuch bei Machiavelli

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mus, der den Politikern empfiehlt, sich bloß um die Staatsraison zu kümmern. Tatsächlich liefert Machiavelli nur Gebrauchsanweisungen für den Staatsmann in der Form: Wenn du selbständig bleiben willst, so verbünde dich nicht mit einem Stärkeren. Oder: Wenn du Gegner beseitigen willst, so laß andere für dich handeln, die du dann nach Belieben zur Rechenschaft ziehen kannst. Oder: Wenn du einen Vertrag geschlossen hast, so halte ihn, solange das ohne Schaden für dich geht. 3f. Machiavelli behandelt Politik wie eine Technik, die fragt, mit welchen Mitteln gesetzte Zwecke zu erreichen sind, beziehungsweise für welche Zwecke die gegebenen Mittel ausreichen. Er vertritt die Autonomie des Politischen, indem er einfach beschreibt, was erfolgreiche Politiker vor und nach ihm getan haben, und da dies häufig unsittlich war, versteht man auch den ›Antimachiavell‹, den Friedrich der Große 1739/1740 als Kronprinz verfaßte.49 Wo Machiavelli doch einmal sittliche Urteile fällt, da folgen sie durchaus den Geboten der Humanität. So erklärt er, man könne den sizilischen Tyrannen Agathokles nicht zu den größten Männern rechnen, dafür habe er zu viele Grausamkeiten begangen.50 3g. Gleichwohl huldigte Machiavelli einem politischen Ideal. Angesichts der endlosen Kämpfe zwischen den italienischen Städten, zwischen Kaiser, Papst und französischem König, angesichts der Söldner, vor allem aus der Schweiz, träumte Machiavelli von einem starken, geeinten Italien. Als den Führer und Retter ersah er Lorenzo de‘ Medici; ihn forderte er auf, Italien von den Fremden zu befreien. Insofern steht Machiavelli in der Zeitströmung der Humanisten, die unbeschadet ihrer gemeinsamen Huldigung an die Antike und deren kosmopolitischer Humanität Nationalisten waren. Conrad Celtes, Jakob Wimpfeling und Ulrich von Hutten waren überzeugte Deutsche; Jean Bodin und François Hotman überzeugte Franzosen; Petrarca, Bruno Aretinus und Machiavelli überzeugte Italiener. 3h. Seiner positiven Stellung zum nationalen Prinzip entspricht Machiavellis Distanz zur imperialen Tradition. So wie die Humanisten allesamt wußte er, daß es mit dem Imperium Romanum vorbei war. Ursache für dessen Zerfall war die moralische Verderbnis der Römer und die Unsitte, „gotische“ Söldner anzuwerben. Hier führt ihm die Erfahrung mit den Condottieri seiner Zeit die Feder. Dasselbe gilt für die Rolle der Kirche, die als zersetzende Kraft gewertet wird. So konnten die aus Landnot wandernden Germanen das Reich erobern. Sie haben ihren Kriegsgeist bewahrt.51 Das tröstet angesichts der immer wieder drohenden Gefahr aus dem Osten, namentlich seitens der Türken. Machiavelli vertritt nach der Rede von Aeneas Silvius Piccolomini auf dem Frankfurter Reichstag 1442 wieder jene schon von Jordanes formulierte Bollwerktheorie,52 gemäß der später Gibbon, Arndt, Friedrich Engels und Adolf Hitler die Aufgabe Deutschlands für Europa bestimmten: Schutz für den kultivierten Westen vor dem barbarischen Osten.53 3i. Aufstieg und Niedergang Roms waren für Machiavelli Musterbeispiel für die zyklische Struktur aller Geschichte, wie sie Polybios beschrieben hat. Er sah in ihr keine universale Entwicklung, kein Sinnganzes, sondern ein ewiges Auf und Ab, ein Geboren-

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

werden und Sterben in unaufhaltsamem Wechsel. Der Kreislauf zwischen Ordnung und Unordnung im Staatsleben gemäß dem klassischen Dekadenzmodell war für ihn ein Weltgesetz. Es sei von der Natur den menschlichen Dingen nicht gestattet, still zu stehen, sie müßten steigen oder fallen. Unter eben diesem Aspekt bewertete er die Weltreichsfolge Daniels von Assyrien, Medien und Persien zu Rom. Sie alle sind für ihn Fälle des Dekadenzmodells. Auf die Arbeit folgt die Ruhe, nach den Waffen kommen die Bücher, die Kultur verbraucht die Tugend. Am Ende steht die Erschlaffung, die virtù wandert weiter zu anderen Völkern. Aus dem Imperium entstanden die europäischen Nationalstaaten, die nun ihrerseits derartige Kreisläufe durchmachen. Die Verderbnis hat in Frankreich, Spanien und Italien bereits Einzug gehalten. Rechtschaffenheit (bontà) findet sich nur noch bei den Deutschen, weil sie ihre alten Sitten bewahren.54 3j. Neben diesen Kreisläufen im kleinen übernimmt Machiavelli auch die ­kosmische Zyklustheorie der Antike.55 Die biblische Kosmologie von Schöpfung und Gericht wird kommentarlos verabschiedet, doch ereignen sich Naturkata­ strophen immerhin durch göttliche Fügung. Sie bewirken eine regelmäßige Ver­ tilgung der Menschheit, die für ihre Sittenlosigkeit gezüchtigt werden muß und wegen Übervölkerung nicht mehr genügend Nahrung findet. Die Natur reinigt so die Erde wie den Körper des Menschen, wenn er sich überfressen hat, durch Erbrechen und Durchfall. Es kommt zu Hungersnot, Seuchen und Überschwemmungen, bei denen lediglich einige Bergbewohner überleben und eine Regeneration der Menschheit ermöglichen. Dabei wechseln aber Religion und Sprache, so daß kaum eine Erinnerung an die vergangene Periode überdauert.56 3k. Die Geschichte ist für Machiavelli ein Arsenal von Exempeln. Wer sie kennt und beherzigt, wird klug für ein andermal. Denn alles, was geschieht, hat sich ähnlich schon einmal – oder mehrere Male – abgespielt. Darum müsse ein Staatsmann Geschichte studieren.57 Von besonderem Interesse waren für Machiavelli die unverdorbenen Frühzeiten. Daher beklagt er die Vernichtung antik-heidnischer Kulturgüter durch die Kirche, namentlich durch Gregor den Großen.58 Aber nicht alles ging verloren. Machiavelli kommentierte die Anfänge Roms aus der eigenen politischen Erfahrung. Nur solche Veränderungen sind für Staaten und Religionen heilsam, die zu ihren Ursprüngen zurückführen: quelle alterazioni sone a salute, che le riducono verso i principii loro. Dies schien ihm erreichbar. So wie Poesie, Malerei und Skulptur an einem Neubeginn stehen, so solle sich auch Kriegs- und Staatskunst erneuern.59 Die durch periodische Rückkehr zu den unverdorbenen Ursprüngen erreichbare Genesung von Religion und Staat ist eine Erneuerung, wie sie über dem Geschichtsdenken der Renaissance überhaupt steht.

4. Bodin und die heiligen Gesetze der Geschichte 4a. Zu den in Personalunion vereinten Gegnern und Fortsetzern Machiavellis gehört der Franzose Jean Bodin (1529 bis 1596). Er war ebenfalls ein Mann der



4. Bodin und die heiligen Gesetze der Geschichte

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Praxis, denn er diente als Jurist dem Dritten Stand am Pariser Parlament und war zuletzt Kronanwalt in Laon. Als junger Mann war er Karmelitermönch, bekam einen Ketzerprozeß, wandte sich dem Calvinismus zu und galt als heimlicher Hugenotte, so daß er 1572 nur durch Zufall dem Gemetzel der Bartholomäus-Nacht entging. In der Folgezeit war er offiziell Katholik, vielleicht heimlich Jude – ein gottgläubiger Christ. Das Schwanken zwischen den Konfessionen hat er in seiner religionsphilosophischen Spätschrift gleichsam entschuldigt, insofern er mehrere Möglichkeiten des Christseins gleichberechtigt nebeneinanderstellte. Als Anhänger Heinrichs IV – „Paris ist eine Messe wert“ 1593 – vertrat Bodin Toleranz gegenüber den Protestanten, forderte aber Kampf gegen die Teufelsdiener. 1580 schrieb er ein Buch über deren Aburteilung, er stand fest im Hexenwahn seiner Zeit. Voltaire nannte ihn darum den Generalstaatsanwalt Beelzebubs. 4b. Bodin verdankt seinen Ruhm seinen ›Six livres sur la République‹ von 1576. Die Grundgedanken finden sich bereits zehn Jahre zuvor in Bodins ungemein kenntnisreicher ›Methodus ad facilem historiarum cognitionem‹, wo er im Anschluß an Aristoteles seine Lehre von der Souveränität des Staatsoberhauptes entwickelt. Im Gegensatz zu dem Gesinnungsrepublikaner Machiavelli erklärt Bodin die dynastisch legitimierte Monarchie für die beste aller Staatsformen. Wie Machiavelli die praktische, so entfaltete Bodin die rechtliche Seite der Staatsraison (ius maiestatis), und darum gilt er als der staatsrechtliche Begründer des Absolutismus. Das monarchische Prinzip gliedere die Welt überhaupt: Bodin nennt den „König“ der Bienen, den Leitstier der Rinder, den Leithammel der Schafe, den Leitvogel der ziehenden Kraniche.60 Entsprechend sei der Diamant der König der Steine, das Gold der König der Metalle, Sol der König der Sterne. Die Familie werde vom Vater, die Welt von Gott, also auch der Staat vom Fürsten regiert.61 Der König müsse, durch kein Gesetz, durch keine Körperschaft gebunden, über den Parteien stehen. Allein das göttliche und natürliche Recht habe er zu respektieren, d. h. die christliche Gewissensfreiheit, die Autonomie der Familie und das Privat­ eigentum der Bürger. Aus letzterem leitet Bodin das Steuerbewilligungsrecht des Parlaments ab. Zu Bodins ökonomischen Entdeckungen gehört seine Preistheorie, in der er die Teuerung seiner Zeit zurückführt auf die aus Amerika einströmende Geldmenge. 4c. Bodins Geschichtsauffassung steht in humanistischer Tradition. Als bestimmende Faktoren der historischen Entwicklung nennt er die durch Klima und Boden geprägte Natur der Völker – auch hierin folgt er Aristoteles – und – das ist kennzeichnend für das 16. Jahrhundert62 – den Umlauf der Gestirne. Allerdings äußert er doch eine gewisse Skepsis.63 Gemäß dem seit der Spätantike angenom­ menen Alter der Welt rechnet Bodin so wie Luther mit einer Geschichtszeit von 6000 Jahren. Diese teilt er in drei Abschnitte auf. Die ersten 2000 Jahre befaßten sich die Menschen im Orient mit religiösen Themen, insbesondere mit der Himmelskunde. Die zweiten 2000 Jahre gründeten sie im Mittelmeergebiet Städte und

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

gaben sich Gesetze. Die dritten 2000 Jahre, beginnend mit dem Tod Christi, breitete sich der Glaube aus, neue Erfindungen wurden gemacht, aber auch unter den wilden Nordvölkern große Kriege geführt.64 4d. Mit den älteren Verlaufsmodellen rechnet Bodin ab. Die Idee vom Goldenen Zeitalter trifft sein Spott. Damals lebten die Menschen wie die Bestien unter dem Faustrecht: Wo wären wir heute, wenn es seither immer weiter abwärts gegangen wäre?65 Ebenso verwirft er die Prophetie Daniels. Die noch immer in Deutschland von Luther, Melanchthon und Sleidan vertretene Abfolge der vier Weltreiche erklärt Bodin für einen inveteratus error, alteingefleischt und daher schwer auszurotten. Ihn bekämpft er mit historischen und ideologiekritischen Argumenten. Einerseits beruhe das Schema auf einem längst veralteten Kenntnisstand – wo sind die Reiche der Araber, Tartaren und Türken? –, andererseits diene es der Selbstüberhöhung des römisch-deutschen Kaisers, dem Bodin keinen Vorrang vor dem König von Frankreich mehr einräumt. Aus diesem Grunde war auch vorher schon das Weltreichschema verworfen worden, im 12. Jahrhundert bei Hugo von Sankt Victor, im 14. Jahrhundert dann bei Petrarca.66 4e. Bodin teilt die Ansicht Machiavellis, daß der Mensch sich im Wesen stets gleich bleibe. Er zitiert den Prediger Salomonis, nichts Neues geschehe unter der Sonne.67 Dies erlaubt ihm, wie zuvor Machiavelli, die Geschichte als Lehrbuch des Lebens zu benutzen. Er beruft sich auf Ciceros Kennzeichnung der Geschichte als magistra vitae und erklärt, das menschliche Leben habe sich nach den heiligen Gesetzen der Geschichte (sacrae leges historiae) zu richten wie die Darstellung des menschlichen Körpers nach dem Kanon Polyklets, denn die Historie biete ein Bild der Wahrheit, ein getreues Gemälde der Geschehnisse.68 4f. Dementsprechend verweist Bodin auch auf die Zyklik der Geschichte. Im Hinblick auf das Dekadenz-Modell führt er an, nach einem ewigen Naturgesetz vollziehe sich der Umschwung der Dinge wie eine in sich selbst zurücklaufende Kreisbewegung im ständigen Wechsel zwischen Laster und Tugend, Wissen und Ignoranz, Finsternis und Licht.69 Mit den Humanisten seiner Zeit teilt er die Annahme einer tausendjährigen Kulturarmut während des Mittelalters und erklärt sie mit dem wechselhaften Geschick, der vicissitudo auch der Literatur und der Künste. Sie würden durch geniale Männer hochgebracht, wüchsen und blühten eine Zeit lang, würden dann aber alt und schlaff, stürben ab, um in Vergessenheit begraben zu werden. Diese Gesetzlichkeit sei von den Goten vollzogen worden, sie hätten die Bibliotheken und Kunstwerke vernichtet, so daß die Barbarei wieder eingekehrt sei. 4g. Originell ist die Bewertung dieses Kulturkreislaufs, dieser rerum omnium certa conversio. Sie beweist für Bodin nicht die unausweisliche Vergänglichkeit, sondern den regelmäßigen Neuaufstieg. So wie der Bauer nach der Brache eine desto reichere Ernte erwarte, so erhole sich die Kultur in einer Verfallszeit, um desto schöner wieder aufzublühen.70 Hier wird Hegels dialektischer Pendelschlag vom Mittel-



5. Bacon: Die Neuen sind die Alten

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alter zur Neuzeit vorweggenommen. Ebenso finden wir hier den später von Herder aufgegriffenen Hinweis, daß der Rückgriff auf die antiken Klassiker unter Almanzor im muslimischen Spanien, ja vorher schon in Nordafrika und im Nahen Osten begonnen habe.71 4h. Das Verhältnis zwischen Gegenwart und Antike sah Bodin unter dem Aspekt eines Wettbewerbs. Helden wie Cato und Fabricius, Camillus und Alexander gebe es ebenfalls in der Gegenwart. Auch an glorreichen Neuerungen fehlte es nicht. Allein die Erfindung der Buchdruckerkunst stelle alle Leistungen der Alten in den Schatten. Hinzu kämen die Verwendung des Kompasses, die Entdeckungsfahrten über die Weltmeere, das Schießpulver, die Abschaffung der Gladiatorenspiele und ähnliches. Bodin erklärte, daß die Neueren die von den Alten unvollendet gelassenen Errungenschaften verbessert der Nachwelt übergäben. Durch den Hinweis auf diese Fortschritte wird der Gedanke einer Konkurrenz mit der Antike insofern aufgegeben, als die Neuen und die Alten nicht auf dieselbe Startlinie zu bringen sind, weil vielmehr die Neueren da weitermachten, wo die Alten aufgehört haben. Aus dem Wettlauf wird ein Staffellauf. Somit kommt doch wieder die Idee eines Gesamtprozesses in das Geschichtsbild.72 4i. Musterfall für den möglichen Aufstieg ist ihm die Kulturgeschichte der Deutschen. Sie selber gäben zu, sie hätten einstmals in ihren Sümpfen und Wäldern nicht viel anders als die wilden Tiere gehaust und einen altüberkommenen Haß auf die Bücher gehegt. Nun aber, meint Bodin, seien sie so weit fortgeschritten, daß sie an Humanität die Asiaten übertreffen, in der Kriegskunst die Römer, in der Frömmigkeit die Hebräer, in der Philosophie die Griechen, in der Geometrie die Ägypter, in der Mathematik die Phönizier und in der Kenntnis der Gestirne die Babylonier. Opificiorum varietate populis omnibus superiores esse videantur (Germani)– „In der Vielfalt der Handwerke sind die Deutschen offenbar allen Völkern überlegen.“ Als Grund für diesen Aufschwung nennt Bodin die „Disziplin“, die, wo sie fehlt, auch den Niedergang verschuldet.73 Damit relativiert Bodin das Kreislaufschema. Es läßt sich durchbrechen. Fortschritt ist möglich.

5. Bacon: Die Neuen sind die Alten 5a. Der bei Bodin zum Gegenstand des Nachdenkens erhobene kulturelle und­ ­wissenschaftliche Fortschritt hat in England Francis Bacon (1561 bis 1626) beschäftigt. Bacon, ebenfalls Praktiker wie Bodin, begann als Anwalt, stieg empor zum Lordkanzler Jakobs I, wurde aber 1621 wegen Bestechlichkeit gestürzt. Sein ›No­ vum Organon‹ (1620), das für die methodische Grundlegung der modernen Naturwissenschaft wichtig und für das Geschichtsdenken der frühen Neuzeit sympto­ matisch ist, bringt in den Streit zwischen den Modernen und den Alten neue Gedanken. Bacon übte – in Anlehnung an Giordano Bruno74 – zunächst Kritik an der Begrifflichkeit. Die Ansicht, welche die Menschen vom Altertum haben, ist, so

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

meint er, falsch und widersprüchlich. Das wahre Altertum ist nämlich die jetzige, späte Zeit, sie ist das Greisenalter der Welt, nicht jene junge und frühe Zeit, in der die sogenannten Alten lebten.75 Die Alten seien eigentlich die Jungen. In der literarischen Variante dieser Kontroverse in Frankreich, der ›Querelle des anciens et des modernes‹ argumentierte Fontenelle († 1757) dann ebenso (s. u!). 5b. Bacons Begründung lautet: Jene antike Zeit ist aus späterer, gegenwärtiger Sicht alt, aus damaliger, vergangener Perspektive aber jung. Der Unterschied der Altersbezeichnung beruht auf der Konzeption des alternden Subjekts. Wer die Griechen als die Alten bestimmt, unterstellt eine spirituelle Postexistenz, in der sich der Vorgang des Alterns bis heute abgespielt hat. Derselbe Gedanke liegt der Redensart von den „alten Römern“, den „alten Germanen“ zugrunde: sie sind, relativ zu uns, desto älter, je jünger sie, relativ zum Alter der Menschheit, sind. Die „Modernen“ erscheinen in dem verworfenen Bilde als separates Subjekt, dessen jüngeres Alter mit dem inzwischen höheren Alter der anderen Subjekte verglichen wird. Wer hingegen, wie Bacon, die Modernen die „Alten“ nennt, hat ihnen eine spirituelle Präexistenz vorgeschaltet. Verglichen werden die verschiedenen Lebensstufen der alternden Menschheit. Insofern liegt eine andersartige Idee der Gesamt-Geschichte vor – an die Stelle der Mehrzahl von Völkern ist die Einheit des Menschengeschlechtes getreten. Bereits Otto von Freising hatte mit dem Blick auf die „Altersweisheit“ der Späteren den Fortschritt über die Antike hinaus begrüßt76. 5c. Die von Bacon wieder vertretene Einheit der Geschichte beweist ihm die Überlegenheit der Modernen. So wie wir die größere Weltkenntnis und das reifere Urteil eher von einem älteren Menschen erwarten, so wäre auch von unserer Gegenwart, wenn sie nur ihre Kräfte kennen würde (si vires suas nosset), mehr zu erwarten als von jenen früheren Zeiten. Während ein derartiger Gedankengang für die Geschmacksbildung, um die es in der ›Querelle‹ ging, kaum gerechtfertigt ist, weil man hier nicht von langfristigen Lernprozessen sprechen kann, trifft er für die Wissenschaft zu. Deren Fortschritt beruht auf der Kontinuität der Tradition, die es erlaubt, die gesamte Geschichte mit dem Bewußtseinskontinuum eines einzigen Menschen zu vergleichen. Der Unterschied liegt darin, daß sich im Individuum Erinnerungen mit gelegentlicher Nachhilfe von selber halten, während in der Geschichte die Erfahrungen der Früheren von den Späteren aus Büchern gelernt werden müssen. Daran erinnert Bacon mit der Parenthese si vires suas nosset. Bacon beweist, daß die Gegenwart die Vergangenheit überwinden kann, macht aber zugleich deutlich, daß dies nicht auf einer organischen Gegebenheit beruht, sondern allein auf der Bereitschaft, aus den Erfahrungen früherer Zeiten zu lernen. Die Überlegenheit des Altertums wird zwar aufgehoben, aber nur um den Preis einer dauernden Auseinandersetzung mit ihm. 5d. Den Beginn der Geschichte fand Bacon im Sündenfall, der für ihn weder bloß heilsgeschichtliches Faktum noch allein profangeschichtliche Metapher ist. Der Mensch sei damals um seine Unschuld und seinen Einklang mit der Natur gekom-



6. Vicos Kreislauflehre

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men, könne aber beides wiedergewinnen: das erstere durch den religiösen Glauben, das letztere durch Kunst und Wissenschaft.77 Aller Fortschritt ist eine Rückkehr.78 5e. So wie einen Kreislauf im Großen erkennt Bacon Zyklik im Kleinen. In seinem 58. Essay von 1626 ›Of Vicissitude of Things‹ zeigt er das mit dem Lebensaltergleichnis für die Politik: In der Jugend eines Staates florieren die Waffen, im mittleren Alter die Wissenschaften, dann diese mit den Waffen zusammen, im Alter des Niedergangs blühen Technik und Handel. Auch die Wissenschaften entwickeln sich nach diesem Muster: anfangs kindisch, in der Jugend unternehmend, im Mannesalter gefestigt und im Greisenalter dry and exhausted. 5f. Unter diesem Blickwinkel teilt Bacon die Geschichte in drei revolutiones et periodi ein: die der Griechen, der Römer und die des gegenwärtigen Westeuropa. Das Mittelalter fällt wieder heraus. Von den überschaubaren 25 Jahrhunderten der Vergangenheit seien kaum sechs fruchtbar gewesen, auch die Geschichte habe ihre Wüsten.79 Bacon begreift die Geschichte als Einheit, deutet sie aber nicht als stringenten Prozeß. Auch bei ihm lebt noch zuviel antike Pragmatik. 5g. Im Rahmen seiner Gesamtkonzeption will Bacon mit seinen methodischen Überlegungen der Zukunft einen neuen Weg eröffnen, er will die vom rechten Pfad systematischen Denkens abgeirrten Menschen durch die Aufstellung fester Prinzipien aus ihrem Labyrinth des Irrtums herausführen und dem curriculum der Wissenschaften Ziele setzen, zu denen ein Fortschritt, ein progressus und profectus möglich ist. Bacon denkt hier keineswegs allein an die Naturkunde, sondern auch an Logik, Ethik und Politik.80 Recta ratio und vera religio seien die Mittel gegen einen Mißbrauch des Wissens. So hofft Bacon auf eine regeneratio scientiarum, zu der er die semina veritatis für die Zukunft ausgestreut habe.81 Diese Anspielung auf das Gleichnis vom Sämann82 ist bewußt gewählt; auch Bacon rechnet damit, daß einiges unter die Dornen, einiges auf den Weg fällt und ist von dem Glauben an einen sicheren Fortschritt weit entfernt. Er sucht noch keine Garantie dafür in höheren Mächten, alles hängt vom unvorhersehbaren Verhalten der Menschen ab. Mit seiner Idee einer regeneratio gehört sein Denken eher der Renaissance als der Aufklärung an.

6. Vicos Kreislauflehre 6a. Der letzte, nachgeborene Vertreter einer humanistischen Zyklustheorie war Giambattista Vico (1668 bis 1744). Er lehrte Rhetorik in Neapel, befaßte sich aber als Philosoph mit allen Disziplinen unter methodischen Gesichtspunkten.83 1708 empfahl er mit seiner Rede ›De nostri temporis studiorum ratione‹ im Anschluß an Francis Bacon eine Erneuerung des Wissenschaftsbetriebes im Geiste der Antike. Denn trotz des Zuwachses an Wissen und Können sei von den Alten noch immer viel zu lernen. Es komme darauf an, die Vorzüge beider Zeitalter zu verbinden: utriusque aetatis commoda componere.84 Vico widersprach Bacons Vermutung, daß

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

nur die leichtgewichtigen Werke der Alten, vom Zeitenstrom getragen, auf uns gekommen, die schwerwiegenden aber darin untergegangen seien. Umgekehrt meint er: das Bewährte wurde und wird bewahrt; und wer weiß, was unter den neueren Schriften die Probe der Zeit besteht? Also legamus antiquos prius – lesen wir zunächst die Alten!85 Antike und Humanismus haben Vicos Werk geprägt. 6b. In dem genannten Traktat wendet sich Vico methodenkritisch gegen die cartesianische Physik, die vorzugsweise mit mathematischer Analysis und logischen Ableitungen arbeitete. Dagegen vertraute Vico auf den gesunden Menschenverstand, den sensus communis, der durch Beobachtung und Erfahrung das wenige sichere, auf Logik begründete Wissen um Erkenntnisse bereichert, die immerhin die Wahrscheinlichkeit für sich haben. Gegenüber dem Anspruch der Naturwissenschaft auf alleinige Exaktheit betont Vico, daß der Mensch nur das wirklich verstehen können, was er selber gemacht habe, was psychischer Natur ist. Die physische Natur lasse sich zwar beobachten, hingegen könne sie niemand als der Deus Optimus Maximus, der Schöpfer begreifen.86 Spricht der Archeus Terrae zu Faust: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst“, so sagt Vico seinem Leser: „Du begreifst nur den Geist, dem du gleichst.“ 6c. Im Jahre 1725 publizierte Vico sein geschichtstheoretisches Hauptwerk, die ›Scienza Nuova‹. Das Werk fand keinen Anklang, denn es stand quer zu den Denkweisen der Zeit. Das Thema dieser „vernunftgegründeten Theologie der göttlichen Vorsehung in der Geschichte“87 ist weder Heilsgeschichte (die Geburt Jesu ist in diesem Konzept historisch unerheblich) noch Fortschrittsverheißung (abgesehen von einem zaghaften Ausblick), sondern die gemeinschaftliche Natur der Völker. Es sei eine Leistung der Philosophie, so schrieb er schon 1708, in weit auseinander­ liegenden, verschiedenartigen Dingen die Ähnlichkeiten zu entdecken: facultas philosophorum propria est, ut in rebus longe dissitis ac diversis similes videant rationes.88 Die Geschichten aller Nationen verlaufen gemäß Vico nach demselben zyklischen Grundmuster und machen zusammengenommen die ideale, ewige Geschichte aus.89 Der Kreislauf heißt Aufstieg, Fortschritt, Stillstand, Verfall und Ende. Das weist auf Spenglers Morphologie voraus.90 Doch folgt dem corso der ricorso, kein „Rücklauf“, sondern die „Wiederkehr der menschlichen Einrichtungen“, und sie erscheint Vico „wunderbar“. Das ist für ihn nicht trostlos, wie für Augustin,91 sondern erweist die „Harmonie, die ganze Schönheit der historischen Welt“.92 6d. Vico erkennt allenthalben den schon „von den Ägyptern“ festgestellten Dreitakt: ein Zeitalter der Götter, eines der Heroen und eines der Menschen.93 Überall sieht er dieselben organischen Stadien im Völkerleben. Sie werden in konzentrischen Ringen beschrieben. Ein erster Ring ist die zivilisatorische Entwicklung vom Leben im Wald, dann ihn Hütten, weiter zum Bau von Städten und zuletzt von Akademien. Sie schützen nicht vor der „Barbarei der Reflexion“.94 Ein zweiter Ring, der denselben Kreislauf beschreibt, kennzeichnet die moralische Entwicklung. Es ist der Durchgang von einer Urbarbarei über drei Kulturphasen, eine gött-



6. Vicos Kreislauflehre

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lich-religiöse, eine heroische und eine menschliche, in die Endbarbarei. Anfangs sind die Menschen roh, dann streng, dann mild, dann verzärtelt und endlich sittenlos. „Zuerst fühlen die Menschen das Notwendige, dann achten sie auf das Nützliche, darauf bemerken sie das Bequeme, weiterhin erfreuen sie sich am Gefälligen, später verdirbt sie der Luxus, schließlich werden sie toll und zerstören ihr Erbe“.95 6e. Ein dritter Ring betrifft die Staatsverfassung. Zivilisatorisch-politisch steht am Anfang, nach der Urbarbarei, die Aristokratie, die sich fortlaufend demokra­ tisiere, bis sie in eine Monarchie umschlage, weil das in der Demokratie freigesetzte Privatinteresse antagonistisch und destruktiv wirke und darum einer zentralen Regulierung bedürfe. Ihre Maxime ist die aequitas naturalis, die natürliche Billigkeit, ­italienisch la giusta ragione di Stato, die Staatsraison96. Eine Verbindung ­zwischen dem zivilisatorischen und dem politischen Wandel zeigt Vico auf, indem der Übergang von der Familiengewalt zur Staatsgewalt als Produkt des Klassenkampfes zwischen den patres und den famuli interpretiert wird.97 Auf den Zusammenschluß der Väter zur Aristokratie folgt der Zusammenschluß der Knechte unter einzelnen Vätern zur Demokratie. Und sie setzen sich durch,98 ähnlich wie später bei Hegel.99 Ein erneuter Umschlag in die Monarchie ist zu erwarten. 6f. Als Triebkraft der Geschichte nennt Vico stets la Provvidenza, die göttliche Vorsehung. Unter den säkularen Faktoren weist er als Jurist dem Recht eine besondere Rolle zu. Das natürliche Recht, in dessen Grundzügen alle Völker übereinstimmen, bilde das „geistige Wörterbuch“, die Metasprache, in der die Geschichten der Völker abgefaßt sind. Vicos Modell ist das alte Rom, dessen Aufstieg und Niedergang eben deswegen studiert werden müsse. Am Anfang seien die Gesetze streng, später lasch gewesen. So war das Recht in der Republik die wichtigste Voraussetzung für das Entstehen des Reiches, in der Kaiserzeit sodann ein Mittel zu seiner Erhaltung und endlich in der Spätantike der Grund seines Untergangs. Die Bürgerrechtsverleihungen zuerst an die Hilfstruppen und dann durch Caracalla 212 an alle Einwohner hätten die Vaterlandsliebe untergraben, das Zivilrecht habe die Eigensucht befördert, und so zerbrach das Imperium100. Diese Kreisläufe von Aufstieg und Niedergang, das wiederholte Vorwärts und Zurück der corsi und erneuten ricorsi, vollziehen sich naturgesetzlich, indem die Vorsehung – mit der List der Vernunft – die Leidenschaften nutzt, um aus Chaos Ordnung zu schaffen,101 ehe diese der Dekadenz verfällt. 6g. Vico hat sein zyklisches Geschichtsmodell nicht konsequent durchgehalten. Denn er sieht daneben, ohne logische Verbindung, auch einzelne universalhistorische Entwicklungslinien auf den Gebieten der Religion, der Zivilisation und der Politik. Als gläubiger Sohn seiner Kirche versteht er die heidnische Vorzeit als paidagogia Theou. Zwar ist das Christentum zum einen eine historisch-empirische Religion wie jede andere auch, zum anderen aber enthält es ewige Wahrheiten, darunter die Verheißung der göttlichen Fürsorge, die durch Vernunft einsehbar sei. 6h. Als Mensch seiner Zeit erkennt und benennt Vico die Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Er erwähnt die Feuerwaffen, die Räderuhr und die schwebende

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance

Kuppel Brunelleschis auf dem Dom von Florenz.102 Als heimlicher Optimist hält er die Fatalität des Verfalls für überwindbar. Vico glaubt an den Fortschritt der Humanität, denn diese werde sowohl durch bewußte und einsichtige Politik als auch durch die genannten blinden Kreisläufe befördert. Vico ist stolz auf die in seiner Zeit erreichte Zivilisation, an der es nur in einigen zurückgebliebenen Völkern noch haperte.103 Alles ändert sich, so meinte er, wenn eines Tages die Nationen durch ein Bündnissystem miteinander vereint sind und der Egoismus dem Streben nach Wohlfahrt für alle weicht. Dies zu erkennen, sei Aufgabe einer vernunftbegründeten Theologie der göttlichen Vorsehung in der Geschichte. In der Weisheit und in der Beredsamkeit aber seien die Alten noch nicht übertroffen.104 Hier gibt es Nachholbedarf. Mit diesem Erneuerungsgedanken schließt Vico, wenn auch verspätet, an die Renaissance-Humanisten an. Sein Ausblick gehört schon in die Aufklärung.

7. Altertum – Mittelalter – Neuzeit 7a. Aus dem Epochengefühl der Humanisten ergab sich ein Dreistadienmodell: erstens die neue Zeit, in der man lebte; zweitens die alte Zeit, die man liebte; und drittens dazwischen das Mittelalter, das man überwunden hoffte. Eine Dreiteilung der Geschichte gab es auch zuvor schon: im heidnischen Kontext bei Varro in eine erste unbekannte, eine zweite mythische und eine dritte historische Zeit und bei Marc Aurel in alte, mittlere, neue Geschichte.105 Drei Perioden fanden sich im christlichen Geschichtsdenken bei Paulus106 und bei Joachim von Fiore,107 doch ist erst im Humanismus dieses Schema welthistorisch verwendet worden. Hatten sich die mittelalterlichen Historiker in der Kontinuität der tempora Christiana und der translatio Imperii gesehen und daher die Auflösung des Römerreiches in der Völkerwanderung nicht als Ende der Antike empfunden, wurde dies nun deutlich. Die folgenden Jahrhunderte waren jetzt keine verlängert Spätantike mehr, sondern eine neue Epoche, eine bis an die Gegenwart heranreichende Zwischenzeit, die unterschiedlich bezeichnet wurde. Petrarca sprach um 1350 von medium tempus, Giovanni Andrea 1469 von media tempestas, Vadian 1518 von media antiquitas und 1551 von media aetas. Ausgehend von den oberrheinischen Humanisten im frühen 16. Jahrhundert verbreitete sich der Begriff einer „mittleren Zeit“, die im qualitativen Sinn auch als inferior aetas, als gesunkenen Zeit, und im chronologischen Sinn als superior aetas, als vorausgegangene Zeit gekennzeichnet wurde.108 7b. Nach und nach gewann das Dreiphasenmodell an Einfluß. Entscheidend wurden die Geschichtsbücher eines Gelehrten aus Halle, Christoph Cellarius. Seine Schriften verwenden seit 1685 die Einteilung der Geschichte in „alte, mittlere und neue.“ Die Zeitgrenzen schwanken etwas, so finden sich für den Übergang vom Altertum zum Mittelalter die Gründung Konstantinopels 330, der Tod des Aëtius 454 und die Absetzung des Romulus Augustulus 476. Das Ende des Mittelalters bezeichnet der Fall Konstantinopels 1453 oder die Entdeckung Amerikas durch



7. Altertum – Mittelalter – Neuzeit

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Kolumbus 1492 oder Luthers „Thesenanschlag“ 1517. Im wesentlichen entsprechen die Einschnitte den heute gültigen. 7c. Die Dreiteilung der Geschichte hat sich nur langsam gegen die Periodisierung der Heilsgeschichte durchgesetzt. Als Mischform begegnet in der protestantischen Historiographie bei Georg Horn in Leiden im Jahre 1666 die Idee, das Mittelalter unter die Herrschaft des Antichrist zu stellen. Mohammed und die Päpste seit ­Gregor, der um 600 den weltlichen Machtanspruch der Kirche vertrat, seien Verkörperungen des „Widersachers“,109 den erst Luther überwunden habe.110 Dies ist die eschatologische Spielart des Dreistadiengesetzes. 7d. Alle Periodisierungen von Geschichte leiden unter einem dreifachen Manko. Das erste besteht darin, daß niemals auf sämtlichen Lebensgebieten zugleich ein Bruch auftritt und der zur Gliederung herangezogene Lebensbereich nie zweifelsfrei als der wichtigste erwiesen werden kann. Ob die Politik oder die Religion, ob die Wissenschaft oder die Wirtschaft der wichtigste Sektor ist, das ist kaum verbindlich zu entscheiden. Das zweite Problem ist, daß sich genauere Zäsuren auch auf nur einem Sektor kaum irgendwo finden lassen. Jeder Einschnitt erweist sich bei näherem Hinsehen als Teil einer Entwicklung, überall findet sich Kontinuität. Die dritte Schwierigkeit liegt darin, daß epochale Umstürze jeweils nur begrenzte Regionen betreffen, mithin keine universale Geltung besitzen. Das Dreistadienmodell erlaubt eine sinnvolle Gliederung nur für die Geschichte Europas. Weltweite Epochengrenzen setzen die vollendete Globalisierung voraus. 7e. Das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit hat zudem den Nachteil, daß es veraltet. Weil die Untergrenze dauernd herunterrutscht, behilft man sich mit Anhängseln an die Geschichte. „Der zünftige Historiker sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen ansetzt.“111 Nach der neuen kommt die neuere, nach dieser die neueste und allerneueste Geschichte oder die „Zeitgeschichte“, als ob das Mittelalter keine „Zeit“ wäre. Es hat sich eingebürgert von „Moderne“ zu sprechen, wie das in der Textilmode üblich ist. Wollten wir diejenige Zeit als „modern“ anerkennen, die sich selbst so empfindet, könnten wir die Moderne mit Justinian beginnen lassen, denn damals kam der Begriff auf.112 Dem Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit widerfährt dasselbe, was den Schemata der Weltreiche und der Weltenwoche passiert ist. Weil sie unaufhaltsam veralteten, mußten sie ständig modernisiert, d. h. gestreckt werden und verloren darüber ihre Proportionen. Muß die Postmoderne nicht bis zum Jüngsten Tag währen? 7f. Der Historiker wird vom Lauf der Zeiten dauernd überholt. Immer neue Dinge kommen in den Blick, die das Bild der Vergangenheit ändern. Wir sitzen gleichsam rückwärtsblickend auf einem fahrenden Wagen, so daß wir nicht sehen, was bevorsteht, sondern nur wahrnehmen, was hinter uns liegt. Was soeben vorbei ist, können wir nicht beurteilen, weil es so schnell vorübereilt und was vor längerem passiert ist, können wir schlecht erkennen, weil es so weit entfernt ist. Das Bild das wir dabei gewinnen, nennen wir unsere „Geschichtsphilosophie“.

Lasset uns, meine Brüder, mit mutigem, fröhlichem Herzen auch mitten unter der Wolke arbeiten; denn wir arbeiten zu einer großen Zukunft! Herder 1774

VII. Geschichte als Aufklärung a. Geschichtsphilosophische Entwürfe haben jeweils eine dreifache Wurzel. Es ist zum ersten eine gegenwartsbezogene Stimmungslage, zum anderen eine Vorstellung von der Vergangenheit und zum dritten eine Erwartung gegenüber der Zukunft. Der zweite dieser Faktoren betrifft den Gehalt an Geschichte in jenen Entwürfen; er zeigt wie in jedem nachhomerischen Geschichtsbild so in dem der Aufklärung die Fundierung in älteren Konzeptionen. b. Das antike Geschichtsdenken kannte den Gedanken des Fortschritts im Wissen und Können und den der Humanisierung der Umgangsformen, sah aber ebenso die Schattenseiten der Zivilisation. Das finden wir in der Aufklärung wieder. Die christliche Heilsgeschichte vertraute auf eine höhere Führung im Weltlauf trotz allen Machenschaften Satans. Eine entsprechende Gewißheit, sei es im Hinblick auf Gott, auf die Zeit oder auf die Natur, begründete den Optimismus der Aufklärer, denen allerdings wiederum Zivilisationskritiker gegenüberstanden. c. Ein Epochengefühl wie bei den Humanisten sodann zeigt sich in der beliebten Lichtsymbolik der Zeitzeugnisse1. So klagte Friedrich der Große 1773 gegenüber Voltaire, in einem Jahrhundert der Finsternis leben zu müssen, an dessen Ende erst die Dämmerung der vervollkommneten Vernunft, die „Morgenröte“ anbreche2. Friedrich umschreibt den Begriff der Aufklärung, der durch Kant in den deutschen Sprachgebrauch eingedrungen ist. Vor ihm ist in Frankreich les lumières als Selbstbezeichnung der Zeit üblich gewesen. Sie beruht auf der Verbindung zwischen Licht und Wissen, die schon dem Altertum seit Heraklit3 geläufig war und etwa bei Lucrez und Quintilian nachzuweisen ist.4 Die Metapher vom Sonnenaufgang entstammt, wie alle Naturmetaphern, einem grundsätzlich zyklischen Geschehen. Ein solcher Gedanke begegnet uns bei jenen Aufklärern, die am Ende der Geschichte auf einer höheren Ebene die Wiederherstellung der Einheit zwischen Mensch und Natur erhofften.

1. Frühe Stimmen aus Frankreich 1a. Ein fortschrittliches Selbstgefühl ist uns bereits bei den Humanisten begegnet. Sie glaubten, das „finstere Mittelalter“ überwunden zu haben. Galt das aber ebenso für das wiederentdeckte, hochgeschätzte klassische Altertum? Hier stellte sich das



1. Frühe Stimmen aus Frankreich

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Bild eines Wettstreites ein. Leone Battista Alberti († 1472) glaubte bereits, das Altertum sei in der bildenden Kunst übertroffen worden.5 Daraus erwuchs unter Ludwig XIV die durch Perrault 1687 ausgelöste Kontroverse, ob die Antike oder die Moderne es weiter gebracht hätte: die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. Im Hinblick auf die technischen Leistungen wurde der Streit bald zugunsten der „Modernen“ entschieden, in Anbetracht der künstlerischen und literarischen Meisterwerke fanden jedoch die Alten bis zu Wilhelm von Humboldt6 und Karl Marx7 entschiedene Verfechter. 1b. Auf der theoretischen Ebene hat – im Anschluß an Francis Bacon – Fontenelle8 den Streit gelöst, indem er die Menschheit als sich entwickelndes Einzel­ wesen ansah,9 und diese Metapher bleibt für die Aufklärungshistorie von tragender Bedeutung. Es ist das Bild einer Erziehung des Menschengeschlechts. Die Griechen kannten das Bild noch nicht, ihnen fehlte die Person des Erziehers: Die Götter kamen nicht in Betracht, weil sie uneinig waren. Vertraut war den Griechen da­­ gegen die Idee des Fortschritts zur Zivilisation, zur Humanität. Juden und Christen hingegen kannten den Gedanken der paidagōgia theou, der univeralhistorischen Erziehung. Sie verfügen in ihrem Gottesgedanken über einen Erzieher. Indessen war bei ihnen der Erziehungsgegenstand der Glaube, nicht die Kultur. Erst in der Neuzeit wurden beide Traditionen so vereint, daß dem jüdisch-christlichen Erbe Gott oder eines seiner Substitute als Erzieher entnom­men wurde, dem griechischrömischen Denken hingegen der Unterrichtsgegenstand: die Zivilisation, die Moralität, die Vernunft. 1c. Die ersten Fanfarenstöße kamen aus Frankreich. Enfin toutes les ombres son dissipées. Quelle lumière brille de toutes parts! Mit diesen enthusiastischen Worten begrüßte der damals 23jährige Turgot,10 der spätere Finanzminister Ludwigs XVI, in seiner Rede vom 11. Dezember 1750 an der Sorbonne die „Zerstreuung der Wolken“ und das nun „allseits glänzende Licht“ der Aufklärung. Im siècle de la ­Raison rief er: „Europa erhebe dich aus der Nacht, die dich bedeckte!“ Die Sitten werden milder, der Geist wird klarer und der Geschmack besser. Die Wissenschaft blüht auf, die Völker kommen einander näher und fördern den Fortschritt. Diesen als Gesetz der Geschichte entdeckt zu haben rühmte später Condorcet an seinem Lehrer Turgot. Dieser erklärte, die Menschheit marschiere à une perfection plus grande, wenn auch in kleinen Schritten. L’humanité se perfectionne11. 1d. Turgots geschichtsphilosophischer Optimismus bezüglich der aufgehen­den Sonne der Vernunft fand nicht überall Anklang. Wo viel Licht ist, ist starker Schatten. Gewiß, doch auch im Schatten kann es zur Erleuchtung kommen, nicht nur unter dem Feigenbaum von Bodhgaya bei Buddha, sondern auch unter jener Eiche an der Straße nach Vincennes, wo Jean Jacques Rousseau im Oktober 1749 rastete. Beiden Denkern offenbarte sich unter einem Baum der Erkenntnis die dunkle Seite der Zivilisation. Rousseau berichtet in seinem Brief an Malesherbes vom 12. Januar 1762 und in seinen Konfessionen, wie er damals zufällig im

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VII. Geschichte als Aufklärung

›­Mercure de France‹ auf das Preisausschreiben der Akademie von Dijon getroffen sei, wo gefragt wurde, „ob der Fortschritt der Wissenschaft und Künste zur Verderbnis oder zur Veredelung der Sitten beigetragen habe“. Dieses Thema, schreibt Rousseau, habe bei ihm einen Schock ausgelöst, eine halbe Stunde seien ihm unter heftigem Herzklopfen die ­Tränen geflossen, und fortan sei er ein anderer Mensch geworden. 1e. Beraten von Diderot, den er im Gefängnis von Vincennes besuchte, verfaßte Rousseau seine Antwort an die Akademie, die ihn über Nacht berühmt machte. Sie trug ihm den Preis ein. Die frühen Griechen, insbesondere die Spartaner erschienen Rousseau Muster an Tugend. Doch sei diese durch Verfeinerung des Lebens untergraben worden, so daß die Makedonen Herr über Hellas wurden. Eine entsprechende Entwicklung fand Rousseau bei den ursprünglich tugendhaften Römern, bis sie, im Luxus degeneriert, von den barbarischen Germanen unterworfen wurden. Rousseau verwendet das klassische Dekadenzmodell,12 das er Seneca entnommen haben dürfte, und bezieht es auf die europäische Geschichte. Die ländlich gesunden Sitten seien durch wachsenden Wohlstand, durch die Vervollkommnung der Wissenschaft und Künste verdorben worden. Zum Glück der Menschheit hätte das nichts beigetragen – im Gegenteil. Dies wird in grellen Farben ausgemalt. Welche Erfindung, welche Neuerung hätte keine üble Nebenwirkung gezeitigt? Selbst die Buchdruckerkunst diente laut Rousseau zwar nicht ihm, aber anderen dazu, Irrtümer und Extravaganzen zu verbreiten. Vier Jahre später beantwortete Rousseau wiederum eine Preisfrage der Akademie von Dijon. Es ging um den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Auch sie war für Rousseau das Ergebnis des Zivilisationsprozesses und das Grundübel der modernen Gesellschaft. Rousseau glaubte, ähnlich wie Kyniker und Stoiker, der Mensch sei gut von Natur, werde aber durch die selbstgeschaffenen, gleichwohl übermächtigen Verhältnisse korrumpiert. Die Maxime, die man aus seiner Lehre folgerte, müßte daher heißen: Retour à la nature! Dies ließ hoffen.

2. Lessing und die Erziehung des Menschengeschlechts 2a. Die Aufklärer kämpften gegen den Absolutismus der Fürsten und vor allem gegen den Dogmatismus der Kirche. Sie hatte im Mittelalter viel zum Fortschritt beigetragen, denken wir nur an die Klöster, die Kathedralen und Hospitäler, an die Schrift, die Wissenschaft und die Künste, an die Uhr und den Kalender. In der Neuzeit aber hemmte sie den freien Geist durch die Inquisition, den Index librorum prohibitorum und die Intoleranz im Pietismus.13 Daher lautete das Ceterum Censeo Voltaires in seinen Briefen: Écrasez l’infâme! Rottet das Priestertum und den abscheulichen Aberglauben aus! 2b. Wie also ließ sich die Vorstellung eines weltgeschichtlichen Fortschritts mit der Tatsache vereinbaren, daß nach den lichten Zeiten des klassischen Altertums die



2. Lessing und die Erziehung des Menschengeschlechts

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Herrschaft des Klerus die Geister verdunkelt hat? Hier half die alte Idee einer Erziehung des Menschengeschlechts. So wie Clemens von Alexandria und Eusebios von Caesarea die heidnische Philosophie als paidagogia Theou , als Vorbereitung auf Christus hin gedeutet hatten, so verstand der Katholik Turgot in seiner Rede vom 3. Juli 1750 die christliche Religion als Vorschule für das Zeitalter der Vernunft14. Das Christentum habe anstelle des Götzendienstes die Verehrung des einen Schöpfergottes und allgemeine Menschenliebe gelehrt und mit den barbarischen Zirkusspielen Schluß gemacht. Da die Fürsten den himmlischen Richter fürchten müßten, sei der Tyrannei eine Grenze gesetzt. So wird das Christentum durch einen katholischen Theologen in die Geschichte der Zivilisation eingeordnet. 2c. Das Gegenstück auf protestantischer Seite bietet in der Praxis der humane Geist der Franckeschen Stiftungen; in der Theorie der Dichter und Kritiker Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781).15 Der Pfarrerssohn aus Sachsen lebte und wirkte in Berlin, Breslau und Hamburg und wurde 1769 Biblio­thekar in Wolfenbüttel. In seiner 1780 erschienen Schrift ›Die Erziehung des Menschengeschlechts‹16 erklärt er, „was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte“ (§ 1). Lessings „Vorbericht“ betrachtet alle positiven Religionen in diesem Sinne, im weiteren befaßt er sich jedoch vor allem mit der jüdisch-christlichen Religion. Deren Vorrang konnte Lessing noch rein historisch begründen. Tatsächlich hat keine Religion derartige Wirkungen gezeitigt wie das Christentum. 2d. Lessing teilt die Weltgeschichte in drei Lebensalter ein. Die alttestament­ liche Zeit versteht er als das „Kindesalter“ der Menschheit (§ 70). Dem entsprach das erste „Elementarbuch“ (§ 26), aus dem die Menschen die Einheit Gottes begreifen und den natürlichen, primitiven Polytheismus und Fetischismus überwinden lernten. Dies war das Alte Testament. Da aber jedes Elementarbuch nur für ein gewisses Alter gut ist (§ 51), heißt es: „Ein beßrer Pädagog muß kommen und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen – Christus kam“ (§ 53). Der Schüler „war zu dem zweiten großen Schritte der Erziehung reif“ (§ 54). Das zweite, bessere Elementarbuch ist das Neue Testament (§ 64), aus dem der ins „Knabenalter“ getretene Jüngling die „Lehre der Einheit des Menschen­ geschlechts und der Unsterblichkeit“ aufnimmt (§ 71). 2e. In dieser zweiten Phase glaubt Lessing noch seine Zeit befindlich. Aber er meint, daß auch diese zu Ende gehe, um einer dritten Periode zu weichen. Hier stützt er sich auf Joachim von Fiore (§ 88). Lessing erklärt, in dieser kommenden Zeit werde auch das Neue Testament entbehrlich (§ 72) und durch ein erhofftes „neues ewiges Evangelium“ ersetzt (§ 86). Joachim hatte nach dem Zeitalter des Vaters und dem des Sohnes das des Heiligen Geistes prophezeit und nach dem Alten und dem Neuen Testament eine dritte, ewige Frohe Botschaft erwartet. So auch Lessing. Er warnt jedoch davor, das Neue Testament allzu früh aus der Hand zu legen, bevor alle „Mitschüler“ es aufgenommen haben (§ 68). Eine dritte Heilige

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Schrift lieferte dann erst 1830 Joseph Smith junior mit dem Buch Mormon, nicht ganz im Geiste Lessings. 2f. Eine wesentliche Erziehungsleistung der Bibel findet Lessing in der Tatsache, daß in ihr alle Völker sich an demselben Text heranbilden und von daher zu einer Einheit finden, die niemals erreicht würde, „wenn jedes Volk für sich besonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte“ (§ 66). In der bevorstehenden dritten Periode erwartet Lessing die „völlige Aufklärung“ (§ 80), die „Zeit der Vollendung“ (§ 85). Denn „die Erziehung hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzelnen“ (§ 82). Diese dritte Phase hält Lessing für möglicherweise ewig (§ 20). 2g. Lessing stimmt bei dieser Einteilung der Weltgeschichte in Altersabschnitte mit der heilsgeschichtlichen Tradition überein, nicht aber im Inhalt der Erziehung: die Offenbarung sollte bei ihm nicht den Glauben festigen, sondern die Vernunft leiten, bis diese selbst imstande sei, selbständig zu denken (§ 36; 76). Lessing behauptet den „Nutzen und die Notwendigkeit der Erziehung“ durch Offenbarung (§ 21), aber er erweist lediglich den Nutzen, nicht die Notwendigkeit. Er räumt nämlich die Möglichkeit ein, daß das Neue Testament den menschlichen Verstand nicht aus göttlichem Licht, sondern nur durch jenes, „welches der menschliche Verstand selbst in die Schrift hineintrug“, erleuchtet habe (§ 65), und behauptet geradezu: „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte; sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher“ (§ 4). So wie der Rechenmeister dem Schüler das Resultat im voraus verkünde, um ihm eine Kontrolle zu ermöglichen, so enthalte die Offenbarung Wahrheiten, die durch rationale Begründung in Vernunftwahrheiten erhoben werden können (§ 76). Dies zeige sich zwar erst nachträglich, beschleunige aber, wie Lessing meint, langfristig den Fortschritt in der Erziehung. Kurzfristig, meint er, kämen begabte Kinder, wie Griechen und Römer, auch ohne Lehrer einmal schneller voran (§ 20). Daß Gott sich mit den Juden mehr Zeit gelassen hat, bezeuge seine erzieherische Weisheit. Denn es sei ein „Fehler des eiteln Pädagogen, der sein Kind lieber übereilen und mit ihm prahlen als gründlich unterrichten will“(§ 17). 2h. Indem Lessing die Bibel historisiert und relativiert, befindet er sich im Einklang mit der „Neologie“, jener theologischen Strömung,17 die im Sinne der Auf­ klärung der Vernunft traute, da ja der Mensch ein Ebenbild Gottes sei. Lessing brauchte Gott nur noch zur Beantwortung der Frage, weswegen die Erziehung der Menschheit das rechte Tempo genommen hat, und damit macht er keinen grundsätzlichen Unterschied mehr zwischen dem Erziehungs- und dem Entwicklungsprozeß. Dies spiegelt sich darin, daß Lessing gleichbedeutend mit „Gott“ von „Vorsehung“ oder „Natur“ spricht (§ 84; 90f ). Das ist dann auch der Sprachgebrauch im deutschen Idealismus.



3. Herder und die Humanität

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3. Herder und die Humanität 3a. Sehr viel ausführlicher als Lessing behandelte Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803) die Geschichte. Ihm verdanken wir die erste systematische Entfaltung des Geschichtsbildes der Aufklärung. Herder stammte aus Ostpreußen, lehrte in Riga und war später Pfarrer in Bückeburg. Goethe holte ihn 1776 als Prediger nach ­Weimar. Als Dreißigjähriger verfaßte er 1774 seine Schrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹,18 und zehn Jahre später erschien der erste Band seiner ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹. Jene frühere Schrift hat den Charakter eines Manifestes und zeigt den Sturm und Drang in geradezu expressionistischer Sprache. Herders Hauptwerk dagegen, die ›Ideen‹, ist ein Meisterwerk der deutschen Prosa, es bietet eine geographisch-historische Weltbeschreibung. Wie bei Voltaire 176519 ist Glaube an die biblische Frühgeschichte verabschiedet. 3b. Herder eröffnet sein Ideenwerk mit einer Betrachtung des Planeten Erde im Sternenhimmel und geht dann über zu den Geschöpfen, von den Kristallen zu den Pflanzen und Tieren und weiter zum Menschen. Er ordnet die Lebewesen gemäß der Leibnizschen scala naturae in eine Stufenfolge wachsender Ähnlichkeit mit dem Menschen, der sich von seinem Nächstverwandten, dem Affen, nur durch den aufrechten Gang und die damit entstandene Vernunft unterscheidet.20 Herder versteht die typologisch angeordnete „Kette der Erdorganisation“ als Entwicklungsprozeß, denn er sieht die Natur auf dem langen „Weg der Transformation in höhere Lebensformen.“21 Den Zusammenhang durch Abstammung spricht er nicht aus; Kant traut ihm eine solch verwegene Idee auch nicht zu,22 aber sie ist unterschwellig da, und insofern steht Herder in der Geschichte der Evolutionstheorie zwischen Robinet 1761 und Darwin 1859.23 Dies zeigt sich auch darin, daß Herder „die ganze Schöpfung in einem Kriege“ sieht, weil die Natur „in kleinstem Raum die größte und vielfachste Anzahl der Lebewesen schaffen wollte, wo also eins das andere überwältigt.“ Er nimmt es hin, daß dabei „große Tiergattungen untergegangen sind“, denn „Zerstörung ist Übergang zum höhern Leben“, indem die Natur „Schritt vor Schritt das Unedlere wegwirft.“24 Herder antizipiert nicht nur die Selektionstheorie, sondern auch die kosmologische Zukunftsvision vom Ende der Erde, wenn er – nach Kant – schreibt, die Sonne ziehe „die alternde Erde, die sich nicht mehr zu halten und fortzutreiben vermag, in ihren brennenden Schoß.“25 3c. Durch die Gabe der Vernunft wird „das Tier Mensch“ zum „ersten Freigelassenen der Schöpfung“. Diesen Vorzug aber bezahlt er damit, daß er anders als die Tiere sich um seine Vervollkommnung mühen muß und insofern mit sich und mit der Erde im Widerspruch lebt.26 Daraus entsteht die Geschichte der Kultur, die ihn zur Humanität führen soll. In seiner ersten Schrift verglich Herder in Anlehnung an Augustinus27 die Geschichte der Menschheit mit dem Leben eines Individuums. Die Zeit der Kindheit fand er in der orientalischen Frühgeschichte. So wie dem

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VII. Geschichte als Aufklärung

Kinde die Autorität des Vaters nottut, so unterstanden die Menschen damals der Despotie der Monarchen. In Ägypten sodann saß der Knabe „auf der Schulbank und lernte Ordnung, Fleiß, Bürgersitten.“28 In derselben Phase erfolgte noch der Schritt zur Buchstabenschrift und zur republikanischen Staatsform, beides durch die Phönizier, die Zwillinge der Ägypter. 3d. Die Jünglingszeit, derer wir uns „mit Lust und Freude erinnern“, liefern die Griechen. „In der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüte verlebt hat.“ Herder verknüpft wieder das kulturelle mit dem politischen Motiv: „Die Blüte brach hervor: holdes Phänomen der Natur! heißt Griechische Freiheit!“ Das eigentliche Mannesalter jedoch brachten die Römer: „tu regere imperio populos, Romane, memento Römer­ tugend! Römersinn! Römerstolz!“ Herder findet hier „männliche Gerechtigkeit“, planmäßiges Vorgehen beim Aufbau des Imperiums.29 Am Ende stand der Universalstaat, der die Mauern zwischen den Völkern eingerissen hatte, aber wegen seines unnatürlichen Umfangs und seiner brüchigen Künstlichkeit einstürzen mußte.30 Herder liebt die großen Reiche nicht; was mit Krieg und Eroberung verbunden ist, lehnt er ab. Alle Völker, auch die kleinsten, seien zur Freiheit bestimmt, um ihre jeweilige Nationalkultur entfalten zu können. Dies weist voraus auf die Romantik.31 3e. In seinen ›Ideen‹ hat Herder dieses Lebensaltergleichnis nicht nochmals aufgegriffen, wohl aber betont er hier den Gedanken einer „Erziehung des Menschengeschlechts.“ Er beschreibt die Erde als „ein Erziehungshaus unserer Familie, zwar mit vielen Abteilungen, Klassen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der Lektionen.“32 Gleichwertig mit „Erziehung“ sprach Herder von „Kultur“ (im Sinne einer Bodenbearbeitung), von „Aufklärung“ (in der Symbolik des Lichtes) und von der „Kette der Bildung“ (als Metapher des Zusammenhangs). Anders als später Hegel betonte Herder die Unabschließbarkeit der Geschichte. Es sei dem Menschengeschlechte bestimmt, „sich einem Punkt der Vollkommenheit zu nähern, den es nicht kennt und den es mit aller tantalischen Mühe nicht erreicht.“ Wo die Fessel der Tradition den ewigen „Fortgang der Menschenvernunft“ hindere, da sei sie das „wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen.“33 3f. Das Lebensgleichnis erklärt die Entfaltung der Vernunft. So wie sie sich im Individuum einerseits durch das biologische Wachstum des Gehirns, andererseits durch die Erziehung seitens der Eltern und Lehrer allmählich ausbildet, so erscheint Herder auch die Geschichte als ein Entwicklungs- und Lernprozeß, der die Menschheit zur Humanität heranbildet. Gelenkt wird dieser Vorgang durch Gott, und darin könnte man eine christliche Erbschaft sehen, zumal Herder selbst Theologe war. Dennoch liegt dem biblischen Christentum der Gedanke einer Geschichte der Vernunft fern. In der Gegenüberstellung zur Weisheit Gottes ist die menschliche Vernunft immer abgewertet worden, noch Luther sprach von der „Vernunft, des Teufels Hure“.34 Was den Menschen auszeichne, sei gerade nicht die Vernunft, son-



3. Herder und die Humanität

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dern der Glaube. Und ebenso fern steht frühchristlicher Anschauung der Gedanke einer Entwicklung der Menschheit. Für die Bibel ist der Mensch seit dem Sündenfall komplett. Aus unserer grundsätzlichen Verderbtheit, aus unserer Unfähigkeit zum Guten kann uns nur der Glaube an Jesus Christus retten, während für den Aufklärer der Mensch nach dem Plan der Natur seine guten Anlagen aus eigener Kraft entwickelt, sich sozusagen selbst erlöst. In der Aufklärung wird Jesus vom Erlöser von Tod und Sünde zum Lehrer der Humanität, zum Rabbi rejudaisiert. Der Kreuzestod ist nicht mehr Sühneopfer, sondern Beglaubigung für die Ethik. 3g. So zeigt sich, daß die Konzeption einer Erziehung des Menschengeschlechts keineswegs aus der christlichen Tradition allein zu erklären ist, und sie versagt ebenso, wenn wir nach der Funktion der biblischen Offenbarung in diesem Prozeß fragen. „Wenn Offenbarung die Erziehung des Menschengeschlechts ist, wie sie es wirklich war und sein mußte, so hat sie die Vernunft gebildet und erzogen.“35 Herder erläutert auch, was er mit Vernunft meint: „Vernunft... ist der natürliche, lebendige Gebrauch unserer Seelenkräfte.“ Und diese „gebildete Vernunft fällt nicht vom Himmel“, sondern ist so wie bei jedem einzelnen Kind, so auch bei der Menschheit insgemein ein Produkt der Erziehung durch Gott, der sich dafür unter anderem der biblischen Offenbarung bedient hat. 3h. Der in Herders Zeit so heftig umstrittene Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung wird in ein historisches, instrumentales Verhältnis aufgelöst. Für Herder behauptet die Bibel nicht Dinge, die, obschon sie mit der Vernunft nicht eingesehen werden können, nur blind hinzunehmen sind oder aber, eben weil sie nicht mit der Vernunft eingesehen werden können, strikt verworfen werden müssen. Vielmehr sollten wir einsehen, daß unsere eigene Vernunft nicht das geworden wäre, was sie ist, wenn uns die Bibel nicht gelehrt hätte, auf den Schöpfer der Welt zu vertrauen und alle Menschen als Brüder anzusehen. Die Bibel wird auf einen Kerngedanken reduziert und hinsichtlich ihrer Bedeutung historisiert. Herder scheut nicht vor der Konsequenz zurück, die Bibel mit dem Maße unserer Vernunft zu messen. Er bringt beide in das Verhältnis von Mutter und Tochter: „Mag‘s sein, daß die Tochter einmal von der Mutter gehen gelernt; aber jetzt kann sie allein gehen, sie braucht ihr Leitband nicht mehr; sie will sie nicht immer hinter sich haben! Die Mutter darf nichts als antworten: „gehe allein!“ Herder meint zwar anschließend; „Alle Vergleichungen hinken“,36 aber auch was hinkt, geht. 3i. Die Bibel behandelt Herder ähnlich wie Paulus das mosaische Gesetz.37 Paulus bezeichnete das Ge­setz als durch Jesu Erscheinen überholt; Herder erachtete die Bibel durch die auf ihren eigenen Beinen stehende Vernunft für überwunden. Dabei faßte Paulus Jesu Erscheinen als ein von außen kommendes, übernatürliches, plötzliches Ereignis; Herder dagegen verstand die Aufklärung als einen von innen her sich entfaltenden, natürlichen, schrittweisen Vorgang. Herders Theologie besteht nicht darin, die Ansicht des Paulus inhaltlich zu übernehmen, sondern wendet dessen Interpretationsmethode auf Paulus selbst an. Das Bild des Erziehungs-

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VII. Geschichte als Aufklärung

mittels, dort das Gesetz, hier die Bibel, verdeutlicht einerseits den Respekt des Zöglings, andererseits sein Bekenntnis zur Selbständigkeit. Der Gedanke der Erziehung verbindet Kontinuität und Fortschritt. Das Bild des Menschenlebens für die Geschichte unterstreicht, daß jede Zeitspanne einen Wert in sich trägt und zugleich einen Teil im Ganzen ausmacht. 3j. Wenn Herder von der Geschichte eine allmähliche Humanisierung des Menschen erhofft, stellt sich die Frage, ob seine Geschichtsphilosophie überhaupt noch auf dem Boden des Christentums steht. Seine Hoffnung gemahnt an die von Augustinus wie von Luther abgelehnte Lehre des Pelagius, eines britannischen Mönchs, der um 400  n. Chr. verkündete, der Mensch könne sich durch gute Werke die Seligkeit verdienen.38 Diese Theorie konnte dazu führen, die Vermittlung der himmlischen Gnade durch die Kirche, ja die Gnade überhaupt für überflüssig zu erklären, und das wäre eine Auflehnung wie die des Teufels gegen Gott. Der Pelagianismus war die einzige nennenswerte Ketzerei, die nicht aus dem Osten, sondern aus dem Westen stammt. Sie stellt den Menschen gewissermaßen auf die eigenen Füße, und eben das war auch die Absicht der Aufklärer. Hätte man Herder pelagianische Häresie vorgeworfen, so hätte er sich vermutlich damit gerechtfertigt, daß er hier über historia humana, nicht über historia divina rede, über Fortschritt auf Erden und nicht über den Weg zur ewigen Seligkeit, an dem er durchaus festhielt.39 3k. In seinen ›Briefen zur Beförderung der Humanität‹ von 1795/96 akzentuiert Herder den technischen Fortschritt. „Die Menschen schaffen sich immer mehrere und bessere Werkzeuge; sie lernen sich selbst einander immer mehr und besser als Werkzeuge brauchen. Die physische Gewalt der Menschheit nimmt also zu.“ Das zeigt sich an der Entwicklung der Maschinen. Der „Geist der Erfindungen“ scheint „unbeschränkt und fortschreitend“. Das führt zu einem „Wettkampf menschlicher Kräfte“. Einen „Konflikt aller Völker unserer Erde“ sieht Herder voraus, der Grund dafür sei gelegt. Kriege und Katastrophen, die der Mensch sich selber oder die Natur ihm zufügt, sind jedoch keine Einwände gegen den Fortschritt, sondern ­Mittel desselben. Denn: „zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle gelangt.“ Hindernisse sind ihm „in den Weg gelegt, damit er sie überwinde“. Die Not ist das „Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibet.“ Das gilt ebenso für die Laster und Leidenschaften der Menschen; es sind, so wie bei Hegels „List der Vernunft“, Kräfte, die unfreiwillig die Humanität befördern. Sie lehrt Christus, sie ist Sinn und Ziel der Geschichte, auch wenn es unerreichbar ist. Moralisch und politisch befindet sich die „Menschheit im ewigen Fortgange und Streben.“ Daher der Aufruf an seine „Brüder“ von 1774 und sein Credo: Speremus atque agamus! Laßt uns hoffen und handeln!40 3l. Bemerkenswert für Herder als Generalsuperintendent ist es, daß er im 84. und 85. seiner ›Briefe zur Beförderung der Humanität‹ die Aufklärung historisch über Frankreich aus dem islamischen Spanien herleitet. Bodin hatte das für den Humanismus getan. Herder schrieb: „Spanien war die glückliche Gegend, wo für



4. Kant und der ewige Friede

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Europa der erste Funke einer wiederkommenden Kultur schlug.“ Dieser Funke sei die „Fröhliche Wissenschaft“ der provençalischen Trobadoren (Erfinder) gewesen. Am Anfang der Aufklärung stand die Poesie. Das erinnert an Boccaccio.41 Ob das zutrifft oder nicht, schlägt nicht zu Buche gegenüber dem Faktum, daß die Aufklärer ihre eigenen Wurzeln teils in antikem, teils in christlichem, teils in islamischem Boden suchten. Die Idee der Humanität stand für sie über den Religionen, über den Völkern, über den Staaten. Sie ist individualistisch und kosmopolitisch zugleich: „Wenn du mußt, so diene dem Staat, und wenn du kannst, so diene der Menschheit.“42

4. Kant und der ewige Friede 4a. Herders Lehrer Immanuel Kant (1724 bis 1804),43 der sein Leben in Königsberg verbrachte, hat seine Philosophie unter die drei Leitfragen gestellt: „Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?“ Jede dieser drei Fragen berührt die Geschichtlichkeit des Menschen. Das was wir wissen können, hängt ab davon, wie gründlich wir das jeweils vorgefundene Erbe an Erkenntnissen aufnehmen und wie weit wir uns selbst aus den alten und neuen Vorurteilen zu lösen vermögen. Das was wir tun sollen, können wir, wenn wir nicht bloß instinktmäßig handeln, vernünftigerweise nur entscheiden im Blick auf das, was die Menschen vor uns getan haben und was die Menschen nach uns vorfinden sollten. Und das, was wir hoffen dürfen, ergibt sich aus unserer Erfahrung, der Einsicht in den Gang der Dinge bisher. Jede der drei Leitfragen verlangt, daß wir unsere Stellung in der Zeit bestimmen, Geschichte bedenken. Sie beantwortet schließlich auch die daraus resultierende Frage „Was ist der Mensch?“44 Begnügen wir uns nicht mit dem gerupften Hahn des Diogenes, so folgen wir Friedrich Schlegel 1798: „Es gibt keine Selbsterkenntnis als die historische.“45 4b. Antworten auf Kants Fragen liefert schon die Bibel. Sie erklärt, daß der Mensch ein nicht ganz gelungenes Abbild Gottes sei, daß unser Wissen Stückwerk bleibe,46 daß wir unseren Nächsten lieben sollen und daß wir auf die Gnade Gottes, auf das Paradies hoffen dürfen. Diese Aussagen werden von Kant nicht verworfen, sondern umgedeutet. Wie die übrigen deutschen Aufklärer wurzelt er fest in der evangelischen Tradition. So zeigt auch sein Geschichtsverständnis trotz allem Kritizismus, trotz aller Rationalität biblische Züge. Deren wichtigster ist sein Gottvertrauen. Es spricht sich am klarsten aus in der vorkritischen Schrift über den Optimismus von 1759. Darin stellt sich Kant auf die Seite von Leibniz mit der Ansicht, daß unter allen möglichen Welten unsere die vollkommenste sei, denn „dem Gott der Götter geziemt kein Werk, als welches seiner würdig ist, d. i., welches unter allem Möglichen das Beste ist.“47 4c. Kant wird geradezu emphatisch: „Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst unwürdig macht, so zu heißen: Heil uns, wir sind! und der Schöpfer hat

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an uns Wohlgefallen.“ Gewiß war sich Kant stets der Unzulänglichkeiten dieser Welt bewußt, aber sie bewiesen ihm nicht mehr Sünde und Satan, sondern waren durch die Freiheit als dem „inneren Principium der Welt“ gebotene Durchgangszustände auf dem Wege zur „moralischen Vollkommenheit“. Sie ist das Ziel der Geschichte und der „allgemeine Zweck der Menschheit“. Wenn dieser „nach dem Verlauf vieler Jahrhunderte“ erreicht sein wird, „so ist dieses das Reich Gottes auf Erden“.48Die Geschichtlichkeit wird somit zum Instrument der Überwindung des scheinbar Fehlerhaften auf Erden, und hierin konnte Kant das Bild des Psalmisten aufnehmen, daß wir durch ein Jammertal hindurch müßten, ohne welches wir keinen Begriff vom Paradiese hätten.49 4d. Die von Herder zu Lessing erkennbare Tendenz, den Fortschritt weniger als Erziehung, mehr als Entwicklung zu deuten, setzt sich bei Kant fort, um dann bei Hegel ihren Abschluß zu erreichen. In der Auffassung von der Bibel als Lehrbuch stimmt Kant mit Herder überein. In seiner Schrift ›Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ von 1793 schreibt Kant: „Die Hül­len, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt. So lange er (der Mensch) ein Kind war, war er ‚klug als ein Kind‘ und wußte mit Satzungen, die ihm ohne sein Zutun auferlegt worden, auch wohl Gelehrsamkeit, ja sogar eine der Kirche dienstbare Philosophie zu verbinden; ‚nun er aber ein Mann wird, legt er ab, was kindisch ist‘. Der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit.“ Kant überträgt hier, in wörtlicher Anlehnung, was Paulus von sich selbst sagt, auf die Geschichte insgesamt.50 Nicht alle Zeiten benötigen denselben Leitfaden; was einer früheren Periode nützte, kann einer späteren schädlich sein. Eine derart historisch-rationale Deutung der Bibel trug dem Königsberger die Ungnade König Friedrich Wilhelms II ein.51 4e. Den engsten Anschluß an das ältere Konzept einer Erziehung des Menschengeschlechts zeigt Kant in seiner Ethikvorlesung von 1781. „Nirgends als durch Erziehung“ sei moralischer Fortschritt zu erhoffen, erst bei den Bürgern, dann bei den Fürsten. Ein Zeichen sind ihm die „Basedowschen Anstalten“, das 1774 im Geiste der Aufklärung gegründete Internat Philanthropin in Dessau.52 1798 verlagerte sich Kants Hoffnung, so in seiner ›Anthropologie‹: „Die Erziehung des Menschengeschlechts im Ganzen ihrer Gattung, d.i. collectiv genommen (universorum), nicht aller Einzelnen (singulorum), wo die Menge nicht ein System, sondern nur ein zusammengelesenes Aggregat abgibt, das Hinstreben zu einer bürgerlichen, auf dem Freiheits-, zugleich aber auch gesetzmäßigen Zwangs-Princip zu gründenden Verfassung ins Auge gefaßt, erwartet der Mensch doch nur von der Vorsehung, d. i. von einer Weisheit, die nicht die seine, aber doch die (durch seine eigene Schuld)



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ohnmächtige Idee seiner eigenen Vernunft ist, – diese Erziehung von oben herab, sage ich, ist heilsam, aber rauh und strenge, durch viel Ungemach und bis nahe an die Zerstörung des ganzen Geschlechts reichende Bearbeitung der Natur, nämlich der Hervorbringung des vom Menschen nicht beabsichtigten, aber, wenn es einmal da ist, sich ferner erhaltenden Guten aus dem innerlich mit sich selbst immer sich veruneinigenden Bösen.“ Die unendliche Perfektibilität der Moral erlaube die Hoffnung auf unendliche Fortdauer der Menschheit.53 4f. Kant verwendet das Bild der Erziehung für den Weg der Menschheit zu einer bürgerlichen, d. h. republikanischen Staatsordnung, die das Prinzip der Freiheit aller mit Hilfe eines gesetzmäßigen Zwangs gegen Rechtsbrecher schützt. Damit fassen wir eine für Kant spezifische Neuerung: das Ziel der Geschichte wird nicht mehr, wie bei Herder, rein moralisch mit Humanität wiedergegeben, sondern zum ersten Male klar politisch definiert und für erreichbar angesehen. In seiner ›Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‹ von 1784,54 Kants wichtigster Schrift zum Thema, wird der angestrebte Endzustand noch genauer umschrieben. Kant denkt an einen weltweiten von ihm zuerst so genannten (§ 7) „Völkerbund“ republikanischer Staaten, dessen Zweck es ist, Kriege zu verhindern, so wie es die Aufgabe des einzelnen Staates sei, das Faustrecht zu unterbinden. Kant spricht von einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ (§ 5) und von einem „gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnis“ (§ 7). 4g. Kant hat 1795 im Anschluß an das ›Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe‹ und den Vorschlag eines „Völkersenats“ durch den Abbé von Saint-Pierre aus dem Jahre 1713 einen Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹ vorgelegt, der bereits den Text des zwischen den Völkern abzuschließenden Friedensvertrages enthält.55 Die wichtigsten Bestimmungen des Präliminar-Vertrages sind: Respektierung aller Staaten, Abschaffung der stehenden Heere, Verbot von Krediten an andere Staaten, Verzicht auf Feindseligkeiten und auf gewaltsame Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten. Der Definitiv-Vertrag sodann besagt, daß alle Staaten republikanisch verfaßt sein sollen, daß zwischen ihnen ein Bund geschlossen werden soll, der durch ein Weltbürgerrecht jedem Bürger in jedem Staat Gastrechte gewährt. Der ewige Friede ist eine handlungsleitende Idee, die anzustreben, „obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung“, Menschenpflicht sei. Im Anhang behandelt Kant das Verhältnis zwischen Moral und Politik und bestimmt es ebenso evident, wie Machiavelli das Verhältnis zwischen Politik und Erfolg analysierte, weswegen man den ›Principe‹ und den ›Ewigen Frieden‹ zusammen lesen müßte. Den Principe, um zu lernen, wie man Politik macht, den Ewigen Frieden, um zu erkennen, wie und wozu man Politik machen sollte. 4h. Kant glaubt, daß auch der Krieg, die Wurzel aller Übel, letzten Endes den Frieden bringe (Idee § 8). Entweder, meint er, wird sich auf kriegerischem Wege schließlich ein einziger Staat durchsetzen, der alle anderen beherrscht, oder aber die Staaten verzichten freiwillig auf den Krieg. Dies letztere hält Kant für wünschens-

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wert, ja für unvermeidlich deswegen, weil die Rüstung immer teurer und die Kriege immer verheerender würden, und daher, je schrecklicher die Auseinandersetzungen, desto wahrscheinlicher die Einsicht und der Wille der Menschen, sie ein für allemal zu beseitigen. So finden wir eine Schere: Die Verhältnisse werden im gleichen Maße schlechter, wie die Aussicht auf ihre Besserung größer wird. Kant benutzt das pie­ tistische Modell: Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten. Die Menschen selbst, „aus krummem Holze gemacht“, werden sich nicht ändern, die „ungesellige Geselligkeit“ der Menschen (§ 4) und die Mischung von Gut und Böse in den Charakteren hält er für konstant. Wie sie handeln, scheint ihm objektiv unerheblich. Auch wer gegen den Fortschritt angeht, befördert ihn ungewollt; wer aber für ihn eintritt, befindet sich auch subjektiv im Einklang mit ihm. 4i. In der Erziehung des Menschengeschlechts wirkt der Finger der Vorsehung, der die Menschen dahin bringt, wo sie eigentlich alle hinwollen, faktisch aber nicht hinstreben. Auch wenn die Staatsführungen nur egoistisch, d. h. im Interesse der Staatsraison handeln, sind sie gezwungen, meint Kant, die innere Kultur, die Bewegungsfreiheit und den geistigen Austausch zu fördern und damit der Aufklärung in die Hand zu arbeiten, die notwendig zur Befestigung der bürgerlichen Freiheiten führen werde. Ein Staat, der sie unterdrücke, bleibe auf die Dauer nicht konkurrenzfähig. Die Förderung der Aufklärung liege daher im wohlverstandenen Eigeninteresse jedes Staates. 4j. Aus dem gleichen Jahre wie die ›Idee‹, 1784, stammt Kants ›Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung‹.56 „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Kant übernimmt von Paulus die Metapher des Mündigwerdens, der Emanzipation in die Freiheit für den Übertritt vom Stande der Sünde in den der Gnade57 und überträgt sie auf den Übergang von der Fremdbestimmung auf die Selbstbestimmung. Kant fragt, wieso die Menschen noch immer andere für sich denken lassen. Er findet den Grund in der Bequemlichkeit der Regierten und in der Eigensucht der Regierenden. 4k. Vermittelnd wirkt das Geld. Mit dem Geld, das die Menschen unter der Herrschaft ihrer Vormünder verdient haben, bezahlen sie wiederum diese Herrschaft. „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann.“ Kant glaubte indessen an die Überwindbarkeit dieses Zustandes und nennt seine Gegenwart zwar noch nicht aufgeklärt, aber ein Zeit­ alter der Aufklärung. Als wichtigstes Mittel dazu denkt er nicht an eine Revolution, weil diese zwar die Machtverhältnisse, nicht aber die Menschen ändere, und daher keine langfristige Wirkung zeitige. Vielmehr müsse dies über die Erziehung und



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den geistigen Austausch erfolgen, und das sei auch erreichbar. Der Mensch müsse das Stadium der Kindheit überwinden und selbst gehen lernen. Kant wiederholt: „Aufklärung in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen.“ Selbstdenken ist die Maxime der Aufklärung.58 4l. Dieses emanzipatorische Interesse macht Kant zur Richtschnur für die Historie. Er kann kaum geglaubt haben, daß beispielsweise Erasmus und Leibniz sich im Zustand der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befanden und die Aufforderung, selbst zu denken, nötig hatten, zumal die Parole sapere aude! von Horaz stammt.59 Kant hat lediglich die Politik im Auge. Deren Geschichte, so meint er, wäre ein „planloses Aggregat menschlicher Handlungen“, wenn sie nicht durch die Idee des Fortschritts zur Freiheit einen Sinn gewänne. Die allmähliche „Verbesserung der Staatsverfassungen“ müsse der leitende Gesichtspunkt für den Historiker sein. Andernfalls fragt sich Kant, „wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen mögen, zu fassen“ (Idee § 9). Hier wendet Kant die „weltbürgerliche Absicht“ auf die Historiker an. Demgemäß endigt er die oben referierte Passage aus der ›Anthropologie‹: „Übrigens soll und kann die Menschengattung selbst Schöpferin ihres Glücks sein; nur daß sie es sein wird, läßt sich nicht a priori aus den uns von ihr bekannten Naturanlagen, sondern nur aus der Erfahrung und Geschichte mit so weit gegründeter Erwartung schließen, als nötig ist, an diesem ihrem Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern mit aller Klugheit und moralischer Vorleuchtung die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, so viel an ihm ist) zu befördern.“ 4m. Kants bedingte Zuversicht erfuhr eine Bestätigung durch die Zugkraft der Ideen der Französischen Revolution. 1797 verfaßte er seine kurze Schrift: ›Er­neuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?‹ Die Zensurbehörde Friedrich Wilhelms II lehnte die Publikation ab, daraufhin versteckte Kant sie 1798 in seinem umfangreichen Traktat ›Streit der Fakultäten‹.60 Kant stellt fest, daß eine empirische Prognose des Fortschritts unmöglich sei, denn selbst wenn die Menschheit von Anfang bis heute vorwärtsgegangen wäre, könnte sie doch ab morgen wieder rückwärts gehen.61 Vielmehr sei eine solche Voraussage auf eine Einsicht in das Wesen des Menschen zu gründen, die ihrerseits freilich empirischer Indizien bedürfe. Ein solches Symptom nun sah Kant in der inneren Teilnahme der europäischen Völker an der Französischen Revolution. Die Revolution selbst hielt er, was ihre Mittel betrifft, für unklug, ungerecht, ja unmenschlich, aber die Ziele akzeptierte er, und die Welle der Sympathie in Europa gegenüber diesen Zielen wertete Kant als Indiz für die Natur des Menschen. „Ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat.“ Derartiges werde sich wiederholen. Kant vertrat weiterhin einen unbedingten Optimismus:

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„Es ist also ein nicht bloß gut gemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde.“62 Nur müsse man die Menschheit insgesamt im Auge haben. 4n. Kant hat den wichtigsten Grund für seinen Fortschrittsoptimismus aber weder im bisherigen Gang der Geschichte noch im Wesen des Menschen gesucht, sondern in der Vorsehung der Natur. In dem erwähnten Text aus der ›Anthropologie‹ hatte Kant die Vorsehung angeführt als die Erzieherin der Menschheit, und dieser Begriff wird erläutert: „Vorsehung bedeutet eben dieselbe Weisheit, welche wir in der Erhaltung der Species organisierter, an ihrer Zerstörung beständig arbeitender und dennoch sie immer schützender Naturwesen mit Bewunderung wahrnehmen, ohne darum ein höheres Princip der Vorsorge anzunehmen, als wir es für die Erhaltung der Gewächse und Tiere anzunehmen schon im Gebrauch haben.“63 Der für uns mythische Beigeschmack im Begriff „Vorsehung“ scheint herausgefiltert, indem hier nur das Sorge-Prinzip, die „Selbstorganisation“ der Natur übrig gelassen ist. 4o. Zum Verständnis des Gedankens hilft uns die ›Idee‹ von 1784. Dort subsumiert Kant die Geschichte unter die „Naturbegebenheiten“ und sucht sodann nach „Naturabsichten“ in der Geschichte. Zu diesem Zweck bestimmt er einen Wesenszug der Natur durch den Begriff der Teleologie, der zielgerichteten Entwicklung. Eine solche findet Kant, wie schon Aristoteles, in den Lebensläufen der einzelnen Organismen. „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (§ 1). Wäre dies nicht das Ziel der Natur, so wäre sie trostlos. Hatte Lucrez aus der Vergänglichkeit der einzelnen Lebewesen auf die Vergänglichkeit der gesamten Natur geschlossen, so schließt Kant von der Zweckmäßigkeit in der Individualentwicklung auf die Zweckmäßigkeit der Totalentwicklung. 1728 hatte Christian Wolff den Begriff „Teleologie“ für die Natur­ betrachtung geschaffen, und er eignete sich ebenso für das Geschichtsdenken. So bei Kant. Nachdem er induktiv von der Teleologie im Einzelwesen auf die Teleologie der Natur insgesamt gefolgert hat, wird deduktiv aus der Teleologie der Natur die Teleologie der Gattungen und damit auch die Teleologie der Menschengeschichte abgeleitet. Kant stellt fest, daß die Vernunft sich im Einzelnen nicht entfalten kann, weil die politisch-gesellschaftlichen Machtverhältnisse die Kommunikation verzerren – wie Habermas das ausdrücken würde –; er stellt weiter fest, daß die Vernunft als Naturanlage dennoch dazu vorgesehen sei, sich völlig zu entfalten, und kommt zu dem Resultat, daß das, was in der geistigen Entwicklung des Individuums bisher nicht möglich war, in der Geschichte der Gattung zu erwarten sei. 4p. Der Glaube an die Vorsorge der Natur ist eine säkularisierte Form des Glaubens an die Güte Gottes. In diesem geschichtsphilosophischen Naturbegriff läßt sich sogar eine Trinität entdecken: Denn die Entwicklung geht von dem realen tie-



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rischen Urzustand der rohen Natur (1) durch die Vorsehung der höheren Natur (2) zur idealen Natur (3) des dermaleinst voll entwickelten Menschen. Kant vertraute auf das glückliche Ende gemäß der Denktradition der Heilsgeschichte und wußte das: „Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben“ (Idee § 8). Unumwunden heißt es 1784: „Man kann aber mit Grunde sagen, daß das Reich Gottes zu uns gekommen sei, wenn auch nur das Prinzip des allmähligen Überganges des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion und so zu einem (gött­ lichen) ethischen Staat auf Erden allgemein und irgendwo auch öffentlich Wurzel gefaßt hat: Obgleich die wirkliche Errichtung desselben noch in unendlicher Weite von uns entfernt liegt.64

5. Condorcet und Comte 5a. Die geschichtsphilosophische Fortschrittslehre der Aufklärung hat in Deutschland mit Kant ein Ende gefunden. Der wesentliche Grund hierfür waren die Exzesse der Französischen Revolution, die stärker beeindruckten als deren Ideale. Wenn aus den Vernunftprinzipien die Schreckensherrschaft der Guillotine herauswachsen konnte, dann mußte an dem optimistischen Zukunftsbild etwas geändert werden. Das sah man in Frankreich zuweilen anders. Zu den entschiedensten Vorkämpfern der Revolution gehörte der Marquis de Condorcet (1743 bis 1794). Von Hause aus Mathematiker, wurde er als Schüler von Turgot zum Fortschrittsdenker. Condorcet gehörte zu den Enzyklopädisten, 1792 wurde er als Anhänger Dantons Präsident der Gesetzgebenden Nationalversammlung. Nach dem Sturz der Gironde 1793 mußte er untertauchen, wurde aber verhaftet und starb unter ungeklärten Umständen 1794 im Gefängnis. La Révolution dévore ses enfants. 5b. Nach seinem Sturz, im Untergrund, schrieb Condorcet sein Bekenntnis zum unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit. Diese ›Esquisse d‘un tableau historique des progrès de l‘esprit humaine‹ erschien 1795 und hat zur postumen Rehabilitierung des Verfassers durch den Konvent geführt. Im Gegensatz zu der christlichen Lehre von der Erbsünde, die im Menschenbild der deutschen Aufklärung noch durchschimmert, erklärte Condorcet, so wie zuvor Rousseau, der Mensch sei gut von Natur und unbegrenzter Vervollkommnung fähig. So wie nicht nur Lessing und Herder, sondern auch Pascal,65 verglich er wieder die Entwicklung der Menschheit als ganzer mit den Lebensaltern des Einzelmenschen; so wie Kant übertrug er das Entwicklungsprinzip einer teleologisch gedeuteten Natur auf die Geschichte.66 Damit erschien der Fortschritt als das notwendige Bewegungsgesetz, das sich trotz vorübergehender Rückschritte nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung vollziehe. Die von Condorcet verbesserte statistische Methode empfahl er als mathématique sociale für die Politik und die Prognose.67 5c. Condorcet gliederte die vergangene Geschichte in neun Abschnitte: Er be­­ ginnt mit der frühesten Vergesellschaftung (1), gefolgt vom Übergang zu Viehzucht

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und Ackerbau (2). Nach den technischen Fortschritten bis zur Erfindung der Schrift (3) behandelt er die Griechen bis zu Alexander (4) und die weiteren Errungenschaften bis zur Entstehung des römischen Rechts (5). Condorcet verbindet die Verbreitung des Christentums mit der Dekadenz der antiken Kultur bis zum Zeitalter der Kreuzzüge (6); es folgen der Neuaufstieg bis zur Erfindung des Buchdrucks (7) und die allmähliche Befreiung des Geistes von kirchlichen und weltlichen Autoritäten (8). Die letzte Phase eröffnet Descartes, sie kulminiert in der Begründung der République Française (9). Nun steht Condorcet an der Schwelle zu einer ganz neuen Zeit des Fortschritts (10). Die Vollendung steht bevor.68 5d. Als Ziel des Fortschritts bestimmte Condorcet ein „Elysium“, als Inhalte sah er die drei für alle aufgeklärten Menschen gültigen Ideale der Revolution und danach die Technik und die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Politik, kurz: das Menschenglück. Allenthalben Fortschritt, außer – wie zumeist – in der Kunst. Felsenfest war er überzeugt davon, daß die Unterschiede zwischen den Ständen und Völkern verschwänden, daß sich die Gleichberechtigung der Religionen, der Geschlechter und Klassen durchsetzen werde, daß die Menschen klüger, besser und gesünder würden. Freiheit und Vernunft würden auch bei den Kolonialvölkern Fuß fassen.69 Condorcet forderte Wahlrecht und Bildung für alle, Abschaffung der Todesstrafe und der Sklaverei und die Einführung einer internationalen Kunstsprache für die Wissenschaft,70 die von Leibniz geplante lingua universalis. 5e. Condorcet vertraute auf die Globalisierung: Der Handel verbinde die Völker der Welt, und die aufgeklärten Menschen wirkten als Freunde der Humanität gemeinsam und erfolgreich für die Perfektion und das Glück der Menschheit. Die rückständigsten Völker fand er in Afrika, die fortgeschrittensten in Anglo-Amerika und Frankreich. Suchen die deutschen Aufklärer die Gewähr für den Fortschritt in einer höheren Macht, die aus dem christlichen Gottesgedanken stammt, so ist dies bei dem atheistischen Revolutionär Condorcet nicht mehr der Fall.71 Bevor man an übernatürliche Kräfte denkt, solle man nicht nur das Ungenügen der bekannten natürlichen Kräfte in Rechnung stellen, sondern auch sicher sein, daß der menschliche Geist auch künftig keine entdecken werde.72 Eine ironische Forderung! * 5f. Condorcet hat August Comte (1798 bis 1857) beeinflußt, den Vater des Positivismus.73 Dieser Begriff ist mehrdeutig, aber alle Varianten hängen irgendwie mit dem rationalistischen, antimetaphysischen und optimistischen Konzept seines Autors zusammen. So wie Condorcet war Comte von Haus aus Mathematiker und Mechaniker, und dies prägte sein Wissenschaftsideal. Es führte zur Konzeption einer sozialen Physik. Als Sekretär von Saint-Simon lebte Comte in der Gedankenwelt der frühsozialistischen Gesellschaftsreformer, und dies verlieh seinen geschichtsphilosophischen Bemühungen einen praktischen Akzent. Entsetzt über das intellektuelle Chaos gegensätzlicher Ansichten, suchte er nach einer Erklärung



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für die geistige Anarchie seiner Zeit und nach Wegen ihrer Überwindung. Sein Ziel war die Errichtung einer harmonischen, organischen Gesellschaftsordnung auf rational naturwissenschaftlicher Basis. In seinem Hauptwerk ›Cours de philosophie positive‹74 hat er 1839 für die historisch-politische Gesellschaftswissenschaft den Namen sociologie benutzt75 und gilt daher als der Begründer dieser Disziplin. Das lateinische Wort socius kommt von sequor – „folgen“, eine societas ist demgemäß ursprünglich eine Gefolgschaft, keine Gesellschaft, die sich etymologisch von „Saal“ herleitet. 5g. Comte hat 1844 in seinem ›Discours sur l‘esprit positif‹ wieder auf die ­Parallele hingewiesen, die zwischen der Einzelentwicklung des Menschen und der Gesamtentwicklung der Menschheit bestehe.76 Dieser Gleichlauf wird an den einzelnen Lebensaltern erläutert. Sie hatte er schon in seinem Hauptwerk in drei Stufen geteilt: die Theologie der Kindheit, die Metaphysik der Jugend und die Physik des Mannesalters. Dieses von Turgot und Condorcet übernommene „Dreistadiengesetz“, loi des trois états, gelte ebenso für die Menschheitsgeschichte. Comte meinte, daß sie sich in drei Schritten entwickelt habe. Der erste sei gekennzeichnet durch religiöses Denken, das vom Fetischismus über den Polytheismus zum Monotheismus führe. Letzterer erscheint als Verfallsprodukt der „anfänglichen Philosophie“, und damit entspricht das erste Stadium dem Altertum unter Einschluß des Christentums bis zur Hochscholastik. Das zweite Stadium des Geistes bezeichnet Comte als metaphysisch. Man berief sich nun auf abstrakte Prinzipien. Diese Zeit umfasse die „letzten fünf Jahrhunderte“, also etwa von 1300 bis 1800.77 Comte kennzeichnet sie zudem durch Klerikalismus, Militarismus und Feudalismus.78 Das sei nun glücklich überwunden. Der dritte und höchste Zustand der Menschheit sei das positive, realistische Zeitalter, beginnend mit der noch anhaltenden „sozialen Krise“ Europas seit der Französischen Revolution.79 Vernunft und Wissenschaft hätten endlich die Führung übernommen und eröffneten uns gemäß den „Gesetzen des Fortschritts des menschlichen Geistes“ eine glänzende Zukunft.80 Wahlspruch des Positivismus war Savoir pour prévoire, afin de pourvoir: Wissen erwerben, um voraussehen und versorgen zu können.81 5h. Comtes Dreistadiengesetz entspricht dem Dreischritt der Hegelschen Dialektik, da der zweite Zustand die Negation des ersten und der dritte die Negation der Negation darstellt und wieder positiv wird. Gemäß dem klassischen Konzept der Rückkehr auf höherer Ebene – bei Milton Paradise Lost, Paradise Regained – bringt der Endzustand erneut die geistige Einheit des Anfangszustandes, bloß nicht auf dogmatisch-religiöser, sondern auf rational-wissenschaftlicher Grundlage. So wie der soziale Fortschritt den Aufstieg vom Tier zum Menschen fortsetze82 und der geistige Fortschritt in der Entwicklung der Naturerkenntnis bestehe, so bringe das Ende der Geschichte die Herrschaft der exakten Disziplinen über alle Bereiche des Lebens. Der Fortschritt vollzieht sich nach Comte – ähnlich wie bei Kant, dessen ›Idee‹ er schätzte –, mit naturgesetzlicher Notwendigkeit.

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5i. Ausführlicher als irgendein anderer Geschichtsphilosoph beschreibt Comte die Zukunftsgesellschaft, die mit seiner Hilfe entstehen werde. Räumlich umfaßt sie zunächst Kerneuropa, nämlich die „fünf großen Nationen, die gegenwärtig die auserlesenen der Menschheit sind“: Frankreich, England, Italien, Deutschland und Spanien.83 Sie verbindet der gemeinsame Ursprung im Reich Karls des Großen. Darauf beschränkt Comte den Radius zunächst, der später auf die Menschheit insgesamt ausgeweitet werde. Vorbild für die Struktur der künftigen Gesellschaft ist die Sozialordnung des – nun allerdings entgötterten – mittelalterlichen Katholizismus;84 doch zeigen sich zugleich deutliche Entsprechungen zum Idealstaat Platons. Dessen Philosophenkönige erscheinen bei Comte als die „neue geistliche Gewalt“, bestehend aus den durch ihre Begabung ausgezeichneten Philosophen und Wissenschaftlern, sowie, unter ihnen angeordnet, aus Künstlern und Literaten. Diese herrschende „spekulative Klasse“ ergänzt sich selbst „durch strengste Auswahl“85 und vervollkommnet den Typus Mensch.86 Sie genießt die höchste Autorität, verwaltet die Moral87 und sorgt durch ein umfassendes gesamteuropäisches Erziehungssystem für die Durchsetzung des positiven Geistes und des „europäischen Patriotismus“. Zugleich hat sie die „weitere Entwicklung des menschlichen Geistes zu überwachen“ und die „Müßiggänger“ nebst den Relikten aus dem theologischen und dem metaphysischen Zeitalter auszumerzen.88 5j. Die arbeitende Klasse, d. h. die große Mehrheit der Europäer in Comtes „positiver Hierarchie“, beginnt zuunterst mit den Bauern, darüber stehen die Fabrikanten und über diesen die Kaufleute. „Die erste Stelle nehmen die Bankiers ein“, ihnen kommt mit der „weltlichen Gewalt“ die politische Führung zu.89 Sie sorgen dafür, daß die Vermögensunterschiede keinen Unmut erzeugen, der ohnedies nicht zu erwarten ist, da es keine persönlichen Rechte, nur allgemeine Pflichten gibt.90 Privatsphären sind ausgeschlossen, und überhaupt wird die Nächstenliebe über den Egoismus gesiegt haben.91 Die Idee Condorcets von der Gleichwertigkeit der Frau hält Comte für eine naturwidrige Chimäre.92 Das unterscheidet ihn von Platon.93 Mit der Herstellung der neuen Gesellschaftsordnung verläßt der Mensch das Stadium der unmündigen „Kindheit“.94 Die Metapher kennen wir von Kant. Das Bild der Lebensalter läßt freilich auch den Tod erwarten. Comte scheut vor dieser Konsequenz nicht zurück. Wie der individuelle Organismus sei auch der gesellschaftliche irgendwann dem Untergang geweiht.95 Die nähere Zukunft aber ist progressiv auf allen Gebieten, ist – mit Popper zu sprechen – eine „geschlossene Gesellschaft“, getragen von der „freien Zustimmung zu einer gemeinsamen Lehre“ – dem Posi­ tivismus,96 verkündet 1867 bis 1914 in der Revue Positiviste. 5k. Obschon Comte mit seinem positivistischen Wissenschaftsbegriff die rationale Tradition der Aufklärung fortführte, und die „dumme Betrachtung der göttlichen Majestät“ für die „transzendente Lähmung des Verstandes“ verantwortlich machte,97 glaubte er dennoch dem religiösen Bedürfnis seiner Anhänger insofern ein Zugeständnis machen zu müssen, als er seine Lehre in eine kultische Form



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brachte.98 Er wollte sie als die letzte „Religion der Menschheit“ auch emotional hinterfüttern, écarter Dieu comme irreligieux, und verfaßte dazu 1852 einen Katechismus des Positivismus mit strengen liturgischen Vorschriften. Dazu gehörte u. a. eine neue Flagge, ein neuer Heiligenkalender mit Monatsnamen nach historischen Helden – darunter Karl der Große und Friedrich der Große – und Gedenktagen für Leibniz, Kant und Hegel, während Herder und Fichte immerhin als „stellvertretende Tagesheilige“ auftraten. 5l. Diese Pseudoreligion lieferte den Gegnern der Aufklärung das Argument, daß ein unbegrenztes Vertrauen in die menschliche Vernunft zur Selbstvergottung und Selbstanbetung des Menschen führe, wie das der Kult der Göttin Vernunft bei den Jakobinern vor Comte und der Marx-Lenin-Kult im Stalinismus nach ihm bestätigen. Comte verband Impulse der Aufklärung mit der katholisierenden Mittelalterschwärmerei der Romantik. Er hatte sich in seiner Jugend mit dem Philosophen Aristoteles, im Alter mit dem Apostel Paulus verglichen und wurde von seinen Schülern als Heiliger verehrt. Positivistische Gemeinden entstanden in Frankreich, Schweden und den USA; in London gab es zwei comtistische Kirchen und in Brasilien wurde seine religion de l‘Humanité 1890 Staatsideologie.

6. Poppers offene Gesellschaft 6a. Zu den Gegner Comtes zählt Sir Karl Raimund Popper (1902 bis 1994). Er ordnet Comte jenen Denkern zu, die von Heraklit und Platon bis zu Hegel und Marx einen naiven Fortschrittsoptimismus auf die Annahme einer gesetzmäßigen Entwicklung gegründet hätten99. Diese Denkweise nannte Popper „Historizismus“, so wie schon Nietzsche die Geschichtsphilosophie Hegels im Gegensatz zum „Kritizismus“ Kants bezeichnet hatte100. Popper beruft sich auf Kant, der doch vom Fortschritt überzeugt war, aber verwirft verbatim jede geschichtsphilosophische Globaltheorie und erklärt: I disbelieve especially in anything like a law of progress. Gleichwohl verwendet er den Kerngedanken des Fortschritts, die ständige Erweiterung des Wissens, um die Theorie des Fortschritts wegen ihrer angeblichen Unfähigkeit zur Voraussage zu widerlegen. Die künftige Entwicklung beruhe auf dem künftigen Wissen, das wir heute noch nicht besitzen und daher nicht vorhersehen können. Daß wir heute noch nicht wissen, was wir erst morgen erfahren werden, ist treffend erkannt. Daß wir aber heute schon wissen, daß wir morgen mehr wissen werden, ist klassischer Fortschrittsglaube, dem Popper insoweit doch anhängt, und zwar mit Recht. 6b. Zudem bestreitet Popper jede bestimmte Periodenfolge, bietet aber auch seinerseits ein progressives Dreistadienmodell der Menschheitsgeschichte, das sich von Comtes Grundidee nicht wesentlich abhebt. In Anlehnung an Henri Bergson arbeitet Popper mit dem Gegensatzpaar von „offener“ und „geschlossener“ Gesellschaft. Letztere findet er in frühzeitlichen festen Stammesstrukturen, wo das Inter-

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esse der „Horde“ über dem des Einzelnen steht. Muster ist der „totalitäre“ spartanische Kriegerstaat, wie ihn Plutarch in seiner Lykurgvita stilisiert. Dem gegenüber steht die „offene Gesellschaft“ des demokratischen Athen, wie sie Thukydides in seiner Periklesrede idealisiert. Hier findet Popper bei dem „vielleicht größten Historiker, der je lebte“ das „unübertroffene demokratische Glaubensbekenntnis“, die Totenrede des Perikles bei Thukydides,101 Mit ähnlichem Akzent kontrastierte schon Schiller die beiden Systeme 1790 in seinem Aufsatz über die ›Gesetzgebung des Lykurgus und Solon‹.102 6c. Mit der Erfindung der Freiheit durch die Athener eröffnet Popper die zweite Großperiode im Prozeß der Menschheit, erfüllt vom Kampf der Anwälte der open society gegen die Verfechter der closed society. In der Art eines gnostischen Dualismus zwischen Licht und Finsternis geht es bei Popper um die Auseinandersetzung zwischen Liberal und Totalitär, zwischen Fortschritt und Reaktion, zwischen Rationalismus und tendenziell „verbrecherischem“ Irrationalismus103. Jedermann steht gemäß dieser Schwarz-Weiß-Philosophie vor der Wahl zwischen Vernunft und Unvernunft und hat hier eine „moralische Entscheidung“104 zwischen Gut und Böse zu treffen. Popper liefert einen Beitrag zur Ethik der Entscheidung, die mit Herakles am Scheideweg bei Prodikos beginnt, bei Matthäus in dem Wort Jesu liegt „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“, die von den Anhängern Zarathustras gefordert wird und in der Neuzeit zwischen Kierkegaards ›Entweder-Oder‹ und Carl Schmitts Dezisionismus changiert105. 6d. Der Kampf zwischen Poppers Sozialprinzipien ist unerbittlich. Die Feinde der offenen Gesellschaft sind durch christliche Nächstenliebe nicht zu überwinden, vielmehr würde diese Jenen „Tür und Tor öffnen, die durch Haß regieren“.106 Im Dienste der Demokratie ist Gewalt, zuweilen sogar Imperialismus „notwendig“, wie Athen lehrt. Die administrativen und militärischen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Herrschaft über den delisch-attischen Seebund nennt Popper „ziemlich liberal“, ohne die damit verbundenen Brutalitäten107 – so er sie kannte – zu entkräften. Die Ausplünderung der schwächeren Bundesgenossen und der Massenmord an Widerstrebenden waren stets demokratisch legitimiert. Als Ziel der Athener ver­ mutet Popper ein – freilich erst von Alexander dem Großen angedachtes108 – „Commonwealth“ weltweit. Der Versuch Spartas, durch die Einrichtung eine Oligarchie in Athen die „geschlossene Gesellschaft“ wiederherzustellen, konnte laut Popper „unmöglich“ gelingen, eine „Rückkehr in die Vergangenheit“, sei ausgeschlossen. Popper vertritt die These, that our own social world ist the best that has even been. Gemeint ist the Society of the Atlantic Community. Die beste Gesellschaftsordnung für uns ist zugleich die beste für die Menschheit. Der Vormarsch zur „besseren Welt“ der offenen Gesellschaft ist allen Reaktionen zum Trotz unaufhaltsam109. 6e. Popper leitet „unsere abendländische Zivilisation von den Griechen her“. Gemeint sind die Athener unter Perikles. Waren sie doch „die ersten, die den Schritt von der Stammesmoral zu humanitärer Gesinnung taten“. Die Asebieprozesse, die



7. Fortschritt schillert

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Sklaverei und der Schierlingsbecher kommen für Popper nicht in Betracht. Die Athener, meint er, haben „für uns jene große Revolution begonnen, die sich, wie es scheint, noch immer im Anfangsstadium befindet, im Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaftordnung.“ Popper hätte es wohl gern gesehen, wenn die Demokratie Athens unmittelbar in die der Moderne übergegangen wäre. Sobald die wohl auf dreitausend und mehr Jahre zu veranschlagende „Revolution“ vollendet sein wird, tritt die Menschheit in ihr drittes Stadium ein, das der offenen Gesellschaft. Dann verwirklicht sich der „neue Glauben an die Vernunft, an die Freiheit und an die Brüderlichkeit aller Menschen“, wie es der von Popper angenommenen „großen Generation“ um Thukydides vorschwebte. Sie bildet einen „Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit“.110 Poppers Polemik gegen die trügerischen „Heilsversprechen“ der totalitären Ideologen basiert auf dem „zuverlässigen“ Heilsversprechen der triumphierenden Demokratie. Wie aber verträgt sich die Prognose der offenen Gesellschaft mit der Annahme einer offenen Zukunft? 6f. Bis das von Popper anvisierte „Endstadium“ der offenen Gesellschaft erreicht sein wird, leiden wir unter „Selbstentfremdung“.111 Kommt hier Hegel durch die Hintertür? Mitnichten! Denn der kritische Rationalist stellt gegen Hegel fest: „Es gibt keine Geschichte der Menschheit.“ Und dessen ungeachtet „hat sie keinen Sinn“. Sie verläuft selbsttätig; der entscheidende Schritt zur Freiheit geschah naturwüchsig, unbeabsichtigt. Denn die Revolution der Athener wurde „natürlich nicht bewußt herbeigeführt“, sondern ergab sich, gut positivistisch, einfach aus dem „Wachstum der Bevölkerung“ und ihrer Seefahrt. Wir heute aber, so lernen wir, müssen die große Revolution bewußt vollenden, „indem wir jene demokratischen Institutionen verteidigen und stärken, von denen die Freiheit und mit ihr der Fortschritt abhängt“, an den Popper nun doch glaubte. Das verbindet ihn mit den Vertretern der Modernisierungstheorien in Amerika, die bei sich zuhause das Entwicklungsziel aller Völker erreicht sehen und das, so wie die Athener, mit den Waffen beglaubigen.112 4g. Poppers Zukunftsideale ähneln denen des von ihm als „Clown“ geschmähten Hegel. Dessen Rechtfertigung Gottes durch die Theodizee, und Nietzsches Rechtfertigung des Lebens durch die Ästhetik113 erscheint bei Popper als Rechtfertigung der Geschichte durch die Demokratie. Sein Schlußsatz lautet: Gelänge es uns, die „Macht“ zu kontrollieren, „könnten wir sogar die Geschichte rechtfertigen. Sie hat eine solche Rechtfertigung dringend nötig.“114 So die Botschaft aus Neuseeland.

7. Fortschritt schillert 7a. Der Fortschrittsglaube der Aufklärer hatte seit der Terrorherrschaft der Jako­ biner in Paris sein Janusgesicht offenbart. Das zeigt Schiller. Er läßt erkennen, wie die Aufklärung sich überschlug. In seiner Jenenser Antrittsvorlesung115 als Professor der Geschichte vom 26. Mai 1789 ›Was heißt und zu welchem Ende studiert man

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VII. Geschichte als Aufklärung

Universalgeschichte?‹ zeigt er noch ungebrochen Optimismus. Er skizziert die Entwicklung vom barbarischen „ungeselligen Höhlenbewohner“ à la Polyphem116 zum zivilisierten „gebildeten Weltmann“. Dabei kontrastiert er das primitive, vom Aberglauben geprägte Leben der Wilden, ohne Eisen, ohne Ehe, ohne Eigentum, wovon die Seefahrer berichten, mit dem kulturschaffenden und kulturtragenden „Mittelstand“, dem vom Bürgertum herbeigeführten „Zeitalter der Vernunft“ in „unserem menschlichen Jahrhundert“ des Friedens, der Freiheit, des Fortschritts auf allen Gebieten, da „alle denkenden Köpfe“ ein „weltbürgerliches Band“ verknüpft, wenigstens in der „großen Familie“ der europäischen Staatengesellschaft. Die Weltgeschichte wäre ein „Aggregat von Bruchstücken“, verbände sie der „philosophische Verstand“ nicht zu einem „vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen.“ Er nimmt die „Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge“. Schiller erkennt ein „teleologisches Prinzip“ darin, wie die Natur die „Kräfte des Menschen“ entwickelt, wie – wieder gemäß der „List der Vernunft“ – auch niedere Beweggründe vortreffliche Zwecke befördern, wie die Vergangenheit unbewußt und ungewollt die Gegenwart ermöglicht hat. Unsere Schuld gegenüber früheren Generationen müssen wir durch Leistungen für die künftigen abtragen und als „mögliches Ziel“ eine Weltordnung ins Auge fassen. 7b. Sieben Wochen später stürmten die Massen in Paris die Bastille. Schiller war zunächst wie so viele klare Köpfe von ihren Idealen begeistert, ehe die terreur von 1793/94 für Ernüchterung sorgte. Am 9. September 1792 hatte ihn die Assemblée Nationale in Paris zum Ehrenbürger von Frankreich gekürt. Doch Schillers Zuversicht wankte. Im 24. seiner 1795 publizierten Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen skizzierte er ein welthistorisches Dreiphasenschema, das zugleich die Entwicklung des Einzelnen kennzeichne. Am Anfang herrscht der „physische Zustand“, wo der Mensch in dumpfer Sinnlichkeit seinem Lebenstrieb folgt. Der eigentliche „Anfang der Menschheit“ liegt im Übergang zum „ästhetischen Zustand“, in dem der Formtrieb, der Bildungstrieb, und insbesondere der Spieltrieb die Fähigkeit zur Freiheit entwickeln. Dies ermöglicht den dritten, den „moralischen Zustand“, den Eintritt in den „offenen Himmel“ des Gemeinsinns, der Gleichheit, der Freiheit. Soweit folgt Schiller den Idealen der Französischen Revolution. Doch nun macht er die Einschränkung, daß der Mensch zu allen Zeiten „das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur“ vereine. Das Tierische in ihm bleibt stets erhalten – hat es sich nicht soeben in Paris gezeigt? 7c. Im gleichen Jahr 1795 verfaßte er seine lange Elegie ›Der Spaziergang‹.117 Darin verbindet er einen liebevoll beschriebenen Weg durch reizvolle Landschaft mit einem Gedankengang durch die Zivilisationsentwicklung vom einfachen, naturnahen Leben auf dem Dorf in einem idealisierten Arkadien zum kultivierten Dasein in der Stadt, wo die Künste blühen. Herder spricht in seinem Brief an Schiller vom 10. Oktober 1795 von „einem fortgehenden, geordneten Gemälde aller Szenen der Welt und der Menschheit.“ Ganz im Sinne Rousseaus, den er 1782



7. Fortschritt schillert

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bedichtete,118 werden von Schiller mit der Lösung des Menschen aus der urtümlichen Bindung an die „fromme“, die „heilge Natur“ jetzt aber auch die finsteren Seiten des Fortschritts benannt. Denn wie Kant sah Schiller in der Zivilisierung noch keine Moralisierung, da „wir noch immer Barbaren sind“. Das Maß fehlt. „Freiheit! ruft die Vernunft und Freiheit! die wilde Begierde.“ Es folgen die Unterdrückung der echten Empfindungen, die Unaufrichtigkeit der Konvention, die Reglementierung durch Vorschriften und die Gewaltausbrüche der Politik. Dann aber erwacht die Natur, es kommt zu Katastrophen, bei der Städte zu Asche werden und der Mensch, verarmt aber gerettet, zu der verlassenen Flur zurückkehrt. 7d. 1795 schreibt der Dichter: „Wir waren Natur ... und unsere Cultur soll uns auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit zur Natur zurückführen.“119 Die damit verbundenen Hoffnungen werden durch die Auswüchse der Französischen Revolution bedroht, die Schiller 1797 am Ende des ›Lieds von der Glocke‹ benennt. Und 1799 heißt es, der Glaube an die „goldene Zeit, wo das Rechte, das Gute wird ­siegen“, sei ein ›Wort des Wahns‹. Es gibt kein irdisches oder himmlisches End­ paradies. Denn die Weltgeschichte ist selbst schon das Weltgericht, und zwar in Permanenz, wie es schon im Gedicht ›Resignation‹ von 1786 steht.120 Ein Trost bleibt. So wie Augustin in seiner Glaubensgewißheit den Freispruch im Jüngsten Gericht vorwegnahm, wird Schiller schon jetzt durch die Betrachtung der Natur der Einheit mit ihr teilhaftig. Denn am Ende des ›Spaziergangs‹ heißt es: „Die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns.“ 7e. Der säkulare Chiliasmus der Aufklärung wurzelt so wie Augustins Heilslehre in einem Trostbedürfnis angesichts der Unzufriedenheit mit der jeweiligen Lage. Dennoch hat der Fortschrittsglaube gegenüber dem christlichen Erlösungsgedanken den Nachteil, daß er nur den Späteren etwas verspricht. Paulus erklärte seinen Glaubensbrüdern, durch ihre Auferstehung würden auch diejenigen Frommen der Seligkeit teilhaftig, die vor dem Anbruch des Weltendes stürben. Niemand kommt zu kurz. Kant hingegen spürt ein begreifliches Befremden bei dem Gedanken, daß nur die letzten Menschen das Glück haben sollen, im friedliebenden Völkerbund ihre Vernunft entfalten zu dürfen, während die früheren Generationen, die vielleicht am meisten für den ewigen Frieden getan haben, um ihren Lohn betrogen, gewissermaßen verheizt werden.121 Das traurige Ende Condorcets im Kerker von Bourg-la-Reine stellt diese Frage. Das ungelöste Problem der Fortschrittsidee heißt: welchen Sinn haben ihre Opfer? Darauf hat die Aufklärung keine Antwort. Sie gab erst Ranke mit dem Historismus: Jede Epoche sei unmittelbar zu Gott. Doch muß man hier Walther von der Vogelweide, seinen Kommentar zum Blumenorakel zitieren: dâ hoeret ouch geloube zuo.

Ein philosophischer Charlatan hätte doch wohl niemals die Wirkung auszuüben vermocht, welche Hegel in seiner Zeit und weit über Deutschland hinaus gehabt hat. Gregorovius 1887

VIII. Der Historische Idealismus a. Am 21. Januar 1793 wurde König Ludwig XVI im Namen der Vernunft. guillotiniert. Die Zeit danach war innenpolitisch durch die terreur, außenpolitisch durch die Koalitionskriege gekennzeichnet. Das Erbe der Revolution übernahm Napoleon, der das Kaiserreich der Vernunft auf den Spitzen seiner Bajonette errichten wollte. Die Opfer Robespierres zählen nach Tausenden, sein Leichnam wurde in ein Massengrab geworfen. Die Opfer Napoleons zählen nach Hunderttausenden, sein Leichnam erhielt das prachtvollste Mausoleum, das je in Europa gebaut wurde. Zeigt hier die Vernunft ihr wahres Antlitz? Jedes Gesicht ist ein halbierter Janus. – Die Ziele der Revolution waren aus der Aufklärung erwachsen, die Mehrzahl der Gebildeten Europas fand sie gut. Nun aber wandten sich die meisten Denkenden von der Bewegung ab. In der Frage, wie die Begeisterung für die Vernunft in die Bereitschaft zum Massenmord umschlagen konnte, scheiden sich die Geister bis heute. War das eine paradoxe Perversion der Vernunft oder eine logische Konsequenz ihrer Verabsolutierung? b. Gegen die kompromittierte Rationalität wandte sich die Romantik, die Ge­­ genströmung zur Aufklärung. Sie brachte eine Bewegung, die sich von der Vernunft auf das Gefühl, aus der Aktion in die Kontemplation zurückzog, die nicht mehr von der Zukunft schwärmte, sondern von der Vergangenheit träumte. Die Vorliebe für die Antike wurde durch eine Rehabilitierung des Mittelalters ergänzt. Gegen den Imperialismus Napoleons richtete sich der deutsche Nationalismus der Freiheitskriege, der durch die Restauration des dynastischen Gottesgnadentums 1815 nur vorübergehend aufzuhalten war. Gegen den Materialismus der französischen Aufklärer stemmte sich der deutsche Idealismus, der dem Kosmopolitismus das Ja zum Volksstaat entgegensetzte1 und mit der Romantik das Ja zur Kontemplation teilte. Schelling schrieb das stolze Wort: „Der Idealismus ist das allgemeine System unserer Zeiten.“2 c. Die idealistische Philosophie in Deutschland beruht auf der platonisch-christlichen Denktradition. Platon3 hatte im Höhlengleichnis die Phänomene als Schattenbilder der Ideen beschrieben, die wir erst erkennen, wenn wir aus der Höhle der landläufigen Meinungen heraustreten und die Dinge sozusagen mit geistigen Augen betrachten. Der Apostel Paulus bezeichnete unser Wissen als Stückwerk, als Spiegelbild der göttlichen Wahrheit, deren wir erst teilhaftig werden, wenn wir aus dem



1. Volksgeist bei Herder und Fichte

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alten Aion in den neuen übergegangen sein werden.4 Beide Male wird unterschieden zwischen dem Schein und dem Wesen der Dinge, zwischen der Sache und dem Bild, das jene ausdrückt, ohne mit ihr identisch zu sein. d. Der Grundgedanke des Idealismus ist nachvollziehbar. Alles, was in Sprache erscheint, beruht auf Bewußtsein. Das Bewußtwerden prägt das Bewußte. Der immer vorhandene subjektive Faktor ist nach Art und Umfang unterschiedlich und ein Problem nicht nur für die Wissenschaften, sondern bereits für deren methodische und philosophische Voraussetzungen. Kant hatte gezeigt, wie die sprachlichen Resultate des Denkens auf dem dafür erforderlichen gedanklichen Instrumentarium beruhen. Die dabei wirkenden regulativen Ideen wurden vom Idealismus zu konstitutiven Potenzen erhoben und durch die Identitätsphilosophie in ein oberstes Prinzip verschmolzen, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind. Wie schon bei Anaxagoras und Plotin erschien alles Reale als Erzeugnis von Geist,5 vom Geist des Menschen, vom Geist der Zeit, vom Geiste Gottes. Der durch Fichte in seiner Wissenschaftslehre aus dem Todesjahr Kants 1804 begründete spekulative Idealismus inspirierte Hegel und faszinierte noch Benedetto Croce, wenn er schrieb, daß „eine Tatsache geschichtlich ist, insofern sie gedacht wird“ und fortfährt, daß „außerhalb des Gedankens nichts existiert.“ Geschichte spielt sich nicht in der Zeit ab, sondern, so wie diese, ohne Anfang, ohne Ende, nur gegenwärtig in den Köpfen.6 Damit spricht Croce freilich auch sich selbst eine reale Existenz außerhalb seines Kopfes ab, vermutlich zu Unrecht. Ein vorläufig letztes Aufleuchten dieses, nun freudianisch gefärbten Gedankens steht hinter dem linguistic turn von Hayden White 1987.7 e. Der deutsche historische Idealismus nimmt demgemäß an, daß die Geschichte die allmähliche Verwirklichung eines vorgegebenen Konzepts, die fortlaufende Offenbarung eines geistigen Prinzips sei, daß in den geschichtlichen Erscheinungen ein irgendwie göttliches Wesen zum Ausdruck komme. Dabei lassen sich zwei Denkschulen unterscheiden: eine Weltgeist-Schule und eine Volksgeist-Schule. Sie setzen unterschiedliche Akzente. Die erste, näher mit der vorangegangenen Aufklärung verbunden, betrachtet die Geschichte als Einheit, ihre Entwicklung als Fortschritt des Weltgeistes. Die einzelnen Völker dienen der Menschheit als ganzer oder sind historisch irrelevant. Diese Ansicht finden wir bei Schelling und Hegel. Die zweite, enger mit dem nachfolgenden Historismus verknüpfte Richtung versteht die Geschichte als einen Völkergarten, in dem die einzelnen Nationen ihren jeweiligen Volksgeist entfalten. Der Fortschritt des Ganzen besteht in der Zunahme an einzelnen Individualitäten. Diese Vorstellung wurde durch Wilhelm von Humboldt ausgearbeitet, aber bereits von Herder skizziert und sei daher zunächst vorgestellt.

1. Volksgeist bei Herder und Fichte 1a. Wenn wir Herder bisher nur mit seinen aufklärerischen Zügen betrachtet haben, so war das ein einseitiges Bild. Denn Herder gehört in gleichem Maße in die

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VIII. Historischer Idealismus

Romantik, die gegen den Kosmopolitismus der Aufklärung den einzelnen Nationen zu ihrem Recht verhelfen wollte. Gegenüber der allein aufs Ganze schauenden Geschichtsphilosophie der Aufklärer hatte Herder einen Blick auch fürs Individuelle. Schon er sah, daß die Phänomene ihres Charakters beraubt werden, wenn sie zu Trittstufen eines „Höheren und Weiteren“ funktionalisiert, ja degradiert werden. 1b. Für die spätere Historie ist Herder namentlich durch den Gedanken des Volksgeistes wichtig geworden. Die Idee von den Volksgeistern entspricht der Lehre von den Völkerengeln, die als Schutzgeister der Nationen amtieren. Diese Vorstellung hat Dionysius Areopagita, ein unbekannter Kirchenautor der Zeit um 500, einerseits aus einer Notiz des Buches Daniel, andererseits aus der neuplatonischen Engellehre entwickelt.8 Diese Geister sind personifizierte Ideen, wie sie laut Herder hinter allen Erscheinungen und daher auch hinter Völkern stehen. Die Vorstellung vom Volksgeist betrachtet die Lebensäußerungen eines Volkes als Ausdruck eines unfaßbaren Prinzips, einer metaphysischen Substanz. Das zugrundeliegende Denkbild entstammt der organischen Metaphorik: so wie der einzelne Mensch in seinen Handlungen seinen Charakter sichtbar zum Ausdruck bringt, so wie die einzelne Pflanze ihren Lebenskeim in reale Formen verwandelt, so spreche sich auch in den Handlungen, Institutionen und Erzeugnissen eines Volkes der betreffende Volksgeist aus. Herder betrachtet die Weltgeschichte als Pflanzengarten, „wo hier diese, dort jene menschliche Nationalpflanze in ihrer eigenen Bildung und Natur blühet.“ Die Vielfalt an Blumen verbildlicht Ordnung und Schönheit in der Völker­ geschichte, die Abfolge der jährlichen Pflanzengenerationen veranschaulicht das Wachsen, Blühen und Welken in den sich stetig erneuernden und verjüngenden Völkern.9 1c. Wie Herder sich den Zusammenhang zwischen der als Einheit begriffenen universalhistorischen Erziehung der Menschheit und der Vielfalt der Völker vorgestellt hat, wird nirgends klar, und man erfährt nicht, wie sich das Ziel der Geschichte am Ende der Zeiten zum Gedanken der individuellen Selbstverwirklichung der einzelnen Völker verhält. Jedenfalls verlören sie im Weltstaat ihre Eigenart. Herder bietet für den Zusammenhalt nur eine Metapher an: „Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde.“10 Man fragt sich, wie das angesichts der ungleichen Startbedingungen zu denken ist und wer denn eigentlich Kampfrichter sein soll, wo doch die Völker selbst laufen. 1d. Herders Hinwendung zu den kleinen, „ungebildeten“ Völkern, den Serben und Balten, den Türken und den Schotten, läßt keine Rangordnung unter den Nationen erkennen. Gewiß wies er den Juden eine Vorzugsstellung am Beginn der Geschichte zu, aber für deren Vollendung kannte er keinen Favoriten. Sein Patriotismus, der sich etwa 1770 in der Ode ›An den Genius von Deutschland‹ ausspricht, begnügt sich mit einem Bekenntnis zu Arminius. Herders multikultureller Ansatz zeigt sich in seiner Sammlung von Volksliedern, in den ›Stimmen der Völ-



1. Volksgeist bei Herder und Fichte

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ker‹. Er sah in diesem, bis dahin unbeachteten Kulturgut einen besonders prägnanten Ausdruck der Volksgeister, ein Zeugnis ihrer „Jugend“. Er sammelte das Material von Indien bis nach Peru. Damit schuf er für kleinere Völker gegenüber dem drückenden Übergewicht der europäischen Zivilisation eine Grundlage ihres nationalen Selbstbewußtseins, das namentlich bei den slawischen Völkern weitreichende Wirkungen für ihr Selbstwertgefühl hatte. Es ist merkwürdig, daß der durch die Europäisierung bedrohte Volksgeist erst wieder durch Europäer belebt werden mußte, daß bei aller Zerstörung alter kultureller Substanz durch die Europäer eben diese doch wieder den Völkern zu einem Verständnis ihrer Eigenständigkeit verholfen haben, nachdem die Völker ihre eigenen Kulturdenkmäler teilweise in empörendem Ausmaße vernachlässigt oder gar zerstört hatten. * 1e. Der deutsche Patriotismus entzündete sich an Napoleon. Die Demütigung bei Jena und Auerstedt weckte das Bedürfnis nach einem Ausgleich auf höherer Ebene, und ihn lieferte, erfüllt vom „Geist der Deutschheit“ Johann Gottlob Fichte (1762 bis 1814) mit seinen öffentlichen ›Reden an die deutsche Nation‹ 1804 bis 1808 im Runden Saal der Berliner Akademie.11 Zwar verwirkliche sich in jedem Volkstum eine Idee des Göttlichen, doch gebühre unter allen neueren Völkern den deutschen Jünglingen der „Vorschritt in der Entwicklung“ zur menschlichen Vervollkommnung. „Versagt ihr, so ist alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel dahin.“12 1f. Die Sonderstellung der Deutschen begründet Fichte mit ihrer Sprache. Während die Franzosen und in geringerem Grade auch die Engländer durch die lateinische und römische Tradition überfremdet worden seien, hätten die Deutschen ihre ursprüngliche Sprache rein bewahrt, und das erhebe sie – neben den Juden und Griechen – in den Rang eines Urvolkes. Da Juden und Griechen aber bereits die Bühne verlassen haben, bilden die Deutschen den letzten Rest des „ursprünglichen Normalvolkes“, das einst im „Zustande der vollkommenen Vernunftkultur“ lebte. Sie waren von Gott dazu ausersehen, das von den romanischen Völkern verfälschte Christentum in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen. Das war die Leistung Luthers. So falle seinen Landsleuten die Aufgabe zu, mit dem Deutschen Reich das Vernunftreich, ja, das ewige Reich Gottes auf „unserer Kugel“ zu verwirklichen.13 Fichte erblickt die „Morgenröte der neuen Welt“. Er fordert eine Erziehungsreform in seinem Sinne, so wie das nach Platon auch Rousseau und Kant getan haben. Dadurch will er den „deutschen Namen zum glorreichsten unter den Völkern erheben“. So werde die Nation, sittlich gereinigt, Wegweiserin für die Menschheit, ja „Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt“.14 1g. Fichtes biblisch und kantianisch gefärbter „Weltplan“ wird bestimmt durch Gott, philosophisch neutralisiert durch den allem „innewohnenden ewigen Geist der Zeiten und Welten“. Die Annahme einer „toten Natur am Ruder der Weltregierung“

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VIII. Historischer Idealismus

erklärt Fichte für „undeutsch“, desgleichen die Vorstellung von „Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz“.15 Die Menschheit durchläuft in fünf Etappen auf dem Wege fortschreitender Kultur, ausgehend vom Stande der paradiesischen Unschuld und der instinktgeleiteten Vernunft, ein langes Stadium der Sünde, um als „Endzweck des Erdenlebens“ die Freiheit der bewußten Vernunft, die „höhere Sphäre der Ewigkeit“ zu erringen. Damit wird sie die ursprüngliche, gerechtfertigte Heiligkeit wie einst im Paradies wiedergewinnen.16 Vorläufig befindet sich die Menschheit aber noch auf der dritten Stufe der Treppe, in der Mitte der Zeit, in der „vollendeten Sündhaftigkeit“.17 1h. Das aber ändert sich nunmehr. Der Philosoph verheißt das ewige Zeitalter des Geistes, des Friedens und der Freiheit. Sobald die „Wilden“ – vermutlich die Kolonialvölker – gezähmt sein werden, können die Menschen vereint in einem staatenlosen Überstaat sich im Genuß erreichter Freiheit und vollendeter Zivilisation höchster Kultur befleißigen und erfreuen. Der Patriot Fichte versteht sich als „christlicher Europäer“ und kann sich im „Weltbürgersinne“ über das, was kommt, beruhigen, denn was auch immer geschieht, ist gottgewollt, notwendig und gut.18

2. Schelling und die Offenbarung des Absoluten 2a. Der schwäbische Pfarrerssohn Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 bis 1854) besuchte mit Hegel und Hölderlin das Tübinger Stift, wurde auf Anraten Goethes nach Jena berufen und wirkte später in Würzburg, Erlangen, München und Berlin, wo er als eine „Art philosophischer Messias“ (Vorländer) verehrt wurde. Schelling, der Philosoph der Romantik, verfolgte mit seiner Identitätsphilosophie den Plan: Natur, Geschichte und Religion zu einer „All-Einheitslehre“ zusammenzufügen. Den so gebildeten universalen Organismus belebt die „Weltseele“. Statt ihrer spricht Schelling auch von Gott, von der Vernunft, von dem Höchsten, dem Absoluten oder ähnlich. Gemeint ist ziemlich dasselbe. 2b. Grundidee ist die kosmische Harmonie als die überragende, ästhetisch begründete Einheit. Das ist die romantische Weltformel. In Hölderlins, wahrscheinlich mit Schelling gemeinsam verfaßtem ›ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ heißt es: Die Idee, die zuletzt alles vereinigt, ist „die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen.“ Der Gedanke führt über das to hen panta „Das Eine ist alles“ bei Plotin zurück auf „Alles ist eins“ bei Xenophanes und Heraklit.19 2c. Den Inhalt des Geschichtsprozesses bestimmt Schelling 1803 in seinen Vorlesungen als Selbstenthüllung des Göttlichen, ausführlicher schon 1800 in seinem ›System des transzendentalen Idealismus‹: „Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende allmählig sich enthüllende Offenbarung des Absoluten. Also kann man in der Geschichte nie die einzelne Stelle bezeichnen, wo die Spur der Vorsehung oder Gott selbst gleichsam sichtbar ist. Denn Gott ist nie, wenn das Seyn das ist, was in der objectiven Welt sich darstellt; wäre er, so wären wir nicht: aber er offenbart sich



2. Schelling und die Offenbarung des Absoluten

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fortwährend.“20 Gemäß der idealistischen Gleichsetzung von Sein und Bewußtsein ist die stückweise Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte zugleich die „Seinsoder Lebensannehmung des Höchsten“, der damit aus seiner pränatalen Sub­ existenz sich selbst gebärend heraustritt. Trotzdem ist Gott irgendwie „von Ewigkeit seiend“, genauer: „weder seiend noch nicht seiend“, da er „ das Überseiende bleiben muß“, vermutlich ebenso das Übernichtseiende.21 2d. Schelling erklärt: „Der Mensch führt durch seine Geschichte einen fort­ gehenden Beweis von dem Daseyn Gottes, einen Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet seyn kann.“ Es dauert also noch. Den Historikern traut Schelling diese Erkenntnis nicht zu. „In Deutschland, wo die Wissenschaft immer mehr eine Sache der Industrie wird, wagen sich gerade die geistlosesten Köpfe an die Geschichte. ... Dennoch ist selbst unter dem Heiligsten nichts, das heiliger wäre als die Geschichte, dieser große Spiegel des Weltgeistes, dieses ewige Gedicht des göttlichen Verstandes, nichts, das weniger die Berührung unreiner Hände vertrüge.“ Mit der Spiegelmetapher greift Schelling wieder auf Paulus zurück. Der Historiker wird zum Priester der Geschichte. Deren Heiligkeit hielt sich bei Croce bis ins 20. Jahrhundert.22 2e. Allerdings sind bei Schelling wieder zwei Änderungen an der frühchrist­ lichen Vorstellung erkennbar: An die Stelle der plötzlichen ist die allmähliche Offenbarung getreten, statt der Vision des Jüngsten Gerichts zeigt die Offenbarung Gott schon jetzt Stück für Stück in der Geschichte. Die Weltgeschichte ist wie bei Schiller das Weltgericht – dies steht nicht am Ende, sondern vollzieht sich fortlaufend. Schelling folgert: „Ist nun die Erscheinung der Freyheit notwendig unendlich, so ist auch die vollständige Entwicklung der absoluten Synthesis eine unendliche, und die Geschichte selbst eine nie ganz geschehene Offenbarung jenes Absoluten, das zum Behuf des Bewußtseyns ... sich trennt“.23 Darin fassen wir den paulinischen Gedanken der Entfremdung, der im Brief an die Epheser auf das Verhältnis des Einzelnen zu Gott angewandt war,24 während Schelling hier das Verhältnis der gesamten Geschichte zum Weltgeist im Auge hat. Indessen beschreibt auch er das Leben des Einzelnen als Weg hinauf zu Gott, sofern er nicht schuldhaft den Weg abwärts wählt. Die Korrespondenz zwischen Makro- und Mikrokosmos zeigt Schellings Wort: „Gewiß ist, daß wer die Geschichte des eigenen Lebens von Grund aus schreiben könnte, damit auch die Geschichte des Weltalls in einem kurzen Inbegriff gefaßt hätte“.25 Ein Echo bietet Croce. „Der Mensch ist ein Mikrokosmos, nicht im naturalistischen, sondern im historischen Sinn, eine Synthese der Weltgeschichte.“ Umgekehrt ist letztere ein Makranthropos.26 2f. Christlich geprägt ist weiterhin Schellings Überzeugung, daß „alles irdische Leben“ durch „himmlische Einflüsse“ besteht, und sein augustinischer Glaube an die Vorherbestimmtheit des Geschichtsverlaufs, so wie er sich aufgrund der „ewigen Notwendigkeit“ abspielt. Zwar warnt er vor der Lektüre der „sogenannten Universalhistorien, die nichts lehren“ – Gibbon, Machiavelli und Johannes von Müller

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VIII. Historischer Idealismus

schätzt er indes als Literaten –, steigt dann aber doch einmal herab auf die Ebene der gemeinen Fakten, indem er die Entstehung des Christentums, die Völkerwanderung und die Kreuzzüge als „Werkzeuge einer ewigen Ordnung der Dinge“ deutet. Auch die maßgebenden Individuen – so vermutlich auch er selbst – sind „Werkzeuge der absoluten Notwendigkeit“, die auf mysteriöse Weise mit der Freiheit identisch ist. Hatte Kant es für inhuman erklärt, Menschen lediglich als Zwecke zu benutzen, so gilt das nicht für den Täter droben. Gott handelt unmenschlich.27 2g. Alles Geschehen unterstellte Schelling dem „Urphänomen der Polarität“. Es vollzieht sich als „ewiges Aus- und Einatmen“, als Wechsel von Systole und Diastole, seitdem sich „zuerst Irdisches und Himmlisches schied.“28 Die den Wandel bestimmenden Gegensätze seien einer anfänglichen Einheit entsprungen, um am Ende zu ihr zurückzukehren. Dies ist das christliche Verlaufsschema vom Urparadies durch das Jammertal zum Endparadies, entsprechend der realistischen säkularen Vorstellung vom Austritt des Menschen aus der Natur und seiner künftigen Rückkehr zu ihr. Schelling bestreitet eine Entwicklung aus urtümlicher Barbarei zur kulturellen Höhe der Gegenwart, indem er erklärt: „Es gibt keinen Zustand der Barbarei, der nicht aus einer untergegangenen Kultur stammte.“ Der „Zustand der Kultur“ herrschte am Anfang der Geschichte und kehrt an deren Ende „in der letzten Vollendung“ wieder.29 Schelling unterstellt eine Dreiphasenfolge, zentriert durch die Entstehung des Christentums. Steht Homer hier Pate? Die zentrifugale Bewegung, sozusagen die Ilias der Menschheit, der Zug der Achäer aus der Heimat in die Fremde (1), stagniert während der Belagerung Trojas (2) und schlägt um in eine zentripetale Richtung, gewissermaßen die Odyssee, in die Heimkehr des griechischen Dulders zu Penelope (3) wie der Heimgang der Menschen zu Gott. 2h. Schelling teilt die als Offenbarung verstandene Geschichte auch in anderer Form in drei Teile.30 „Wir können drey Perioden jener Offenbarung, also auch drey Perioden der Geschichte annehmen. Den Eintheilungsgrund dazu geben uns die beyden Gegensätze, Schicksal und Vorsehung, zwischen welchen in der Mitte die Natur steht, welche den Uebergang von dem einen zum andern macht. Die erste Periode ist die, in welcher das Herrschende nur noch als Schicksal, d. h. als völlig blinde Macht kalt und bewußtlos auch das Größte und Herrlichste zerstört; in diese Periode der Geschichte, welche wir die Tragische nennen können, gehört der Untergang des Glanzes und der Wunder der alten Welt, der Sturz jener großen Reiche, von denen kaum das Gedächtnis übrig geblieben, und auf deren Größe wir nur aus ihren Ruinen schließen, der Untergang der edelsten Menschheit, die je geblüht hat, und deren Wiederkehr auf die Erde nun ein ewiger Wunsch ist. Die zweyte Periode der Geschichte ist die, in welcher, was in der ersten als Schicksal, d. h. als völlig blinde Macht erschien, als Natur offenbart, und das dunkle Gesetz, das in jener herrschend war, wenigstens in ein offenes Naturgesetz verwandelt erscheint, das die Freyheit und die ungezügeltste Willkür zwingt, einem Naturplan zu dienen und so allmählig wenigstens eine mechanische Gesetzmäßigkeit in



3. Hegel und der Fortschritt zur Freiheit

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der Geschichte herbeiführt. Diese Periode scheint von der Ausbreitung der großen römischen Republik zu beginnen, von welcher an die ausgelassenste Willkür in allgemeiner Eroberungs- und Unterjochungssucht sich äußernd, indem sie zuerst die Völker allgemein untereinander verband, und was bis jetzt von Sitten und Gesetzen, Künsten und Wissenschaften nur abgesondert unter einzelnen Völkern bewahrt wurde, in wechselseitige Berührung brachte, bewußtlos, und selbst wider ihren Willen einem Naturplan zu dienen gezwungen wurde, der in seiner vollständigen Entwicklung den allgemeinen Völkerbund und den universellen Staat herbeiführen muß. Alle Begebenheiten, die in diese Periode fallen, sind daher auch als bloße Naturerfolge anzusehen, so wie selbst der Untergang des römischen Reichs weder eine tragische, noch moralische Seite hat, sondern nach Naturgesetzen nothwendig und eigentlich nur ein an die Natur entrichteter Tribut war. Die dritte Periode der Geschichte wird die seyn, wo das, was in den früheren als Schicksal und als Natur erschien, sich als Vorsehung entwickeln und offenbar werden wird, daß selbst das, was bloßes Werk des Schicksals oder der Natur zu seyn schien, schon der Anfang einer auf unvollkommene Weise sich offenbarenden Vorsehung war. Wann diese Periode beginnen werde, wissen wir nicht zu sagen. Aber wenn diese Periode seyn wird, dann wird auch Gott seyn.“ Die drei Abschnitte werden von Schelling chronologisch näher bestimmt. Der erste umfaßt den Alten Orient und die Griechen, der zweite reicht von den Römern bis in die Gegenwart, während der dritte in der Zukunft erwartet wird. Die drei regierenden Prinzipien sind in aufsteigenden Stufen angeordnet: vom blinden Schicksal über eine ahnende Natur zu einer sich offenbarenden Vorsehung. Schelling formuliert den bedenkenswerten Satz: „Der Mensch hat nur deswegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen läßt.“31 Darin liegt eben die Offenbarung, daß anders als Johannes in seiner Höhle auf Patmos, wir sie nicht im Vorgriff erfassen können. 2i. Schelling hat sein Dreiphasenmodell später noch einmal modifiziert und theologisch legitimiert. In seinen Berliner Vorlesungen von 1841 wählte er als Wende von der ersten zur zweiten Periode wie Joachim und Lessing die Inkarnation und als Übergang zur dritten die Gegenwart. Die zweite, christliche Zeit wird wiederum gedrittelt. Vorgebildet fand er das in der Dreizahl der Apostel Petrus, Paulus und Johannes, die er dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist zuordnete und auf die Abfolge Katholizismus, Protestantismus, Vernunftreligion des reinen Geistes bezog. Die bevorstehende welthistorische Coda ist das Reich Gottes. Schelling verstand, ähnlich wie Hegel, seine Philosophie als „neue Bewußtseinsstufe“ und sich selbst als Geburtshelfer einer „neuen Religion“.32

3. Hegel und der Fortschritt zur Freiheit 3a. Wer die Philosophiegeschichte allegorisch als Landschaft darstellen wollte, würde für Kant die aufgehende Sonne wählen, für Schiller eine sprudelnde Quelle,

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VIII. Historischer Idealismus

für Herder einen blühenden Garten, für Humboldt eine eindrucksvolle Baumgruppe, für Fichte ein Wetterleuchten, für Schelling ein geheimnisvolle Nebelbank, für Marx einen Vulkan, für Nietzsche eine Gewitterwolke und für Hegel ein ganzes Gebirge, das Kontinente trennt, von jeder Seite anders erscheint und schwer ersteigbar ist. Vergleichsweise zugänglich ist es über den Pfad der Geschichtsphilosophie, der aber gleichfalls steinig ist und in dünne Höhenluft führt. 3b. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) ist so wie sein früherer Freund und späterer Gegner Schelling aus dem Tübinger theologischen Stift hervorgegangen und verstand sich als der Vollender des absoluten Idealismus. Von ihm gibt es zwei Deutungen der Weltgeschichte. Die erste, skizzenhafte, findet sich in seinem Hauptwerk, in der ›Phänomenologie des Geistes‹, die Hegel zwar nicht, wie es bisweilen heißt, unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena und Auerstedt, aber in der Nacht zuvor, am 13. Oktober 1806 abgeschlossen hat. In der Phänomenologie entfaltet Hegel die Grundfigur seiner Vorstellung von Geschichte. Er definiert: „Die Geschichte ist das wissende, sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäußerte Geist“, der sich im Zustand der Entfremdung33 von sich selbst auf dem Wege zu sich selbst befindet und diesen mit seiner Bewußtwerdung durch Hegel vollendet hat.34 Die Frage, warum der Weltgeist den doch beschwerlichen, nicht eben vernünftigen Umweg durch die Weltgeschichte zu sich selbst gewählt hat, ist wohl blasphemisch, zumal der Fragende sich damit selbst in Frage stellt, quod absit! Doch erfordert die Vorstellung, wie man sich von sich selbst entfernen und zu sich selbst zurückkehren kann, eine Verständnishilfe. Hegel hatte offenbar das klassische Werwolfmotiv im Sinn, wonach die Seele des Schlafenden als versipellis, Fellwechsler, die Gestalt eines Wolfes annimmt, der allerlei Unheil anrichtet, und morgens in den Körper des Schlafenden zurückkehrt. Dichter erzählen davon, antike Ärzte betrachten die Ekstase der lykanthrōpia als Form der Schizophrenie.35 3c. Nachdem schon die Zeitgenossen über die schwere Verständlichkeit der Phänomenologie geklagt hatten, gelang dem russischen Philosophen Alexandre Kojève 1947 eine Interpretation, die klare Linien erkennen läßt und nachfolgend benutzt wurde.36 Die tragenden Gedanken entwickelt Hegel im 4. Kapitel der Phänomenologie unter dem Titel ›Herrschaft und Knechtschaft‹. Die Geschichte vollzieht sich demnach im Rhythmus der Dialektik.37 Dabei handelt es sich ursprünglich um eine philosophische Methode, um den Versuch, der Wahrheit im Gespräch näherzukommen, so wie Platon und Cicero das in ihren Dialogen vorgeführt haben. Der Idealist Schelling, bei dem Vorstellung und Wirklichkeit verschwimmen, übertrug den Gedankengang auf die Ereignisfolge in dem Dreischritt von These zu Antithese zu Synthese. So auch Hegel, bei dem der Weg des Weltgeistes im Zickzack zum Ziele führt. In der ersten geschichtlichen Periode erzwingt der künftige Herr seine Anerkennung, indem er als Krieger seine Freiheit höher schätzt als sein Leben und den künftigen Knecht besiegt, dem sein Leben lieber ist als seine Freiheit, der sich ergibt und bereit ist, für den Herrn zu arbeiten. Der Herr kommandiert und



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k­ onsumiert, der Knecht produziert und laboriert. In der so entstandenen – sit venia verbo – Sklavenhaltergesellschaft liegen die politischen Rechte bei den Waffen­ trägern. 3d. Die zweite Periode kommt zustande, indem der Knecht durch seine Arbeit die Herrschaft über die Natur gewinnt und dabei die Technik entwickelt, die ihm Macht verleiht und ihm schließlich erlaubt, die Abhängigkeit von seinem Herrn zu beenden. Die sich so vollziehende schrittweise Überwindung der Unfreiheit ist der Inhalt der folgenden Menschheitsgeschichte. Die durch den Herrn erzwungene, vom Knecht geleistete körperliche und geistige Arbeit verändert die Welt und bewirkt so den Fortschritt, während die Kämpfe der Herren untereinander bloße Machtverschiebungen und Heldenlieder zur Folge haben. Hier denken wir an den Traktat über den Wettstreit zwischen Homer, der den Ruhm der Krieger pries, und Hesiod, der den Segen der Arbeit besang und dafür den Preis davontrug – so in der postheroischen römischen Kaiserzeit.38 Bei Hegel kompensiert der Knecht den Verlust der Freiheit durch Ideologien in der Art des Stoizismus, der dem objektiv Abhängigen den subjektiven Trost bietet, die wahre Freiheit bestünde in der Bejahung der gegebenen sozialen Situation. Die damit verbundene Langeweile wird durch die mit Leistung erworbene Anerkennung nicht gestillt. Daher brechen die zum Arbeiter aufgestiegenen Knechte aus und besiegen ihre Herren in einem Endkampf, durch den sie selbst zuletzt mit jenen zu freien Bürgern verschmelzen und den allgemeinen und homogenen Staat schaffen. Nun kann sich die Individualität verwirklichen, die Geschichte findet ihren Abschluß. 3e. Kojève alias Hegel benutzt hier erkennbar die Französische Revolution als Kompendium und Modell der Weltgeschichte, die er so wie die gesamte Wirklichkeit als Erscheinungsform des „Geistes“ deutet. Und eben dieses macht sie dem Denkenden wesensverwandt und verständlich. Erreichbar ist die volle Erkenntnis freilich erst am Ende der Geschichte, an der Grenze zwischen Tag und Nacht, wenn die Eule der Minerva ihren Flug beginnt, wie Hegel 1820 in der Vorrede zu den ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ schrieb. Der Vogelfreund darf allerdings anmerken, daß der Steinkauz (Athena noctua) gerade nicht zu den lichtscheuen Eulen zählt, sondern, wie Brehm bestätigt, „sich bei Tage sehr gut zu benehmen weiß.“ 3f. Es war für Hegels Weltgeist nicht leicht, zu sich selbst zu gelangen, Hegel bewunderte ihn, der die „Geduld gehabt“ habe, „in der langen Ausdehnung der Zeit ... die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte ... zu übernehmen“, ohne welche er allerdings „das Bewußtsein über sich selbst“ nicht erlangen und die Entfremdung von sich selbst nicht überwinden konnte. Das Bewußtsein von sich und die Wiedervereinigung mit sich gelang dem Weltgeist dann in Thüringen.39 Im Herbst 1806 war es endlich so weit, als das, was Hegel idealiter am Schreibtisch leistete, Napoleon durch seinen Sieg über die Preußen realiter auf dem Schlachtfeld schaffte. Als die Franzosen am 13. Oktober 1806 die Stadt besetzten, erkannte Hegel, wie er

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an seinen Freund Friedrich Immanuel Niethammer in Würzburg schrieb, mit „wunderbarer Empfindung“ in dem Korsen die „Weltseele ... auf einem Pferde sitzend.“ Bemerkte Nietzsche 1874, „daß für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen“, als der Weltgeist „sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und verständlich“ wurde,40 so gilt das bereits für den Hegel in Jena. 3g. In seiner Berliner Vorlesung, 1822/23 zuerst, 1830/31 zuletzt gehalten, hat Hegel dann eine umfassende Geschichtsphilosophie geliefert.41 Er sieht im „Gang der Weltgeschichte“ einen gesetzmäßigen „Trieb der Perfektibilität“ und einen „Fortgang zum Besseren, Vollkommeneren.“42 Hegel definiert Geschichte, „das große Tagewerk des Geistes“, nunmehr folgendermaßen: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“. Negativ gewendet heißt es: „Geschichte ist nur das, was in der Entwicklung des Geistes eine wesentliche Epoche ausmacht.“ Hegel nennt als den „Endzweck der Welt das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt.“43 Hegel unterscheidet wiederum drei Perioden: „Der Orient wußte und weiß nur, daß einer frei ist“, nämlich der Despot, „die griechische und römische Welt, daß einige frei seien“, nämlich alle außer den Sklaven, „die germanische Welt weiß, daß alle frei sind.“ So wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, von Süden nach Norden; er endet – mit Zwischenstufe in Jena – in Berlin. Dieses Dreiphasenschema hat Hegel von Fichte übernommen, der es an der Idee der Rechtsgleichheit entwickelt hatte. Danach waren in der asiatischen Despotie alle Menschen rechtlos außer dem Despoten; bei Griechen und Römern hatten alle Bürger Anteil am Staate; und erst das Christentum brachte die gleichen Rechte aller Menschen, wenigstens vor Gott.44 3h. Träger des Fortschritts sind die von Herder ersonnenen Volksgeister der welthistorisch relevanten Völker. Sie bilden die Stufen, auf denen der Weltgeist zu sich selbst emporsteigt. „Der Volksgeist ist ein natürliches Individuum; als ein solches blüht er auf, ist stark, nimmt ab und stirbt.“ Im Mannesalter hat er in der „Form eines dunklen Triebes“ sein Prinzip entfaltet, im Greisenalter wird es ihm bewußt. Abgestorben, vegetiert er im Zustand der „Nullität und Langeweile“ weiter und gibt die Stafette an das nächstfolgende Volk, dem es ebenso ergeht.45 3i. Hegel hatte 1821 in seiner Rechtsphilosophie die Weltgeschichte durch die Trennung der griechischen und römischen Geschichte in vier Abschnitte eingeteilt und sie im ganzen so wie die Völker im einzelnen in das Lebensaltergleichnis gebracht. In der Vorlesung führt er es aus. Die Menschheit erscheint als ein einziger Organismus, so wie noch bei dem Hegelianer Croce 1930.46 Das Kindesalter der Geschichte findet Hegel im Orient. So wie Kinder „ohne eigenen Willen und ohne eigene Einsicht den Eltern gehorchen“, so unterwarfen sich die Orientalen, wie schon Herder bemerkt hatte, ihren patriarchalischen Herrschern. Diese verkörper-



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ten für Hegel die Sittlichkeit, das erste „Reich“ oder „Prinzip“ oder „Moment“ der Geschichte. Natürlich meint Hegel nicht, daß der Orient die Sittlichkeit rein verwirklicht habe, aber er überläßt ihm nur die Wahl zwischen blindem Gehorsam und „greulicher Willkür“. Demselben unfreundlichen Asienbild huldigt Hegel mit der Ansicht, daß die Staaten des Orients eigentlich keine Staaten seien, ihre Geschichte eigentlich keine Geschichte sei – sozusagen versteinerte Kindheit. 3j. Nichtsdestoweniger geht der Wachstumsvorgang andernorts weiter, und als Endphase des ersten Abschnitts folgt das Knabenalter, das den Übergang von Ostnach Mittelasien verbildlicht und sich dabei „raufend und herumschlagend verhält“. Dabei denkt Hegel wohl vornehmlich an die achämenidischen Perser, die er im engeren Sinne als „das erste geschichtliche Volk“ definiert. „In Persien beginnt das Prinzip des freien Geistes gegen die Natürlichkeit“, hier setzt der Fortschritt ein. Schon Augustinus hatte die Kindheit des Menschengeschlechts, die bei ihm bis zur Sintflut reichte, von den folgenden Altersabschnitten stärker unterschieden, als diese voneinander getrennt seien. Er hatte das damit begründet, daß der Mensch an die ersten Jahre keine Erinnerung habe. So differenziert nun auch Hegel zwischen der frühen organischen und der späten bewußten Entwicklung der Menschheit, welch letztere erst mit dem Knabenalter beginnt.47 3k. Das Jünglingsalter erlebte die Menschheit wie bei Herder in der griechischen Welt. „Das griechische Leben ist eine wahre Jünglingstat. Achill, der poetische Jüngling hat es eröffnet, und Alexander der Große, der wirkliche Jüngling, hat es zu Ende geführt.“ Hatte der Orient die Sittlichkeit bloß in unbewußtem Traditionalismus und kollektivem Konformismus verwirklicht, so verschmilzt sie nun mit der Willkür der Individuen. Das zweite Hauptprinzip der Weltgeschichte erscheint: die Individualität. „Dieses Reich ist wahre Harmonie, die Welt der anmutigsten, aber vergänglichen ... Blüte“. Hegel bewundert bei den Griechen die unbefangene Einheit zwischen Individuum und allgemeinem Zweck, vermißt aber noch die Sittlichkeit.48 3l. Das nächste Stadium, das Mannesalter, ist sodann im römischen Imperium erreicht. Hier tritt das dritte Weltprinzip in Erscheinung: der Staat als das „Reich der abstrakten Allgemeinheit“, der, im Gegensatz zu den älteren Staaten, seinen Namen wirklich verdient. Trotz des anerkannten Fortschritts geizt Hegel Rom gegenüber mit seiner Sympathie, hier spüren wir die philhellenische Strömung seiner Zeit, die auch Herders Urteil über Rom getrübt hatte. Hegel spricht von der „sauren Arbeit“ dieser Periode, behauptet die Lösung von Gesamt- und Einzelinteresse, ja die Unterjochung von diesem durch jenes. Der Gegensatz zwischen Staat und Bürger äußere sich im kaiserzeitlichen Despotismus, werde aber wieder versöhnt, und zwar weltlich im Privatrecht, einem Ersatz der Freiheit, und geistig im Christentum, deren wahrer Erfüllung.49 3m. So gelangt Hegel mit dem christlich-germanischen Reich ins vierte und letzte Stadium der Geschichte und damit zu sich selbst. „Der germanische Geist ist

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der Geist der neuen Welt, deren Zweck die Realisierung der absoluten Wahrheit als der unendlichen Selbstbestimmung der Freiheit ist“. Die Germanen standen „im Dienste des Weltgeists“, um den Begriff der Freiheit „aus dem subjektiven Selbst­ bewußtsein frei zu produzieren.“50 Die von Hegel unterstrichene Verbindung ­zwischen Germanentum und Freiheit hat eine lange Vorgeschichte. Schon die antike Ethnographie hat beide verknüpft. In Anlehnung an die Klimatheorie des Hippokrates führte Aristoteles die Freiheitsliebe der nordeuropäischen Völker auf das kalte Wetter zurück, das einen raubtierhaften, unbändigen Menschentyp erzeuge. Der Nordländer tauge daher wohl zum Kriegsdienst, aber besitze keine Kunstfertigkeit. Tacitus übernahm das Bild und fand den germanischen Freiheitswillen vor allem im Widerstand gegen Rom bestätigt. Arminius, den er durchaus als Verräter hätte darstellen können, beschreibt er als Freiheitshelden,51 der ger­ manische Freiheitsstolz (Germanorum libertas) sei für Rom bedrohlicher als die Macht des parthischen Königs. Humanisten und Aufklärer haben diese Begriffs­ verbindung übernommen, und nicht nur Deutsche wie Wimpheling und Ulrich von Hutten dachten so, ­sondern auch Engländer wie Milton (1651), Harrington (1656) und Bolingbroke (1751/54) und Franzosen wie Hotman (1573), Boulainvilliers (1722) und Mon­tesquieu (1748). Die Fronde opponierte mit dem fränkischen Freiheitsgedanken gegen den „römischen“ Absolutismus des französischen Königs.52 3n. Hatte Fichte, so wie Kant, das Ziel der Geschichte in die Zukunft verlagert, so sieht Hegel es bereits in der Gegenwart erreicht. Denn er erkennt im vierten Stadium das letzte der Geschichte, es sei ihr Greisenalter, eine Art otium cum dignitate.53 „Das natürliche Greisenalter ist Schwäche, das Greisenalter des Geistes aber ist seine vollkommene Reife“. Wie in den antiken Lebensvergleichen, so liegt auch bei Hegel der kritische Punkt am Ende. Hier sträubt man sich üblicherweise gegen die Logik des Bildes, das zum Tode führt. Zunächst entdeckt Hegel den Gegensatz zwischen christlicher Milde und germanischem Draufgängertum einerseits und den zwischen Staat und Kirche andererseits und erklärt das Mittelalter für das „widrigste und empörendste Schauspiel, das jemals gesehen worden“, denn dort sei das „Vernunftwidrigste, Roheste, Schmutzigste durch das Religiöse begründet und bekräftigt“ worden.54 Wie bei Kant,55 ja schon in der Bibel,56 wird der glücklichen Endphase eine vorletzte Zeit des Unglücks vorgeschaltet. Geistesgeschichtlich erklärt sich das aus der überlieferten Vorstellung vom „finsteren Mittelalter“. Der Pro­ testant Hegel assoziiert dies mit Inquisition und Dogmatismus. Methodisch bewältigt wird der Umschlag mit Hilfe der Dialektik. So war das finstere Mittelalter durch die Idee des Pendelschlags zu verschmerzen. Die Philosophie erkenne, daß der Tiefpunkt nötig war um des nachfolgenden Höhepunktes willen. Nur aus der völligen Entfremdung gewinne der Geist seine wahrhafte Versöhnung. Und diese verlegt Hegel in den Staat seiner Zeit: „Der Geist findet sich in die Weltlichkeit und bildet diese als ein in sich organisches Denken aus.“57



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3o. Auf religiösem Gebiet ist durch die Reformation der letzte Abschnitt er­öffnet. Sie zeigt, daß der Mensch durch sich selbst bestimmt sei, frei zu sein. Auf katholischer Basis sei ein vernünftiges Staatswesen unmöglich. Im Bereich der Politik bildet nun nicht mehr der Imperialismus eines Napoleon, sondern der aufgeklärte Absolutismus Friedrichs des Großen die höchste Stufe. Somit wird auch die vierte Phase zweigeteilt in die Abschnitte, die wir Mittelalter und Neuzeit nennen. Diese letzte bedeutet die Vollendung. Das vierte Prinzip, die Freiheit, ist verwirklicht, und das „Ziel der Weltgeschichte“ ist in der konstitutionellen preußischen Erbmonarchie erreicht.58 3p. Hegels Geschichtsbegriff ist auf den Staat fixiert. Die Renaissance-Humanisten dachten vornehmlich an Kunst und Kultur, die Aufklärer stellten die Geistesentwicklung in den Mittelpunkt, auch Kant sah in seinem Völkerbund keinen Selbstwert, sondern eine Voraussetzung für die Entfaltung des Geistes durch den Gedankenaustausch in Frieden und Freiheit. Bei Hegel verkörpert nun aber der Staat selbst die Sittlichkeit, und er ist die höchste Erscheinungsform des Geistes Der Staat sei „die vernünftige und sich objektiv wissende und für sich seiende Freiheit“, ja „die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist.“ Mehr noch: „Man muß daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren.“59 Die Zeit vor der Staatenbildung und die Phänomene daneben bleiben außer Betracht. Ein künftiger Kosmopolitismus kam für ihn nicht in Frage. 3q. Indem Hegel das letzte Stadium der Weltgeschichte bereits erreicht glaubt, vertritt er wieder eine innergeschichtliche Eschatologie, wie wir sie bei Vergil gefunden haben. Dies unterscheidet ihn von der Aufklärungshistorie, die das Ziel – wenn überhaupt – erst in der Zukunft erreichbar glaubte. Daraus ergibt sich auch ein andersartiges Verhältnis zur Praxis, als wir es bei den Aufklärern gefunden haben. Hegel kritisiert in der Politik alles „negative Tadeln“, ihm ist dies ein Zeichen der Unreife, namentlich bei der Jugend, die bekanntlich immer unzufrieden sei. Wir sollten einsehen, „daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll, daß das wahrhafte Gute, die allgemeine göttliche Vernunft auch die Macht ist, sich selbst zu vollbringen.“60 Wenn Hegel die Tadler tadelt, tut er freilich dasselbe wie sie und ist mit ihnen einig darüber, daß eine Welt, in der es Störenfriede gibt, doch nicht ganz so ist, wie sie sein sollte. Wenn alles, was geschieht, vernünftig ist, dann ist auch das Tadeln vernünftig, aber die Kritik an den Kritikern ist ebenso unvernünftig wie Kritik durch die Kritiker. 3r. Hegels uneingeschränktem Ja zur Gegenwart entspricht sein ungeschmälertes Ja zur Vergangenheit. Während für Herder das moralische Urteil über Ver­­ gangenes eine Form darstellte, Gegenwärtiges zu kritisieren, lehnt Hegel jedes Moralurteil ab. Das erscheint ihm bloße Schulmeisterei des Weltgeistes. Die Weltgeschichte bewege sich „auf einem höheren Boden als der ist, auf dem die Moralität ihre eigentliche Stätte hat“; die Leidenschaften in der Geschichte erscheinen ihm als notwendige Mittel, womit der Weltgeist seinen höheren Zweck fördert, als „List der

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Vernunft“.61 Hier variiert Hegel einen geläufigen Gedanken, den vor ihm Augustinus, ja schon Jesaja ausgesprochen hat.62 3s. Hatte Kant die Fortschritte in der Staatskunst für das Kriterium des historisch Bemerkenswerten bestimmt und die Erinnerung daran als Mittel zu weiteren Verbesserungen betrachtet, sieht Hegel jedes Entwicklungsstadium eines Staatswesens im organischen Zusammenhang mit der jeweiligen Geistesstufe der Völker. Wo er hinschaut, ist alles da, wo es hingehört, so wie es zu sein hat. Wo es anders scheint, da fehlt dem Betrachter die nötige Einsicht in die Notwendigkeit des Wirklichen, die Unmöglichkeit des Unwirklichen. 3t. Kant hatte in der bisherigen Geschichte Rückschläge zugegeben, glaubte aber, daß der „Keim der Aufklärung“ stets überdauert habe und sich doch endlich durchsetzen werde. Hegel hingegen leugnet die „Rückschläge als äußerliche Zufälligkeiten“, ihm erscheint die Trauer gegenüber allem Elend, das durch die Gewalttätigkeit einzelner Gruppen erzeugt worden ist, als bloß selbstgefällige Trübsal, als Sentimentalität. Wer in der Geschichte Mißerfolge hatte – seine Absichten mögen so edel gewesen sein, wie sie wollen – der war von Gott verlassen, denn das „Recht des Weltgeistes geht über alle besonderen Berechtigungen.“ Der Sieger vollstreckt den Auftrag des Weltgeistes, bis er selbst dessen Opfer wird. In jedem Untergang vollziehen sich eine Verjüngung und ein Fortschritt. Völker sterben immer nur naturgemäß, „gewaltsamen Todes kann ein Volk nur sterben, wenn es natürlich tot in sich geworden.“63 Völkermord gibt es nicht, nur Totengräber. 3u. Das Freiheitsbewußtsein ist das hehre Ziel, „dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden.“ Wenn wir die „Geschichte als diese Schlachtbank“ betrachten und fragen, „welchem Endzweck diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind“, so müßten wir mit Hegel erkennen, daß dies das Freiheitsbewußtsein des Weltgeistes ist, für den kein Opfer zu groß war. Die Weltgeschichte sei nicht der Boden der Moral, nicht der Boden des Glücks; „die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“64 Die Geschichte dient dem Selbstgenuß des Weltgeistes, sie soll sein „Sein“ verwirklichen, „daß er selig werde.“65 3v. Eine besondere Funktion in diesem Geschichtsbild haben die welthistorischen Individuen, „Heroen“ wie Alexander, Caesar und natürlich Napoleon. Hegel nennt die großen Männer die „Geschäftsführer des Weltgeistes“, die ihr Lebensglück großmütig ihrem welthistorischen Zweck opfern und das tun, „was an der Zeit ist.“ Bei Droysen sind es dann die „Werkmeister“, bei Croce die „Werkzeuge“ des universalen Geistes, der durch sie den Bau der Weltgeschichte vollendet. Das Denkbild ist biblisch, da bei Jeremia die Babylonier als „Hammer des HErrn“, bei Jesaja die Assyrer als „Geißel Gottes“ erscheinen.66 Die subjektiven Beweggründe der Auftragnehmer interessieren Hegel nicht. Sie dienen unbewußt objektiven Zwecken und dürfen alles. „Aber was diese Individuen wollen und tun, hat die höhere Berechtigung des Weltgeistes für sich und muß endlich den Sieg davontragen.“. Die Kosten nimmt Hegel hin.67 Nach dem katastrophalen Rückzug aus Ruß-



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land hatte Napoleon am 26. Juni 1813 in Prag zu Metternich bemerkt: „Un homme comme moi se fout de la vie d’un million d’hommes“,68 und das hätte Hegel nicht erschüttert. Denn „solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.“ Dasselbe ereignet sich, wo Hegel einzelnen Völkern die geschichtliche Aufgabe zuteilt, Träger des Weltgeistes zu sein. Solche Völker seien in ihrer Periode die herrschenden, sie vertreten das absolute Recht, dagegen seien „die Geister der anderen Völker rechtlos“, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, „zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.“ Wie für Schiller so ist auch für Hegel die Weltgeschichte das permanent amtierende Weltgericht.69 Es führt zum Freispruch für Täter und Töter. 3w. Hegels Fortschrittsglaube zeigt sich grenzwertig in seinem Kommentar zur Erfindung des Schießpulvers. Er erklärt: „Die Menschheit bedurfte seiner und alsobald war es da“. Wie beim Tischlein-Deck-dich. Das Schießpulver „war Hauptmittel zur Befreiung von der physischen Gewalt und zur Gleichmachung der Stände. Mit dem Unterschied in den Waffen schwand auch der Unterschied zwischen Herrn und Knechten. Das Schießpulver ... hat eine vernünftige, besonnene Tapferkeit, den geistigen Mut zur Hauptsache gemacht“. Tapferkeit ohne persönliche Leidenschaft wird möglich, „denn beim Gebrauch der Schießgewehre wird ins Allgemeine hineingeschossen, gegen den abstrakten Feind, und nicht gegen besondere Personen.“ Was hätte Hegel zur Atombombe gesagt? Übrigens ist Hegel hier nicht originell. Schon Leibniz konnte das Schießpulver einer wohlmeinenden Vorsehung zurechnen. Ganz anders Luther. Dieser meinte, die Welt sei nur durch eine Vergeßlichkeit Gottes entstanden. Denn hätte er an das „schwere Geschütz“ gedacht, hätte er die Welt nicht erschaffen.70 3x. Hegel erklärt „Gott regiert die Welt“ in der Gestalt des „Geistes“71 und be­­ zeichnet seine Geschichtsphilosophie in unpraktischer Absicht eingangs wie ­ausgangs als Theodizee.72 Diesen Begriff hatte Leibniz 1697 geprägt und dann 1710 in seinem so betitelten Werk dem lieben Gott (theos) bescheinigt, daß er die Welt gerecht (dikaios) regiere. „Wenn das geringste Übel, das in der Welt geschieht, fehlte, dann wäre es nicht mehr diese Welt, die, alles ein- und abgerechnet, von dem Schöpfer, der sie gewählt hat, als die beste befunden worden ist.“73 Leibniz bestätigt Gott, was dieser selbst am Freitag der Schöpfungswoche einst sagte: „Und Gott sah an alles, was er gemacht alles, und siehe, es war sehr gut.“74 Die Theodizee nimmt gewissermaßen das Jüngste Gericht vorweg und bildet ein Tribunal, vor dem der Allmächtige beschuldigt wird, die Übel der Welt nicht zu verhindern. Der Angeklagte wird von dieser Unterlassungssünde jedoch großzügig freigesprochen. Aber nicht nur er, sondern auch der Teufel, denn jede Theodizee ist zugleich eine Diabolodizee. Indem bei diesem Verfahren nicht Gott über den Menschen zu Gericht sitzt, sondern der Philosoph über den höchsten Richter urteilt, so verrät das ein erkleckliches Selbstvertrauen, wie es der Apostel Paulus jedenfalls nicht besaß. Denn er hielt es, so wie Hiob, für eine Anmaßung, wenn das Geschöpf über seinen Schöpfer ein Urteil fällt und dessen Werk einer Evaluation unterzieht.75 Die Neigung, den Göttern anzu-

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lasten, was die Menschen einander sich antun, hat schon der homerische Zeus zurückgewiesen;76 und im 6. Jahrhundert v. Chr. schrieb Theognis von Megara, es stehe den Sterblichen nicht zu, mit den Unsterblichen zu streiten oder über sie Recht zu sprechen.77 In diesem Sinne hatte Kant 1791 gezeigt, daß alle philosophischen Versuche einer Theodizee mißlingen müßten,78 zumal sie keine Erkenntnis liefert, sondern nur ein Bedürfnis befriedigt. Das aber vermochte Kant nicht zu stillen. So fragt man weiter nach dem Ursprung des Bösen, als ob sich das Gute von selbst verstünde. 3y. Hegel huldigt der Lust der Vernunft. Er appelliert an die „religiöse Wahrheit“, daß die „Vorsehung die Welt regiere“, nicht nur gerecht, sondern auch vernünftig. „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“79 In der Vorrede zur ›Rechtsphilosophie‹ lesen wir: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Um keinen Zweifel zuzulassen, hat Hegel das auch noch fett gedruckt. Damit modernisierte er Anaxagoras, bei dem der nous, die Vernunft des Geistes, die Welt durchwaltet,80 und fand Zustimmung bei Croce, der repetierte: Alles, was geschieht, ist rational und notwendig. So schrieb er 1909 in der italienischen und 1929 in der deutschen Ausgabe seiner ›Philosophie der Praxis‹.81 3z. Sah die Aufklärung ihre Pflicht darin, die subjektive Vernunft zu befördern, so will Hegel die objektive Vernünftigkeit in der Welt nachweisen. Ein Vulkanausbruch ist nach ihm ebenso vernünftig wie eine Seuche oder ein Autodafé. Unbeeindruckt von Lissabon 1755, Paris 1793 und der Beresina 1812 erklärt Hegel jede Katastrophe für „Hervorgehen neuen Lebens.“ Hegel braucht das Bild des Phönix. Die Asche, aus der er aufsteigt, das sind die ehemals geschichtswürdigen Völker, die ihre Pflicht als Träger des Fortschritts abgeleistet haben. Alle, die wie Schillers Mohr ihre Arbeit getan haben, etwa die Griechen der Nachantike, sind historisch tot.82 Dasselbe gilt für Völker abseits vom Wege des Weltgeistes. Hatte Kant gemeint, daß die europäische Idee von Freiheit und Gerechtigkeit auch die Naturvölker erreichen werde, erklärte Hegel die Neger für unzivilisierbar.83 Gemäß Hegel ist die Geschichte „der Boden der Ehre Gottes.“ Das klingt christlich. Aber noch bei Luther war „der Fürst dieser Welt, wie saur er sich stellt“ der Teufel.84 Das Reich Gottes mit der Erlösung kommt erst noch, so will es die zweite Bitte des Vaterunser. Bei Hegel aber ist der Heilsakt als evolutionäres und säkulares Geschehen vollendet. Die Gegenwart ist Golgatha. Die Geschichte er­­ scheint ihm als die „Schädelstätte des absoluten Geistes.“85

4. Humboldt und die Individualität 4a. Die Geschichtsphilosophen der Aufklärung und des Idealismus waren sich darin einig, daß als Leitfaden im Weltgesehen die Fortschritte der Menschheit zu gelten hätten und die Geschichte der einzelnen Völker nur insoweit Interesse ver-



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diene, als sie diesen Prozeß gefördert haben. Sie werden gewissermaßen mediatisiert, sind keine eigenwertigen Gegenstände der historischen Betrachtung. Das hatte schon Herder anders gesehen, und dem schloß Humboldt sich an. Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835), war preußischer Gesandter in Rom und bewog als Kultusminister 1808 Friedrich Wilhelm III, die Berliner Universität zu gründen. Er nahm teil am Wiener Kongreß und zog sich 1820 ins Privatleben zurück. Wilhelm war befreundet mit Schiller und Goethe und entwickelte seine Geschichtsphilosophie zunächst unter dem Einfluß von Kant, später unter dem von Schelling. 4b. Treitschke nannte Wilhelm 1861 den „Apostel deutscher Humanität“,86 und ein ebensolcher war dessen Bruder Alexander. Er verdankt seinen Ruf seinen Forschungen in Lateinamerika, die er unter dem Einsatz seiner Gesundheit und seines Vermögens durchgeführt und publiziert hat. Alexander von Humboldt gehört wie Herder zu den entschiedenen Gegnern der europäischen Geschäftemacherei in Übersee und der Verachtung der sogenannten Primitiven. Er verwandte sich entschieden für die von Hegel verworfene Gleichheit aller Völker vor dem Weltgeist.87 4c. Seine theoretischen Überlegungen zur Historie hat Wilhelm von Humboldt in drei Schriften niedergelegt: in seinen ›Betrachtungen über die Weltgeschichte‹, die er 1812 bis 1814 in Wien verfaßt hat, in den ›Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte‹ von 1818 aus London und in seinem Aufsatz ›Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers‹, den er 1821 der preußischen Akademie in Berlin vorgetragen hat. Humboldt nimmt seinen Ausgang vom Interesse an der Zukunft, die er im Spiegel der Vergangenheit zu erkennen sucht. „Das Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft ist endlich innigst an die Beantwortung der Frage geknüpft, welcher künftige Zustand sich aus dem jetzigen, so wie dieser aus dem zunächst vorhergegangenen, entwickeln wird.“ Humboldt hält am Ideal der Aufklärung insoweit fest, als er eine „Veredlung des Menschengeschlechts“ erwartet und diese zum Grund praktischen Handelns bestimmt.88 Dieser Praxisbezug wendet sich gegen Hegel. 4d. Die Menschheitsentwicklung geht indessen nicht von einem tierisch-rohen Urzustand aus ständig aufwärts, sondern eher – zumindest zeitweise – von einer anfangs göttlichen Naturnähe aus abwärts, wie das auch Schelling sah. Überreste der idealen Frühzeit erblickte Humboldt in der griechischen Kultur.89 So wie ­Winckelmann, Schelling und Goethe sah er im klassischen Altertum Reste eines ursprünglich höheren Menschentums und ließ sich darin auch nicht durch jene Züge irre machen, die er ablehnte und nur halbherzig rechtfertigte wie die Sklaverei, die Knabenliebe und die Zurücksetzung der Frau. Der „griechische Geist“ verkörpert Vollkommenheit in der Kunst (namentlich in der Plastik), in der Literatur (insbesondere in der Dichtung), in der Religion (einschließlich der Mythen und der Sitten), so gemäß Humboldts Schrift ›Latium und Hellas‹ von 1806.90 Ausgespart bleiben Staatsordnung und Wissenschaft, die keiner Vollkommenheit fähig seien, denn jede Staatsordnung entspricht einem momentanen gesellschaftlichen Kräfte-

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verhältnis, das sich wandelt, und jeder Forschungsstand bleibt vorläufig. Aber auf den genannten Gebieten des höheren Geisteslebens haben die Griechen in Humboldts Augen das Individuelle als Ausdruck des Idealen verwirklicht und damit zeitlos gültige Muster für Kunst und Literatur geschaffen. Die Idealisierung der Individualität und die Individualisierung des Ideals sind bei Humboldt sinnstiftend so wie in Schillers Briefen über ästhetische Erziehung von 1795. Bei Hölderlin im ›Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ heißt es: „Über Geschichte kann man nicht geistreich räsonieren – ohne ästhetischen Sinn.“91 4e. Im Gegensatz zu Hegel greift Humboldt Herders Prinzip auf, dem Leben aller Völker, selbst der kleinsten, einen Eigenwert zuzumessen. Keines wird in die hegelsche „Nullität“ versenkt, weil der Weltgeist es bei seinem Gang zu sich selbst links liegen gelassen habe. Gegen Hegel wandte sich in diesem Punkte sogar Croce 1910, der allen Völkern im Ablauf der Universalgeschichte die Erfüllung einer charakteristischen Aufgabe zuordnete. Damit kann kaum etwas anderes gemeint sein als die Selbstentfaltung.92 Bei Humboldt vollzieht sie sich auf der Ebene der Sprache. Er hat sich intensiv mit den Sprachen der Basken und der Javaner befaßt. Die Sprache ist ihm der reinste Ausdruck des jeweiligen Volksgeistes. 4f. Humboldt findet den Sinn der Geschichte in der „Mannigfaltigkeit“ der Völker, nicht in einem einheitlichen zielgerichteten Prozeß. Er betont den Defekt einer teleologischen Sinngebung, weil diese alle Mühen vor der Erreichung des Endzustandes als bloße Mittel für diesen erklärt. „Die teleologische Geschichte erreicht auch darum niemals die lebendige Wahrheit der Weltenschicksale, weil das Individuum seinen Gipfelpunkt innerhalb der Spanne seines flüchtigen Daseins finden muß.“93 Auch Schiller hatte sich gegen eine endzeitbezogene Sinnstiftung gewandt. Er meinte im 6. ästhetischen Brief, die reale, geschichtliche Menschheit könne sich nicht im Dienste einer idealen, nachgeschichtlichen Menschheit aufreiben: „Wir wären Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben und unserer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt, damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs seiner Menschheit entwickeln könnte!“ Ein Handeln im Dienste einer fremden Macht weist Schiller ab, nichts rechtfertige es, wenn der Mensch sich über einen beliebigen Zweck selbst versäume. Das geht gegen Kant, der diesen wunden Punkt bereits selber bemerkt hatte, aber kein Mittel dagegen wußte.94 4g. Humboldt gab dem Einzelnen den Vorrang vor dem Ganzen. So noch in seinem vorletzten Brief an Goethe vom 6. Januar 1732: „Da es einmal in der Welt zwei Richtungen gibt, die wie Aufzug und Einschlag das geschichtliche Gewebe bilden, das immer abbrechende Leben der Individuen und ihre Entwicklung und die Kette des durch ihre Hilfe vom Schicksal zusammenhängend Bewirkten, so kann ich mir einmal nicht helfen, das Individuelle für die Hauptsache anzusehen, von welcher der Weltgang eine gewissermaßen notwendige Folge ist.“ Wie bei Goe-



4. Humboldt und die Individualität

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the kulminiert Humboldts historisches Interesse im Individuum, das gleichwohl stets in einem größeren Zusammenhang steht. 4h. Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen hatte Herder in das Bild des Gartens gebracht, Humboldt wählt das Bild des Baumes: „Der Einzelne ist im Verhältnis zu seiner Nation nur in der Art ein Individuum wie ein Blatt im Verhältnis zum Baum, ebenso kann die Stufenfolge der Individualität weitergehen von der Nation zum Völkerstamm, von diesem zur Rasse, von ihr zum Menschengeschlecht.“. Dasselbe Symbol kennen wir von Marc Aurel, bei ihm diente es einer ethischen Absicht – wir sollen uns vom Ganzen nicht trennen –, während Humboldt einen theoretischen Zweck verfolgt. Das Bild erklärt ihm die Möglichkeiten und Grenzen der Eigenentfaltung von Individualitäten. Jedes Lindenblatt ist eine eigentümliche und einmalige Bildung, aber eben doch nur ein Lindenblatt.95 4i. So kommt Humboldt dann auch zu seiner Definition von Geschichte: „Die Weltgeschichte ist ... die uns sichtbare Auflösung des Problems, wie – sei es bis zur Erschöpfung des Begriffs oder bis zu einem nach unbekannten Gesetzen gesteckten Ziele – die in der Menschheit begriffene Fülle und Mannigfaltigkeit der Kraft nach und nach zur Wirklichkeit kommt“. Humboldt findet das Wesen des Geschehens somit darin, daß die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten Realität und Klarheit gewinnt und den Reichtum an individuellen Formen entwickelt. Alles „weltgeschichtliche Fortschreiten“ beruht auf der Ausbildung von Individualitäten, und „das Ziel der Geschichte kann nur die Verwirklichung der durch die Menschheit darzustellende Idee sein“. In diesem idealistischen Sinne ist sein – für Alexander anstößiger – Satz zu verstehen: „Die Weltgeschichte ist nicht ohne eine Weltregierung verständlich.“96 4j. Grundlage von Humboldts Geschichtsauffassung ist seine Ideenlehre. Sie beruht auf demselben Platonismus, der auch Hegels Geschichtsphilosophie zugrundeliegt. Was für Hegel der „Geist“ war, das sind für Humboldt die „Ideen“. Es ist das, was sich in den Erscheinungen „verwirklicht“, kantisch gesprochen: die Bedingung der Möglichkeit geschichtlicher Realität. Sofern Geist und Ideen der Wirklichkeit vorausliegen, sind sie transzendent wie die Gedanken Gottes, die dann in der Schöpfung zu Tage traten. Ein Unterschied liegt darin, daß Hegels „Geist“ normalerweise im Singular auftritt und sich nur sekundär in Einzelgeister auflöst, während Humboldts Ideen von vorneherein auf Mehrzahl angelegt sind und nur ausnahmsweise für die gesamte Geschichte, die ganze Menschheit firmieren. Humboldt ordnet seine Ideen den einzelnen Phänomenen zu, die sowohl einmalige Gegenstände als auch bestimmte Menschen und Völker betreffen. Es gibt für Humboldt ebenso viele Ideen wie Erscheinungen in der Geschichte, und da letztere sich vielfältig überschichten, sind sie zahllos.97 4k. Was fehlt, ist der Staat, den Hegel zur Idee Gottes erklärt hatte. Humboldt schreibt dem Staat bloße Nachtwächterdienste zu, so wie Hölderlin in dem zitierten Systemprogramm erklärt hatte, „daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat

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VIII. Historischer Idealismus

etwas Mechanisches ist“. Hölderlin schrieb 1801 an seinen Freund Christian Landauer: „Je weniger der Mensch vom Staat erfährt und weiß, die Form sei, wie sie will, um desto freier ist er.“98 Dem hätte der junge Humboldt wohl zugestimmt. Seine ›Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen‹ von 1792 gehen mit der Bürokratie hart ins Gericht, wurden von der Zensur verboten und erschienen erst postum 1851. 4l. Die Weise, in der die Ideen in der Geschichte wirklich werden, zeigt Humboldt in Bildern aus dem Pflanzenleben. „Jede menschliche Individualität ist eine in der Erscheinung wurzelnde Idee“: die Phänomene bieten den notwendigen Boden, die Idee benutzt ihn bloß – prinzipiell ist sie von ihm lösbar. Dies lehrt, daß Humboldt den platonischen Ideenbegriff nicht zufällig aufgenommen hat: die Ideen sind eigene, von ihren Erscheinungen unabhängige Potenzen: „Wie die zartere Pflanze durch das organische Anschwellen ihrer Gefäße Gemäuer sprengt, das sonst den Einwirkungen von Jahrhunderten trotzte“ – so schaffen die geistigen Prinzipien der Individualität den ihnen innewohnenden Ideen Raum. Die Analogie zwischen der Idee und einer Pflanze führt dann auch zu den Phasen einer Entwicklung: „Die Idee kann sich nur einer geistig individuellen Kraft anvertrauen, aber daß der Keim, welchen sie in dieselbe legt, sich auf seine Weise entwickelt, daß diese Weise dieselbe bleibt, wo er in andere Individuen übergeht, daß die aus ihm aufsprießende Pflanze durch sich selbst ihre Blüte und ihre Reife erlangt und nachher welkt und verschwindet, ... dies zeigt, daß es die selbständige Natur der Idee ist, welche diesen Lauf in der Erscheinung vollendet.“99 4m. In dem Aufsatz ›Über den Nationalcharakter der Sprachen‹, wo diese selbst als Naturgegenstände Ausdrücke derartiger Ideen sind, heißt es: „Jede menschliche Einrichtung hat einen Gipfelpunkt, über den es vergeblich sein würde, sie hinausführen zu wollen, weil einmal in ihm das Ziel wirklich erreicht ist.“ Mit dieser partiellen Teleologie erinnert Humboldt an die Wellentheorie von Velleius Paterculus. Humboldt fährt aber fort: „Allein die Idee, welche einer solchen Einrichtung zum Grunde liegt, kann bis ins Unendliche hin reiner, vollständiger, in mannigfaltigen Berührungen mit allen übrigen gedacht und empfunden werden.“100 Illustriert wird dies an der Abschaffung der Sklaverei: diese sei vollendbar, aber die Idee der Freiheit, worauf dies beruhte, sei in ihrem „Wachstum“ unendlich. 4n. Die historische Individualität wird hier zweigeteilt in die vergängliche Erscheinung und deren unvergängliche Idee. Erstere unterliegt nach Humboldt den Gesetzen von Wachstum, Blüte und Zerfall. „Alle lebendigen Kräfte, der Mensch wie die Pflanzen, die Nationen wie das Individuum, das Menschengeschlecht wie die einzelnen Völker, ja selbst die Erzeugnisse des Geistes, so wie sie auf einem, in einer gewissen Folge fortgesetzten Wirken beruhen, wie Literatur, Kunst, Sitten, die äußere Form der bürgerlichen Gesellschaft, haben Beschaffenheiten, Entwicklungen, Gesetze miteinander gemein.“101 Für das „Leben der Nationen“ und die „Schicksale des Menschengeschlechts“ wird der Lebenszyklus in Anspruch genom-



4. Humboldt und die Individualität

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men. Der Geist der Natur und der Geist der Menschheit werden in einen einzigen Organismus zusammengedacht.102 4o. Wenn die Wahrheit des Geschehenen, „das Höchste, was gedacht werden kann“, dem Historiker erkennbar wäre, „so läge in ihr enthüllt, was alles Wirkliche als eine notwendige Kette bedingt.“ Diese Erkenntnis aber scheint Humboldt kaum erreichbar, er bescheidet sich mit einer Teillösung. „Das Geschäft des Geschichtsschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen.“ Dabei soll sich der Historiker davor hüten, den Erscheinungen seine eigenen Vorstellungen aufzuzwingen. Die Erkenntnis der Ideen könne nur aus den Erscheinungen gewonnen werden. Humboldt stellt sich die Wanderung der Ideen etwa so vor: aus dem Himmel der unrealisierten Möglichkeiten steigen sie herab, verwirklichen sich in den Erscheinungen, werden von Historikern beschrieben und leben fort im Gedächtnis der Nachwelt. Hier hat der Historiker seine Funktion: er soll von den Ideen „durchdrungen“ werden, sich so in ihre Geschichte versenken, „daß sich die Ansichten, Gefühle und Ansprüche der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen.“103 4p. Es wäre falsch, hierin die Aufforderung zu sehen, der Historiker möge seine Subjektivität aufgeben und in einer unio mystica mit der Geschichte verschmelzen. Gemeint ist lediglich die unvoreingenommene Bereitschaft, die Ideen zur Kenntnis zu nehmen. Wir sollen uns die Augen auswischen, sollen uns bilden. Als Voraussetzung nennt Humboldt dafür eine „vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt“, die aber realisiert werden muß. Der Historiker wird aufgefordert, „mit hellem Blick das Wahre in der jedesmal herrschenden ­Ideenrichtung zu erkennen und sich mit festem Sinn daran anzuschließen.“104 Indem Humboldt den Sinn der Geschichte vom Ende der Zeiten in die mit Hilfe der Historie zu erreichende Vollendung des Einzelnen zurückholt, antwortet er auf die Enttäuschung, die eine Endzeiterwartung immer mitbringt, solange das gelobte Land noch in der Zukunft liegt, wie bei Kant, oder unseren Erwartungen nicht unbedingt entspricht, wie bei Hegel. 4q. In der Fortschrittsphilosophie finden sich am Ziel der Geschichte die letzten Menschen, die im glücklichen Genuß des Welten-Sabbat leben und ihn stellvertretend für die inzwischen verstorbene Menschheit auskosten. Bei Humboldt aber realisieren die späten Phäaken der Endzeit bloß ihre eigene Idee, die nicht besser sein muß als andere, ja kaum besser sein kann als die Idee der von Humboldt so hoch geachteten frühen Griechen. Daher stehen die Menschen der Zukunft dem Ziel der Geschichte nicht näher als die Menschen der Vergangenheit. Dieses Ziel besteht in der Vollendung einer Ganzheit, deren sämtliche Teile gleichermaßen notwendig sind. Daher läßt ich die Entfernung einer beliebigen Geschichtsperiode vom Ziel nicht in Zeiteinheiten ausdrücken. Die Geschichte vollendet sich für den und in dem, der die Idee der Humanität erkennt und an deren Realisierung mitwirkt – gleichgültig, wo er im Gesamtprozeß steht. Dies ist mithin an innere, nicht an äußere Bedingungen geknüpft.

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5. Faktum und Idee 5a. Das Christentum hatte den auserwählten Frommen im Anschluß an die Geschichte die Aufnahme ins Reich Gottes verkündet. Das war das Ziel ihrer Pilgerschaft auf Erden. Die Fortschrittsphilosophie seit der Aufklärung verweltlichte die Verheißung an die Menschheit als ganze, soweit sie an der Entwicklung zum Besseren mitarbeitet oder den glücklichen Endzustand auf Erden erreicht. Im historischen Idealismus jedoch geht es nicht um Glück und Unglück, sondern um die konkrete Verwirklichung abstrakter Prinzipien. Bei Schelling und Hegel bestimmen sie den Weg der Weltgeschichte, bei Herder und Humboldt prägen sie den Charakter der Völker und Individuen. In beiden Fällen gewinnt die Realität einen idealen Charakter, der jede Kritik an ihr obsolet macht und der sie als Schulmeisterei der Vorsehung abzukanzeln erlaubt. 5b. Diesen Vorwurf hat Nietzsche abgewiesen. Er verhöhnt 1874 Hegels Apologie der Wirklichkeit, indem er darin die „nackte Bewunderung des Erfolges“ erblickt, die zum „Götzendienste des Tatsächlichen“ führt. Wer erst gelernt habe, vor der „Macht der Geschichte“ den Rücken zu krümmen, der nicke zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein „Ja“ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung. Nietzsche bezichtigt die Hegelianer seiner Zeit als Advokaten des Teufels, „und zwar dadurch, daß ihr den Erfolg, das Faktum zu eurem Götzen macht: während das Faktum immer dumm ist und zu allen Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen als einem Gotte.“ Nietzsche erinnert an Israel in der Wüste.105 5c. Nietzsche erklärte den Idealismus für ein „Hirngespinst“, da seine Welt der Ideen nichts anderes sei, als die Welt der Dinge – „noch einmal“, eine Etage höher.106 Also: cui bono? Nietzsches Kritik trifft allerdings nur einen gewissermaßen optischen Idealismus, der in jeder realen Quisquilie den Schatten einer Idee sieht. Davor ist selbst Platon nicht zurückgeschreckt, wenn er von der Idee des Tisches oder des Bettes sprach. Auch bei Goethe findet sich ein – allerdings ironisches – Beispiel: Im Januar 1798 beschäftigte die Lektüre Schellings sein „höchstes Geistesvermögen“ so intensiv, daß er die „Weltseele“ mit ihrer „ewigen Metamorphose der Außenwelt“ verkörpert sah in einem jungen Elefanten, den eine Menagerie in Weimar zeigte.107 War es nicht der Namenspatron des bekannten Gasthofs? 5d. Ein weiterer Schwach- und Schwärpunkt des Idealismus zwischen Fichte und Schelling, Hegel und Croce ist die harmoniesüchtige All-Einheitslehre der Romantik, die Unterschiedliches bezeichnende Begriffe durcheinander würfelt und gegensätzliche Kräfte in der Welt auf dem Papier versöhnen will. Die Identitätsphilosophie führt zu einer schwammigen Terminologie, die sprachliche Bedeutungsgrenzen verwischt. Nach dem Prinzip variatio delectat heißt das höchste Wesen mal Gott, mal das Absolute, mal die Vorsehung, mal die Vernunft, mal Weltgeist oder Weltseele. Unterschiedliches bezeichnende Begriffspaare verschmelzen, so Realität und Rationalität, Notwendigkeit und Freiheit, Subjekt und Objekt, Sein und



5. Faktum und Idee

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Bewußtsein, Philosophie und Geschichte, das Wahre und das Ganze, die Zeit und der „daseiende Begriff“. Die Bedeutung der Wörter Geist, Logos, Totalität, Wirklichkeit, Mensch-in-der-Welt geht ineinander über. Das erinnert an Ortegas „intellektuelle Marmelade“ und an den Seufzer Kierkegards: „Aber Hegel – o, laß mich griechisch denken! Wie haben sich die Götter vor Lachen geschüttelt!“ 5e. Heinrich von Treitschke nannte 1861 den deutschen Idealismus das „köstlichste Kleinod unseres Volkes.“108 Zuviel des Guten! Eine Facette ist immerhin ernst zu nehmen: ein Denken, das sich mit der vordergründigen, oberflächlichen Feststellung von Einzelheiten und der puren Faktensammelei nicht begnügt, sondern die individuellen Phänomene als Ausdruck von generellen Prinzipien, von dominanten Tendenzen und Potenzen zu verstehen sucht, ähnlich wie ein Isaak Newton sich nicht darauf beschränkt, einen fallenden Apfel zu beobachten, sondern nach der Kraft fragt, die das bewirkt, ohne daß diese selbst wahrgenommen werden kann. Schwerkraft ist unsichtbar. In diesem Sinne kann man auch die Idee der Freiheit, den Geist der Humanität, das Streben nach Wissen nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern nur aus erkennbaren Vorgängen erschließen und zu deren Erklärung verwenden. 5f. Fatal wird die idealistische Geschichtsanschauung durch einen Fatalismus, der so, wie die Natur nicht zu tadeln ist, auch die Geschichte für unkritisierbar hält, weil sie das Werk des Weltgeistes sei. Ist sie doch – zumindest nicht weniger – das Werk von Menschen, die sehr wohl Kritik verdienen, und eben dies im Namen von Ideen wie der Herderschen Humanität. Ein durch sie geprägter Mensch wird die von Hegel gerechtfertigten Gewaltakte der Handlanger des Weltgeists und deren ironisch verharmloste Opfer nicht gläubig hinnehmen, sondern sich innerlich für die jeweils angegriffenen Schwächeren entscheiden. Diese spontane Solidarisierung, die uns ergreift, ohne daß wir dies vielleicht wollen, das würde Humboldt als Beispiel für die Kraft von Ideen anführen. Denn nicht wir ergreifen diese Ideen, sondern sie ergreifen uns; und ihnen sollten wir uns offen halten, hinhören, vernehmen – „Vernunft“ annehmen, die mitnichten allgegenwärtig ist. Selbst ein entschiedener Materialist hat einmal erklärt, daß Ideen deswegen so gefährlich seien, weil man auf sie nicht mit Kanonen schießen könne. Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, unsere Gesinnung erobert hätten, seien „Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen; das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.“ So Karl Marx in der Rheinischen Zeitung am 16. Oktober 1842.109

Die geschichtlichen Symbole, thörig, wer sie wichtig hält, immer forschet er ins Hohle und versäumt die reiche Welt. LH. 4,379

IX. Goethes universaler Individualismus a. Goethe unter den Geschichtsphilosophen? Gewiß, er war ein uomo universale, ein Mensch von unglaublicher Vielseitigkeit: Jurist, Dichter und Maler, Theater­ direktor und Staatsminister in Weimar, zuständig namentlich für den Bergbau, zeitweise sogar für den Feuerschutz und die Wehrmacht des Ländchens. Goethe war Sammler und Forscher auf vielen Gebieten. Mineralogie, Geologie, Meteorologie, Biologie und insbesondere die Optik, die Farbenlehre haben ihn beschäftigt. b. Anders steht es mit der Historie. Weder war die Geschichtswissenschaft für Goethe noch war Goethe für die Geschichtswissenschaft von besonderer Bedeutung. Im Unterschied zu seinem Freund Schiller und den meisten anderen deutschen Klassikern hat Goethe keinen längeren Text zur Geschichtsphilosophie oder zur Geschichte hinterlassen, abgesehen von der Wissenschaftsgeschichte zur Farbenlehre. Daneben gibt es eine Fülle von kürzeren, oft metaphorischen Äußerungen, die sich zwar nicht zu einem System, wohl aber mosaikartig zu einem Bild zusammenfügen. Dies zeigt: Goethe stand quer zu allen Geschichtsdenkern seiner Zeit. Er war Individualist, keiner Religion, keiner Philosophie, keiner einzelnen Stilrichtung verpflichtet. c. Trotz seinen eher sporadischen Bemerkungen ist Goethe von verschiedenen Geschichtsdenkern als Gründervater oder Kronzeuge in Anspruch genommen worden. Marx und Engels berufen sich häufig auf ihn, sie zitieren namentlich den Faust, den Zauberlehrling und den West-östlichen Divan. Als Brücke dient Goethes Humanismus. Nietzsche glaubte, Goethes Blut rolle in seinen Adern. Spengler erklärte, er verdanke seine Geschichtslehre vor allem Goethe. Meinecke versuchte, Goethe als Wegbereiter des Historismus zu beschlagnahmen. Konrad Lorenz verwendete Goethezitate als vornehmsten Buchschmuck. Dieser vielseitigen Inanspruchnahme des Dichterfürsten stehen seine überaus abfälligen Äußerungen über Sinn und Gehalt der Geschichte entgegen.

1. Unbehagen an der Geschichte 1a. Geschichte erschien Goethe nicht erkennbar, nicht erklärlich, nicht erfreulich. So lesen wir’s im ›Faust‹. Ihm ist in Wagner ein Famulus zugeordnet, der Historiker



1. Unbehagen an der Geschichte

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ist. In der Nachtszene im Studierzimmer erscheint Wagner und gesteht, daß ihm bei seinem „kritischen Bestreben“ bang werde, weil er nicht Zeit und Mittel habe, „durch die man zu den Quellen steigt.“ Dagegen Faust: „Das Pergament, ist das der heilge Bronnen, / woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt? / Erquickung hast du nicht gewonnen, / wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.“ Das Glück könne nicht in der Vergangenheit gefunden werden, und dies bestätigt Goethe später gegenüber dem Kanzler von Müller.1 Schon in dem langen Gespräch mit dem Jenenser Historiker Heinrich Luden 1806 identifizierte sich Goethe mit seinen Thesen im Faust.2 Diesem erwidert Wagner: „Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen, / sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, / zu schauen wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht.“ Dasselbe Bekenntnis macht Wagner auf dem Osterspaziergang: „Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen, / so steigt der ganze Himmel zu dir nieder.“ Wie treffend Goethe hier den zünftigen Historiker zeichnet, ließe sich an Rankes Begeisterung für Akten und Urkunden aufzeigen. 1b. Goethes schwerster Einwand gegenüber der Historie betrifft deren Unvermögen, die Vergangenheit zu erschließen. Er schreibt: „Die Pflicht des Historikers ist zwiefach. Erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muß er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum muß aber nicht ins Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.“3 Anderenfalls bleibt nicht viel von ihr übrig. „Wenn man sich bei der Geschichte nicht beruhigt wie bei einer Legende, so löst sich zuletzt alles in Zweifel auf.“4 Drastischer bemerkt schon Faust zu Wagner: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit / sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.“5 Unterstellt wird, daß diese Siegel, anders als normale Siegel, nicht zu brechen seien. Das Motiv ist antik. Die Siegel der sieben Zeugen, die ein römisches Testament rechtsgültig machten,6 wurden in der Johannes-Apokalypse zur Metapher. Dort bezeichnete die sukzessive Lösung der Siegel die dem Autor zuteil gewordene Offenbarung und zugleich die sieben Abschnitte des Endzeitgeschehens. 1c. Herder wandte das Gleichnis 1774 auf die Profangeschichte an: „Das Buch der Vorgeschichte liegt vor dir! mit sieben Siegeln verschlossen; ein Wunderbuch voll Weissagung: auf dich ist das Ende der Tage kommen! lies!“7 Herder meinte mithin, die Siegel seien ohne weiteres zu brechen. Damit stand er nicht allein. Luden vertrat 1806 gegenüber Goethe die Auffassung, daß es gerade die Aufgabe der Geschichtsforschung sei, die sieben Siegel zu lösen; aber der Dichter blieb skeptisch. Er meinte später zu Riemer, daß der größte Teil der Geschichtsüberlieferung nichts weiter als „Klatsch“ sei.8 Wir denken an Voltaires Definition der Geschichte als fable convenue. Niemand könne, trotz der sich überall gleichenden Einzelzüge, die Menschenwirtschaft als ganze nicht übersehen.9

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IX. Goethes universaler Individualismus

1d. Historie ist, wie Goethe betont, Projektion, immer perspektivisch.10 So Faust zu Wagner: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / das ist im Grund der Herren eigner Geist, / in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Das bedeutet, daß die Geschichte sich in unserem Geist reflektiert, wir aber die verzerrenden Wirkungen des Spiegels nicht wahrnehmen, weil wir das Spiegelbild mit der Realität nicht vergleichen können. Darin steckt das Dilemma jeder Widerspiegelungs-Theorie. Auch ihre Wurzeln liegen im Neuen Testament: Paulus schreibt, daß Gott in diesem Aion nur wie in einem Spiegel erscheine.11 Gemäß dem historischen Idealismus „spiegelt“ sich in der Geschichte der Weltgeist (Schelling) oder die Idee (Hegel), nach dem historischen Materialismus „spiegeln“ sich dort die Produktionsverhältnisse (Engels).12 Im Gegensatz zu dieser christlichen Tradition der Spiegelthese bestreitet Goethe, daß die Urbilder sichtbar werden können. Die subjektive Verzerrung der Geschichte durch den Historiker unterstrich Goethe auch sonst, etwa in der Bemerkung, daß ein jeder sie „nach seiner Taille“ wiedergebe.13 Die großen historischen Daten sind für uns „Geheimnisse“.14 1e. Die Vergangenheit ist uns verschlossen, und was wir durch das Schlüsselloch der Überlieferung gewahren, ist nicht erfreulich. Die ganze geschriebene Geschichte nannte Goethe 1829 einen „großen Euphemismus“. Man könne aus der Geschichte nichts lernen, denn sie enthalte nur eine „Masse von Torheiten und Schlechtigkeiten.“15 Goethe meint: „Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft. Ja, man kann sagen, sie wird immer verdrießlicher zu lesen, je länger die Welt steht.“ Die Zeit destilliert die Geschichte; was bleibt, ist das Caput Mortuum, der Bodensatz.16 1f. Das wird konkretisiert. Die römische Geschichte sei nicht mehr an der Zeit, „wir sind zu human geworden“ für die Triumphe Caesars. Auch die griechische Geschichte biete wenig Erfreuliches wegen ihrer inneren Kriege. Das Mittelalter war „Barbarey“.17 Es lohne nicht, sich mit den „Schlackenhalden vergangener Jahrhunderte herumzumühen.“18 So heißt es weiter im ›Faust‹: „Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer! / Man läuft euch bei dem ersten Blick davon. / Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer / und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion / mit trefflichen pragmatischen Maximen, / wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen.“ Der Kehricht dieser Welt ist bei Paulus eine Selbstbezeichnung für die Christen, die erst in jener Welt das kostbare Inventar seien.19 Bei Marc Aurel wird mit diesem Vergleich das Übel gekennzeichnet, das man aus dem Hause des Kosmos nicht hinauswerfen könne. An Marc Aurels Bild der Weltgeschichte als Marionettentheater.20 erinnert Goethes Gleichsetzung von Handelnden mit Puppen. 1g. In die Bühnensprache gehört ebenso der Begriff der „Haupt- und Staats­ aktion“. Faust bekundet mit ihm seine Verachtung für die Politik, und auch Goethe denkt so. Während Europa sich über die Französische Revolution zerstritt, erklärte er, daß ihm „weder am Tode der aristokratischen noch (dem der) demokratischen Sünder im mindesten etwas gelegen sei.“21 Nachdem am 6. August 1806 Franz II,



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der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der deutschen Krone entsagt hatte, notierte Goethe in sein Reisetagebuch: „Zwiespalt des Bedienten und des Kutschers auf dem Bocke, welches uns mehr in Leidenschaft versetzte als die Spaltung des Römischen Reichs.“ Das erinnert an den Spott über die Sorge „fürs Römische Reich“ in Auerbachs Keller. „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“ Der Brand Moskaus berührte Goethe nicht.22 Napoleon wurde bewundert nicht als Feldherr, nicht als Staatsmann, sondern als Charakter und als Leser des Werther. 1h. Goethe gab sich das „Gesetz“, sich „nicht in öffentliche Händel zu mischen.“23 In der Idylle des aufgeklärten Absolutismus unter dem Weimarer Großherzog ließ Goethe „hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“. Im Gegensatz zu Freund Schiller, dem Dichter der Freiheit, demonstrierte Goethe in politicis Gelassenheit. Für Fragen der Staatsordnung und für kriegerische Ereignisse, ebenso für Wirtschaft und Gesellschaft, für Technik und Recht zeigte er wenig Anteilnahme. Sein Desinteresse an der Pariser Julirevolution 1830 ist umstritten. 1i. Mitunter wehrte sich Goethe geradezu gegen historische Belehrung. Sie be­lastete seine unbefangene Anschauung. In Venedig notierte er: „Die historische Kenntnis fördert mich nicht, die Dinge standen nur eine Hand breit von mir ab; aber durch eine undurchdringliche Mauer geschieden.“24 In Palermo beleidigte er einen Cicerone, der die schönste Stimmung des Frühlings und des Friedens durch die Erzählung von einer Schlacht „Hannibals“ – vermutlich Hamikars – zerstörte. Von solchem „Nachgetümmel“ wollte der Dichter nichts hören.25 Goethe spricht von den „düstern Regionen der Geschichte“, sie biete ein „Labyrinth von Sein und Nicht-Sein“,26 ein „Gewebe von Unsinn für den höhern Denker, und wenig aus ihr zu lernen.“27 1828 bemerkte er: „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die profane Geschichte zu bekümmern, die „das Absurdeste ist, was es gibt“. Goethe wird geradezu zynisch, indem er fortfährt: „Ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor, mich darum zu kümmern.“28 Zumal die Kirchengeschichte sei ein „Produkt des Irrtums und der Gewalt.“29 1j. Goethes Skepsis steht in krassem Gegensatz zu Hegels Vernunftglauben. War für diesen die Geschichte die „Auslegung des Geistes in der Zeit“, so ist sie für den jungen Goethe ein Trümmerhaufen. Faust zweifelt daran, daß man in der Geschichte seine Erfüllung erleben könne: „Hier soll ich finden, was mir fehlt? / Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen, / daß überall die Menschen sich gequält, / daß hier und da ein Glücklicher gewesen?“ 1806 heißt es: die große Wahrheit sei längst entdeckt, „daß es zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen ist.“30 Geschichte, meinte er, bleibe „das undankbarste und gefährlichste Fach.“31 1k. Goethes Mißmut beschränkt sich nicht auf die Geschichte, sondern erstreckt sich auf das Menschendasein überhaupt. „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; / weh dir, daß du ein Enkel bist!“ heißt es im ›Faust‹, denn es „erben sich Gesetz’ und Rechte / wie eine ewge Krankheit fort.“ Goethe meinte, weil die Zeit in ewigem

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IX. Goethes universaler Individualismus

Wandel sei, könne eine „Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen“ sein. Für jedes Volk aber sei nur das seinem Charakter und seiner Altersstufe Gemäße gut, alle künstlichen Neuerungen, insbesondere importierte Revolutionen blieben ohne Erfolg.32 1l. Der Fortschrittsglaube wird verspottet. Wagners Stolz darauf, „wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht“, überbietet Faust: „O ja, bis an die Sterne weit!“ Wenn die Humanität siege, wie Herder und die Aufklärer meinten, schrieb er 1787, dann würde „die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter.“33 Goethe geht davon aus, daß alle Menschen irgendwie schlecht, irgendwo krank sind, aber es gibt für ihn wichtigere Themen als Gesundheit und Moral. Er meinte „daß man aus dem moralischen Standpunkt keine Weltgeschichte schreiben kann.“ So sah das auch Hegel.34

2. Antiquarisches Interesse 2a. Wer sich den Musen weiht, muß auch deren Mutter sein Opfer bringen. Und das ist Mnemosyne, die Erinnerung, die über Eindrücke in Sprache und über Sprache in Geschichte kristallisiert. Erinnerung füllt die Worthülsen mit Inhalt; sie klärt zunächst im Kleinen, im Eigenen, was sodann im Großen, im Anderen gemeint sein kann, was historische Ereignisse, was Entwicklungen, was Zusammenhänge sind und sein können. So bemerkt Goethe:„Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat.“35 Dies heißt, daß man zunächst einmal sich selber historisch begriffen haben muß, als Produkt aus inneren und äußeren Faktoren, wandelbar und doch identisch. Seinen eigenen Bildungsgang hat er reflektiert und dokumentiert. Goethes abfällige Äußerungen über Geschichte überblenden sein historisches Interesse, das zwar nie dominant wurde, aber seine gesamte intellektuelle Biographie begleitet. 2b. Goethe fordert, daß man irgendwann einmal „den spielenden Figuren der Zeit in die Karten gesehen“ haben müsse, um das Gerangel der Mächte zu begreifen.36 Dreimal ist er mit der großen Geschichte in Berührung gekommen. Am 3. April 1764 erlebte er die Krönung Josephs II in Frankfurt,37 die ihm vergangene Jahrhunderte lebendig machte. Das zweite große Ereignis, an dem er teilnahm, war der Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die französische Revolutionsarmee 1792. Goethe berichtet über die verlustreiche Kanonade von Valmy und über seinen angeblich damals geäußerten Trostspruch an die preußischen Offiziere: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.“38 Das dritte Erlebnis war dann die Begegnung mit Napoleon 1808. Der Kaiser, beim Frühstück sitzend, erklärte dem vor ihm stehenden Dichter, dessen ›Werther‹ sieben Mal gelesen zu haben. Napoleon entließ ihn mit dem Wort voilà un homme! und übersandte ihm das Ritterkreuz der Ehrenlegion.39



2. Antiquarisches Interesse

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2c. Schon früh haben persönliche Erlebnisse Goethes Interesse an der Geschichte beflügelt. In der Freien Reichsstadt Frankfurt vertiefte er sich in ihre ehrwürdi­- gen Traditionen, indem er Siegel sammelte und sich mit der „Güldnen Bulle“ be­­ schäftigte.40 Heimatkundliches Interesse weckten ihm ebenso die römischen Überreste in Rheinhessen, mit denen er sich noch in hohem Alter befaßte.41 An seinem 60. Geburtstag wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. Außerdem war er seit 1828 Ehrenmitglied im Verein für Nassauische Altertumskunde, der noch heute existiert.42 2d. Landesgeschichte faszinierte Goethe sodann als Student im Elsaß: „Meine Liebhaberei zu altertümlichen Resten war leidenschaftlich.“43 Er las Schöpflins ›Alsatia illustrata‹ (1751/61), frequentierte das Stadtmuseum Straßburgs, besuchte die römischen Ruinen und konnte sich „gar manchen Traum der Vorzeit wachend ausmalen“. Viel mehr als die Juristerei, sein Fach, begeisterte ihn das Mittelalter. Epochal wurde ihm die Entdeckung der Gotik, das Erlebnis des Straßburger Münsters 1770, für Goethe eine „Offenbarung“, und dann die Reise mit Lavater nach Köln 1774. Dabei meditierte er über den unfertigen Dom: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstisches in die Gegenwart brachte.“44 2e. Zum dritten ist das Italien-Erlebnis zu nennen.45 1786 bis 1788 bereiste er das Land und bestaunte seine antiken Monumente. Sie faszinierten ihn, obschon er den festen Vorsatz gefaßt hatte, sich ihnen gerade nicht auszuliefern. In Sizilien legte er den Grundstein zu seiner Münzen- und Medaillensammlung, die ihm so wie die Siegel zuvor einen sinnlichen Zugang zur Geschichte vermittelte. Überhaupt sammelte Goethe ziemlich alles, was sich sammeln läßt: zuletzt besaß er über 26 000 Objekte. Alles interessierte ihn, woraus er etwas lernen konnte. 2f. Bemerkenswerter als die Belehrung, die Goethe durch historische Denkmäler gewann, war die Stimmung, in die sie ihn versetzen konnten. Dies zeigt seine Begegnung mit der Igeler Säule. Er sah bei Trier dieses 23m hohe Grabmal eines römischen Tuchhändlers aus der Zeit um 240 n. Chr. während der Kampagne in Frankreich. Man sollte meinen, daß jemand, der in Rom gelebt hat, für dieses provinzialrömische Monument nicht mehr als einen Blick übrig haben sollte. Aber nein, Goethe war begeistert. Ihm vermittelten die Darstellungen aus dem Alltag fleißiger Bürger den Eindruck „glücklicher, siegreicher Tage und eines dauernden Wohlbefindens rühriger Menschen“, ein Sinnbild „fröhlich tätigen Daseins“ in der heilen Welt der pax romana. Nicht die bescheidene ästhetische Qualität, sondern der erzählerische Gehalt der lebensnahen Szenen beflügelte seine dichterische Phantasie. Er spricht hier von einem Denkmal, das ihm „wie der Leuchtturm einem nächtlichen Schiffenden entgegenglänzte.“46 2g. Wie sehr auch ganz unscheinbare, ja rätselhafte Artefakte Goethe beschäftigen konnten, zeigt sein Umgang mit prähistorischen Altertümern.47 Über ihrer

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Geschichte lag damals ein Schleier. 1823 entdeckte man im thüringischen Haß­ leben die Reste eines Urstiers mit Scherben und Asche. Daraus schloß Goethe auf eine Opferhandlung in „uralter Zeit einiger Cultur“ und hoffte auf weitere Er­fahrungen, „um in den düsteren Regionen der Geschichte einen schwachen Schein leuchten zu lassen.“48 Das Suchen nach „altdeutschen Überbleibseln“ schien Goethe höchst lobenswert. Mehrfach hat er sich als Gutachter zu urgeschichtlichen Funden geäußert, zu Bronzeringen, Steinäxten und keltischen „Regenbogenschüsselchen“, die er als barbarische Münzen nach griechischen Mustern erkannte. 2h. Das lebhafteste Interesse nahm Goethe an fossilen Knochenfunden. Für Menschenschädel setzte er hohe Prämien aus, namentlich an den Zähnen – die ihm selber fehlten – war ihm gelegen. So wie sein Freund, der Anthropologe Blumenbach, glaubte er, von der Schädelform auf Gemüt und Anlage schließen zu können. Enthusiastisch äußerte er sich über die „herrliche Gestalt“ der Knochen von GroßRomstedt. Er erkannte hier „ein Volk mit den glücklichsten Sinnen für die Außenwelt begabt, nicht weniger mit allen Eigenschaften, worauf sich Dauer und Glück der Familien und Stämme gründet.“ Noch fehlten die „garstigen egoistischen Auswüchse...hinter den Ohren eines ausgearteten Menschengeschlechts.“49 Die Leute hatten es eben noch nicht „faustdick hinter den Ohren“. Wie bei der Säule von Igel evoziert das alte Objekt ein Panorama vergangenen Lebens. 2i. Schließlich war Goethe ein emsiger Leser, nicht zuletzt von Geschichtsbüchern. Über seine Lektüre sind wir gut informiert. Unter den einschlägigen Werken finden wir solche von Herodot, Plutarch und Tacitus, von Machiavelli, Winckelmann, Voltaire und Herder, von Gibbon, Raumer, Niebuhr und Friedrich Christoph Schlosser. Letzterer, so Goethe, gehöre zu „denjenigen, die aus dem Dunkeln in’s Helle streben, ein Geschlecht, zu dem wir uns auch bekennen.“50

3. Poetische Gestaltung 3a. Die Begegnung mit Monumenten und Dokumenten wurde von Goethe poetisch verarbeitet. Zu literarischen Ergebnissen führte seine Beschäftigung mit Meister Erwin von Steinbach (gest. 1318), dem Leiter der Straßburger Münsterbauhütte. Goethes Schrift ›Von deutscher Baukunst‹ von 1773 förderte die Neubewertung der zuvor als barbarisch verfemten Gotik.51 Aus demselben Jahr stammt das Drama ›Götz von Berlichingen‹, das in die bewegte Geschichte des Bauernkrieges um 1525 hineinführt. Mit dem 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert Fausts, hat Goethe sich eingehend befaßt, nicht nur wegen dessen „Deutschheit.“52 Dies zeigt sich in den Dramen über Egmont (gest. 1568) und Torquato Tasso (gest. 1595) sowie in der Übersetzung der Autobiographie des heißblütigen Goldschmieds Benvenuto Cellini (gest. 1571) aus Florenz. Tasso und Cellini spiegeln Goethes Italienerlebnis, und dies gilt ebenso für die Schrift über ›Winckelmann und sein Jahrhundert‹ von 1805, die dem Begründer der Kunstarchäologie (gest. 1768) gewidmet ist.



3. Poetische Gestaltung

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3b. Für die poetische Behandlung historischer Stoffe fordert Goethe einen Blick auf das Individuelle als Repräsentanten des Generellen. „Der Poet soll das Besondere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. In jedem Falle nimmt sich Goethe dafür dichterische Freiheit. Egmont muß auf der Bühne ein freiheitsbegeisterter jugendlicher Held und Lieb­ haber sein, nicht der besorgte, verschuldete Familienvater von elf Kindern, der er war. Aber Goethe meinte: „Wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben.“53 Damit unterschreibt Goethe keinesfalls die These des Aristoteles,54 daß die Dichtung „philosophischer“ sei als die Historie, weil sie Grundsätzliches behandele und nicht bloße Einzelfälle darstelle. Vielmehr fordert Goethe die Dichter zu einem edlen Wettbewerb mit den Historikern auf, um sie „womöglich“ zu übertreffen. 3c. 1811 schickte Niebuhr dem Dichter seine ›Römische Geschichte‹, in der die Heldentaten der frühen Zeit in die Sagenwelt verwiesen werden. Goethe stimmte zu. Seine Antwort: „Die Sonderung von Dichtung und Geschichte ist unschätzbar, indem keine von beiden dadurch zerstört, ja vielmehr jede erst recht in ihrem Wert und ihrer Würde bestätigt wird.“55 Nur vordergründig zersetzt die historische Kritik die historisierende Poesie, denn jene zeigt nur, wie aus dem „bekannten Gewordenen das unbekannte Werden“ erschlossen wird. Höchst reizend sei „der Punkt, wo Geschichte und Sage zusammengrenzen.“56 Geschichtsschreibung, der es um Wahrheit geht, hat eine poetische Dimension, faßbar in ihren Darstellungsprinzipien. Dichtung wiederum hat eine historische Komponente, denn sie ist Quelle für die Kulturgeschichte. „Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf gar nicht aufgeworfen werden... Jedem gebührt seine eigene Krone.“57 3d. Zum Verhältnis zwischen Poesie und Historie bemerkt Goethe: „Die eigentliche Kraft und Wirksamkeit der Poesie so wie der bildenden Kunst liegt darin, daß sie Hauptfiguren schafft und alles, was diese umgibt, selbst das Würdigste, untergeordnet darstellt. Hierdurch lockt sie den Blick auf eine Mitte, woher sich die Strahlen über das Ganze verbreiten, und so bewährt sich Glück und Weisheit der Erfindung so wie der Komposition einer wahren alleinigen Dichtung. Die Geschichte dagegen handelt ganz anders. Von ihr erwartet man Gerechtigkeit, sie darf, ja sie soll den Glanz des Vorfechters eher dämpfen als erhöhen. Deshalb verteilt sie Licht und Schatten über alle, selbst den geringsten unter den Mitwirkenden zieht sie hervor, damit auch ihm seine gebührende Portion des Ruhms zugemessen werde. Fordert man aber, aus mißverstandener Wahrheitsliebe, auch von der Poesie, daß sie gerecht sein solle, so zerstört man sie alsobald.“58 Der Dichter muß gestalten, muß verdichten dürfen. Historische Kritik hingegen kann Überlieferung um ihre poetische Wirkung bringen. Läßt sich das nicht verbieten, so muß man das doch bedauern. Daß der Einfall der Mongolen nach Schlesien 1241 nicht heroisch durch den Herzog von Liegnitz und den Grafen Sternberg, die „großen Retter der deut-

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schen Nation“, abgewehrt wurde, sondern ganz banal durch den Tod des Groß­ khans, weiß und beklagt Goethe. Bei dieser Erkenntnis „wird einem ganz abscheulich zumute.“59

4. Kreislauf statt Fortschritt 4a. Goethe glaubte, „daß die Geschichte des Menschen den Menschen darstelle“, so wie er ist und immer war. Wie Thukydides erkannte er, daß immer wieder „unter der Politur der Naturstoff hervorblickt“, wenn die Vitalität von Kraftnaturen ­einmal mehr zur Geltung kommt.60 Kein Zustand befriedigt den faustischen Menschen auf Dauer: „Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, er, unbefriedigt jeden Augenblick!“ Die gleichbleibende Menschennatur macht Geschichte erkennbar. „Da wir alle auf gleiche Weise gebaut sind“, wiederholen sich gewissen Ansichten, so daß, „es werde entdeckt, was da wolle, immer ein Analogon davon in früherer Zeit aufgefunden werden kann.“ Goethe meinte mit Salomo, daß nichts Neues unter der Sonne geschehe. „Die Welt bleibt immer dieselbe, die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere.“61 Das expliziert der Vergleich zwischen der Geschichte und einem Text. „Wenn man das Treiben und Tun der Menschen seit Jahrtausenden erblickt“, sagte Goethe 1818 zum Kanzler von Müller, „so lassen sich einige allgemeine Formeln erkennen“, die immer wiederkehren, „ewig unter tausend bunten Verbrämungen dieselben“. Das ergibt eine Grammatik der Geschichte, „eine Art Alphabet des Weltgeistes.“62 Im Text der Weltgeschichte begegnet ihm trotz vielfältigen Verbindungen doch nur eine begrenzte Zahl von Zeichen. Dasselbe Bild bot ihm die Natur: „Jeder Charakter, so eigentümlich er sein möge, und jedes Darzustellende, vom Stein herauf bis zum Menschen, hat Allgemeinheit, denn alles wiederholt sich.“63 4b. Geschichte hat für Goethe einen Bildungswert. Am 3. Juni 1808 schrieb er an seinen Sohn August: „Daß auch Deine Studien einen historischen Gang nehmen, ist mir angenehm. Zu erfahren, wie die Zustände nach und nach auf eine irdisch menschliche Weise herangekommen, was verloren gegangen, was geblieben, was fortwirkt, ist so belehrend als erfreulich, und die Jugend, die das Glück hat, das Vergangene auf diese Weise zu ergreifen, antizipiert das Alter und bereitet sich ein heiteres Leben. Das Allgemeine gibt sich auf diesem Wege von selbst: denn in dem irdischen Kreise ist denn doch alles wiederkehrend.“ Exemplifiziert wird das am ›Egmont‹. Die darin geschilderten revolutionären Szenen hätten sich 1785 in den Niederlanden „buchstäblich wiederholt“. 4c. Im Gegensatz zur dominant linearen Geschichtskonzeption seiner Zeitgenossen zeigt Goethe eine Vorliebe für zyklische Denkformen. „Unbeschadet des Glaubens an eine fortschreitende Kultur“, den Goethe dahingestellt sein läßt, „ließ sich“, so führt er aus, wie „in der Weltgeschichte so in der Geschichte der Wissenschaften gar wohl



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bemerken, daß der menschliche Geist sich in einem gewissen Kreise von Denk- und Vorstellungsarten herumbewege“. Man komme immer wieder „in demselben Kreise auf einen gewissen Punkt zurück.“ In den Wissenschaften sieht Goethe einen „ewigen Kreislauf“, allerdings nicht der – durchaus wachsenden – Kenntnisse, sondern der – immer wiederkehrenden – „Denkweisen.“64 Dies gilt für den Gang des menschlichen Geistes generell. Er drehe sich „in einem gewissen Kreise herum, bis er ihn ausgelaufen hat.“65 Kreisläufe entnahm Goethe antiken Autoren, so von Polybios den Verfassungskreislauf66 und von Velleius Paterculus die Periodik in der Kunstgeschichte.67 4d. Das Kreislaufmodell wurde von Goethe erweitert. Von den „Alten“ heißt es, sie hätten den abgeschlossenen Kreis menschlicher Vorstellungsarten völlig, wenngleich oft nur flüchtig und genialisch durchlaufen, so daß Originalität im Grundsätzlichen kaum noch möglich ist.68 Wohl aber lassen sich die Erkenntnisse verfeinern, so daß sich die Fortschritte der Menschheit in Form einer Spirale darstellen. In dieser Form erscheint der „Fortschritt der Wissenschaften.“69 Denn es wiederholen sich alle Einsichten und Irrtümer auf höherer Ebene.70 Es sei „lächerlich, wenn die Philister sich der größern Verständigkeit und Aufklärung ihres Zeitalters rühmen und die frühern barbarisch nennen.“ Ehedem belebte die Phantasie die Welt mit Göttergestalten, heute zerlegt man Phänomene durch Begriffe. Darin erkennt Goethe eine destruktive Kraft.71 Die von ihm mehrfach zitierte „Spiraltendenz“ hatte er von dem Botaniker Martius übernommen72 und übertrug sie auf die Geschichte. Er sprach von einer „Uhrfeder, die auseinandergeht und sich wieder zusammenzieht“. Damit gewann die Spirale einen Zeitbezug. Goethe verdeutlichte dies an der Wiederkehr der Barbarei bei allen Völkern: Wie „eine finstere Wolke bedeckt das Mittelalter die Sonne des Altertums. Da haben sie meine Feder“. Sobald die Sonne wieder scheint, wird aber klar, „welch ungeheure Fortschritte auch während der Finsternis gemacht worden sind.“73 4e. Welt, Nationen und einzelne Menschen gehorchen demselben Gesetz der Geistesepochen. Es führt vom fruchtbaren Chaos des Anfangs in eine „gesunde Sinnlichkeit“ (gemeint sind die Griechen). Die Poesie erzeugt eine Welt von Göttern und Dämonen, „die sodann sämtlich von Einem Gotte abhängig gedacht ­werden“ (das war das Mittelalter). Diese zweite „heilige“ Epoche mündet drittens in eine Aufklärung, die zugleich erleuchtet und zerstört (so im 18. Jahrhundert). Die vierte Epoche (das 19. Jahrhundert) ist „prosaisch“, gemein und endet wieder im Tohu wa Bohu des Anfangs, dessen Produktivität nun aber erloschen ist.74 „Tohuwabohu“ ist in der Genesis der Urzustand, als die Erde „wüst und leer“ war. 4f. Zuweilen aber rechnet Goethe optimistisch mit einer Verjüngung nach der Katastrophe. 1828 bemerkte er zu Eckermann, er „sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an der Menschheit hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung.“ Im Jahre darauf äußerte er die Überzeugung, „daß unser 19. Jahrhundert nicht einfach eine Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfange einer neuen Ära bestimmt scheine.“75 Mit dieser Verjüngungs-

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konzeption erinnert Goethe an den neuen Aion, die Apokatastasis des Petrus oder an die antike Lehre der Weltperioden.76 Griechisches Gedankengut findet sich in Goethes Weltbild mehrfach,77 denken wir an die Kette der goldenen Eimer der Himmelskräfte im Prolog zum Faust nach Platon, an die Wendung der „Gottheit lebendiges Kleid“ im gotischen Zimmer nach Pherekydes78 oder an die Bezeichnung von Natur und Geschichte als „Abglanz jenes Urlichts droben, das unsichtbar alle Welt erleuchtet“, wiederum nach Platon.79 4g. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt eher kumulativen als progressiven Charakter. Sie „ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.“ Ein Finale ist nicht absehbar, denn „jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.“80 Je tiefer man in die Geschichte „eindringt, desto schwierigere Probleme tun sich hervor.“ Goethe glaubt, daß man überhaupt keine letzte Klarheit über die Menschheit gewinnen könne, denn in der Welt- und Menschengeschichte „enthüllt das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulösendes.“81 Er verspottet die Redewendung, „die Bahn sei gebrochen“, indem er an einen Eisbrecher erinnert, hinter dem das Wasser sofort wieder zufriert. So schließe „sich auch der Irrtum, wenn vorzügliche Geister ihn beiseite gedrängt und sich Platz gemacht haben, hinter ihnen sehr geschwind wieder naturgemäß zusammen.“ Dies könnte man auf Goethe selbst anwenden, der seinerseits nichts von den Einsichten Isaac Newtons wissen wollte.82 4h. Für die Verbindung an Zyklik und Linearität im Geschehen gebraucht Goethe neben der Spirale das altbeliebte biologische Lebensgesetz des Wachsens, Blühens und Sterbens. Es sei Winckelmanns Verdienst, „die ganze Kunst als ein Lebendiges (zōon) anzusehen, das einen unmerklichen Ursprung, einen langsamen Wachstum (sic), einen glänzenden Augenblick seiner Vollendung, eine stufenfällige Abnahme wie jedes andre organische Wesen, nur in mehreren Individuen notwendig darstellen muß.“83 Diesem dreigestuften Rhythmus von Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang unterstünden, meint er, sowohl die Kultur überhaupt84 nebst ihren Schaffensperioden in der Art der altdeutschen Baukunst als auch ganze Völker und einzelne Individuen. „Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen.“85 Dies wird mitunter spezifiziert, wenn beispielsweise die persönliche Entwicklung eines Cellini vom Handwerker zum Künstler den Gang der Kunstgeschichte insgesamt rekapituliert. In diesem Denkmodell mikromegischer Korrespondenz wird nicht wie sonst die Gesamtentwicklung aus dem Einzelleben begriffen, sondern umgekehrt. Ernst Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“, d. h. die Parallele zwischen Ontogenese und Phylogenese, ist bei Goethe in der Geistesentwicklung vorweggenommen. 4i. Spirale und Lebensgesetz vertragen sich mit dem Begriff der Steigerung, der zu Goethes Ordnungsprinzipien gehört. Er bezeichnet eine immanente Teleologie wie im Bereich der Natur so auf den Gebieten der Kunst und des Seelenlebens.86



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Den universalen Fortschrittsgedanken verwarf er. Als er 1806 in Karlsbad mit dem Landgrafen von Hessen über den „Gang der Menschheit“ sprach, war von einem Fortschritt gewiß nicht die Rede. Goethe wagte nicht zu „hoffen, daß die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne.“87 1824 bemerkte er zu Eckermann: „Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden: den Großen nicht, daß kein Mißbrauch der Gewalt stattfinde, und der Masse nicht, daß sie in Erwartung allmählicher Verbesserungen mit einem mäßigen Zustande sich begnüge. Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohlbefindet; Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.“88 Die Welt behalte immer eine Tag- und eine Nachtseite.89 Das sah die Aufklärung anders. 4j. Zu seiner Gegenwart hatte Goethe ein gespaltenes Verhältnis. Seine mitunter aufblühende Hoffnung auf ein großes Geistesleben im künftigen Deutschland wurde getrübt durch Anwandlungen von Pessimismus. Dann hatte er das Gefühl, in einer „rückschreitenden“ Zeit zu leben, ja am Ende einer Zeit zu stehen.90 Schon am 30. August 1797 heißt es an Schiller: „Wir armen Künstler dieser letzten ­Zei­­ten.“ Ein Grund für diese Stimmung waren die neuartigen „Facilitäten der Com­­mu­ nikation“. Sie verwirrten ihn; das gesteigerte Lebenstempo habe eine allgemeine Mittelmäßigkeit zur Folge. „Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten sein einer Epoche“, heißt es, „die sobald nicht wiederkehrt“ – also irgendwann doch?91 Im krassen Gegensatz zum zeitgleichen Optimismus Hegels erklärt Goethe: „Die Gegenwart hat wirklich etwas Absurdes.“92 Er glaubt sich wieder mitten in einer neuen Barbarei, da man das Vortreffliche nicht anerkenne.93 In einem Anflug von Resignation verglich er sich mit Kaiser Diocletian in dessen Alterspalast Spalato. „Es soll mir nunmehr höchst angenehm sein, als letzter Heide zu leben und zu sterben.“94 4k. Die periodische Abfolge der Zustände in der Geschichte beschreibt Goethe oft in Gegensätzen, wie sie seit Hesiod und Heraklit als Urform und Ursache der Bewegung bekannt sind.95 Polarität gehört zu seinen zentralen Ordnungsbegriffen.96 Sie ist, neben der Steigerung, eines der „zwei großen Triebräder der Natur.“97 Allenthalben findet sie sich, so im Wechsel von Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Sommer und Winter. Mehrfach kommt Goethe zurück auf den Rhythmus von Ausdehnung und Zusammenziehung, von Einatmen und Ausatmen, von „Systole und Diastole, aus der sich alle Erscheinungen entwickeln.“ Es ist die „ewige Formel des Lebens.“98 Die Denkform von „Wirkungen und Gegenwirkungen“ entspricht der Dialektik bei Hegel.99 Alles wandelt auf und nieder, ohne daß wir es festhalten können so wenig als Sonne, Mond und Sterne.“100 4l. Überall sieht Goethe eine Wellenbewegung. In der Kunstgeschichte unterscheidet er zwischen „objektiven“, vorschreitenden und „subjektiven“, rückschrei-

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tenden Epochen, zwischen Bewegungen zum Vollkommenen hin oder vom Vollkommenen weg.101 Das Staatsleben erscheint als ewiges Hin und Her: „Die Menschen werfen sich im Politischen wie auf dem Krankenlager von einer Seite zur andern in der Meinung, besser zu liegen;“ dies ist für Goethe keine Remedur. In den Wissenschaften beschreibt er die Spannung zwischen Autorität und Genialität, zwischen Überlieferung und Erfahrung.102 Als Gegenpositionen im Bereich des Wissens erscheinen der Visionär Platon und der Empiriker Aristoteles, in deren Verehrung sich die Jahrhunderte teilen.103 4m. Für die Geistesgeschichte trennt Goethe Zeiten des Glaubens von Zeiten des Unglaubens, beider Konflikt scheint ihm das „eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte.“ Merkwürdig ist, daß der Glaube hier nicht, wie in der Aufklärung, der positiven Vernunft, sondern dem negativen Unglauben, dem Zweifel entgegengestellt wird, dem sich Goethe selbst zurechnet. Ähnlich universal angelegt ist der Pendelschlag zwischen „Epochen des Werdens“ und „Epochen des Benützens“, eine besonders fruchtbare Antithese, denn sie unterscheidet zwischen Entstehungs- und Lebensgeschichte, zwischen Zeit des Kommens und Zeit des Daseins.104 4n. Die Polarität der Phänomene zeigt sich wie im Pendelschwung der Perioden so in den „Wirkungen und Gegenwirkungen“ von Entdeckungen und Erfindungen. Sie werden keineswegs begrüßt, so wie Schiller dies tat. Denn Goethe erkannte ihre Kehrseite. Die Erweiterung des Verkehrs durch die christliche Seefahrt bewies doch nur die Begrenztheit der Erde. Das Schießpulver verstärkte sowohl die Aktivität als auch den Fatalismus. Der Buchdruck förderte die Kultur, aber brachte uns die Zensurbehörde. Kopernikus bereicherte unser Weltbild und nahm uns den Glauben, Mittelpunkt des Alls zu sein.105 Schließlich hat alles in der Geschichte janushaft zwei Seiten – mindestens. 4o. Dualistisch gedacht sind ebenso die treibenden und hemmenden Momente der Geschichte. So verweist Goethe auf das unentwirrbare Zusammenwirken von Gesetz und Zufall, was die Weltgeschichte inkalkulabel und inkommensurabel mache, weiterhin auf den sich „immer wiederholenden Streit zwischen dem Alter und der Jugend“ und endlich auf die ewigen Spannungen zwischen Volk und Regierung.106 Im Faust erscheint diese Antithese als Gegensatz von Gut und Böse, von Gott und Teufel. Entsprechend der biblischen Lehre befinden sich die beiden Mächte nicht im Gleichgewicht. Das Böse unterliegt zuletzt, es muß dem Guten dienen. Mephisto stellt sich selbst vor: als „Teil von jener Kraft, / die stets das Böse will und stets das Gute schafft... Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht, denn alles, was entsteht, / ist wert, daß es zugrunde geht“. Der Teufel ist die personifizierte „List der Vernunft.“ 4p. Die Mächte, die unser Leben beherrschen, sind häufig selbstgeschaffen. „Am Ende hängen wir doch ab / von Kreaturen, die wir machten“, heißt es im Faust, und der ›Zauberlehrling‹ jammert: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister,



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werd ich nun nicht los.“ Konkret wird das in Wilhelm Meisters Wanderjahren: „Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich: es wälzt sich heran wie ein Gewitter.“107 Marx und Engels haben das Gleichnis des Zauberlehrlings im Sinne der unkontrollierten Produktionsverhältnisse verstanden, und in diesem Sinne hat Goethe es, in Anlehnung an den ›Lügenfreund‹ des Lukian von Samosata konzipiert. Nur eine Hoffnung auf Pankrates, den „Meister“, den Marx in sich selber sah, ist bei Goethe nicht erkennbar. Unsere Vergangenheit ist unser Schicksal. 4q. Die begrenzten Möglichkeiten freien Handelns angesichts der übermächtigen Zeitläufte spricht am klarsten aus den Worten Egmonts zu seinem Sekretär: „Kind, Kind....Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links vom Steine hier, vom Sturze da die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“108

5. Paradigmatik 5a. Die historischen Phänomene stehen bei Goethe in einer Bedeutungshierarchie. Sie werden als Beispiele betrachtet und nach ihrer Aussagekraft bewertet, nach ihrem paradigmatischen Gehalt eingestuft.109 Der darin liegende Erkenntniswert kann größer oder kleiner sein, ist aber immer vorhanden. Die als Beispiele dienenden Fälle einer Klasse unterstehen in größerer oder geringerer Ferne einem Archegeten, einem plotinischen hen kai pan.110 Er verkörpert den Musterfall, den Urtypus, von dem alle anderen abgeleitet sind, der die Wesensmerkmale aller enthält. Wir denken an das musikalische Verhältnis von Thema und Variationen. 5b. Diesen Ordnungsgedanken hat Goethe an der Vegetation durchgespielt. Er hat 1787 im botanischen Garten von Palermo die Urpflanze gesucht, nach deren Muster alle wirklichen Pflanzen gebildet seien, alle möglichen gebildet sein müßten, und zwar auf dem Wege der Metamorphose. Diese besteht in einer Veränderung der Proportionen unter den Bestandteilen des Phänomens. „Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die ... existieren könnten ... Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen“, mithin auch auf geschehene wie ungeschehene Geschichte.111 5c. Das Postulat einer Strukturanalogie unter den Organismen führte Goethe zur Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen.112 Dessen angebliches Fehlen motivierte damals die Annahme eines fundamentalen Unterschieds zwischen Affe und Mensch, denn dessen anatomische Eigenart wurde mit der menschlichen Sprachfähigkeit verbunden und diente als Argument dafür, den Menschen als Gottesgeschöpf aus der Tierwelt auszugliedern. Dies erwies sich nun als

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irrig. Der Mensch auf der „höchsten Stufe“ der Entwicklung steht im Kontinuum der Evolution. 113 5d. Die Urpflanze gehört in den Kreis der Urphänomene. Auch dieser von Goethe geschaffene Begriff kennzeichnet die dualistische Form seiner Kosmosophie. Goethe stellt das Grund- oder Urphänomen als eine Haupterscheinung über die aus ihm abgeleiteten normalen Phänomene, wobei für Goethe die Ableitung eine Sache der Anschauung ist. Das Urphänomen steht auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Philosophie, zwischen Empirie und Theorie und öffnet den Zugang zu beidem.114 Es sei „ein Urphänomen nicht einem Grundsatz gleichzuachten, aus dem sich mannigfaltige Folgen ergeben, sondern anzusehen als eine Grunderscheinung, innerhalb deren das Mannigfaltige anzuschauen ist.“115 Zugrunde liegt der Satz von Leibniz, daß die Natur einfach in ihren Prinzipien, aber unermeßlich reich in deren Anwendung ist. 5e. Ein Urphänomen erlaubt es, „der einzelnen Erscheinungen Herr zu werden.“ Es sei ein Fall, „der Tausende wert ist und sie alle in sich schließt.“116 Wir denken an die Schülerrede Mephistos, wo „ein Schlag tausend Verbindungen schlägt“, wo als wichtigstes Element das „geistige Band“ erscheint, das die Erscheinungen verknüpft. In den teils physischen, teils sittlichen Urphänomenen offenbare sich die Gottheit.117 Sie weckten bei Goethe eine doppelte Empfindung. Einerseits spürte er Scheu und Angst vor ihnen; andererseits beruhigte er sich bei ihnen, sie erschienen nicht mehr hinterfragbar.118 Sie werden „mikromegisch“ als „Symbol für alles übrige“ verstanden, als das „letzte Erkennbare... symbolisch, weil es alle Fälle begreift.“119 Die Verknüpfung von isolierten Erscheinungen zu „Korrelaten“ ist eine „Betrachtungsweise“, die Goethe an der Natur entwickelt hat, aber nicht weniger „in Bezug auf die neueste um uns her bewegte Weltgeschichte“ als fruchtbar empfindet. In diesem Sinne bezeichnete er die „Spiraltendenz“, die er in der Natur wie in der Geschichte wirksam sah, als „Urphänomen“.120 Ebenso wie Encheiresis naturae, die „Behandlungsart der Natur“121 arbeitet die Encheiresis historiae. 5f. Am 13. April 1821 schrieb Goethe an Hegel und dankte ihm für seine Zustimmung zum Konzept des Urphänomens. Keiner der beiden hat allerdings den Terminus auf die Geschichte angewandt. Wir aber können dies tun, um Goethes Geschichtsvorstellung zu beschreiben. Denn das Prinzip der abgestuften Bedeutung findet er gemäß seinem Universalkonzept wie in der Natur so in der Geschichte. Phänomenale Musterfälle gibt es im Reich der Kultur auf den verschiedensten Gebieten. Die Bibel ist das „Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines Volkes zum Symbol aller übrigen aufstellt.“122 Von Montesquieus Schrift über Größe und Niedergang Roms heißt es: „Die ganze Geschichte unserer Zeit steht buchstäblich in seinem Werke“, so wie alle Krankheiten bei Hippokrates nachzulesen seien.123 5g. Die Form des Zusammenhangs ist für Goethe nicht die Chronologie, nicht die Kausalität. Das Zurückführen der Wirkung auf die Ursache sei „bloß ein histo-



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risches Verfahren“, das keine Sinngehalte erschließe, keine Tiefendimension aufweist. Ihm geht es vielmehr um Repräsentanz. Jeder Zustand, jeder Augenblick sei „von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“124 Das Einzelne vertritt die Gattung, wenn auch in unterschiedlicher Allgemeinheit. „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche.“125 Das einzelne Phänomen ist sowohl Individuum (gesondert) als auch Fall einer Klasse (verknüpft), beide Seiten sind zu bedenken. Am 18. März 1799 schrieb Goethe an Schiller: „Das Historische selbst ist nur ein leichter Schleier, wodurch das Reinmenschliche durchblickt.“ Damit ist Goethes Erkenntnisinteresse auf den Punkt gebracht. So wie ein Schleier ist auch das historisch Singuläre kein Selbstzweck, sondern zeigt und verhüllt zugleich das menschlich Generelle, um das es dem Dichter geht. 5h. Der Goethe faszinierende symbolische Bezug besteht in der Veranschaulichung des Allgemeinen durch das Besondere. Während Schiller von der abstrakten Idee ausgehend deduktiv urteilte, konzentrierte sich Goethe auf die konkrete Erscheinung, von der er dann induktiv ins Generelle vorstieß. Das unterscheidet ihn zugleich von Ranke und dem Historismus, der den Eigenwert des Singulären hervorhebt, und verbindet ihn mit der historischen Anthropologie Jacob Burckhardts, dem das Individuelle die Einsicht in das Allgemeine eröffnete.126 Mit seinem Interesse am Reichtum der Erscheinungen widerspricht Goethe implizit der Abwertung der Historie durch Schopenhauer,127 der den Gedanken der Repräsentanz auf die Spitze trieb, als er schrieb: „Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er in philosophischer Absicht schon genug Geschichte studiert. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht.“ Goethe sucht das allgemein Menschliche in der Vielfalt des historisch Einmaligen. „Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle.“128 In diesem Sinne gestaltete er das Emigrantenschicksal während der Französischen Revolution im „epischen Schmelztiegel“ von ›Hermann und Dorothea‹. Er versuchte, „die großen Bewegungen und Veränderungen des Welttheaters aus dem kleinen Spiegel zurückzuwerfen.“129 Unangesehen der überragenden Leuchtkraft der Urphänomene erklärte er, alles was geschehe, sei Symbol und deute, indem es sich selbst darstellt, auf alles übrige.130 „Der Augenblick ist Ewigkeit.“131 Oder am Schluß des Faust: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.“ 5i. Den größten historischen Aussagewert fand Goethe in einzelnen heraus­ ragenden Persönlichkeiten. „Wie sehr wir uns auch ... mit Geschichte von Jugend auf ... beschäftigen, so finden wir doch zuletzt, daß das Einzelne, Besondere, Individuelle uns über Menschen und Begebenheiten den besten Aufschluß gibt, weshalb wir denn nach Memoiren, Selbstbiographien, Originalbriefen ... aufs ange­ legentlichste begehren.“ Es sind die „geistigen Flügelmänner“, in denen sich die

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Strömungen ihrer Zeit bündeln. Im gleichen Sinne sah später Jacob Burckhardt in den großen Individuen die Bewegungen ihrer Zeit kondensiert und konkretisiert.132 Goethe spricht davon, daß einzelne Menschen „Repräsentanten“ ihres Jahrhunderts seien. So steht Götz, steht Cellini, steht Egmont für seine Zeit.133 Andere Persönlichkeiten stuft er noch höher ein, so den Homer, in dem sich „die Menschenwelt noch einmal reflektiert“, und Napoleon, den er ein „Kompendium der Welt“ nannte. An der Völkerwanderung interessierten ihn Attila und Geiserich,134 an der Reformation fand er allein die Person Luthers bemerkenswert. „Alles übrige ist ein verworrener Quark.“135 Friedrich der Große wurde von Goethe als Mensch bewundert, aber „was ging ihn Preußen an?“ So erklärt sich, daß Goethe eine Biographie, in der sich das Jahrhundert spiegelt, für die höchste Form der Geschichtsschreibung hielt.136 5j. Im Individuum verkörpert sich nicht nur der Geist der Zeit, sondern zeigt sich mitunter auch eine unerklärliche Macht. Ein Schlüsselbegriff goetheschen Geschichtsdenkens ist der Begriff des Dämonischen. In der Erläuterung zu seinen ›Urworten, orphisch‹ bezieht sich Goethe auf das von Platon beschriebene Daimonion des Sokrates, jene innere Stimme, die ihn mit höherer Einsicht bewog, den Giftbecher zu trinken.137 Das Dämonische ist hier der Charakter, die „eigentliche Natur, der alte Adam“ des Menschen. Es erscheint als innere Dynamik, als eine „die moralische Welt durchkreuzende Macht“ und verhält sich zu ihr wie der Schuß zum Faden im Gewebe. Das Dämonische ist mithin eine mythische Chiffre für das, was nicht beherrschbar, nicht erklärbar als „höhere Einwirkung“ ins Leben eingreift. Das Dämonische „wirft sich gerne an bedeutende Figuren, auch wählt es sich gerne etwas dunkele Zeiten. In einer klaren prosaischen Stadt wie Berlin fände es kaum Gelegenheit, sich zu manifestieren.“138 5k. „Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in einzelnen Menschen überwiegend hervortritt“, denn „eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe.“139 Als dämonisch empfand Goethe Männer wie Napoleon und Friedrich den Großen, wie Egmont und Peter den Großen. Bei Hegel waren dies die Prokuristen des Weltgeistes, betraut mit Aufgaben für den Fortschritt.140 Für Goethe sind es geniale, charismatische Kraftnaturen, Originalgenies ohne Auftrag, aber moralisch unfaßbar wie bei Hegel. „Außerordentliche Menschen wie Napoleon treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser.“ Sie seien mit einer Mischung aus Bewunderung und Schauer anzublicken. Überhaupt sei Größe nicht an sich gegeben, sondern ein Reflex, ein Rezeptionsphänomen.141 5l. Goethesche Dämonie ist nicht unbedingt ein Vehikel des Fortschritts. Sie trägt ein Doppelgesicht und manifestiert sich in Widersprüchen, einerseits als „positive Tatkraft“, andererseits als „retardierende Macht.“ Die negative Kraft besitzt eine höhere Faszination als die positive, da „die Menschen gewöhnlich mehr sittliche Ungeheuer bewundern und anstaunen als wahrhaft sittliche“ Persönlich-



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keiten. Die vollendete menschliche Größe habe als reines Licht nie jene Anziehungskraft wie die „dämonische, ja diabolische Größe.“142 Die Zeit nach Goethe hat einen Kommentar dazu geliefert: Albert Schweitzer hat keine Chance gegen Adolf Hitler. 5m. Das Denken Goethes in Ordnungsmustern zeigt sich wieder darin, daß er glaubt, das „Leben jedes bedeutenden Menschen, das nicht durch einen frühen Tod abgebrochen wird“, lasse sich nach einem gleichbleibenden dialektischen Dreierschema darstellen: zum ersten durch den Bildungsgang, die Reife zur Meisterschaft, zum zweiten durch die auftretenden Widerstände, die überwunden werden, und zum dritten durch die Vollendung, die öffentliche Anerkennung. Dann aber treten die „Nachbewerber“ auf, „und so schließt sich der Kreis, oder vielmehr so dreht sich das Rad abermals.“ Dieses Schema diene dem Geschichtsschreiber als „Leitfaden“ durch die „labyrinthischen Schicksale manches Menschenlebens.“143 5n. Das Bedürfnis nach Ordnung erklärt auch die eigentümliche Anlage von Goethes Winckelmann-Biographie,144 indem er anstelle der üblichen chronologischen Ordnung eine Gliederung nach Sachgesichtspunkten wählte und damit in der Art Suetons statt der Genese die Struktur, die Wesensmerkmale der Persönlichkeit verdeutlichte. Goethe war auf den Einzelmenschen fixiert, während er gegen den Begriff „Menschheit“ polemisierte, weil in ihm die einzelnen, wirklichen Menschen verschwänden. Das gilt für alle Bereiche, nicht zuletzt für die Wissenschaft. „Zu allen Zeiten sind es nur Individuen, welche für die Wissenschaft gewirkt, nicht das Zeitalter. Das Zeitalter war’s, das den Sokrates durch Gift hinrichtete, das Zeitalter, das Hussen verbrannte: die Zeitalter sind sich immer gleich geblieben.“ Was „auffallende Zeiten“ ausmache, das sei ihr Gehalt an hervorragenden Individuen.145 5o. So liegt über der Geschichte ein Netz von Beziehungen, namentlich zwischen geistig verwandten Menschen. Geistige Nähe überbrückt zeitliche Ferne. Diese Wahlverwandtschaft sei es, was „die Geschichte noch ganz allein erfreulich machen kann: daß die echten Menschen aller Zeiten einander voraus verkünden, auf einander hinweisen, einander vorarbeiten.“ Der daraus entstehende Faden im „breiten Gewebe des Wissens und der Wissenschaften durch alle Zeiten ... wird durch Individuen durchgeführt.“146 Die Leistungen früherer Zeiten inspirieren die Menschen der späteren Zeiten. Dadurch kommt, um mit Herder zu sprechen, jene „Kette der Bildung“ zustande, das „geistige Band“, das Mephisto fordert. 5p. Den Individualitätsgedanken hat Goethe mitunter auch auf Völker und Zeiten, auf Jahrhunderte und Großepochen angewandt. So finden wir bei ihm zusammenfassende Urteile über viele Völker und – vorwiegend selbstkritisch – über die Deutschen.147 Er meinte, man müsse absehen von der zivilisatorischen Politur, da diese den Völkern ihre Eigenart nehme und sie einander angleiche. Alle gebildeten Völker besäßen eine „zweite Natur“ durch ihre kulturellen Leistungen.148 Mit seiner Hochschätzung der Antike vertritt Goethe die Ansichten seiner Zeit. Sein Bild des Mittelalters jedoch schwankt zwischen Ablehnung mit den Aufklärern und Hoch-

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achtung mit den Romantikern. Bei der Charakterisierung der Jahrhunderte war sich Goethe der Künstlichkeit der Abgrenzung sehr bewußt, denn mit keinem Jahrhundertende „schneiden sich die Begebenheiten rein ab“. Dies aber gelte für alle Einteilungen.149

6. Anschauung und Aneignung 6a. Goethes Geschichtsinteresse richtet sich vornehmlich auf Einzelphänomene, doch verliert er darüber nicht das Ganze aus dem Blick. Er kennzeichnet es nicht durch eine Verlaufsstruktur, sondern durch Sprachbilder. Goethe verstand Geschichte als Symphonie, wo Dissonanzen sich in Harmonie auflösen. „Der Lobgesang der Menschheit, dem die Gottheit so gerne zuhören mag, ist niemals verstummt, und wir selbst fühlen ein göttliches Glück, wenn wir die durch alle Zeiten und Gegenden verteilten harmonischen Ausströmungen, bald in einzelnen Stimmen, in einzelnen Chören, bald fugenweise, bald in einem herrlichen Vollgesang vernehmen. Freilich müßte man mit reinem, frischem Ohre hinlauschen und jedem Vorurteil selbstsüchtiger Parteilichkeit, mehr vielleicht, als dem Menschen möglich ist, entsagen.“150 Insbesondere nationale Voreingenommenheit, wie sie damals im Schwange war, trübt den Blick, „der Patriotismus verdirbt die Geschichte.“ Goethe sah sich als Weltbürger: „Wer in der Weltgeschichte lebt, / Dem Augenblick sollt’ er sich richten? / Wer in die Zeiten schaut und strebt, / Nur der ist wert, zu sprechen und zu dichten.“ Es liegt also an der Perspektive, an der Betrachtungsart, ob die Geschichte als „Kehrichtfaß“ und „Rumpelkammer“ erscheint oder als Lobgesang auf den Schöpfer.151 Die Zuwendung zu den historischen Phänomenen erfordert Sympathie: die „Synthese der Neigungen“ macht alles lebendig,152 denn „man lernt nichts kennen, als was man liebt.“153 6b. Der Blick aufs Ganze erhellt auch die dunkelsten Seiten der Geschichte, sogar das „finstere Mittelalter“. Es fehlt nicht an abwertenden Urteilen über die „traurige Lücke“ in der Wissenschaftsgeschichte, über die „Niederträchtigkeit der mittleren Zeit bis ins 16. Jahrhundert“, über die „Zwischenzeit“ der „Barbarey“, die der Antike folgte.154 Hier spricht nach der Gotikbegeisterung der Studentenzeit die Aufklärung, spricht der Klassizismus aus Goethe. Doch blieb er dabei nicht stehen, vielmehr näherte er sich in späteren Jahren dem positiven Mittelalterbild der Romantik, wenn auch aus anderen Gründen. Nicht die verklärte Einheit im christlichen Glauben, nicht die bewunderte Größe von Kaiser und Reich ist das Motiv, sondern die nie ganz abgerissene Kontinuität. Er schreibt am 7. März 1808 an Jacobi: „So fand ich bei mir, daß ich doch auch geneigter bin, von den sogenannten dunklen Jahrhunderten besser zu denken als Du. In meines Vaters Hause, sage ich mir, sind viel Appartementer“ – hier zitierte Goethe das Johannesevangelium155 – , „und der dunkle Keller unten gehört so gut zum Palast als der Altan auf dem Dache.“ Neben der Symphonie verbildlicht das Haus die Ganzheit der Geschichte.



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6c. Ein drittes Bild für die Gesamtgeschichte liefert das Jahreszeitengleichnis. Hatte Hegel das Mittelalter dialektisch mit dem Pendelschlag vom Tiefstpunkt der päpstlichen Inquisition zum Höchstpunkt des protestantischen Preußen gerechtfertigt, so bedient sich Goethe einer poetischen Naturmetapher. Die „stillen dunklen Zeiten“ entsprechen dem Winter im Jahreslauf. „Diejenige Zeit, welche der Same unter der Erde zubringt, gehört vorzüglich mit zum Pflanzenleben.“156 Mit dem Jahreszeiten-Gleichnis erklärt Goethe, wie das erfreuliche Ganze seine unerquicklichen Teile rechtfertigt. Dabei geht es nicht um deren kausalen Endeffekt, sondern um den ästhetischen Eigenwert. „Wollte man die Herrlichkeit des Frühlings und seiner Blüten nach dem wenigen Obst berechnen, das zuletzt noch von den Bäumen genommen wird, so würde man eine sehr unvollkommene Vorstellung jener lieblichen Jahreszeit haben.“157 Die Frucht hat kein Vorrecht vor der Blüte. Jedes Bild hat seinen eigenen Wert. Es genießt ästhetische Autonomie. Logisch konsequent heißt es umgekehrt: Wer ein Kunstwerk aus seinen Quellen verstehen wolle, der gleiche jenem, der einen „wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen, Schweinen“ fragt, die er gegessen hat. Es geht um die Sache selbst: „Jeder Schritt soll Ziel sein.“ Man reist auch nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.158 Hier denken wir an Ranke, für den jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ war. Aber Goethe meint etwas anderes: jede Epoche kann unmittelbar zu uns, als den Betrachtern sein. Er empfindet ein Immediatverhältnis zu allem, was ihn inspiriert. Die historische Bedeutung eines Phänomens beruht auf seiner Zündkraft, die sich unter Umständen erst nach Jahrhunderten entfaltet. 6d. Goethes Geschichtsdenken entwickelte sich aus seiner „ästhetischen Einsamkeit“.159 Dennoch war seine Haltung keinesfalls – wie bei Heinrich Luden oder Jacob Burckhardt160 – kontemplativ sondern produktiv. Sein Satz „Was fruchtbar ist, allein ist wahr“161 expliziert den Sinn des „Wirklichen“ als „Wirkendes“. Da auch Irrtümer wirken, handelt es bei der Wirksamkeit sich um eine notwendige, nicht um eine hinreichende Bedingung für das „alte Wahre“, das wir anfassen sollen. „Nichts ist zarter als die Vergangenheit; / rühre sie an wie ein glühend Eisen: / denn sie wird dir sogleich beweisen, / du lebest auch in heißer Zeit.“162 Die Wechselwirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist ein „schaffender Spiegel“,163 er stiftet Sinn und Gewinn aus der Geschichte. Unser Blick auf sie prägt nicht ihren Stoff, doch ihre Gestalt, ihre Wirkung auf uns beflügelt unser Handeln. „Man lerne eigenes Tun und Vollbringen an das anzuschließen, was Andere getan und vollbracht haben: das Produktive mit dem Historischen zu verbinden.“. Historie soll, wie wieder Nietzsche 1874 gefordert hat, dem Leben dienen. Ungeniert und ohne Originalitätsanspruch gesteht Goethe: „Nur durch Aneignung fremder Schätze entsteht ein Großes.“164 Das ermöglicht die von ihm immer wieder geforderte „Stei­ gerung.“165 6e. Steigerbare Elemente des Vergangenen findet Goethe namentlich in der Antike. Gestalten aus Mythos und Geschichte der Griechen haben ihn vorzüglich

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angezogen: Frauen wie Iphigenie, Nausikaa und Helena; Männer wie Prometheus, Achill und Sokrates faszinierten ihn. Nach der Beschäftigung mit dem nordischen „Teufels- und Hexenwesen“ suchte er Labsal an den „Tischen der Griechen.“ Er meinte, daß dort „ganz allein für die höhere Menschheit und Menschlichkeit reine Bildung zu hoffen und zu erwarten ist.“ Klassik war ihm kulturelle Gesundheit. „Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort Basis der höheren Bildung bleiben!“166 Wenn wir uns – er spricht von sich selbst – „dem Altertum gegenüberstellen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden.“167 Von der teutonischen Germanen-Romantik eines Klopstock, eines Kleist, eines Tischbein findet sich bei Goethe keine Spur. Der „Befreier Germaniens“168 Arminius alias Hermann der Cherusker kommt bei ihm nicht vor169. 6f. Die Rückwendung zu den Kulturleistungen der antiken Vergangenheit ist kein romantisches Heimweh nach der Wiederkehr eines verklärten Zeitalters. „Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres schaffen.“ Diese Arbeit gilt namentlich für Kunst und Wissenschaft. Denn „wir stehen mit der Überlieferung beständig im Kampfe.“ Am Erfolg dieses Kampfes kommen gelegentlich Zweifel auf. „Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde.“170 6g. Trotzdem bleibt die Bewältigung des Überlieferten eine Aufgabe, und sie schließt die Forderung ein, „daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse“,171 weil die Interessen und Fragestellungen sich wandeln. Zumal heute sei das erforderlich, denn „wann war wohl eine Epoche, die dies so notwendig machte, als die gegenwärtige?“172 Geschichte begreifen heißt: sie in den Griff bekommen, anderenfalls wird sie – wie schon Kant gefürchtet hatte173 – zur alles erdrückenden Last. Dies sei besonders bedenklich für die „strebende Jugend“, die mit sich selbst eine „Urwelt-Epoche beginnen möchte.“ Das darf sie, das soll sie, denn „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“174 * 6h. Goethe strukturiert das uferlose Feld der Geschichte durch wenige Ordnungsbegriffe: Kreislauf steht für die Wiederkehr des Gleichen, die Spirale verbildlicht die Steigerung. Polare Gegensätze bedingen, bekämpfen und befruchten einander. Die Konzepte des Urphänomens und des Dämonischen setzen Akzente, sie bezeichnen Grenzpunkte der Empirie: Das Urphänomen ist nicht weiter erklärlich, dient aber als Anschauungsmuster für die durch Metamorphose aus ihm abgeleiteten Erscheinungen. Das Dämonische ist nicht beeinflußbar, beherrscht aber seinerseits die Kräfte in seinem Umfeld. Historisches Interesse genießen Individualitäten: Personen, Ereignisse, Kunstwerke, in denen sich ein Allgemeines ausdrückt und unsere Welt und Menschenkenntnis erweitert.



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6i. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte soll sich indessen nicht in Kontemplation, nicht in Kompilation erschöpfen. Alles, was ihn bloß belehre, ohne ihn zu beleben und seine Tätigkeit zu vermehren, schrieb Goethe an Schiller am 18. Dezember 1798, sei ihm verhaßt. Es geht darum, die Geschichte geistig und den Geist geschichtlich aufzufassen. Goethe empfiehlt die gezielte Auswahl des Bedeutsamen, das wert ist, bewahrt und ausgestaltet zu werden. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen! / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, / nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen“. Der ›Faust‹ ist eine Wendung von der vita contemplativa zur vita activa, der Weg aus dem Kellerloch in die Welt. Am Anfang war die Tat. Am Ende steht allerdings nicht der Erfolg, sondern die Erlösung. 6j. Dafür freilich müssen wir strebend uns bemühn. Der paradigmatische Ansatz eines universalen Individualismus175 ist ein Zugriff auf die Vergangenheit von der Gegenwart aus im Blick auf die Zukunft. Indem Goethe nur das aus der Geschichte für bemerkenswert erklärt, was ihn animiert, so kann er seinerseits uns animieren, seinem Beispiel zu folgen. Die Aneignung des Überlieferten kostet Mühe, aber sie lohnt sich: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.“ Die Geschichte bietet Anregung, sie liefert Licht: „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib’ im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“176

Was in unserer Zeit geschieht, dürfen wir mit unseren Augen beurteilen; was aber in alter Zeit geschah, müssen wir mit dem Maß der damals Denkenden messen. Isokrates

X. Der Deutsche Historismus a. In seinen ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ bescheinigte Jacob Burck­hardt dem 19. Jahrhundert eine besondere Befähigung zur historischen Erkenntnis. Er rühmte die erleichterte Zugänglichkeit der historischen Stätten durch das Reisen und Sprachenlernen, weiterhin die Öffnung der Archive, die Information durch die Photographie – von der Burckhardt geradezu besessen war – und die umfangreichen Quellenpublikationen. Neben diese „äußeren“ stellt er „innere Förderungen“, so die Indifferenz der meisten Staaten gegen die Resultate der Forschung und die Machtlosigkeit der Religionen zu irgendeiner Zensur.1 Unter diesen Bedingungen hat die Geschichtswissenschaft innerhalb des allgemeinen Aufschwunges der Universitäten ihre Professionalisierung erlebt. Mit der systematischen und kritischen Auswertung der Dokumente wurde die historische Methode auf eine sichere Grundlage gestellt, die Historie von der Kunst zur Wissenschaft. b. Geschichte gewann in der Öffentlichkeit einen neuen Stellenwert. Seit der Französischen Revolution benutzte man Verweise auf die Vergangenheit, um poli­ tischen Wandel zu begründen, aber ebenso, um das Bestehende zu rechtfertigen. Verwendeten die Politiker Geschichte als Argument, so sahen die Leser in ihr ein Sedativ, um in der ruhenden Vergangenheit ein Gegengewicht zu finden zur Turbulenz des Zeitgeschehens, die sich in einem chronischen Krisengefühl niederschlug. Der Geist der Romantik verlieh zumal dem von Humanisten und Aufklärern geschmähten Mittelalter eine neue Attraktivität und Aktualität, die sich in einer Flut historischer Romane niederschlug. Man sprach geradezu von dem „historischen Jahrhundert“. c. Mit der Entwicklung der Geschichtswissenschaft einher ging die Ausbreitung eines historischen Denkens auch in anderen Disziplinen. Als Friedrich Schlegel 1797 gegen den zeitlosen Klassizismus Winckelmanns die Forderung nach historischer Einordnung erhob, verwandte er zum ersten Mal das Wort „Historismus“.2 Die Geschichte wurde fortan zum Kitt zwischen den Kultur- und Geisteswissenschaften. Die historische Rechtsschule Savignys (1779 bis 1861) zeigt dies für die Jurisprudenz; die historische Sprachwissenschaft Bopps (1791 bis 1867) für die Indogermanistik. Philosophie, Theologie und Nationalökonomie entdeckten ihre



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jeweilige Wissenschaftsgeschichte, und daß dies nicht bloß Papier blieb, lehrt die Kunsthistorie, die in der Vergangenheit ein Arsenal von Vorbildern entdeckte. Die Frage von Heinrich Hübsch (1828): „In welchem Style sollen wir bauen?“, wurde beantwortet durch die Neuromanik und Neugotik, durch die Neorenaissance und Neobarock, durch den künstlerischen Historismus. Dieser Stil der Stillosigkeit erschien in der Auffassung der Zeit als Fortschritt. Waren frühere Jahrhunderte an einen einzigen Stil gebunden, so konnte man nun auswählen. So bezeichnet der Begriff „Historismus“ seit dem späten 19. Jahrhundert ein besonders stark, ja übertrieben historisch geprägtes Denken. Nietzsche verwendet in diesem Sinne den Begriff „Historizismus“ und polemisiert gegen die Geschichtslastigkeit im Bildungswesen.3 d. Die namhaften Vertreter des historiographischen Historismus waren Berufshistoriker, deutsche Universitätsprofessoren. Das mag ein Grund dafür sein, daß der Gehalt des Historismus an systematischer Geschichtsphilosophie nicht sonderlich reich ist. Dies monierte Benedetto Croce, indem er anstelle des „deutschen“ einen durch hegelianischen Panpsychismus angereicherten „absoluten“ Historismus oder „Antihistorismus“ forderte, den er selbst aber nicht geliefert hat.4 Jedenfalls empfiehlt sich eine Darstellung der Geschichtsphilosophie des Historismus nach Themen und nicht nach Personen. Entscheidende Impulse lieferten drei Berliner Gelehrte: Ranke, von dem Hegel bemerkte: „Das ist nur ein gewöhnlicher Histo­ riker“,5 Droysen, der selbst ebensowenig wie Ranke den Begriff „Historismus“ benutzte, und Meinecke, der mit ihm das historische Denken in Deutschland im 19. Jahrhundert kennzeichnete.6 e. Leopold (von) Ranke (1795 bis 1886) entstammt einer Thüringer Pfarrersfamilie.7 Er gilt als der berühmteste deutsche Historiker und als der Begründer der modernen quellenkritischen Geschichtswissenschaft, die er seit 1825 in seinen – damals unüblichen – Seminaren an der Berliner Universität seinen Studenten weitergab. Aus der deutschen Geschichte beschäftigte ihn namentlich die Umbruchszeit der Reformation. Im übrigen schrieb Ranke in 70 Bänden europäische Geschichte, ja auch die des Osmanenreiches. Ranke war ein großer Erzähler, seine Darstellung ist reich im Detail und abgewogen im Urteil. Durch künstlerisch-bildhafte Anschauung sucht er die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Aus Rankes Werk sind für uns aufschlußreich die Vorrede zu seinen ›Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514‹ aus dem Jahre 1824, sein ›Politisches Gespräch‹ von 1836 sowie seine Vorträge ›über die Epochen der neueren Geschichte‹ von 1854. f. Johann Gustav Droysen (1808 bis 1884) war Sohn eines preußischen Militärpfarrers, studierte in Berlin unter anderem bei Hegel. 1840 wurde er Professor in Kiel, vertrat die Rechtsliberalen 1848 in der Paulskirche und lehrte seit 1851 in Jena und seit 1859 in Berlin.8 Droysen schrieb 1833 eine feurige Biographie über Alexander den Großen, prägte in einem dreibändigen Werk den Begriff „Hellenis-

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mus“ im heutigen Sinne und befaßte sich als Vorkämpfer der deutschen Einheit vor allem mit der preußischen Geschichte. Droysen, mit „einem Tropfen historistischen Öls gesalbt“,9 hat seine Konzeption in der ›Historik‹ niedergelegt, einer Vorlesung über das Wesen der Geschichte und die historiographische Technik.10 g. Friedrich Meinecke (1862 bis 1954) lehrte in Straßburg,11 Freiburg und seit 1914 in Berlin. 1935 mußte er als 73jähriger die Herausgabe der ›Historischen Zeitschrift‹ abgeben, die er seit 1893 innehatte. 1948 wurde Meinecke Gründungsrektor der Freien Universität Berlin. Seine wichtigsten Forschungen galten den deutschen Freiheitskriegen gegen Napoleon, dem geistesgeschichtlichen Übergang vom Weltbürgertum zum Nationalstaat. Der „Primat der Geistesgeschichte“ verbindet ihn mit dem Deutschen Idealismus.12 Geschult an Ranke, beschrieb er die handlungslenkenden Ideen, zumal die Spannungen zwischen Politik und Ethik, und glaubte, der wichtigste deutsche Beitrag zur europäischen Geschichte nach der Reformation liege in der „Überwindung“ der Aufklärung durch den „Historismus“, dessen Ursprünge er 1936 dargestellt hat. „Das Erwachen dieses Sinnes für Individualität und Entwicklung in der Geschichte ist eine der größten geistigen Revolutionen, die das Abendland erlebt hat.“13 Der Historismus wurde von seinen Vertretern als deutscher Beitrag zum Geschichtsdenken gewertet.14 h. Meineckes Emphase muß man nicht teilen. Doch sind die wissenschaftstheoretischen Leistungen des Historismus nicht zu bestreiten. Bleibende Gültigkeit besitzen die historistischen Postulate, sowohl der Individualität als auch der Entwicklung im Geschehen Rechnung zu tragen, die Ereignisse einerseits aus der Sicht der Zeitgenossen und andererseits aus der Distanz der Nachwelt zu beschreiben. Wenn wir etwa den Historismus selbst verstehen wollen, müssen wir historistische Prinzipien anwenden, d. h. ihn in seiner Individualität aus seiner Entwicklung begreifen.

1. Entwicklung 1a. Der Historismus übernahm aus der Aufklärung die Ansicht, daß alles historische Geschehen in Entwicklungsvorgängen ablaufe, sowohl im Kleinen als auch im Großen. Jede Entwicklung erscheint als einmalig und zielgerichtet, eingebettet in eine Gesamtentwicklung der Menschheit. Sowohl Ranke als auch Droysen – beide waren gläubige Protestanten – bekannten sich mit Lessing und Herder zur Idee einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts. Ranke äußerte sich behutsam, indem er zugab, daß diese Idee „etwas Wahres an sich habe“;15 Droysen war entschiedener, er sprach von einer Erziehung des Menschengeschlechts auf Christus hin und von Christus her; er forderte dazu auf, in diesem Sinne weiterzuarbeiten und Gottes Gerechtigkeit in der Geschichte zu begreifen. „Die Geschichte hält fest an dem Glauben an eine weise und gütige Weltordnung Gottes, die nicht bloß einige Gläubige, nicht ein auserwähltes Volk, sondern das ganze Menschenge-



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schlecht, alles Erschaffene umfaßt“. Droysen bekannte sich wieder, wie Hegel, zur Theodizee und forderte eine „Theologie der Geschichte“.16 1b. Beide Autoren benutzen auch den Begriff des Fortschritts. Ranke sprach vorsichtig von einem gewissen Fortschritt in der Art eines Stromes, bezog dies jedoch nur auf die materielle Kultur, nicht auf Moral und Kunst. Gegen den Fortschrittsglauben der Aufklärer hatte er theologische Bedenken: Zum einen widerspräche es Gottes Gerechtigkeit, wenn die früheren Generationen sich abmühen müßten, damit die späteren ein angenehmes Leben führen – so urteilte schon Schiller – und zum anderen beschränke das Fortschrittsgesetz Gottes Möglichkeiten, jederzeit in den Gang der Dinge einzugreifen. Im „entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen und was Gottes Finger ist.“ Wenn Ranke gleichwohl meinte, der menschliche Geist sei in einer unermeßlichen Fortentwicklung begriffen, so sieht dies eher nach einer Konzession an die Aufklärung aus.17 Daran gemahnt auch sein Urteil über das Ende der Antike. Er findet dort weniger Abschluß als Anschluß. In der Kaiserzeit habe Rom durch die Verbindung von Bürokratie und Monarchie, von Kultur und Christentum seine „Weltbedeutung“ erfüllt und überließ nun die „Propagation der welthistorischen Ideen“ den von Rom zivilisierten romanischen und germanischen Nationen. So wird auch diese tiefste Zäsur der europäischen Geschichte durch jene Kontinuität überbrückt, die das Sinnganze der Menschheit ausmacht. Ranke war durch Thukydides zur Historiographie gebracht worden, geht aber darin über ihn hinaus, daß er die „Geschichte zur Einheit“ fassen will.18 1c. Nach 1848 beklagte Droysen die „Gegenwart; alles im Wanken, in unermeßlicher Zerrüttung, Gärung, Verwilderung. Alles Alte verbraucht, gefälscht, wurmstichig, rettungslos.... Wir stehen in einer jener großen Krisen, welche von einer Weltepoche zu einer neuen hinüberleiten.“19 Wenig später aber ist von einem „unermeßlichen Drang des Fortschreitens“, von einem „ethischen Gang des Werdens“ und einer „rastlos arbeitenden sittlichen Weltordnung“ die Rede.20 Zu Droysens liebsten Formeln gehört die epidosis eis hauto, der „Zugewinn zu sich selbst“, womit Aristoteles gleichbedeutend mit entelecheia die Teleologie in der Entwicklung organischer Lebewesen charakterisiert hatte.21 Diese epidosis nimmt Droysen nun für die Menschheit als Gattung an, die im Verlaufe ihrer Tradition „immer höhere Gestaltungen des geschichtlichen Lebens“ hervorbringe.22 1d. Wir erfahren nicht, worin Erziehung und Fortschritt bestehen und wohin sie führen. Die Begriffe Humanität, Vernunft und Freiheit sind keine Ziele mehr, sondern Begleiterscheinungen. Es scheint, als ob die Rede von Fortschritt und Erziehung nur Zeugnis für das Gottvertrauen der Autoren darstellte. Die ursprünglich zeitlich gemeinten Prozesse führen nicht vom Früheren zum Späteren, sondern von der Idee zur Erscheinung. Die Geschichte ist keine Annäherung an ein benennbares Endziel, vielmehr die permanente Selbstvollendung der allzeit unvollkommenen Menschheit in den jeweils erreichten Gestaltungen. In diesem tautologischen

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X. Der Deutsche Historismus

Sinne erläutert Ranke den Fortschrittsbegriff: der Fortschritt beruhe darauf, daß der menschliche Geist zu jeder Zeit die ihm innewohnende Tendenz manifestiere. Das ist Idealismus. Die herrschenden Denkbilder sind der Pflanzengarten und die Gebirgslandschaft: jedes Phänomen entfaltet sich nach seinen eigenen Gesetzen, jede Bewegung erreicht ihren Gipfel und sinkt wieder ab. Gleichwohl rechnen Ranke und Droysen mit kultur- und geschichtslosen Völkern, analog zu Hegels Negerlehre.23

2. Individualität 2a. Die Romantik hatte die Vielfalt der vergangenen Kulturen entdeckt, beispielhaft in Herders ›Stimmen der Völker in Liedern‹ von 1807. Demgemäß stand – anders als in der Aufklärung – nicht mehr die Weltgeschichte im Mittelpunkt des Interesses, sondern das einzelne historische Phänomen: große Persönlichkeiten, Völkerkämpfe, Wendezeiten. Die mit der Verwissenschaftlichung verbundene Spezialisierung findet ihre Legitimation im Humboldtschen Individualitätsprinzip. Die Geschichte erscheint als ein Panorama einmaliger Erscheinungen, die alle ihre unverwechselbare Eigenart entfalten und eben darin eine höhere Wirklichkeit offenbaren. Die Phänomene stehen indes nicht einfach neben- und gegeneinander, sondern bündeln sich zu allgemeinen Zeitströmungen, die bei Ranke im Sinne Humboldts als bewegende Ideen und objektive Tendenzen überpersönliche Bedeutung besitzen. Die Gesamtheit der Individualitäten fügt ein höherer Wille zu einem harmonischen Universum zusammen, dem eine verbindende Idee jedoch mangelt. Selbst der Begriff „Menschheit“ findet Widerspruch.24 2b. Jede Individualität wird als Ergebnis einer historischen Entwicklung erkannt, indem einerseits die Individualitäten sich im Verlaufe der Geschichte selbst entwickeln, und indem andererseits die Geschichte als Ganzheit sich entfaltet, und dabei individuelle, einmalige Phasen durchläuft. Ranke hat diese Ambivalenz hervorgehoben. Er glaubte, daß die großen Völker einen doppelten Beruf haben, einen nationalen und einen universalen. Beide Zwecke stehen im Zusammenhang; und dieses zu erkennen und darzustellen scheint ihm die Aufgabe des Historikers. „überhaupt befestigt sich in mir immer mehr die Meinung, daß zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden kann als Universalgeschichte.“25 Auch wer nur Teile erforscht, liefert Stoff zum Ganzen, das eine Art prästabilierte Harmonie verkörpert. Meinecke erklärte, daß alle „individuellen Hergänge und Gebilde im geschichtlichen Leben wieder unter sich zusammenhängen und stufenweise zu immer größeren und umfassenderen Individualitäten führen.“ Wenn für deren Entwicklung bisweilen ein „inneres“ Gesetz angenommen wird, so wird dies als ebenso individuell angesehen wie das Phänomen selbst und besagt nicht mehr als den Glauben an eine Notwendigkeit. Das erweist Meineckes Goethezitat: „Alles entwickelt sich ‚nach dem Gesetz, wonach du angetreten‘. Und dies Gesetz ist kein allge-



2. Individualität

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meines Gesetz, das Gleichartiges hervorruft, sondern ein jeweils individuelles Gesetz, das Besonderes hervorruft.“ Ein „individuelles Gesetz“ ist eher ein Gebot.26 2c. Ranke hatte für das Individualitätsprinzip auch eine theologische Begründung. Er erklärte: „Vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit gleichberechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen.“ Schwerer wiegt Rankes bekanntes Wort: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst.“ Dasselbe meinte Goethe mit dem Jahreszeitengleichnis. Ranke wurzelte im Luthertum. „In aller Geschichte wohnt, lebet, ist Gott zu erkennen“. Die Geschichte ist ihm, so wie später Croce eine „heilige Hieroglyphe“, der Historiker ein Priester.27 Ähnliches liest man schon bei Herder und Schelling, bei denen die biblische Offenbarung als Ereignis der Geschichte galt und die Geschichte umgekehrt als göttliche Offenbarung erschien. 2d. Dieselbe Gleichberechtigung wie die der Zeiten gewährt Ranke auch den jeweils streitenden Parteien. Vom Historiker verlangt er Unparteilichkeit. In den Konflikten zwischen Kaiser und Papst, Katholiken und Protestanten, Franzosen und Deutschen dürfe man kein Unglück sehen, denn in diesen Gegensätzen sei der europäische Geist gereift. Ranke übernimmt den schon von Hesiod und Heraklit, dann von Kant und Hegel vertretenen Gedanken, daß der Fortschritt aus dem Kampf resultiere, und verwirft eine wertende Stellungnahme des Historikers.28 2e. Aus den Identifizierungsangeboten der Geschichte leitet Ranke eine Quelle der sträflichen Einseitigkeit ab. Wer sich mit einer der Parteien solidarisiert, verletzt das Neutralitätsgebot des Tatsachenforschers. Ranke will um der Objektivität willen seine Subjektivität ausschalten. Sein eigenes Selbst versucht er gleichsam auszulöschen. Sogar moralische Urteile und das traditionelle Richteramt des Historikers lehnt er ab, ähnlich wie Hegel. Er wolle nur zeigen, „wie es eigentlich gewesen.“29 Es geht nicht darum, Menschen und Ereignisse zu benoten, sondern darum, sie zu verstehen. Meinecke meinte in diesem Sinne so wie Herder, ja wie schon Isokrates: „Die seelische Einfühlung ist das stärkste Erkenntnismittel des Historismus.“ Croce hat das karikiert: „Wollt ihr die wahre Geschichte eines Grashalms verstehen? Versucht, zum Grashalm zu werden!“ Besser wäre es wohl, zum Biologen zu werden. Menschen können einander verstehen, wie Vico ausführte, ja schon Terenz wußte: Homo sum. Humani nil a me alienum puto.30 2f. Ranke leitet die Gleichbehandlung aller Zeiten und Gruppen aus dem Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit ab. Uns mag das hybride erscheinen, wenn der Historiker wie Gottvater urteilen soll, aber Ranke könnte sich dafür auf die christliche wie auf die antike Tradition berufen. Gott „läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte“ heißt es in der Bergpredigt, und dies setzt Jesus seinen Anhängern zum Vorbild. „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“. Lukian von Samosata begründete die schon von Tacitus erhobene Forderung, sine ira et studio zu schreiben, mit dem

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X. Der Deutsche Historismus

Hinweis, der Historiker müsse über den Parteien schweben wie der Homerische Zeus über den Kriegern vor Troja.31 2g. Rankes Gottvertrauen liegt auch dem Geschichtsdenken von Meinecke zugrunde. „Dienst am Göttlichen, im weiteren Sinne genommen, ist nun einmal die Historie“. Meinecke spricht wieder von innergeschichtlicher „Offenbarung“, von der Suche nach Gott in der Geschichte. Er fordert einen wertenden Standpunkt, der auch die „Ideale der Gegner mit umfaßt“, sich damit aber selbst entwertet. Meinecke ist von einem kategorischen Optimismus, wenn er alle Ideale für ideal hält, beschränkt indes die „historischen Individualitäten“ auf solche Erscheinungen, die „irgendeine Tendenz zum Guten, Schönen oder Wahren in sich haben.“ Der oft gemeine oder unsaubere Ursprung der „großen und segensreichen Kulturwerte“ zeigt, wie Gott sich des Teufels bediene, „um sich zu realisieren.“ Meinecke glaubt wie Hegel an die „List der Vernunft“, geht aber über die Kosten des Fortschritts nicht hinweg mit dem Spott über Sentimentalitäten, sondern zeigt Trauer über die „Tragik der Geschichte“. Das „letzte Wort“ für den Betrachtenden laute: „Gott ringt sich aus der Natur empor mit Ächzen und Stöhnen und mit Sünde beladen und darum in jedem Augenblick in Gefahr, in die Natur zurückzusinken.“ Ist hier nicht vielmehr der Mensch gemeint? Dieses Geschöpf Gottes ist bei Meinecke, gut hegelianisch, das Gehäuse der Selbstverwirklichung Gottes. Meinecke zitiert Ernst Troeltsch: „Die wesenhafte und individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste“ löse das Problem, wie der geschichtliche Wandel mit dauerhaften Werten zu verquicken sei.32 Das klingt wiederum nach Schellings idealistischer Mystik. 2h. Die individualisierende Geschichtsbetrachtung des Historismus wurde in Frage gestellt durch einen kollektivistischen Ansatz, der sich ins Gefolge der Aufklärung stellte. Nachdem bereits Auguste Comte mit Hilfe der Statistik eine Physik der Geschichte begründen und so die Historie aus einer Erzählkunst zu einer strengen Wissenschaft erheben wollte, hat Henry Thomas Buckle (1821 bis 1862) dies in seiner ›History of Civilisation in England‹ (1857) realisieren wollen. Buckle ­konstatiert, daß die Naturwissenschaften den Geisteswissenschaften den Rang ab­­ gelaufen hätten. The most celebrated historians are manifestly inferior to the most successful cultivators of physical science. Verglichen mit dem Studium der Natur stecke das Studium des Menschen noch in den Kinderschuhen. History is still miserably deficient.33 2i. Diesen Befund leitet Buckle aus zwei methodischen Vorurteilen der Historiker ab. Sie huldigten dem metaphysischen Irrtum des freien Willens und dem theologischen Dogma der göttlichen Prädestination. Beide Prämissen ersetzt Buckle durch zwei andere Postulate, durch eine strikte Determination des Späteren durch das Frühere und durch eine statistische Gesetzmäßigkeit in allen menschlichen Handlungen. Der Glaube an den Zufall sei ebenso abwegig wie der an die Vorsehung. Sobald die Historiker das Geschehen nicht mehr individuell betrachten, son-



3. Staat

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dern typisieren und klassifizieren, erreichen sie, so meinte er, ähnliche Resultate wie die Naturforscher. Die Zahl der Verbrecher und der Selbstmörder unterliege ebensolchen general laws wie die Zahl der Heiraten, ja die der Briefschreiber, die vergessen, die Briefmarken aufzukleben. All dies erkläre sich mitnichten aus den Absichten und Gefühlen der einzelnen Handelnden, sondern aus den allgemeinen Umständen, wie Klima und Nahrung, wie Bildung und Wohlstand.34 Wir denken an Ludwig Feuerbach 1850: „Der Mensch ist, was er ißt“. Zwar würden diese determinierenden Rahmenbedingungen bisweilen durch individuelle Momente gestört, doch lasse sich auch dieses physikalisch berechnen durch ein Parallelogramm der Kräfte, so wie in der Natur gleichfalls stärkere und schwächere Strömungen aufeinanderstoßen und Turbulenzen erzeugen. Als wichtigsten Faktor der Geschichte bestimmt Buckle mental laws, wie die wachsende Herrschaft des europäischen Geistes über die Natur. Hier liege die Kraft des Fortschritts.35 2j. Droysen rezensierte Buckles Werk 186336 und räumte ein, daß die Historie „ihre Theorie und ihr System noch nicht festgestellt“ habe, bestritt aber, daß es eine einzige Methode für alle Disziplinen gäbe. So wie auch Theologie und Philosophie ihre Methode zuzeiten anderen Wissenschaften zu Unrecht aufgenötigt hätten, so dürfe jetzt die Physik nicht in denselben Fehler verfallen. Droysen verteidigte in der historischen Hermeneutik die methodologische Autonomie der Geschichtswissenschaft, die schon Vico damit begründet hatte, daß wir die Geschichte durch die Sprache der Handelnden sozusagen von innen, die sprachlose Natur aber nur von außen betrachten können.37 Droysen leitete die Besonderheit des historischen Erkennens daraus ab, daß unsere eigene Vergangenheit ein Stück unserer selbst sei, daß die „sittliche Welt“, die der Historiker erforsche, nicht bloßes Tatsachenmaterial, sondern handlungsrelevante Selbsterkenntnis darstelle. Die Geschichte wolle weniger erklärt als verstanden werden, indem jedes Ereignis aus seiner individuellen Vorgeschichte begriffen wird. Mit statistischen Gesetzen erfasse man keine der großen Kulturleistungen, ja nicht einmal eine beliebige Kindsmörderin. Droysen betont, daß die Statistik bloß Resultate des Verhaltens katalogisiere, das Verhalten aber selbst daraus resultiere, wie der Einzelne sich in seiner sozialen Lage, in seiner staatlichen Gemeinschaft selbst bestimmt, wie er sittlich handelt. Der Mensch sei kein berechenbarer Massenpartikel, sondern individuelles Subjekt in einer individuellen Umwelt. „Die Freiheit ist die Idee, ist der Zweckbegriff des Menschen und der Menschheit. Ihr Dasein ist, diese Idee in rastlosem Fortschreiten zu erarbeiten und arbeitend zu erkennen und erkennend zu vertiefen.“38

3. Staat 3a. Der vornehmste Gegenstand der Geschichtswissenschaft war für den Historismus des 19. Jahrhunderts der Staat. Hier hat sich Hegel gegen Hölderlin und Humboldt durchgesetzt.39 Ranke entfaltete seine Staatsauffassung in seinem ›Politi-

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X. Der Deutsche Historismus

schen Gespräch‹ von 1836. Darin wollte er nachweisen, daß die Ideale des westeuropäischen Konstitutionalismus auf Preußen nicht übertragbar seien. Zu diesem Zweck verglich er den Staat mit einem Organismus. Jeder Staat sei nicht nur „eine Abteilung des Allgemeinen“, sondern „Leben“, sei er „Staatskörper“ im biologischen Sinne, der seinen individuellen Charakter in der Geschichte gewonnen habe. Damit wendet sich Ranke gegen die Vorstellung vom Vertragsstaat, der nicht geworden, sondern gemacht sei und deshalb auch beliebig verändert werden könne. Seiner Meinung nach gehören die Staatsbürger von Natur, nicht durch Vertrag zusammen. Humboldts Auffassung der Staaten als Sicherheitsinstitute zum Schutze des Privateigentums40 findet er lächerlich. Anstelle jener „flüchtigen Konglomerate“ sieht er „geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes – man darf sagen, Gedanken Gottes.“41 Hier spricht Hegel aus Ranke, und ihn hören wir auch hinter dem weiteren. 3b. In jedem Staat sucht Ranke eine „oberste Idee“ , ein „lebendiges Prinzip“ oder auch „geistige Substanzen, welche alle Modalitäten der Verfassung und der Gesellschaft erst beleben.“ Ranke illustriert dies am Inbegriff der „moralischen Energie“, dem Militärwesen, das in allen Staaten so organsiert sei, wie es dem innewohnenden Grundsatz desselben entspreche, und dieser komme auch in den übrigen Erscheinungsformen des betreffenden Staates zum Ausdruck. Im gleichen Sinne hatte Hegel gefordert, daß die Verfassung vom Geiste eines Volkes bestimmt werden müsse, weil nur so ein Staat als „organisches Ganzes“ bestünde und fremde Vorbilder daher nicht nachgeahmt werden können. Der Gedanke des Volksgeistes gelangt somit von Herder und Hegel in den Historismus und dessen Ideal des Nationalstaates. Er muß sich nach außen abschließen, um seine Eigenart nicht zu gefährden, wie es bei Treitschke 1861 heißt. Der „kosmopolitische Urbrei“ ist für beide ein Unding.42 3c. Das Mittel, nationale Lebensprinzipien ausfindig zu machen, ist für Ranke die Geschichtswissenschaft. Erst durch umfassende historische Untersuchungen wird man sich zu „ahnender Erkenntnis der in der Tiefe waltenden, alles beherrschenden geistigen Gesetze erheben.“ Auf diesem Wege sucht Ranke die „Regel des Werdens“, die das „innere Leben“ der Staaten steuert. Auch hierin folgt Ranke Hegel, der behauptet hatte, „daß eine bestimmte Besonderheit in der Tat das eigentümliche Prinzip eines Volkes ausmacht; dies ist die Seite, welche empirisch aufgenommen und auf geschichtliche Weise erwiesen werden muß“. Die Erkenntnis dieses geschichtsmächtigen Prinzips macht deutlich, was wir sowieso nicht ändern können und daher tätig unterstützen sollen: „Deutschland lebt in uns ... in jedem Lande, dahin wir uns verfügen.“ Wir „können uns nicht emanzipieren.“43 3d. Die konservative Absicht der Metapher muß sich den Einwand gefallen lassen, daß dann, wenn alle Staaten lebendige Individuen seien, auch alle „gleich vortrefflich“ sein müßten. Dem begegnet Ranke mit der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit. Ein gesundes politisches Dasein zeige Ordnung im Innern und



3. Staat

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Stärke nach außen, ein krankes das Gegenteil. Mäßige Unruhe sei förderlich, allzugroße schädlich. Ranke schätzt die aristotelische Mitte und wehrt den Extremen. Insbesondere fürchtete Ranke den Kommunismus; er meinte, dieser löse Persönlichkeit und Freiheit auf.44 3e. Als nächsten Angriff auf sein Konzept behandelt Ranke den Vorwurf, daß ein organischer Staat über seine Gesundheit hinaus nicht verbessert werden könne. Demgegenüber heißt es: „Der Staat ist ein lebendiges Dasein, das seiner Natur nach in unauflöslicher Entwicklung, unaufhaltsamem Fortschritt begriffen ist.“ Damit ist der grundsätzliche Einwand abgewehrt; die Forderung nach Verbesserung des Bestehenden ist in die Sprache des Lebensgleichnisses übersetzt: „Alles Leben trägt sein Ideal in sich: der innerste Trieb des geistigen Lebens ist die Bewegung nach der Idee, nach einer größeren Vortrefflichkeit. Dieser Trieb ist ihm angeboren.“45 Auch diesen Verweis auf den Wachstums- und Lernprozeß kennen wir von Hegel und Humboldt. Ähnlich meinte das Droysen. Wenn er 1843 schrieb „Es kann die Meinung nicht sein, die Dürre und Fadheit der Aufklärung wieder auf den Schild zu heben“, so ging er von dem Gegensatz zwischen einer kosmopolitischen Idee unbegrenzten Fortschreitens bei den Aufklärern und einer konservativen Ängstlichkeit bei den Reaktionären aus. Droysen suchte die Mitte zwischen dem historischen Recht des Beharrens und dem Recht der Geschichte auf Veränderung und unterstützte unausgesprochen Rankes Forderung: „Die echte Politik muß eine historische Grundlage haben.“46 Diese Warnung ist gut gemeint, aber nichtssagend. Denn jede wirkliche Politik hat eine solche, das weisen ihr die Historiker schon nach, wenn die Politiker es selbst nicht wissen. Wofern die Politiker aber dies zu Unrecht meinen, zeigt es sich sowieso erst hinterher, ob die Politik „echt“ oder „unecht“ war. Auch die Historiker sind da nicht klüger; schon gar nicht, indem sie politische Situationen in organische Bilder bringen. 3f. Ausdrücklich auf Ranke zurückgegriffen hat dann Friedrich Meinecke. ­In seiner Einleitung zum ›Politischen Gespräch‹ rühmt er Rankes angebliche Ent­ deckung, „daß jeder Staat sein eigentümliches unnachahmliches Leben in sich hat, daß er ... ein Individuum bildet mit eigenen Daseins- und Wachstumsbedin­ gungen.“ Meinecke wiederholt Rankes Formulierung, Staaten seien „Gedanken Gottes“, wobei er dessen behutsam vorgeschaltetes „man darf sagen“ freilich gestrichen hat; er spricht selbst vom „eigenartigen Lebensprinzip aller Staaten“ und führt aus: „Jeder Staat sucht sein eigentümliches, ihm innewohnendes Ideal zu verwirklichen. Er kann dabei erkranken, altern und zugrunde gehen, aber er wird zunächst nichts anderes tun können, als seine Individualität ausbilden zum Maximum ihrer Möglichkeiten.“ Wo aber liegt das, wenn nicht in der jeweiligen Wirklichkeit? Wieder lesen wir eine dieser idealistischen Blindformeln. Eine derartige eigengesetzliche Bewegung aller Staatsindividuen gehorcht nach Meinecke dem Grundsatz der Entelechie. Das stammt von Droysen. Innerhalb der historischen Faktoren verleiht Meinecke dem Staat den Vorrang, weil er in ihm den „kausal wirksamsten Faktor

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X. Der Deutsche Historismus

des geschichtlichen Lebens erkennt, weil der nach Vollendung strebende Mensch nur in einem nach Vollendung strebenden Staate frei atmen kann“.47 3g. Meinecke nannte Rankes Theorie „eine Lehre von ungeheurer Bedeutung und Tragweite“ – ohne indessen zu sehen, daß Ranke sie Hegel entlehnt hatte. Meinecke selbst beweist ihre Wirkung, wenn er glaubt, Ranke habe ein „Naturgesetz des Staatenlebens“ darin aufgefunden, daß sich Staaten vor allem darauf einrichten müßten, sich nach außen möglichst gut zu behaupten. Rankes Lehre vom Primat der Außenpolitik war konservativ, das heißt defensiv motiviert, weist aber schon bei Meinecke in Richtung auf den Sozialdarwinismus, der keine Frage nach der Vertretbarkeit der im Behauptungskampf der Staaten eingesetzten Mittel stellt. Meinecke glaubt, daß „die scheinbare Unmoral des staatlichen Machtegoismus sittlich gerechtfertigt werden kann. Denn unsittlich kann nicht sein, was aus der tiefsten individuellen Natur eines Wesens stammt.“ Die „Natürlichkeit“ garantiert ihm die Sittlichkeit.48

4. Politik 4a.Rankes quietistische, konservative Haltung fand scharfe Kritik, sowohl von links als auch von rechts. Heinrich Heine interpretierte 1832 das Individualitätsprinzip als Variante der Zyklik, die er als trostlos empfand. Die „Weltweisen der historischen Schule“ pflegten damit einen „sentimentalen Indifferentismus gegen alle politischen Angelegenheiten des Vaterlandes allersüßlichst zu beschönigen. Eine zur Genüge wohlbekannte Regierung in Norddeutschland weiß ganz besonders diese Ansicht zu schätzen, sie läßt ordentlich Menschen darauf reisen, die unter den elegischen Ruinen Italiens die gemütlich beschwichtigenden Fatalitätsgedanken in sich ausbilden sollen, um nachher, in Gemeinschaft mit vermittelnden Predigern christlicher Unterwürfigkeit, durch kühle Journalaufschläge das dreitägige Freiheitsfieber des Volkes zu dämpfen. Immerhin, wer nicht durch freie Geisteskraft emporsprießen kann, der mag am Boden ranken; jener Regierung aber wird die Zukunft lehren, wie weit man kommt mit Ranken und Ränken.“ Heine polemisiert gegen „die kleinen Windungen niedriger Ranken; wenn wir sie einst bekämpfen, so geschehe es mit dem kostbarsten Ehrenschwerte, während wir einen rankenden Knecht nur mit der wahlverwandten Knute abfertigen werden.“49 4b. Als Alternative begrüßt Heine den revolutionären Fortschrittsgedanken, dessen illusionäre Visionen ihm bewußt sind, ohne ihn abzuschrecken. Heine sieht das Dilemma einer universalen Entwicklungstheorie, die nur Stufen auf der Leiter zum Goldenen Zeitalter der Zukunft kennt und damit der Geschichte ihren Eigenwert nimmt. Sein Ausweg ist die Erklärung, daß die Zweck-Mittel-Beziehung vom Menschen in die Geschichte „hineingegrübelt“ werde, wovon „aber der Schöpfer nichts wußte“. Das Leben sei weder Zweck noch Mittel, sondern ein Recht, dessen Kraft durch den „elegischen Indifferentismus“ der Historiker gelähmt werde.50



4. Politik

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4c. Ein gleicher Protest wie von links erhob sich von rechts bei Droysen, der einen ähnlichen Haß auf Ranke verspürte. Am 17. November 1855 heißt es: „Ranke gehört mit seiner feigen Intelligenz recht eigentlich in die derzeitige Berlinerei; vom sittlichen Zorn, von Erhabenheit der Gesinnung ist bei ihm keine Spur; und daher geschieht es einem, daß, wenn man ein Buch von ihm hinausgelesen, man viel klüger, aber nicht besser geworden zu sein fühlt; man schließt nicht mit einem guten Vorsatz oder mit fröhlicher Emporrichtung des Blickes oder Nackens.“ Im selben Tenor schreibt er am 8. März 1884: Wer im Sinne Rankes bloß Fakten referiert, „der hat auf das sapere aude verzichtet und deckt sich mit der faulen Richtigkeit der Quisquilien, die ihm sein Kehricht bietet.“51 4d. Droysen will Geschichte nicht nur von außen begreifen, sondern von innen gestalten. Dazu bedarf es über die Belehrung hinaus der bei linken wie rechten Aktivisten erforderlichen Begeisterung. So definiert Droysen die Geschichte als Bewegung der sittlichen Welt und erläuterte dies daran, daß die Kontinuität der Tradition aus den Verpflichtungen erwachse, die „Familiengeist, Gemeingeist, Volksgeist“ mit sich bringen. Droysen stellt der Historie die Aufgabe, den Menschen in die natürlichen Gemeinsamkeiten hineinwachsen zu lassen. Er entwirft das Bild, wie der einzelne Mensch, zunächst bloß „kreatürliches Ich“, allmählich lernend „mit dem geschichtlich Gewordenen um ihn her verschmilzt“ und sich mit einer Stufenfolge von Kollektiven identifiziert. Familie, Armee, Berufsstand, Glaubensgemeinschaft, Staat und Volk sind die am häufigsten genannten „höheren Ichs.“ Indem der Einzelne sich die Geschichte dieser seiner Gruppen aneignet, soll er zugleich deren „Standpunkte“, „Interessen“ ja „Vorurteile“ übernehmen. Dann handelt er pflichtgemäß und sittlich, wenn er im Ganzen aufgeht. Zur „geschichtlichen Persönlichkeit“ wird der Einzelne nur – übertragen gesprochen – als „Soldat im Dienste der höheren Gemeinsamkeiten von Volk, Staat, Religion usw.“52 4e. Droysen erläutert dies mit Hilfe der Metaphorik der organischen Staatslehre: „Diese Idee“, gemeint ist der Volksgeist, „ist ein geschichtliches Ergebnis, und sie organisiert sich ihre Daseinsform, baut sich den nationalen Körper aus den Menschen“ – jeder ist ein „lebendiges Stück und Glied an diesem Körper, und man kann nicht sagen, daß er nur Stoff und unfrei wäre.“ Gewiß nicht nur, wenn auch vorwiegend; wobei zu bedenken ist, was für Droysen dieser zugestandene Rest an Freiheit bedeutet: es ist die Pflicht, in der Gemeinsamkeit aufzugehen. „In jedem einzelnen Fall empfindet jeder, daß er an seiner Volksart sein Heiligstes, seine natürliche Sittlichkeit hat, und er hat das Recht und die Pflicht, diese mit aller Stärke festzuhalten und für sie einzustehen.“ Mit diesen Sätzen schwer zu vereinen ist dann das Bekenntnis, daß „die Persönlichkeit mit ihrer Freiheit, ihrer Verantwortlichkeit, ihrem Gewissen“ hoch über Staat, Kirche und Volk, über Recht, Eigentum und Familie stehe.53 In jedem Falle ist das „forschende Verstehen“, das über Droysens ›Historik‹ schwebt, kein passiv-kontemplatives Zur-Kenntnis-Nehmen, sondern ein produktives, auf Aktion zielendes Sich-Aneignen.

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4f. Droysen bekämpft den Individualismus und den Materialismus. Wo die materiellen Interessen des Einzelnen im Vordergrund stünden, da sei keine Sittlichkeit möglich, da stehe am Ende der Kommunismus. Wer aber das vollstreckt, was die Gemeinschaft von ihm fordert, der besitzt Droysens Hochachtung. Diese Hingabe adelt den erfolgreich Handelnden mit einem höheren Recht. Geschichtliche Aufgaben können durch die „Werkmeister der Geschichte“ nicht gelöst werden, „ohne daß tausend Rechte gekränkt, schönste Blüten geknickt, lebensvollste Gestalten entkräftet und zerstört wurden.“54 Droysen zitiert Aristoteles: „Wie ein Gott unter Menschen müßte ein solcher Mann sein... Für solche Männer gilt kein Gesetz, denn sie selbst sind das Gesetz.“55 Mit diesen Bildern werden die Kosten des „Fortschritts“ gerechtfertigt, zu denen sich Droysen auch sonst bekennt.56 4g. Die in der Aufklärung lebendige, bei Hegel und Ranke verloren gegangene politische Dynamik ist wieder da, aber durch die Romantik verwandelt. Die Aufklärung argumentierte gleichsam von außen nach innen: die universale Menschheitsidee lieferte die Maßstäbe für die Kritik an Staat und Gesellschaft. Droysen hingegen denkt von innen nach außen. Er orientiert sich an den faktischen Gruppenegoismen und legitimiert diese in der Hoffnung, ein für die Gesamtheit erträglicher Zustand werde beim Streit der Nationen schon herausspringen. Das „Ich der Menschheit“ erscheint zwar mehrfach am Horizont, hat aber keine verpflichtende Bedeutung. Droysen spricht von der „zersetzenden“ Wirkung der Aufklärung, denn diese löst durch ihren Universalismus „organische“ Bindungen auf, während die historische Bewußtseinsbildung solche schaffen soll. Droysen vertritt gegen den kosmopolitischen Individualisten Buckle einen deutschnationalen Gruppengeist. Hauptsache, daß „Tausende und Millionen sich eins wissen.“57 4h. Rankes Streben nach Objektivität fand mithin bei Vertretern des Historismus nicht überall Beifall. Sein Schüler, der wie Droysen borussophile Historiker Heinrich von Sybel begrüßte es 1856 als „höchst erheblichen Fortschritt“, daß es inzwischen keine „objektiven, blut- und nervenlosen Historiker“ mehr gebe, denn Objektivität sei im nationalen Sinne steril. Droysen prägte die Formel von einer unfruchtbaren „eunuchischen Objektivität“. Dagegen stellt er eine programmatische Parteilichkeit für die „relative Wahrheit meines Standpunktes, wie ihn mein Vaterland, meine politische, meine religiöse Überzeugung, mein ernstliches Studium (nämlich der Geschichte) mir zu erreichen gewährt hat. Das ist ... in aller Weise einseitig und beschränkt. Aber man muß den Mut haben, diese Beschränkung zu bekennen.“58 Damit erfüllt er die Forderung Goethes und Nietzsches, die Historie habe dem tätigen Leben zu dienen, wenn darunter auch sehr Unterschiedliches verstanden wurde.59 4i. Droysen wählte für die belebende Wirkung der Historie das Bild der Befruchtung. Das historische Bewußtsein integriere den Menschen, indem es ihn befruchtend zu dem mache, was er sein solle. Der „Akt“ liegt im Verständnis. Dieser erfolge „als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch



5. Di Pandorabüchse des Historismus

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wie das Empfängnis in der Begattung.“ Der Tenor geht fort: „In dem Verstehen ist die ganze geistigsinnliche Natur des Menschen völlig mittätig, zugleich gebend und nehmend, zugleich zeugend und empfangend.“ Wenn wir dieses Symplegma auf­ lösen, erscheint der Geschichtslehrer als der zukünftige Vater, der Schüler als die zukünftige Mutter, die Historie als der Samen, und die Begeisterung für Volk und Vaterland ist das, was dabei herauskommt. Auf dieser Linie liegt dann auch Hitlers Forderung an den Geschichtsunterricht. „Man erziehe das deutsche Volk schon von Jugend an mit jener ausschließlichen Anerkennung der Rechte des eigenen Volkstums und verpeste nicht schon die Kinderherzen mit dem Fluche unserer Objek­ tivität auch in Dingen der Erhaltung des eigenen Ichs.“. Hitler meint dasselbe Über-Ich, das auch Droysen, unter einer freilich größeren Auswahl das liebste war.60 4j Eine klare politische Position finden wir in allen hegelianischen Lagern, sowohl im Historismus als auch im Materialismus. Strittig ist bloß, welches denn die richtige Partei wäre. Hegel würde sagen: die richtige Partei ist die, welche den Erfolg davonträgt. Aber das wissen wir vorher ja nicht. Für Hegel und Ranke war das ebenso unklar, deswegen zogen sie es vor, nichts zu tun. Unter hegelianischen Prämissen gibt es nur die Wahl zwischen sehendem Nichtstun und blindem Handeln.

5. Di Pandorabüchse des Historismus 5a. Die mittelalterlichen Mysterienspiele boten das Jedermann-Motiv des Welttheaters auf drei Bühnen gleichzeitig dar. Oben wurde das Geschehen im Himmel gezeigt, in der Mitte das auf Erden und unten das in der Hölle. So ähnlich sah der Idealismus, so sieht der Historismus die Geschichte. Oben bewegen sich die Ideen und Potenzen, in der Mitte die Völker und Staaten, unten die einzelnen Menschen.61 Der Zusammenhang wurde in den Mysterienspielen durch die Vorsehung Gottes hergestellt, und diese Tradition ist im historistischen Geschichtsbild durchaus lebendig, jedenfalls bei den protestantisch geprägten Hauptvertretern Ranke, Droysen und Meinecke. Ihr Glaube ist indessen durch die Aufklärung insofern beschnitten, als sie die Furcht vor dem Teufel und die Hoffnung auf das Paradies aufgegeben haben. Das Weltgericht vollzieht sich im Sinne Schillers in der Weltgeschichte durch die führenden Männer und die siegreichen Völker. Mußte dann die Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht als Gottesgericht erscheinen? 5b. Der gegen die Aufklärung und ihren Kosmopolitismus gerichtete Nationalismus der Romantik hatte der historistischen Geschichtsschreibung die vornehmsten Gegenstände geliefert: die Staats- und Volksindividualitäten. Deren quasireligiöse Legitimierung rechtfertigte auch ihre militärische Selbstbehauptung. Aus dem Geiste der Befreiungskriege gegen Napoleon konnte man die Ideale von nationaler Freiheit und Einheit als Leitmotive historischer Betrachtung ableiten. Das zeigt die Gründung der ›Monumenta Germaniae Historica‹ durch den Freiherrn vom Stein

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1819 und deren Motto Sanctus amor patriae dat animum. Die Liebe zum Vaterland belebte das Interesse an seiner Geschichte, und dieses wiederum beflügelte den Patriotismus, ohne den der Erste Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre. Hat dabei der Historismus mitgewirkt? 5c. Mit dem Ende der deutschen Weltgeltung 1918 geriet der Historismus in die Krise. Weder Rankes abgeklärte Staatstreue noch Droysens aufgeregter Patriotismus schienen weiterhin vertretbare Positionen. Man erwartete vom Historismus vergeblich eine Antwort auf die Frage „Was tun?“ Meinecke prägte das Wort von der „Pandorabüchse“ und sprach vom „müden Skeptizismus“, vom „korrosiven Gift des relativierenden Historismus.“62. Die Auflösung der Geschichte in Geschichten, die sämtlich unmittelbar von und zu Gott sind, gibt jedem Erfolgreichen ­dasselbe Recht. Zunächst sah Meinecke darin einen Fortschritt. Es sei Herders und Mösers Verdienst gewesen, „das abstrakte Vernunftideal in die Ecke zu stellen, die Werte, die in der Welt des Irrationalen steckten, mit Liebe zu umfassen und innerlich zu sanktionieren.“ Die Aufklärung habe die Menschen naturrechtlich-intellektualistisch moralisierend gewissermaßen über einen Kamm geschoren,63 anstatt sie als Individuen zu würdigen. Die gegenläufige Historisierung der Werte aber führte, so Meinecke, in die Orientierungslosigkeit. Der Historismus bemühte sich, alle Weltanschauungen zu verstehen, besitze aber selber keine – so die Kritik.64 5d. In zwei großen Arbeiten 1922 und 1924 bemühte sich der Theologe Ernst Troeltsch um eine „Überwindung“ des Historismus. Um aus dem Strom des Werdens das feste Ufer zu erreichen, müsse man einen Kierkegaardschen „Sprung“, einen „Salto mortale“ wagen. Gemeint ist der Verzicht auf die Annahme ewiger allgemeingültiger Werte zugunsten von „subjektiven Wertgefühlen“ für die immanenten Ideale einzelner Zeiten und Völker. Troeltsch grenzte die Werte der abendländischen Tradition scharf ab gegen die Ideale in anderen, namentlich östlichen Kulturen. Der damit eingestandene Relativismus wird durch einen religiösen Überbau sanktioniert. „Das ist das allgemeine Gesetz der Geschichte, daß die göttliche Vernunft sich in immer neuen und immer eigenartigen Individualisationen offenbart und ... nicht auf Einheit und Allgemeinheit, sondern auf Steigerung jedes individuellen Lebenskreises“ abzielt.65 Könnte das nicht auch bei Ranke stehen? Über ihn hinaus geht Troeltsch mit der aus seinem Geschichtsbild abgeleiteten Forderung nach tätiger Bereitschaft zu „ethischem Kulturwollen.“66 Max Weber hatte 1917 jedes Bekenntnis zu „Kulturidealen oder sonst weltanschauungsmäßig begründe­­­ten praktischen Wertungen“ aus dem akademischen Bereich verbannen wollen, weil sonst die Universität zu einem „Priesterseminar“ würde.67 Bei dem Theologen ­Troeltsch aber dominierte der Wunsch nach einer ganzheitlichen Weltanschauung, in der das philosophische Geschichtsbild und die politische Einstellung eine harmonische Einheit bilden. 5e. Soweit die Vertreter des Historismus diesen als Weltanschauung verstanden, ihm eine politisch-pädagogische Funktion zuschrieben und Handlungsanweisun-



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gen aus ihm ableiten wollten, bekannten sie sich zur religiösen Ausgangsbasis des Historismus. Sie läßt sich, wie zu zeigen war – vielfach in der Sprache der Autoren nachweisen. Ähnlich wie Ranke und Droysen sprach Meinecke von der „schöpferischen Gottesnatur“ in der Geschichte, suchte über sie einen „Zugang zu Gott“ und sah im Ringen um den Historismus ein „Lebensproblem im höchsten Sinne.“68 Die von ihm dargestellte preußische Reformzeit hatte für ihn „etwas von dem Charakter eines Altarbildes.“69 Das Dilemma des Historismus entspringt somit aus der ihm zugemuteten ethischen Autorität, seiner Deutung als Religionsersatz.70 Croce nannte den Historismus die „letzte Religion der Gebildeten.“71 5f. Damit war der Historismus überfordert. Denn „untrennbar verbunden mit dem Historismus“, schreibt Meinecke, „ist der Relativismus.“72 Er aber ist nicht verallgemeinerungsfähig, denn er relativiert sich selbst. Wenn alles zeitbedingt ist, dann ist es auch dieser Satz. Er rechtfertigt zwar die gegenwärtige Ansicht, besagt aber nichts über die Geltung vergangener Einsichten, die durchaus zeitübergreifend sein können. Historismus ist ethisch nichtssagend. Er führt zu Rankes konserva­ tiver Passivität, die nur den lieben Gott läßt walten, zu Droysens nationalem Aktivismus, der sich seiner Scheuklappen nicht schämt, oder zu Meineckes Ratlosig­­­- keit – je nachdem. Am Ende sieht Meinecke die „Anarchie der Überzeugungen“, das „Inferno der Wertanarchie.“ 5g. Nach 1945 verschärfte sich das Problem. „Mit der Vernunft in der Weltgeschichte soll mir niemand mehr kommen“, schrieb Eduard Spranger 1947 an Meinecke,73 und das war schon lange dessen Credo. Während Herbert Marcuse 1964 versuchte, „das Gespenst des Historismus“ im Namen von Marx zu bannen,74 setzte 1972 Ernst Engelberg dem Historismus der „imperialistischen Geschichtsschreibung“ den „marxistisch-leninistischen Historismus“ entgegen, einen neuen Namen für den Historischen Materialismus. Für ihn gab es das Problem als Werterelativismus nicht, hier galt die „Pflicht zur Parteilichkeit“.75 Demgegenüber waren für Meinecke und seinesgleichen der radikalsozialistische Internationalismus des Ostens und der dollardemokratische Kapitalismus des Westens gleicherweise unannehmbar. Diese doppelte Frontstellung gegen den (westlichen) Liberalismus wie gegen den (östlichen) Sozialismus findet sich bei Ranke 1836, bei Max Weber 1916, bei Otto Hintze 192776 und hat zu dem dritten Weg von 1933 geführt, den – nicht nur – Meinecke als „Irrweg“ kennzeichnete. Er rechnete das „Werk Hitlers zu den Durchbrüchen eines satanischen Prinzips in der Weltgeschichte“ und zog sich auf die persönliche Gewissensentscheidung zurück.77 5h. Zur geistigen Bewältigung der „deutschen Katastrophe“ 1945 plante Friedrich Meinecke im Geiste des Historismus die Gründung von „Goethegemeinden“. In allen größeren Orten sollten sich gleichgesinnte Kulturfreunde zusammentun und sich jeweils am Sonntagnachmittag zu einer Feierstunde in einer Kirche versammeln, um sich die „edelste deutsche Musik und Poesie“, das „Deutscheste vom Deutschen“ zu Herzen gehen zu lassen. Ein ›Handbuch für Goethegemeinden‹

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X. Der Deutsche Historismus

hätte die Funktion der Bibel, des Gesangbuchs oder das Katechismus zu übernehmen.78 Dazu kam es ebensowenig wie zur Bestimmung von Goethes Geburtstag am 28. August als deutscher Nationalfeiertag, wie Meinecke am 13. September 1949 Theodor Heuß vorschlug. Der Bundespräsident verwies auf die Ferienzeit.79 5i. An einen Erfolg seiner Ideen hat Meinecke nicht geglaubt, sah aber eben darin sein Weltbild bestätigt. Die preußisch-deutsche Geschichte erwies sich 1949 für ihn als „Tragödie“. Sein rankeanisches Gottvertrauen sicherte ihm gleichwohl den Eigenwert der im und am „Exzelsiordrang“ der einzelnen Menschen, der ­Völker und Staaten Gescheiterten, „und sei es selbst ein Untergehen mit wehender Flagge.“ Freilich erfordert diese heroische Szene einen Augenzeugen, einen Historiker, der vom sicheren Gestade, d. h. vom Schreibtisch aus, den Untergang beobachtet. So hatte Lucrez die Position des Philosophen beschrieben, der die allgemeine Ratlosigkeit beobachtet wie jemand, der vom festen Ufer aus einem Schiffbruch auf hoher See zusieht.80 Schon 1942 zweifelte Meinecke: „Unsere alte Geschichtsphilosophie reicht nicht mehr aus für heute.“81 Neue Maßstäbe für eine neue Epoche? Ranke ist zu ergänzen: Jede Epoche ist nicht nur unmittelbar zu Gott, sondern auch unmittelbar zum Teufel. Mittelbar ist sie allein zur Druckerschwärze, denn auf dem Wege dahin muß sie durch das Hirn der Historiker.82

So lehrt uns die Geschichte der Völker die Notwendigkeit der Vereinigung mit Christo. Marx 1835

XI. Der Historische Materialismus a. In der ›Deutschen Ideologie‹ von 1845/46 schreibt Marx: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“1 Dieser Satz wird in den meisten Arbeiten über die Geschichte bei Marx zitiert. In den wenigsten wird indessen dazugesagt, daß Marx diesen Satz in der Handschrift wieder gestrichen hat. Das eine wie das andere erklärt sich aus der Genese von Marxens Geschichtsbild. b. Karl Heinrich Marx (1818 bis 1883), war Sohn eines Trierer Rechtsanwalts jüdischer Herkunft, wurde evangelisch erzogen, humanistisch gebildet und in Philosophiegeschichte promoviert. Er arbeitete als Schriftleiter der radikalen Rheinischen Zeitung und lebte seit 1849 in London. 1864 gründete er die Internationale Arbeiterorganisation. Sekretär wurde sein Freund und Mitarbeiter Friedrich Engels (1820 bis 1895). Dieser war Textilfabrikant in Manchester und stärker als Marx historisch interessiert. c. Marxens politische Ansichten wurden bestimmt durch die Französische Revolution und den Frühsozialismus, u. a. durch Graf Claude Henri Saint-Simon (1760 bis 1825). Sein philosophisches Denken hingegen ist durch Hegel geprägt, mit dessen Werk sich Marx als Berliner Student seit 1837 auseinandergesetzt hat. Marxens Verhältnis zu Hegel kennzeichnet der Satz von Engels,2 Marx habe Hegels Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Denkrichtung geht nicht mehr von oben nach unten, sondern von unten nach oben, das Denksystem bleibt aber strukturell monistisch: es baut auf der Annahme eines einzigen Urprinzips auf. Bei Hegel war dies der Geist, der stofflich in Erscheinung tritt; bei Marx und Engels ist es der Stoff, der geistige Qualitäten hervorbringt. d. Mit dem Begriff Materialismus wird eine Lehre bezeichnet, die in der Materie den Schlüssel zum Verständnis der Welt sieht und das Bewußtsein als Folge und Reflex physischer Vorgänge auffaßt.3 Der Terminus „Materie“ geht zurück auf lateinisch materia, materies und stammt von mater. Die Lateiner bezeichneten den abgehackten Baumstumpf, aus dem neue Triebe emporschießen, als mater, indem sie die „Mutter“ als Ursprung des Nachwuchses aus dem tierischen in den pflanzlichen Bereich übertrugen. Das grüne, nachgewachsene Holz nannten sie materia, und da sie daraus Häuser bauten, gewann der Begriff materia die Bedeutung „Baumaterial“ oder schließlich einfach „Material; Mutterstoff“.4 In der philosophischen Spekula-

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XI. Der Historische Materialismus

tion ist dann die Materie das, woraus die Dinge hervorgehen, so wie die Kinder aus der Mutter entspringen. Auch im Griechischen ist der Begriff für Materie, hylé, mit dem Begriff für Holz verbunden, er ist mit phyo (wachsen lassen) verwandt. In beiden alten Sprachen ist Materie der Vorstellung nach somit ursprünglich organisch, belebt. Ein Gegensatz von Masse und Leben, Stoff und Geist daher nicht vorhanden. Entsprechendes gilt für den Naturbegriff: Natur kommt von nascor (geboren werden), Physik von phyo (zeugen) – beide Male liegt die Vorstellung des Lebendigseins zugrunde. e. Die materialistische Auffassung finden wir unter den Vorsokratikern bei Leukippos (um 450) und Demokritos (um 400), in der hellenistischen Philosophie bei Epikur und Lucrez. Gemeinsam vertraten die antiken Materialisten die Ansicht, daß die Welt aus Atomen bestehe, deren Bewegungen allen Vorgängen zugrundeliegen.5 Das Bewußtsein werde durch die physische Einwirkung der Materie auf das Gehirn erzeugt, so daß alle Vorstellungen nur Ableitungen einer vorgegebenen stofflichen Realität seien. Die antiken Materialisten lehnten – ähnlich wie die neueren – Mythos und Religion ab, bestritten die Unsterblichkeitslehre und verfochten eine Nützlichkeitsethik. f. Dieser Materialismus steht im Altertum dem Idealismus Platons gegenüber, und an diesen knüpfte das Christentum an. Im Judentum sind idealistische Vorstellungen tief verwurzelt, wenn es in der Genesis heißt: „Gott sprach, es werde Licht und es ward Licht“ oder wenn im Johannes-Evangelium steht: „Im Anfang war das Wort“. Jeweils geht der Begriff der mit ihm gemeinten Sache voraus. Der Materialismus wurde in der christlichen Tradition bekämpft, und erst in der französischen Aufklärung gewann er wieder Einfluß, etwa bei Lamettrie, Diderot und Helvétius. In Deutschland konnte sich der Materialismus zunächst nicht gegen Kant und Hegel durchsetzen, er erhielt erst durch Marx Bedeutung. Dieser knüpfte an die beiden wichtigsten älteren materialistischen Schulen an, an Demokrit und Epikur, über deren Naturphilosophie er 1841 seine Doktorarbeit schrieb. Bereits damals dachte er anders als in seinem Abituraufsatz, dem auch unser Motto entstammt: „Also leiht die Vereinigung mit Christo eine Freudigkeit, die der Epikuräer vergebens in seiner leichtfertigen Philosophie...zu erhaschen strebt.“

1. Der Grundtext 1a. „Der moderne Materialismus“, schreibt Engels, „sieht in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine Aufgabe ist.“6 Sie werden gefunden in der politischen Ökonomie. Wir besitzen von Marx eine Reihe von einschlägigen Äußerungen, unter denen ein Passus aus dem Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 am einflußreichsten wurde.7 Trotzki berief sich auf ihn 1921 und Stalin sprach 1947 von einer „genialen Formulierung des Wesens des historischen Materialismus.“8



1. Der Grundtext

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1b. Marxens Text besteht aus vier Abschnitten. Der erste gilt dem Verhältnis von Basis und Überbau. Er beginnt: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ 1c. Daran schließt sich als zweiter Abschnitt die Lehre von den periodischen Revolutionen: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produk­ tionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus den Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln dersel- ben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider­ sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit im­mer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets ­finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“ 1d. Der dritte Abschnitt besteht nur aus einem einzigen Satz. Er aber enthält die gesamte Weltgeschichte, gegliedert in vier Teile: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.“

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XI. Der Historische Materialismus

1e. Der vierte Abschnitt enthält die Eschatologie. Marx fährt fort: „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem ­Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materielle Bedingung zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Über das, was dann kommt, hat sich Marx bereits im ›Kommunistischen Manifest‹ von 1847 ausgesprochen: es ist die proletarische (Welt)revolution, die Diktatur des Proletariats und nachfolgend die klassenlose Gesellschaft.

2. Basis und Überbau 2a. Ebenso wie Hegel meint Marx, daß die Weltgeschichte eine Entwicklung, einen einheitlichen Prozeß darstelle, d. h., daß sich sämtliche relevanten Tat­ sachen auf eine große Linie bringen lassen oder, was dasselbe ist, daß nur diejenigen Tatsachen, die auf diese Linie gebracht werden können, historisch relevant sind. Der Prozeß läßt sich zwar beschleunigen und bremsen, aber weder dauerhaft aufhalten noch gar umkehren. Seine Schritte erfolgen mit der „Notwendigkeit eines Naturprozesses“.9 Diese Annahme erklärt Marxens Lieblingsvokabel „naturwüchsig“ für historisches Geschehen10 und seine Vorliebe für organische Metaphern in der Genese und der Funktion sozialer Institutionen.11 2b. Die „Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung“ besteht in der seit der Altsteinzeit anhaltenden Entfaltung der Produktivkräfte. Die Technik und die exakten Wissenschaften, die Mechanisierung und Industrialisierung der Arbeit sowie die Ausweitung des Weltverkehrs schreiten voran, so daß die jeweils führende Nation das Vorbild für alle anderen abgibt. Zu Zeiten von Marx war das England. „Welche Verbrechen es auch begangen haben mag“, war es „doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte“ zur Industrialisierung, nicht nur Indiens.12 Nur die Produktivkräfte haben Geschichte, denn Religion, Moral und sonstige Ideologie sind bloße Begleiterscheinungen. Triebkraft und Ergebnis des Fortschritts zugleich sind die wachsenden Bedürfnisse, ein Fall von Wechselwirkung, die als Denkfigur verwendet wird, obschon sie, wie Schopenhauer moniert, von der Logik verboten ist, da sie jene Kraft übersieht, die den Pendelschlag verursacht.13 Das ist bei Marx die Dynamik der Natur, denn die fortschreitende „Beherrschung der Natur“ durch den Menschen ist selbst ein „naturwüchsiger Prozeß“.14 Die Ansicht, daß die Gegenwart technisch allen früheren Zeiten überlegen sei, vertraten schon die antiken Fortschrittstheoretiker; die Meinung, daß die Gegenwart die Menschengattung zur Einheit gebracht habe, äußerten Polybios im 2. Jahrhundert v. Chr. und Bodin im 16. Jahrhundert n. Chr.,15 und heute konstatieren wir die Globalisierung.



2. Basis und Überbau

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2c. Älteren Theorien ist Marx auch darin verpflichtet, daß er mit der Entwicklung von Produktion und Kommunikation zugleich einen Aufstieg der Zivilisation verband, der „einem unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge“ auch durch barbarische Invasionen nicht aufgehalten werden könne. Dies hatte Gibbon angesichts des Untergangs Roms betont.16 Ebenso wie Hegel spricht Marx von Stufen des Geschichtsprozesses, und zwar von solchen der Produktivkräfte, will sagen: der Industrie, der Gesellschaft und der Kultur.17 Insofern Marx gerade zu seiner Zeit die höchste Stufe der Technik und der Kommunikation, den Weltmarkt, erreicht glaubt, folgert er, daß die einheitstiftenden Prinzipien der Geschichte selbst als deren Produkt anzusehen sind. So wird die Geschichte für ihn zur Vorgeschichte der Geschichte. Um diese zum Selbstverständnis unabdingbare Erkenntnis zu gewinnen, braucht Marx die Geschichte. Darum konnte er schreiben: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“ Nachdem er festgestellt hatte, daß die wahre Geschichte nicht hinter, sondern vor uns liegt, mußte er den Satz wieder streichen. * 2d. Gehen wir nun die vier Abschnitte aus dem Vorwort zur ›Politischen Ökonomie‹ nochmals durch, so stand am Anfang das Verhältnis von Basis und Überbau.18 Es führt nicht zu eindeutigen Ergebnissen, wenn wir versuchen wollen, alle Handlungen auf diese beiden Stockwerke zu verteilen. Immerhin ist klar: Ganz unten finden wir die Reproduktion des physischen Lebens: Arbeit, Essen, Wohnen usw. Darüber liegt die Schicht der gesellschaftlichen Ordnung mit Klassenstruktur und Eigentumsverteilung. Darüber wiederum erhebt sich die Kultur im engeren Sinne und ganz oben, schon ein wenig in den Wolken, die von den Beteiligten geleistete Reflexion dieser Verhältnisse in Wissenschaft und Philosophie, die Ideologie im weiteren, leninschen Sinne. Engels spricht von der Widerspiegelung der materiellen Verhältnisse im Medium der in diesem Sinne nichtmateriellen Erscheinungen. Kultur und Religion sind „Ausdruck“ einer bestimmten sozialökonomischen Situation und ihrer Interessenkonflikte. Die Metapher „Ausdruck“ erinnert weniger an das Verhältnis zwischen Inhalt und Druckform eines Textes als an das zwischen Seelenstimmung und Gesicht oder einfach zwischen Sinn und Wort.19 Grundsätzlich progressiv und ideologiefrei sind bloß die Technik und die Naturwissenschaften. Sie gehören zu den Produktivkräften und damit zum aktiven Unterbau, nicht zum reaktiven Überbau. 2e. Zwischen diesen einzelnen Niveaus findet wiederum eine Wechselwirkung statt, indem die Rechtsordnung beispielshalber in die Produktionsverhältnisse eingreift und diese umgekehrt auf die Rechtsordnung einwirken. Dieses Pendeln wird in der marxistischen Literatur als Dialektik bezeichnet, wobei das Ergebnis einer solchen Wechselwirkung als Auflösung eines Widerspruchs gedacht ist. Marx vertritt wie Hegel die Einheit des Logischen und des Historischen und kann daher in

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XI. Der Historische Materialismus

beiden Bereichen dieselbe Form der Bewegung behaupten. Hegel hatte die Anwendbarkeit des dialektischen Dreischritts auf die Geschichte mit dem idealen Charakter der Realität begründet. Marx leitet umgekehrt die Anwendbarkeit der Dialektik auf die Geschichte aus dem realen Substrat der Intellektualität ab. Engels sprach dann auch von einer Dialektik der Natur nach dem Muster: Männlich plus Weiblich ergibt Nachwuchs. 2f. Die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Schichten erfolgt nun aber nicht gleichmäßig, sondern stets hat die untere größere Bedeutung als die obere. Daher kann man bei Marx vom Prinzip der aufsteigenden Kausalität sprechen. Marx gebraucht gerne das Sprachbild der „letzten Instanz“, und diese ist bei ihm der unterste, deswegen auch als „Basis“ bezeichnete Sektor, die materielle Produktion. Lapidar formulierte das Engels am 21. September 1890 gegenüber J. Bloch: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens.“20 Das ist die Generalthese der marxisitischen Anthropologie. Die Ökonomie ist nicht der einzige, aber der wichtigste Faktor im Geschehen, allen anderen kommt eine bloß delegierte Kausalität zu.21 Wenn das Untere das Obere bestimmt, ist das materialistisch. Wenn das Obere das Untere bestimmt, ist das dialektisch. 2g. Das Sein bestimmt das Bewußtsein, das Allgemeine bestimmt das Besondere, die Umstände bestimmen den Menschen.22 Von daher wird auch die ›Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte‹ gesehen. Darüber schrieb Georgi Plechanow, der Begründer der marxistischen Gruppe in Rußland, 1898 seinen klassischen Essay, in dem er an ein Wort Bismarcks anknüpfend die Handlungsmöglichkeit auf die Erkenntnis des Notwendigen einschränkte.23 Gegen den Geniebegriff der Aufklärung wandte Plechanow den Gedanken Hegels von den Geschäftsführern der Geschichte, nur daß diese ihren Auftrag nicht mehr von oben, vom Weltgeist erhalten, sondern von unten, von der Gesellschaft in ihrer jeweiligen sozialökonomischen Situation. Plechanow geht so weit, daß er die Ersetzbarkeit auch der größten Männer annimmt. Wäre Napoleon 1796 bei Arcole gefallen, so hätte einer seiner Generale seinen Platz eingenommen. Die handelnden Figuren sind bloß Ausdruck der objektiven Lage, sie können der Geschichte ihr individuelles Gepräge verleihen, nicht aber deren allgemeine Richtung ändern. Die Menschen sind Resultate der gesellschaftlichen Beziehungen. Mit einer solchen kollektivistischen Geschichtsauffassung ist jeglicher Heroenkult unvereinbar, ausgenommen natürlich der für die Begründer dieser Geschichtsauffassung, Marx und Engels selbst. 2h. Die Lehre von Basis und Überbau verweist darauf, daß jede Kultur ihr ­ökonomisches Fundament besitzt und benötigt. Der Spruch von Bertolt Brecht „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ erinnert an die Volksweisheit „Not kennt kein Gebot“. Anwendbar ist er aber eben nur in der Not, und sie ist nicht das Normale. Sobald die Reproduktion des Lebens gesichert ist, ergeben sich ethische und kulturelle Spielräume, die sehr unterschiedlich genutzt werden kön-



3. Die Rolle der Revolutionen

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nen. Auf denselben Grundmauern lassen sich durchaus verschiedene Bauten errichten. So wenig der Aufriß eines Gebäudes dessen Grundriß widerspiegelt, so wenig ist der Parthenon oder die H-moll-Messe eine bloße Widerspiegelung der jeweiligen Produktionsverhältnisse. Marx24 hat das selber betont, als er die „unerreichbaren Muster“ der griechischen Kunst und Literatur einräumte, die „in der geschichtlichen Kindheit der Menschheit“ auf einer inzwischen veralteten Produktionsbasis Werke von ewiger Schönheit geschaffen haben. Marx wußte wohl, daß Kunst und Literatur mehr sind als ein Reflex der Produktionsverhältnisse, darum hat er sie mit Kapital I seit 1867 ausgeblendet.25 Vulgärmarxistisch weitergedacht aber ist Kultur entweder Produkt einer untergehenden oder aufstrebenden Gesellschaftsformation. Darin liegt der Klassenkampfcharakter der Kultur, die dementsprechend progressiv oder reaktionär sein kann. Dies wird durch „Entlarvung“ festgestellt.26 Die Erklärungskraft der aufsteigenden Kausalität wird desto schwächer, je höher wir kommen. Kantianisch gesprochen bildet die Basis für den Überbau eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung. Auch Marx und Engels lassen sich aus den Produktionsverhältnissen des 19. Jahrhunderts nicht vollständig erklären, darum war der Heroenkult für sie durchaus berechtigt.

3. Die Rolle der Revolutionen 3a. Der zweite Punkt im Vorwort von 1859 betrifft die Lehre von der Revolution. Marx geht aus von der Französischen Revolution. Er interpretiert sie als die gewaltsame Beseitigung der feudalen Gesellschaft, die den Erfordernissen der vom Bürgertum getragenen Industrialisierung nicht mehr entsprach. Dieser historisch einmalige Vorgang wird bei Marx zum universalen Muster sozialökonomischer Entwicklungskrisen. Während die Produktivkräfte sich ziemlich gleichmäßig entwickeln – eine Erfindung folgt der anderen –, sind die Produktionsverhältnisse – Besitz und Vorrechte der Oberschicht – weniger elastisch, sie reagieren nur zögernd, verspätet, nur in gewaltsam herbeigeführten Etappen. Jede echte Revolution im Sinne des historischen Materialismus ist demzufolge eine ruckartige Anpassung des zurückgebliebenen gesellschaftlichen Überbaus an den fortgeschrittenen wirtschaftlichen Unterbau. „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“.27 3b. Nach ihrer Entstehung entspricht eine Gesellschaftsformation ihren öko­ nomischen Voraussetzungen, sie veraltet aber im gleichen Maße, in dem die Produktion sich weiterentwickelt. Zuerst ist sie Vehikel des Fortschritts, dann wird sie zur Fessel desselben. Aber in jenen revolutionären Übergängen wird diese Fessel gesprengt und eine neue, zeitgemäße Ordnung geschaffen. Somit verläuft der Weltprozeß insgesamt fortschrittlich, zwischenzeitlich aber auch rückschrittlich. Denn der Aufstieg jeder neuen Ordnung beginnt mit dem Niedergang der alten. Der Grund für diese mangelhafte Anpassungsfähigkeit des Überbaus liegt in der – auch von Jacob Burckhardt angeprangerten – Borniertheit der Oberschichten, die an

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XI. Der Historische Materialismus

ihren Privilegien kleben, auch wenn deren Berechtigung längst dahin ist. In dieser Phase beweisen die herrschenden Klassen ein falsches Bewußtsein, eine rückschrittliche Ideologie. Daher müssen die Nutznießer der alten Gesellschaft von Zeit zu Zeit entmachtet werden. Die Gewalt fungiert als „Geburtshelfer“ des jeweiligen neuen sozialen Systems.28 3c. Marx ordnet die Funktionen des Unterbaus und des Überbaus zwei sozialen Klassen zu, er sieht, ähnlich wie Hegel, in der gesamten Geschichte eine grundsätzliche Zweiteilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte, in Ausbeuter und Ausgebeutete und kommt so zu dem Satz, daß alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen sei. Im Eingang zum ›Kommunistischen Manifest‹ wird das beschrieben29. Diese Klassengegensätze sind nach einer Revolution, d. h. am Beginn jeder Gesellschaftsformation einen Moment lang verschwunden, aber verschärfen sich im Laufe der Periode bis zur nächsten Revolution. 3d. Marxens Revolutionstheorie findet sich in der Grundstruktur bereits bei Saint-Simon.30 Auch er sieht in der Geschichte einen durchgehenden Antagonismus zwischen Herren und Knechten. Dieser aber pulsiert zwischen Zeiten geringerer und solchen stärkerer Spannung, die dann jeweils in eine Revolution mündet. So vollziehe sich das Gesetz des Fortschritts zugunsten der Arbeiterklasse. Trotzki hat das Modell differenziert, indem er darauf hinwies, daß nicht jede überlebte Gesellschaftsordnung durch eine revolutionäre Klasse abgelöst wurde, wie in Asien zu zeigen. Es habe zwischendurch immer „Perioden der Stagnation, Rückfälle in die Barbarei“ gegeben.31 3e. Kritik am Revolutionsmodell von Marx gilt der Übertragbarkeit der Fran­ zösischen Revolution auf alle anderen epochalen Umstürze. Die älteren „Revolu­ tionen“, die Marx kannte, entsprechen dem Schema nur im Prokrustesbett der ­Stalinschen Interpretation, als „Sklavenrevolution“ der Spätantike und die „frühbürgerliche Revolution“ der Reformationszeit. Die jüngeren Revolutionen, die Marx noch nicht kannte, so die Russische und die Chinesische Revolution, zeigen hingegen Parallelen zur Französischen. Ein Widerspruch zu Marxens Revolutionstheorie liegt hier darin, daß beide Male eine Feudalgesellschaft unter Überspringung des bürgerlichen Kapitalismus direkt in die „Diktatur des Proletariats“ überführt wurde. Marx hatte 1881 geschrieben, der „Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands“ sei nicht die Abschaffung, sondern die Herstellung des Privateigentums am Boden, die Aufteilung des Gemeineigentums.32 Für vorindustrielle Gesellschaften ist Marxens Revolutionsmodell unbrauchbar. Die Produktivkräfte haben sich viel zu langsam entwickelt, um soziale Sprengkraft zu entfalten. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß man auch die Deutsche Wende 1989 als Revolution im Sinne von Marx deuten kann. Das bestehende System des bürokratischen Sozialismus war zu einer Fessel für die wirtschaftliche Entwicklung geworden und wurde von jenen gesprengt, die an der Entfaltung ihrer Produktivkraft gehindert wurden. Auch die Freiheit läßt sich als Produktionsbedingung verstehen.



3. Die Rolle der Revolutionen

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3f. Die Revolutionen gliedern bei Marx die Weltgeschichte nach Sozialsystemen.33 Sein Phasenschema ist, wenn auch anders begründet, das von Hegel, die Dreiteilung der Geschichte. Waren es bei Hegel die Fortschrittsstufen im Freiheitsbewußtsein des Geistes, so sind es bei Marx „progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation“. Am Anfang stand bei Hegel die staaten- und geschichtslose Vorzeit, bei Marx erscheint dafür die klassenlose Urgesellschaft. Der orientalischen Periode Hegels, in der Einer frei war, entspricht bei Marx die asiatische Produktionsweise; sie steht neben der eigentlichen, durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmten Geschichte. Diese gliedert sich dreifach. Der griechisch-römischen Periode Hegels, in der Einige frei waren, korrespondiert bei Marx die antike Produktionsweise, die Engels dann in Anlehnung an Mommsen34 die „Sklavenhaltergesellschaft“ getauft hat. Der christlich-germanischen Periode Hegels, in der das Bewußtsein von der Freiheit Aller hervorgetreten sei, stellt Marx die ­feudale Produktionsweise des Mittelalters zur Seite; und der Neuzeit Hegels, in welcher der Protestantismus den Staat vollendet hat, die modern bürgerliche Produktionsweise, den marktwirtschaftlichen Kapitalismus. 3g. Eine ähnliche Periodisierung bot Saint-Simon. Er unterschied progressive „organische“ Phasen, die religiös ausgerichtet und vergleichsweise harmonisch gestimmt sind, von „kritischen“ Phasen, die sich irreligiös, individualistisch und disharmonisch zeigen. Die griechische Frühzeit, vom Polytheismus geprägt, erschien ihm „organisch, bis sie in die philosophisch bestimmte Spätzeit, in eine kritische Übergangsepoche umschlug. Mit dem Christentum gab es wieder eine „organische“ Periode, die mit Luther endete. Mit ihm begann die kritische Gegenwart, in der die Weltrevolution heranreift.35 3h. Saint-Simon beschränkt seine Betrachtungen auf den „bekannten Abschnitt“ der Weltgeschichte, wo „die Zivilisation am weitesten fortgeschritten ist“, mithin auf Europa, und dies tut auch Marx. Die von jenem skizzierte sozialökonomische Entwicklung kann er nicht überall feststellen. Die erste Phase in seinem Periodenschema, die asiatische Produktionsweise, wurde nicht durch eine Revolution in die antike Sklavereigesellschaft verwandelt. Marx teilt Hegels Auffassung von der wesenhaften Geschichtslosigkeit des Orients und beendet diese Phase in Indien erst mit dem Einmarsch der Engländer. Die asiatische Produktionsweise führt nicht in die Zukunft, sie ist ein totes Nebengleis und damit überhaupt kein welthistorisches Entwicklungsstadium. Erst mit dem durch die Kolonialherren gekommenen Kapitalismus besteht Aussicht auf einen Fortschritt der Produktivkräfte und damit auf Revolution. Daher formuliert Marx: „Weltgeschichte existierte nicht immer; Geschichte als Weltgeschichte (ist ein) Resultat.“36 3i. Die antike Gesellschaft tritt wie die asiatische direkt aus der Urgesellschaft hervor. Sie findet ihr Ende nur bei Stalin und den Stalinisten in einer Revolution.37 Wer das halbe Jahrtausend zwischen Spartakus und Chlodwig dem Schema zuliebe als „Epoche sozialer Revolution“ bezeichnet, schließt die ruhigste Zeit ein, die der

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XI. Der Historische Materialismus

Menschheit bisher überhaupt beschert war, die Pax Romana. Die Feudalgesellschaft sodann endete in den meisten Ländern Europas schleichend; das ist besonders bemerkenswert für England, wo die Industrialisierung am raschesten vorangeschritten war. Der Versuch der Marxisten, die deutsche Reformation und den Bauernkrieg zu einer „frühbürgerlichen Revolution“ umzustempeln, dient offenbar nur dem Zweck, das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit an den historischen Materialismus anzupassen. Neuer Wein in alte Schläuche. 3j. So wie Hegel wähnte auch Marx, das Ende der Geschichte vorauszusehen. Während aber Hegel nach der Enttäuschung durch Napoleon schon mit Friedrich dem Großen das letzte Stadium des Weltprozesses beginnen ließ, meinte Marx, daß er erst am Vorabend zur großen Umwälzung stünde. Die demokratische Republik bilde nicht, wie „vulgäre“ Demokraten träumen, selbst bereits das „Tausendjährige Reich“, sondern sei die „letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft“, in welcher der „Klassenkampf definitiv auszufechten“ sei.38 Marx betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe, den bevorstehenden Umschwung zu fördern; und in dieser Funktionalisierung der Geschichtsphilosophie schließt sich Marx eher an die Aufklärer an als an Hegel. Dreimal glaubte Marx, daß eine Umwälzung unmittelbar bevorstehe: während der Märzrevolution 1848, nach dem Staatsstreich Napoleons III 1852 und in den Tagen der Commune 1871. 3k. Im Kommunistischen Manifest von 1847 lesen wir, daß der Umschwung mit einer bürgerlichen Revolution in Deutschland beginne und in eine allgemeine proletarische Revolution „der herrschenden Völker“ übergehe39. Das Proletariat erhebe sich und sprenge den ganzen Überbau in die Luft. Diese Etappe scheint von anderer Qualität als die bisherigen. So wie die kommende Revolution nicht mehr lokal und stellvertretend, sondern universal sein würde, so würde ihr Resultat nicht aus den Gegensätzen der gegenwärtigen Periode allein, sondern vielmehr aus denen der ganzen Geschichte hervorgehen. Im April 1856 schrieb Marx: „Heute gibt es Verfallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken in den Schatten stellen.“ Die bürgerliche Gesellschaft sei am Ende. „Die Geschichte ist ihr Richter, ihr Urteilsvollstrecker der Proletarier“.40 Bei Trotzki heißt es, die Bourgeoisie sei „von der Geschichte zum Tode verurteilt“, doch sei ihr Spruch nicht leicht zu vollstrecken, da sie zum Zeitpunkt ihrer höchsten Gefahr die stärksten Abwehrkräfte bereithalte. Das aber entspreche dem dialektischen Pendelschlag und dürfe die Proletarier nicht entmutigen.41 3l. Der Träger der kommenden Umwälzung ist das Proletariat. Der aus dem Latein ins Französische übernommene Begriff des Proletariers stammt aus der römischen Republik und bezeichnet die Angehörigen der fünften und niedersten Klasse der Zenturiatskomitien, der nach Besitz gestaffelten Klassen der Volksversammlung. Proletarii hießen jene Bürger, die zu arm waren, um sich auszurüsten, darum keinen Kriegsdienst leisten mußten, keine Steuern zahlen konnten und dem Staat nur durch ihre proles, ihre Nachkommen nützlich waren.42 Marx meint mit dem



3. Die Rolle der Revolutionen

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Begriff die große Zahl der Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um leben zu können. Er selbst gehörte nicht zu dieser Klasse, er lebte von den Zuwendungen seines Freundes Friedrich Engels. 3m. Das Proletariat, schreiben sie, sei von revolutionären Klassen früherer Umwälzungen in mehrfacher Weise verschieden: So heißt es im ›Manifest‹: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten. ... Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“43 Inzwischen habe die Entwürdigung und Entfremdung, die mit dem Dienst für andere stets verbunden sei, zum ersten Male den Arbeiter auf die nackte Existenz heruntergebracht. Das war für Marx unter kapitalistischen Produktionsbedingungen unvermeidlich. Denn um im Konkurrenzkampf zu überleben, müsse der Unternehmer die Arbeiter bis auf das Existenzminimum auspressen. Das führe gemäß dem „ehernen Lohngesetz“ zu deren Verelendung.44 Engels drückte das 1884 so aus, daß bisher jeder Fortschritt der Produktion gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse gewesen sei, und nun wäre die Grenze des physischen Überlebens erreicht. Schuld sind nicht die Kapitalisten persönlich – zu denen Engels gehörte –, da sie ja so handeln müssen, Grund ist der Kapitalismus als System.45 Er lasse eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte nicht zu46 und verstricke durch den Fetisch-Charakter der Ware die Arbeiter in einen Verwendungs- und einen Verblendungszusammenhang, der erst jetzt durchschaubar und überwindbar werde. 3n. Endlich habe dieses Extrem den Unterdrückten zum Bewußtsein ihrer Lage und deren Ursache verholfen, zum ersten Male werde nun ein Umsturz ohne Beimischung naturwüchsig-emotionaler Momente geplant. Durch den Besitz dieser Einsicht unterscheide sich die kommunistische Partei vom übrigen Proletariat, zu dessen Führung sie daher berufen sei. Der dialektische Umschlag von tiefster Erniedrigung zu höchster Daseinsstufe steht bevor. Marx illustriert das am ›Zauberlehrling‹. Der Mensch schafft sich Werkzeuge und wird von diesen abhängig. Je weiter sich die Werkzeuge entwickeln, desto größer wird die Abhängigkeit von ihnen. Am Ende heißt es: „Ach da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los.“ Der Hexenmeister, der die Menschheit erlöst, ist niemand anders als Marx selber. Seine erlösende Zauberformel, der Schlußsatz im ›Kommunistischen Manifest‹, lautet: „Proletarier aller Länder, ver­ einigt euch!“47 3o. Als Ziel der Weltrevolution betrachtet Marx den Kommunismus. Der 1840 in Frankreich aufgekommene Begriff spielt auf die Einführung des Gemeineigentums (communis) an, das im Zusammenhang mit der Französischen Revolution 1793 von Babeuf als Programm verkündet worden war. Nach der Schaffung der Gütergemeinschaft und der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln erwartete Marx die klassenlose Gesellschaft, worin der Staat abgestorben ist, Ehe und Familie aufgehoben sind, in der es keinen Antagonismus und keine

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XI. Der Historische Materialismus

Arbeitsteilung, namentlich keinen Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit mehr gibt und alle Fragen friedlich und gemeinsam geregelt werden. Dann wird es möglich, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe“.48 Mit der Weltrevolution, so Marx und Engels, ist das „Reich der Naturnotwendigkeit“ überwunden, und das „Reich der Freiheit“ blüht auf. „Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich aus.“49 Dann gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Für die Übergangszeit zwischen dem Beginn und der Vollendung der Weltrevolution sei eine „Diktatur des Proletariats“ notwendig. Sie erlösche, sobald die Gegner des Proletariats und damit auch dieses selber verschwunden sein würden.50 Das gemahnt an Hegels Idee vom Ende des Unterschieds zwischen Herr und Knecht. 3p. Der Naherwartung Marxens ging eine ähnliche sozialistische Endzeitvision von Saint-Simon voraus. Auch er war überzeugt von einem notwendigen, unmittelbar bevorstehenden Umbruch, der anders als die bisherigen Revolutionen nicht nur den älteren Perioden eine neuere hinzufügen würde, sondern das Finale Furioso der gesamten Geschichte seit frühgriechischer Zeit darstelle. Denn die seitdem übliche Ausbeutung des Menschen durch den Menschen komme nun endlich zum Abschluß. Nach dem gelungenen Umsturz werde es nur noch eine Ausbeutung der Bodenschätze geben. Das Eigentum an den Produktionsmitteln komme an den Staat, und die Weltgemeinschaft (association universelle) der Nationen werde eine einzige friedliche Werkstatt. Müßiggang gebe es dann nicht mehr, jedermann erhalte Lohn nach seiner Leistung. Auch die Ärmsten kämen in den Genuß der Bildung, die Frauen würden gleichgestellt. Fortan gebe es weder Proletarier noch Kapitalisten. „Das goldenen Zeitalter ... liegt vor uns. ... Unsere Kinder werden es eines Tages erleben.“51 3q. Zur Festigung der inneren Einheit der künftigen Weltgesellschaft prophezeite Saint-Simon eine neue „industrielle“ Religion, die alle älteren an Macht und Größe übertreffen werde. Ihr zentrales Dogma werde der Glaube an den Fortschritt (das schrieb er). Das höchste Wesen würde wohl der Mammon (das schrieb er nicht). Dessen Kult ist ohnedies die letzte Weltreligion, seitdem die Bankhochhäuser die Türme der Kathedralen überragen. Zur Aufrechterhaltung der Disziplin empfiehlt Saint-Simon die Pflicht zur Beichte.52 3r. Marx verband mit der Erwartung der Endzeit in gewisser Weise eine Rückkehr zur Urzeit.53 Er schrieb am 25. März 1868 an Engels, die sozialistische Egalität sei bereits in der klassenlosen Urgesellschaft einmal verwirklicht gewesen, und diesen Zustand glaubte auch Engels durch die Weltrevolution erneuern zu können. Nach ihm wäre damit eine Wiederbelebung der Urgesellschaft erreicht.54 Die Verklärung der vorindustriellen Stammesgesellschaft, in der Vergangenheit bei den Germanen, in der Gegenwart bei den Indianern, ist ein Relikt aus der Romantik



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nicht nur bei Engels. Noch 1927 fand Kurt Breysig bei den Irokesen „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“.55 Engels erwartete die Erneuerung der Gentilgesellschaft allerdings in höherer Form. Der Unterschied bestünde einerseits in der errungenen Zivilisation auf der Basis voll entwickelter Produktivkräfte und andererseits in der Vermeidbarkeit eines erneuten Sündenfalls von Klassen- und Arbeits­ teilung, der den Prozeß wieder von vorne beginnen ließe. Dazu wäre es nötig, das Bewußtsein des Durchgemachten zu pflegen, und deshalb müßte die wichtigste Wissenschaft in der kommunistischen Gesellschaft die Historie sein. Marxens Strich durch die Geschichtswissenschaft wäre nun doch wieder zu tilgen. 3q. Der mit der klassenlosen Gesellschaft erreichte Zustand wird von Engels nicht als Ruhe, sondern als neue Entwicklungsphase gewertet. „Ebensowenig wie die Erkenntnis kann die Geschichte einen vollendenden Abschluß finden in einem vollkommenen Idealzustand der Menschheit; eine vollkommene Gesellschaft, ein vollkommener ‚Staat‘ sind Dinge, die nur in der Phantasie bestehen können.“ Der Prozeß des „Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern“ gehe solange weiter, als die natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit erhalten blieben. Diese seien freilich begrenzt. Irgendwann erreicht die Menschheit den „absteigenden Ast“, doch befinden wir uns noch „ziemlich weit von dem Wendepunkt, von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft abwärts geht“.56 Jürgen Kuczynski veranschlagte die Dauer der klassenlosen Gesellschaft noch im Jahre 1989 auf „Millionen und Milliarden und noch mehr Jahre des Kommunismus“, in denen „alle Menschen nach ein, zwei Jahren notwendigen Dienstes in der Produktion“ ein Leben in Freizeit mit Kunst und Wissenschaft führen werden, so wie Jürgen Kuczynski selbst.57

4. Das christliche Erbe 4a. Karl Löwith erklärte 1949, daß die moderne Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringe und daß sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes ende.58 Diese damals nicht ganz neue These59 läßt sich durch zahlreiche Zusatzbelege bestätigen und gilt zumal für den historischen Materialismus. Er könne es „mit jedem aufnehmen“, schrieb Walter Benjamin 1940, sofern er, „die Theologie in seinen Dienst nimmt.“60 Das geschah. Der Zusammenhang wurde früh gesehen, indem umgekehrt Nietzsche bemerkte: „Die Heraufkunft des Christentums ist nichts weiter als die typische Sozialistenlehre.“61 Tatsächlich sind die genetischen und strukturellen Verbindungen zwischen christ­ licher Heilsgeschichte und historischem Materialismus eng: so die inhaltlichen Entsprechungen, die geistesgeschichtliche Verwandtschaft und die Art der Wirkungs­ geschichte. 4b. Die inhaltliche Analogie betrifft zunächst die Großgliederung. Im Christentum steht am Anfang ein paradiesischer Urzustand, der durch den Sündenfall abge-

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schlossen wird, während am Ende eine Erneuerung jenes paradiesischen Urzustandes erhofft wird. Im historischen Materialismus wird ganz entsprechend am Anfang wie am Ende eine klassenlose und daher glückliche Gesellschaftsordnung angenommen. Die Parallele wurde von Engels dadurch unterstrichen, daß er den Übergang von der Urgesellschaft mit dem Gemeineigentum zur Klassengesellschaft mit dem Privateigentum in Anlehnung an Marx als „Sündenfall“ bezeichnete und eine Wiederbelebung der alten gentes erhoffte.62 Freilich seien sie dann durch die Technik reicher, durch die Wissenschaft klüger geworden. Engels basiert hier auf Lewis Morgan, der den wiederbelebten alten gentes eine Demokratie nach amerikanischem Muster wünschte.63 4c. Durch die am Ende erwartete „höhere Stufe“ wird die Analogie zur christlichen Endzeitvorstellung nicht aufgehoben. Auch Augustinus unterschied zwischen dem Ur- und dem Endzeitparadies, vor allem insofern letzteres nicht mehr die Möglichkeit zu einem neuen peccatum originale enthalte. Und so wie der Sündenfall Adams die Erlösung durch Christus ermöglicht hat, ist auch der Schritt aus der Urgesellschaft eine felix culpa, eine glückbringende Schuld, die in der Osternacht mit dem Exsultet iam angelica turba, dem Jauchzen der Engelchöre besungen wird. Engels konkretisiert das: „Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus“, und so hatte jede Form der Ausbeutung immerhin eine „gewisse geschichtliche Berechtigung“.64 Christen wie Marxisten sorgen für eine Antwort auf die Frage, wozu der beschwerliche Umweg der Geschichte von Paradise Lost zu Paradise Regained nötig war. Sein Gedicht schrieb Milton „aus demselben Grund, aus dem ein Seidenwurm Seide produziert. Es war eine Betätigung seiner Natur.“ So Marx in Anlehnung an den ›Tasso‹.65 4d. Für die christliche Dogmatik ist die Folge des Sündenfalls die Erbsünde. Marx verwendete den Begriff „Erbsünde“ als Metapher für das Bereicherungsstreben. Das Erbübel bis zur Weltrevolution ist die „im Geschlechtsakt“ vorgebildete Arbeitsteilung – ein maskuliner Arbeitsbegriff! – insbesondere die Trennung in körperliche und geistige Arbeit.66 4e. Marx bezeichnet die Situation des Menschen in der Klassengesellschaft als Entfremdung.67 Der Begriff wird von ihm mit ausdrücklicher Anlehnung an Hegel gebraucht, der damit den Zustand des heimatvertriebenen Weltgeistes kennzeichnete. Marx hingegen kritisiert die Selbstentfremdung des Menschen durch das Privateigentum, die Trennung des Arbeiters von seinem Werk, über das er aufgrund seiner Abhängigkeit nicht verfügen kann. Denn die „ganze sogenannte Weltgeschichte ist nichts anderes als die Erzeugung des Menschen durch menschliche Arbeit“. Der gegenwärtige Mensch befindet sich in einer Lage, die es in der Ur­­ gesellschaft noch nicht gab und in der Endgesellschaft nicht mehr geben wird. Der künftige Kommunismus ist die „Rückkehr des Menschen“, des endlich „menschlich“ gewordenen Menschen zu sich selbst, ist vollendeter Humanismus, versöhnte Natur. „Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“68 Dialektisch ist das die Negation der Negation.



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4f. Luther hatte den Begriff apēllotriōmenos-abalienatus bei Paulus mit „entfremdet“ übersetzt; dieser bezeichnete damit das Leben im Zustande der Gottferne, die Trennung des Menschen von seinem paradiesischen Urdasein.69 Ob die Aufhebung der Entfremdung durch den Glauben zeitnah und individuell oder durch das Weltgericht zeitfern und kollektiv gemeint ist, bleibt hier unwichtig, weil im Christentum stets jene doppelte Dimension vorliegt, die in den Teleologien bei Hegel und Marx fehlt. Aus dem biblischen Gedanken der Entfremdung hat Augustinus dann seine Geschichtsvorstellung von der Pilgerschaft des Gottesvolkes entwickelt, die am Ende der Zeiten in die himmlische Heimat zurückführt. Die Geschichte als Weg durch das Tal der Tränen des 84. Psalms finden wir in Anlehnung an Brecht wieder bei Benjamin, der im jüdischen Sinne die künftige klassenlose Gesellschaft das geräuschlose „Kommen des messianischen Reiches“ nannte.70 4g. Augustinus hatte in der Geschichte eine permanente Spannung zwischen der Civitas Dei und der Civitas Terrena erblickt. Marx sah in der Geschichte einen dauernden Klassenkampf. Der christliche wie der marxistische Dualismus ist letztlich der zwischen Gut und Böse. Wenn Marx erklärt, allein die Kommunisten verfügten über die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsverlaufs, fühlen wir uns an das auserwählte Volk erinnert.71 Die Polarisierung hat auch ihre taktische Seite. Indem alle Differenzen der nicht-marxistischen Lehren unter dem Schlagwort „bürgerlich“ zusammengefaßt sind, wird die Fiktion eines ideologischen Einfrontenkrieges aufgebaut, ein Rezept, das auch Hitler empfahl.72 Bei ihm hießen alle Gegner „Juden“, bei den Christen „Heiden“, bei den Orthodoxen „Ketzer“, bei den Moslems „Giauren“, bei den Juden „Goyim“ und bei den Marxisten „Bürger­liche“ oder „Kapitalisten“. 4h. Wie der Gedanke der Entfremdung und der des auserwählten Volkes, so ist auch der geschichtsphilosophische Begriff der Emanzipation christlichen Ursprungs. Marx entwickelte seine Idee einer „allgemein menschlichen Emanzipation“ mit Hilfe einer „radikalen Revolution“ in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844. Dort steht der Satz: „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen“,73 nämlich wegen der bekannten deutschen Gründlichkeit. Die Forderung des Mündigwerdens bei Paulus gelangte über die Aufklärung74 zu Marx. Auf Paulus und Nietzsche basiert die Wunschidee vom Neuen Menschen,75 nun für den Sozialismus. 1924 träumte Trotzki davon, einen „höheren gesellschaftlich-biologischen Typus über dem Niveau von Aristoteles, Goethe und Marx, und – wenn man will – den Übermenschen zu schaffen.“76 4i. Biblisch läßt sich Marxens Gedanke des Endkampfes, sein proletarisches Harmagedon deuten. Die säkularen Fortschrittslehren der Aufklärung waren in der Theo­­rie evolutionär, obwohl sie in der Praxis die Französische Revolution vorbe­ reitet haben. Die kommunistische Geschichtsvorstellung ist wieder revolutionär, wie schon die christliche. So wie bei Daniel der Steinschlag des Messias nicht nur die aus Ton und Eisen gemischten Füße der Statue, sondern diese als ganze zer-

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trümmert, mithin kein weiteres Weltreich den vier älteren hinzugefügt, so gleicht die gegenwärtige Krise nicht den früheren Übergangszeiten zwischen den Gesellschaftsformationen, sondern revolutioniert die gesamte bisherige Geschichte.77 4j. Die bevorstehende Endgesellschaft wird als Resultat eines Geburtsvorganges mit den dazugehörigen Geburtsschmerzen veranschaulicht,78 so wie die Bibel den Übergang zum neuen Aion durch eine schreckliche Zwischenzeit der „Wehen“ charakterisiert hatte.79 Der „Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“, ist die Gewalt.80 Die allein bei Marx dreimalige Erwartung der Niederkunft wiederholte sich 1919 bis 1923 bei den deutschen Kommunisten und erneuerte sich bei den radikalen Achtundsechzigern. Doch war „die Zeit für eine Schlußbilanz einfach noch nicht gekommen.“81 Sie ist noch immer nicht da, und das wäre für Marx kein Rätsel. Denn er meinte, eine Gesellschaftsformation könne nicht untergehen, „bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist.“ Die Produktivkraftsteigerung im Kapitalismus ist einstweilen ungebrochen. 4k. Sowohl die christliche als auch die marxistische Missionsidee beansprucht Universalität. Zu den Glaubenssätzen der Heilsgeschichte gehörte, daß die Endzeit erst hereinbricht, wenn die Frohe Botschaft alle Völker erreicht haben wird.82 Marx betonte, die „proletarische Revolution“ müsse auf der ganzen Erde zugleich stattfinden, mithin eine Weltrevolution sein.83 Wer will, kann auch das in der Apokalypse dem Endreich Gottes vorgeschaltete Tausendjährige Reich Christi mit der Diktatur des Proletariats parallelisieren.84 4l. Der entscheidende Unterschied zwischen der christlichen und der marxistischen Geschichtsauffassung ist deren Atheismus. Dennoch gibt es auch bei Marx und Engels die „letzte Instanz“ als ein funktionales Äquivalent für Gott, das die „Notwendigkeit“ im Geschichtsprozeß erläutert.85 Kant hatte an die Stelle des dreifaltigen Gottesbegriffs einen trinitarischen Naturbegriff gesetzt. Diesen finden wir auch bei Marx. Seine Geschichte beginnt mit dem urtümlichen Naturzustand des Menschen, der allmählich die Naturkräfte bändigt und in Dienst nimmt, dann aber doch kraft „Naturgesetz“ demnächst in der klassenlosen Gesellschaft die vollendete Natürlichkeit, seine höhere Natur erreicht.86 4m. Grund der Notwendigkeit ist in der Heilsgeschichte Gott, im Historischen Materialismus die Natur oder auch die energetisch aufgeladene „Geschichte“. Für die (vor)geschichtliche Phase wird die Natur bei Marx von der „grobmateriellen Produktion“ vertreten. Sie produziert sich selbst als Subjekt und Objekt, nebst allem, was sie braucht, um zu sein, was sie ist.87 Hier überträgt Marx – wieder nach Münchhausen – auf die „Produktion“, was Hegel vom „Geist“ sagte, daß dieser sich selbst denkend verwirkliche. „Gott“ alias „Geist“ alias „Produktion“ sind Ursprung, Ziel und treibende Kraft der Geschichte. 4n. Mit der Annahme einer höheren Letztinstanzlichkeit importiert Marx das logische Dilemma aus dem Christentum in den Materialismus, wie denn das Verhältnis der menschlichen Freiheit zu jener alles bestimmenden Macht zu denken



5. Eine Wissenschaftsreligion

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sei. Im Christentum impliziert Freiheit die Einsicht in Gottes Allmacht. Im Marxismus ist Freiheit theoretisch Einsicht in die Notwendigkeit und praktisch der bewußte Vollzug dieser von Marx behaupteten Notwendigkeit durch eine Entscheidung für den Fortschritt im Sinne des richtigen Bewußtseins.88

5. Eine Wissenschaftsreligion 5a. Die Geschichtsphilosophie des Idealismus bei Schelling und Hegel trug reli­ giöse Züge, soweit der „Geist“ als göttlich erachtet wurde. Sie blieb aber eine rein akademische Denkform. Die Lehre von Marx und Engels hingegen entfaltete eine politische Massenwirksamkeit, die sich unter anderem in der Verbreitung von Stalins Katechismus ›Über dialektischen und historischen Materialismus‹ dokumentiert. Der Text wurde in 66 Sprachen übersetzt und bis 1950 in über 200 Millionen Exemplaren verbreitet,89 ein Erfolg, der diese Geschichtsphilosophie –ähnlich dem Positivismus von Comte – als Wissenschaftsreligion ausweist. Die Wissenschaftlichkeit entspricht dem Selbstverständnis, die Religiosität – oder der Religionsersatz – zeigte sich der Sicht von außen in dem missionarischen Drang und der Glaubensgewißheit der Vertreter. 5b. Gemäß seiner eigenen Lesart ist der Historische Materialismus eine Widerspieglung der sozialökonomischen Verhältnisse im Spätkapitalismus. Die Verbindung sozialrevolutionär-kommunistischer Bewegungen mit christlich-eschatolo­ gischer Naherwartung findet sich jedoch schon lange vor Marx. Bereits die Urgemeinde hat in bewußter Ablehnung der herrschenden Ideale ein Leben in brüderlicher Gemeinschaft auf der Basis eines anspruchslosen Kommunismus geführt. Das lehrt die Apostelgeschichte mit der grausamen Erzählung von Ananias und Saphira.90 5c. Nach der Bildung der konstantinischen Reichskirche wurden jene urchristlichen Gemeinschaftsformen einerseits in die monastische Askese, andererseits in die heterodoxen Sonderkirchen abgedrängt. Im Mittelalter finden wir sie bei den Waldensern, Begharden und Lollharden, später bei John Ball, Jan Hus und dann 1525 bei Thomas Münzer, der auf biblischer Basis Endzeit predigend, sozialrevolutionäre Aktivitäten entfaltete. Sie wurden in der marxistischen Geschichtsforschung mit besonderem Interesse behandelt. Luther wird von Marx vor allem als Vorkämpfer gegen den Wucher zitiert; ohne Luthers Gedanken vom iustum pretium, d. h. vom marktunabhängig feststellbaren Gegenwert, ist nicht bestimmbar, wo die „Ausbeutung“ anfängt. 5d. Im Jahre 1611 hat Thomas Campanella, ein italienischer Dominikaner, die bevorstehende Wiederkehr des Goldenen Zeitalters gepredigt und eine revolu­ tionäre Bewegung in Gang gesetzt, die ihn als Aufrührer und Ketzer für fünfundzwanzig Jahre in den Kerker brachte. Dort hat er einen utopischen „Sonnenstaat“ entworfen, in den christliche und humanistische Elemente eingegangen sind.

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XI. Der Historische Materialismus

­ ampanella galt in der Sowjetunion als Vertreter eines „etwas rohen KommunisC mus“. Im 17. Jahrhundert verfocht Amos Comenius in Böhmen mit seiner ›Via Lucis‹ ähnliche Gedanken, in Amerika wurde der Traum vom Tausendjährigen Reich 1697 von Samuel Sewall geträumt. 5e. Endzeiterwartungen teils antiker, teils christlicher Provenienz aus den Schreckensjahren des Dreißigjährigen Krieges liefert Grimmelshausen im 3. Kapitel des 3. Buches seines unsterblichen Romans. Wie zuvor entfesselt die Not die Phantasie. Als Simplicius Simplicissimus von Soest aus „auf Partei ging“, erwischte er einen Narren, der sich „überstudiert“ hatte und erklärte, er sei Juppiter. Die Götter hätten ein Strafgericht über die Menschheit beschlossen. Dazu werde ein teutscher Held erweckt, der alle Mörder, Wucherer, Diebe, Schelme, Ehebrecher, Huren und Buben beseitigen, alle Zölle, Zinsen und Steuern ebenso aufheben werde wie die Fürstenmacht, die Leibeigenschaft und den Krieg. Er werde an einem einzigen Tage Konstantinopel erobern, das römische Kaisertum erneuern, mitten in Teutschland eine Hauptstadt errichten, die Jerusalem in den Schatten stelle. Teutsch werde Weltsprache, die Teutschen würden die Welt beherrschen und ihr ewigen Frieden schenken, „wie zu Augusti Zeiten“. Der neue Held regiert sodann mit einem „Parlament“ aus je zwei Gelehrten aller Städte, verpflanzt den Musenberg Helikon nach Teutschland und lehrt alle Töpfer das Goldmachen. Das wird ein Leben „wie im Schlaraffenland, wo es lauter Muskateller regnet und die Creutzer-Pastetlein über Nacht wie Pfifferlinge wachsen“. Zuvor aber werden alle christlichen Religionen der Welt miteinander vereinigt, und ein Jubelfest sondergleichen eröffnet die neue Zeit. 5f. Auffällig stark sind biblische Motive im Frühsozialismus des Vormärz, bei Männern wie Fourier, Abbé Constant, Proudhon und Saint-Simon, der als neuer Messias begrüßt wurde. In Deutschland wurden sozialistisch-christliche Mischprogramme verfochten durch Moses Heß, Heinrich Heine, Georg Büchner und Wilhelm Weitling, der 1843 sein sozialrevolutionäres Programm mit Bibelstellen untermauerte.91 Irdisches Glück wird in christlicher Verheißung präsentiert, wir hören vom nahen Weltgericht, vom neuen Evangelium der Freiheit, von Märtyrern, Propheten und Aposteln des Fortschritts. 5g. Die christlichen Endzeiterwartungen sind gewöhnlich in Krisenzeiten aktualisiert worden, und in diesem Sinne könnte man den historischen Materialismus als ein Krisenprodukt des 19. Jahrhunderts werten. Das biblische Erbe im europäischen Geschichtsdenken ist ja nicht durch die Renaissance abgelegt worden, sondern wurde von der Aufklärung erneut verarbeitet. So auch von Marx. 1844 lieferte er nicht nur seine Kritik der christlichen Heilserwartung, sondern auch deren Deutung. Er erklärte, die Not in diesem Jammertal habe die Menschen bewogen, im Jenseits eine Erfüllung zu erhoffen, die allein im Diesseits gesucht und gefunden werden müsse. „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde“.92 5h. Engels93 zog die Parallele zwischen den beiden progressiven Massenbewegungen, zwischen dem Christentum und dem Sozialismus, der die wahre Erlösung



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der Menschheit bringe, nachdem angeblich die römischen Christen als die Sozialisten des Altertums immerhin unreife Ahnungen von dem besaßen, was nun bevorstehe. Ihnen fehlte ein Marx. Die christlich-sozialistischen Bewegungen zwischen Jesus und Marx werden als Übergangsstufen gewertet. Marx und Engels säkularisieren mithin die Jenseitshoffnung ganz bewußt, indem sie in ihr eine Verdrängung und eine Projektion erblicken, deren Motiv schon damals unbewußt das des späteren Sozialismus war, nämlich der Wunsch nach einer friedlichen, gerechten, freien Weltordnung. 5i. Die Deutung, die Marx und Engels der christlichen Jenseitshoffnung gaben, führt zurück auf Goethe. Er bemerkt: „Die christliche Religion ist eine intentionierte politische Revolution, die, verfehlt, nachher moralisch geworden ist“.94 Die Messiashoffnung trägt tatsächlich anfangs politische Züge; was wir an ihr als transzendent empfinden, ist nur das Noch-Nicht und das Doch-Gewiß am neuen Aion. Das real erfahrene Elend ist die Situation, das real erfahrbare Glück ist die Erwartung. So wie der Zukunftsglaube der Aufklärer ist der Historische Materialismus säkularisierte Heilsgeschichte, die ihrerseits ursprünglich diesseitige Wünsche verjenseitigt hat. Aus diesem Grund müßte man eher von einer Resäkularisierung sprechen: von Wiederherstellung eines historisch-politischen Gehaltes nach Jahrhunderten einer religiös-metaphysischen Sublimierung. 5j. Der Historische Materialismus schwankt zwischen Mechanismus und Messianismus. Man kann wie der christlichen so der marxistischen Eschatologie vorwerfen, eine gigantische Illusion aufzubauen, wobei die letztere bescheidener ausfällt. Denn dem Gottesvolk verheißt der HErr „einen neuen Himmel und eine neue Erde“,95 während der Historische Materialismus sich auf die Erde beschränkt. Man kann beide Prophezeiungen aber auch auffassen als zeitbedingten Ausdruck einer grundsätzlich immerwährenden Situation, als Reaktion auf das Unbehagen an der eigenen Gegenwart und als Bekenntnis zu einer Hoffnung, die dem eigenen Handeln auch dann Sinn verleiht, wenn es scheitert. 5k. Den quasireligiösen Charakter des Marxismus bestätigt ein Blick auf sein Schicksal. Wir finden dort die kanonisierten heiligen Schriften, die für den Marxisten ewige, durch keine Wissenschaft überholbare Wahrheiten enthalten – wer ihn kritisiert, hat ihn mißverstanden, denn wenn Marx schreibt, zweimal zwei sei fünf, dann meint er mit „fünf“ in Wirklichkeit „vier“. Das wäre die „authentische Interpretation“.96 Der Streit um die Frage, ob Marxens Prophezeiungen eingetreten seien oder nicht, hatte nur Sinn, solange Einigkeit darüber bestand, daß er ein Prophet war. Ob er einer sein wollte, bleibt demgegenüber ebenso zweitrangig wie die Frage, ob Jesus sich als der Messias verstand. 5l. So wie im Christentum zwischen kanonischen und apokryphen Texten unterschieden wird, stehen im Marxismus den Klassikern – die freilich unterschiedlich abgegrenzt werden – die Epigonen wie Mehring, Kautsky, Bebel, Plechanow und Lafargue gegenüber. Und wie in der christlichen Tradition mit der Bibel gegen die

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XI. Der Historische Materialismus

Kirchengeschichte argumentiert wird, so wurde im heterodoxen Marxismus mit den Klassikern gegen den Sowjetkommunismus, ja mit Marx gegen Engels operiert. Man kehrt periodisch zur reinen Lehre des Anfangs, zur unverfälschten Quelle zurück. 5m. Schon Marx bezeichnete abtrünnige Genossen als „Sektierer“,97 seit Karl Kautsky ist von einem „orthodoxen“ Marxismus die Rede, den in Rußland Lenin, in Deutschland Rosa Luxemburg reklamierten. Es gab mehrere marxistische Häresien. Hauptstreitpunkt war die politische Taktik vor dem Hintergrund einer Kontroverse über die Weltrevolution. Es entstanden im wesentlichen sieben Richtungen von unterschiedlich starkem Einfluß. Seit 1899 revidierte der „Revisionist“ Eduard Bernstein die Lehre, indem er statt der Revolution eine schrittweise Verbesserung der Arbeitsverhältnisse anstrebte. 1930 propagierte der von Stalin vertriebene Trotzki das Programm einer „permanenten Revolution“ in den kapitalistischen Ländern. Seit 1960 bekannte sich Sartre unter dem „lähmenden Alpdruck des Seins“ zu einem existentialistischen Marxismus. Im Gefolge der Achtundsechzigerbewegung findet sich in der Frankfurter Schule der kritischen Theorie um Jürgen Habermas ein Emanzipationsprogramm, das sich vom östlichen „Vulgärmarxismus“ absetzt.98 Einen strukturalistischen Marxismus vertrat seit 1965 Louis Althusser, einen kantianischen Helmut Fleischer 1969, einen technologischen Darcy Ribeiro 1971. 5n. Die Frage, wer von den Neomarxisten Recht hat, wäre nur zu klären, wenn wir Marx aus seinem Grabe von Highgate Cemetery herausholen und ihn selbst entscheiden lassen könnten. Er würde dem Zwist unter seinen Jüngern vermutlich die Friedhofsruhe vorziehen. Sein Ausspruch je ne suis pas Marxiste99 hat seine Anhänger nicht davon abgehalten, sich Marxisten zu nennen. Marx hat ausdrücklich bestritten, den „Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie“ geliefert zu haben, „deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“.100 Doch das hat nicht verhindert, daß Marx als ein solcher Universalschlüssel verwendet worden ist. Als solcher hatte er seine Aufgabe, als solcher wurde er Geschichte. 5o. Marxens elfte These über Ludwig Feuerbach von 1845 lautet: „Die Philo­ sophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“101 Der Versuch fand 1917 statt, es wurde das teuerste politische Experiment der Weltgeschichte. 1989 wurde es in Europa und Rußland abgebrochen. Wie aber sieht die Zukunft des Marxismus aus? Wenn Religion, wie es in der ›Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ heißt,102 Opium des Volkes ist, dann war der Marxismus Opium für Intellektuelle. Nach dem Drogenrausch kam der Katzenjammer. Was folgt, ist zu erraten: Die Mehrheit wird nüchtern, eine Minderheit wird süchtig. Der Marxismus wird auch in Europa fortleben als eine Sekte, ebenso unbelehrbar wie unausrottbar, aber harmlos. Fortleben wird aber der humanistische Kerngedanke Marxens: daß die Ellenbogenfreiheit des Liberalismus und die Profitgier des Kapi­ talismus das Glück nicht bringen. Doch das steht sinngemäß schon in der Bibel.

Es gibt zwei Arten von Beispielen: Die einen bestätigen unsere Erwartung, die anderen widersprechen ihr. Anaximenes

XII. Paradigmatische Geschichtskonzepte a. In seiner ›Deutschen Ideologie‹ spricht Marx vom „Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems“.1 Zu Recht! Das ergab Humus. Denn Nietzsche wußte: „Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte.“ 2 Tatsächlich wurzeln die meisten Schulen des historischen Denkens in Hegel: Idealismus und Historismus sind rechtshegelianisch, der historische Materialismus ist linkshege­ lianisch geprägt, und auch der darwinistische Geschichtsbiologismus zeigt hege­ lianische Züge. Daneben gibt es jedoch Autoren, die dem Denken Hegels fern oder feindlich gegenüber stehen und die gleichwohl Wesentliches zur Struktur der Geschichte gesagt haben. Zu ihnen zählen nach Goethe vor allem Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche und Max Weber. b. Die genannten Autoren verbindet der Verzicht auf eine umfassende lineare Konstruktion der Weltgeschichte. Ihr Interesse gilt nicht der Menschheitsentwicklung insgesamt, sondern beispielhaften Einzelphänomenen, in denen der Geist der Geschichte sich verdichtet, verkörpert und veranschaulicht. Er zeigt sich in Musterfällen für eine bestimmte Kategorie historischer Erscheinungen, die komparatistisch zu Typen vereinigt werden. Das griechische Substantiv parádeigma kommt von dem Verb paradeiknymi – „daneben zeigen“ und bedeutet so viel wie Vorbild, Muster, Beispiel. Das lateinische Äquivalent ist exemplum von eximo – „herausnehmen“. Das exemplarische Geschichtsinteresse richtet sich auf Einzelfälle, die gemäß ihrem Aussagewert für Allgemeinmenschliches aus der Masse des Geschehenen ausgesondert werden. Es geht um Beispiele, die zum Verständnis für Anderes dienen. c. Für einen Hegelianer erscheint ein solch selektives Vorgehen willkürlich und beliebig, weil es ans Individuelle gebunden bleibt. Wo etwas Singuläres als Symptom für etwas Allgemeines verstanden wird, überschätzt man zuweilen dessen Bedeutungsgehalt. Daß man mit Beispielen auch Gegensätzliches begründen kann, wußte bereits der Zeitgenosse Alexanders des Großen, Anaximenes von Lampsakos.3 Umgekehrt erachtet ein paradigmatisch Denkender alle Varianten der Weltgeistlehre Hegels für „Charlatanerie“, wogegen Gregorovius 1887 den Archegeten, seiner „philosophischen Zigeunersprache“ zum Trotz, in Schutz nahm.4 Gleichwohl tendieren Lineartheorien zur Simplifikation. Alles über einen Kamm! Sonst gibt es keine Frisur. So muß der Fortschritssgläubige den Vorwurf hinnehmen, daß er die Erfüllung privater Sehnsüchte dem Weltgeist abverlangt. In Grundsatzfragen haben

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XII. Paradigmatische Geschichtskonzepte

gewöhnlich beide Streitenden irgendwie recht, jeder auf seine Weise, und es kommt darauf an, diese jeweils zu ermitteln.

1. Burckhardts Kulturkonstanten 1a. Jacob Burckhardt (1818 bis1897), Sohn eines Geistlichen in Basel, ist unter den Vertretern einer paradigmatischen Geschichtsanschauung der einzige Berufshistoriker.5 Dennoch blieb er Außenseiter. Er behandelte Geschichte von Homer bis Napoleon, betrieb Kultur-, insbesondere Kunstgeschichte. Sein geschichtstheoretisches Hauptwerk sind die erst 1905 von seinem Neffen Jakob Oeri herausgegebenen ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹. Es sind Vorlesungen, die Burckhardt 1868 in Konstanz entworfen und in drei Wintersemestern unter dem Titel ›Über das Studium der Geschichte‹ in Basel gehalten hat.6 Die letzten Ergänzungen stammen von 1873. Als Hörer dieser Vorlesung hat Nietzsche, Burckhardts jüngerer Kollege, enthusiastisch darüber berichtet.7 1b. Wer Jacob Burckhardt unter die Geschichtsphilosophen einreiht, wird zunächst dessen eigene Ablehnung bedenken müssen. Burckhardt hat nicht nur erklärt, keine Geschichtsphilosophie geben zu wollen, sondern hat sie selbst für ein Unding befunden. Die philosophische Methode sei das Subordinieren, die historische Methode das Koordinieren, und daher wäre die Geschichtsphilosophie ein Fabelwesen, ein Kentaur, den man allenfalls hier und da am Wald- und Wegesrand der geschichtlichen Studien antreffen möge.8 Burckhardts Ablehnung der Geschichtsphilosophie beruht vor allem darauf, daß diese zu seiner Zeit mit dem Namen Hegels verbunden war. Und von dessen „Programm einer Weltentwicklung“ setzt sich Burckhardt in Anlehnung an Schopenhauer bewußt ab. Dieser hatte der Historie sogar den Charakter als Wissenschaft abgesprochen, weil sie nur koordiniere und nicht subordiniere. Gleichwohl bestimmte er die „wahre Philosophie der Geschichte“ in der Einsicht, daß man stets das „unwandelbare Wesen“ des Menschen vor sich habe.9 Eben darum ging es auch Burckhardt. 1c. Jede Form der Theodizee und der Teleologie dagegen weist Burckhardt von sich, Fortschritt und Perfektibilität der Menschheit hält10 er für Traumprodukte. „Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht.“ Wer den Weltplan zu antizipieren suche, der projiziere seine eigenen Wunschbilder in die Geschichte hinein und setze Ideen um, „welche die Philosophen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben“. Hier nimmt er Freud vorweg. Ein moralischer Fortschritt wird von Burckhardt nicht zugegeben. Die Ansicht, „alles Dagewesene sei als auf uns gerichtet zu betrachten“, hält er für einen perspektivischen Irrtum. Mit Ranke erklärt er, jedes Phänomen sei für sich selbst und für alle anderen da.11 1d. In seinem Urteil über die eigene Zeit ist Burckhardt gespalten. Auf der einen Seite sieht er die Fortschritte im Bereich der materiellen Zivilisation. Burckhardt



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findet sie bloß unerheblich angesichts dessen, was die Menschen damit machen. Ohne moralische Besserung unterstützen sie eher die tierische Seite im Menschen. Kapitalisten wie Sozialisten hätten nichts anderes als Lebensstandard im Kopf, und so drohe die Kultur zum Opfer des Molochs Wohlstand zu werden. „Einmal werden der entsetzliche Kapitalismus von oben und das begehrliche Treiben von unten wie zwei Schnellzüge auf denselben Gleisen gegeneinander prallen.“12 1e. Ohne Einschränkung erkennt und begrüßt Burckhardt den Fortschritt in der Wissenschaft. Er bescheinigt seiner Zeit eine besondere Befähigung zum historischen Urteil,13 denn die Möglichkeiten zum Forschen und zum Publizieren seien noch nie so gut gewesen und der Staat gewähre Geistesfreiheit wie nie zuvor. Das dürfe aber nicht zur Selbstüberschätzung führen. So bestreitet Burckhardt, daß begründete Aussagen über Geschichte als universaler Prozeß gemacht werden könnten und leugnet entsprechend, daß man über das Ende oder über den Anfang irgend etwas wisse. Eine Lehre vom Ende sei notwendig spekulativ, eine Theorie des Anfangs allemal hypothetisch. Beides wären „bloße Reflexe von uns selbst“. 1f. Burckhardt vertritt wieder das Objektivitätsideal Rankes, das sich aus den Verstrickungen individueller Interessen lösen soll und kann. Goethe hatte das bestritten; sein Subjektivismus hängt mit der Funktionalisierung der historischen Paradigmen für die individuelle, insbesondere künstlerische Verarbeitung zusammen. Burckhardts Objektivismus hingegen ist mit absichtsloser Anschauung verbunden, mit wissenschaftlicher Theoria. Die Möglichkeit reiner Erkenntnis erfordere das Absehen von Absichten: „Sobald die Geschichte sich unserem Jahrhundert und unserer werten Person nähert, finden wir alles viel ‚interessanter‘, während eigentlich nur wir ‚interessierter‘ sind“, und diese Interessenbindung ist für Burckhardt philiströse Borniertheit. Wie bei Homer14 heißt es: „Was einst Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntnis werden“, aber nicht im Sinne einer instrumentalen Vernunft, sondern im Sinne einer reflektierenden Einsicht: Phänomene finden ihre Bedeutung durch die Kette der Bildung, durch das Fortleben im Bewußtsein der Nachwelt, und diese erweist sich der Geschichte würdig, sofern sie die Phänomene bewußt hält. Burckhardt bezeichnet dies geradezu als Verpflichtung gegen die Vergangenheit – ohne weitergehende Absicht, als durch Betrachtung reich zu werden. „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.“15 Klug ist, wer das Mögliche meistert; weise ist, wer dessen Grenzen bedenkt. Weisheit schließt Klugheit nicht aus, aber Klugheit schließt Weisheit nicht ein. Sein Wunsch nach Weisheit macht Burckhardt wider Willen zum Philosophen. 1g. Burckhardt sieht in der Geschichte ein Arsenal von Ereignistypen. „Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; – wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches.“ Damit steht Burckhardt zwischen Goethe mit seinen Urphänomenen und Max Weber mit seinen Idealtypen.

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Als Ordnungskategorien bestimmt er die „drei Potenzen“ Staat (kulminierend in Rom), Religion (kulminierend im Mittelalter) und Kultur (kulminierend bei den Griechen) – worin die Gesellschaft eingeschlossen ist – und betrachtet sie nach ihrer Bedeutung und ihrer Wechselwirkung im Verlaufe der Geschichte. Keiner ­dieser Potenzen wird eine Priorität zugestanden.16 Es gibt auch kein Urprinzip, und dies unterscheidet Burckhardt von Hegels Idealismus und Marxens Materialismus. 1h. Innerhalb der drei Potenzen widmet sich Burckhardt solchen Paradigmata, wo der Geist der Menschheit in höchster Konzentration erscheint. Nur deren Vergegenwärtigung bewahre uns vor dem Rückfall in die Barbarei. Die Geschichte verdichtet sich in bestimmten Hauptphänomenen. Zu diesen zählen die großen Kulturmetropolen mit ihren Kunstschätzen, namentlich das Florenz des Quattrocento und das klassische Athen. „Für die geschichtliche Betrachtung aber kann der Wert eines solchen einzigen Paradigmas nicht hoch genug geschätzt werden, wo Ursachen und Wirkungen klarer, Kräfte und Individuen größer und die Denkmäler zahlreicher sind als sonstwo. Es handelt sich nicht um eine phantastische Vorliebe, welche sich nach einem idealisierten alten Athen sehnt, sondern um eine Stätte, wo die Erkenntnis reichlicher strömt als sonst, um einen Schlüssel, der hernach auch noch andere Türen öffnet, um eine Existenz, wo sich das Menschliche vielseitiger äußert.“17 So wie Goethe lehnt Burckhardt eine Flucht in die Vergangenheit ab, so wie jener aber betrachtet Burckhardt das „Anklingen“, die innere Harmonie mit dem historischen Gegenstand, die Wahlverwandtschaft als Voraussetzung für ein Verständnis. Im Falle Athens ist dies das Leben im vollen Lichte des Bewußtseins, die Ausschöpfung aller Möglichkeiten im Guten wie im Bösen, die durch Tradition und Konvention weniger als anderen Ortes gehemmte Entfaltung von Individualität. 1i. Neben bedeutenden Städten bilden große Persönlichkeiten des politischen und künstlerischen Lebens eine für Burckhardt interessante Klasse von Paradigmen. Er läßt nur solche Menschen als groß gelten, deren „Tun sich auf ein Allgemeines, d. h. ganze Völker oder ganze Kulturen, ja die Menschheit Betreffendes bezieht.“ Die „großen Individuen sind die Koinzidenz des Allgemeinen und des Besonderen.“ Burckhardt nähert sich hier nun doch Hegel und seiner These von den „Geschäftsführern des Weltgeistes“,18 aber im Unterschied zu Hegel exkulpiert er sie nicht, wie sein düsteres Bild Konstantins zeigt.19 In Politik und Wissenschaft liefert die allgemeine Situation, in der Kunst und der Literatur hingegen die individuelle Leistung den höheren Anteil an der „Größe“. 1j. Neben den großen Kulturzentren und großen Personen sind es die großen Krisen, denen Burckhardt sich zuwendet. Der Begriff stammt aus der antiken Medizin und bezeichnet im Verlauf einer Krankheit jene Zeit, in der sich „entscheidet“ (krinō), ob sie zum Tode führt oder zur Genesung. Burckhardt betrachtet die Krise als „eine Aushilfe der Natur, gleich einem Fieber“, das als „Zeichen des Lebens“ zu betrachten sei mit unterschiedlichen Wirkungen, „je nach dem Lebensalter, in welchem das betreffende Volk steht“. Krisen sind „vitale Umgestaltungen“,



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„beschleunigte Prozesse.20“ Burckhardt weist daraufhin, daß alle Entwicklungen „sprung- und stoßweise“ erfolgen, „wie im Individuum, so in der Gesamtheit“. Und in diesem Rhythmus stellen die Krisen die „Entwicklungsknoten“ dar. Burckhardt nennt als wichtige Krisen den Peloponnesischen Krieg, den Endkampf um die römische Republik, die Völkerwanderung im 5. Jahrhundert, die Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert, die Kreuzzüge, die Reformation, die Französische Revolution und seine eigene Zeit, der er ein ganzes Kapitel widmet.21 „Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten ... erledigt zu sein.“ 22Den beiden Übergangszeiten der europäischen Geschichte hat Burckhardt seine Bücher gewidmet, ›Die Zeit Constantins des Großen‹ (1853/80) und ›Die Kultur der Renaissance in Italien‹ (1860). Diese Veränderungen werden oft von einzelnen Persönlichkeiten vorangetrieben, an denen Burckhardt dann aus denselben Gründen ein historisches Interesse findet wie an den Krisen. Beide Male verbirgt sich das Allgemeine im Besonderen, die Geschichte als ganze im einzelnen Paradigma. 1k. Burckhardts Krisenbegriff beruht auf einem ähnlichen Gedanken wie das Revolutionskonzept von Marx, mit dessen Schriften Burckhardt sich allerdings nicht befaßt hat. Eine gleichmäßige Bewegung wird durch grundsätzlich vermeidbare Widerstände gestaut und fällt, sobald dieser Widerstand gebrochen ist, in desto rascheres Tempo. Als retardierender Faktor erscheinen die „absolut inkorrigiblen“ alten Gesellschaftsstrukturen, die den neuen Völkern und Klassen nicht freiwillig Platz machen. So kommt es in den Krisen gewöhnlich zu Gewaltanwendung. Es gehöre „zur Jämmerlichkeit alles Irdischen“, daß die Menschen nur in der Auseinandersetzung mit ihresgleichen zum Gefühl ihres Eigenwertes gelangen und daß es der Gesellschaft nur mühsam gelinge, die Aggressivität ins Innere des Einzelnen zurückzudrängen.23 Auch das antizipiert Freud. 1l. Die Periodizität der Krisen verweist auf ein zyklisches Element im Geschichtsdenken Burckhardts. Die „Lebenskrisis der alten Welt“ stellt er unter die Überschrift ›Alterung des antiken Lebens und seiner Kultur‹. Die Metaphern „Abenddämmerung“ und „Greisenalter“, „zunehmende Erstarrung“ und vergangene „Blüte“ verweisen auf einen naturhaften Rhythmus, der mit „Ausartung der Rasse, wenigstens in den höheren Ständen“ Klartext gewinnt. Die tiefste Ursache ließe sich „vielleicht aus einer allgemeinen philosophischen Betrachtung der Zeiten“ gewinnen, doch beschränkt sich Burckhardt darauf, die „Lebensdauer“ einer solchen Kultur als begrenzt zu erkennen.24 1m. Die Interpretation der einzelnen Paradigmen stellt Burckhardt unter die doppelte Frage, „wie erstlich alles Geistige, auf welchem Gebiete es auch wahrgenommen werde, eine geschichtliche Seite habe, ... und wie zweitens alles Geschehen eine geistige Seite habe, von welcher aus es an der Unvergänglichkeit teilnimmt.“ Als das durchgehende „Thema der Geschichte überhaupt“ beschreibt er den Wandel des Geistigen und des Materiellen im Laufe der Zeiten. Ausgangspunkt ist eine

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anthropologische Größe: der „duldende, strebende und handelnde Mensch, wie er ist und immer war und sein wird“. Burckhardt nennt seine Betrachtungen „gewissermaßen pathologisch“;25 er ist von Schopenhauer geprägt, dessen resignierenden Pessimismus er teilt und nicht, wie sein Freund Nietzsche, als Erkenntnisstufe unter sich läßt. Indem Burckhardt die Geschichte als Leidensgeschichte, als Krankheit des Menschen bestimmt wird, kommt ihm der „Kentaur am Waldesrand“ zu Hilfe. Es ist der weise Chiron, der heilkundige Lehrer Achills. 1n. Burckhardt betrachtet die Geschichte nicht nur mit den Augen des Arztes, sondern auch mit denen des Kaufmanns: er zieht Bilanz. Goethe hatte gefordert, daß wir uns Rechenschaft geben sollten von dreitausend Jahren, und dies tut Burckhardt. Er versteht das Leid und das Böse als einen „Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie“. Burckhardt hält kompromißlos daran fest, daß jede Gewalttat böse und ein Unglück sei, ja er geht so weit, die Macht an sich für böse zu erklären, gleichviel, wer sie ausübe.26 Das meinte bereits Eunapios von Sardes um 400 n. Chr.: esti kakon exousia und ist die denkbar schärfste Antithese zu Hegel – und Paulus.27 Vermittelnd könnte man sagen: Macht an sich ist weder böse noch gut, aber verführt zum Mißbrauch. 1o. Burckhardt weiß natürlich, daß wir die Gewalt aus der Geschichte nicht eliminieren können und daß wir uns selbst betrügen, wenn wir übersehen, daß auch für das Zustandekommen aller großen, schönen und guten Sachen in der Vergangenheit das Böse seine Rolle gespielt hat. Schließlich hängt unser eigenes Werden daran. Diese Einsicht bezeichnet Burckhardt als das „geheimnisvolle Gesetz der Kompensation.“28 Alle Kultur steht mit einem Bein auf der Gewaltsamkeit und kann als Ausgleich für diese aufgefaßt werden. Sogar die Zerstörung von Kultur­ gütern lasse sich kompensatorisch deuten, indem Freiraum geschaffen werde für neue Werke und die Sehnsucht nach dem Untergegangenen das Erhaltene erst wertvoll mache. 1p. Burckhardt führt die Kompensation durch am Beispiel der Krise. Die in ihr sich entladende Gewalt scheint ihm ein „notwendiges Moment höherer Entwicklung.“ Krieg und Krise zwängen zur Anspannung aller Kräfte, die sonst leicht in Bequemlichkeit versanden. Burckhardt schätzt am Krieg diese katalysatorische Funktion für die allgemeine Entwicklung und lobt die Unterordnung privater Interessen gegenüber der Sache der Allgemeinheit, d. h. der kriegführenden Partei. „Die Krisen räumen auf“, sie lösen die erstarrten Traditionen, sie „beseitigen auch die ganz unverhältnismäßig angewachsene Scheu vor Störung und bringen frische und mächtige Individuen empor.“29 Burckhardt verspottet immer wieder die Sehnsucht nach Sekurität, denn gerade diese führt zur Stabilisierung der Formen, die allem Neuen, allem Originalen entgegensteht. Sekurität heißt Sterilität. 1q. Daneben verweist er auf den Januskopf der Krise. Die unzufriedenen Menschen setzen dem bestehenden Zustand nicht nur dessen eigene Fehler, sondern auch die Ergebnisse der menschlichen Unvollkommenheit allgemein auf die Rech-



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nung. Man will Rache üben, Gewalt weckt Gewalt, und am Ende steht der Terror. Als Ausrede für die Brutalität im Inneren brauche man die Bedrohung von außen, man werfe den Gegnern vor, mit fremden Mächten zu konspirieren, um sie im Inneren zu erledigen. Burckhardt nennt als Beispiele den Bürgerkrieg in Kerkyra von 427, den Thukydides geschildert hat, die sogenannte Pathologie, und die Französische Revolution. Aber auch gegenseitig vernichten sich Revolutionäre; die Radikalität überschlägt sich, bis der starke Mann erscheint, ein Caesar oder Konstantin, ein Napoleon oder – so können wir fortfahren – Hitler, Stalin oder Mao und mit eiserner Hand dem Treiben ein Ende setzt. Die ältere Routine kehre zurück, Polizei und Militär übernehmen wieder das Regiment. Ein gewisses Resultat bleibt, aber es steht, nach Burckhardt, in keinem vertretbaren Verhältnis zu den Kosten der Krise.30 Hier reicht die Kompensation nicht ganz hin. 1r. Die Kompensationstheorie ist eine Lehre des Trosts, und Burckhardt zeigt ein gewisses Unbehagen darüber, weil dies doch eine „verkappte Lehre von der Wünschbarkeit“ sei. Die Nahtstelle fassen wir da, wo behauptet wird, das eingetretene Übel sei das kleinere Übel gewesen. Damit läßt sich bei etwas Phantasie alles Unglück bagatellisieren, drum empfiehlt Burckhardt, sparsam mit der Kompensation zu verfahren. Burckhardts Skepsis gegenüber dieser Entlastungstheorie beruht auf ihrem möglichen Mißbrauch in der Zukunft. Dazu hat Hegel Anlaß gegeben. Er hatte alle Gewalttaten aus dem höheren Recht des Weltgeistes abgeleitet und damit ungewollt einen Freibrief für alle künftigen Eroberer ausgestellt.31 Wir sollten aus den Fällen, in denen das Böse etwas Gutes erzeugt hat, keine Rechtfertigung des künftigen Bösen ableiten. Entsprechend fürchtet Burckhardt vor allem das zur Nachahmung verführende Beispiel gelungener Gewaltsamkeit.32 Diese findet ihre Legitimation dann, wenn die faktisch üblen Begleiterscheinungen als notwendig hingestellt werden. Die Rede von der historischen Notwendigkeit ist ja immer ein Zeichen einer armen Phantasie und oft eine Beschönigung unlauterer Absichten. Aus der Tatsache, daß die Pyramiden mit erpreßter Arbeit, der Parthenon mit veruntreuten Beiträgen, der Petersdom mit erschwindelten Ablaßgeldern erbaut worden ist, folgt noch lange nicht, daß es für die Kultur unabdingbar war, Menschen und Mittel zu mißbrauchen. Es war nur faktisch so, und daran können wir nichts mehr ändern, allenfalls versuchen, in ähnlichen Fällen besser zu handeln. 1s. Wie schon Thukydides rechnet Burckhardt mit einer gleichbleibenden Natur des Menschen und gestattet sich daher, wie alle Geschichtsphilosophen, Mutmaßungen über die Zukunft. Er glaubt, daß der Rhythmus der Krisen weitergehen werde. Dem 20. Jahrhundert hat er große innere und äußere Kriege prophezeit. „Am Ende liegt ein Drang zu periodischer großer Veränderung in dem Menschen, und welchen Grad von durchschnittlicher Glückseligkeit man ihm auch gäbe, er würde (ja gerade dann erst recht!) eines Tages mit Lamartine ausrufen: La France s‘ennuie! “.33 Man wird Burckhardt schwerlich widersprechen können, aber wird ihn fragen müssen, was denn angesichts dessen zu tun sei. Darauf gibt Burckhardt keine

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Antwort. Ähnlich wie Hegel und Ranke zieht er sich auf die Position des Be­- trachters zurück, teilt jedoch nicht deren Vertrauen in ein göttliches Weltregiment. Hoffnungsbilder wie Kants Programm eines allgemeinen Völkerbundes und Marxens Vision einer klassenlosen Gesellschaft zählt er zum „brillanten Narrenspiel der Hoffnung.“34 Mithin ist weder von der Vorsehung noch von der Menschheit eine Besserung zu erwarten. Der einzig mögliche und begrüßenswerte Fortschritt ist für Burckhardt eine Vertiefung und Erweiterung in der Erkenntnis. 1t. Das letzte Kapitel der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ handelt über Glück und Unglück in der Weltgeschichte und liefert den Schlüssel zu Burckhardts Geschichtspathologie. Er weist hier nach, daß die Rede vom Glück immer partei­ gebundene, egoistische Identifizierungen voraussetzt, wogegen die Rede vom Unglück aufgrund eines kreatürlichen Mitleids sinnvoll ist und daher Anspruch auf All­gemeingültigkeit erheben darf. Die „Leiden der Unzähligen“ sind ihm ein Faktum, das Glück der Wenigen scheint ihm Produkt eines Wunschdenkens. „Unsere tiefe und höchst lächerliche Selbstsucht hält zunächst diejenigen Zeiten für glücklich, welche irgendeine Ähnlichkeit mit unserem Wesen haben; sie hält ferner diejenigen vergangenen Kräfte und Menschen für löblich, auf deren Tun unser jetziges Dasein und relatives Wohlbefinden gegründet scheint.“ Eine solche Stellungnahme erscheint Burckhardt verächtlich, weil hier das zur materiellen Interessiertheit verkrüppelte Urteilsvermögen der modernen Wohlstandsideologie Maßstab für die Weltgeschichte sein soll. Auch Urteile nach der „politischen Sympathie“, meint Burckhardt, sind wertlos und heben einander auf. Diese Position hat später Max Weber aufgegriffen. „Überhaupt müssen wir uns hüten, unsere geschichtlichen Perspektiven ohne weiteres für den Ratschluß der Weltgeschichte zu halten.“35 Burckhardts Konzeption der Geschichte als Pathologie, als Leidensgeschichte der Menschheit beruht auf dem kolossalen Postulat einer außergeschichtlichen Gesundheit, die als ideale Alternative zur gesamten Geschichte, wie sie ist, einen kühnen Denker erkennen läßt.

2. Nietzsches ewige Wiederkehr 2a. Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900), Sohn eines Pastoren wie Burckhardt, wurde 1869 Professor für klassische Philologie in Basel und war ebenfalls ein Anhänger Schopenhauers und damit ein Gegner Hegels. Im Blick auf ihn be­­ stimmte Nietzsche den ganzen Idealismus als „Hirngespinst“ und erklärte, „der reine Geist ist die reine Lüge“. Er begriff und bejahte den Menschen als Natur­ wesen, den Leib und die Triebe in ihm. „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit“. Nietzsche trat der Welt und allem, was an ihm selber Welt ist, als Beobachter gegenüber.36 Es ist eine insulare, eine isolierte Position, die Nietzsche einnimmt und die er jedem für seine Sicht Empfänglichen aufzwingt, der zehn Seiten von ihm gelesen hat. Man gewinnt bei ihm eine Distanz zu allem, was



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uns umgibt, einschließlich der bürgerlichen Existenz, aus der wir kommen. Man zögert, in sie zurückzukehren, sei es, daß man einer momentanen Verführung, sei es, daß man einer dauernden Verwandlung erliegt. 2b. Aber nicht nur unsere bürgerliche Existenz, sondern auch unser philosophisches Bemühen wird Gegenstand seines Zweifels. „Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre?“37 Der Wille zur Wahrheit, den wir bei der Frage nach dem Sinn doch immer voraussetzen, wird hier selbst problematisiert. Nietzsche fordert ein Problembewußtsein, das nicht allein die Wahrheit von Sinn und Unsinn, sondern auch den Sinn und Unsinn von Wahrheit einschließt. Wer aber die Wahrheit als solche in Frage stellt, der läßt die Illusion als Alternative gelten, und das tut Nietzsche. Seine Philosophie wird gelegentlich als irrational bezeichnet, und diese Bezeichnung könnte Nietzsches Zustimmung gefunden haben. Für ihn ist nur das Problembewußtsein als solches wahr, die Vernunft ist ihm keine Instanz eigenen Rechts, sie ist ihm, wie für Schopenhauer, ein Werkzeug des Lebens. 2c. Kant und Marx sahen die Geschichte aus der Perspektive einer antizipierten Idealgesellschaft, die Nietzsche verwarf. Goethe und Burckhardt wählten den künstlerischen und wissenschaftlichen Blickwinkel, den Nietzsche problematisierte. Für die genannten Geschichtsdenker läßt sich ein innergeschichtlicher Ausgangspunkt nachweisen, für Nietzsche ist der schwer zu finden. Mit dem Pathos der Distanz warnt er den Leser vor seiner eigenen, ästhetischen Perspektive: „Und wer kein Vogel ist, soll sich nicht über Abgründen lagern“. 38 2d. Nietzsches Stellung zur Geschichte zeigt sich weniger in seinem Kultbuch ›Zarathustra‹ als in der zweiten ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹, verfaßt 1873, vom ›Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹. Wie der Titel verspricht, geht es hierin eigentlich um eine Philosophie der Historie, nicht um eine Philosophie der Geschichte. Aber beides hängt stets miteinander zusammen, und wo die Frage nach dem Sinn der Historie der Frage nach dem Sinn der Geschichte vorgeschaltet wird, da erfordert erstere selbst eine geschichtsphilosophische Antwort, nämlich die, daß Geschichte nicht an sich, sondern nur für uns von Bedeutung sei. 2e. Nietzsche schließt sich in seiner Herausstellung von Willen und Leben Schopenhauer an, in seiner selektiv-distanzierten Art gegenüber der Geschichte aber greift er zurück auf Goethe. Mit dessen Äußerung vom 19. Dezember 1798 gegenüber Schiller, ihm sei alles verhaßt, was ihn bloß belehre, ohne seine Tätigkeit zu vermehren oder ihn unmittelbar zu beleben, eröffnet Nietzsche seine Streitschrift. Ihr Grundgedanke ist: „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen“, und damit macht Nietzsche gegen den historisch-historistischen Betrieb seiner Zeit Front. Ein durch und durch historisch empfindender Mensch gleiche einem „Tiere, das nur vom Wiederkäuen ... fortleben sollte“. Es gebe „einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch

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oder ein Volk oder eine Kultur“. Die Geschichte, „souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit“, so wie Hegel das vorgeführt hatte. Dagegen erhebt Nietzsche die Forderung, das Wissen von Geschichte zu instrumentalisieren. Denn „erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen“.39 Hier ist zweierlei angesprochen: das Menschsein liegt darin, Traditionen aufzunehmen und umzubilden. Der Zusammenhang mit der Geschichte muß gewahrt bleiben, aber darf nicht zu Abhängigkeit und Untätigkeit führen. 2f. Im folgenden unterscheidet Nietzsche drei Arten von Historie. Sie alle scheinen ihm unentbehrlich, indessen nur in abgewogener Dosis. Nietzsche unterscheidet „eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie“. Die monumentalische Historie befaßt sich mit den großen Ereignissen. Der Gedanke, daß die Geschichtsschreibung ein Denkmal für die überragenden Taten der Menschen sein solle, lag ja bereits Herodot und Thukydides am Herzen. Daher zeichneten sie die Vorgänge für die Nachwelt auf. In diesem Sinne sind dann auch Goethe und Burckhardt an die Geschichte herangegangen, sie haben die für die Gegenwart bemerkenswerten Erscheinungen der Vergangenheit ans Licht gezogen. Den so entstehenden Brückenschlag vergleicht Nietzsche mit der Weitergabe einer Stafette in Anlehnung den nächtlichen Fackellauf zu Pferde bei Platon.40 Dadurch lebe das Große weiter; und dies sei nötig, um das Bewußtsein dafür wachzuhalten, daß Großes möglich ist. Diesen Vorzügen stehen drei Nachteile der monumentalischen Historie gegenüber. Zum ersten werde das Geschehen leicht „ins Schönere umgedeutet und damit der freien Erdichtung angenähert“. Dieser Gefahr hatte sich namentlich Goethe ausgesetzt, indem er wenig Interesse daran zeigte, ob seine Stoffe historischen oder poetischen Ursprungs seien. Zum zweiten ist die Wirkung der monumentalischen Historie nicht notwendig begrüßenswert. Das idealisierte Vorbild reize zum Fanatismus. Gerate diese Historie in die Hände begabter Egoisten und schwärmerischer Bösewichter, so würden „Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutionen angestiftet“. Zum dritten schließlich könne die monumentalische Historie auch erstickend wirken: Man verweise auf das vergangene Große als unerreichbar und lasse die „Toten die Lebendigen begraben“.41 2g. Die Vorzüge der antiquarischen Historie sodann sieht Nietzsche im „Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln“ und findet den Sinn dieser Geschichtsbetrachtung darin, daß sie den „minder begünstigten Geschlechtern“ sage, woher sie kommen und wohin sie gehören. Die Schattenseite erblickt Nietzsche jedoch darin, daß sie allein „Leben zu bewahren, nicht zu zeugen“ verstehe, daß sie konserviere und mumifiziere und allem Neuen abhold sei. Der Mensch beschränke sein Gesichtsfeld auf die eigene Vorgeschichte und „hülle sich in Moderduft“.42 Eine Kritik der Denkmalpflege?



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2h. Dagegen sei nun die dritte Form, die kritische Historie nötig. Sie bestehe darin, das Überlieferte zu prüfen, denn „jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden“. Wir hören Mephisto43. Die kritische Historie befreit uns von den alten Götzen, aber es ist nötig, „eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden“. Wir sind selbst Resultate früherer Verirrungen und Verbrechen und ändern daran nichts, indem wir dies verdrängen. Und zur Selbsterkenntnis ist für Nietzsche Geschichte unabdingbar, „wir brauchen die Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort – wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden“.44 2i. Nietzsche räumt ein, daß die Historie dem Leben grundsätzlich nottue, aber kritisiert den Bildungsbetrieb seiner Zeit „Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heißt“.45 Die Menschen verstünden es nicht mehr, „sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen“, sie fräßen alles unterschiedslos in sich hinein. Der Geschichtsstudent ist „jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen verschluckt und sich dann still gefaßt in die Sonne legt und alle Bewegungen außer den notwendigsten vermeidet“. Am Ende stehen statt Menschen „wandelnde Enzyklopädien“ vor uns, nur „Denk-, Schreib- und Redemaschinen“; die Philosophie sinkt ab in ein „ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern“.46 2j. Tadel trifft den bestehenden Geschichtsunterricht, der sich bemühe, die Schüler zu den Zwecken der Zeit abzurichten. „Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht“, und hat man ihn so weit, „endlich alles sich gefallen zu lassen – das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung“. Die Menschen sollen „in der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten ... bevor sie reif sind“. Der neue „Schlacht- und Opferruf ‚Teilung der Arbeit! In Reih und Glied!‘“ ruiniere die Menschen, wie die Henne zu Grunde geht, die man künstlich zum allzu schnellen Eierlegen zwingt. „Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden: aber seht euch nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen, an. Es sind wahrhaftig keine ‚harmonischen‘ Naturen, nur gackern können sie mehr als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner (obzwar die Bücher immer dicker) geworden“. Für die Geschichtsstudenten braucht Nietzsche das Bild von den Vögeln, die man blendet, damit sie schöner singen47. 2k. Nietzsche greift einen Begriff von Wissenschaft an, der die Frage ausklammert, wozu denn diese gut sei, er widersetzt sich einer selbstgenügsamen Objektivität, die unfruchtbar sei. „Es gibt sehr viele gleichgültige Wahrheiten“, die zum Leben nichts beitragen. Das meinte auch Goethe. In seinem Unglauben an die historische Wahrheit verschwand die Geschichte als Gegenstand; in Rankes Glauben an die historische Wahrheit verschwand der Historiker als Betrachter; bei

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Nietzsche sind beide da, beide nötig. „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches Erkennen; und je mehr Affekte wir über die Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser Begriff dieser Sache, unsere Objektivität sein. Den Willen aber überhaupt eliminieren, die Affekte samt und sonders aushängen, gesetzt, daß wir dies vermöchten: wie? hieße das nicht den Intellekt kastrieren?“ Nietzsche nennt die Wissenschaft ein Verfahren zur Anmenschlichung der Dinge. „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten.“ Die Historie dürfe nicht bloß der Zerstreuung von nervösen Zeitgenossen und der geschäftigen Betriebsamkeit von Professionellen dienen. „Ein großer Gelehrter und ein großer Flachkopf“, das gehe leicht unter einen Hut48. 2l. So wie den Glauben an Objektivität greift Nietzsche auch das Ideal der Gerechtigkeit als Urteilskanon an. Er fragt, woher denn die Historiker das Recht nähmen, über frühere Generationen den Stab zu brechen. Den Historiker in der Pose des Weltenrichters trifft Nietzsches Spott, stattdessen fordert er ein strenges Sortieren zwischen dem Brauchbaren und dem Unbrauchbaren. Er betont, „daß nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht hat, die Vergangenheit zu richten“.49 Nur ein „Baumeister der Zukunft“ werde die Geschichte verstehen. Hegel sah die Geschichte als fertiges Bauwerk, für Nietzsche wird sie zum Steinbruch für ein künftiges Bauwerk. 2m. Die Rede vom Weltprozeß findet Nietzsches Hohn. Er empfiehlt, sich aller Konstruktionen eines „Weltprozesses oder auch der Menschheitsgeschichte“ zu enthalten. „Soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert“. Nietzsche attackiert Hegels „Götzendienst des Tatsächlichen“. Was er als Vorbild hinstellt, sind jene Zeiten, in denen die Menschen unbekümmert um die Vergangenheit die Gegenwart gestaltet haben. Das taten in der vorsokratischen Aufklärung die „großen Kämpfer gegen die Geschichte, das heißt gegen die blinde Macht des Wirklichen“. Nietzsche „weiß keinen besseren Lebenszweck, als am Großen und Unmöglichen (animae magnae prodigus) zugrunde zu gehen“.50 2n. Damit ist Nietzsche von seinen Bemerkungen über den Zweck der Historie auf den Sinn der Geschichte gekommen. Er polemisiert gegen alle Teleologie: „Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren“. Die Einzelnen seien es, auf die es zu blicken lohne, nicht auf die Massen. Diese scheinen ihm bloß in dreierlei Hinsicht relevant: „als verschwimmende Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Großen und endlich als Werkzeug der Großen; im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik!“51 Zu den Großen rechnet Nietzsche Cesare Borgia und Napoleon, Shakespeare und Goethe. Wen er weiterhin dazuzählt, das verrät seine Lektüre-Empfehlung an die Jugend: „Sättigt eure Seelen an Plutarch!“. Nietzsches These hat 1879 Heinrich von Treitschke52 auf die



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Formel gebracht: „Männer machen die Geschichte.“ Nietzsche müßte mit dem Protest der Marxisten rechnen, nach denen umgekehrt Geschichte die Männer macht, aber er selbst würde diese protestierenden Marxisten als Kopien von Marx auf holzhaltigem Papier identifizieren und bestätigt finden, daß man, auch um die „sozialistischen Erdbeben“ zu begreifen, lieber Rousseau und Marx studieren als Einkommensstatistiken nachrechnen sollte. Nietzsche nennt die Sozialisten die ehrlichste, aber kurzsichtigste Art Menschen, weil für ihre ideale Gesellschaft die idealen Menschen fehlten53. 2o. Hier zeigt sich eine ähnliche Vorstellung wie bei Burckhardt, der die bedeutsame Persönlichkeit als Verkörperung des Allgemeinen sah. Freilich trifft Nietzsche eine Unterscheidung. Er gebraucht den Begriff „Volk“ als Ideal, den man „nie edel und hoch genug denken“ könne, aber verwendet den Begriff „Masse“ abschätzig. „Die Menschen scheinen nahe daran, zu entdecken, daß der Egoismus des Einzelnen, der Gruppen oder der Massen zu allen Zeiten der Hebel der geschichtlichen Bewegungen war“. Nützlichkeitsdenken und Gottesverehrung widersprechen sich nicht. Im Gegenteil: „denn wo Oasen sind, da sind auch Götzenbilder“.54 2p. Nietzsche hatte wohl Grund zum Pessimismus, aber er denkt an die Jugend und ruft mit Kolumbus „Land! Land!“ Er glaubt, die Jugend werde sich auf die Dauer nicht abrichten lassen. Burckhardt betrachtete die Geschichte als Pathologie, Nietzsche hingegen sah die Historie als Krankheit, wenngleich als nützliche Krankheit, wogegen die Jugend als heilkräftige Instinkte der Natur das Unhistorische und das Überhistorische entdecken werde. Nietzsche glaubt, dies müsse nur wiedergefunden werden, die Griechen hätten es schon besessen. Wie jene, so müßten auch wir lernen, uns gegen die Bildungs- und Verbildungsmächte zur Wehr zu setzen. Die Griechen seien durch die Lösung von der orientalischen Erbschaft zu dem geworden, was sie sind; wir müßten dieselbe Freiheit gegenüber der christlich-­ hegelianischen Tradition gewinnen und durch die Rückbesinnung auf das, was wir denn wirklich wollen, das Chaos in uns selbst organisieren. Freilich, „man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch“.55 2q. Was ist das Außerhistorische? Vom Historismus geprägt, sehen wir überhaupt nichts als Geschichte in der Welt. Uns fehlt das dritte Auge für die Ungeschichte. Die Historie im Sinne Nietzsches hört da auf, wo die Gleichgültigkeit gegen die Geschichte anfängt. Nietzsche erhebt die paradoxe Forderung, die Geschichtslosigkeit aus der Geschichte zu lernen, nämlich von den Griechen. Diese Paradoxie ist lösbar, denn wer sehen lernen kann, der kann auch absehen lernen. Hinter jeder Sicht steht eine Absicht, und wer sie sehen oder von ihr absehen kann, ist Herr über die Dinge und Herr über sich selbst. Und dies will Nietzsche sein, er will zeigen, daß man das sein kann. 2r. Nietzsches Geschichtsbild lehnt sich an das der Renaissance. Das legen schon seine Bekenntnisse zu Thukydides und Machiavelli nahe, an denen Nietzsche den

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„unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen“, schätzt. Damit ist ein konstantes Menschenbild angenommen, das aus Trieb und Vernunft gemischt ist, aus Emotionalität und Rationalität – Nietzsche sagt: aus Dionysischem und Apollinischem.56 2s. So wie die Humanisten der Renaissance, die auch als Epoche Nietzsches wie Burckhardts Hochschätzung genießt, sieht Nietzsche die vollkommene Entfaltung des Menschen verwirklicht im Altertum, bei Griechen und Römern, und diese Blüte wird durch die Mächte des Mittelalters, das ihm bis zur eigenen Zeit reicht, geknickt. In der Renaissance dachte man vorab an die Germanen als Zerstörer der antiken Kultur, Nietzsche denkt zunächst an die Christen. „Das, was aere perennius dastand, das Imperium Romanum, die großartigste Organisations-Form unter schwierigen Bedingungen, die bisher erreicht worden ist, im Vergleich zu der alles Vorher, alles Nachher Stückwerk, Stümperei, Dilettantismus ist – jene heiligen Anarchisten haben sich eine Frömmigkeit daraus gemacht, die Welt, das heißt das Imperium Romanum zu zerstören, bis kein Stein auf dem anderen blieb – bis selbst Germanen und andere Rüpel darüber Herr werden konnten ... Die ganze Arbeit der antiken Welt umsonst, ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt“.57 Im Jahre 1888 verfaßte Nietzsche, der „alte Pulverkopf“ (E. Jünger), seinen ›Antichrist‹, worin dem Christentum die Schuld am Untergang Roms zugeschrieben wird. Er glaubte, das Christentum als Religion der Schlechtweggekommenen habe das Bewußtsein der Unterwürfigkeit verbreitet, habe den Menschen das Gefühl der Erbsünde, das schlechte Gewissen anerzogen und sie damit als freie Wesen korrumpiert58. Ähnlich wie Heinrich Heine59 sieht er darin die Rache des kleinen Mannes: Die soziale Unterordnung der Juden und frühen Christen habe sich in der christlichen Lehre von der Minderwertigkeit des Menschen vor Gott niedergeschlagen und damit den Stolz, das Selbstbewußtsein ruiniert, das in Nietzsches Menschenbild den höchsten Wert darstellt. 2t. So wird ihm die Geschichte des Christentums zum Prozeß der Domestikation des Menschen, seiner Verwandlung in ein Haustier, ein Herdentier, wie es das Lamm Gottes sinnbildlich vorwegnimmt. Hier steht Nietzsche in schärfster Antithese zu Hegel: Während dieser Christentum und Germanentum als Wurzeln der Freiheit verstand, sah Nietzsche im Christentum die zum System erhobene Neurose, die in Massenbewegungen wie den Kreuzzügen, im Flagellantentum der Geißler, in Endzeitpsychosen, Veitstänzen und Hexenverfolgungen periodisch zum Ausbruch kam. Des Übels Wurzel sitzt aber nicht in der jüdischen Herkunft des Christen­tums – Nietzsche hat höchsten Respekt vor dem Alten Testament und findet böse Worte gegen den Antisemitismus seiner Zeit60, sondern in der Verbindung von Christentum und Germanentum. Die zeitgenössische Germanenbegeisterung von Hegel über Engels, Gobineau und Felix Dahn bis zu Wagner und Chamberlain quittiert Nietzsche im Stolz auf seine polnischen Ahnen mit dem Wort von der „blonden Bestie“, und seine Definition des Germanen lautet: „Gehorsam und lange Beine“. Die Germanen sind ihm die „Alkohol-Vergiftung Europas“.61



2. Nietzsches ewige Wiederkehr

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2u. Unter allen historischen Phänomenen befaßt sich Nietzsche mit nichts intensiver als mit der Moral. Er versteht sie als Ausdruck des Selbstbewußtseins von Individuen und Gruppen, die in dem, was sie für Werte erachten, kundgeben, wer sie sind. Durchgehend in der Geschichte findet er zwei Moraltypen: eine Herrenmoral und eine Sklavenmoral. Die heroische Herrenmoral hat als Ziel die Selbstverherrlichung durch Ruhm und ist bereit, das Leben zu opfern. Die Sklavenmoral dagegen dient ängstlich der Selbsterhaltung, sie fragt nach der Nützlichkeit und will das Leben verlängern. Mit dieser Antithese findet sich Nietzsche einmal auf Seiten von Hegel.62 Die Herrenmoral unterscheidet zwischen Edel und Schlecht, im Sinne von vornehm und verächtlich; die Sklavenmoral differenziert zwischen Gut und Böse, im Sinne von angenehm (oder nützlich) und bedrohlich (oder schädlich). Ein Zeichen von Herrenmoral ist es, sich nicht zu unterwerfen, gefährlich zu leben; ein Zeichen von Sklavenmoral ist es, sich anzupassen, Sekurität zu suchen, wie Burckhardt dies nannte. Nietzsche verkündet die „Umwertung aller Werte“, indem er den Kyniker Diogenes kopiert, dem das delphische Orakel befohlen hatte, paracharattein to politikon nomisma, worauf er sich in seine Tonne zurückzog und die bürgerlichen Wert­ vorstellungen verhöhnte. Das tut Nietzsche nun auf seine Weise. Sein „ZukunftsEvangelium“ verheißt für die Zeit nach dem Nihilismus der kommenden zweihundert Jahre den Sieg der Raubtierethik über den Herdentrieb63. Nietzsche bezog einen Standpunkt „jenseits von Gut und Böse“ und nannte sich stolz einen Immoralisten. „Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“64 2v. Die von den Christen den Germanen aufgenötigte Moral der Demut ist für Nietzsche ein Grund und ein Zeichen für die Dekadenz seiner Zeit. Diesen Begriff übernahm er aus dem Französischen und führte ihn in die deutsche Philosophie ein. Mit dem Dekadenzproblem habe er sich am tiefsten beschäftigt, er habe es vorwärts und rückwärts buchstabiert und nennt sich auch selbst einen décadent, ja „in Fragen der décadence die höchste Instanz, die es jetzt auf Erden gibt“, so am 18. Oktober 1888 aus Turin an seine mütterliche Freundin Malwida von Meisenbug65. Dekadenz ist für Nietzsche eine periodisch auftretende Begleiterscheinung der Zivilisation, eine Krankheit der Kultur, eine „Gesamtabirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten“.66 Sie äußert sich in einer Nerven- und Willensschwäche, in Reizbarkeit und Sentimentalität, in Pessimismus und Nihilismus, im „Aufreißen alter Wunden“, im „Sich-Wälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung“.67 Musterbeispiele für Dekadenz sind bei Nietzsche Sokrates, der mit seiner bohrenden Fragerei seine Zeitgenossen zu verunsichern pflegte, und der anfangs hochgeschätzte Richard Wagner, der mit seiner morbiden Modernität ein musikalisches „Opiat“ geliefert habe68. Was bei Nietzsche fehlt, ist die ästhetische Nuance der Décadence im fin de siècle, die in hochgezüchteter Raffinesse verfeinerter Formge-

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XII. Paradigmatische Geschichtskonzepte

bung bestand und dies in der Zeitschrift Le Décadent (1886 bis 1889) zum Programm erhob. Nietzsche sieht sich in einer Zeit unabwendbaren Niedergangs. „Schritt für Schritt weiter in der décadence – dies meine Definition des modernen Fortschritts“. Zarathustra weiß es: „Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln.“ Dekadenz ist verächtlich, aber erforderlich als Basis der erträumten Geistesaristokratie. Dekadenz ist „lebensnotwendig“ als Folie für Größe, Stärke und Gesundheit, für jene Werte, die eine „Rechtfertigung der Geschichte“ möglich machen69. So wie vor ihm Hegel und nach ihm Popper70 besteigt Nietzsche das Tribunal des Weltenrichters und exkulpiert die Geschichte, ja den Kosmos als Kunstwerk: „Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.“71 2w. Den „Fortschritts-Aberglauben“, die Idee einer Entwicklung der Menschheit „zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren“ weist Nietzsche weit von sich. Wohl aber sei „an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus“ ein „höherer Typ“ erschienen, einzelne Menschen, die es geschafft hätten, sich den Zwängen ihrer Zeit zu entziehen. Die Fähigkeit hierzu ist das Kriterium für Nietzsches Übermenschen. Er ist „hungernd, gewalttätig, einsam, gottlos“. Er will nur er selbst sein, ist anders, will anders sein als alle andern. Er ist Asket und Einsiedler. Man sieht, was Nietzsche dem Christentum verdankt, aber sein Zarathustra glaubt nur an sich. Seine Maxime: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“. Mit dem Übermenschen, der bisher unter uns Überaffen nur sporadisch auftrat, hinfort aber erzogen und gezüchtet werden solle, ließe sich „jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ‚Geschichte‘ hieß“, ein Ende machen.72 Ist der Übermensch die „Kristallform des Gedankens, daß der Mensch sich über sein Gegenwartsstadium hinausentwickeln kann und also soll“,73 so gibt es doch einen progressiven Zug im Hintergrund von Nietzsches Geschichtsbild. Das Wort „Übermensch“ geht zurück auf Lukian von Samosata, bei dem der ­hy­­peranthrōpos anēr ein Großtyrann ist, der als Toter in der Unterwelt dann ein klägliches Bild abgibt74. Im Deutschen erscheint die Bezeichnung „Übermensch“ im 16. Jahrhundert bei Katholiken spöttisch für glaubensstolze Lutheraner, dann bei diesen auch positiv für geisterfüllte Christen. Im Munde des Erdgeists gegenüber Faust klingt das Wort wieder ironisch, aber Herder braucht es 1794 im Sinne von Genie, mithin bereits ähnlich wie Nietzsche75. Die Idee, d. h. die alle Erfahrung übersteigende Vorstellung vom Übermenschen gemahnt an den Neuen Menschen Augustins76 und erscheint auf der Bühne 1905 in Shaws ›Man and Superman‹. Letzterer soll alle politischen und sozialen Probleme der Menschheit lösen und muß gezüchtet werden. Hier spielt Darwins Selektionstheorie herein, die auch bei Nietzsche anklingt. 2x. Darwins „Kampf ums Dasein“ steht hinter Nietzsches Bild der Geschichte als einer Folge von Überwältigungsprozessen, getrieben vom „Willen zur Macht“ als dem „Urfaktum aller Geschichte“. Das gelte ebenso für die Natur: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem.“77 Leben sei notwendig Aneignung,



2. Nietzsches ewige Wiederkehr

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Unterdrückung, Ausbeutung. Kants und Marxens Lehre von der friedlichen Gesellschaftsordnung der Zukunft scheint Nietzsche ein Traumgebilde. Burckhardts Meinung, Macht sei an sich böse, teilt der Immoralist ebensowenig. „Der Wille zur Macht“ sollte den Titel für Nietzsches unvollendetes Spätwerk abgeben. Diese Formel bezeichnet für Nietzsche die Triebkraft aller bisherigen Geschichte und ist zugleich der höchste Wert seiner eigenen Ethik. „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles was aus der Schwäche stammt“.78 Ausgeschlossen ist dann die Schwäche Mussolinis für Nietzsche. Hitler ließ eine Nietzsche-Ausgabe in Pergament für den Duce herstellen, der aber bereits am 25. Juli 1943 dem Willen zur Macht des Gran Consiglio verfallen war, ehe die Bücher Rom erreichten79. Die politische Resonanz auf Nietzsches Weltformel erklärt sich aus deren Verwendung als Imperativ, doch ist deren Wert als Erklärung dürftig. Wenn alles in der Welt in Bewegung ist, dann ist überall Energie, überall Kraft wirksam. Postulieren hinter dieser einen Willen und hinter diesem ein anonymes Subjekt, das ehedem Gott hieß, dann wird aus dem universalen Willen zu Macht eine – immerhin faszinierende – metaphysische Seifenblase. 2y. Seine eigene Stellung in der Geschichte umschrieb Nietzsche durch Metaphern des Tageslaufs, die wir aus der Renaissance kennen. Spätabendliche ›GötzenDämmerung‹ und frühe ›Morgenröte‹ sind zwei seiner Buchtitel. Daß „Gott tot ist, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“, beschreibt er als Tageswechsel. Mit dieser „zweitausendjährigen Lüge“ sei nun auch die ganze „europäische Moral“ am Ende. So wie die Renaissance begriff Nietzsche die ihm vorausgegangene, dem Altertum folgende Zeit als Einheit, als finstere Etappe eines Mittelalters, das erst jetzt der nächsten Geschichtsepoche Platz mache. Diese werde eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung“, Untergang und Umsturz herbeiführen, „derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat.“ Nietzsche prophezeite: „Die europäische Tatkraft wird zum Massenselbstmord treiben.“80 Wie Burckhardt zählt auch Nietzsche zu den Propheten der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, aber während Burckhardt um die alteuropäische Kultur fürchtete, hoffte Nietzsche auf einen neuen Anfang. Für den alten Menschen kommt der Sonnenuntergang, für den neuen Menschen der Sonnenaufgang, für den Philosophen ist es der Mittag, die höchste Zeit: „da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Tier und Übermensch“. Nietzsche verkündet, „daß der Mensch eine Brücke sei und kein Zweck“; was er an ihm liebe, sei, „daß er ein Übergang ist und ein Untergang“, ein Weg zu neuen Morgenröten in der Stunde des großen Mittags. Die sei jetzt: „Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; Incipit Zarathustra“.81 2z. Zarathustra ist der Lehrer der ewigen Wiederkehr, und Nietzsche ist Zarathustra82. Im Sinne der Stoa erkennt Nietzsche in der Geschichte planlosen Wechsel. Es geht bergab und bergauf, voran und zurück; Altes und Neues, Werden und

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XII. Paradigmatische Geschichtskonzepte

Vergehen erscheinen nicht nacheinander wie in den Kulturentstehungslehren und den Lebensaltergleichnissen, sondern nebeneinander und durcheinander. Nietzsches Geschichtsbild ist tropisch83. Dabei kommt es zu Wiederholungen innerhalb der gegenwärtigen Periode, da die Gegenwart Züge der „alexandrinisch-griechischen Welt“ zeige.84 Darüber hinaus glaubt Nietzsche an eine kosmische Zyklik. Anklingend an Platon85 heißt es, die Welt habe weder Anfang noch Ende, sie sei ein „Meer ... mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen“. Dies sei die Erkenntnis mit dem „größten Schwergewicht“. Wie Eudemos86 postuliert Nietzsche eine haargenaue Wiederholung des Geschehens, und das „unzählige Male vorwärts und rückwärts“.87 Alles ist wiedergekommen und kommt wieder: der Sirius am Firmament, die Spinne an der Zimmerdecke, dieses „Mondlicht zwischen den Bäumen“ und mein Gedanke jetzt eben an die ewige Wiederkehr. Der Kreislauf ist das Urgesetz88. Es verkörpert selbstgenügsame Vollkommenheit des Geschehens und erübrigt die Annahme eines Schöpfergottes sowie die einer Ereignislosigkeit vor und nach dem Weltlauf, seine unvorstellbare Einbettung ins zeitlose „Nichts“. Wie David Hume89 argumentiert Nietzsche physikalisch: Die bewegenden Kräfte sind unablässig in Aktion, aber ihre Zahl ist begrenzt, die Zeit hingegen ist endlos – also müsse es doch irgendwann und daher unendlich oft zu einer Wiederholung des jetzigen Zustands kommen. Ein Gleichgewicht ewiger Ruhe sei in der Zukunft nicht zu erwarten, da es auch in der Vergangenheit nicht eingetreten ist. Hatte Augustinus den Kreislauf als Sinnbild der Sinnlosigkeit bezeichnet,90 so trifft dieser Vorwurf nach Nietzsche vielmehr umgekehrt die Vorstellung der Endlichkeit, die an Vergeblichkeit denken läßt. Eine Sinnstiftung aber bietet auch der große Kreislauf nicht, da die künftigen Wiederholungen von unserer jetzigen Situation ebenso wenig wissen wie wir von den vergangenen. Insofern ist die Multiplikation unserer Gegenwart zu einer gebetsmühlenartigen Ewigen Wiederkehr der „metaphysische Aggregatszustand“ einer Sehnsucht, aber darüber hinaus bedeutungslos.91 Nietzsche führt vor, „wie man mit dem Hammer philosophiert.“ Der Hammer wird spürbar an dem Porzellan, das Nietzsche zerschlägt. Sowas macht Spaß, denn Scherben bringen Glück. Bei allem Kampf gegen Konvention und „Moral“ aber führt ihm die „intellektuelle Rechtschaffenheit“ die Hand. Die einzige Tugend, die Nietzsche gelten läßt, ist die Redlichkeit gegen sich selbst, und die ist nur in harter Selbsterziehung zu gewinnen. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß.“92 Nietzsche nicht anders.

3. Max Webers Idealtypen 3a. Max Weber (1863 bis 1920) war Sohn eines preußischen Beamten, studierte Jura und bekleidete Professuren für Nationalökonomie und Soziologie, engagierte sich zudem in der Politik.93 In seinen Arbeiten erweist er sich als von Kant geprägter



3. Max Webers Idealtypen

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Philosoph und als von Mommsen beeindruckter Historiker mit einem universal­ historischen Ansatz. 3b. Im Gegensatz zu Hegel und den von diesem abhängigen Denkern betrachtet Weber die Weltgeschichte nicht als umfassenden, geschlossenen Prozeß oder als geordnete Struktur. Mehrfach spricht er von der „sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“, das sich als chaotischer Strom durch die Zeiten dahinwälzt, von einer unübersehbaren, unerschöpflichen Fülle von Ereignissen und Gebilden.94 Dennoch findet er in diesem Tohuwabohu einzelne hervorragende Phänomene, die zu erhellen ihm eine sinnvolle Aufgabe erscheint, weil sie menschliches Handeln und soziale Beziehungen zu verstehen erlauben und damit das historische Selbst­ verständnis erleichtern. Indem diese Phänomene über sich selbst hinausweisen und darum von allgemeiner Bedeutung sind, ist Webers Ansatz geschichtsphilosophisch.95 Paradigmatisch ist Webers Erkenntnisinteresse, wenn er selbst einer Darstellung der Staatsbildung bei den Irokesen Aufschluß über den ja häufig erfolgten Übergang vom Stamm zum Staat entnimmt.96 3c. Im Unterschied zu nahezu allen Geschichtsphilosophen bemüht sich Weber um eine methodische Absicherung seiner Aussagen. Er bietet keine Wesensschau von hoher Warte, keine genialen Visionen, sondern reflektiert sein Verfahren, indem er die Gedankenschritte, die zu seinen Ergebnissen führen, aufzeigt und rechtfertigt. Dabei ist ihm sehr bewußt, daß auf diese streng argumentierende Weise kein Gesamtbild der Weltgeschichte zu gewinnen ist, sondern nur einzelne Aspekte und Phänomene in den Blick kommen, die allerdings höchste Aufmerksamkeit verdienen. Ihren Zusammenhang stiftet nicht eine übergeordnete Idee oder eine zielgerichtete Tendenz, sondern eine kausale Verkettung, die nach dem Prinzip der „adäquaten Verursachung“ aufzuschlüsseln ist. Die Geschichte erscheint als Folge von Entscheidungen, die auch anders ausfallen und den Geschichtsverlauf anders lenken konnten. So verwirklicht die jeweilige Realität nur eine einzige von mehreren „objektiven Möglichkeiten“, die sich als kontrafaktische Geschichte konstruieren lassen. Diese Position, die dem Gang der Geschichte die innere Notwendigkeit abspricht, hat heftigen Widerspruch ausgelöst, so bei Croce und Meinecke,97 aber auch Verteidiger gefunden98. 3d. Zentrales Thema von Webers Geschichtstheorie ist neben der Kausalität die Wiederholung von Rankes Forderung nach Wertfreiheit.99 Während die Ermittlung und Darstellung historischer Gegebenheiten durch Quellenbelege und vorurteilsfreie, methodisch saubere Interpretation allgemeine Anerkennung fordern dürfen und in der Regel auch erreichen, bleiben die Bewertung der Befunde und die daraus für die Praxis gefolgerten Lehren der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen. Weber besteht auf der strikten Trennung von objektiver Erkenntnis der Fakten und subjektiver Auswertung, zumal für die Politik im weitesten Sinne. Politik ist nicht wie bei Platon Sache von Fachleuten, sondern wie bei Aristoteles Angelegenheit aller Bürger. Ihnen kann der Wissenschaftler im günstigsten Fall die erforderlichen

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Voraussetzungen und die vermutlichen Auswirkungen eines Projekts erklären, nicht aber vorschreiben, ob etwas wünschenswert und anzustreben sei oder nicht. 3e. Die Ziele des Handelns beruhen bei Weber auf individuell vertretenen Idealen, auf Weltanschauungen, die durch Überzeugung nicht zu vermitteln, sohin irrationaler Natur seien. Zwischen ihnen gebe es nur „unüberbrückbar tödlichen Kampf“, so wie „zwischen Gott und Teufel.“ So wie Nietzsche, aber anders als Burckhardt, sympathisiert Weber mit dem Machtgedanken und dem Machtstaat.100 Er zieht die Möglichkeit, Werte ethisch zu begründen nicht in Betracht. Humanität und Moral sind als Argumente bei ihm nicht vorgesehen. Wie diese Grundwerte entstehen und sich verbreiten, sich ändern und im Kampf ums Dasein wieder verschwinden, das hängt ab vom unberechenbaren Auftreten charismatischer Heilsbringer und den von diesen begründeten Traditionen.101 3f. Hatte Nietzsche die Umwertung aller Werte verkündet, so vertritt Weber die Abwertung aller Werte im Sinne von zwingend erweisbaren, allgemein verbind­ lichen Normen. Gleichwohl erkennt er die immense Motivationskraft von „ideellen Interessen“ in der Geschichte und sieht auch in der Zuwendung des Historikers zu seinen Gegenständen und deren Auswahl eine „Wertbeziehung“ wirksam, die indessen persönlich bleibt.102 Sofern sich das Erkenntnisinteresse des Historikers auf soziale, religiöse und politische Fragen richtet, mithin allgemeine Kulturgeschichte betrifft, ist es mehr als pure Willkür. 3g. Wiewohl das „Kontinuum der mittelländisch-europäischen Kulturentwicklung“ für Weber „bisher (!) weder abgeschlossene Kreisläufe“ – abgesehen von der Antike – „noch eine eindeutig orientierte gradlinige Entwicklung“ zeigt,103 findet er einen dünnen roten Faden in Gestalt einer fortschreitenden „Rationalisierung“. Weber geht davon aus, daß Rationalität und Irrationalität klar zu trennen, vernünftiges von unvernünftigem Verhalten sauber zu unterscheiden seien. Gleichbedeutend spricht er von einer „durch Jahrtausende fortgesetzten Intellektualisierung und Entzauberung der Welt“104 und stellt sich damit in die Tradition der Aufklärung, die stufenweise abergläubische, magische und transzendente Vorstellungen rational neutralisiert und säkularisiert hat. Der Rationalitätsgewinn vollzieht sich so wie die wachsende Dynamik der materiellen Interessen „eigengesetzlich“, ist somit anthropologisch angelegt. Offenbar wurzelt auch das Streben nach Rationalität in tieferen, prärationalen Schichten. 3h. Das Wachstum der Vernunft begann laut Weber mit dem Protest der biblischen Propheten gegen den orgiastischen Baalskult und erreichte seine vorletzte Stufe mit der Ablehnung der katholischen Ritualmagie durch Calvin. Die von diesem gelehrte protestantische Ethik verstand Weber als Ursprung des rationalen Geistes des Kapitalismus.105 Weber ist fasziniert vom Arbeitsethos der Calvinisten und ihrer „innerweltlichen Askese.“ Die Arbeit folgte dem Befehl Gottes an Adam nach dem Verweis aus dem Paradies und der Mahnung des Paulus an die Thessalonicher.106 Doch der Gewinn diente nicht dem sündhaften Lebensgenuß, sondern als



3. Max Webers Idealtypen

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Kapitalanlage zur Vermehrung des Gewinns. Irdischer Erfolg sei als Ausweis göttlichen Segens aufgefaßt, als Verheißung des ewigen Lebens erstrebt worden. 3i. Natürlich wußte Calvin, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als daß ein Reicher in den Himmel kommt, aber das galt vermutlich nicht für gläubige, bescheiden lebende Kapitalisten. Ihre Schätze wurden nicht vom Rost und den Motten zerfressen, sondern mehrten sich wie im Gleichnis der anvertrauten Pfunde, wo Jesus dem erfolgreichen Wucherer das Himmelreich verheißt.107 Das mit der Jenseitshoffnung motivierte Arbeitsethos der Calvinisten habe sich dann von der irrationalen Erwartung des Gotteslohns gelöst, sozusagen entzaubert und auf geheimnisvolle Weise in das säkulare Gewinnstreben der Kapitalisten verwandelt, deren bürgerliches Berufsethos ohne Glauben an die Gnadenwahl auskam.108 Indem Weber somit eine religiöse Überzeugung als ökonomische Produktivkraft deutet, unterscheidet er sich scharf von Marx. 3j. Webers These fand wie auf psychologischer so auf historischer Ebene Widerspruch, indem auf die präkapitalistische Wirtschaft bei den Fuggern und Welsern, in den oberitalienischen Städten und im katholischen Flandern hingewiesen wurde. Gegen solche Einwände hätte Weber sich auf die von ihm seit 1904 so genannte idealtypische Methode berufen können.109 Sie besteht darin, daß unter einem geschichtsrelevanten Begriff ein Themenkomplex aus historischen Daten so konstruiert wird, daß ein sinnvolles, verständliches Ganzes entsteht, in dem die wesentlichen Elemente bestimmt und hervorgehoben, die unwesentlichen teilweise oder völlig vernachlässigt werden. Auswahl und Betonung beruhen gemäß Weber auf der Wertsetzung des jeweiligen Forschers, die allerdings nicht, anders als er meint, völlig beliebig sein kann, da der allgemeine Sprachgebrauch mit dem Leitbegriff entsprechende inhaltliche Erwartungen verbindet. Diese begrenzen den subjektiven Spielraum des Forschers bei der Konstruktion des Idealtypus, der anderenfalls keinen intersubjektiven Erkenntniswert besitzt. Bei völliger Willkür der Wertsetzung würde die Anarchie der Phänomene durch die Anarchie der Begriffe potenziert, und das kann kein Ziel von Wissenschaft sein. Legitim ist die Vereinfachung. Eine idealtypische Behandlung, sagen wir: der Stadtwirtschaft im nordalpinen Mittelalter, der kapitalistischen Gewerbeverfassung oder auch des Bordellwesens,110 erzielt zwar kein punktgenaues und vollständiges, immer und überall gültiges Abbild des jeweiligen Gegenstandes, aber eine intelligible Vorstellung von ihm. 3k. Der Idealtypus ist der meistdiskutierte, höchst unterschiedlich aufgefaßte Zentralbegriff im Geschichtsdenken Webers. Er wird nämlich seinerseits idealtypisch gedeutet, indem jeder Interpret jene Züge an ihm hervorhebt, die ihm wichtig erscheinen. Da Weber seinem Lieblingsbegriff viele Facetten leiht und dieser keine vorgängigen Erwartungen weckt, entstehen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was Weber mit ihm eigentlich gemeint hat. Im Kern bezeichnet er vermutlich nichts anderes, als das, was Historiker zu allen Zeiten getan haben, wenn sie einerseits generelle Begriffe und Schemata gebrauchten, deren Bestim-

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mungsstücke immer nur teilweise, aber doch im großen ganzen mit dem je gemeinten Gegenstand übereinstimmten,111 und wenn sie andererseits individuelle Komplexe durch Vereinfachung klären wollten. Als Aristoteles den Staat der Athener, als Tacitus das Wesen der Germanen, als Michelet die Französische Revolution auf beschränktem Raum darstellte, dann konnte das gar nicht anders als idealtypisch geschehen. Insofern war und ist der Idealtypus – ob explizit oder unbewußt – ein unentbehrliches heuristisches Instrument, um kleinere oder größere Themen nicht nur aus der Kulturgeschichte, sondern aus den empirischen Disziplinen überhaupt darstellbar zu machen. Max Weber hat das auf den Begriff gebracht. Er bestätigt, was Marie von Ebner-Eschenbach 1879 schrieb: „Sag etwas, das sich von selbst versteht, zum ersten Mal, und du bist unsterblich.“ 3l. Bezeichnend für Webers Geschichtsbild ist die Auswahl der von ihm ideal­ typisch behandelten, stets kulturbedeutsamen Themen. Diese mehr oder weniger isolierten Ausschnitte aus der Menschheitsgeschichte gehören ganz überwiegend in die Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, Religion und Herrschaft. Dabei kehrt gewissermaßen als „geistiges Band“ eine Fragestellung immer wieder: die nach dem Verhältnis des jeweils betrachteten Sektors aus der Vergangenheit zur modernen Rationalität. Weber fragt nach Unterschieden zu ihr, nach Übereinstimmungen mit ihr und nach Vorformen oder Vorstufen für sie.112 Immer wieder wird dieser Vergleich gezogen, diese Verbindung hergestellt. Das offenbart Webers Erkenntnis­ interesse. Er sieht in dem gegenwärtigen, welthistorisch einmaligen Stand der ­ökonomischen und technischen Entwicklung des Okzidents einen End- und Höhepunkt der durch einen universalen, dreitausendjährigen Vormarsch der praktischen Vernunft erreicht wurde und an dem die Standards früherer Epochen und fremder Kulturen gemessen werden. 3m. Webers heimliche Teleologie unterscheidet sich indessen grundlegend von den gängigen Fortschritts- oder Dekadenztheorien durch ihren ambivalenten Charakter. Weber übersieht die guten Seiten der erreichten Zivilisation keineswegs, doch bangt er um die Zukunft. Sein Alptraum ist die mit der Rationalisierung verbundene „Grundtatsache des unaufhaltsamen Vormarsches der Bürokratisierung.“ Sie entwickelte sich eigendynamisch als Begleiterscheinung des Kapitalismus von einer dienenden zu einer herrschenden Funktion und werde wie in der Römerzeit so auch bei uns durch das enger und enger werdende Korsett von Bestimmungen, Verordnungen und technokratischen Regelungen die freie Arbeit drosseln, die ökonomische und politische Initiative abtöten. Diese Zwangsjacke könne, so fürchtet er, für die „letzten Menschen dieser Kulturentwicklung“ in den westlichen Ländern zu einer „Versteinerung“, einer Lähmung jeglicher Vitalität, Individualität und Spontaneität führen, zu einer Erstickung der Freiheit im Namen der Ordnung.113 Schon Tocqueville hatte 1835 den „Verwaltungs-Despotismus“ der Demokratie angeprangert,114 und seither hat eine parasitäre Bürokratie Webers Befürchtungen mehr als bestätigt. Zehntausende von Vorschriften auf allen Lebensgebieten verrin-



4. Paradigmatik

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gern die Selbstverantwortung des Bürgers von Quartal zu Quartal. Inzwischen sind selbst der akademischen Freiheit durch penible Studienordnungen Grenzen gesetzt. 3n. Ähnlich wie Jacob Burckhardt sieht Weber die Schattenseiten der Modernität sehr deutlich, und so wie jener denkt er bei ihnen an den Untergang Roms. Damit glaubt auch Weber sich in einer Art zweiter Spätantike befindlich.115 1896 sprach er in wörtlicher Anlehnung an einen Vortrag von Eduard Meyer aus dem Jahr zuvor116 vom „Kreislauf der ökonomischen Entwicklung des Altertums“, ja vom „Kreislauf der antiken Kulturentwicklung“ überhaupt, der in eine „lange Nacht“ geführt habe. 1908 prophezeite er dem kapitalistischem Okzident ein gleichartiges Ende.117

4. Paradigmatik 4a. Ebenso wie die durch Fortschritt, Niedergang oder Zyklik gekennzeichneten Verlaufskonzeptionen, so hat auch das paradigmatische Geschichtsdenken eine lange Vorgeschichte. Einen von jeder Entwicklung absehenden Filter für das historisch Relevante finden wir mehrfach in der Antike: unter den griechischen Autoren bei Plutarch mit seinen undatierten Parallelbiographien, in der römischen Literatur bei Valerius Maximus mit seiner Exempla-Sammlung und in der christlichen Tra­ dition in den Heiligenviten und in der figuralen Geschichtsdeutung. Unter den Humanisten verwendete Machiavelli die Geschichte als Beispielsammlung für po­litische Verhaltenslehre. Stets geht es um zeitlose Musterfälle. Gegenstand ist zunächst die interessante Tat, dann der interessante Mensch, und erst spät werden bestimmte Zeiten für interessant erklärt. 4b. Letzteres finden wir im 18. Jahrhundert bei Voltaire in der Einleitung zum ›Siècle de Louis XIV‹.118 Dem Philosophen erschienen nur vier Zeitalter erinnerungswürdig: die Zeit des Perikles, die des Augustus, die der italienischen Renaissance und die des Sonnenkönigs. Während die Antike aber einseitig die Moralität, die Christen allein die Frömmigkeit und die Renaissance die virtù als Relevanzkriterium anerkannte, ließ Voltaire lediglich die kulturellen Talente gelten. In gewisser Weise fand er Nachfolge bei Jacob Burckhardt, der nach Paradigmen suchte; bei Nietzsche, dem es um die „höchsten Exemplare“ ging; und bei Max Weber, der „Idealtypen“ entwarf, um die Realität zu verstehen. Stets versucht man, wie Voltaire in der Einleitung zu seinem ›Essai‹ bemerkt, aus dem Schutt der Jahrhunderte das Beste auszugraben, oder wie Goethe befand, mit Hilfe einer „exakten sinnlichen Phantasie“119 historische Phänomene durch das Auge des Geistes zu erfassen und, durch das Medium der Sprache sichtbar gemacht, zur Wirkung zu bringen. 4c. Wer die Beweislast für eine lineare Deutung der Weltgeschichte scheut oder den Fortschrittsglauben nicht zu teilen vermag, muß dennoch nicht auf eine philosophische Auswertung der Geschichte verzichten. Er findet so wie die behandelten Denker über ein selektives Raster einen vergleichenden Zugang zu jenen Erkenntnisquellen, die das Leben bereichern. Er verwandelt Paradigmatik in Pragmatik.

Certis sunt cuncta temporibus nasci debent, crescere, extingui. Seneca

XIII. Morphologien der Weltgeschichte a. Am 25. November 1796 erscheint in Goethes Tagebuch das zuvor unbekannte Wort „Morphologie“.1 Der von ihm damals angekündigte Aufsatz ›Morphologie als Wissenschaft‹ wurde zwar nie geschrieben, doch hat Goethe den Begriff mehrfach gebraucht, so daß klar ist, was er damit meint. Morphologie ist Gestaltlehre, der Versuch, Phänomene von ähnlichem Bauplan nach Typen zu ordnen und als Metamorphosen des Urphänomens zu verstehen, das dem jeweiligen Typus zugrundeliegt. Goethe spricht von einer „Hilfswissenschaft der Physiologie“ und wendet sie zunächst auf die Botanik, sodann auf die Biologie insgesamt an. Alles Organische sei mit der vergleichenden Methode nach dem Muster von idealer Urform und realer Umbildung zu erfassen. In seinem Brief an Schiller vom 12. November 1796 wendet er die „berühmte Morphologie“ auch auf die Mineralogie an; der Nutzen dieser Betrachtung reicht ihm „bis zur geistigen Äußerung des Menschen“ und wird damit zu einer Universalwissenschaft. b. Goethes morphologischer Denkansatz begegnet uns im 19. Jahrhundert in den verschiedensten Disziplinen. Er findet sich bei Literatur- und Kunstwissenschaftlern, Biologen und Medizinern, bei Geographen und Linguisten, Psychologen und Philosophen, indem jeweils das innere Organisationsprinzip von Erscheinungen eines bestimmten Forschungsbereichs verwendet wird, um sie zu gliedern. Mit dem Untertitel ›Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte‹ zu Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ fand der Begriff Eingang in die Geschichtsphilosophie. Spenglers morphologische Geschichtsbetrachtung kennt, anders als Hegel, keinen einheitlichen, in Europa zentrierten Gesamtprozeß, keine Entwicklung der Menschheit auf ein Ziel hin, sondern sieht in der Weltgeschichte mehrere wesentlich selbständige Kulturen, die nach einem gleichsam organischen Gesetz aufkeimen, ihre Individualität entfalten und dann wieder abblühen. Das Strukturmodell entstammt der Biologie und hat eine lange Vorgeschichte.

1. Das Lebensalter-Gleichnis 1a. Zu allen Zeiten sind Geschichtsmodelle von Metaphern inspiriert worden. Um die unüberschaubare Masse historischer Fakten zu gliedern, bediente man sich der Analogie und der Allegorie, indem man Erfahrungen aus dem Alltag auf die Vorstellung von Geschichte übertrug. Wendungen wie „die Quelle unseres Wissens“



1. Das Lebensalter-Gleichnis

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oder „das Netz von Ursachen“ oder „die Kette von Ereignissen“ bringen Anschaulichkeit in unsere Vorstellungen. 1b. Von besonderer Wichtigkeit sind Geschichtsmetaphern aus der belebten Natur. Ihre Verwendung liegt nahe, denn auch der Mensch ist ein organisches Wesen. So hat man früh die biologischen Gesetze, namentlich das funktionale Gefüge und die individuelle Entwicklung, von der Natur auf die Kultur übertragen. Das zeigt der Vergleich zwischen der Generationenfolge und den Blättern der Bäume, die im Frühjahr hervortreiben und im Herbst wieder abfallen, in der Ilias, ebenso die Fabel des Menenius Agrippa vom Magen und den Gliedern bei Livius: Um die aus Protest gegen den Senat ausgewanderte plebs Romana zurückzuholen, verglich der Redner die Funktion des Volkes mit den arbeitenden Gliedmaßen, die Tätigkeit des leitenden Senats mit der Aufgabe des Magens. Nur im Zusammen­ wirken gedeihe das Ganze.2 1c. Die einflußreichste Naturmetapher für das Geschichtsdenken ist der Vergleich der Völker, Staaten und Kulturen mit den Lebensaltern eines Organismus. So wie jedes Lebewesen wächst, blüht und vergeht, schrieb Platon, so geschieht es auch mit dem Menschen und mit seinen Werken. Dieselbe Ansicht von der naturgemäßen Entwicklung und Vergänglichkeit haben Polybios und Sallust ausgesprochen: omnia orta occidunt et aucta senescunt.3 1d. Durchgeführt wurde die Parallele zwischen dem Leben eines einzelnen Menschen und der Geschichte eines Volkes zuerst von Seneca für den populus Romanus. Seneca formulierte den Lebensrhythmus als allgemeines Weltgesetz: „Alles hat seine Zeit, es muß geboren werden, wachsen und erlöschen.“ Das spielte er an Rom durch.4 Roms Säuglingsalter (infantia – die Zeit vor der Sprache) setzte er in die Zeit des Königs Romulus, der Rom gleichsam gezeugt und erzogen habe. Das Knabenalter (pueritia) entspreche der folgenden Königszeit, in der die Stadt gewachsen sei. Unter dem letzten König Tarquinius Superbus sei Rom mündig geworden (adulta), habe die Herrschaft abgeschüttelt und sich Gesetze gegeben. Erwachsen geworden (iuvenescere), habe Roma alle Länder und Meere unterworfen, bis es keinen äußeren Gegner mehr gab und sich die Kräfte gegen die eigenen Eingeweide kehrten. Das ist die Zeit der Bürgerkriege in der späten Republik. Roms Greisenalter begann für Seneca, als Rom unter die Herrschaft eines Einzelnen, eines Kaisers, zurückkehrte. Das schien ihm eine zweite Unmündigkeit (infantia). Der nahe Tod Roms wird nicht ausgesprochen, ergibt sich aber aus der Logik des Bildes und aus dem Glauben des Philosophen an den Weltuntergang.5 1e. Das Bild von Kindheit, Erwachsenwerden und Greisentum eines Volkes kannte ebenso die jüdisch-christliche Literatur, es wurde aufgegriffen in der Aufklärung. In der Bibel war es die paidagogia theou, die Erziehung des auserwählten Volkes durch Strafen für Sünden zur ewigen Herrlichkeit Gottes;6 bei den Aufklärern war es die Entwicklung der Menschheit zur Vernunft nach dem Gesetz des Fortschritts. Namentlich Herder, Hegel und Saint-Simon haben von dieser Parallele

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XIII. Morphologien der Weltgeschichte

Gebrauch gemacht.7 Mit dem historischen Idealismus und der deutschen Romantik wurde das Lebensalter-Gleichnis in seiner römischen Form, erneuert. Als Vergleichsgegenstand wählte man wieder Einzelvölker, entsprechend der Vorstellung von der Individualität der Volksgeister. 1f. Hatte das 18. Jahrhundert durch Bilder aus der Mechanik den Glauben an die Machbarkeit der Geschichte ausgesprochen, so bevorzugte die Romantik im 19. Jahrhundert Metaphern aus der Natur, um die Unverfügbarkeit des Staats- und Kulturlebens auszudrücken. Der Staat erscheint in diesem Sinne bei Ranke als „lebendiges Prinzip“, das seiner eigenen „Regel des Werdens“ gehorche und nicht durch abstrakte Reformideen französischer oder englischer Herkunft umgemodelt werden könne.8 Die organische Staatsmetaphorik ist demgemäß konservativ, am deutlichsten vielleicht bei dem Staatsrechtler Heinrich Leo, einem der letzten Fürsprecher der amerikanischen Negersklaverei: „Die Natur eines Staates hat ebenso bestimmt und gleichmäßig ihren Organismus und ihren organischen Entwicklungsgang wie die Natur irgendeines Gewächses.“ 9

2. Vorreiter 2a. Der Kreislauf des Lebens bietet die Anschauungsform für zyklische Geschichtsprozesse, wie sie seit Vico bei neuzeitlichen Denkern mehrfach vorkommen.10 In seltener Vollständigkeit wurde das Modell ausgestaltet durch den Marburger Staatswissenschaftler Karl Vollgraff. Er erhob in seinem Werk ›Die Systeme der praktischen Politik im Abendlande‹ feierlich Protest gegen die Aufklärung.11 Vollgraff entwickelte eine Kulturanthropologie, die sich gegen die Vorstellung einer ganzheitlichen Weltgeschichte wandte. Vollgraff glaubte, jedes Volk entfalte seinen individuellen Charakter in drei Stadien nach dem Muster des organischen Lebens. Auf Entwicklung, Blüte und Ableben folge die Fäulnis (Zersetzung) oder die Mumifizierung (Erstarrung), die historisch gleichgültig sei. Jeder Untergang ist mithin wie bei Hegel notwendig und innenbedingt.12 2b. Vico und Vollgraff scheinen Spengler unbekannt geblieben zu sein. Dagegen schätzte er den Frankfurter Völkerkundler Leo Frobenius und den Berliner Alt­ historiker Eduard Meyer. Frobenius (1873 bis 1938) hat seine räumlich gedachte ›Kulturkreislehre‹ seit 1896 entwickelt, ihre Grundzüge bietet er 1921 in seiner kleinen Schrift ›Paideuma, Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre‹. Sein Material waren im wesentlichen die Kulturen Zentralafrikas, das er zwölfmal bereist hat. Gefördert wurde er insbesondere durch Kaiser Wilhelm II, dem er auch nach der Abdankung im Doorner Arbeitskreis verbunden blieb. Frobenius gliederte die empirische Welt in drei übereinanderliegende Sphären: die anorganische Natur, die organische Natur und die menschliche Kultur. Letztere umfaßte bei ihm ausdrücklich die prähistorischen und ethnologischen Völker. Die Kulturen sind für Frobenius „selbständige organische Wesen“, die als überpersönliche Subjekte dem Men-



2. Vorreiter

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schen als Objekt gegenübertreten. „Nicht der Wille des Menschen bringt die Kulturen hervor, sondern die Kultur lebt auf‘ den Menschen ... durchlebt den Menschen.“ 2c. Jede Kultur verwirklicht nach Frobenius etwas „Seelenhaftes“, und diese Kulturseele nennt er „Paideuma“. Dieser griechische Ausdruck bezeichnet ursprünglich den Stoff des Unterrichts, der Bildung (paideusis).13 Kulturen entfalten sich in den Schritten der Lebensalter. Frobenius meint, daß jede Kultur „eine Geburt, ein Kindes-, ein Mannes- und ein Greisenalter“ erlebte. Die Kulturformen sind eigenen Wachstumsprozessen unterworfen, die dem natürlichen Entwicklungsgang des menschlichen Individuums entsprechen. „Plump und unbeholfen gebärden sie sich in ihrer Jugend, energisch und zielbewußt im Mannesalter, kindisch sind die Greisenkulturen.“ Mit diesen Analogien will Frobenius keine Tatsachen behaupten, sondern bloß Verständnishilfen für Tatsachen anbieten. Als Methode des Verstehens von Kulturen sei die rationale Analyse ungeeignet, dazu bedürfe es nicht der Zerlegung in die Bestandteile, sondern – echt goetheanisch – der Anschauung des Ganzen durch „lebendige Intuition.“14 2d. Spengler zitiert Frobenius mehrfach, und noch häufiger beruft er sich auf den universalhistorisch arbeitenden Eduard Meyer (1855 bis 1930), mit dem er befreundet war.15 Meyer benutzte die griechisch-römische Antike als zyklische Einheit, die von einer primitiven Frühzeit über eine fortschreitende Modernisierung zu einer dekadenten Spätphase führte und abermals in der Primitivität endete. 2e. Als Leitfaden wählte Meyer die Wirtschaft. Den Grund für diese Wahl bot die damals verbreitete These von Karl Bücher, der die Wirtschaftsgeschichte nach dem hegelianischen Fortschrittsprinzip in drei Stufen von der Haus- zur Volks- und zur Weltwirtschaft dargestellt hatte.16 Weil dabei aber der „unermeßliche Rückschritt, der in der Zeit von Hadrian bis auf Karl den Großen sich vollzogen hat“,17 nicht in Erscheinung trat, übertrug Meyer den Dreischritt von der Menschheit allein auf die Antike. Die Zeit von Homer und Hesiod sah er geprägt einerseits durch einen ritterlichen Adel, der mit seinem höfischen Leben und den epischen Sängern, mit seinem Gefolgschaftswesen und seinen Fehden so sehr an das europäische „Mittelalter“ erinnert, daß Meyer diesen Begriff auf die frühgriechische Zeit übertrug. Durch aufkommendes Städtewesen, durch fortschreitende Arbeitsteilung und vor allem durch die beginnende Geldwirtschaft gewannen Handwerk und Handel an Bedeutung. Ohne Export und Import konnten die Städte gar nicht mehr leben. Das 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland entsprächen dem 14. und 15. Jahrhundert, das 5. dem 16. und die Folgezeit dem Hellenismus. 2f. Den Höhepunkt der antiken Kultur erblickte Meyer im klassischen Athen, namentlich in der Person des Sokrates.18 Gegenüber der Aufgabe einer nationalen Einigung hätten die Griechen allerdings versagt. Die letzte Chance verspielten die Tyrannen von Syrakus, so daß die Randmacht im Norden Makedonien die Führung übernahm und die Polisautonomie beendete. In den Großreichen des Helle-

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nismus mit seiner Weltkultur erreichte die griechische Geschichte ihren Abschluß. Schon Droysen hatte den Hellenismus als die „moderne Zeit des Altertums“ bezeichnet, und dem folgte nach Ranke und Marx auch Meyer.19 2g. Als dauernde Errungenschaft des freien Griechentums betrachtete Meyer die Entwicklung des Individualismus. Sie war für ihn schon in den autobiographischen Äußerungen Hesiods zu greifen und führte über Sokrates zum Gottkönigtum Alexanders, der wiederum die griechische „Vollfreiheit“ beendete. So erscheint der Weg von Askra über Athen nach Alexandria als Modernisierungs- und Erschöpfungsprozeß. Die Kultur wurde breiter, flacher, anfälliger. Der als Heilmittel gegen den Bürgerzwist gedachte Absolutismus erwies sich als Gift.20 Die Kriege zwischen den hellenistischen Mächten ermöglichten es der Randmacht im Westen Rom, erst ihre Vorherrschaft, dann ihr Universalreich aufzurichten. 2h. Das antike Rom hat laut Meyer, wenn auch verspätet, eine ganz ähnliche Entwicklung wie Griechenland durchgemacht: von einer bäuerlichen, kleinräumigen Gesellschaft zum kapitalistischen Universalsystem. Den mit dem Abzug des Pyrrhos 275  v. Chr. erreichten Idealzustand eines geeinten Italiens habe man leichtfertig zugunsten immer weiterer Expansion geopfert. Das Imperium Romanum der Kaiserzeit habe Frieden und Wohlstand gebracht, wie es das nie zuvor, nie hernach gegeben habe. Dennoch war das eine „Friedhofsruhe“. Mit dem Verlust der politischen Selbständigkeit hätten die Völker ihre Schaffenskraft, ihren Patriotismus und ihre kulturellen Eigenarten eingebüßt. Hier spricht Meyer als Nationalist. Seit Augustus herrschten Standesdünkel und Lebensgenuß bei den Oberschichten, bestimmten Vergnügungssucht und Erlösungsbedürfnis das Leben der Unterschichten. 2i. Es ist für uns heute schwer begreiflich, aber die Idee des Friedens, zumal die Pax Romana ist durch namhafte Autoren entschieden abgelehnt worden. Schon Heraklit tadelte Homer für den Vers: „Möchte der Streit doch aus Himmel und Erde verschwinden!“ weil ohne Gegensatz kein Leben, keine Harmonie möglich sei.21 Scipio Nasica wandte sich gegen die Zerstörung Karthagos, weil der äußere Feind die innere Erschlaffung verhindere.22 Horaz prägte für das Weltgeschehen die Formel rerum concordia discors, die Manilius umkehrte in discordia concors – zerstrittene Eintracht oder einträchtiger Streit.23 In diesem Sinne betrachteten Darwin und die Darwinisten den Kampf als Normalität und Movens des Fortschritts, und sinngleich verkündete Mommsen am 24. Februar 1881: „Der ewige Friede ist unter allen Umständen nicht bloß ein Traum, den heute auch Kant nicht träumen würde, sondern nicht einmal zu wünschen.“24 Am 11. Oktober 1916 kritisierte Eduard Schwartz den „entnationalisierten Schematismus“ und den „rein animalischen Lebensgenuß“ im Weltreich des Augustus: „So etwa sah der einzige Weltfrieden aus, der einmal Wirklichkeit geworden ist, die Pazifisten haben schwerlich Ursache, mit diesem Paradigma besonders zufrieden zu sein.“25 2j. Mit Augustus begann für Mommsen der Abend, für Schwartz der Herbst, für Meyer das Greisenalter Roms.26 Endlich sei das Imperium aufgrund innerer



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Fäulnis unter dem Ansturm der Germanen auseinandergebrochen. Die Kultur sank zurück in die Barbarei. Die Hauptschuld maß Meyer, ganz wie Mommsen, politisch dem Imperialismus, ökonomisch dem Kapitalismus, sozial dem Großstadt­ leben zu. Letztlich scheiterte die antike Kultur an moralischem Versagen. Man widerstand den Verlockungen der Macht und des Wohlstandes nicht. Den gemäß dem klassischen Dekadenzmodell verlaufenden Zyklus – die Figur übernahm Max Weber 189627 – erachtete Meyer als ein allgemeines Muster der Kulturentwicklung, das schon der arabische Historiker Ibn Khaldun erkannt habe.28 Meyer gewann die Überzeugung, daß die von Hegel und den Hegelianern vertretene Annahme eines steten Fortschreitens der menschlichen Kultur „ein Postulat des Gemütslebens, nicht eine Lehre der Geschichte“ sei.29 2k. Wie schon Gibbon und Mommsen betonte Meyer, „daß die Geschichtsbetrachtung immer von der Gegenwart ausgeht.“ Geschichte und Gegenwart stehen durch Kausalität und Analogie in Verbindung.30 So wird erst in wechselseitiger Beleuchtung die Geschichte für die Gegenwart bedeutsam und die Gegenwart durch die Geschichte verständlich. Dieser Zusammenhang wurde blitzartig klar mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er bedeutete für die Geschichtsphilosophie eine Kehre. Zahlreiche, nicht nur deutsche Denker gewannen jetzt die Überzeugung, daß der Niedergang der antiken Kulturen sich an uns wiederhole. Zu diesen Autoren gehörte Spengler.

3. Spenglers Hochkulturen 3a. Wie die meisten Geschichtsphilosophen war Oswald Spengler (1880 bis 1936) kein Berufshistoriker. Er wurde 1904 mit einer Arbeit über Heraklit promoviert, war dann Oberlehrer für Mathematik und Physik und lebte nach dem Ersten Weltkrieg von Erbschaften und Honoraren als Privatier in München. Lehrstuhlangebote lehnte er ebenso ab wie die Übernahme des Kulturhistorischen Instituts, das Karl Lamprecht (1856 bis 1915) in Leipzig begründet hatte. Lamprecht vertrat ebenfalls eine Kulturphilosophie, die biologischen Denkmustern verpflichtet war und nach dem „biogenetischen Prinzip“ und dem „Gesetz der psychischen Relationen“ den „Gesamtverlauf des geschichtlichen Lebens“ erkennen wollte.31 3b. Spenglers Interesse für Geschichte und Geographie hat sich früh in phantastischen Konstruktionen geäußert. Vierzehnjährig entwarf er das Projekt „Afrikasien“ – eine Zukunftsvision.32 Ein neuer Napoleon erobert West-Afrika und gründet eine Stadt mit Namen Berlin. Gestützt auf europäische Söldner baut er in Afrika und Asien ein gigantisches Imperium auf, das nach strengster Staatsraison regiert wird und nun die alten Kolonialmächte vernichtet. England, Frankreich und vor allem Rußland werden in ihre ethnischen Bestandteile aufgelöst: Moskau, Weißrußland und die Ukraine werden selbständig, Sibirien gehört sowieso zu Afrikasien. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika zerfallen. In Afrikasien wird ein

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staatlicher Frondienst, eine künstliche Staatssprache und eine Staatsreligion – der afrikanische Sonnenkult für Ornu – eingeführt. Genaue Buchführung erlaubt die Kontrolle aller Bürger. Spengler konzipiert eine Verfassung, einen kompletten Staatsschematismus sowie ein Gesetzbuch. Durch die Schwächung seiner Nachbarn, die Klientelstaaten von Afrikasien geworden sind, kann sich Deutschland halten, ja zu Großdeutschland erweitern – freilich im Bunde mit Afrikasien. Abgesehen von diesem Trost entspricht Spenglers Konzept von 1894 einer damals verbreiteten Furcht vor einem Weltkrieg zwischen den europäischen Mächten, während dessen die Kolonialvölker sich erheben und eine Hegemonie der Dritten Welt begründen könnten – so Seestern alias Ferdinand Grauthoff ›1906‹. 3c. Spenglers Ruhm gründet sich auf seinen zweibändigen ›Untergang des Abendlandes‹. Das Werk, ausgelöst durch die Marokko-Krise 1911 und 1917 abgeschlossen, traf die Nachkriegsstimmung in Deutschland auf den Nerv. Am 5. November 1919 nannte Stefan Zweig in einem Brief an Romain Rolland das Werk Spenglers „ein erstaunliches Buch, das überleben wird“. Und am 14. Januar 1920 heißt es: Es sei „ein Epilog auf das tausendjährige Geschlecht der Europäer“, die „größte historische Vision seit Hegel.“ Spenglers ›Untergang‹ erlebte in zwanzig Jahren 75 Auflagen und bestimmte das Geschichtsbild einer Generation. Spengler gehört mit Gottfried Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger zu den Rechtsintellektuellen, die sprachlich glänzend, aber inhaltlich düster sind. Als seine Lehrer bezeichnete Spengler erstens Goethe, von dem er die Morphologie, den „Gedanken der selbständigen, pflanzenhaften Kulturindividuen“ und die Methode der „exakten sinnlichen Phantasie“ übernommen habe, und zweitens Nietzsche, mit dem er die Vorliebe fürs Heroische und den Stilbegriff teilt.33 Spengler beginnt: „In diesem Buch wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.“ Die Möglichkeit hierzu wird von Spengler selbst historisch, wenn man so will, aus seiner eigenen Theorie begründet. Er bescheinigt der nordeuropäischen Kultur ein besseres Geschichts- und Zeitbewußtsein, als frühere Kulturen es besaßen. Dieses zeige ein Vergleich mit der Antike: Das Fehlen einer populären Zeitrechnung habe ein Gefühl der Geschichtslosigkeit zur Folge gehabt, eine wirkliche Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte sei ausgeschlossen gewesen. Die historische Überlieferung habe im Bewußtsein selbst des Gebildeten ohne Zeitindikatoren ein Sammelsurium gebildet. Aus diesem Grunde habe es auch kein Entwicklungsdenken gegeben, wie Spengler an den antiken Biographien zu erkennen glaubt. In der abendländischen Geschichte indessen sei ein Zeitbewußtsein lebendig, das auf verschiedene Weise seinen Ausdruck gefunden habe: einerseits in der Pietät gegenüber Antiquitäten, die Spengler bereits bei Petrarca feststellt, andererseits im Sammeln, Suchen und Forschen, das in der modernen Geschichtswis-



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senschaft und Denkmalpflege gipfelt. Das 20. Jahrhundert erhob Spengler zum Zeitalter der Psychologie im Sinne Nietzsches. Insofern glaubt Spengler in diesem historischen Bewußtsein einen Punkt zu besitzen, der es gestatte, auch die eigene Kultur aus derselben inneren Distanz zu betrachten wie die vergangenen. 3d. Gegenstand von Spenglers Geschichtsmorphologie sind die von und seit ihm so genannten „Hochkulturen“. Die prähistorische und ethnologische „Vorkultur“ schloß er aus seiner Betrachtung aus, insofern bleibt sein Bild, wie Frobenius bemerkte, ein Torso.34 Spengler übergeht ebenso die Bauern-, Arbeiter- und Volkskulturen innerhalb einer Hochkultur, die sich seiner Meinung nach in den Städten abspielt, vielleicht noch in Klöstern und auf den Landsitzen des Adels. Ausdrucksformen der Hochkulturen sind die künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, die politischen, ökonomischen und religiösen Systeme. In erklärtem Gegensatz zu Eduard Meyer und den zeitgenössischen Geschichtsschreibern betrachtet Spengler nicht die Geschichte von Staaten oder Völkern, nicht die von Einzelnen oder Klassen, sondern die Geschichte von Kulturen, die als übergreifende Einheiten aufgefaßt werden. Die Hochkulturen füllen die Zeit der „Hochgeschichte“, der die Vorgeschichte vorausgeht, die Nachgeschichte folgt.35 Der Vorgeschichte widmete sich Spengler seit 1924 und unterschied eine a-, b- und c-Kultur, drei Stufen der Ablösung des Menschen von der Natur, der dieser nur insofern verbunden blieb, als er ein „erfinderisches Raubtier“ ist.36 Die Hochkultur ist nun die d-Stufe. Die Nachgeschichte beginnt mit dem Übergang von der Kultur zur Zivilisation. Die im Deutschen seit Kant 178437 übliche Unterscheidung zwischen Kultur im Sinne von höherem Geistesleben, und Zivilisation, bezogen auf Umgangsformen und Lebensbedarf, wird von Spengler temporal verwendet, indem „Kultur“ die Zeit schöpferischer Geisteswerke meint, „Zivilisation“ hingegen für die Zeit danach verwendet wird. „Kultur“ ist wie bei Nietzsche ästhetisch gefaßt.38 Dieser bezeichnete damit die stilistische Einheit aller Lebensäußerungen. Während Hegel mit dem Blick von oben, fixiert auf die Politik, die wirtschaftliche Basis nicht erreichte, Marx mit der Sicht von unten, fixiert auf die Sozialökonomie, die Kunst nicht erfaßte, umgreift Spenglers Stilästhetik in der Kulturphase die Basis wie den Überbau, auch die Finanzen und die Technik. 3e. Spengler entsagt dem üblichen Eurozentrismus, verwirft die Idee einer linearen Entwicklung und rechnet mit einer Mehrzahl von Hochkulturen, die teils nacheinander, teils gleichzeitig und immer wesenhaft unabhängig voneinander wachsen, blühen und vergehen, aber insgesamt keine kohärente Folge, „keine organische Einheit“ bilden.39 Das Schema Antike – Mittelalter – Neuzeit verwirft er.40 Seine Methode ist die Parallelisierung entsprechender Entwicklungsstufen in verschiedenen Kulturen und der Nachweis der Formverwandtschaft aller Erscheinungen derselben Kultur. Die Analogie zwischen Alexander und Napoleon, zwischen England und Karthago, zwischen Florenz und Athen habe man längst erkannt,

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bloß noch nicht theoretisch begründet. Diese, wie er meint, aus einem richtigen Instinkt, aber ohne zureichende Methode gezogenen Parallelen will er durch eine Technik des Vergleichs auf eine gesicherte Grundlage stellen, die der Strenge des Mathematikers nichts nachgeben soll.41 Dem dienten Analogien zwischen der antiken und der westeuropäischen Kultur; jene große Parallele, die auch Vico und Droysen, Karl Marx und Eduard Meyer schon gesehen hatten, und die tatsächlich zur Annahme eines normalen Kulturverlaufs einladen. 3f. In beiden Kulturen finden wir am Anfang einen ritterlich-feudalen Lebensstil. Die Welt Homers und die des Nibelungenliedes sind ähnlich: Eine mythische Heldenzeit wird in epischer Form gestaltet und als Lebensideal einer ritterlichen Welt empfunden. Der Kampf und die Jagd sind die Beschäftigungen einer adligen Schicht, die von ihren arbeitenden Hintersassen ernährt und von Sängern unterhalten wird. Die Grundeinheit der Gesellschaft ist eine patriarchalische familia unter Einschluß des Gesindes. Man kann noch weiter zurückgehen: Auch zwischen Agamemnon und Karl dem Großen zeigen sich Parallelen: eine ländliche Stammesstruktur von prekärer Staatlichkeit, die durch Personenverband und Gefolgschaftswesen geprägt ist. 3g. Spengler verweist sodann auf dieselben Auflösungserscheinungen der patriarchalisch-ritterlichen Frühzeit. In Griechenland nach 800 v. Chr., in Europa nach 1200 n. Chr. zerfallen die locker gefügten, durch Stämme getragenen Großraumordnungen in kleinere, aber intensiv strukturierte Einheiten. In Griechenland sind das die Poleis; in Europa, namentlich in Deutschland, die Territorien. Die Staatlichkeit entwickelt sich im räumlich engeren Rahmen durch Geldwirtschaft, Gesetzgebung und Bürokratie. Der Staat konzentriert immer mehr Rechte auf sich: so die Gerichtshoheit, die Finanzhoheit und die Wehrhoheit. Am Ende steht jeweils der voll entwickelte Staat: Der Polis eines Perikles stellt Spengler den Absolutismus von Ludwig XIV und Friedrich dem Großen zur Seite. 3h. Eine Parallelität zeigt auch die soziale Entwicklung. Wie der frühgriechische, so hat auch der europäische Adel seine Vorrechte allmählich eingebüßt zugunsten eines Bürgertums, das in Griechenland wie in Europa in den Städten heranwuchs und dem Landbesitz des Adels den Geldbesitz von Handel und Gewerbe entgegenstellen konnte. Beide Male geht der Prozeß vom Gefolgschaftsverband zum Ständestaat, von monarchischer zu demokratischer Verfassung, von traditioneller zu institutioneller Regelung des gemeinsamen Lebens. 3i. Innerhalb der Kunst dominieren anfangs sakrale Zwecke. Der ideelle Mittelpunkt der griechischen Polis ist der Tempel der Stadtgottheit, das Herz der mittelalterlichen Stadt ist die Kathedrale des Schutzheiligen. Der griechische Künstler stellt die allseits bekannten Mythen, der europäische die biblische Geschichte oder Heiligenlegenden dar. Beide Male verläuft die Kunstentwicklung von strengeren zu gelösteren Formen: in Griechenland von der dorischen zur korinthischen Ordnung, von archaischer Statik zu hellenistischem Pathos, in Europa von der formstrengen



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Romanik zum prunkvollen Barock. Pathetische und verspielte Formen finden wir beiderseits am Ende. Der Begriff Barock wurde von Heinrich Wölfflin ja auf den Pergamon-Stil übertragen. Inhaltlich zeigt die antike Kunst eine Erweiterung der Themen: neben die mythologischen Stoffe treten später profane und historische, ähnlich wie das in der europäischen Malerei zu sehen ist. Die Darstellung der nackten Frau ist in der archaischen Zeit verpönt und wird danach dort wie hier statthaft. 3j. In der Literatur kommt es wie bei den Griechen so bei den europäischen Völkern nach den Epen der Frühzeit zu einer Klassik. In Athen ist sie stärker gebündelt zwischen Aischylos und Aristophanes, in Europa verteilt sie sich auf einen größeren Zeitraum zwischen Shakespeare und Goethe. Die Lektüre der städtischen Spätzeit ist jeweils der Roman, dort Petron, hier Cervantes. 3k. Das Geistesleben ist bei Griechen wie Europäern zunächst ganz von der Religion geprägt: Im Verlaufe der Zeit kommt es jedoch zu volkstümlichen Protestbewegungen, die auf eine stärker persönliche, emotionale Bindung abzielen und sich gegen die Formalisierung wenden. Spengler parallelisiert das Verhältnis zwischen der olympisch-apollinischen Religion und den orphisch-dionysischen Mysterienkulten mit dem Verhältnis zwischen katholischer Anstaltskirche und den religiösen Neuerungsbewegungen der Reformation. 3l. Daneben hebt Spengler die Analogie in der philosophischen Aufklärung heraus. Bei den Griechen wird sie getragen von den Vorsokratikern und den Sophisten, in Europa von den Philosophen und Naturforschern der Zeit zwischen Kepler und Kant. Beide Male findet Spengler am Ende die großen abschließenden Systeme: Platon und Aristoteles auf der einen; Goethe, Kant und Hegel auf der anderen Seite. Er hätte auch Marx nennen können. Die zentrale Phase wird in Griechenland um die Mitte des 4. Jahrhunderts, in Europa um 1800 abgeschlossen. Die Denk­ systeme vollenden sich gleichzeitig mit dem Staatswesen. 3m. Die nun folgende Abwärtsentwicklung der Spätzeit beider Kulturen wird eingeleitet durch Erschütterungen: in Griechenland durch soziale Unruhen, die zweite Tyrannis und Alexander, in Europa durch die Französische Revolution und Napoleon. Es kommen die starken Männer als Anführer der Massen, die radikalen Volksführer, die ein unzufriedenes, verführbares Großstadtpublikum vorfinden. Die intensive Phase wird durch eine extensive abgelöst. Eine kosmopolitische WeltstadtZivilisation entsteht auf der Basis von Geldwirtschaft, Fernhandel und Technik. Archimedes und Euklid dort, Kepler und Newton hier rücken die mathematischnaturwissenschaftlichen Studien in den Vordergrund. Der Weg vom Nürnberg der Meistersinger nach New York und Moskau ähnelt dem vom Athen des Sokrates nach Alexandria und Rom. In der modernen Weltstadt herrscht das Geld, und es macht für Spengler keinen grundsätzlichen Unterschied, ob die Form dieser Herrschaft ein ptolemäischer Staatssozialismus, eine spätrepublikanische Plutokratie oder aber eine kapitalistische Massendemokratie ist. Die bloße Existenz der voll entwickelten Geldwirtschaft wirft dem, der das Geld verwaltet, auch die Macht in den Schoß.42

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3n. Die neuen, nachfolgenden Machtgebilde entstehen am Rande des kulturellen Mutterlandes. Randmächte der Spätzeit sind Makedonien, die hellenistischen Großreiche und das Imperium Romanum in der Antike; englisches Commonwealth, russisches Reich und Nordamerika in der Moderne. Großraumbildungen werden auch im Zentralraum versucht, scheitern aber zunächst: Napoleon schafft es ebensowenig wie Pyrrhus. Die alte Welt exportiert ihre Kultur: Im Hellenismus lösen sich griechische Denk- und Lebensformen von ihren Trägern und werden zwischen Indus und Atlantik dominant, und dementsprechend wird seit 1800 die europäische Lebensweise international. Politisch wird die alte Welt jedoch abhängig. So wie Griechenland von den hellenistischen Mächten umworben und schließlich von Rom unterworfen wurde, so interessieren sich Amerika und Rußland für Europa und suchen, es unter ihren Einfluß zu bringen. 3o. Die Kunst der Spätzeit ist gekennzeichnet durch einen „Historismus“: So wie seit der hellenistischen Zeit die ältere Kunst als Musterbuch einer Kulturindustrie fungierte, was unsere Archäologen vor Datierungsprobleme stellt, so beginnt mit dem 19. Jahrhundert das umfängliche Kopieren der bekannten Stile im Klassizismus, in der Neugotik, dem Neobarock usw. Es kommt wenig an neuen Ideen, aber viel technische Perfektion hinzu. Daneben zeigt sich ein Zug ins Kolossale und Bizarre. Im Hellenismus haben Künstler das Scheußliche, das Ekelerregende dargestellt, sowohl die Maler43 als auch die Bildhauer – denken wir an die Krüppel im Pergamonmuseum. Man brauchte stärkere Reizmittel. Der Römer Cestius baute sein monumentales Grabmal in Form einer Pyramide, sein Landsmann Eurysaces in Form eines Backofens. Entweder wird geistlos kopiert, oder man ist krampfhaft originell – jedenfalls hat man keinen Stil, der Ausdruck eines Gruppenbewußtseins wäre. 3p. Das Geistesleben der Spätzeit wird von Spengler durch die Verschulung charakterisiert. Die vorsokratischen Philosophen waren Individuen, später ist man Platoniker, Aristoteliker, Epikureer oder Stoiker, so wie man seit dem 19. Jahrhundert Kantianer, Hegelianer, Marxist oder eben Spenglerianer ist. Inhaltlich stimmen die späten Lehren durch ihre Betonung der Ethik überein, wie immer die aussehen mag. Jedenfalls haben die überlieferten Verhaltensnormen ihre Selbstverständlichkeit verloren und weichen diversen Doktrinen. Diese können stärker auf den Dienst an der Gemeinschaft abgestellt sein, wie im Altertum bei Zeno und Marc Aurel, in der Neuzeit Kant und Marx, oder stärker das private Seelenheil im Auge haben, wie bei den Griechen Epikur, in der Neuzeit Schopenhauer. Als herrschende Ansicht der Spätzeit nennt Spengler den Fatalismus und die Wohlstands-Ideologie. Ersterer zeigt sich in der Antike im Schicksalsglauben der Stoa, in der Neuzeit im Fortschrittsglauben von Kant und Marx. Die Zeugnisse für den Wohlstandsgedanken im späten Altertum liefern die verfeinerte Wohnkultur, Straßenbauten, Wasserleitungen, panem et circenses.44 Dem Zirkus- und Bäderwesen in Rom entsprechen Kino und Fußball heute.



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3q. Die Religion der Spätzeit wirkt nicht mehr politisch einheitstiftend wie zuvor. Ein Pluralismus entsteht; exotische und esoterische Kulte werden schick, die Anhänger in jeder Weltstadt haben. Ursprung ist der Orient. Das Festwesen wird säkularisiert, Sport- und Kulturveranstaltungen lösen sich aus ihren alten sakralen Bindungen. Auch in spätgriechischer Zeit wurden noch Tempel gebaut, so wie heute noch Kirchen entstehen, aber der Anteil der Kultbauten am gesamten Bau­ volumen sinkt dort wie hier. Erst ganz zum Schluß kommt es zu einer neuen reli­ giösen Inbrunst, einer „Zweiten Religiosität“, einem Fundamentalismus. 3r. Spengler glaubte, daß die Herrschaft des Geldes dem Cäsarismus unterliegen werde, dem straff organisierten Militarismus der starken Männer. Was diese von der alten Kultur übrig ließen, hinge von Zufällen ab. Jedenfalls sei die Kultur kein echtes Anliegen mehr, sondern bloß noch Freizeitprogramm. Mit der Römerzeit, genau: seit Actium 31 v. Chr., sei die antike Kulturentwicklung abgeschlossen. Was dann komme, seien bloß noch „negerhafte“ Machtkämpfe zwischen einzelnen Caesaren, bei denen es völlig belanglos sei, wer gewinne.45 Für die Gegenwart gelte Entsprechendes: die Welt sei zur Beute geworden. Die Mischung von Zivilisation und Barbarei könne so oder anders dosiert sein, eine kulturelle Weiterentwicklung sei ebensowenig möglich wie in der römischen Kaiserzeit. 1921 beendete Spengler seinen Aufsatz ›Pessimismus?‹ mit dem Satz: „Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar“. Und 1933 beschloß er seine ›Jahre der Entscheidung‹ mit der Aufforderung, die Würfel des großen Spiels zu ergreifen. Der Zweite Weltkrieg stehe bevor.46 Am Untergang des Abendlandes ändert das nichts mehr, er bestand im Übergang von der Kultur zur Zivilisation. Das Ende hat daher eigentlich schon unter Napoleon stattgefunden. Es war bloß ein scholastischer Untergang, doch könnte dem noch ein politischer folgen. Spengler erwartete die „farbige Weltrevolution“, eine „Revolution von außen“, den Einbruch der Dritten Welt aufgrund des Bevölkerungsdrucks.47 Sowohl das späte Griechentum als auch das späte Rom litten an ­Oliganthropie, an Nachwuchsmangel. Es gab immer weniger Kinder. Das Familienförderungsprogramm der Kaiser von Augustus bis Marc Aurel scheiterte. Dagegen vermehrten sich die Barbaren, insbesondere die Germanen, die zunehmend ins Reich eindrangen und Funktionen übernahmen, die sie unentbehrlich machten. Gleichzeitig begünstigte die Frauenemanzipation die Kinderlosigkeit.48 1927 schrieb der selbst ehe- und kinderlose Spengler das Vorwort zu einem Aufsatz des Statistikers Richard Korherr zu dem bedrohlichen Geburtenrückgang in Deutschland.49 3s. Die strukturelle Parallelität zwischen der antiken und der abendländischen Kultur motiviert Spenglers Prognose: „Das Römertum ... wird uns immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft bieten.“50 Die Entwicklung der Antike erhebt Spengler zum Interpretationsmuster auch für die anderen Hochkulturen.51 Er unterscheidet insgesamt deren acht: die babylonische, ägyptische, chinesische, indische, antike, arabische, mexikanische und die abendländische Kultur. Jede,

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die nicht wie die mexikanische „geköpft“ werde,52 durchlaufe einen Lebenszyklus von ungefähr tausend Jahren. In dieser Zeit entfalte sie ihr immanentes Prinzip.53 Eine mögliche nacheuropäische Hochkultur erwartete Spengler zeitweise – ähnlich wie vor ihm Hegel, Lasaulx und Tocqueville – in Rußland. „Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden.“54 Den Marxismus hielt Spengler für eine europäische Überfremdung Rußlands, einen vorübergehenden Irrtum. Jeder Sozialismus ersticke an der Bürokratie. Rußland werde zum Privateigentum zurückkehren.55 3t. Spengler sah die einzelnen Kulturen nicht nur in ihrer formalen Analogie, sondern verstand sie zugleich als Individualitäten. Er spricht von „Kulturseelen“. Sie entstehen zufällig im „zwecklosen Spiel der lebendigen Natur“56 und sind geprägt durch die jeweilige Landschaft, ähnlich der Kulturkreislehre von Frobenius. So gibt es bei Spengler die apollinische Seele der antiken Kultur, die magische der arabischen, die faustische der abendländischen Kultur. Als Seele bezeichnete er das „innere Wesen des lebendigen Seins, etwas, das dem Denken und Forschen unzugänglich bleibt“ und nur erschaut werden kann. „Seele“ ist ihm ein „Wort für Unbegreifliches.“57 Wir denken an die Volksgeister des Idealismus. Jede einzelne kulturelle Erscheinung erklärt Spengler einerseits aus dem Entwicklungsstadium der betroffenen Kultur, andererseits aus ihrem besonderen seelischen Prinzip. Eine Kausalität zwischen den einzelnen Phänomenen bestreitet er, alle sind gleichsam verschiedene Blätter, Blüten und Früchte auf demselben Baum. Spengler deutet alle kulturellen Phänomene als ästhetische Symbole, als Ausdrucksformen der jeweiligen Kulturseele gemäß ihrer momentanen Altersstufe. Er vergleicht die Geschichte mit dem Text einer bisher unverständlichen Sprache, für die seine Theorie die Deutung liefern soll.58 3u. Seine Idee der Kulturseele veranschaulicht Spengler wiederum durch eine Gegenüberstellung von antikem und abendländischem Denken. Im Altertum findet er eine körperhaft-statische, im Abendland eine raumhaft-dynamische Idee hinter den verschiedenen Erscheinungen. Er stellt der griechischen Statue das gotische Tafelbild gegenüber, dem Tempel als Baukörper die Kirche als umbauten Raum. In der Wirtschaft vergleicht er die antike Münze als Wertobjekt mit dem modernen Wechsel als abstraktem Guthaben, in der Mathematik die anschauliche Geometrie Euklids mit der neuzeitlichen Integral- und Differentialrechnung. Jede Kultur habe ihre eigene Mathematik, das jeweils gepflegte Zahlenspiel entspreche dem kultur­ eigenen Formideal.59 Aus dieser „Physiognomik“ ergibt sich die These von der inneren Einheit aller Kulturerzeugnisse einer Zeit und eines Raumes. Die Idee einer allumfassenden Stileinheit, einer Formenverwandtschaft, war in Anlehnung an Nietzsche60 für die materielle Kultur von den Kunsthistorikern der Wiener Schule von Wickhoff, Riegl und Dvorak entwickelt worden und wurde von Spengler auf alle Kulturprodukte ausgeweitet.61 Spengler findet verblüffende Zusammenhänge, etwa dem zwischen Atelierbraun, Protestantismus und Infinitesimalrechnung als



3. Spenglers Hochkulturen

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Abkehr vom Gegebenen oder seine Rückführung von Feuerwaffen, Buchdruck und Entdeckungsfahrten auf das Prinzip der Fernwirkung. 3v. Ein Schwachpunkt in Spenglers System ist seine – später aufgegebene – Ansicht, daß einerseits die Kulturen einflußlos nebeneinander blühen, sich untereinander nicht befruchten und nur durch Mißverständnisse kommunizieren, an­­ dererseits aber als ganze bisweilen nicht ihre eigene, sondern eine fremde Idee verwirklichen. Sein Musterbeispiel ist das von ihm als „magische Kultur“ bezeichnete Millennium nach Christus im Mittelmeerraum. Damals habe die ostmedi­ terrane, von Spengler „arabisch“ genannte Bevölkerung ihr wesensfremde griechisch-römische Kulturformen benutzt, so wie Rußland seit Peter dem Großen in unpassenden europäischen Stiefeln einherzustolzieren versuchte. Um die Idee der kulturellen Einheit zu retten, bedient sich Spengler der aus der Mineralogie entlehnten Metapher der Pseudomorphose. „In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrigbleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhande- nen ausfüllen, und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt. Historische Pseudomorphose nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die fremde Gewalt zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur.“62 3w. Die Idee der kulturellen Pseudomorphose täuscht eine Möglichkeit vor, Spenglers System vor Gegenbeispielen zu schützen.63 Die Geologen sind imstande, arteigene und artfremde Formung von Lava zu unterscheiden, der Historiker indessen vermag Kultur, separat von der Form, in der sie sich ausprägt, nicht zu greifen. Form ist der Kultur nichts Äußerliches. Anders als Lava präsentiert sich Kultur immer erst, nachdem sie Gestalt gewonnen hat. Wer behauptet, eine Kulturseele habe nicht den ihr gemäßen Ausdruck gefunden, der spielt „richtige“ gegen verfälschte, ungemäße Formen aus und setzt damit eine postulierte gegen die realisierte Formgebung. Die Metaphorik der Pseudomorphose soll beglaubigen, daß die Unstimmigkeit nicht Schuld des Schemas, sondern Zufall, Schuld der Geschichte sei. Indes: ungeschehene Geschichte ist plausibel denkbar, ungeschaffene Kultur jedoch nicht. Da Spengler die Historie nicht als Wissenschaft, sondern als Kunst

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begriff,64 sind seine Resultate im einzelnen künstlich. Die magische Kultur entspringt einer Pseudomorphose in anderem Sinne: Der knetbare Stoff der Geschichte paßt sich den Hohlformen des Philosophengehirns an. Spenglers zwieschichtiges Interpretationsmodell, das äußere und innere Form, Kulturerscheinung und Kulturseele, Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl unterscheidet,65 entspricht dem Denkansatz des deutschen Idealismus. Es ist die Vorstellung, daß sich in den Kulturphänomenen höhere Potenzen oder tiefere Kräfte spiegeln. Jeweils untersteht alles gleichzeitige Geschehen einer Kultur einem bestimmten Chronokrator, dem Weltgeist oder – so hier – seinen Abkömmlingen. 3x. Spengler erklärt: „Geschichte ist ein Ganzes von organischer Logik“ und schreibt: „Kultur ist ein Gewächs.“66 Dennoch ist seine Kulturmorphologie kein Biologismus. Darwin mit seinem „Kampf der Regenwürmer“ trifft Spenglers Spott.67 Er verortet die „Welt als Geschichte“ als eigenen Kosmos über der „Welt als Natur“, so wie Frobenius.68 Die Natur liefert nur die Anschauungsformen. So betrachtet Spengler seine Hochkulturen als „höhere“ Organismen, die in „erhabener Zwecklosigkeit“ das Gesetz erfüllen, nach dem sie angetreten.69 Sie besitzen kein System, sondern eine Physiognomie, lassen sich nicht ausrechnen, sondern bloß intuitiv erfassen. Das „idiotische Rassegeschwätz“ der Biologisten verachtete er; „Rassereinheit ist ein groteskes Wort.“70 Auch Spengler spricht von Rassen, aber für ihn sind diese nicht die biologische Grundlage, sondern die Folge von Kulturen. In polemischer Antithese zur herrschenden Rassenlehre erklärte Spengler, ein altägyptischer Isispriester und ein moderner Bankdirektor hätten mehr rassische Gemeinsamkeit als beide mit gleichzeitigen Tagelöhnern. „Zuletzt hat jeder einzelne Mensch und jeder Augenblick seine eigene Rasse.“71 3y. Biologistische Züge sieht Spengler in der Geschichte unter- und außerhalb der Hochkulturen, vorher und nachher. In der Zivilisation herrscht „Zoologie“.72 Sie ist nicht das Ergebnis einer biologischen Degeneration oder einer moralischen Dekadenz, sondern der gesetzmäßig eingetretene Zustand, der aus Altersgründen erloschenen, erstarrten, vollendeten Kultur. Sie kann im Zustand der Geschichtslosigkeit noch Jahrtausende dastehen wie ein toter Baumriese.73 In der Zivilisation geht es nur noch um Geld (als Macht über Sachen), um Technik (als Macht über die Natur) und um Politik (als Macht über Menschen). Dies gilt für die ägyptische Kultur nach der Ramses-Zeit, für die antike Kultur nach Augustus und für die abendländische Kultur in der heutigen Zeit. Hier entscheidet der „Wille zur Macht“, und das klingt nach Darwins struggle for life. Kulturkritik, die ja allenfalls bei Ludwig Klages, Theodor Lessing oder Emil Cioran die eigentliche Kultur meint, sonst aber die Zivilisation trifft, ist in Spenglers System sinnlos. Er predigt nicht: Zurück zur Natur! Zurück zur Tradition! Zurück zur Kultur! Vielmehr forciert er den Marsch vorwärts in die Zivilisation, denn sie ist unser Schicksal. Gleich eingangs zum ›Untergang‹ steht seine Liebeserklärung für die Perfektion der Maschinentechnik und die Aufforderung an die Jugend, lieber Brücken zu bauen statt Gedichte zu schreiben.74



4. Toynbees „Theologia Historici“

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3z. Wie die meisten Geschichtsphilosophen wünschte sich auch Spengler eine praktische Wirkung. Innenpolitisch verband er 1919 ›Preußentum und Sozialismus‹. Er verwarf die parteigebundenen Interessenpolitik der Demokratie, huldigte einem rigoristischen Pflichtgedanken und forderte, ähnlich wie Friedrich der Große, den Dienst am Staate. Außenpolitisch müsse dieser sich militärisch behaupten. Das deutsche Volk habe noch seine „historische Sendung“ zu erfüllen, sei es doch das „unverbrauchteste der weißen Rasse“, allen anderen in seiner „rassemäßigen Gesundheit“ voraus. 1924 erinnerte Spengler die deutsche Jugend an ihre politischen Pflichten.75 Alles Leben sei Kampf um die Macht. Krieg sei unvermeidlich, der Glaube an den ewigen Frieden Altersschwäche. Er selbst war wegen seiner Kopfschmerzen wehrunfähig. Seine anfängliche Sympathie zum Nationalsozialismus führte zu einer Begegnung mit Hitler im Juli 1933 in Bayreuth, bei der Spengler in die hoffnungslose Rolle Platons bei Dionys dem Tyrannen geriet. Er kam nicht zu Wort. Spengler wandte sich von Hitler ab, weil dieser ihm die plebejische Variante des Caesarismus verkörperte; und die Nationalsozialisten lehnten Spengler ab, weil sie vom „Untergang des Abendlandes“ nichts hören wollten.76 Ihr Biologismus hatte andere Wurzeln und trieb andere Blüten als Spenglers Morphologie.

4. Toynbees „Theologia Historici“ 4a. Thomas Mann hat Spengler 1922 den klugen Affen Nietzsches genannt77. Entsprechend könnte man Toynbee mit seiner „Philosophie des Christentums“ den frommen Affen Spenglers nennen. Arnold Joseph Toynbee (1889 bis 1975) war Byzantinist und verdankte seine Vision vom Ende Europas ebenfalls dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs. Toynbee war auch als politischer Publizist78 und Reiseschriftsteller tätig, weniger Grübler als Spengler, mehr belesener Weltmann und bekennender Katholik. Toynbee steht auf dem Fundament der biblischen Offenbarung und erkennt in der Geschichte die Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Sie hat „vom Anbeginn der Zeiten niemals ausgesetzt.“79 4b. Toynbees Hauptwerk ›A Study of History‹ umfaßt zwölf Bände,80 die anders als Spenglers gedankenreiche Interpretation größtenteils bloß Geschichte erzählen.81 Aus diesem Grunde gilt Toynbee – trotz seiner Berufung auf gottgegebene „transrationale“ Einsicht – als „Empiriker“, im Gegensatz zu Spenglers hauseigener Metaphysik. Die lange Entstehungszeit von Toynbees Werk – der erste Band erschien 1934, der letzte 1961 – erklärt die zahlreichen Meinungsänderungen des Autors. Auch er geht aus von abgegrenzten Kulturen – intelligible fields of historical study –, deren er zunächst 21, dann 23 oder 26, und zuletzt 13 annahm. Spengler hatte acht gezählt, bei Huntington sind es 12.82 Der englische Ausdruck civilization verunmöglicht die für Spengler grundlegende Differenzierung zwischen Kultur und Zivilisation, und diese Unterscheidung wird überdies von Toynbee abgelehnt. Shakespeare und Shampoo fallen bei ihm dieselbe Kategorie.

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4c. Ebenso wie der späte Spengler83 mit seinen a-, b-, c-Kulturen unterscheidet Toynbee mehrere Kulturtypen. Von seiner ursprünglichen Dreigliederung hat er die zweite Form, die „steckengebliebene“ Kultur (Arrested Civlilization), aufgegeben – dazu rechnete er Spartaner, Osmanen und Eskimos – und nur noch die erste, die „ausgewachsene“ Kultur (Full-blown Civilization), und die dritte, die „totgeborene“ Kultur (Abortive Civilization), beibehalten. Die „ausgewachsenen“ Kulturen unterteilt er abermals in selbständige und abhängige Kulturen (Satellitenkulturen). Als Sonderformen erscheinen das chinesische Universalstaatsmodell, das – heilsgeschichtlich privilegierte – jüdische Diasporamodell (Syriac Civilization) und die Hochreligionen. Mit dieser differenzierten Typologie gefährdet Toynbee den Typenbegriff, der ja in gewisser Weise Gleichartiges zusammenfaßt, und nähert ihn dem Individualitätsbegriff des Historismus. 4d. Dennoch bietet Toynbee das Normalschema eines Kulturverlaufes. Aufgebaut wird eine Kultur durch eine schöpferische Minderheit, die auf eine äußere Herausforderung positiv reagiert. Alle großen Leistungen sind das Verdienst einzelner Menschen. Irgendwann kommt es indessen zu einem „Sündenfall“ der Gesellschaft, der bald als moralisches Versagen, bald als biologisch erlahmende Schöpferkraft, bald psychologisch als Seelenschisma, als kulturelle Schizophrenie gedeutet wird. Sie äußert sich meist in machtbesessener Hybris, in kritik- und phantasieloser Selbstgefälligkeit. Toynbee spricht von blasphemischer Selbstvergötzung. Die Folge ist unwiderruflicher Verfall. 4e. Nach der Hybris kommt die Nemesis. Aus der schöpferischen Minderheit wird eine herrschende Minderheit, die aus vergangenen Leistungen gegenwärtige Vorrechte ableitet und damit künftige Leistungen blockiert. Die denkende Elite zieht sich in die Philosophie zurück, Philosophie aber ist für Toynbee ein Dekadenzprodukt des Glaubens. Es entsteht das innere Proletariat und verbündet sich mit dem äußeren Proletariat. Toynbee hat wieder die Antike vor Augen: die Sklaven paktieren mit den Barbaren, wie dies die Marxisten behaupten haben.84 Es folgen hoffnungslose Restaurationsversuche nach dem Muster: Fliehen – Sammeln – Fliehen – Sammeln.85 4f. Der Verfall ist gewöhnlich schuldhaft. Er kann sehr früh beginnen und sehr lange dauern. Im Alten Ägypten läßt Toynbee ihn bereits mit dem Ende der „menschenverachtenden“ Erbauer der Pyramiden um 2000  v. Chr. einsetzen, in der Antike beginnt er mit dem griechischen Bruderkrieg unter Perikles, in Deutschland mit der und durch die Reformation und dem Einmarsch Friedrichs des Großen in Schlesien. Europa insgesamt verfällt allerdings erst seit 1914. Die Dekadenz dauert in Ägypten zweitausend Jahre, in der Antike tausend, in Deutschland bisher fünfhundert. Am Ende einer Kulturentwicklung steht eine Erstarrung, oft in der Form eines Universalstaates. So entstehen „fossile“ Kulturen wie in Ägypten und China. 4g. Die organologischen Metaphern, mit denen Spengler die Entwicklung der Kulturen beschreibt, begegnen ebenso bei Toynbee. Die Gesellschaftskörper, d. h. die Träger der Kulturen, werden geboren, lassen ihre Kindheit hinter sich, wachsen



4. Toynbees „Theologia Historici“

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und reifen, machen Krankheiten durch, gegen die sie Heilmittel anwenden, die bisweilen schlimmer als das Leiden sind. Kulturen werden alt und gebrechlich, sie sterben und werden von den Trägern der Folgekulturen begraben. Nichtsdestotrotz kennt Toynbee auch kulturellen Selbstmord, so die drei genannten Fälle. Daneben rechnet Toynbee mit der Wiedergeburt einer Kultur, bisweilen Jahrhunderte nach dem ersten Kulturtod. Das ergibt dann ein progressives Mutter-Tochterverhältnis wie zwischen dem heidnischen Hellas und dem christlichen Byzanz. 4h. Trotz seiner naturalistischen Sprache will Toynbee, anders als Spengler, kein Determinist sein. Zwar unterstehe auch die Geschichte den Naturgesetzen, doch könne der Mensch diese überlisten, wenn er sich – wie Toynbee das empfiehlt – unter das christliche Gottesgesetz stelle.86 Er glaubt, daß eine Kultur durch die Beschlußfassung in freier Entscheidung ihrer Träger zustande komme. Das ist deswegen schwer annehmbar, weil dieses Volk eine Vorstellung von seiner Kultur haben müßte, bevor diese ans Tageslicht tritt. Toynbee erklärt dies mit der darwinistischen Dialektik von Umwelt und Anpassung in der Sprache des Duells als calumnia und responsio, englisch challenge and response. Auf die (beleidigende) Herausforderung durch (irgendeine) innere oder äußere Gegebenheit, die „Ansprache Gottes“, folgt die (angemessene oder verkehrte) Reaktion der Menschen. Toynbee schulmeistert die Geschichte so wie Spengler, der richtige und falsche Sieger unterschieden hatte,87 ohne freilich die Menschen moralisch zu bewerten, wie Toynbee das durchgängig tut. Wenn man Spengler vorwerfen muß, daß die Kulturseele, aus der er das Verhalten ableitete, nicht greifbar ist, dann muß man Toynbee entgegenhalten, daß sein triviales Schema von challenge and response nichts erklärt – denn immer sind wir in irgendeiner Lage, auf die wir irgendwie reagieren. 4i. Ein entscheidender Unterschied zu Spengler ist Toynbees Glaube an einen universalen heilsgeschichtlichen Fortschritt. Er führt vom Untermenschen zum Übermenschen, vom Pithecanthropus des Pleistozäns mit unaufhaltsam zunehmender Gottähnlichkeit des Homo sapiens zu der in der Bibel verheißenen Gemeinschaft der Heiligen am Ende der Zeiten. Die mit der Kulturmorphologie verbundene Zyklik wird durch das Bild des Wagenrades zu einer Vorwärtsbewegung erweitert. Der Kreislauf der Kulturen bringt die Religion, so wie Räder den „Triumphwagen“ der Menschheit, dem Himmel näher.88 Toynbee benutzt Hegels Denk­ figur einer progressiven Sequenz von Untergängen. Die Religionsgeschichte sei die „einzig ununterbrochene Aufwärtsbewegung“, ein universalhistorischer Prozeß der Erleuchtung,89 und deren Endziel gemäß dem „göttlichen Heilsplan“ eine humanitär-christliche Weltreligion, bereichert um buddhistisches und chinesisches Gedankengut, wie es der Jesuit Matteo Ricci um 1600 in Peking angestrebt habe. Toynbee hofft auf ein „neues Römisches Reich“. Dies sei der „historische Zweck“ der abendländischen Kultur: eine soziale Weltordnung, getragen von der universalen katholischen Kirche. So steht sie vor uns: „bewaffnet mit dem Speer der Messe, dem Schild der Hierarchie und dem Helm des Papsttums.“90

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4j. Toynbee vertrat mit seiner „Theologia Historici“ eine säkulare Eschatologie. Nationalismus und Militarismus müßten im Zuge seelischer Gesundung überwunden werden, um dem bevorstehenden Kingdom of God Raum zu schaffen.91 Gott werde siegen, entweder mit der alten oder mit einer neuen Schöpfung. Durch Reue und Gebete „mit gebrochenem Herzen“ könnte den Europäern von Gott noch eine Gnadenfrist gewährt werden, so daß deren Errungenschaften in das künftige ewige Reich der himmlischen Gnade Eingang fänden. Toynbees Menschenwelt ist eine „Provinz im Reich Gottes“, und „nicht einmal die wichtigste.“ Die anderen, vermutlich von Engeln bevölkerten Provinzen fallen nicht mehr in die Zuständigkeit des Geschichtsphilosophen.92 Toynbee orientiert sich an Bossuet.93 War jener der vorletzte, ist Toynbee – neben Berdjajew – der vorläufig der letzte Kirchenvater.

5. Eine Relativitätstheorie der Kultur 5a. Am 17. Februar 1920 bezeichnete Stefan Zweig Einstein und Spengler als „die einzigen, die unsere Hoffnungen in dieser traurigen und trüben Zeit gerettet haben.“ Der Vergleich mit Einstein wurde mehrfach gezogen.94 Ist doch Spenglers Morphologie so etwas wie eine Relativitätstheorie der Kultur. In den frühen zwanziger Jahren tobte der „Streit um Spengler“,95 dessen Ausgang offen blieb – geistesgeschichtliche Grundsatzkontroversen werden nicht entschieden, sondern legen sich. Noch 1934 schrieb Gottfried Benn: „Wir leben im Zeitalter der Kulturmorphologie“,96 doch nach 1945 verdunkelte Toynbee den Ruhm Spenglers. Allerdings nur vorübergehend. 5b. So erklärte Carl Friedrich von Weizsäcker 1948, daß Spenglers Lehre „einen Teil der Wahrheit unbestreitbar“ ausdrücke, aber zu ergänzen sei. Die Kulturen seien in einen Gesamtverlauf einzubetten, in die sich „ausbreitende äußere Zivilisation“, und die „Fragen nach den Ursachen und nach dem Sinn des Geschehens“ dürfe man nicht ausklammern.97 Ersteres entfiel infolge Spenglers Kulturbegriff; letzteres wies er zurück angesichts des Kulturvandalismus der Spanier in Mittelamerika. „Wenn irgendwo auf Erden, so wurde hier gezeigt, daß es keinen Sinn in der Menschengeschichte ... gibt.98 5c. Verdiente Kritik erfuhr Spenglers These, daß Kontakte zwischen den Kulturen immer nur Mißverständnisse erzeugten, weil uns Fremdseelisches jenseits der Kulturgrenzen grundsätzlich unzugänglich sei. Beruht somit der ungeheure Einfluß antiken Geistesgutes auf das Abendland auf einem einzigen Irrtum? Daß Platon und Euklid immer nur mißdeutet worden seien, kann Spengler doch nur behaupten, wenn zumindest er selbst sie richtig interpretiert und damit voraussetzt, daß eine kulturübergreifende Verständnismöglichkeit durchaus besteht. Hier hat Spengler sich selbst nicht begriffen. 5d. Spenglers Konzeption berührt sich in vielfältiger Weise mit älteren Geschichtsphilosophien. Von Goethe übernimmt er die Methode anschauender „Physio­gno­



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mik“ und die Vorliebe für das Präfix „Ur-“; von Nietzsche borgt er die Perspektivität historischer Sicht und den „Willen zur Macht“ als Gütesiegel des faustischen Menschen. Mit dem deutschen Idealismus versteht er das Geschehen als Ausdruck höherer Potenzen, zwar nicht des Weltgeists oder der Volksgeister, aber der jeweiligen ­Kulturseele. Historistisch ist Spenglers kulturimmanenter Entwicklungsgedanke und sein relativierendes Individualitätsprinzip, biologistisch immerhin seine Vorstellung von „höheren Organismen“, darwinistisch seine Idee vom bevorstehenden Kampf um die Weltmacht, apokalyptisch sein Untergangsthema, formuliert nach Otto Seecks ›Geschichte des Untergangs der antiken Welt‹ von 1895. Nicht jedermanns Sache ist Spenglers heroisch gemeinter Kommandoton, der ebenso gewöhnungs­ bedürftig ist wie der Predigerstil Toynbees. 5e. Offener als andere Geschichtsphilosophen bekennt sich Spengler zum Fatalismus. Sein Schlußspruch – übernommen von Kant oder Schopenhauer99 –ist ein von Cicero latinisierter Vers des Stoikers Kleanthes, den ein Brief Senecas überliefert: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Frei übersetzt: „Willigen wir ein, so führt uns das Schicksal an der Hand, willigen wir nicht ein, so reißt es uns an der Kette.“ Schicksal ist das, was wir nicht ändern können, also das Vergangene. Ändern können wir Gegenwärtiges. Was möglich ist, erfahren wir durch den Versuch, nicht durch die Lektüre prophetischer Bücher. Daher empfiehlt sich eher eine andere Maxime aus demselben Seneca-Brief. Optimum est pati, quod emendare non possis.100 „Den Zustand, den du nicht verbessern kannst, den ertrage am besten in Geduld.“ Aber nur den.

Die Weltgeschichte, die sich dünkt was Rechtes, ist die Zoologie des Menschengeschlechtes. Grillparzer

XIV. Geschichtsbiologismus a. Auf der Germanistenversammlung zu Frankfurt im September 1846 sprach Jakob Grimm „Über den Wert der ungenauen Wissenschaften“. Damit meinte er die Philosophie, die Jurisprudenz, die Geschichte und die Kulturwissenschaften überhaupt. Sie standen damals in der Defensive gegenüber den aufstrebenden exakten Disziplinen, namentlich der messenden Naturforscher und zählenden Sozialtechniker, die präzisere Resultate und höheren Nutzwert versprachen. Demgegenüber betonte Grimm, daß die Geisteswissenschaften nicht, modern gesprochen, versierte Technokraten, sondern verantwortungsbewußte Persönlichkeiten erziehen, Bildungswerte vermitteln wollten. Und dazu bedürfe es der Wissenschaften vom Menschen, der sich allein im Spiegel der Kulturgeschichte selbst erkennt. b. Dies zu leisten beanspruchten nämlich ebenso die quantifizierenden Wissenschaften. Die progressive Soziologie von Auguste Comte nahm die Physik zum Muster der Historie;1 Karl Marx fand in der Ökonomie den Schlüssel zur Geschichte,2 und die nun zu besprechenden Autoren wollen das menschliche Handeln von der Biologie her begreifen. Der für diese Variante der Anthropologie übliche Begriff „Biologismus“ stammt von Heinrich Rickert (1863 bis 1936).3 Alle drei Denkrichtungen: Soziologismus, Materialismus und Biologismus deuten den Menschen und seine Kultur naturwissenschaftlich. Sie verstehen sich selbst als strenge, den Schwärmereien der Aufklärer und den Spekulationen der Idealisten überlegene „genaue“ Wissenschaften. Freilich haben diese Disziplinen immer dann, wenn sie zu umfassenden Synthesen schritten, Anleihen bei Hegel gemacht. So gleichfalls der Biologismus. c. Wie alle Geschichtsmodelle so hat auch der Biologismus eine lange Vor­ geschichte. In der Frühzeit hat der Mensch offenbar keinen grundsätzlichen Unterschied gegenüber den Tieren empfunden. Tiere erscheinen als Gott, Dämon und Ahne des Menschen.4 In Mythen und Märchen, in Fabeln und Redensarten handeln Tiere wie unseresgleichen. Auch in der Politik gilt das Gesetz der Natur und das Sprichwort „Die großen Fische fressen die kleinen.“ Polybios kennzeichnet damit die Eroberungslust der Diadochen.5 d. Der Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch entspricht die Parallele von der natürlichen Ungleichheit: wie unter Tieren so unter Menschen. Schon Theognis von Megara im 6. Jahrhundert v. Chr. klagte darüber, daß zwar bei der Zucht von Schafen und Eseln nur die besten Exemplare zur Paarung zugelassen würden, bei



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den Menschen aber bloß auf Mitgift und Morgengabe geschielt und damit die Bürgerschaft verdorben werde. Platon forderte Zuchtwahl. Es sei lächerlich, wenn die Menschen sich Mühe gäben, leistungsfähige Jagdhunde und Kampfhähne heran­ zuzüchten, ihren eigenen Nachwuchs aber dem Zufall überließen. Daher soll- ten Elternpaare mit Überlegung zusammengestellt und von den Kindern nur die kräf­tigeren aufgezogen werden, ähnlich wie das in Sparta geschah.6 Beides, meinte Platon, müsse wegen der weitreichenden Folgen in die Hände des Staates gelegt ­werden. e. Der Gedanke einer biologischen Ungleichheit der Menschen hat seinen bedeutsamsten Ausdruck im antiken Barbarenbild gefunden. Der Terminus barbaros ist gemäß Strabon lautmalend, er bezeichnet in der Ilias einen Menschen, der eine unverständliche Sprache spricht.7 Später ist er auf eine urtümliche Lebensweise bezogen worden, von der Herodot und die Fortschrittstheoretiker meinten, daß man sie ablegen könne zugunsten einer zivilisierten griechischen Lebensart. Muster ist der Skythe Anacharsis, der sogar unter die Sieben Weisen gerechnet wurde.8 „Barbar“ ist hier eine historische und kulturelle Kategorie, keine biologische. Platon und Aristoteles behaupteten jedoch, das Barbarentum sei natürlich begründet; sie sprachen von geborenen Barbaren, die Sklavenseelen besäßen. Seitdem finden wir in der Antike zwei gegensätzliche Menschenbilder: das stoisch-christliche Konzept von der Einheit und Gleichheit aller Menschen und die Zweiteilung in Kulturmenschen und Barbaren.9 f. Der Barbarentopos ist in der Spätantike jedoch von christlichen Autoren aufgegriffen worden, indem Prudentius den Unterschied zwischen Römern und Barbaren, Gregor von Nazianz den zwischen Orthodoxen und Häretikern dem Unterschied zwischen Menschen und Vierfüßlern gleichsetzte. Das aber blieb Ausnahme. Augustin betonte, daß die Tiere mit den Menschen nicht durch die Vernunft (ratio) verbunden seien. Gott habe sie zum Nutzen der Menschen geschaffen. Die Tiere besitzen nach christlicher Auffassung nicht nur keine Vernunft, sondern auch keine Seele. Sie sind nicht der Erbsünde verfallen, werden nicht erlöst und kommen nicht ins Reich Gottes. Sie sind ja auch nie aus dem Paradiese vertrieben worden. Insofern wurde in der christlichen Denktradition das Distanzgefühl des Menschen zum Tier vertieft.10 g. Sah die archaische Frühzeit den Menschen im Tier, so entdeckte die moderne Wissenschaft das Tier im Menschen. Der Unterschied verschwand 1748 in dem Buch ›L‘homme machine‹ von Lamettrie. Er beschrieb den menschlichen wie den tierischen Organismus als mechanisches Getriebe. Damit liegt die Grundvoraussetzung des Biologismus und der Sozialanthropologie vor: die Annahme, daß der Mensch, sein Verhalten, seine Geschichte begriffen werden müsse und hergeleitet werden könne aus seiner körperlichen Verfassung, aus seiner Zugehörigkeit zum Tierreich. Der Geist wird zur Funktion der Keimzellen, die Geschichte zum Appendix der Phylogenese, die Historie zu einem Kapitel der Verhaltensforschung.

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XIV. Geschichtsbiologismus

1. Gobineau und die Arier 1a. Die erste biologistische Deutung der Menschheitsgeschichte lieferte Joseph Arthur Graf Gobineau (1816 bis 1882). Er stammte aus normannischem Adel und leitete seine Familie von Odin her. Gobineau war Diplomat und Weltreisender, zeitweilig amtierte er als Gesandter von Napoleon III in Persien, wo ihm Gemeinsamkeiten der arischen Rasse bewußt wurden. Der Begriff „arisch“, verwandt mit dem Namen „Iran“, ist eine seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. belegte persische Selbstbezeichnung des Kriegeradels. Die auf der Sprachverwandtschaft beruhende Indogermanenthese Franz Bopps (1791 bis 1867) wurde von der persischen Intelligenz benutzt, um ihre Verbindung mit Europa zu unterstreichen. Der Staatsname „Iran“ wurde in Persien 1934 eingeführt, als in Deutschland die Arier Konjunktur hatten. 1b. Gobineau verfaßte 1853/5 sein vierbändiges Werk ›Essai sur l‘inégalité des races humaines‹. Er wollte die Geschichte zu einer Naturwissenschaft machen, ähnlich wie Auguste Comte vor ihm und Thomas Buckle nach ihm. Il s‘agit de faire entrer l‘histoire dans la famille des sciences naturelles, de lui donner ... toute la précision de cette classe de connaissances. Gobineau entdeckte in der Geschichte zehn Grandes civilisations: 1. Indien. 2. Ägypten, 3. Assyrien, 4. Hellas, 5. China, 6. Rom, 7. Germanien und 8.–10. Alt-Amerika. Alle diese Kulturen seien von Weißen geschaffen oder doch angeregt worden; alle außer der assyrischen Kultur, die wie Inder- und Phöniziertum semitisch geprägt sei, gingen auf Arier zurück. Ägypten und China seien von Indien inspiriert und die altamerikanischen Zivilisationen von China und Europa.11 1c. Aus der Kulturgeschichte entnahm Gobineau, daß die weißen Menschen, insbesondere die Arier, den schwarzen und „gelben“ aufgrund einer erblichen Anlage an Schönheit und Klugheit überlegen seien. Diese Auffassung vertraten seit dem 18. Jahrhundert auch andere Autoren, so Immanuel Kant.12 Den Ursprung der verschiedenen Rassen leitete Gobineau noch streng christlich aus der Völker­ tafel Noahs im Alten Testament ab.13 Das Wort race kam um 1500 ins Französische aus dem spanischen raza, das aus arabisch ras – Kopf abgeleitet wird. Im Deutschen findet sich „Rasse“ seit Kant 1775 im Sinne von „Varietät“ einer biologischen Art. Im Unterschied zu Arten paaren sich Angehörige verschiedener Rassen und vermischen sich dadurch. 1d. Gobineau gründete auf die Rassenunterschiede seine Kulturphilosophie. Im Laufe der Geschichte entfalte jede Rasse die ihr artgemäße Kultur. Durch Rassenzüchtung wird die Schaffenskraft erhöht, durch Rassenmischung wird sie vernichtet. Am Anfang jeder höheren Kultur stehe die Überlagerung einer Sklavenrasse durch eine Herrenrasse. Das läßt an Hegel denken. Dann aber komme es zur mésalliance und zur dégéneration. Alle zehn Zivilisationen hätten das erlebt. Das Muster für den Verlust des Erbgutes war für Gobineau der Untergang Roms. Die antike Kultur sei entstanden, nachdem sich die Nordvölker über die mediterranen Pelasger



2. Darwin und die Evolution

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geschoben hätten, und sei erloschen, als sich die edle Herrenrasse mit den min­ derwertigen Sklaven vermischte. Schließlich seien die biologisch degenerierten Römer den rassereinen Germanen unterlegen, doch drohe heute auch diesen der unweigerliche Marsch in den Abgrund. Die Rassereinheit lasse sich nicht aufrechterhalten. 1e. Nach den optimistischen Geschichtsphilosophien der Aufklärung, des Idealismus und des Materialismus wird hier zum ersten Mal eine kompromißlos pessimistische Theorie vertreten. Der einzige Lichtblick schien Gobineau die Ausbreitung des Christentums, es bringe den Völkern das Seelenheil, nicht aber die Kultur. Das Christentum schien kulturell indifferent, der Buddhismus eine Perversität, der Patriotismus eine kanaanäische Monstrosität, Gerechtigkeit ein Hirngespinst, Kunst eine Hure und Verführerin, Nächstenliebe eine sentimentale Illusion14. Gobineau endet in der Erwartung eines – hoffentlich heroischen – Untergangs. Das Ende der Geschichte sei mit der Vollendung der Rassenmischung erreicht, wenn eine allgemeine mittelmäßige Gleichheit herrsche. Die Untergangsvision gefiel Richard Wagner. Sein „Herzenswunsch“ war, das „Racenbuch verdeutscht und in unserem Lande eingebürgert zu sehen“. Dieser Wunsch wurde 1898 bis 1901 von Ludwig Schemann unter dem Titel ›Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen‹ erfüllt. Im ›Ring des Nibelungen‹ hatte Wagner die Idee Gobineaus auf die Bühne gebracht,15 die ›Götterdämmerung‹ ist der gelungene grandiose Untergang.

2. Darwin und die Evolution 2a. Gobineau war kein Fachgelehrter, anders Charles Darwin (1809 bis 1882).16 Sein 1859 vorgelegtes Hauptwerk ›On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life‹, hat in der Biologie Epoche gemacht. Der Titel identifiziert Rassen mit Arten und bietet für deren Vielfalt, ihr Bestehen und Vergehen eine Erklärung mit Hilfe der Selektionstheorie. 2b. Darwin hat die Biologie historisiert, so wie das 19. Jahrhundert alles historisierte, seitdem Kant 1755 in seiner ›Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels‹ das stabile Sonnensystem Newtons in seiner Entstehung erklärt und seinen Untergang vorausgesagt hatte.17 Die Geschichtlichkeit der Natur vertrat schon Anaximandros von Milet um 560 v. Chr. Er erklärte die Entstehung des Lebens aus dem Feuchten; die Fische seien an Land gestiegen und hätten sich im Laufe der Generationenfolge in Menschen verwandelt.18 Aufgegriffen wurde dies in der Neuzeit bei Robinet 1761 und Herder 1784.19 Dessen Annahme einer aufsteigenden Linie wachsender Ähnlichkeit aller Lebewesen mit dem Menschen akzeptierte Kant 1785, doch die naheliegende Schlußfolgerung auf eine gemeinsame Abstammung verwarf er. Dies „würde auf Ideen führen, die so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt.“20

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2c. Diese Scheu hatte Jean de Lamarck 1809 in seiner ›Philosophie zoologique‹ nicht. Er ging davon aus, daß, so wie nach der Bibel alle Menschen von Adam und Eva abstammen, in der Natur alle Lebewesen Nachkommen eines gemeinsamen Urahns seien. Lamarck erkannte, daß die gegenwärtige Artenvielfalt nach und nach entstanden ist, so wie in der Bibel zuerst die Pflanzen, danach die Tiere und zuletzt der Mensch geschaffen wurden. Darwin hat diese Erkenntnis popularisiert. Er ersetzte die Schöpfungswoche durch die Stammesgeschichte, die Phylogenese. 2d. Die Vervielfältigung erklärte Darwin mit der Änderung im Erbgut einzelner Exemplare einer Art durch erworbene Eigenschaften. „Änderungen der Gewohnheiten bringen eine erbliche Wirkung hervor“,21 wie schon Lamarck erkannte. Deren Vermehrung führt zum struggle for life, zum „Kampf ums Dasein“. Diesen schon von Leibniz und Herder vertretenen Gedanken entnahm Darwin dem ›Essay on the Principles of Population‹ von Thomas Robert Malthus (1798). Dessen These vom struggle for existence unter den sich vermehrenden Menschen auf begrenztem Raum, den britischen Inselkomplex, übertrug Darwin auf die Tiere und die Pflanzen. Sah die Romantik in der Natur ein harmonisches Miteinander der Geschöpfe, ein Bild des Friedens, erkannte Darwin dort einen permanenten Kriegszustand sowohl zwischen den Angehörigen der gleichen Art im Interesse der je eigenen Reproduktion als auch zwischen Arten mit gleichem Ressourcenbedarf zum Zwecke der Ausbreitung. Der Daseinskampf führe zur natural selection, der natürlichen Auslese, und – nach der Formel von Herbert Spencer – zum survival oft the fittest. Die ausgestorbenen Arten, heißt es, hätten sich dem Konkurrenzkampf nicht gewachsen gezeigt, waren demzufolge biologisch minderwertig. Das „amüsierte“ Marx. Am 18. Juni 1862 schrieb er an Engels, Darwin erinnere ihn „an Hegel in der ›Phänomenologie‹, wo die bürgerliche Gesellschaft als geistiges Tierreich“ erscheint, „während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert.“22 Marx stand dem Gedanken nicht fern. 2e. Da bei Darwin die Arten nicht seit dem Paradies vorhanden sind – so noch Linné 1735 –, sondern in langen Zeiträumen durch Erbfolge entstanden, wird die Geschichte der lebendigen Natur als Evolution gedeutet.23 Das Wort e-volutio liegt der Lehnübersetzung Ent-wicklung zugrunde und bezeichnet ursprünglich die Auswicklung eines volumen, einer Buchrolle, ähnlich dem Begriff explicatio.24 Dessen bewußt, verwendete Kant „Auswicklung“ anstelle von „Entwicklung“. Bei der evolutio im Ursinne haben wir es mit einem Schreiber, einem Medium und einem Leser zu tun. Diese drei Größen verschmelzen in der Evolution. Die Natur wird nicht entwickelt, sondern sie entwickelt sich selbst kraft einer eingebauten Motorik, sie erfordert weder einen Gott (als Schreiber) noch einen Biologen (als Leser), beide werden sozusagen vom Medium absorbiert, ihre Funktion verschwindet. Der Text einer Buchrolle steht fest, bevor sie ausgewickelt wird und gibt sich nur im Vorgang des Lesens nach und nach zu erkennen. Das Evolutionsgeschehen hingegen ist inhaltlich nicht im Voraus festgelegt. Eine Buchrolle ist irgendwann ganz ausgewic-



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kelt, und nur was irgendwann entwickelt ist, entwickelt sich. Ein Abschluß der Evolution aber ist nicht erkennbar. 2f. Der Inhalt eines Buches muß keine folgerichtige Erzählung sein. Dagegen rechnet die Evolutionstheorie mit einer gerichteten Bewegung. Sie zeigt die Entstehung immer neuer, darunter immer komplexerer Lebewesen. Deren Vermehrung wird jedoch gemäß der Selektion durch eine gleichzeitige Verminderung konterkariert. Nach neueren Schätzungen stehen den etwa 3 Millionen lebenden Arten 600 Millionen ausgestorbene gegenüber, das sind 99,5%25. Unsicherheit besteht hinsichtlich des Artenbegriffs und bezüglich der Tatsache, daß nicht alle lebenden und erst recht nicht alle fossilen Organismen bekannt sind. Die Vermehrung der Arten erfolgt mithin nur sukzessiv auf dem Papier, nicht parallel in der Natur. Der Stammbaum der Artenentwicklung ist ein Baum mit ganz überwiegend toten Ästen. Darwin selbst hat ihn gezeichnet.26 2g. Die Komplexität im Bau von Organismen hat in der Ahnenreihe vom Einzeller zu Einstein zugenommen. Sie wird als „Höherentwicklung“ oder Anagenese verallgemeinert und positioniert den Menschen auf der höchsten Stufe der Leibniz’schen scala naturae. Die höchste Stufe aber ist nicht die letzte. Das lehren die nach dem Menschen entstandenen, weniger komplexen Arten, etwa unter den Insekten. Höhere Komplexität garantiert zudem nicht eine gesteigerte Überlebensfähigkeit. Je schneller sich die Menschheit vermehrt und modernisiert, desto eher sind ihre Subsistenzmittel verbraucht. Ob die Lebensdauer des Menschen als Spezies je die über 200 Millionen Jahre des Süßwasserkrebses (Triops cancriformis)27 erreichen wird, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich aber überleben uns die Ratten oder Ameisen, auf die dann die Krone der Schöpfung übergeht. 2h. Sehen wir ab von der Selbsterhöhung des Menschen zum Non plus ultra der Evolution, findet sich in der Stammesgeschichte kein telos, wie es der Entwicklungsbegriff sprachgeschichtlich voraussetzt. Denn er wurde zunächst von der Buchrolle auf das einzelne Lebewesen übertragen, dessen Entwicklung ein zielgerichteter Vorgang ist und in der Phase der Fruchtbarkeit ihren Höhepunkt, ihr telos findet. Das ist die aristotelische entelecheia. Dagegen führt die „Evolution“ ins Blaue, ist planlose Veränderung, immer neue Anpassung an immer neue Umstände, ist permanente Metamorphose. In der Lebenswelt vervollkommnet sich nichts, alle biologischen Arten tragen, wie schon Nietzsche bemerkte, ihr Entwicklungsziel in sich, in ihrer eigenen Lebensfähigkeit.28 Die Natur ist zu jedem Zeitpunkt komplett, immer perfekt; Ranke würde sagen: jedes Stadium der Evolution ist unmittelbar zu Gott. 2i. Darwin aber sah das anders. Er verstand die Stammesgeschichte als Fortschrittsprozeß, denn er glaubte, der Daseinskampf „verbessere“ die „Rasse“, da die siegbringenden Eigenschaften sich vererbten. Als unbewußter Hegelianer vertrat er eine Theodizee der Natur, eine Biodizee. Denn 1859, am Ende seines Buches, schreibt er: as natural selection works solely by and for the good of each being, all corporal and mental endowments will tend to progress towards perfection. Darwin überträgt

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mit der Optimierung wieder einen Gedanken aus der Kulturgeschichte auf die Biologie. Progressive Perfektion ist naturhistorisch sinnlos, alle Organismen sind ihrer Umwelt bereits hinreichend angepaßt. Anders der Mensch, dessen geistige Begabungen allerdings einer Vervollkommnung – vielleicht fähig, sicher aber bedürftig sind. Mit seinem hier gezeigten Optimismus vollzog Darwin eine metabasis eis allo genos, den Übergang zur Teleologie, zur Geschichtsphilosophie. Darin folgt er Kant. Dieser hatte 1784 mit Blick auf den Menschen erklärt: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“, d. h. im Laufe der Geschichte gemäß der „teleologischen Naturlehre“, ohne welche es nur das „trostlose Ungefähr“ einer „zwecklos spielenden Natur“ gebe.29 Darwin vertrat eine Teleologie in Richtung einer ästhetischen „Vollkommenheit“, während die moderne Biologie von „Teleonomie“ spricht, die Änderung zum Nutzen der Arterhaltung annimmt.30 Sie endet jeweils kurz vor dem Aussterben der Art. Dies ist ihr telos. 2j. Im Jahre 1871 erschien Darwins Buch über die Abstammung des Menschen. Darin heißt es: „Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch auf seine jetzige Höhe durch einen Kampf um seine Existenz gelangt ... und wenn er sich noch höher entwickeln soll, muß er einem harten Kampf unterworfen bleiben. Sonst würde er in Indolenz versinken.“ Friede schwächt die Rasse. Der Kampf geht um Lebensraum und Lebensmittel, geht gegen die Unbilden der Natur und gegen andere Rassen, so daß Darwin im Kapitel 5 von Teil I unfreiwillig die biologische Rechtfertigung für Gobineau lieferte. Auch Darwin betonte die Ungleichheit der Menschenrassen und bescheinigte der kaukasischen, d. h. der weißen Rasse, kulminierend in den Europäern der victorianischen Ära, die höchste Stellung. Die „Wilden“ in Feuerland und sonstwo, denen Monotheismus, Monogamie und höhere Moral fehlten, erscheinen bei Darwin als Halbaffen. Innerhalb der weißen Rasse differenziert er nochmals zwischen den sittlich hochstehenden, durchgeistigten „Sachsen“ (den Briten) und den „sorglosen, schmutzigen Kelten“ (den Iren). 2k. Diese Differenz bestand nicht immer. Alle Zivilisierten waren einst Barbaren. Der Fortschritt beruht laut Darwin primär biogenetisch auf der Vererbung von körperlichen, geistigen und moralischen Eigenschaften und Gewohnheiten und basiert sekundär tradigenetisch31 auf Überlieferung durch die anregende Eindruckskraft von Glanzleistungen eventuell kinderloser Genies. Das führe zum Sieg der höheren Rassen über die niederen, so wie „noch heute“ die zivilisierten Völker aufgrund ihrer geistigen Überlegenheit überall die „Wilden“ zurückdrängen. Diese sozialdarwinistische Szenerie, praktiziert im britischen Kolonialismus, sei der Normalzustand der Menschenwelt seit Urzeiten und führe weltweit zu einer Zunahme der Sittlichkeit. Innerhalb der bereits zivilisierten Völker werde der Fortschritt durch „Weiterzüchtung“ der Begabten und Gesunden und durch „Ausscheiden“ der Minderbemittelten gefördert, indem Verbrecher hingerichtet oder eingesperrt, Schwermütige und Geisteskranke ausgegrenzt werden.32



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2l. Die weitere Entwicklung zur Vollkommenheit sei jedoch durch zwei Hindernisse bedroht. Das eine liege darin, daß die „Hochwertigen“ weniger Kinder haben als die „Minderwertigen“ und die primitiven Völker sich rascher vermehrten als die zivilisierten, so die Iren „wie die Kaninchen“; und das andere Problem erwachse daraus, daß die zivilisierten Völker im Wohlstand verkümmerten. Darwin verwendet das klassische Dekadenzmodell.33 Sein Beispiel sind die alten Griechen, die unterlagen, nachdem sie, wie er meint, in der Pax Romana entnervt und verderbt waren. Werden die Lebensbedingungen immer günstiger, führt das zwar bei Pflanzen und Tieren zu einer Vermehrung, bei Menschen aber zu Indolenz und Dekadenz, da die lebenserhaltende Kampfkraft schrumpft. 2m. Diese Degeneration verbindet Darwin mit der Aufhebung der natürlichen Selektion durch die Medizin und die Moral. Man kann sich das klar machen: In jeder Art gibt es Exemplare mit Geburtsfehlern. Das ist nicht schlimm, denn ein dreibeiniger Wolf oder ein blinder Kuckuck hinterläßt keine Nachkommen. Der Mensch hingegen kompensiert seine Defekte durch Prothesen, schädigt durch Fortpflanzung von Behinderten die rassische Erbgesundheit und verhindert die natural selection, das survival of the fittest. Kranken, meinte Darwin, solle man ­helfen, das Impfen aber unterlassen und „Minderwertigen“ das Kinderkriegen verwehren. 2n. Humanität, auch Tierliebe, ist für Darwin die höchste Tugend. Durch Vererbung wird die Menschheit immer tugendhafter, doch das führt zur Degeneration der höherstehenden Rassen. Darwin demonstriert das an den Haustieren, die vom Menschen durch Auslese aufwärts gezüchtet werden (zu Gunsten des Nutzens), während er sich selbst durch Nächstenliebe abwärts züchtet (auf Kosten der Widerstandskraft). Das Mitleid durchkreuzt die stärkende Wirkung der Selektion, wie Nietzsche unterstrich34. Darwin zitiert zustimmend Theognis, der die Haustierzucht als Muster für Rassenpflege empfahl.35 Darwins Glaube an die bevorstehende Vervollkommnung wird durch die von ihm klar gesehenen tragischen Konsequenzen seines rassebiologischen Konzeptes erstaunlicherweise nicht erschüttert. Sein Trost ist, daß bisher die Fortschritte der Menschheit ihre Rückschritte bei weitem übertroffen hätten.36 2o. Eine Lösung für Darwins Dilemma bot sein Vetter Francis Galton (1822 bis 1911), der Begründer der Eugenik und Erfinder dieses Begriffs. Um die sich ­vermehrenden Erbschäden auszuschalten, dürften nur highly endowed parents zur Fortpflanzung zugelassen werden. So ließe sich die Rasse im Sinne von Darwins Fortschrittstheorie verbessern, indem der Staat zum Gestüt wird. Galton wurde Ehrenpräsident der bis heute bestehenden Gesellschaft für Menschenzüchtung, der Eugenics Society, die er 1908 in London gegründet hatte. 1909 wurde Galton geadelt,37 sein Problem aber blieb ungelöst. Ja, es verschärfte sich, seit klar ist, daß anders als im Tierreich bei den Menschen die fähigeren weniger Nach­kommen haben als die Menschen mit geringem Intelligenzquotient. Noch Jacques Monod fürchtete daher die „genetische Entartung der modernen Gesellschaft.“38

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2p. Der Darwinismus war in Deutschland so populär, daß er sogar Thema von Debatten im Berliner Abgeordnetenhaus war, wie Dilthey im Februar 1883 an Graf Yorck schrieb. Darwins German bulldog39 war Ernst Haeckel (1834 bis 1914). Er erklärte die Anthropologie zu einem Teil der Zoologie und die Weltgeschichte zu einem „Teil der organischen Entwicklungsgeschichte“, die „stufenweise zu höherer Cultur“ emporführe. Während Darwin – schon im Hinblick auf seine fromme Frau Emma geb. Wedgwood – stets auf dem Boden der christlichen Tradition verblieb, erhob Haeckel den Biologismus zu einer vehement antikirchlichen Fortschrittsreligion, die er „Monismus“ nannte, nach griechisch monos – „einzig“. 1892 veröffentlichte er sein „naturwissenschaftliches Glaubensbekenntnis“ unter dem Begriff „Monismus“, in dem er – wie schon Seneca und Plinius – Gott und Natur gleichsetzte.40 Der von ihm 1906 gegründete pantheistisch-theophysikalische Deutsche Monistenbund mit seinen sonntäglichen Morgenandachten erhielt Zulauf aus dem progressiven, naturgläubigen Bildungsbürgertum. Haeckel erklärte: „Die Völkergeschichte ... muß ... größtenteils durch ‚natürliche Züchtung‘ erklärbar sein, muß ein physikalisch-chemischer Process sein, der auf der Wechselwirkung der Anpassung und Vererbung in dem Kampf der Menschen um’s Dasein beruht“. Mit seinem Pandarwinismus hoffte Haeckel auf die Erfolge künstlicher Züchtung, deren Vorbild ihm Sparta war. Er fürchtete die Folgen der unbiologischen Sozialfürsorge, die den Kulturverfall bewirke, so wie die christliche Nächstenliebe durch Schwächung der Rasse den Untergang Roms zu verantworten habe.41 2q. Darwins Leistung für die Biologie liegt in der Bestätigung und Verbreitung von Lamarcks These der Abstammungsgemeinschaft aller Lebewesen. Die von beiden Forschern gebotene Erklärung für die Differenzierung der Arten, die Vererbung umweltbedingt erworbener Eigenschaften, wurde durch die Entdeckung der Zufälligkeit genetischer Mutationen widerlegt.42 Darwins Universalformeln, die aus der Menschengeschichte stammen, sind teils anfechtbar, teils nichtssagend. Kampf ums Dasein ist in der Natur die Ausnahme, die Regel ist das Miteinander der Arten. In der Geschichte herrscht nicht struggle for life, sondern struggle for luxury. Politik ist Kampf ums Sosein. Selektion ist weder in der Natur noch in der Geschichte produktiv, sondern bewirkt Verarmung. Perfektion durch gesteigerte Leistungsfähigkeit findet sich im Sport und in der Technik, nicht aber bei Tieren und Pflanzen. Vermehrung der Individuen verkürzt die Lebensdauer der Art. Nach der Formel survival oft he fittest müßten sämtliche Lebewesen seit Beginn des Kampfes an fitness gewonnen haben. Das gilt nicht für Pflanzen und Tiere, wohl aber für die Europäer, das zeigen die Kolonialkriege. Nicht zufällig hatte der Darwinismus im Zeitalter des Imperialismus bei den Historikern Konjunktur.43 Daß da, wo es zum Kampf kommt, der Stärkere, besser den äußeren Erfordernissen Angepaßte sich behauptet und der Schwächere, weniger Anpassungsfähige unterliegt und verschwindet – welch eine Erkenntnis!



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3. Chamberlain und die Rassenlehre 3a. Darwins Warnungen vor drohender Degeneration wurden gehört. In ganz ­Europa und den USA setzten Bemühungen um Rassenpflege ein, während die Historiker die Vergangenheit im Lichte der neuen naturwissenschaftlichen Lehren inter­ pretierten. In Deutschland tat dies mit Erfolg Houston Stewart Chamberlain (1855 bis 1927) in seinem 1899 erschienenen Werk ›Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts‹. Chamberlain war Sohn eines britischen Admirals und hat in Deutschland studiert. Er bot eine neue Variante des Biologismus, indem er gegen Gobineaus „wissenschaftliche Phantasmagorie“, gegen Darwins „handgreiflich unhaltbares System“ und gegen Haeckels „Pseudowissenschaft“ anging.44 Chamberlain wandte sich gegen die „Annahme, daß unsere Zivilisation und Kultur der Ausdruck eines allgemeinen Fortschrittes der Menschheit sei“. Stattdessen betrachtet er die europäische Kultur als eine Individualität neben der antiken, der ägyptischen, chinesischen und anderen Kulturen. Insofern haben wir hier bereits eine Grundthese Spenglers vor uns – allerdings anders, nämlich biologisch begründet. Jede Kultur sei das „Werk einer bestimmten, individuellen Menschenart“ mit ihren Möglichkeiten und ihren Grenzen. Der Individualitätsgedanke, wie wir ihn von Herder und Humboldt kennen, wird auf Kultur-Rassen zugeschnitten und zum Gliederungsprinzip erhoben. Chamberlain polemisiert gegen das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit; wer um 500 und um 1500 nach Christus eine Zäsur setze, der zerhacke die Einheit der germanischen Kultur wie ein Fleischer den Ochsen.45 3b. Chamberlain betont, daß die Neuzeit von den Europäern getragen werde. Als den begabtesten Stamm betrachtet er die Germanen, die er bewundert – war er doch selber einer. Die germanischsten Germanen sind für ihn nicht seine Landsleute, sondern die Deutschen. Als germanischster Deutscher – nach Goethe und Luther – erschien ihm Richard Wagner, dessen Tochter Eva er 1908 heiratete. Chamberlain suchte die germanische Komponente aber auch bei den romanischen und slawischen Völkern, die ja einerseits Indogermanen sind und andererseits einen zusätzlichen germanischen Einschlag erhalten haben. Der Autor fand, „ohne den Germanen hätte sich ewige Nacht über die Welt gesenkt“, und meinte: „solange es noch echte Germanen auf der Welt giebt, so lange können und wollen wir hoffen und glauben.“46 Als Rassenmerkmale des Germanen betrachtet Chamberlain Freiheit und Treue, Persönlichkeit und Schöpferkraft, Arbeitsethos und Opferbereitschaft, kurz – die preußischen Tugenden. 3c. Indem Chamberlain die Germanen als höchste Entwicklungsstufe der Menschheit anspricht, zerfällt die Geschichte für ihn in zwei Teile. Was vor dem Eintritt der Germanen in die Geschichte geschah, sind für ihn bloße „Prolegomena; wahre Geschichte, die Geschichte, welche heute noch den Rhythmus unseres Herzens beherrscht und in unseren eigenen Adern zu fernerem Hoffen und Schaffen kreist, beginnt in dem Augenblick, wo der Germane das Erbe des Altertums mit

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kraftstrotzender Hand ergreift“. Das Erwachen der lange recht schläfrigen Germanen vollzog sich langsam, erst die Zeit um 1200 habe das vollendet. Diese Epoche deutet Chamberlain als Angelpunkt der Geschichte. Den Kulturen außerhalb der europäischen Tradition billigte Chamberlain keine Geschichte und kein historisches Interesse zu. Ihnen fehle „das Moment der moralischen Größe.“ Das erinnert an Hegel.47 3d. Chamberlain verbindet mit dem Eintritt der Germanen in die Geschichte den Beginn eines neuen Tages, weil er die griechisch-römische Antike als eine nicht entwicklungsfähige Phase der Weltgeschichte betrachtet. Engels hatte die Alte Geschichte in einer „Sackgasse“ enden lassen, und eben dieser Meinung war auch Chamberlain, nur begründete er sie anders. Bei aller Bewunderung für die Griechen, die in den Persern die orientalische Gefahr überwunden hätten; bei allem Respekt vor den Römern, die in den Karthagern den semitischen Erbfeind aller Kultur abgewehrt hätten, meint Chamberlain doch im Völkerchaos, der cloaca gentium des „pseudo-römischen Imperiums“ einen unabwendbaren Grund für die Dekadenz der antiken Kultur gefunden zu haben.48 So wie vor ihm Herder ist Chamberlain entschiedener Gegner jedes Imperialismus, der über die Grenzen eines Volkstums, einer Rasse hinausgreift. Mit Caesar, meint Chamberlain, habe das Rassenchaos begonnen. Caracalla habe durch die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle Provinzialen in der ›Constitutio Antoniniana‹ 212 das Chaos „zum offiziellen Prinzip des römischen Reiches“ erklärt, und damit war das Imperium dem Untergang geweiht. Nur die Germanen konnten hier Abhilfe schaffen, darin ist Chamberlain mit Engels einer Meinung, bloß daß dieser sie sozialökonomisch, jener rassenbiologisch begründete. Die Germanen hätten mit der „Seelenbarbarei der zivilisierten Mestizen“ aufgeräumt.49 3e. Als Voraussetzung für den Erfolg der Germanen betrachtet Chamberlain das Christentum. „Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der gesamten Geschichte der Menschheit“. Allerdings versteht Chamberlain das Christentum nicht in erster Linie als Religion der Liebe, sondern als Lehre vom Wert der Einzelpersönlichkeit, denn nur deswegen sei Liebe sinnvoll. Die christliche Eschatologie deutet Chamberlain als zeitbedingten Mythos. Mit der Feindesliebe und dem Kreuzestod habe Jesus ein Ideal von Willensstärke und Heldentum aufgerichtet, das andere historische Erscheinungen in den Schatten stelle. Die Kirchengeschichte erscheint ihm die Kinderkrankheit des Christentums, dessen Tiefe erst in einer künftigen christgermanischen Weltanschauung ausgelotet werde.50 3f. Chamberlains überaus positives Bild von Jesus paßt nun aber durchaus nicht zu seiner Vorstellung vom kaiserzeitlichen Judentum. Er legt Wert auf Jesu galiläische Herkunft und gibt sich große Mühe mit dem Nachweis, daß die Galiläer insgesamt und Jesus im besonderen nicht der jüdisch-semitischen Rasse zugerechnet werden dürfen. Jesu rassische Zugehörigkeit läßt er offen, er geht nicht so weit wie andere,51 die Jesus als Arier in Anspruch nahmen. Chamberlains Haltung gegenüber



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den Juden insgesamt entspricht dem, was von einem Schwiegersohn Wagners zu erwarten ist. Vor den frühen Propheten empfindet Chamberlain Achtung, der Rassenstolz der Juden erfüllt ihn mit Neid. Eine persönliche Verunglimpfung der Juden lehnt er ab, denn sie handelten wesentlich rassebewußter als die Germanen. Wenn diese nicht aufpaßten, gäbe es bald „in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen.“52 3g. Der Antisemitismus hat mit der Rassenlehre ursprünglich nichts zu tun. Die Juden gehören zur weißen Rasse und haben ihre Kulturfähigkeit wahrlich bewiesen. Die Abneigung gegen sie richtete sich sowohl in der Antike als auch im Mittelalter gegen ihre exklusive Religiosität, bei den Christen traf sie der Vorwurf des Gottesmordes.53 Gobineau brachte ihnen wenig Sympathie entgegen, wiewohl er sie notgedrungen zu den Weißen zählte, doch war es Eugen Dühring, der 1880 mit seiner Schrift ›Die Judenfrage als Frage des Rassencharakters und seiner Schädlichkeit für Existenz und Kultur der Völker‹ beanspruchte, die Juden als Rasse entdeckt zu haben. Seitdem wurden Tagrassen und Nachtrassen unterschieden. Dühring forderte schon damals die – wie auch immer gedachte – Beseitigung des Judenvolkes. 3h. Chamberlain begnügte sich mit der Abwehr. Dies aber schien ihm nötig, denn die Vermischung mit Juden bedrohe die Eigenart der germanischen Kultur. Das was Rassen auszeichnet, ist letztlich nichts anderes als Eigenart, Charakter, Individualität. Eine Kulturrasse ist Träger einer Idee. Der Rassenbiologismus wäre demnach lediglich eine Form der Herausbildung von Individualitäten, und Chamberlain nennt als notwendige Voraussetzung edler Rassen die „fortgesetzte Inzucht“, ja die geplante „Zuchtwahl“ im Hinblick auf die erwünschten Merkmale. Im menschlichen Bereich gälten dieselben Gesetze wie bei der Züchtung von Bulldoggen. Jeder Rassenbildung gehe eine Rassenmischung voraus, die zwar in Spätzeiten – so heute – destruktiv ist, aber in Frühzeiten produktiv war. Das freilich entwertet das von Chamberlain geschätzte Wort Darwins crossing obliterates­ characters, „Kreuzung verwischt die Gepräge“. Es kommt immer darauf an, was man unter Charakter versteht.54 3i. Aus Chamberlains biologistischer Geschichtskonzeption erklärt sich auch seine Wertung des Instinkts, da der Geist überhaupt bei ihm als bloße Ausdrucksform biologischer Gegebenheiten erscheint, so wie für Marx der Geist nur Ausdrucksform ökonomischer Situationen war. Mit Marx stimmt Chamberlain auch darin überein, daß er Staat und Kirche nicht als mögliche Gegenstände von Geschichte akzeptiert. Beides sind ihm lediglich abgeleitete Größen, die Marx ­sozialökonomisch, Chamberlain rassenbiologisch bestimmte.55 * 3j. Der Biologismus steht dem Materialismus nahe, da dieser die Geschichte als „naturwüchsigen“ Vorgang verstand. Schon Marx und Engels haben Darwin geschätzt, und zwar nicht nur als Biologen. Vielmehr glaubten sie, das Prinzip der

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Konkurrenz von ihm auch in der Natur vorgefunden zu haben und daher universal bestätigt zu sehen. Beide Autoren spielen gleichsam eine darwinistische Melodie auf ihrem sozialistischen Klavier. Bei Engels wird das deutlich in seiner Polemik gegen den demokratischen Panslawismus von 1849. Dort rechtfertigte er die Eroberungen zivilisatorisch fortgeschrittener Völker mit der zivilisierenden Wirkung ihrer Herrschaft auf die Unterworfenen: der USA gegen Mexiko, der Englaänder gegen die Inder, der Deutschen gegen die Slawen. Die kleineren slawischen Völker erklärt Engels als nicht lebensfähig – insbesondere die Tschechen. Er sprach von slawischen „Sauvölkern“. Konsequent urteilte Marx 1853: „Unterliegen müssen jene Klassen und Rassen, die zu schwach sind, die neuen Lebensbedingungen zu meistern“. Hier wird der darwinistische Lebenskampf als Geschichtsgesetz betrachtet.56 3k. Eine Parallele zwischen Historischem Materialismus, patriotischem Historismus und rassistischem Biologismus finden wir in der Objektivitätsfrage. So wie der Historische Materialismus eine Parteilichkeit zugunsten der progressiven Partei fordert, der patriotische Historismus zugunsten von Volk und Vaterland, so erklärte Chamberlain: „nicht aus dem Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen Objektivität habe ich meine Urteile gefaßt, sondern vom Standpunkt eines bewußten Germanen.“ Da die Allgemeinverbindlichkeit ein Kriterium von Rationalität ist und weil Vernunft die Freiheit von ökonomischen oder biologischen Determinanten fordert, sind Parteilichkeit und Determinismus irrationale Haltungen. Chamberlain hätte dies auch nicht als Einwand empfunden, denn Rationalität gehört zum Feindbild, gefordert wird Glaube. Er klagt: „An dem Mangel einer wahren Religion krankt unsere ganze germanische Kultur ... daran wird sie noch, wenn nicht beizeiten Hilfe kommt, zu Grunde gehen.“57 Wie Comte, Marx und Haeckel erweist sich Chamberlain als Karikatur eines Religionsstifters. 3l. Der Wunsch nach praktischen Folgerungen aus der biologischen Einsicht wurde laut und lauter. Um 1900 war der Biologismus eine starke Strömungen im Geistesleben Europas und Nordamerikas58. Mehrere Zeitschriften widmeten sich der Eugenik. Den Vorsitz in der Rassenhygienischen Gesellschaft Großbritanniens übernahm ein Sohn Darwins. Sterilisation von Untauglichen war in England angewandte Politik, im Staat Idaho in den USA betraf das sogar „sittlich Entartete“ und „sexuell Perverse“.59 Im Jahre 1900 stiftete Friedrich Krupp eine beträchtliche Summe für die Jenenser Preisaufgabe: „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie für die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?“ Der Preisträger, Wilhelm Schallmayer, demonstrierte in seinem Werk ›Vererbung und Auslese‹ von 1903 am Untergang Roms die rassenverderbende Wirkung von Knabenliebe und Prostitution, von Lebensgier und Luxus, aber auch von Wehrdienst und Kriegführung. Europa degeneriere im Gefolge der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn es sich nicht auf seine alten Werte besinne und die Vereinigten Staaten von Europa gründe. Die Preiszuteilung entfachte Entrüstung, weil Schallmayer moralische Verhaltensweisen für wichtiger erklärte als biologische



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Erbfaktoren. Er lehnte Gobineau ab und sah in der Rassenmischung ein kulturfördendes Element. Die Selbstliebe der nordischen Rasse hielt er für demokratiefeindlichen Chauvinismus, und dies kennzeichnet ihn als Gegner des Biologismus. 3m. Wie stark der Rassegedanke gewirkt hat, sei an zwei durchaus verschiedenen Geistern aufgezeigt, an Rathenau und Hitler. Walther Rathenau (1867 bis 1922) war der Sohn und Nachfolger des AEG-Chefs Emil Rathenau und machte sich einen Namen als Großindustrieller, Wirtschaftspolitiker und Literat. Rathenau hat sich stets zum Judentum bekannt. 1922 fiel er als „Erfüllungspolitiker“ des Versailler Vertrags einem Attentat rechtsradikaler Marinesoldaten zum Opfer. Rathenau rechnete die deutschen Juden kulturell und politisch zu den Deutschen, ebenso wie die Bayern und Schwaben. Seine unter dem Anagramm W. Hartenau publizierte Schrift ›Höre Israel‹ von 1897/1902 war jüdische Selbstkritik und wurde 1939 in den ›Schriften des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands‹ nachgedruckt. Aus der Erstausgabe zitiert Rathenaus Biograph Harry Graf Kessler: „Der Inbegriff der Weltgeschichte, ja der Menschheitsgeschichte ist die Tragödie des arischen Stammes. Ein blondes, wundervolles Volk erwächst im Norden. In überquellender Fruchtbarkeit sendet es Welle auf Welle in die südliche Welt. Jede Wanderung wird zur Eroberung, die Eroberung zur Befruchtung der Kultur und Gesinnung. Aber mit zunehmender Weltbevölkerung quellen die Fluten der dunklen Völker immer näher, der Menschenkreis wird enger. Endlich ein Triumph des Südens: eine orientalische Religion ergreift die Nordländer. Sie wehren sich, indem sie die alte Ethik des Mutes wahren. Zuletzt die höchste Gefahr: die technische Kultur erringt sich die Welt, mit ihr entsteht die Macht der Furcht, der Klugheit, der Verschlagenheit, verkörpert durch Demokratie und Kapital“. In der Prunkausgabe seiner ›Reflexionen‹ von 1908 bekennt sich Rathenau zu Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus. „Schärfste eliminierende Zuchtwahl“ habe die arische Rasse geschaffen, der die „Herrschaft über den Erdball“ und über die „unfähigen Rassen“ bestimmt sei. „Aufgabe der kommenden Zeit“ sei der Ersatz der „aussterbenden Adelsrassen, deren die Welt bedarf“ durch „Nordifikation“.60 3n. Folgewirksamster Vertreter des Biologismus war Adolf Hitler (1889 bis 1945). Sein Geschichtsbild ist von Chamberlain geprägt. Hitler gab zu, ein schlechter Schüler gewesen zu sein, fuhr aber fort: „Dennoch, Geschichte habe ich kapiert“61. Hitler sah wie Haeckel in der Geschichte den letzten Akt der Evolution. Humanitäre Erwägungen seien der Natur fremd, vielmehr sei der „Kampf ein Mittel zur Förderung der Gesundheit“. Er vertrat mit Darwin den im 19. Jahrhundert verbreiteten Bellizismus. „Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden.“ Abweichende Meinung ist mithin ein Geburtsfehler.62 3o. Hitler identifiziert wie Darwin die Arten mit den Rassen und stellt fest, daß überall, wo der Arier sich mit niedrigeren Völkern vermischt habe, „als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam.“ Sein Beispiel ist Amerika, wo der Süden auf-

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grund der Rassenmischung nicht die Leistungshöhe gehalten habe, wie sie im Norden zu beobachten sei. Gegen die „eiserne Logik der Natur“ könne keiner verstoßen, ohne die Quittung zu bekommen, d. h. die Dekadenz. Darwins Gedanke, daß der Mensch einer höheren Natur verpflichtet sei, war für Hitler ein Indiz entarteter Rasse. Pazifismus sei erst dann angezeigt, wenn die edelste, nämlich die arische Rasse sich durchgesetzt habe. „Alle großen Kulturen der Vergangenheit gingen nur zugrunde, weil die ursprünglich schöpferische Rasse an Blutsvergiftung starb.“ Die heutige Kultur aber sei „nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers“, auch die Japaner verdankten ihre Entwicklung dem arischen Geiste, dessen Errungenschaften sie lediglich fortsetzten.63 3p. So wie Proudhon gemäß Marx die nordamerikanische und Engels die antike Sklaverei als unabdingbar für den Fortschritt erklärt hatte64, so sah das auch Hitler: Der Arier errichtete die Kultur auf der Versklavung der niederen Rassen, bevor er Maschinen besaß. „Der Fortschritt der Menschheit gleicht dem Aufstiege auf einer endlosen Leiter. ... Alles weltgeschichtliche Geschehen ist aber nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne.“65 3q. Als den polaren Gegensatz zum Arier betrachtet Hitler den Juden. Er bilde eine außerordentlich zähe Rasse, gehe aus jedem Unglück gestärkt hervor, setze sich in jedem Volk an die Spitze, führe aber eine kulturell und ökonomisch parasitäre Existenz, weil er keine eigenen Leistungen hervorbringe, sondern bloß Fremdes sich aneigne und weiterentwickle. Die Verbindung von Intellektualität und Selbstbewußtsein mache die Juden gefährlich, dabei spiele deren Religion eine Nebenrolle, entscheidend sei ihre Rasse. Die gefährlichsten Ausprägungen des Judentums sah Hitler einerseits im Bolschewismus, andererseits im Wallstreet-Kapitalismus.66 3r. Über seinen Völkermord hat er 1941 auch im engeren Kreise seiner ›Tischgespräche‹ nur dunkle Andeutungen gemacht. Er hielt das Gemüt der Durchschnittsdeutschen für zu sentimental, um seinen Dienst an der Menschheit durch ein solches Opfer zu akzeptieren. Aber es gehe nicht an, daß die deutschen Soldaten an der Front verbluteten, während die Juden daheim sich fröhlich vermehrten. Der Rassenkampf erscheint ihm ein Gesetz der Natur: „Man kann es schrecklich finden, wie in der Natur eines das andere verzehrt. Die Fliege wird von der Libelle, diese von einem Vogel, der wieder von einem größeren getötet. Das Größte ist, wenn es alt wird, die Beute von Bakterien ... So viel ist sicher: ändern kann man das nicht! ... Wenn ich an ein göttliches Gebot glauben will, so kann es nur das sein: die Art zu erhalten!“ In diesem Geiste hat er den Zweiten Weltkrieg eröffnet und die Juden vernichtet. „Wer hat die Schuld, wenn die Katze die Maus frißt?“67 Hitler entlastete die Alliierten. 3s. Hitler hat angesichts des Untergangs seine Philosophie nicht aufgegeben, sondern sie bloß anders angewendet. Am 19. März 1945 zog er gegenüber Albert Speer die Konsequenz: Wenn der Krieg verloren gehe, habe sich das deutsche Volk als das schwächere erwiesen „und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die



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Zukunft“. Hitler wiederholte damit nur, was er bereits in seinem ›Kampf‹ geschrieben hatte: „Unterliegt aber ein Volk..., dann wurde es eben auf der Schicksalswaage zu leicht befunden“, die „ewig gerechte Vorsehung“ mache keine Fehler.68 Hitler spielt an auf das Menetekel im Buch Daniel, verwendet in grausamer Ironie selbst ein biblisches, ein jüdisches Denkbild.

4. Freuds Pessismismus 4a. Das Geschichtsbild des Wiener Arztes und Psychologen Sigmund Freud (1856 bis 1939) findet sich vornehmlich in den drei Schriften ›Die Zukunft einer Illusion‹ von 1927, gemeint ist die Religion; ›Das Unbehagen in der Kultur‹ von 1930 und ›Der Mann Moses‹ von 1939, ursprünglich mit dem Untertitel „Ein historischer Roman“.69 Freuds Geschichtsphilosophie fällt nicht im engeren Sinne unter den Begriff Biologismus, zeigt aber klare Bezüge zu ihm. Das ergibt sich aus Freuds 1933 getroffener Feststellung, die Kulturentwicklung der Menschheit sei ein „organischer Prozeß“ entsprechend der Haustierzüchtung, und aus Freuds 1938 niedergeschriebenem Bekenntnis zur Darwinschen Evolutionslehre. Die Entwicklung der Kultur erschien Freud als ein unpersönlicher, gleichsam naturhafter „eigenartiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft.“70 Bestimmt wird er von einem biologischen Faktor, dem Sexualtrieb, und zusammengehalten von der angeblichen phylogenetischen Erbschaft eines Schuldgefühls. 4b. Die Psychoanalyse führte Freud zu der Einsicht, daß die Menschheitsgeschichte auf der Ebene des Seelenlebens im Prinzip ebenso abläuft, wie sich der ihm wohlbekannte psychisch geschädigte Österreicher im fin de siècle von Kind auf entwickelt. Der „kleine Hans“ erlaubte es dem Seelenarzt, die „Völker zu behandeln wie den einzelnen Neurotiker“.71 Das alte Lebensaltergleichnis, das auf die Überwindung infantiler Unmündigkeit hoffen läßt, erhält ein biopsychologisches Korsett und dient dazu, die Geschichte als einen Reifeprozeß zu verstehen. Alter und Tod aber bleiben, wie gewöhnlich, ausgeblendet. 4c. Am Anfang der Geschichte findet Freud die von Darwin angenommene Urhorde.72 Entsprechend dem naiven Egoismus des Kleinkinds kannte sie noch keine Konvention, konnte ihren animalischen Trieben freien Lauf lassen, ungehemmter Mordlust und Promiskuität frönen.73 Die Horde unterstand der Führung eines starken Mannes,74 eines „Übermenschen“, der aber von seinen heranwachsenden Söhnen ob seiner Allmacht gehaßt und um seinen Harem beneidet wurde. Dieser Sexualneid, der Ödipuskomplex, führte „eines Tages“75 zum Vatermord der Brüder. Sie stürzten den Alten, schlachteten ihn und fraßen ihn „nach der Sitte der Zeit“ gemeinsam roh auf. Das hat sich – ebenso wie das folgende – in Jahrtausenden „ungezählt oft wiederholt.“76 4d. Mit dem Mord am Übervater beginnt bei Freud die Kulturgeschichte. Er unterscheidet zwei Großperioden, die ältere Zeit des Mutterrechts und die jüngere

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des Vaterrechts. Diese Zweiteilung geht – nach älteren Vorbildern – zurück auf den Basler Altertumsforscher und Religionshistoriker Johann Jakob Bachofen (1815 bis 1887). In seinem Werk ›Das Mutterrecht‹ von 1861 sammelte er die Zeugnisse für die Dominanz der Verwandtschaft über die mütterliche Linie und schloß daraus auf eine universalhistorische Entwicklungsstufe der Gynaikokratie. In ihr erblickte er die zweite Phase der Weltgeschichte. Einer ersten Zeit des Hetärismus, in der das Weib Beute des Mannes war, folgte als zweite das Matriarchat, das drittens durch das Patriarchat abgelöst wurde. Trotz einer romantischen Verklärung der feministischen Gesellschaftsformation deutete Bachofen den Übergang als Fortschritt, als Sieg es Lichts über das Dunkel, als Befreiung des Geistes vom Stoff. Dem schloß Freud sich an, indem er die Mutterschaft auf bloß sinnliche Erfahrung zurückführte, während zum Nachweis der Vaterschaft Geist gehöre.77 Die einflußreiche Theorie Bachofens, der persönlich einer extremen Mutterbindung unterlag, ist von der späteren Völkerkunde nicht bestätigt worden.78 4e. Der Ödipuskomplex der Urvatersöhne ist bei Freud der Ursprung von „Religion, Sittlichkeit und Kunst“. Denn die Brüder schlossen eine „Art von Gesellschaftsvertrag“, sie begründeten Gleichberechtigung, Moral und Recht und verhängten Triebverzicht, sowie insbesondere – um den Sexualneid zu mindern – ein Inzesttabu, die „einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat“. Aus schlechtem Gewissen überließen sie ihrer Mutter die Herrschaft. Damit lieferte Freud die bei Bachofen fehlende Erklärung für den Ursprung der Gynaikokratie. Nach und nach aber gewannen die Männer die Herrschaft zurück und erneuerten das Patriarchat. Die Frauen wurden mit der Einsetzung von Muttergottheiten vertröstet.79 4f. Die Frauen aber blieben zweitrangig. Denn aus drückendem Schuldbewußtsein, mithin aus angeborenem Moralgefühl, beförderten die Mordbrüder den toten Ahnherrn im Sinne einer Wiedergutmachung auf dem Umweg über den Totemismus zum Allgott und Weltenschöpfer.80 Dieser wurde als Symbol der ägyptischen Weltherrschaftsidee vom Pharao Echnaton in der Gestalt der Sonne verehrt. Dessen Monotheismus vermittelte „Moses, der Ägypter“ an die Juden, und auch deren Bereitschaft zum Gottesglauben beruhte auf der latenten Erinnerung an den sühneheischenden Vatermord. Das christliche Abendmahl als sublimierter Sakralkannibalismus und der Opfertod des Gottessohnes am Kreuz als Sühne für den Urvatermord dienten Freud als Bestätigung seiner Erkenntnis.81 4g. Die monotheistische Religion beruht demgemäß auf der psychoanalytisch begriffenen Erbsünde, sozusagen auf der kryptomotorischen Erblast des urtümlichen, unterschwellig durch die Jahrtausende mitgeschleppten kulturstiftenden Schuldkomplexes, der doch Freuds Lehre vom kulturbedingten Gewissen widerspricht.82 Indem Freud die psychoanalytische Genesis Gottvaters aufdeckt, will er dessen religiöse Geltung aushebeln, so wie einst die Kirchenväter mit dem Argument des Euhemerismus die Olympier zu entthronen suchten. Freud als Psychopa-



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thologe findet es beschämend, daß die Masse der Menschen noch immer der infantilen Illusion der Gotteskindschaft anhängt. Religion ist für ihn „Eiapopeia vom Himmel“, ein aus dem Sexualneid erwachsener Massenwahn, eine Zwangsneurose der erbgutgeschädigten Menschheit.83 4h. Das Bild von Gott Vater in seiner Allmacht und seinem Allwissen deutete Freud als Projektion, als Ausdruck von dem, was die Menschen selber gern wären. Indes: durch die Mehrung ihres Könnens und ihrer Kenntnisse gewannen sie mehr und mehr an Gottähnlichkeit, und sie werden diese durch „unvorstellbare große Fortschritte“ auf dem Gebiete der Kultur „noch weiter steigern“.84 Zugleich hoffte der im Ersten Weltkrieg Pazifist gewordene Gelehrte, daß die Kriegsgefahr gebannt würde, indem die angeborene Aggressivität des Destruktions- und Todestriebs sich auf unschädliche Gebiete ablenken ließe, so 1932 in seinem Brief an Einstein, der sich diesem verhaltenen Optimismus anschloß.85 4i. Freuds Optimismus ruht auf tief pessimistischer Grundlage. „Bei allen Menschen“ – Freud kennt sie alle – sind „destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden“, sie neigen zu Inzest, Kannibalismus, Aggression, Destruktion, Sadismus, Mord und Selbstvernichtung. Daran gehindert, ist der zivilisierte Mensch freudlos, unfähig zum Glück. Die lustvollen Neigungen werden uns ausgetrieben, die „edlen“ Eigenschaften eingebläut und dann törichterweise von uns in inneren Zwang verwandelt.86 Da die Massen triebhaft und unselbständig, „träge und einsichtslos“ sind, müssen sie von der Elite zum Gehorsam, zur Arbeit, zur Kultur genötigt werden.87 All das führte 1930 bei Freud und seinesgleichen zum ›Unbehagen in der Kultur‹. 4j. Die Entwicklung des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen erscheint wie bei Darwin so bei Freud mit janushaftigem Doppelgesicht, als ein höchst ambivalenter Vorgang. Der Fortschritt in der Geistigkeit erfordert die Unterdrückung naturwüchsiger Sinnlichkeit und benötigt einen permanenten schmerzhaften Triebverzicht. Der kulturkritische Gegensatz zwischen heilsamer Natur und verderblichem Menschenwerk, seit Hippias von Elis hundertfach durchdekliniert,88 erscheint bei Freud in weiterer Variante. Die kulturelle Kreativität, erzwungen durch eine herrschende Minderheit, geht auf Kosten genitaler Energie und sexueller Lust.89 Weil der Mensch unter den Zwängen der Konvention sein allein wirklich glückbringendes Geschlechtsleben drosseln muß, sucht er „illusionäre Ersatzbefriedigung“ in der narkotisch wirkenden Kunst, in der Literatur, der Technik, der Wissenschaft90 und der Zivilisation überhaupt.91 Schon Herder hatte erklärt, „Unter den Trieben, die sich auf andere beziehen, ist der Geschlechtstrieb der mächtigste“, – aber nicht der einzige.92 Eine natürliche Neugier, einen angeborenen Ehrgeiz, eine allgemein menschliche Abenteuerlust, eine primäre Neigung zum Gestalten und Experimentieren oder den Spieltrieb, wie ihn 1795 Schiller und 1938 Huizinga als Quelle der Kultur annahmen93 – derartiges zieht Freud nicht in Betracht. Spiel ist für ihn auch nur ein Surrogat für „von Wünschen verzehrte Menschen.“94 Kultur ist

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verfälschte Fleischeslust. Freud ist monomanisch fixiert auf den libidinös-orgastischen Urtrieb seiner männlichen Geschlechtsgenossen. Deren Potenz wird wie durch eine magische Metamorphose in künstlerische, religiöse und philosophische Aktivität verwandelt, gewaltsam kulturell kanalisiert und „sublimiert“. Die aufgehende Sonne symbolisiert den steigenden Phallus, und die untergehende Sonne erfreut uns als „zielgehemmte Regung des Sexualempfindens“.95 Im Amerikanischen gibt es das Wort oversexed. 4k. Ein Zusammenhang zwischen Hormondruck und Geistesarbeit könnte somit in mindestens einem Falle vorliegen, entspricht indes nicht ganz dem Bilde der Kulturgeschichte, da deren Glanzperioden, das klassische Griechentum, die Epoche des Augustus und das Zeitalter der Renaissance nicht eben prüde waren. Freud beschreibt und beklagt die Rache der verdrängten Naturtriebe. Sie besteht in der von Darwin beklagten Spannung zwischen steigender Intellektualität und sinkender Vitalität, dokumentiert in der höheren Geburtenrate der „unkultivierten Rassen und zurückgebliebenen Schichten“ , während der „hochkultivierte“ Teil der Bevölkerung, der Freud selbst angehörte, aber auch August der Starke und Casanova!, in seiner „Sexualfunktion“ beeinträchtigt sei. Der Stau im Geschlechtsverkehr führe zu einer Neurose der zivilisierten Menschheit.96 Kultur entwickelt sich als Kompensationsprodukt einer kollektiven Nervenkrankheit und ist in der Gegenwart „auf Heuchelei aufgebaut“.97 4l. Freuds sexualpathologische Psychosophie beruht auf Selbsterkenntnis und auf Erfahrung mit Wiener Neurotikern, übertragen auf das Seelenleben der gesamten Menschenart. Seinen von ihm als „Konstruktion“ bezeichneten „verhängnisvollen Kulturprozeß“ gewinnt er sodann aus der Überzeugung, daß der angebliche Vatermord am Ahnherrn der Kulturmenschheit als verdrängte Erinnerung und unbewußtes, daher zwanghaft wirkendes Schuldgefühl auf dem genetischen Erbgang bis 1939 n. Chr. weitergegeben worden sei und über die gemeinsame Abstammung vom kannibalisierten Übervater die gesamte Menschheit geprägt und die Kultur gestiftet habe. Ohne Einsicht in diese submentale Kontinuität, meint er, bräche die gesamte Völkerpsychologie zusammen. Vielleicht zu Recht. Im bewußten Gegensatz zur Lehrmeinung der Genetiker vertritt Freud den Lamarckismus mit seiner Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften. Als solche deutet er die Erbschuld beim „Menschentier“ und verkürzt, so gewissermaßen auf dem Wege zu Konrad Lorenz, den unberechtigten Abstand zwischen Tier und Mensch.98 4m. Wie die meisten neuzeitlichen Geschichtsphilosophien enthält auch die von Sigmund Freud biblische Kerngedanken. Dazu zählt die Idee vom Urvater, in der Bibel Adam oder Noah; weiterhin der Mord am Beginn der Kulturgeschichte, in der Bibel Kain und Abel; sodann die Vorstellung von der Erblast, im Alten Testament die Weitergabe der Schuld von den Vätern an die Urenkel99 und im Neuen Testament die Erbsünde, mit der Eva die Menschheit belastet hat, 100 weiterhin die Gottähnlichkeit des Menschen, in der Bibel am Anfang, bei Freud gegen Ende der



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Geschichte, und endlich die gewisse Hoffnung auf Erlösung der Menschheit, allerdings nicht durch die Religion, sondern durch die Psychoanalyse, von der leibfeindlichen jüdisch-christlichen Religion.101

5. Lorenz und die Höherentwicklung 5a. Die naturwissenschaftliche Verankerung hat den Biologismus über die „deutsche Katastrophe“ von 1945102 herübergerettet. Einflußreich bis heute ist die Kultur­ ethologie des Nobelpreisträgers Konrad Lorenz (1903 bis 1989).103 Wie Darwin betrachtet er die Menschheitsgeschichte als Teil der Evolution. Er erklärt, daß das gesamte „Universum von einem einzigen Satz von untereinander widerspruchsfreien Naturgesetzen regiert wird“, daß wie in der Phylogenese so in der Kultur­ geschichte alles „von Zufall und Notwendigkeit“ gelenkt werde.104 Die Evolution bewegt sich mal vorwärts, mal rückwärts,105 aber doch in der „allgemeinen Richtung des großen organischen Werdens vom Niedrigeren zum Höheren“ und erfahre im Zuge der „Höherentwicklung“ wie ein erfolgreiches „kommerzielles Unternehmen“ ständig „Wertzuwachs“. Wie dieser Wert zu messen ist und für wen er einen solchen darstellt, verrät Lorenz nicht. Aus dem universalen „Fortschritt im organischen Werden“ ergeben sich unsere kulturellen und politischen Werte.106 Damit entkräftet Lorenz seine Wendung gegen den „Irrglauben an den sogenannten Fortschritt“ und widerspricht seiner Erklärung: „Der Versuch, Sinn und Richtung in das evolutive Geschehen hineinzuinterpretieren, ist genauso verfehlt wie die Bestrebungen ..., aus geschichtlichen Ereignissen Gesetzlichkeiten zu abstrahieren, die es erlauben, den weiteren Verlauf der Geschichte vorauszusagen.“107 Lorenz beruft sich auf Poppers Kritik am Historizismus.108 Aber ebensowenig wie Popper109 hält Lorenz den Verzicht auf Gesetzlichkeit, auf Richtungs- und Zielvorgaben durch. Lorenz liefert Prognosen. Er ist Arzt und stellt ein Rezept in Aussicht, das Heilung verspricht.110 Schließlich beruht jede Therapie auf Prognostizierbarkeit, wie sie allem rationalen Handeln zugrunde liegt. 5b. Die Menschheitsgeschichte besteht für Lorenz so wie die Naturgeschichte aus einem „Zickzackweg“, aus dem Auf und Ab, dem Nach- und Nebeneinander separater Kulturen.111 Er stützt sich mit der Ablehnung einer „einheitlichen geschichtlichen Entwicklung der ganzen Menschheit“ nicht auf Chamberlain, sondern auf Spengler und Toynbee. Die Geschichtsmorphologie habe gezeigt, „daß die Einheit der menschlichen Zivilisation ebenso eine Fiktion ist wie die Einheit der phyletischen Entwicklung des Lebensstammbaums.“ Vielmehr wachse „jede einzelne Kultur“ so wie jede biologische Art „auf eigene Rechnung und Gefahr“. Lorenz deutet die Kulturgeschichte und die Naturgeschichte nach dem gleichen Muster. Er schreibt: „Kulturen entstehen also nicht, wie eine vereinheitlichende Geschichtsphilosophie postulierte, in linearer Aufeinanderfolge und einer einheitlichen Gesetzlichkeit folgend, sondern genau wie Tier- und Pflanzenarten es tun,

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unabhängig von einander, polyphyletisch.“ Jede Kultur bilde eine Welt für sich, genau so wie die „Mannigfaltigkeit der phylogenetisch entstandenen Lebensformen.“112 Das erinnert an Herder: „Jedes Geschöpf hat seine eigene, eine neue Welt“113 und an Spenglers Kulturinseln in der Vergangenheit des Menschen. 5c. So wie Spengler konzentriert sich Lorenz auf „jene komplexen Systeme, die wir mit den Geschichtsforschern Hochkulturen nennen.“ Für ihre Entstehung verwandte Lorenz das Wort „Fulguration“. Diese versteht er analog zu „jenen Evolutionsschritten, denen Tierarten ihre Entstehung verdanken“. Fulguration ist mithin in der Kulturgeschichte das, was in der Naturgeschichte die Mutation ist, unberechenbar und wundersam. Fulguratio bezeichnet bei Seneca Wetterleuchten,114 bei Lorenz eine Art Geistesblitz der Gottnatur. „Evolution“ und „Schöpfung“ sind für Lorenz dasselbe.115 Im Unterschied zu dem Agnostiker Darwin und dem Atheisten Spengler hält Lorenz am Gottesgedanken fest, vermeidet aber den Namen unter Berufung auf das zweite Gebot im jüdischen Sinn.116 5d. Die Einzelkulturen unterliegen den Gesetzen des organischen Geschehens und besitzen, wie bei Spengler, ein von ihren jeweiligen Trägern unabhängiges Eigenleben.117 Ihre Verwandtschaft mit biologischen Arten ist bei Lorenz nicht metaphorisch, sondern konstitutiv. Er wundert sich beispielsweise „über die erstaunlichen Analogien zwischen der phylogenetischen und der kulturellen Entstehung von Symbolen“ und sucht am Anfang menschlicher Kultur jene „traditionsgemäße Ritenbildung“, die er von den Dohlen und Graugänsen her kennt118. Lorenz betrachtet einerseits Kulturen als biologische, auf natürlichem Wege entstandene „lebende Systeme“ und andererseits biologische Arten als kommerzielle „Unternehmen mit gekoppeltem Macht- und Wissensgewinn“ wie die „Badische Anilin & Soda-Fabrik“119. 5e. Zu ihrer Entwicklung bedürfen Kulturen sodann der Isolation120. Genau wie biologische Arten ihre eigene Umwelt benötigen und sich nicht kreuzen dürfen, um ihre artgemäßen Besonderheiten zu bewahren und nicht zu „verbastarden“, so müssen auch Kulturen sich vor der Vermischung hüten. Hier klingt Darwin nach. Den Stolz auf die eigene Gruppe betrachtet Lorenz als instinkthafte Abwehr artfremder Einflüsse. Differenzierung wertet er als Charakterbildung, als Höherentwicklung, vermischende „Entdifferenzierung“ dagegen als Niedergangserscheinung. 1940 fürchtete er die Verunreinigung des Blutes durch Heiraten „vollwertiger“ Menschen, die dem „Soll-Typ“ der Rasse entsprechen, mit Rassefremden und Asozialen. Noch 1973 unterschied er zwischen „vollwertigen“ und „minderwertigen“ Menschen, die an ihrer Häßlichkeit zu erkennen seien. Nun forderte er statt der rassischen die kulturelle Reinheit. Für sie schien Lorenz insbesondere die Amerikanisierung verderblich.121 Er spricht von dem „drohenden moralischen und kulturellen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten, der höchst wahrscheinlich die ganze westliche Welt mit in seinen Strudel reißen wird.“122 5f. Die Ausbildung der Eigenart und die „Höherentwicklung“ in den einzelnen Kulturen vollziehen sich im Wettbewerb mit Nachbarkulturen. Das entspricht der



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„kampfartigen Auseinandersetzung“ zwischen verschiedenen Arten in der Natur.123 Die dabei entfaltete Aggressivität ist grundsätzlich sinnvoll. Sie ist das „sogenannte Böse“ und wird zu Unrecht verketzert. Wenn in diesem Prozeß einzelne Kulturen auf der Strecke blieben, zeigt sich ein Analogon zur konstruktiven, „kreativen Selektion“.124 Die Vernichtung der Schwachen ist ja generell ein Instrument der progressiven Evolution und damit auch der Geschichte. Ihr Ergebnis ist der weltweite Sieg der abendländischen Industriezivilisation. Mit der Vernichtung der konkurrierenden Kulturen jedoch „verliert die interkulturelle Selektion ihre schöpferische Wirkung.“125 Der Gedanke ist alt. Als Cato sein Ceterum censeo aussprach,126 erwiderte Scipio Nasica, man müsse Karthago als „Wetzstein“ für Rom erhalten.127 5g. Mit der globalzivilisatorischen Entwicklung öffnet sich aber nun wie bei Darwin eine Schere zwischen Fortschritt und Dekadenz.128 Lorenz bescheinigt wie der Evolution insgesamt so auch der Kulturgeschichte einen grundsätzlich fortschrittlichen Charakter,129 moniert aber zugleich einzelne „Irrwege“ und „dümmste Sackgassen“ sowohl in der Phylogenese als auch in der Menschheitsgeschichte.130 Die Gegenwart ist für ihn wie für Spengler, Klages und Toynbee gekennzeichnet durch „Vermassung“ und „Vulgarisation“, durch Kulturverfall und „epidemische Geisteskrankheiten“, durch „Abbau des Menschlichen“ und „zunehmende Dehumanisierung“.131 Darwin hatte umgekehrt in der Humanität einen Dekadenzfaktor erkannt. 5h. Für den Niedergang der Kulturmenschen bietet Lorenz drei Analogien zur Biologie. Das erste „pathologische Symptom“ ist die pervertierte Aggressivität. Sie war biologisch sinnvoll in der Frühzeit, als der Kampf gegen die Unbilden der Natur und gegen die benachbarten „Menschenhorden“ eine „intraspezifische Selektion“ zugunsten der Widerstandskraft bewirkte.132 Der „Auslese treibende Faktor war der Krieg.“ Dessen ursprünglich positive Wirkung aber ist durch das „Anwachsen unserer Sozietät“ und die daraus ergebende Friedenspflicht aufgehoben, ja im Zeitalter der Wasserstoffbombe umgeschlagen. Er bedroht die Art, da uns der Aggressionstrieb noch „als böses Erbe in den Knochen sitzt.“ Lorenz verweist auf die desaströsen Sippenkämpfe unter Ratten auf umgrenztem Gebiet. So können angeborene Verhaltensweisen unter veränderten Umweltbedingungen dazu führen, daß eine Art sich selbst vernichtet. Der Haß unter den Parteien ist eine „Erfindung des Teufels.“133 5i. Die zweite Kulturkrankheit ist die „fortschreitende Verweichlichung des verstädterten Menschen.“134 Hier ist nicht das weiterwirkende Erbgut, sondern der Verlust an solchem schuld am Übel. Nachdem die „feindlichen Außenfaktoren“ in der Urzeit „Härte, Heldenhaftigkeit, soziale Einsatzbereitschaft“ herausgezüchtet haben – so gemäß dem „nordischen Gedanken“ von 1940135 –, führe das Leben in der Zivilisation zur Entartung. Lorenz verwendet das klassische Dekadenzmodell. Bequemlichkeit, Erregungsbedarf, Egoismus im rundum abgesicherten und versorgten Wohlstand haben schon manche Kultur in den Untergang getrieben.136 Denn der Weg des geringsten Widerstands führt bergab.

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5j. Der dritte und gefährlichste Dekadenzfaktor ist der Übergang des Sittenverfalls ins Erbgut. So wie Darwin rechnet Lorenz bei Tieren137 und bei Menschen mit der Vererbung erworbener Eigenschaften. Er denkt jedoch an den juristischen Ursinn des Wortes „Erbe“, der nicht die Zwangsläufigkeit der biologischen Bedeutung des Wortes besitzt, da man das väterliche „Erbe“ ja ausschlagen kann. Diese individuelle Freiheit besteht laut Lorenz auf kultureller Ebene jedoch nicht. Da für ihn Kulturen „lebende Systeme“ sind und die Eigenschaften biologischer Arten aufweisen, werden kulturelle Gewinne oder eben auch Verluste unabhängig von der Entscheidung Einzelner im Kulturkollektiv tradiert, und zwar mit derselben hohen Wahrscheinlichkeit wie genetisch fixiertes Erbgut über die Zeugungskette.138 Das Medium des kulturellen Erbgangs ist die Sprache, und sie erlaubt eine ungeheure Beschleunigung der zivilisatorischen Entwicklung.139 5k. Die Folge ist die Selbstdomestikation des Menschen. Domestikation, deutsch: Häuslichmachung, begann mit der Seßhaftigkeit und der cultura, der „pflegenden“ Veredelung der wilden Natur. In diesem Sinne hatten Theognis, Darwin und Chamberlain die Tierzüchtung als Höherentwicklung gedeutet und als Muster für die Gestaltbarkeit der Menschheitsgeschichte betrachtet. Umgekehrt aber verband Nietzsche Domestikation mit „Degenereszenz“140 und danach veranschaulichte Sigmund Freud 1933 mit der „Domestikation gewisser Tierarten“ den „organischen Prozeß“ der Dekadenz.141 So auch Lorenz. Die Kulturentwicklung führte zur „Verhaustierung“, ja zur „Verhausschweinung“ des Menschen.142 Er ermittelte, daß reinrassige Menschen den Wildformen, mischrassige den Hausformen der Tiere nahekämen. Beidemal entstünden ähnliche Resultate. Äußerlich: Mopsgesicht, Hängebauch und verkürzte Extremitäten. Innerlich: Gefühlsschwäche, überentwickelter Intellekt, unterentwickelter Instinkt, Verlust des ästhetischen und moralischen Urteilsvermögens und soziale Verhaltensgestörtheit. Die wölfischen Eigenschaften werden durch hündische Qualitäten verdrängt. In seinen Nachkriegsschriften hält Lorenz am warnenden Lehrbeispiel der angeblich degenerierten Haustiere fest. Ihr Aussehen sei häßlich, ihr Verhalten pervers. Die „Vermehrung des Freß- und Begattungsverhaltens“ sei typisch für Großstädter wie für Haustiere. Lorenz tadelt so wie Darwin die „Verweichlichung“ im Frieden, an der schon manche Kultur zerbrochen sei143. Sein paläontologisches Exempel ist der eiszeitliche Höhlenbär. Er war so stark, daß er keine Feinde mehr besaß, verfiel der Selbstdomestikation und starb aus.144 Dieser angeblich lebensuntüchtige Ursus spelaeus brachte es allerdings auf eine halbe Million Jahre, die der Mensch in der Hochzivilisation kaum erreichen wird. 5l. Den positiven Folgen der interkulturellen, sozusagen extraspezifischen Selektion (zwischen den Arten oder den Nationalkulturen), den „Vorteilen“ für die Art,145 stellt Lorenz geradezu „satanische Wirkungen“ der intraspezifischen Auslese (innerhalb der Arten und der Weltkultur) gegenüber.146 Das demonstriert er an jenen übertrieben entwickelten Organen, die nur dem Balzgeschäft dienen: das im



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Grunde überflüssige Geweih des Hirschen, das er nur zum Brunftkampf gegen seinesgleichen verwende, und die unpraktisch langen Schwingen des Argusfasans, die bloß dem Weibchen imponieren sollen. Lorenz erklärt dies für unvernünftig.147 Es sind die schon von Darwin bemängelten Konstruktionsfehler der technisch gedachten Natur, die sie nach Ansicht der Gelehrten hätte vermeiden sollen. 1940 suchte Lorenz die entsprechenden Beispiele in der Menschenwelt, indem er den amerikanisch übersteigerten Sex-Appeal von Filmschauspielerinnen, wie Lippenstift und Dauerwelle, anprangerte. Sowohl ihr Auftreten als auch ihren Erfolg bei Männern wertete Lorenz als „Dekadenz“. Die Abneigung gegen die „Sex-Welle“, die auch Spengler zeigte, behielt Lorenz bei148. 1963 waren seine Anwendungsfälle der verderblichen innerartlichen Konkurrenz die kommerzielle Werbung und das industrielle Arbeitstempo. Der „wahrhaft teuflische Einfluß des zwischenmenschlichen Wettbewerbs“ führe zu einer negativen Zuchtwahl.149 5m. Lorenz attackiert die moderne Industrie. Sie bewirke eine allgemeine „Vulgarisation“, eine weltweite „Verhäßlichung“ und „Entdifferenzierung“, seitdem in der One World der vorherige positive extraspezifische Wettbewerb in einen negativen intraspezifischen umgeschlagen sei. Die „abbauende Evolution“150 sei die Folge der durch die Sprache ermöglichten außergewöhnlichen Lernfähigkeit des Menschen. Sie führe zu einer ungeheuren Beschleunigung der zivilisatorischen „Involution“. Lorenz beklagt die „Gleichmachung aller Völker“. Dadurch verliere „die interkulturelle Selektion ihre schöpferische Wirkung“, und daraus folge „regelmäßig“ ein „Rückgängigwerden der Menschheitsentwicklung.“151 Lorenz bekundet: „Oswald Spengler war der erste, der erkannte, daß Kulturen immer dann verfallen und zugrunde gehen, wenn sie das Entwicklungsstadium der Hochkultur erreicht haben.“152 5n. Spenglers Entdeckung des regelhaften Kulturverfalls erklärt Lorenz aus einem zivilisationsbedingten Normenkonflikt. Spezifisch für den Homo sapiens ist nach Lorenz sein doppeltes Normensystem. Als Kulturwesen untersteht er selbstgeschaffenen Traditionen, die sich rasch wandeln. Als Naturwesen hingegen ist er durch sein dauerhaftes Erbgut, seine gesunden Instinkte programmiert. Sie sind der eigentliche Forschungsgegenstand der Ethologen. Immer neue menschliche Verhaltensformen erweisen sich als Erbschaft aus dem Tierreich: Begrüßung und Bedrohung; Demutsgebärden und Gastgeschenke, Imponiergehabe und Triumphgeschrei. Bei Tieren wie bei Menschen gibt es gruppenspezifische und rangbildende Rituale. Eine Affenherde, die unter Führung eines Alphamännchens ihr Revier verteidigt oder gar eine Nachbarhorde überfällt und tötet, benimmt sich schon sehr menschenähnlich153. Im Zuge der Zivilisation aber werden unsere Naturtriebe ungebührlich weit durch die Kulturgebote zurückgedrängt. Die moderne Kultur habe ein derart umfassendes Ritual- und Gesetzeswesen entwickelt, daß entweder in dieser „Zwangsjacke“ unser spontan-kreatürliches Verhalten erstickt werde oder aber im Aufbäumen gegen die neuen Normen die Kultur insgesamt zugrunde gehe. Die biopsychische Spannung zwischen dem durch die Natur Gebotenen und dem

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durch die Zivilisation Geforderten sei der eigentliche Grund für die heutige Dekadenz. Unsere Zivilisation befinde sich auf einem „Irrweg“ in eine „Sackgasse der Evolution“, uns drohe eine „Apokalypse“, und zwar in einer „besonders gräßlichen Form“154. Indoktrinierung und Verweichlichung haben ja angeblich schon die byzantinisierte antike Kultur den Germanen ausgeliefert.155 5o. Zwischen der spätantiken und der modernen Dekadenz gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied. Damals entstand aus dem Zerfall der antiken Kultur eine Mehrzahl von konkurrierenden Völkern, die ihre Eigenart entfalten konnten. Unsere heutige uniforme, charakterlose Universalkultur bietet keinen ebensolchen Mutterboden für künftige Kulturen. Wir müssen die unsere daher zu erhalten suchen. Der „Volksarzt“ bietet die Diagnose. Er versteht die Gesellschaft als erkrankten Organismus, der zu seiner Gesundung die „ausfallbehafteten Sozialparasiten“ ausmerzen156 und die › acht Todsünden der zivilisierten Menschheit‹ meiden müsse. Sie lauten: Übervölkerung, Umweltzerstörung, Streß, Gefühlskälte, Degeneration, Traditionsfeindlichkeit, Indoktrinierbarkeit und Atombombe. Dem modernen Menschen gibt Lorenz noch eine Chance, wenn er nämlich biologisch denken und naturkonform leben lerne. Wir stehen an einer „Wende der Zeiten“, die „zu ungeahnter Höherentwicklung der Menschheit“ führen kann. Unsere Kultur könne als erste und zugleich letzte den baldigen Untergang vermeiden, sobald sie ihr Verhalten den Erkenntnissen der Verhaltensforscher anpasse157. 5p. Sollten die überzivilisierten Zeitgenossen die Mahnungen des Biosophen mißachten, so wird die Evolution weiter verfälscht. Sie hat zwei tellurisch bedingte Biokatastrophen überstanden, ein erstes Massensterben vor ungefähr 250 Millionen Jahren, als neun Zehntel aller Arten untergingen, und ein zweites vor etwa 65 Millionen Jahren, als nicht nur die Dinosaurier ihr Ende fanden. Eine dritte Todeswelle, nun durch den Menschen verursacht, ist im Gang, seit die Technikfolgen einen bedrohlichen Artenschwund herbeigeführt haben.158 Das ist destruktive Selektion. Die zugrunde liegende spätkapitalistische Profitmaximierung läßt sich moralisch allerdings nicht greifen, da die Kläger zugleich Sünder sind, die von den Maschinen, mit denen die Umwelt ruiniert wird, gewollt oder ungewollt profitieren. 5q. Wenn diese Entwicklung zugleich auf ein Ende unserer westlichen Zivilisation oder gar auf den Untergang unserer Spezies zusteuern sollte, gibt es dennoch einen Silberstreif am Horizont. Die Evolution geht schließlich weiter. Die Dekadenz fördert die Selektion,159 sie schafft Raum für neue, „wertvollere“ Arten. Der Jetztmensch ist, biologisch betrachtet, ein vorläufiges Produkt der Evolution, leider noch nicht ganz das „endgültige Ebenbild Gottes“.160 So wie die scholastische Anthropologie den Menschen zwischen Tier und Engel stellte, so deutet Lorenz ihn und sich im Sinne Nietzsches als vorübergehende Zwischenstufe zwischen Menschentier und Übermensch. Ihn schafft dereinst die „Weltvernunft des Logos“, die bereits den „Mystikern des Mittelalters“ vertraut gewesen sei. So endet auch der Biologismus in einem hegelianischen Glauben an den Weltgeist. Lorenz prophezeit



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als Nachfolger des gegenwärtigen, insuffizienten Menschentyps „etwas Besseres und Höheres“, den „wahrhaft humanen Menschen“ der Zukunft, sozusagen den wohltemperierten Endzeitbürger161, wie er Aldous Huxley schon 1932 vorschwebte. 162 Nachdem Lorenz die Deutung von Humanität als Degenerationserscheinung nach 1945 aufgegeben hat,163 steht er vor dem Dilemma, daß der künftige, doch wohl friedfertig zu denkende Homo humanissimus Laurentianus noch schneller degenerieren muß als der nicht eben unkriegerische Jetztmensch. 5r. Ein Gegenbild vom letzten Menschen bietet Seneca. Er erwartete vor dem Weltuntergang den wieder tierähnlichen Menschen.164 Es wäre ein Menschentyp, der auf dem von uns dereinst ausgeplünderten Planeten zu überleben vermag, also eine anspruchslose, widerstandsfähige Variante der heutigen Spezies: der Spätmensch (Homo robustus ultimus). Er ist noch nicht der allerletzte. Denn am Ende der momentanen Zwischeneiszeit, also in etwa 5000 Jahren, wenn die bewohnbare Erdoberfläche auf ein Viertel geschrumpft sein wird, ist – Lorenz weitergedacht – mit dem Nachmenschen zu rechnen, einem sehr naturverbunden posthumanen Primaten (Exanthropus glacialis). Das ist dann ein regressiver Nachkomme des heutigen Menschen, so wie von dem 20  m hohen Schachtelhalmbaum des Devon unser Farnkraut abstammt oder vom Dinosaurier die Eidechse.

6. Grenzen der Biologik 6a. Eine Kritik am Geschichtsbiologismus wird von seiner Verbindung mit dem Hitlerismus ausgehen. Dieser ist zwar ein Ragout aus rechtshegelianischem Nationalismus und marxlosem Sozialismus, aus antiintellektueller, irrationaler Romantik und naiver Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit. Dennoch war Darwin der Kronzeuge für das Politikverständnis und die Rassenlehre Hitlers.165 Die „Mördergrube des deutschen Darwinismus“, kritisierte Dilthey schon 1878.166 Es wäre töricht, Darwin für Auschwitz verantwortlich zu machen. Die Quelle speist den Fluß, sie lenkt ihn nicht. Pervertierbarkeit ist kein Argument gegen die Richtigkeit einer Theorie, ist überhaupt kein Markenzeichen des Geschichtsbiologismus, und dieser ist keine Domäne der Deutschen. Gegen den Rassismus der Kolonialherren schrieb 1784 Herder: „Die Natur des Geistes äußert sich auch bei den wildesten Völkern“ und 1845 heißt es bei Alexander von Humboldt: „Indem wir die Einheit des Menschengeschlechtes behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen. Es gibt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte: aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt.“167 Aus ging gegen Aristoteles. 6b. Neben die Kritik an den praktischen Folgen des Geschichtsbiologismus tritt die am theoretischen Gehalt. Wenn die Geschichte für Haeckel und seine Monisten eine nahtlose Fortsetzung der Evolution darstellt,168 verschwindet eine methodisch relevante Unterscheidung. Die Evolution bietet die Geschichte der Arten, deren

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Individuen austauschbar und nur soweit bedeutsam sind, als sie die jeweilige Art repräsentieren. Der Historiker hingegen behandelt Individualitäten innerhalb derselben Art: einzelne Personen, bestimmte Gruppen und deren Werke. Geschichte besteht aus Prozessen der „Systemindividualisierung.“169 Menschenwerk wird – wie schon Vico betonte170 – auf andere Weise erschlossen als Naturgeschehen. Wissen über dieses liefern uns Befunde, die wir ebenso wie die ihnen zugrunde liegenden Naturgesetze lediglich registrieren können. Kulturerscheinungen hingegen können wir verstehen, indem wir ihren Sinn ermitteln. Sie beruhen auf Handlungen, und diese entspringen Überlegungen, Vorstellungen und Absichten, über die wir uns grundsätzlich mit den Handelnden verständigen können. Das beginnt mit dem Jagdzauber der Höhlenmalerei von Altamira und den Blumenspenden für die Bestattungen der Neandertaler. Hier ist Gedankenaustausch oder ersatzweise Hermeneutik erfordert, indem wir uns nicht erfolglos in die Denkwelt der Betroffenen versetzen. 6c. Die von Lorenz behaupteten Analogien zwischen Natur- und Kultur­ geschichte171 wird der Historiker kaum gelten lassen. Die zur Artenbildung erforderliche Isolation nützt der Kultur nur in eingeschränktem Sinne. Regionalstil ergibt sich aus gruppeneigener Kommunikation, aber vollzieht sich unter Anregungen von außen. Die Aufnahme von fremden Gütern und Menschen kann man nur unter der Anerkennung eines völkischen Reinheitsgebotes als Verbastardung abwerten172. Anders als biologische Arten sind Kulturen Konglomerate und deswegen ebensowenig charakterlos wie Granit. Die griechische Kultur hat vom Orient gezehrt, die römische Gesellschaft von den Griechen, die germanische Welt von den Römern. Kultur diffundiert. 6d. Während Lorenz als Biologe das kontinuierliche Artensterben durch „kreative Selektion“ generell für schöpferisch erklärt, würde ein Historiker die Vernichtung der Karthager durch Rom, die Zerstörung der Inkakultur durch die Spanier, den Völkermord im 20. Jahrhundert nicht für sonderlich kreativ erachten. Selektion ist Destruktion. Die Rede von „kreativer Selektion“ ist ein Hysteron Proteron, denn Auslese ist Wirkung, nicht Ursache im Naturgeschehen. Die Formel ist zynisch. Es sei denn, wir dächten an den Gärtner, der schöpferisch tätig ist, wenn er Unkraut jätet, um die von ihm „kreierten“ Beete zu verschönern. 6e. Nutzen und Nachteil der Konkurrenz sind in der Geschichte nicht durch die Kulturgrenzen und den Artbegriff, sondern nach Mitteln und Folgen zu bestimmen. Das hat Hesiod schon gesehen, als er zwischen der guten und der schlechten Eris unterschied.173 Wettbewerb steigere im friedlichen Ringen die Kräfte, Krieg aber zerstöre die Werke der Menschen. Und ebendies ist der Grund, weswegen wir die Begeisterung Hegels für das Schießpulver nicht auf die Atomwaffen übertragen. Anders als Lorenz müßte ein gläubiger Sozialdarwinist dies tun. Denn entweder beseitigen diese Superwaffen den im Kampf ums Dasein Unterliegenden, oder sie vernichten die ­Spezies Mensch, weil sie sich insgesamt des Überlebens unfähig gezeigt hat.



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6f. Wenn Lorenz die „Selbstdomestikation“ des Menschen beklagt, so widerspricht ihm die Kulturgeschichte.174 Schon Homer hat den Zorn des Achill und dessen Selbstüberwindung zum Thema seiner ›Ilias‹ gemacht.175 Menschen bemühen sich, durch Technik die Natur außer sich und durch Humanität die Natur in sich in den Griff zu bekommen. Kultur erfordert Zähmung der Natur. Wir werden als Naturwesen geboren und zu Kulturwesen erzogen. 6g. Ethik läßt sich aus der Ethologie nicht ableiten. Wie wir uns verhalten sollten, das lehrt uns stattdessen, laut Lorenz, unser natürlicher „gesunder Instinkt“. Aus der Natur aber läßt sich ziemlich alles rechtfertigen, außer dem Begriff der von Lorenz beklagten (Tod)Sünde. Nur „der Mensch weiß, was gut und böse ist. Adam ist geworden wie unsereiner“, sagt Gott.176 Tiere wissen das nicht. Tiere sind das auch nicht. Mit seiner Formel vom „sogenannten Bösen“ erweckt Lorenz den Eindruck, als ob unser Moralurteil bloß aus mangelhafter Naturkenntnis erwüchse. Wäre der Mensch nichts als ein Naturwesen, so müßte Lorenz ihm nicht empfehlen, im Eigeninteresse naturgemäß zu leben und im Allgemeininteresse naturschonend zu handeln. Naturschutz eines Naturwesens wäre Widersinn. Bei einem solchen ist jedes Verhalten gleichermaßen artgemäß, sogar wenn es so wie die Nacktschnecken auf der Landstraße seine Artgenossen verspeist.177 Menschenfresserei nennen wir biologisierend „bestialisch“. Wer die Menschheitsgeschichte als Kapitel der Zoologie deutet, riskiert (praktisch) einen Rückfall in den Naturzustand oder malt sich (theoretisch) ein anthropomorphes Bild der Tierwelt. 6h. Wenn laut Lorenz – mit einer Verbeugung vor Jacques Monod – wie die Evolution so die Geschichte „nur von Zufall und Notwendigkeit gelenkt wird“, umgeht er das Erklärungsproblem. Denn Zufall kann man nicht erklären, und die Rede von Notwendigkeit beruht auf Phantasiearmut. Sein Rekurs war für Lorenz eine „Tatsache, die erfahrungsgemäß für sehr viele Menschen unannehmbar ist“.178 Dies trifft zu, nämlich für jeden, der historisch denkt. Der Zweite Weltkrieg war weder zufällig noch notwendig. Von Zufall reden wir, wenn wir eine Münze auf der Straße finden, aber nicht, wenn wir sie gesucht haben. Von Notwendigkeit dürfen wir sprechen, wenn wir für die Reise über den Atlantik ein Fahrzeug brauchen, aber nicht, wenn wir zur Entspannung in die Karibik reisen. Um Geschichte zu verstehen, betrachten wir Ereignisfolgen als Ergebnisse grundsätzlich freier und verantwortlicher Handlungen denkender Wesen. Nur so begreifen wir Menschen, denn so erfahren wir uns selbst. 6i. Lorenz vertritt in seinem Buch ›Die Rückseite des Spiegels‹ 1973 seine schon 1941 im Anschluß an Ernst Haeckel179 formulierte „evolutionäre Erkenntnis­ theorie“. Biologisch gesehen ist unser Gehirn ein phylogenetisch entstandener „Weltbildapparat“, der uns das für die Arterhaltung notwendige Wissen zu erwerben gestattet. Diesen Gedanken entnahm einst Cicero der Stoa, wonach die Natur im Interesse des Lebens dem Menschen den Geist (mens) geschenkt habe, den Tieren die geistähnliche Appetenz.180 Schon die Antike aber unterschied den bloß

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arterhaltenden Instinkt der Tiere vom artgestaltenden Geist der Menschen, vom logismos bei Platon oder dem hēgemonikon bei Zenon. Die Vernunft gebietet uns, unsere naturwüchsigen Triebe zu bändigen und erlaubt uns, unser Wissen über das lebensnotwendige Maß hinaus beliebig zu erweitern.181 Dazu zählt auch die „evolutionäre Erkenntnistheorie“, die zur Arterhaltung nichts beiträgt und daher evolutionär überflüssig ist. 6j. Wäre unsere Entscheidungsfreiheit ein Geschenk der Natur allein, um unsere Art zu erhalten,182 bliebe unerklärlich, wie wir sie – abgesehen von allem kulturellen Glasperlenspiel – zum Martyrium für einen Glauben, zum Selbstmord aus Scham oder gar zum Overkill aus Torheit nutzen können. Die einst rudimentäre Vernunft des Steinzeitmenschen hat diesem eine Existenz von vier Millionen Jahren ermöglicht. Die dank der Evolution hoch entwickelte Intelligenz des Jetztmenschen läßt eine erheblich kürzere Lebensdauer erwarten. Um darin die „kreative Selektion“ zu erkennen, müßte man mit Lorenz uns Heutige als Trittbrett für die nächste Stufe der evolutionären Höherentwicklung deuten und an den künftigen „wahrhaft humanen“ Neumenschen glauben. Damit würde auch der Mensch ein Opfer der Evolution. 6k. Die Evolutionstheorie beschreibt, wie unsere geistigen Fähigkeiten entstanden sind. Sie erklärt aber nicht, welchen Gebrauch wir von ihnen machen. Unser Denk- und Handlungsvermögen ist ein Mechanismus im Ursinn des Wortes. Griechisch mēchanē bezeichnet ein „sinnreich ersonnenes Hilfsmittel“, bei dem, so wie bei jeder Maschine, ein Erbauer, ein Zweck und ein Benutzer begriffsnotwendig mitgedacht sind. Wir nennen das Gehirn treffend ein Organ, von griechisch organon – Werkzeug, das gleichfalls den Arbeiter voraussetzt, für den es gemacht ist, der es verwendet. In unserem Fall ist das der Forscher, für den sein „Weltbildapparat“ eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung seiner Arbeit ist. Ob und wie er seine Intelligenz anwendet, das steht ihm frei. 6l. Dies aber wäre ein Irrtum, wenn unser Denken und damit auch unser Handeln eine bloße Funktion naturgesetzlicher Stoffwechselprozesse in unseren Köpfen wäre. Als nach Kants Tod am 12. Februar 1804 dessen Schädel vom akademischen Prosektor Kelch „nach der Gallschen Methode“ anatomisch untersucht wurde,183 ergab sich daraus nichts für das Verständnis des Kategorischen Imperativs. Aus den neuronalen Engrammen unserer grauen Zellen läßt sich die dort gespeicherte Erinnerung selbst durch noch so genaue Untersuchung nicht herauslesen. Darum hat Lorenz keine Aussicht, wie er 1973 hoffte, die Geisteswissenschaft in die Biologie zu integrieren.184 Damit würde der Mensch zur Überlebensmaschine seiner Gene. Die Theorie der Evolution ist kein Produkt der Evolution. Kulturelle Phänomene lassen sich aus der Desoxyribonukleinsäure unserer Gene ebensowenig herleiten wie der ›Faust‹ aus dem Alphabet, die ›Kunst der Fuge‹ aus der Akustik oder die ›Nachtwache‹ aus der chemischen Farbenlehre. Das jeweils gestaltende Element nennen wir Geist. 6m. Wer die Theorie der Evolution nicht als Selbstoffenbarung der Natur und damit als Glaubenswahrheit auffaßt, sondern als gut begründete Arbeitshypothese in



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einem offenen Forschungsprozeß, der kann sich seinerseits nicht einfach für ein Erzeugnis der Evolution erklären. Denn deren Erkenntnis ist ein Resultat seines Nachdenkens. Wäre so wie der animalische auch der geistige Mensch, der Forscher ein Produkt der Evolution, würde diese sich selbst erforschen, und der Forscher wäre bloß die Mattscheibe, auf der die Natur sich selbst bespiegelt. Das Bild, das Lorenz von der Rückseite des Spiegels zeigt, ist selbst wiederum ein Bild im Spiegel. Die evolutionäre Erkenntnistheorie bietet uns die Natur als ein Bild, das sich selbst malt. Wer da meint, eine Natur, die sich selber schafft, könne auch sich selber malen, vergißt, daß auch die sich selbst schaffende Natur ein Bild ist, das wir uns von ihr machen. Dieses Bild ist kein mechanischer Reflex von Gegebenheiten, sondern in mühsamer Arbeit gewonnene Einsicht. Unser Bild von der Natur ist perspektivisch und setzt, wie schon der Begriff Reflex, eine Blickdistanz zum Gegenstand voraus. Eine Natur, die ihrerseits den Begriff von sich produziert, erinnert an den Lügen­ baron, der sich samt seinem Pferd am eigenen Zopf selbst aus dem Sumpf zieht.185 Derartiges vermochte nur der Weltgeist in Jena 1806, als er sich in Hegels Gehirn zum Bewußtsein seiner selbst emporschwang.186 Der Gedanke der selbstgenügsamen Geistnatur führt von Lorenz über Haeckel und Darwin zurück zu Hegel. 6n. Das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Natur fand Ausdruck in Verwandtschaftsmetaphern. Bion von Borysthenes im 3. Jahrhundert v. Chr. nannte die Natur die Mutter der Tiere, aber die Stiefmutter des Menschen.187 Kant hingegen sprach von der „Entlassung des Menschen aus dem Mutterschoße der Natur.“188 Die Möglichkeit, dieses zu wissen, verdankt er der Natur; doch muß er dazu von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, salopp gesagt: sein naturgegebenes Gehirn einschalten. Erkenntnis begreift und erfaßt eine Sache, Erkenntnis ist kein Teil der erkannten Sache. Anderenfalls wäre diese ohne ihr Erkanntsein unvollständig und würde erst durch ihr Erkanntwerden zu dem, was sie ist, und nicht nur zu dem, als was sie erscheint. Damit entfiele das Gegenüber von Objekt und Subjekt, von Gegenstand und Vorstellung und damit die Möglichkeit, durch Bemühung um den Gegenstand die Richtigkeit unserer Vorstellungen von ihm zu prüfen. 6o. Eine – diesmal innere Distanz – zwischen Objekt und Subjekt ist erforderlich auch für die Selbsterkenntnis und für die Selbstbeherrschung, ja für die Selbstdarstellung. Das zeigt sich bereits in der jüngeren Altsteinzeit, als der Mensch sich selbst zum Objekt machte, indem er sich selbst bemalte und seinesgleichen auf Felsbildern darstellte. Diese Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit ist es, die uns Selbstkritik erlaubt. Sie ist durchaus sinnvoll, da man sich mit seiner Selbsterkenntnis irren kann. 6p. Die Naturgeschichte geht der Wissenschaft zeitlich, die Wissenschaft geht der Naturgeschichte methodisch voraus. Die Methodologie hat auch ihre Ge­­schichte. Sie fällt in die Wissenschaftsgeschichte, die unsere Kenntnis enorm vermehrt hat, darüber hinaus aber alte, noch immer relevante Deutungsansätze enthält, deren Kenntnis wir benutzen und benötigen, um die Leistungsfähigkeit unserer Methodologie zu beurtei-

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XIV. Geschichtsbiologismus

len. Insofern ist das Gipfelgespräch in der Geistesgeschichte seit Anaximander ein Instrument der Methodologie. Zwischen Chronologie und Methodologie, zwischen Objekt und Subjekt gibt es keine Priorität – es sind zwei Seiten einer Medaille. Wer so wie die Naturgeschichte auch die Wissenschaftsgeschichte darwinistisch interpretiert, der dogmatisiert den Darwinismus, denn auch dessen Widerlegung würde ihn bestätigen, hätte der Antidarwinismus sich doch im Kampf ums Dasein gegen den Darwinismus durchgesetzt! Der Biologismus ist, wie Hitlers Bemerkung zu Speer zeigt, durch Ereignisse nicht widerlegbar, er ist, anders als die Biologie, immun gegen Kritik. 6q. Der Darwinismus zeigt Züge einer Wissenschaftsreligion, die Ernst Haeckel mit seiner Altenburger Rede über den Monismus am 9. Oktober 1892 höchst erfolgreich in Szene setzte. Kennzeichen dafür ist die Annahme von ewigen Wahrheiten, eine sakrale Aura, die Verkündung von Verhaltensregeln und eine universale Anwendbarkeit. Der Pandarwinismus ist eine mechanische Patentformel für alles und jedes. Man hat sie ernsthaft angewandt auf die Rechtsgeschichte, auf die Sprachentwicklung, auf die Musikästhetik, auf die Kunstrichtungen, auf die Psychologie, auf die Astronomie, ja sogar auf die Chemie und Experimentalphysik, wo die Teilchen einander den Raum streitig machen. Warum nicht auf die Meteorologie, wenn die Sonne mit dem Nebel kämpft, oder auf die Hutmode, als der Zylinder sich gegen den Dreispitz durchsetzte? 6r. Lorenz braucht einmal das ganz unbiologische Bild von der „phylogenetischen Erbmasse“, auf der sich der „hohe Bau“ der Kultur erhebt.189 Das besagt, daß die Natur eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Geschichte darstellt. Bauen ist kein Naturvorgang. Der konsequente Geschichtsbiologismus hingegen, der den Menschen als Marionette der Natur betrachtet, ist eine intellektuelle Selbstentmündigung, um nicht zu sagen Selbstkastration, wie solches aus der Religionsgeschichte wohlbekannt ist.190 Seitdem der Mensch um sein Selbstverständnis ringt und an sich arbeitet, unterscheidet er sich vom Tier. Wenn uns die Verhaltensforschung mehr und mehr über die natürlichen Weisen unseres Handelns belehrt, bringt sie uns dem Tier nicht näher, sondern erweitert den Abstand. Denn unser wachsendes Wissen über den Affen-in-uns macht uns dem Affenaußer-uns immer unähnlicher, dessen Selbsterkenntnis ja gerade nicht fortschreitet. Das sah Wilhelm Busch in Wiedensahl freilich anders: Sie stritten sich beim Wein herum, Was das nun wieder wäre: Das mit dem Darwin wär gar zu dumm Und wider die menschliche Ehre. Sie tranken manchen Humpen aus, Sie stolperten aus den Türen, Sie grunzten vernehmlich und kamen nach Haus Gekrochen auf allen Vieren.

Tempus non erit amplius Offb.

XV. Posthistorische Endzeit a. Omnis natura vult esse conservatrix sui. „Stets ist die Natur bemüht, sich selbst zu erhalten“. So könnte man das Wort Ciceros wiedergeben. Dem widersprach Seneca: Nihil difficile naturae est, utique ubi in finem sui properat – „Nichts ist schwierig für die Natur, jedenfalls wenn sie ihrem Ende zueilt.“1 Welcher der beiden Sätze gilt für die Geschichte? Könnte es auch heißen: omnis historia est conservatrix sui? Sorgt auch sie dafür, daß es immer mit ihr weitergeht: mit dem Kampf um die Macht, mit der Steigerung des Wissens und des Wohlstands, mit dem Aufstieg und Nie­ dergang der Kulturen? Oder steuert die Geschichte ihrem Ende zu, einer Über­ windung der Geschichtlichkeit in einem Rückgang des Ereignistempos bis zum Stillstand. einer zeitlosen Pax oecumenica oder einer Selbstauslöschung des Menschengeschlechts? b. Die Frage nach dem Gang der Geschichte war und ist immer auch eine nach ihrem Fortgang und ihrem Ausgang. Man glaubt aus dem Vergangenen das Kommende erschließen zu können: einerseits eine Wiederholung des Bisherigen, andererseits eine Fortsetzung im bisherigen Sinn. So resultiert entweder aus dem Abstieg der Untergang oder aus dem Fortschritt ein glücklicher Weltensabbat, sei es im Diesseits oder im Jenseits. Letzteres erscheint als ein Tag ohne Abend, ohne Ende – sabbatum non habens vesperam, wie Augustinus die Ewigkeit beschrieb.2 Sie entspricht dem siebten Schöpfungstag, an dem Gott ruhte. Im Weltensabbat kommt die Geschichte zum Stillstand.3 c. Die Vorstellung einer begrenzten Dauer der Menschheitsgeschichte ist alt. Wie das Leben des Einzelnen, so findet auch das Dasein der Gattung irgendwann ihren Abschluß. Die historische Apokalyptik, die im 20. Jahrhundert Konjunktur hatte, durchzieht die Geistesgeschichte seit ihren Anfängen. Berdjajew meinte 1923 gar, die ganze Weltgeschichte sei nichts als die innere Enthüllung der Apokalypse.4 Die Furcht vor dem Untergang und die Hoffnung auf die Erlösung waren Wurzeln der christlichen Religion. In der Gegenwart haben philosophische Aufklärung und technischer Fortschritt die beiden entgegengesetzten Erwartungen als Formen einer säkularen, irdischen Zukunft möglich gemacht: sowohl die Selbstverwirklichung in demokratischer Wohlfahrt als auch die Selbstvernichtung der Zivilisation im atomaren Inferno.5 Was man früher von Gott als dem Weltenrichter erwartete, hat die Menschheit in die eigenen Hände genommen. Unklar ist, wer den „Prozeß“ der Geschichte gewinnt. Führt der Versuch einer Rechtfertigung zum Freispruch mit Vorbehalt oder zum Todesurteil auf Raten?

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XV. Posthistorische Endzeit

d. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion scheint die Gefahr eines Dritten Weltkriegs mit nuklearem dies irae gebannt. Das Ende der Furcht hat Raum geschaffen für die Hoffnung auf ein friedliches Ende, vielleicht in Form eines allenfalls von Nachwehen begleiteten schleichenden Übergangs in eine geschichtslose Endzeit, sozusagen eine innergeschichtliche Außergeschichtlichkeit, frei von ernsten Grundsatzkonflikten, eine prosperierende Weltgesellschaft, die ihre Probleme schiedlich-friedlich löst. e. Das Gefühl eines Abschieds ist verbreitet.6 Es spiegelt sich in einer wachsenden Zahl von negativen Selbstbezeichnungen wie postindustrielle Produktion, postfossiler Kapitalismus, postkapitalistische Wirtschaft, postdialektisches Denken, postmoderne Kunst, postmediale Wirklichkeiten, postalphabetisches Fernsehpublikum, postzivilisatorischer Kannibalismus, postimperiales Europa, postpoetische Dichtung, postutopische oder posttotalitäre Ideologie, postheroische, postsäkulare oder postbürgerliche Gesellschaft, postkulturelle Kulkur, poststrukturalistische, postkopernikanische oder postmetaphysische Philosophie, postrevolutionäre, postdemokratische, postkoloniale oder gar postpolitische Politik, kurz: posthistorische Zeit, die posthistoire. Dahinter steht der Eindruck von einer Andersartigkeit alles Heutigen, einer Fremdartigkeit alles Früheren. f. Das Pendant zu den postfixierten Strömungen bilden die mit dem Präfix „neo-“ bestückten Richtungen. Sie kennzeichnen das Paradoxon, daß Begriffe wie neoabsolutistisch und neokolonial, neoliberal und neokonservativ, neonazistisch und neomarxistisch gerade nichts Neues bezeichnen, sondern daß es sich bloß um Rückfälle in überholte Positionen, um alte Hüte auf neuen Köpfen handelt. Man unterstellt, daß es mit der neo-notierten Sache vorbei sei, so wie bei den mit „post“ verbundenen Adjektiven. Identität wird durch Negativität bestimmt, in einem Zweiphasenmodell über ein „Nicht mehr“ definiert. Was ist oder kommt, bleibt unbezeichnet, offen, leer. Der Übertritt ins Niemandsland der Nachgeschichte führt uns ins sprachliche Nirwana.

1. Finis historiae 1a. Die Vorstellung, die Geschichte liege im wesentlichen hinter uns, ist eine Voraussetzung für jede solide Universaltheorie. Denn man kann über ein Ganzes nicht urteilen, ehe es vollständig vorliegt. Daher haben sich die meisten Geschichtsdenker in den fünften Akt des Menschheitsdramas eingeordnet. Es gibt eine Endzeitstimmung, die in der Antike bei Platon7 und den Stoikern, im Christentum seit Johannes dem Täufer und der ersten Predigt Jesu8 aufscheint und seit der Aufklärung bei den verschiedensten Autoren in unterschiedlichsten Kontexten begegnet. Ein seit der Französischen Revolution weitverbreitetes Krisenbewußtsein sieht sich auf der Schwelle zu einer gegenüber der gesamten Vergangenheit radikal andersartigen Zukunft. Ein solches Endzeitgefühl fanden wir schon bei Hegel. Nachdem er die Volksgeister, die ihr Pen-



1. Finis historiae

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sum erledigt haben, in die Geschichtslosigkeit entlassen hat, steht dieser Zustand auch der Weltgeschichte im ganzen bevor. proklamierte das Ende der Kunst (einschließlich der schönen Literatur),9 das Ende der Philosophie (einschließlich der Wissenschaften) und das nahe Ende der Geschichte (einschließlich der Politik).10 Denn er glaubte, daß die Menschheit im protestantisch-preußischen Staat ihren End- und Höhepunkt gefunden habe. Gegen den Einwand, ein weiterer Fortschritt wäre der republikanische Großstaat nach amerikanischem Muster, erklärte Hegel, Amerika sei nur ein Fortsatz Europas. Das „Land der Zukunft“ sei „noch nicht soweit vorgerückt, um das Bedürfnis des Königtums zu haben“. Im übrigen heißt es: „Der Philosoph hat es nicht mit dem Prophezeien zu tun“. Darin war er freilich nicht konsequent, da er behauptete, daß „letzte Stadium der Geschichte“ sei gekommen.11 1b. Nachdem der Weltgeist im Bewußtsein Hegels zu sich selbst zurückgefunden hat, ist die Arbeit der Geschichte erledigt. Das sah Marx anders. Seine Endzeitvision unterscheidet sich von Hegel darin, daß er sich im letzten Stadium der „Vorgeschichte“ glaubte, am Beginn der eigentlichen Geschichte, die nicht mehr wie bisher „naturwüchsig“ verlaufen wird, sondern – nun doch wieder wie Hegel – das Reich der Freiheit eröffnet. Die Einebnung der Klassengesellschaft war für ihn die goldene Zukunft, aber in den Augen des kulturtragenden Bürgertums das irdische Inferno. Schon 1835 hatte Tocqueville die bevorstehende Egalisierung in düsteren Farben geschildert: Um ihrer „kleinen und vulgären Freuden“ willen unterwirft sich die selbstverschuldet entmündigte Gesellschaft der demokratisch legitimierten Verwaltungsdiktatur.12 Geschichte beruht auf Spannung. Bei Gobineau bestand sie in Rassengegensätzen. Diese aber tendieren zur Vermischung. Dadurch wird die Menschheit rassisch homogenisiert und historisch sterilisiert. Das mündet, meinte er, in die Geschichtslosigkeit.13 1c. Auch ein dritter Franzose sah das bevorstehende Ende der Geschichte in trübem Licht. Der Mathematiker Antoine Augustin Cournot (1801 bis 1877) prägte 1861 für das soeben angebrochene „letzte Stadium“ den Ausdruck posthistoire.14 Alle Erfindungen und Einrichtungen hätten ihre Perfektion erreicht. Der Markt und das Geld hätten andere Interessen verdrängt und die gesellschaftlichen Spannungen zum Ausgleich gebracht. Es gehe nicht mehr um Religion und Kultur, sondern um Ökonomie und Demographie. Die Volkssouveränität sei eine ebensolche Chimäre wie das Gottesgnadentum. Anstelle der Politik regiere künftig eine treusorgende Verwaltung mit Amtsblättern, der Literatur der neuen Zeit. So wie alle Flüsse kanalisiert werden, so werden auch alle geistigen Strömungen reguliert, die Gesellschaft befindet sich in einem stabilen, dauerhaften Gleichgewicht wie ein „Bienenstock“. Cournots Muster für die Zukunft bietet nicht Amerika, sondern China mit seiner starren Hierarchie von Mandarinen. An der Stelle des bisherigen Zufalls herrscht hinfort die Notwendigkeit mittels Statistik. Cournot wußte, daß seine Vision schockiert, aber ihn tröstete, daß die Menschen genau das anstreben, was er beschreibt. Weshalb also klagen?15

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XV. Posthistorische Endzeit

1d. Mit Cournot teilte dann Spengler das Endzeitbewußtsein.16 Der in fatalistischer Selbstheroisierung verkündete Untergang des Abendlandes ist das Ende der Kulturgeschichte überhaupt, nicht nur in Europa, da die faustische Zivilisation den Globus erfaßt hat und keine weitere Hochkultur die zu ihrer Entwicklung erforderliche Isolation genießt – auch die russische nicht. So wie man mit demselben Schritt einen Garten und ein Land verlassen kann, an dessen Grenze er liegt, so stehen wir nach Spengler vor einem doppelten Ausgang einerseits aus der Geschichte des Abendlandes und andererseits aus der Kulturgeschichte der Menschheit und befinden uns damit vor einem Übergang in eine kulturlose Zukunft der Zivilisation oder ein Fellachentum. 1e. Spenglers Endvision wurde aufgenommen von einer Reihe rechtsintellektueller Autoren. Ernst Jünger (1895 bis 1998) meinte 1932 zwar, die Kulturmorphologie lasse keine gültige Prognose zu, konstatierte aber selbst: „Wir nehmen an dem Schauspiel eines Untergangs teil, der nur mit geologischen Katastrophen zu vergleichen ist.“ Die „vernichtenden Veränderungen der natürlichen und geistigen Bildungen auf der gesamten Erdoberfläche“ führten in eine „neue Einheit, deren Heraufkunft hinter den Trümmern der Kultur und unter der tödlichen Maske der Zivilisation zu ahnen ist.“ Prägnanter formulierte er 1959, „daß wir uns am Abschluß eines Zyklus befinden, der die Geschichte, ja vielleicht die menschliche Existenz auf dieser Erde übergreift“. Sinnverwandt sind seine Formeln „Abschied von der Geschichte“, „Furcht einer Endzeit“, „Anzeichen einer Weltwende“ und nicht zuletzt das Bild der „Zeitmauer“, die wie andere Mauern Undurchdringlichkeit vorspiegelt.17 In Jüngers Roman ›Eumeswil‹ aus dem Jahre 1977 ist von „Geschichtsverfall“ die Rede, von einer „Epigonenwelt dahinsiechender Großreiche“ und von „Endzeiten, in denen die historische Substanz erschöpft ist.“ Der „Katalog der Möglichkeiten“ gibt nichts mehr her, die „großen Ideen sind durch Wiederholung abgeschliffen.“ Was einer übersättigten Spätzeit verbleibt, sind Brot und Spiele wie im römischen Kaiserfrieden, als das Volk jeden Ehrgeiz, jeden Tatendrang verloren hatte.18 „Geschichte ist tot“, das aber „erleichtert den historischen Rückblick“, der nicht mehr durch Visionen getrübt ist.19 Noch 1993 gab Jünger ein Interview zur Zukunft. Er hielt es für möglich, daß wir „am Ende schon außerhalb der Geschichte stehen“, jedenfalls „wird sich die Entfernung des Menschen aus der Geschichte fortsetzen.“20 1f. Ein Jünger geistig verwandter Denker war der Arzt Gottfried Benn (1886 bis 1956). Er fürchtete 1947 die „Zukunftslosigkeit eines ganzen Schöpfungswurfes“. Im Anschluß an Spenglers achte Hochkultur gehen „durch Abspannung“ das Quartär und das „Dogma vom Homo sapiens“ zu Ende. Alles sei abgespielt, Plethora, Sättigung, eingetreten. Im kommenden Quintär gönnt er uns noch eine Restgeschichte, ein „Aprèslude“ des „synthetischen Lebens“ in einem „Lotosland, in dem nichts geschieht und alles stillsteht.“21 Benn erinnert hier an jenes friedfertige Mär-



1. Finis historiae

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chenvolk der Lotos-Esser, das in der Odyssee und bei Apollodor erwähnt wird. Die Gefährten des Odysseus haben von der honigsüßen Blumenspeise genossen, alles vergessen und wollen nicht mehr zurück.22 1g. Ähnlich düstere Zeitbilder bieten zwei niederländische, von Spengler beeinflußte Zivilisationskritiker: der Holländer Jan Huizinga (1872 bis 1945) und der Belgier Hendrik de Man. Huizinga schrieb 1935: „Das Gefühl, einem Endpunkt nahe zu kommen, ist uns vertraut genug geworden.“ Er sprach vom „Ende der Kultur“ und konstatierte: „Die Welt zeigt das Bild von Spenglers Zivilisation plus ein Maß von Wahnsinn, Humbug und Grausamkeit.“ Sichtbarster Ausdruck erschien ihm die „Entartung“ der auf Effekthascherei reduzierte Kunst. Und 1943: „Die Welt geht der nächsten Zukunft als räuberische Gemeinschaft einer gewinn- und genußsüchtigen Menschheit entgegen.“23 1h. Der Belgier Hendrik de Man (1885 bis 1953) unterschied 1951 in seinem Buch ›Vermassung und Kulturverfall‹ in der Kulturgeschichte drei parallele Vorgänge: einen kumulativen Prozeß, bei dem immer mehr hinzukommt; einen zyklischen Prozeß, der über einen Höhepunkt in den Niedergang führt; und einen dialektischen Prozeß, der aus Umschlägen ins Gegenteil besteht. Hier wird nuklearer Pessimismus spürbar. Die moderne Industriegesellschaft in den Großstädten, mit der „ergokratischen“ Arbeitswut der kapitalistischen Wirtschaft, entfalte „Herdeninstinkte“: Die Massenmedien propagieren die Massenware der Massenproduktion nach dem von den Mode- und Meinungsmachern manipulierten Massengeschmack. Maß ist nicht Qualität, sondern Quantität. Literarisches Muster ist der Bestseller. Dominant sind Mechanisierung, Nivellierung und Amerikanisierung. Folge ist die „Katastrophe“ der abendländischen Kultur, der Eintritt in die „außergeschichtliche Zeit“, in die „Phase der Sinnlosigkeit“. Den Beginn des Abstiegs datiert de Man mit seinem flämischen Landsmann Joris-Karl Huysmans bereits ans Ende der Stauferzeit. Die Gegenwart nennt er in Anlehnung an Cournot „Posthistorie“.24 Den Begriff übernahm dann Arnold Gehlen und erläuterte ihn durch die „Kristallisation“ in der Spätkultur, gemeint ist die Erstarrung der Kreativität, die nur noch Erbstücke so oder anders verwende.25 1i. Spenglers These vom Übergang in die Zivilisationsphase steht hinter der radikalen Fortschrittskritik von Günther Anders aus dem Jahr 1980. Hatte Spengler die Technik als schicksalhaftes Thema der Zukunft hingenommen, so wird sie von Anders als Übermacht angeklagt. Sie ist das Signum der Endzeit, offenkundig seit Hiroshima, und damit der Auftakt zum Untergang. Eine neue Art von Geschichtslosigkeit geht aus ihm voraus: die Verdrängung des Menschen aus seiner Rolle auf der Weltenbühne durch die sich verselbständigende Technik. Ihre magische Faszination degradiert den Menschen zur Marionette der Maschine; was immer sie erlaubt, das geschieht. Die Technik bestimmt unser Denken und Handeln und wurde so zum Subjekt der Geschichte. Das Fließband produziert und postuliert eigendynamisch eine uferlose Steigerung des Warenangebots, die Massen-

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XV. Posthistorische Endzeit

medien erzeugen die erforderlichen Konsumbedürfnisse, der Mensch ist zum Instrument seiner Instrumente geworden,26 wie es die Fabel vom Zauberlehrling bereits bei Lukian von Samosata vorausdeutete.27 1j. Unberührt von der Spengler-Tradition steht der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini (1885 bis 1968). Er beschrieb 1950 das ›Ende der Neuzeit‹, zog einen Vergleich zwischen der Moderne und der christlichen Kultur des Mittelalters und leitete den Kulturgedanken der Neuzeit aus dem „Empörungsglauben des Autonomismus“ ab. Für die angebrochene „Endzeit“ des „nicht-humanen Menschen“ in einer „nicht-natürlichen Natur“ prophezeite er eine „nicht-kulturelle Kultur“. Er folgert: „Wenn das, was der Mensch der vergangenen Jahrhunderte hervorbrachte und worin er wohnte, Kultur war, dann ist das, womit wir es heute zu tun haben, tatsächlich etwas anderes.“28 Wörter wie „Humbug“ oder „Firlefanz“ hier einzusetzen, überließ Guardini dem Leser. So wie die frühen Christen glaubte Guardini mit den Vorgenannten: Jetztzeit ist Letztzeit.

2. Die Geburt der Komödie 2a. Das Gefühl, am Ende der Geschichte zu stehen, wird überwiegend als Schmerz empfunden. Dennoch gibt es Autoren, die ohne Scheu auf der Zeitenschwelle in die posthistorische Zukunft blicken. Zu ihnen zählt Alexandre Kojève (1902 bis 1968). Ihn haben in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Hegel und Cournot inspiriert. Kojève alias Koschewnikow, ein Schüler von Jaspers,29 löste Marxens Unentschiedenheit, ob die Geschichte mit der Weltrevolution aufhöre oder anfange, mit der These ab, bereits Napoleons Sieg bei Jena markiere das Ende der Geschichte. Alles Spätere begriff Kojève als bloße Ausführung des damals verkündeten Programms, indem die geschichtsmächtigen Potenzen, allen voran die Nationalstaaten, in einen globalen sozialistischen État homogène et universel übergingen. In ihm finden Begierde, Kampf und Arbeit ihr Ende; im Frieden mit sich und der Natur widmet sich der Mensch der Kunst, der Liebe und dem Spiel sowie der Lektüre historischer Bücher. Als Testamentsvollstrecker Napoleons sah Kojève bis 1945 Stalin, bekehrte sich dann zum Kapitalismus und deutete den für 1950 erwarteten Endzustand wie Cournot als universalen Bienenstock. Der Markt regiert, Konsum floriert, der Mensch vertiert.30 2b. Fortgesponnen wurde die Idee der Nachgeschichte in der poststrukturalistischen Philosophie Frankreichs. Jean Baudrilland hielt im Orwell-Jahr 1984 an der Berliner Freien Universität einen Vortrag, in dem er erklärte, das Jahr 2000 werde nicht stattfinden. Das begründete er nicht mit einem atomaren Schlußakkord, sondern mit einem finalen Decrescendo historisch relevanter Vorgänge. Geschichte sei eine Form des Geschehens, die zu Ende gegangen sei.31 Baudrillard argumentiert – so wie Hendrik de Man32 – kommunikationstheoretisch. Durch die moderne Nachrichtenschwemme habe sich die Zahl der wahrgenommenen Ereignisse ins



2. Die Geburt der Komödie

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Massenhafte gesteigert, so daß kein einzelnes unter ihnen die Zeit finde, seine Eigenart zu zeigen und seine Wirkung zu entfalten. Ein historisches Bewußtsein ertrinke in einem Schwall von Jubiläen und Rückblicken. Das Publikum werde durch die Flut an ephemeren Informationen, an kleinkarierter Routine übersättigt und erstickt, die Geschichte „implodiert in Aktualität“. Die neue Urlaubsreise steht bevor, noch ehe die Fotos von der alten eingeklebt sind. Die eingetretene Ge­­ schichtslosigkeit besteht für Baudrillard mithin nicht aus einem Mangel, sondern aus einer Überfülle an Ereignissen, aus dem Übergang von der Linearität in die Turbulenz. Er entwickelte seine Theorie – wie auch Fukuyama – noch vor der Wende und stellte daher zwei Formen ahistorischen Lebens einander gegenüber, die ewige Eiszeit im Osten und eine tropische Faktendichte im Westen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, schreibt er, habe die geschichtslose Postmoderne die Menschheit in ein „Dauer-Koma“ gestürzt und die „Apokalypse der Indifferenz“ ausgelöst.33 Mit dem Ende der „differentiellen Energie“ – wir denken an die Entropie der Thermodynamik – sei die Geschichte selbst Geschichte geworden. Sie gleiche einem toten Baum, an dem Gehenkte hängen.34 2c. Brisant wurde die These vom Ende der Geschichte durch die veränderte weltpolitische Großwetterlage mit dem Niedergang der Sowjetunion. 1989 verkündete der Amerikaner japanischer Abstammung Francis Fukuyama seine demokratische Eschatologie.35 Sein Buch von 1992 ›The End of History‹ hat Aufsehen erregt.36 Die Zielrichtung der Geschichte – gemeint ist die die Neuzeit – beruhe, heißt es, auf dem Fortschritt der Naturwissenschaft, die den Wohlstand im Kapitalismus ermöglicht habe, und auf dem allgemeinmenschlichen Wunsch nach gegenseitiger Anerkennung, den die Demokratie erfülle. Hier hören wir Hegel und Kojève. Im Zusammenbruch des kommunistischen Systems sah Fukuyama den definitiven Sieg der parlamentarischen Demokratie und des liberalen Kapitalismus, den Eintritt ins „Gelobte Land“.37 Darin bestätige sich die Prophezeiung von Karl Popper, daß die „offene Gesellschaft“ (vom Typus Athen) über die „geschlossene“ (vom Typus Sparta) triumphieren werde.38 Zur politischen und wirtschaftlichen Freiheit gebe es nun in der „posthistorischen Welt“ keine Alternative mehr, und das, was an friedlichen oder kriegerischen Ereignissen noch bevorstehe, seien allenfalls die Nachwehen zur nunmehr erfolgten „Geburt der Komödie“, die bis zum Ende der Menschheit andauern werde. Indem die Grundprobleme des Zusammenlebens nach Jahrtausenden des Experimentierens mit Verfassungen endlich gelöst, die ideologischen Differenzen überwunden seien, da nun global gleichartiger Wohlstand, gegenseitige Anerkennung und dauerhafter Frieden bevorständen, verdiene das, was jetzt im „posthistorischen Greisenalter der Welt“39 vielleicht noch in Albanien oder Obervolta vorfalle, nicht mehr die Bezeichnung „Geschichte“. Fukuyama bekennt sich zu der populären Idee eines kohärenten und konsequenten Geschichtsprozesses, der auf der Zielgraden zu einer gleichmäßig zivilisierten Weltgesellschaft sei. Er begründete seine Theorie vom endism mit der Formel seines amerikanischen

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XV. Posthistorische Endzeit

Sendungsbewußtseins: we won. In der lebhaften Diskussion über seine These40 räumte Fukuyama ein, daß die von ihm verheißene Zukunft geschichtsloser Wohlstandsdemokratie langweilig und daher eigentlich eine „sehr traurige Zeit“ sein werde.41 Eine vielleicht unbeabsichtigte Ironie liegt in dem als Motto verwendeten Nietzsche-Zitat: „Wir sind am Ziele, wir sind das Ziel, wir sind die vollendete Natur.“42 2d. Die Postmoderne ist der über das Programm der Aufklärung hinaus zu Ende gedachte Liberalismus. Mit dem Protest gegen die Vormundschaft von König und Kirche, mit dem Postulat gleicher Rechte für alle Menschen und alle Meinungen werden zuletzt die politischen, sozialen und geistigen Hierarchien aufgelöst in das nivellierte System miteinander lebender Menschen und Gruppen. Wenn dies noch als „modern“ empfunden wird, ist der Schritt zur „Postmoderne“ da vollzogen, wo aus der regulierten Vielfalt das hemmungslose Neben- und Gegeneinander, aus dem Garten ein Dschungel wird, indem die der Aufklärung zugrundeliegenden Prinzipien eingeebnet und beliebigen anderen gleichgeordnet werden. Wahrheit und Gerechtigkeit, Toleranz und Humanität, ursprünglich als Kampfbegriffe gegen die „Mächte der Finsternis“ gedacht, werden nun aus ihrer Antithese gelöst und mit dieser gleichgeschaltet. Der Widerspruch wird als Synthese, Konflikt als Symbiose, Dissonanz als Symphonie harmonisiert und damit aufgehoben beziehungsweise festgeschrieben. Diese von Jean François Lyotard, dem Vater der „Postmoderne“, 1979 entwickelte Doktrin einer ubiquitären Egalität opfert alle ordnungstiftenden Grundsätze dem diffusen Pluralismus der Paradoxien. Die Zwangsjacke der Logik ist abgelegt, also kann man den Fortschritt ablehnen, aber sich selbst als Avantgarde begreifen – oder mißverstehen. Denn wo alles gleich ist, da ist alles egal. 2e. Der Postmodernismus scheut sich nicht, posthuman zu heißen, weil Humanität sich im Gegensatz zur Inhumanität begriff und ihr gegenüber einen Herrschaftsanspruch erhob, was nun als disqualifizierend und diskriminierend dem Verdikt verfällt. Eine postmoderne Spaßphilosophie bekennt sich mit der Parole Paul Feyerabends von 197543 anything goes zu ihrem Erzvater Nietzsche „Nichts ist wahr. Alles ist erlaubt“,44 sofern sie nicht wie Lyotard selbst die Tugend der Konsequenz als präpostmodern ablehnt. Die radikalisierte Postmoderne verwirft im Namen der Freiheit die Verbindlichkeit von Vernunft und Erfahrung und gefällt sich in der zur Normalität erklärte Sinnkrise. Man verzichtet auf Tradition und Konsens, lebt liberal und anarchisch, spontan und chaotisch. Das aber führt zu Konflikten. Dafür bedarf es einer erhöhten oder mit Betäubungsmitteln passierbaren Schmerzgrenze auf dem Weg in das unbeschränkte Freiheitsreich des laissez-faire. Mit der Ver­ abschiedung des Intellekts durch den Instinkt würde der Naturzustand erneuert, den sich Ludwig Klages, Konrad Lorenz und andere Utopisten vielfach erträumt, wenn auch anders ausgemalt haben. Mit der Verabschiedung der Kultur wäre die Geschichte beendet oder sie begänne von vorn. Das war die Idee von Horkheimer und Adorno 1944: Am Ende kommt „die ganze chose noch einmal.“45



3. Geschichtslosigkeit

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3. Geschichtslosigkeit 3a. Im zehnten Kapitel der Apokalypse erscheint ein riesiger Engel und schwört bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, „daß hinfort keine Zeit mehr sein soll.“ Mit der Wiederkehr des Messias ist die Geschichte zu Ende. Dies war sie in gewisser Weise schon mit der ersten Parusie, mit der Vision der Frauen am leeren Grab oder der Himmelfahrt. Das meinte Paulus, als er schrieb, die „Fülle der Zeit“, die plenitudo temporis sei erreicht.46 Für den Frommen ist alles Gerangel um irdische Güter – und was ist Geschichte anderes? – eitles Getriebe, unerheblich und nicht erinnerungswürdig, außer zum Beweis, daß es trostlos und nicht erwähnenswert ist. Den wahren Christen augustinischer Prägung interessiert Geschichte nur, soweit er sie als Wort Gottes in der Bibel liest oder zu deren Verständnis benötigt.47 Die Gemeinde der Heiligen lebt geistlich außerhalb, steht über der Geschichte.48 3b. Für die Menschheit insgesamt vollzieht sich die Entgeschichtlichung, sobald der Messias auf den Wolken des Himmels erscheint. Mit dem Jüngsten Tag kehrt im Kosmos Ruhe ein, die gemäß Thomas von Aquino edler ist als Bewegung. Die Himmelskörper kommen zum Stillstand, die Dunkelheit verschwindet aus der oberen Welt. Die paradiesische Geschichtslosigkeit besteht aus Licht und Lust in seliger Gottesschau. Es gibt keine Pflanzen und Tiere mehr, die ja zur Bedürfnisbefriedigung der Menschen geschaffen waren und daher nun überflüssig sind.49 Auch die ewigen Höllenqualen der Verdammten sind ein geschichtsloser Zustand. 3c. Die neuzeitlichen Vertreter eines Übergangs in die irdische Geschichtslosigkeit50 sind weniger phantasievoll. Sie arbeiten stattdessen mit einem verkürzten Geschichtsbegriff. Er wird so zurechtgeschnitten, daß alles, was nach der behaupteten Finissage geschieht, den Namen Geschichte nicht mehr verdiene und nur als deren unerheblicher Wurmfortsatz zu erachten sei. Er wird amputiert. Die Technik der Operation zeigt musterhaft Fukuyama. Er vollzieht drei Schnitte. Zum ersten schneidet er alles aus, was nicht Politik ist. Das künftige kulturelle, technische und demographische Geschehen zieht er als unerheblich für die Geschichte nicht Betracht. Zum anderen beschränkt er die Politik auf den Siegeszug des American way of life . Wie sich die Ordnung des Zusammenlebens zwischen den himmelweit auseinanderklaffenden „Demokratien“ weiter entwickelt, bleibt außen vor. Zum dritten blendet er als Gegner im Kampf Staaten und Völker, Religionen und Kul­ turen aus zugunsten der angeblich erledigten Konkurrenz politischer Grundprin­ zipien. Da sich unter ihnen, wie er wähnt, die kapitaldemokratische Ideologie ­endgültig durchgesetzt habe, ist alles weitere für ihn bloße Resteverwertung, hegelianisch: „faule Existenz“.51 3d. Wer ein solches eigenwilliges Selektionsverfahren billigt, steht vor absurden Konsequenzen. Er könnte die Geschichte auch 1919 enden lassen, weil damals das seit Homer dominante monarchische Gottesgnadentum als Herrschaftslegitimation52 dem demokratischen „Volkswillen“, gemäß den Prinzipien der Französischen

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XV. Posthistorische Endzeit

Revolution, gewichen ist, wie im Westen so im Osten. Entsprechend dekretierte Spengler 1923: „Alle großen Fragen der Politik sind gelöst ... was übrig bleibt, ist der Kampf um die Macht.“ Dies aber gehöre in die geschichtslose „Zoologie“.53 Schon Napoleon wurde nach diesem Verfahren von Hegel und Kojève zum Vollender der Geschichte befördert. Man könnte sogar die Geschichtslosigkeit des Mittelalters behaupten, weil sich um das Jahr 1000 der christliche Glaube europaweit durchgesetzt hatte. 3e. Die Geschichte Roms könnte man dementsprechend mit der Etablierung der Pax Romana unter Augustus enden lassen, so wie Theodor Mommsen erklärt hatte, in der römischen Kaiserzeit, erstarrt in Routine und Lebensgenuß, finde er „keine Geschichte“, nur einen „Sandhaufen“, nur einen „Sumpf“.54 Schon Livius meldete zum Jahr 444 v. Chr. Geschichtslosigkeit mit den Worten, die als Wunsch über dem Holstentor in Lübeck stehen: concordia domi, foris pax – Eintracht im Inneren, im Äußeren Frieden. Kurz: „Nichts zu berichten.“ Der Tempel des Janus Geminus ist geschlossen.55 Das soziale, kulturelle und religiöse Geschehen schien wie Livius so Mommsen nicht geschichtswürdig. Und doch fehlte es an Auseinandersetzungen nicht. Wo immer eine Idee sich ausbreitet, spalten sich ihre Anhänger und streiten, – nicht nur darüber, ob Jesus gottgleich oder gottähnlich, katholisch oder evangelisch war. Ist das keine Geschichte? Wenn man den Begriff „Geschichte“ dergestalt je nach Bedarf zurechtschneidet, kann man unschwer den „Ausstieg“ aus der Geschichte konstatieren. Hier heißt nicht die Frage, ob ein solcher Schritt möglich ist, sondern ob eine solche Redeweise sinnvoll ist. Was erlaubt nicht der Trick mit der Sprache? 3f. Verständigung kann nur gelingen, wenn die eingeführte Bedeutung der Wörter gewahrt wird. Anderenfalls kommt es zum Kampf um die Definition, um die „Abgrenzung“, denn wie jede Grenzverschiebung so ist Sprachregelung ein Machtakt. Gewiß: die Begriffsgeschichte zeigt, daß der Geschichtsbegriff nie alles Geschehen umfaßt hat, daß immer eine Auswahl getroffen wurde.56 Die Selektionsprinzipien aber waren weitgehend konstant. Geschichtswürdig waren Ereignisse, die Folgen hatten, die Aufsehen erregten oder das Leben von Gemeinschaften veränderten. Die Menge des in diesem Sinne Bemerkenswerten kann größer oder geringer sein, kann gar gegen Null tendieren. Der auf diese Weise erreichbare Zustand der Geschichtslosigkeit ist, wenn auch äußerst unwahrscheinlich in der Praxis, so doch in der Theorie durchaus denkbar. 3g. Die bei Hegel und den Hegelianern übliche Rede von der Geschichtslosigkeit außereuropäischer Völker verweist auf die Quantifizierbarkeit von Geschichte überhaupt. Es gab ereignisreiche und ereignisarme Zeiten. So kennzeichnet Jacob Burckhardt den Begriff „Krise“ durch plötzlich „furchtbare Schnelligkeit“ der Entwicklung, indem der „Weltprozeß“ in Monaten erledigt, was zuvor in Jahrhunderten nicht gelang.57 Der Ausdruck „Stagnation“ gemahnt an einen Morast, wo ein Strom erwartet wird. Er charakterisiert Zeiten und Räume, in denen nichts Nen-



3. Geschichtslosigkeit

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nenswertes vorfällt, wo keine bedeutsame Neuerung, sondern nur mehr oder weniger ewiges Einerlei stattfindet. So etwas hat es immer gegeben. Im Vergleich mit den pulsierenden Hafenstädten war das Leben unter den Schäfern in Arkadien oder das der Pygmäen im tropischen Regenwald arm an großer Geschichte und galt lange als „geschichtslos“, nicht nur bei Hegel.58 Spenglers Muster sind die ägyptischen Fellachen, deren Leben einer gleichbleibenden Ordnung unterlag.59 Geschichtslosigkeit muß kein perspektivischer Irrtum im beschränkten Rückblick des Historikers sein, sondern kann durchaus dem Bewußtsein der Betroffenen entsprechen. Synesios von Kyrene schrieb um 400 n. Chr., seine Bauern glaubten, daß noch immer Agamemnon an der Regierung sei.60 Ereignisarmut muß nicht auf Erlebnisarmut beruhen, das sind verschiedene Kategorien. Die „Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg“ begannen, als er 1754 von seiner väterlichen Alm nach Potsdam kam und es nicht mehr mit Kühen, sondern mit Soldaten zu tun hatte.61 3h. Die unterschiedlich dichte Ereignisfolge im Lauf der Geschichte zeigt ein Blick auf die Frühzeit des Menschen. Von den Heldentaten der Neandertaler und Mammutjäger hat sich keine Kunde erhalten. Wir wissen nicht einmal, seit wann Menschen und Völker Namen getragen haben. Die Urgeschichte vor den ersten Hochkulturen in Mesopotamien und im Niltal mit Hegel aus der Geschichte auszugliedern62 uns als „Vorgeschichte“ zu kennzeichnen oder gar mit Spengler in die Zoologie zu verweisen,63 geht nicht an, wie nicht zuletzt die großartigen Höhlenmalereien der Eiszeit und die gewaltigen Steinbauten der Megalithkultur dartun. Die Entwicklung der Streitaxt ist ein historisch faßbarer Vorgang, nicht aber ein mit ihr vermutlich ausgetragener Zwist unter den Schnurkeramikern. Kriege zwischen Germanenstämmen bezeichnete Spengler als Kämpfe zwischen Ameisenvölkern.64 Die clades Variana hatte andere Folgen als eine Schlacht der Chamaven und Angrivarier gegen die Brukterer, von der nur die Zahl von angeblich 60 000 Gefallenen überliefert ist.65 Sowohl die frühzeitlichen Wanderungen als auch die Fortschritte der Zivilisation vollzogen sich unendlich langsam. Von der ersten Verwendung des Feuers bis zu ihrer Seßhaftigkeit hat die Menschheit fast eine Million Jahre gebraucht. Zwischen den einzelnen zivilisatorischen Fortschritten der Urzeit liegen Jahrtausende. Erst mit der Schrift, dem Metall und dem Städtewesen im 3. Jahrtausend beschleunigt sich der Gang der Dinge, vermehrt sich das Quantum an Geschichte. Seitdem begleitet den technischen Fortschritt das Auf und Ab der Mächte und Kulturen. 3i. Der Befund ungleichmäßiger Ereignisdichte macht Geschichtslosigkeit vorstellbar.66 Für eine solche Fiktion müssen wir uns eine Zeit vorstellen, in der alles fehlt , was den Namen eines denkwürdigen Ereignisses verdient. Dabei entsteht das Bild einer homogenen und stabilen globalen Utopie, der weder eine Wunschvorstellung noch eine Angstvision zugrunde liegt, sondern lediglich eine Denkmöglichkeit. Vorausgesetzt ist einerseits eine gleichförmige Weltgesellschaft und ande-

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XV. Posthistorische Endzeit

rerseits eine anthropologische Wandlung: Der Mensch ist aus dem Raubtier nach Spengler zum Haustier nach Lorenz geworden, eben ein wohltemperierter Endzeit­ bürger. 3j. In einer geschichtslosen Gesellschaft der Nachgeschichte herrscht entweder totale Unordnung oder höchste Ordnung, reine Natürlichkeit oder perfekte Künstlichkeit. Geschichte war Kontingenz, sie lag zwischen Zufall und Notwendigkeit, zwischen Turbulenz und Stringenz. Im Leben jenseits der Geschichte indessen sind alle Spannungen zwischen Gruppen ausgeglichen und diese selbst auf Vereins­­- größe reduziert. Konflikte gehören gegebenenfalls in die Kriminalakten. Für eine geschichtslose Industriegesellschaft wäre eine zentrale Versorgungsbürokratie anzunehmen, die demokratisch oder populistisch legitimiert ist und alles regelt. Der Volkswille wird durch operative Demoskopie teils ermittelt, teils gesteuert, indem nur solche Fragen gestellt werden, die vorhersehbare Antworten und erfüllbare Wünsche erwarten lassen. Die so gewonnene allgemeine Meinung wird durch Massenmedien verbreitet. Der Wohlstand ist so verteilt, daß Neid allenfalls zwischen Nachbarn aufkommen kann. 3k. Experten und Technokraten regeln hinfort panem et circenses. Als Sedativa für das allgemeine Erregungsbedürfnis dienen im Hause Bildschirm und Beschallungsapparate, außer Hause organisierte happenings und events in kurzen Abständen. Aggressivität kann sich im Sport austoben. Man lebt chacun à son goût. Das kulturelle Leben wird bunt und kleinkariert, frei von Stilzwängen. Freilich: allzu bunt wird grau. Das talmigoldene Mittelmaß regiert. Friktionen sind parzelliert und normalisiert. Was immer geschieht, bleibt im Rahmen des Alltäglichen, es entwickelt sich nichts, alles ist entwickelt. Früheres ist zum Verständnis des Späteren nicht mehr erforderlich. Alle Erfindungen und Entdeckungen sind gemacht. Ver­ änderungen verlaufen schleichend und in regellos wechselnder Richtung. Über­ regionale Ereignisse sind nur noch Vulkanausbrüche und Wirbelstürme. Der Strom der Geschichte ist kanalisiert, alle Katarakte sind beseitigt. 3l. Sehnsucht nach Geschichte mit der Gefahr eines Rückfalls wird dadurch verhindert, daß die Scheußlichkeiten der Vergangenheit in den Lehrplänen der Schulen und den Fernsehprogrammen prominent sind. Sie vermitteln das stolze Gefühl: Ein Glück, daß wir all das hinter uns haben! Man lebt objektiv ungeschichtlich, aber nicht subjektiv ahistorisch. Die Historiker werden auch in der Nachgeschichte nicht arbeitslos, solange noch nicht alle Schandtaten der Vergangenheit bekannt geworden sind. Die letzte Schwundstufe von Geschichte zeigt sich in einer nichtssagenden Chronik der Namen von very important persons, analog den ältesten Priester- und Herrscherlisten. Das humanitäre Endzeitideal wäre ein Triumph der Nächstenliebe. Die Erde würde, wie Goethe formulierte, zu einem großen Hospital, wo der Unterschied zwischen Arzt und Patient, zwischen Heilen und Verletzen, zwischen Medizin und Gift überwunden und abgeschafft wäre. Diese Gesellschaft hat keine Zukunft mehr, denn sie ist selbst die Zukunft.



4. Themen der Zukunft

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4. Themen der Zukunft 4a. Die geschichtslose Nachwelt ist vorerst nicht zu erwarten. Die globale Zivilisationsentwicklung verleiht allem Geschehen Geschichtlichkeit und verfügt noch über ein üppiges Angebot an spektakulären Vorgängen und Ereignissen, wie sie herkömmlich unter den Begriff Geschichte fallen. Daran fehlte es ja auch in den vergangenen zwanzig Jahren seit Fukuyamas Auftritt nicht. Unter den anliegenden Problemen stehen drei Komplexe obenan. Das erste ist die sprunghafte Bevölkerungszunahme in den ärmeren Gesellschaften Asiens und Afrikas. Da die Ressourcen für weltweit westlichen Wohlstand nicht reichen, wird der Drang zu den Fleischtöpfen der Industriestaaten wachsen, Masseneinwanderung läßt Konflikte befürchten, auch wenn die Ankömmlinge unbewaffnet sind, anders als die Germanen, die ins Römische Reich einströmten. Dieser Vorgang allein reicht aus, um auf lange Sicht Material für Historiker zu liefern. 4b. Der Vermehrung der Menschen entspricht die Verminderung der Lebensgrundlagen. Dies wird beschleunigt durch die methodische Bedürfniserzeugung der kapitalistischen Wachstumsideologie. Ihr verdankt sich der Wohlstand des Westens, aber auch die Deformation der Umwelt durch die Industrietechnik. So wie sie kurzfristig einen Dritten Weltkrieg furchtbar gemacht hätte, so bedroht sie langfristig das Leben im Weltfrieden. Denn die systematische Ausschlachtung der natürlichen Ressourcen durch die sich aufblähende Wirtschaft verknappt die lebensnotwendigen Vorräte und führt unweigerlich zum Kampf um die Rohstoffe. Der Kuchen von heute ist wichtiger als das Brot von übermorgen. 4c. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Ihn bewegen auch geistige Bedürfnisse. Die seit der Aufklärung in den Industriegesellschaften fortschreitende Säkularisierung ist nicht notwendig das letzte Wort der Weltgeschichte, wie schon die Ausbreitung asketischer Massenbewegungen bei Christen und anderen Gemeinden in der spätrömischen Wohlstandsgesellschaft zeigt. So behauptet sich heute wiederum gegen die Globalisierung der religiöse und nationale Gruppengeist aktiver Gemeinden, ein Identitätsbedürfnis in der Anonymität der Weltgesellschaft. Das ist der Boden für radikale und fundamentalistische Bewegungen. Die Terroristen vom 11. September 2001 boten ein Beispiel. Schon 1993 prophezeite Samuel Huntington als Inhalt der „Neuen Ära“ den ›Clash of Civilizations‹,67 den Konflikt des christlich geprägten Westens mit der muslimischen Welt und mit China. Die von Michel Foucault vorausgesagten, alles bisherige übertreffenden „Rassenkriege“ künftiger „Bio-Politik“ lassen weiterhin Geschichte befürchten.68 4d. So ungewiß es ist, wie und wann die Geschichte zu Ende geht, so gewiß ist hingegen das Ende der Menschheit. Unsicher sind der Zeitpunkt und die Form, in der sie auf unserem Planeten, unserem „irrenden“ Wandelstern, erlöschen wird. Im Jahre 1755 hielt Immanuel Kant im Planetensystem Umschau, „um nach vollendetem Ablauf der Zeit, die unserem Aufenthalte allhier (auf der Erde) vorgeschrieben

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XV. Posthistorische Endzeit

ist, uns in anderen Himmeln neue Wohnplätze zu bereiten.“69 Damit hat Kant freilich die Möglichkeiten der Astronautik überschätzt. Es gab keine Stufe der Zivilisation, auf der sich die Menschheit mit regenerationsfähigen Rohstoffen begnügt hätte. Die Geschichte der Menschheit war immer die Geschichte der Ausbeutung der Natur und damit der Anfang vom Ende. 4e. Grundsätzlich sind zwei Todesarten der Menschheit denkbar. Das harte Ende wäre der Atomschlag. Ihn dachten sich Horkheimer und Adorno in zwei Varianten. „Entweder zerfleischt sich die Menschheit selbst oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab.“70 Das war 1944 noch nicht plausibel, rückte aber nach dem Abwurf von Little Boy auf Hiroshima am 6. August 1945 in den Bereich des Möglichen. Das nukleare Ende der Geschichte fiele mit dem Ende der Menschheit zusammen. Ein solches Finale Furioso ist mehrfach befürchtet oder wenigsten für möglich gehalten worden;71 ist jedoch unwahrscheinlich, da, wie uns die Bibel und Darwin – diesmal d’accord – lehren, ein einziges überlebendes Menschenpaar, vielleicht auf Samoa, genügt, um die Art zu erhalten. 4f. Mehr spricht für ein weiches Ende, das langsam verläuft, indem die Ereignisfülle allmählich zurückgeht, das Quantum an Geschichte wieder abnimmt. Auf die Zeitachse vom Sündenfall bis zum Weltgericht aufgetragen, bilden die geschichts­ relevanten Geschehnisse vielleicht eine Gaußsche Glockenkurve, die gleich der Bahn eines fliegenden Fisches aus einem beinahe geschichtslosen Zustand der Urzeit auftaucht, in unserer Gegenwart kulminiert und nach einigen Jahrhunderten wieder in den nahezu geschichtslosen Zustand einer erneuten Steinzeit zurücksinkt.72 So wie am Anfang eine prähistorische Zeit stand, könnte am Ende tatsächlich eine post­historische Zeit folgen. Das Ende der Geschichte ginge dem Ende der Menschheit voraus. Es findet statt, bevor sie einst ausstirbt, nachdem die lebensnotwendigen Umweltbedingungen verschwunden sind und das genetische Potential unserer Gattung an Vitalität erschöpft ist. Millionen ausgestorbener Arten haben das „vorgelebt“. 4g. Das Bewußtsein vom letzten Kapitel der Geschichte ist alt. Bereits Seneca unter Nero prognostizierte am Ende der Zeit neben gigantischen Naturkatastrophen einen Rückfall der Zivilisation auf Steinzeitniveau. Im Eschatolithikum werden die Menschen wieder in Höhlen wohnen und Eicheln fressen. Auf diesem Niveau kann die Menschheit auch die nächste Eiszeit überstehen, bevor die Natur ihre Stimme erhebt und den Menschen verabschiedet. Er aber, bemerkte Pascal, ist edler als sie, denn er weiß auch sterbend, was ihm von ihr widerfährt, während sie auch lebend nicht weiß, was sie tut: „Quand l’univers l’écraserait, l’homme serait encore plus noble que ce qui le tue, puisqu’il sait qu’il meurt, et l’avantage que l’univers a sur lui; l’univers n’en sait rien.“73 Wäre das ein Trost?

Die Teile werden mit den Sinnen, das Ganze mit dem Verstand erfaßt. Strabon

XVI. Zur Philosophie der Geschichte a. Als der Prinz Zemir nach dem Tode seines Vaters die Herrschaft über Persien übernahm, da berief er vierzig weise Männer vor seinen Thron und erklärte, bevor er sich mit der Politik befasse, wolle er die Annalen der Völker studieren, um die Irrtümer der Vergangenheit zu vermeiden. Zemir beauftragte die Gelehrten, ihm ein Kompendium der Weltgeschichte zusammenzustellen. Sie sagten zu und gingen an die Arbeit. Nach zwanzig Jahren, Zemir war längst an der Macht, kamen sie wieder und führten eine Karawane von zwölf Kamelen mit, jedes beladen mit fünfhundert Büchern. „Bei Allah!“, stöhnte Zemir, „wann soll ich das lesen?“ Er ließ die Bände in sein Archiv bringen und forderte eine kürzere Fassung. Die Gelehrten machten sich wieder ans Werk und erschienen nach zehn Jahren, jetzt mit drei Kamelen und nur fünfzehnhundert Büchern, in denen – wie sie versicherten – nichts Wesentliches ausgelassen sei. „Beim Barte des Propheten! Das ist ja immer noch viel zu viel!“, rief Zemir. Also mußten die Weisen ein drittes Mal an die Arbeit. Nach diesmal fünf Jahren kehrten sie zurück, allerdings nur zu dritt. Die übrigen Gelehrten waren inzwischen verstorben. Sie brachten einen einzigen Elefanten mit und nur ein einziges Buch. Das aber hatte zehntausend Seiten. König Zemir lag inzwischen selbst im Sterben; er stöhnte und fragte: „Geht es denn wirklich nicht kürzer?“ „Doch“, sagte der älteste der Weisen. „Man kann die Weltgeschichte auch in drei Worte fassen: Sie lebten, plagten sich und sind gestorben.“ b. Diese vom Abbé Blanchet († 1784) überlieferte Legende1 beleuchtet eine der sieben Aporien der Geschichtswissenschaft.2 Das Wissen von der Vergangenheit soll uns über das Handeln des Menschen orientieren. Eine solche Orientierung aber ist unmöglich, wenn wir mit der ungefilterten, ungegliederten Masse der Tatsachen konfrontiert werden. Man hat die Teile in der Hand, „fehlt, leider! nur das geistige Band.“ Die Forschung hilft hier kaum weiter. Denn sie vermehrt in erster Linie die Zahl der Bücher, vermehrt in zweiter Linie die Erkenntnisse in den Büchern, vermehrt aber erst in dritter Linie das Wissen in den Köpfen und – wenn überhaupt – Einsichten in das Wesen des Geschehens. Die Vermehrung des Gewußten vertieft nicht das Verständnis. „Vielwisserei lehrt keine Vernunft“, heißt es bei Heraklit, „Weisheit (to sophon) erfordert die Erkenntnis des Gedankens, der alles steuert.“3 Um einen Leitfaden durch das Labyrinth des Geschehenen zu gewinnen, müssen wir, wie es bei Strabon heißt, die mit den Sinnen erfaßten Teile mit dem Verstand zu einem Ganzen verbinden.4 Das heißt hier: die historischen Fakten nach Rele-

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XVI. Zur Philosophie der Geschichte

vanzkritierien sichten und sieben, nach Strukturprinzipien ordnen und gliedern. Es bedarf einer Gestaltung des Stoffes. Er muß, je nach Prägnanzbedarf, auf seine Essenz reduziert werden. Die Reduktion kann freilich übertrieben werden – dann bleiben von der Geschichte nur jene drei Worte übrig: Sie lebten, mühten sich und starben.

1. Begriff Geschichtsphilosophie 1a. Der Versuch, hier die rechte Mitte zu finden, Wesenszüge der Geschichte zu erkennen, ist das Geschäft der Geschichtsphilosophie. Der Begriff Philosophie de l’histoire erscheint zuerst in einem Brief Voltaires vom 4. März 1765 aus Ferney an Damilaville, wo er auf ein Manuskript dieses Titels verweist. Als Autor wird der verstorbene „Abbé Bazin“ genannt, als Erscheinungsort Holland. Das Buch existiert, es erschien 1765 in Amsterdam. Als Herausgeber firmiert ein anonymer Neffe des Abbé. Gewidmet ist das Werk Katharina der Großen, mit der Voltaire über das Buch, den Autor und den Herausgeber korrespondierte. Es handelt sich um eine geistreiche Mystifikation des aus Paris verbannten Voltaire selbst. Das Werk5 enthält einen Abriß der Weltgeschichte, beginnend mit geologischen Überlegungen, den Menschenrassen und den Frühformen der Religion. Es folgt eine Kulturgeschichte vom Alten China und dem frühen Orient an über die Juden seit Abraham bis ins Mittelalter. Die biblische Frühzeit ist gestrichen, die jüdische Überlieferung kritisch behandelt und manche bis heute verkannte Legende mit einem Fragezeichen versehen.6 Es handelt sich um ein grundgelehrtes Buch, „philosophisch“ insofern, als es die Heilgeschichte säkularisiert. „Philosophisch“ sind, so wie in Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations die Charakterisierungen der Völker und Zeiten, verallgemeinernde Abstraktionen und Maximen. Leitender Gesichtspunkt ist das traditionell Bemerkenswerte, so wie Voltaires Freundin Madame de Châtelet interessiert war „an dem, was am meisten Beachtung verdiente“.7 1b. Im heutigen Sinne erscheint der Begriff „Geschichtsphilosophie“ zuerst bei Herder. Seine Frühschrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ von 1774 zeigt einen bei Voltaire fehlenden Leitfaden. Herder wählt die menschlichen Lebensalter als Denkmuster für die historische Entwicklung, verwendet aber daneben auch das Bild eines Bauwerks, das eines Baumes und das einer „Fahrt“, eines „Fortgangs zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit“ auf dem Wege in eine „große Zukunft“. Damit erscheint die Geschichte als System, wie es eine philosophische Behandlung erfordert. Ihr geht es stets um die Geschichte der Menschheit schlechthin, um Aussagen über Verlauf und Gestalt, über Gliederung und treibende Kräfte. 1c. Anfechtbar ist die Ansicht, daß von Geschichtsphilosophie erst gesprochen werden könne, seitdem es den Begriff gibt, mithin seit der Aufklärung. Damit



1. Begriff Geschichtsphilosophie

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würde deren Fortschrittsidee zur eigentlichen, ja einzigen Geschichtsphilosophie nobilitiert und den andersartigen Konzeptionen geschichtsphilosophische Dignität abgesprochen.8 Dahinter steht der hegelianische Gedanke, daß eine Sache erst Realität gewinnt, wenn sie begrifflich gefaßt ist. Wer dieses nicht fordert, wird „Kunst“ auch bei den alten Griechen, „Geschichte“ schon im Alten Testament, „Staat“ bereits bei den Römern vorfinden, obschon es in den jeweiligen Sprachen an einem exakt entsprechenden Begriff fehlt. Das hier vorliegende Verständnisproblem taucht bei Aussagen über ferne Zeiten und fremde Völker so gut wie immer auf, doch ist ohne Unschärfetoleranz überhaupt keine Verständigung möglich. Genauigkeit ist im Bedarfsfall nachzubessern. Zugunsten einer Verwendung des Begriffs „Geschichtsphilosophie“ für ältere Aussagen über das Wesen der Geschichte spricht die Kontinuität der wichtigsten Denkfiguren seit Homer, den Vorsokratikern und der Bibel. 1d. Über zweitausend Jahre alt sind die frühesten Äußerungen über die Neuund Andersartigkeit der Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit. Sie nehmen bei den politischen Dichtern der augusteischen Zeit geradezu emphatische Form an. Ein Epochenbewußtsein zeigt sich sodann in der Geschichtstheologie der Constantinischen Wende und wieder auf andere Weise im Humanismus, exemplarisch bei Ulrich von Hutten. Daher gibt es keinen Grund, auch das Geschichtsbewußtsein erst mit dem 18. Jahrhundert beginnen zu lassen.9 Die Verbreitung eines solchen in der Gesellschaft mag man so spät ansetzen. 1e. Die Reichweite der Annahmen über die Menschheitsgeschichte und ihren Systemcharakter können unterschiedlich ausgeprägt sein. Die These, jede Ge­­ schichtschreibung sei zugleich eine Geschichtsphilosophie,10 geht wohl zu weit; es sei denn, der Verzicht auf sie werde ausgesprochen und damit begründet, daß Leitlinien durch die Geschichte, mit Wittgenstein zu sprechen, nur „ein ungeheures Netz gut gangbarer Irrwege“ ergeben.11 Eine ähnlich negative Position vertrat Emil Cioran: „Die Geschichte ist das Reich des Regelwidrigen und des Anormalen.“12 Die positive These reicht von einem Dictum wie: Geschichte ist die „Bewegung dieser sittlichen Welt“ bei Droysen13 oder „Geschichte ist ... Emanzipation: die Hervorbringung menschlicher Autonomie“ bei Odo Marquard14 oder: „Die Geschichte ist an ihr selbst als sichüberliefernde je in einer ihr zugehörigen Angelegenheit, die selbst ihre eigene Geschichte hat“, bei Heidegger, dem existenzialontologisch versierten „Hirten des Seins“,15 bis zur Darlegung in mehrbändigen Werken wie bei Herders ›Ideen‹. Entscheidend ist die Entdeckung eines Systems im Geschehen, eine „Gestaltwahrnehmung“,16 so wie Gibbon 1761 schrieb: „Mit der Geschichte geht es einem philosophischen Geist so wie dem Marquis de Dangeau mit dem Glücksspiel. Er erkennt ein System aus Regelhaftigkeit und Zusammenhängen, wo andere nichts als Launen des Zufalls erblicken.“17 1f. Herder hat keine neuen Ordnungskategorien in seiner Geschichtsdeutung eingeführt, für sie jedoch den Terminus „Philosophie“ verwendet, der in diesem

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Zusammenhang zuvor nicht gebräuchlich war. Thukydides und Augustinus haben ihre grundsätzlichen Aussagen über den Menschen und die Geschichte nicht als philosophisch klassifiziert. Ob und wie weit Geschichte überhaupt philosophiefähig sei, fragte sich Aristoteles und kam zu der Überzeugung, daß die „Dichtung philosophischer und bedeutender“ sei als die Geschichtsschreibung. Denn jene behandele das Allgemeine, diese nur das Besondere“.18 Aristoteles dachte an die Tragödie, in der Grundfragen des Menschenschicksals dargestellt werden, während die Historie nur berichte, was Alkibiades just getan oder erlitten habe. Demgemäß ist Geschichtsphilosophie kein Teilgebiet der antiken Philosophie. Dem Urteil des Aristoteles stimmte Schopenhauer zu, indem er der Geschichtsschreibung sogar die Wissenschaftlichkeit bestritt, da sie nur koordiniere und nicht subordiniere und kein System bilde.19 Aber stimmt das? Besagen die ›Perser‹ des Aischylos mehr über das Wesen des Menschen als der Bericht Herodots über die Schlacht bei Salamis? der ›Wallenstein‹ Schillers mehr als der Rankes? Herodot stellt den Konflikt in den großen Zusammenhang des Ost-West-Gegensatzes, Ranke zeigt die Spannung ­zwischen faktischer und legaler Macht. Insofern ist hohe Historiographie im Sinne des Aristoteles durchaus „philosophisch“, was der von jenem gebrauchte Komparativ ja auch erlaubt. 1g. Als Dilthey, Aristoteles überbietend, kategorisch erklärte, „Philosophie der Geschichte ist unmöglich“, widersprach sein Freund Graf Paul Yorck von Wartenburg.20 Dieser verstand auch die Aneignung der Geschichte als philosophischen Vorgang. Er hätte ebenso auf die analytische, wissenschaftskritische Geschichtsphilosophie hinweisen können. Dilthey verwarf die synthetische Geschichtsphilo­ sophie als bloße Konstruktion, quod non sequitur. Denn: zwar sind die geschichtsphilosophischen Systeme konstruiert, doch handelt es sich nicht um willkürliches Machwerk, sondern um sprachliche Modelle, die gefertigt aus leicht gestaltbarem Stoff, maßstabgerecht verkleinert und vereinfacht die Vorstellung des Autors von der Struktur der Weltgeschichte zeigen sollen und damit als Erkenntnismittel ­dienen.

2. Arsenal oder Prozeß? 2a. Ein und dieselbe Gegend läßt sich auf verschiedenartigen Landkarten abbilden. Es kommt darauf an, welchen Maßstab man wählt, darauf, ob man Straßenverläufe oder Besiedlungsdichte, ob man die physische, politische oder geologische Gegebenheit für wichtig erachtet. Ebenso läßt sich auch ein und dieselbe Menschheitsgeschichte in unterschiedlicher Form darstellen, je nachdem, was man für wesentlich hält. Die schon für die Historiographie unabdingbare Selektivität ist für die noch stärker vereinfachende Geschichtsphilosophie erst recht unvermeidlich. Wer meint, mit seiner besonderen Sicht alles erfaßt zu haben, für den allerdings wird die Geschichte zum Museum der Gegenbeispiele.



2. Arsenal oder Prozeß?

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2b. Zwei Strukturprinzipien stehen einander gegenüber. Sie verwenden Denkbilder, denen jeweils Raumvorstellungen zugrunde liegen. Die seltenere statische Konzeption zeigt die Geschichte als eine Fallsammlung, die sich an bemerkenswerten Phänomenen der Vergangenheit orientiert. Diese Auffassung betrachtet die Geschichte nicht als eine Linie, sondern als eine Fläche, wie eine Landschaft, aus der einzelne Gipfel herausragen, wie ein Meer, in dem die Inseln von Interesse sind. Als eigentlicher Inhalt der Geschichte erscheinen hier bedeutende Persönlichkeiten, eindrucksvolle Werke oder besondere Ereignistypen. Anderes bleibt unbeachtet. „Der Philosoph bedient sich der Geschichte nur, inwiefern sie zu seinem Zwecke dient und ignoriert alles andere“, so Fichte 1806.21 2c. Unerheblich oder nachrangig für eine solche exemplarische Geschichts­ betrachtung ist die zeitliche Stellung des jeweiligen Paradigmas. So war die Vergangenheit bei Plutarch ein Arsenal großer Staatsmänner und Feldherren, denen er exemplarischen Rang zuwies, denn Tyrannen blieben ausgespart. Bei Marc Aurel war die Geschichte eine Bühne, auf der sich dieselben Szenen wiederholen. Kaiser Julian verglich die Vergangenheit mit einer Wiese, wo ein Weiser die schönsten Blumen findet, die mit philosophischen Betrachtungen garniert eine Lebenshilfe bieten. Anders behandelt, könne die alte Geschichte (archaia historia) nur wortreich Überdruß wecken.22 Für die Kirchenväter bot die Bibel ein Kompendium von Musterfällen für alle möglichen Ereignisse im Leben und in der Geschichte, auf die jene Fälle figural vorausweisen.23 Luther sah in den Historien einen Katalog von Lehrstücken Gottes für die Menschen, Texte, die das, was die Philosophie lehrt, an Beispielen vorführen.24 Ciceros Wort historia magistra vitae25 galt noch für ihn. Geschichte war bei Machiavelli ein Musterbuch für die Staatskunst, namentlich die Römische Republik. Sie faszinierte ebenso Robespierre, der die Freiheitshelden um Brutus „aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte“, wie Walter Benjamin 1940 schrieb und folgerte: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“26 Relevant ist das Aktualisierbare. Ähnlich ist Geschichte bei Carlyle eine „unendliche Folge schöpferischer Augenblicke“,27 bei Nietzsche eine Parade der „höchsten Exemplare“ unserer Gattung, bei Schopenhauer ein Gipfelgespräch zwischen Koryphäen des Geistes.28 Für die Vorstellung von einem „Weltprozeß“ hat Nietzsche nur Hohn und Spott, und dem folgte Spengler mit dem Bild vom Bandwurm.29 Er sah in der Geschichte ein Tableau unabhängiger Kulturen. Henry Kissinger erklärte in seiner Dissertation aus Havard 1954, die Geschichte sei kein zielgerichteter Prozeß, wie Kant meinte, sondern bloß ein Geflecht von Kriegen. Das hatte schon Friedrich der Große so gesehen: L’histoire de l’univers n’est qu’un tissu de guerres.30 In dieser eher an einen Setzkasten als an ein Gewebe erinnernden Vorstellung stehen die als wesentlich ausgezeichneten Erscheinungen isoliert, sie sind nicht durch eine Entwicklung untereinander verbunden. Es gibt keine consecutio temporum.

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2d. Dieses Denkmuster verwendet ein grobes Sieb, wo viel durchfällt, so wenn Faust die Geschichte als „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer“ bezeichnet, in der höchstens die eine oder andere „Haupt- und Staatsaktion“ bedeutsam sei. Kraß sind gleichfalls die Abstriche aus dem Gesamtgeschehen, wo die Geschichte lediglich als eine Galerie von Biographien, als ein Friedhof großer Männer Beachtung findet. Bloß rhetorischen Charakter haben Exemplasammlungen in der Art des Valerius Maximus, des Polyän oder des Hygin. Praktisch-politisches Interesse liegt den Exzerpten aus der Historiographie zugrunde, die der byzantinische Kaiser Constantinus Porphyrogenitus († 959) anlegen ließ unter Stichworten wie Über Gesandtschaften, Über Kriegslisten, Über bemerkenswerte Aussprüche usw. An so etwas dachte wohl auch Prinz Zemir. * 2e. Anders denken die Vertreter der häufigeren dynamischen Konzeption, bei der aus dem Knäuel zahlloser Ereignisfolgen ein einziger Vorgang wird. Auch hier liegt eine Raumvorstellung zugrunde, die unsere Zeitempfindung begreiflich macht. Sie beruht auf der Übertragung gegenständlicher Bewegung auf Ereignis- oder Zustandsfolgen. Leitidee ist der „Weg“, der „Gang“ oder der „Lauf“ der Dinge. Dies zeigt der Bildgehalt in den Begriffen „Vergangenheit“ und „Zukunft“, in den Wörtern „Fortschritt“, „Rückgang“ und „Kreislauf“ sowie ihrer Äquivalente in anderen Sprachen, bei dem lateinischen processus oder progressus und dem griechischen prokopē. Auch den verwandten Ausdrücken „Entstehung“ und „Entwicklung“, aber auch „Verfall“ und „Auflösung“ liegt eine verblaßte Erinnerung an räumliches Geschehen zugrunde. Selbst die Logik kommt ohne Anleihen bei Raumvorstellungen nicht aus, wie die Grundbedeutung von „Grund“ und „Folge“ zeigen. 2f. Das Denkbild des Weges steht Pate, wenn wir im Kontinuum der Zeit einen Vorgang durch Anfang und Ende, durch Ursprung und Ziel ausgrenzen, wobei der Begriff „Grenze“ selbst wieder Raumvorstellung voraussetzt. Das gilt ebenso, wenn wir sagen, daß es mit einer Sache vorwärts oder rückwärts, bergauf oder bergab „geht“, wenn wir von Richtung, von Zeit- und Wendepunkt, Höhe- und Tiefpunkt, von Zäsur (Einschnitt) und Periode (Umlauf ) sprechen. Begriffe wie Zeitraum, Zeitrahmen, Zeitfenster bestätigen das. Wo von einem „Plan“ die Rede ist, da ist eine Fläche mitgedacht. Selbst „Sinn“, „Erinnerung“, „Erfahrung“ und „Vorstellung“ gehen auf Räumlichkeit zurück, ja schon die zeitlich verwendeten Adjektive lang und kurz, nah und fern, sowie die Präpositionen in, vor, nach und bis zeigen das. Zeit ist ohne Raum nicht zu denken, Raum ohne Zeit sehr wohl durch die Annahme von Stillstand, wobei wir allerdings vergessen müssen, daß unser Denken selbst Zeit beansprucht. Die in unseren Zeitvorstellungen verborgene Bewegungsmetaphorik steckt dann ebenfalls in abgeleiteten Denkbildern für Historisches aus den Bereichen des organischen Geschehens (Lebensaltergleichnis), der Technik (Vernetzung) und der szenischen Darstellung (Welttheater).



2. Arsenal oder Prozeß?

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2g. Die metaphorisch aufgeladene Begrifflichkeit für Geschichte ist zu deren Erfassung unentbehrlich, enthält jedoch Gefahren, wenn wir uns den sachfremden Ursprung nicht bewußt halten. Denn bei der Übertragung in den neuen Sinnzusammenhang werden unbeabsichtigte Nebendeutungen mitgeschleppt, die zu einer Verfälschung des Gemeinten führen. Das beginnt bereits mit dem Grundbild des Weges. Einen wirklichen Weg kann man in zwei Richtungen gehen, der Weg der Geschichte ist eine Einbahnstraße. Einen echten Weg kann man öfters gehen, beim Weg der Geschichte gelingt das nur Zarathustra und seinesgleichen. Einen Weg über Land kann man auch einmal verlassen, kann auf ihm stehen bleiben; beim Weg durch die Zeit gelingt das nicht. Der Weg, den wir gehen, gibt es bereits, andere vor uns haben ihn gebahnt; den Weg der Menschheit hingegen muß sie selber finden, er ist nicht vorgegeben; er liegt nicht vor ihr, sondern hinter ihr und ist nur im Rückblick erkennbar. Alle Wege auf Erden führen irgendwo hin, beispielshalber nach Rom, wenn auch nicht direkt, aber wer dem Weg der Geschichte ein Ziel setzt, überträgt den Gedanken aus dem Raum in die Zeit und bestimmt ihn durch eine geschichtsphilosophische Vision. 2h. Die Vorstellung vom zielgerichteten Gang der Geschichte erweckt den Eindruck einer Zwangsläufigkeit, die aus der Idee der Vorsehung oder der Vorher­ bestimmung stammt. Die These der Prädestination, die ja dem quantentheoretischen Indeterminismus widerspricht,31 fordert zu der Frage heraus, in welcher Form denn das Wissen, beispielsweise von dem, was ich morgen frühstücken werde, im Urknall gespeichert gewesen sein soll? Der freie Wille ist eine empirisch hervorragend bestätigte Gegebenheit. Wer die theoretische Notwendigkeit einer Determiniertheit unseres Tuns postuliert, kann doch die praktische Notwendigkeit nicht bestreiten, daß er sich stündlich entscheiden muß. „Ich stehe am Scheideweg, zwei Wege sehe ich vor mir und überlege, welchen ich gehen soll“, heißt es Theognis von Megara im 6. Jahrhundert v. Chr.32 Meist gibt es noch mehr Optionen. Wir sehen vor uns im Dämmerlicht der Zukunft ein offenes Gelände, einen Handlungsspielraum mit jeweils mehreren Möglichkeiten, die uns zum Nachdenken einladen, uns zu einer Entscheidung zwingen. Daraus ergibt sich nachträglich die wirkliche Möglichkeit, über verwirkte Möglichkeiten von ehedem nachzudenken, Versäumnisse zu thematisieren. Der Hauptweg der geschehenen Geschichte ist gesäumt von zahllosen Nebenwegen „ungeschehener Geschichte“.33 Doch selbst die Vorstellung vom Hauptweg ist eine irreführende Metapher, da die Geschichte aus zahllosen nebeneinander, nacheinander und durcheinander verlaufenden Ereignisfolgen besteht, eher einem bunten Teppich ähnelt und an die Worte des Erdgeists mahnt: „so schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“ 2i. Die Vorherbestimmtheit alles Geschehens erfordert ein Leitprinzip oder eine Macht, die dieses verursacht hat. Nach griechischer Auffassung war dies das Schicksal, das auch die Götter nur feststellen, nicht ändern können.34 Bei Nonnos von Panopolis verzeichnet Phanes, der orphische Urgeist, das Schicksal der Welt auf

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ewige Tafeln.35 Für Juden und Christen ist das Leitprinzip ihr Gott, der alles weiß, weil er alles bewirkt. Ganz folgerichtig war Augustinus strenger Determinist. Das ist nun eine Sache des Glaubens, nicht des Handelns. Denn da wir nicht wissen, was Gott beschlossen hat, erfüllen wir, was wir auch tun, seinen Plan. Mit der Entmythisierung des Weltbilds durch die Aufklärer wurde Gott suspendiert, aber sein Thron mit einem irreligiösen neutralen Nachfolger neu besetzt: durch die personifizierte Natur (Kant), den höchsten Geist (Schiller), die Weltseele (Schelling), das Absolute (Fichte), den Weltgeist (Hegel), die Politik (Napoleon), die Weltregierung (Humboldt), den „verhüllten Genius unserer verschatteten Kugel“ (Jean Paul), die Produktivkräfte (Marx), das Grand-Être (Comte), die schöpferische Evolution (Haeckel), die Kulturseele (Spengler), die gnadenlose Vorsehung (Hitler) oder die wohlmeinende „Weltvernunft des Logos“ (Lorenz). Die Ersatzbegriffe für Gott übernehmen seine Funktion. Wir denken an den Wolf im Geschirr von Münchhausens Schlittenpferd.36 2j. Die Annahme einer höheren Weltregierung löst den Widerspruch zwischen Absicht und Ergebnis. Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade. Hegel sprach von der „List der Vernunft“, gemeint ist die des Weltgeistes. Der Gedanke ist alt. „Eure Wege sind nicht meine Wege“, spricht der HErr im Munde Jesajas. Augustinus bringt es in der Form: Gott hätte in seiner Güte das Böse nicht zugelassen, könnte er es als Allmächtiger nicht zum Guten wenden – non sineret bonus (deus) fieri male, nisi omnipotens (deus) etiam de malo facere posset bene.37 Bei Vico benutzt die Vorsehung die Leidenschaften der Menschen, um Chaos in Ordnung zu verwandeln. Leibniz erinnert homöopathisch an die doppelte Negation von Gift und Gegengift bei Ausonius: et si fata volunt, bina venena iuvant38 – „Und wenn das Schicksal es will, hilft dir zweifaches Gift.“ Er folgert: que souvent un mal cause un bien.39 Schiller erklärte 1789, die Geschichte zeige, „daß der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortreffliche befördert.“40 Kant vertraute 1798 auf die „Hervorbringung des vom Menschen nicht beabsichtigten, aber, wenn es einmal da ist, sich ferner erhaltenden Guten aus dem innerlich mit sich selbst immer veruneinigenden Bösen“.41 Mephisto bekennt sich als ein Teil der Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Fichte wiederum meinte, daß der Staat, indem er seine Selbsterhaltung betreibe, „dennoch den höheren Zweck der Entwicklung des Menschengeschlechts befördere.“42 Bei Droysen sorgen die „sittlichen Sphären“ dafür, daß „die Dinge ihres Weges gehen trotz des guten oder bösen Willens derer, durch welche sie sich vollziehen.“43 Nach Hegel heißt es dann bei Friedrich Engels: „Was jeder Einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und das, was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses.“44 Und nach Goethe meinte Meinecke, daß „Gott des Teufels bedürfe, um sich zu realisieren.“45 2k. Die Annahme, daß der Gang der Geschichte sinnvoll sei, obschon ihm kein gemeinsamer Wille der Menschheit zugrunde liegt, ist eine Erblast aus der religi-



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ösen Tradition. Das zeigt sich auch in der Vorstellung von einem allem Geschehen zugrundeliegenden Gegensatz. So wie die Bewegung physikalisch aus dem Zusammenspiel von Triebkraft und Trägheit konzipiert wird, so gehört zu den durchgängigen Denkschemata der Geschichtsphilosophie die Annahme einer inhaltlich bestimmbaren Dialektik zwischen polaren Potenzen von universaler Wirksamkeit. Diese binomische Struktur beherrscht die Vorstellung von Geschichte als Prozeß. Dualismus vereinfacht die reiche Farbskala der Phänomene zu einem klar konturierten Holzschnitt in Schwarz-Weiß. Mit Grund protestierte dagegen Theodor Lessing 1922: „Leser! Hüte dich vor dem Joche der Gegensatzbegriffe!“46 2l. Der elementare Dualismus im Bereich des Menschenwesens ist der von Gut und Böse. Demgemäß sind die paarweise gedachten Kräfte in der Geschichte gewöhnlich nicht gleichwertig, sondern einerseits positiv, andererseits negativ besetzt. Das beginnt mit dem Widerstreit von philia (Liebe) und neikos (Hader) bei Empedokles, konkretisiert sich im Ost-West-Konflikt zwischen Asien und Europa bei Herodot, wird religiös überhöht bei Zarathustra in dem Kampf zwischen Ahura Mazda und Ahriman und setzt sich fort im dualistischen Weltbild der Gnosis, insbesondere der Manichäer. In der biblischen Tradition ringen Gott und Teufel um die Seelen, Augustinus entwickelte daraus seine geschichtsphilosophische Antinomie von Civitas Dei und Civitas terrena. 2m. In der Neuzeit ist Polarität eine zentrale Kategorie im Denken Goethes, wenn er zwischen Zeiten des Glaubens und Zeiten des Unglaubens unterscheidet. Bei Hegel 1831 gelangt der Weltgeist zum Bewußtsein seiner selbst im Kampf zwischen Herren und Knechten. Marx verstand 1847 die Geschichte als Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, bei Nietzsche gibt es 1871 den „fortwährenden Kampf“ zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen.47 Mommsen notierte 1857: „Die Geschichte, der Kampf der Notwendigkeit und der Freiheit, ist ein sittliches Problem“, er zählte 1885 zu den „Gesetzen der Weltgeschichte“ die ewige Abfolge von „Aufschwung und Niedergang“.48 Bei Treitschke 1861 heißt die welthistorische Antinomie Beharren oder Geistesfreiheit,49 bei Freud Eros oder Todestrieb.50 Carl Schmitt unterteilte die Mitmenschheit 1927 in Freund und Feind und schrieb 1942 eine ›Weltgeschichtliche Betrachtung‹ über den ewigen Kampf zwischen Landmächten und Seemächten.51 Ludwig Klages sprach 1929 von dem Dauerkonflikt zwischen (herzlosem) Geist und (erdnaher) Seele.52 Meinecke schrieb 1934: „Weltgeschichte ist nun mal der Kampf zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, ewig wogend.“53 Karl Popper rechnete 1944 mit einem universalen Antagonismus zwischen offener und geschlossener Gesellschaft. Konrad Lorenz erklärte 1973, daß wie die Evolution so die Geschichte „nur vom Zufall und von der Notwendigkeit gelenkt“ werde, daß der Mensch unter dem Konflikt zwischen natürlichen und kulturellen Geboten leide und daß Selektion außerspezifisch positiv, aber innerspezifisch negativ wirke. Lorenz bekämpfte jedoch entschieden das den Deutschen eigentümliche dualistische Denken.54

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2n. Dualismen in Geschichtsmodellen unterscheiden meist, aber nicht notwendig zwischen einer positiven und einer negativen Kraft. Wird die Geschichte als steady state verstanden, so ringen gleichrangige Potenzen miteinander, dann gibt es nur den Pendelschwung. In dynamischen Geschichtskonzeptionen hingegen liegt jeweils ein Werturteil zugrunde, das zwischen den beiden Faktoren gewichtet. Lineare Modelle sind wertbezogen, denn Dekadenz ist betrüblich, Fortschritt erfreulich; Zyklik hingegen wird teils positiv, teils negativ, teils neutral gewertet. Die jeweils zugrundeliegenden Wertungen sind allerdings methodisch ungesichert. Max Weber erklärte 1919: „Ich erbiete mich, an den Werken unserer Historiker den Nachweis zu führen, daß wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Wert­ urteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört.“55 Das hier monierte Defizit besteht in unserem Falle an der Ausblendung der jeweiligen Gegenseite. Der Januskopf erscheint nur von einer Seite. Wer für das naturnahe, gesunde, von sozialen Zwängen freie Leben in der fernen Vergangenheit schwärmt, der übersieht die Molesten der Primitivität. Wer umgekehrt die technischen und zivilisatorischen Errungenschaften der Gegenwart begrüßt und weitere einschlägige Fortschritte in der Zukunft erhofft, der nimmt die damit verbundenen Schäden und Verluste in Kauf. Das kann man jeweils auch anders sehen, da es kein Verfahren gibt, das entscheidet, wie die Befunde zu gewichten und gegeneinander abzuwägen sind.

3. Fortschritt 3a. Das Wort Fortschritt56 ist eine seit dem späten 18. Jahrhundert nachweisbare Lehnübersetzung des französischen progrès. Sie ist mißglückt, denn „fort“ heißt „weg von“, aber pro bedeutet „vor“, „vorwärts“, „hin zu“. Mit sicherem Sprach­ gefühl verwendeten Herder und Goethe die richtige Bildung „Vorschritt“, die Mommsen übernahm,57 nachdem Grillparzer sie nochmals verteidigt hatte: Der Fortschritt schreitet fort vom Ort, der Vorschritt wäre das richtige Wort. Kant aber hat die Mißbildung „Fortschritt“ sanktioniert – so blieb es dabei. Gemeint sind vom Menschen bewirkte qualitative oder quantitative Veränderungen in den Lebensumständen, die summiert, bewertet und als Verbesserung „für die Allgemeinheit“ gedeutet werden. 3b. Der Fortschrittsgedanke enthält ein Werturteil, wie es die Historie liebt. „Ist ja doch von jeher die Geschichte das Totengericht gewesen, in welchem die späteren Geschlechter den Spruch fällen über die früheren.“ So kennzeichnete Mommsen 1875 die Neigung der Historiker, nicht nur zu berichten, sondern auch zu richten.58 Histōr ist bei Homer der Schiedsrichter.59 Die zumal in der römischen Historiographie verbreitete Neigung, durch Unterscheidung von virtutes und vitia , von



3. Fortschritt

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Tugenden und Lastern den Leser zu belehren über das, was nachzuahmen oder zu vermeiden sei, hatte einen didaktischen Sinn. Anders als Ranke und Max Weber scheuten sich Voltaire und Hegel nicht, ganze Epochen pauschal zu bewerten; Marx und Engels unterwarfen die gesamte Vergangenheit ihrem Urteil. 3c. Noch weiter gehen jene Professoren, die sich ein Urteil über die Ge­­ schichte schlechthin zutrauen. Die klassische Form dieser Tribunalisierung ist die Theodizee, die sich anmaßt, selbst den Schöpfer der Welt und Herrn der Geschichte auf die Anklagebank zu setzen, um ihn dann durch philosophische Rabulistik doch mit Freispruch zu entlassen. „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, gewiß: aber für das, was Menschen tun, gilt das nicht unbedingt. Im Anschluß an Leibniz und Hegel hat Nietzsche dann zwar nicht Gott, aber „das Dasein und das Leben“ gerechtfertigt, nämlich als ästhetische Phänomene. Popper erwartete 1944 die Rechtfertigung der Geschichte durch die Demokratie; Toynbee tribunalisierte die Kulturen 1948, während Jaspers 1949 die „Überwindung der Geschichte“ beim Betrachten der „Lichtfluten des Sonnenaufgangs“ lehrte.60 Neben der theologischen, der ästhetischen, der politischen und der romantischen Apologie der Realität gibt es das juristische Plädoyer zu ihren Gunsten, seit Hans Blumenberg 1968 der Neuzeit ihre „Legitimität“ bescheinigt hat, indem er sie von dem in seinen Augen bestehenden Vorwurf befreite, ihr historisches Selbstverständnis sei ein illegitimer Sproß der „säkularisierten“ christlichen Tradition. In all diesen Fällen kann durch Entlastung des Weltgeists das Lebensgefühl des Lesers an Daseinsfreude gewinnen, alldieweil er sich damit auch selbst als geschichtsphilosophisch bestätigt betrachten darf. 3d. Der Glaube an eine progressive Gesamtentwicklung der Menschheit wird gestützt durch Erfahrung mit dem homo faber. Werktätige handeln in erster Linie, damit der Zustand, in dem sie sich befinden, sich nicht verschlechtere. In zweiter Linie bemühen sie sich, ihn zu verbessern; und je weniger Kraft und Zeit ersteres verlangt, desto mehr wird von beidem auf letzteres verwandt. Denn der Mensch, zumal der faustische Typus im Abendland, neigt zu Unzufriedenheit und Tatendrang: „Je mehr er hat, je mehr er will. Nie schweigen seine Wünsche still!“ Hölderlins Kennzeichnung der Deutschen als „tatenarm und gedankenvoll“61 trifft nicht unbedingt zu, Spenglers Wort vom „Wikingergeist“ des Europäers schon eher. Bereits Thukydides rechnete die pleonexia, das Mehrhabenwollen zu den Grundeigenschaften der menschlichen Natur.62 Nicht selten sind rationale Beweggründe nur Vorwand für einen natürlichen Bewegungsdrang. Psychologen sprechen hier von einer „funktionellen Autonomie der Motive“.63 Die Hektik des Handelns ist von Lehrern des Quietismus seit Buddha und Diogenes immer wieder als Ausdruck von Leid gedeutet und durch Warnung vor Begehrlichkeit zu beheben versucht worden – doch blieb der Erfolg auf wenige asketische Naturen beschränkt. Die nackten Weisen in Indien haben ebensowenig wie Diogenes in seiner Tonne Alexander und seine

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Griechen davon überzeugen können, daß Bedürfnislosigkeit der Königsweg zum Glück sei.64 Das hätte fatale, ja letale Folgen für die Historie gehabt. Eine allgemeine Zufriedenheit wäre das Ende der Geschichte. 3e. Wo die Errungenschaften in den Bereichen Technik, Wirtschaft und Zivilisation als Basis eines universalen Fortschrittsglaubens dienen, bleibt zu bedenken, daß nicht alle Völker, nicht alle Länder, nicht alle Zeiten daran teilhatten und teilhaben, daß es Stillstand und Rückschläge gegeben hat, daß die Kosten des Fortschritts zu tragen sind und keineswegs auf allen Lebensgebieten Progressivität erkennbar ist. Es gibt Varianten, aber keinen Fortschritt in der Tiermalerei seit Altamira, keinen in der Epik seit Homer, keinen in der Skulptur seit Phidias. 3f. Ebenso fallen die Staatsformen in den fortschrittsfreien Bereich. Sie passen sich den sozialen Verhältnissen an, sie entwickeln sich nicht unwiderruflich und weltweit zur Demokratie, wie eine Trendanalyse vorspiegelt, die keine dreihundert Jahre überblickt. Demokratien entstehen und vergehen, wie die Verfassungsgeschichte der vorübergehend demokratischen oder republikanischen antiken Städte lehrt, wie die früher „militärdemokratisch“, später monarchisch regierten germanischen und keltischen Stämme zeigen, wie die labilen Stad­t­ republiken Oberitaliens bestätigen. In der Religionsgeschichte sodann mag man einen Fortschritt vom Totemismus und Schamanentum zum Götterhimmel der Griechen und dann zum Monotheismus sehen, der aber den Religionskrieg ermöglicht hat und am Ende wieder in einen Atheismus umschlägt, den schon griechische Denker vertraten.65 Oder wird der Fortschrittsglaube selbst das Non plus ultra, der Kult des Mammon die letzte Weltreligion? Schließlich ist die Hochschätzung der fortschrittsfähigen Sektoren keineswegs zwangsläufig. Es gab immer Menschen, denen die Segnungen des Fortschritts zweitrangig erschienen gegenüber kulturellen oder religiösen Gegebenheiten. Das spät­ antike Mönchsideal erfaßte viele Zehntausende von Männern und Frauen aller Stände. 3g. Eng verbunden mit dem Glauben an den Fortschritt ist die Überzeugung von einer Mehrung den Menschenglücks. Gewiß! Wir leben sicherer, bequemer und länger als unsere Vorfahren. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten und genießen ein Waren- und Freizeitangebot wie nie zuvor. Am spürbarsten ist der Fortschritt in der Medizin. Angesichts der Heilmethoden der Vergangenheit überkommt uns ein Gruseln. Die längste Friedenszeit der deutschen Geschichte, die 63 Jahre von 1555 bis 1618, wurde 2009 überboten. 3h. Der Mensch von heute hätte weniger Grund zum Klagen als der Mensch von ehedem. Insofern ist er glücklich zu preisen, aber das muß er nicht so empfinden. Er nörgelt. Glück ist nicht meßbar, nicht verläßlich mitteilbar. Selbstaussagen überzeugen nicht immer. Daher wissen wir nicht, ob wir glücklicher sind, wenn wir heute mit dem Flugzeug nach Italien fliegen, als Goethe es war, als er mit der Post-



3. Fortschritt

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kutsche die Alpen überquerte. Froh zu sein, bedarf es wenig, wie es im Kinderlied heißt, wenn uns auch eine allgegenwärtige Reklame einhämmert, daß nur Konsum uns glücklich mache. Aber Geborgenheit und Anerkennung, ein Waldspaziergang oder ein Musikerlebnis, ja nur das Wiedersehen mit einem Freund kann uns höheres Glück bescheren als ein Lottogewinn. Das meinte Jaspers mit seinem Verweis auf den Sonnenuntergang. Schwer vorstellbar ist das Glücksempfinden, das uns im Reich Gottes erwarten soll, sei es im Himmel oder auf Erden.66 Alle Lust will Ewigkeit – doch wäre ein Schlaraffenleben oder das permanente Jubilieren im Paradies auszuhalten? Am Ende stürbe der Mensch dort ein zweites Mal – aus Langeweile. Oder er revoltierte. Luzifer hat’s vorgemacht. 3i. Die zweite große Hoffnung des Fortschrittsglaubens galt und gilt der Zunahme an Humanität. Der Begriff bezeichnet nicht ein Wesensmerkmal des Homo sapiens, wie er ist, sondern ein Ideal, das er anstreben sollte, und zugleich einen Maßstab, mit dem sein Verhalten zu beurteilen ist. Das Wort beruht auf dem von Cicero geprägten, von homo – „Mensch“ abgeleiteten Wort humanitas, mit dem er das auf Pythagoras67 zurückgehende Wort philanthrōpia – Menschenliebe latinisierte. Es nähert sich den Begriffen eruditio und cultura, die alle ein geschichtsphilosophisches Programm enthalten: die Überwindung egoistischer Urtriebe. Dennoch hatte Burckhardt gewiß Recht, wenn er meinte: „Die Aufopferung des Lebens für andere kam gewiß schon bei den Pfahlmenschen vor.“68 Mit Grund beklagte Kant das Manko einer allgemeinen Moralisierung, da der Mensch aus „krummem Holze“ gemacht sei.69 Daher publizierte er einen Entwurf zum Ewigen Frieden, der stets als Ziel der Humanität erschien, obschon von Heraklit bis Lorenz der Kampf als unabdingbarer Motor des Fortschritts gedeutet wurde. 3j. Angesichts der begründeten Skepsis gegenüber einem allgemeinen Fortschritt in der Humanität ist doch eine Milderung der Umgangsformen anzuerkennen. Dazu zählt die Abschaffung der Menschenopfer durch die Verbote Gelons von Syrakus und Kaiser Hadrians gegenüber den Puniern.70 In Rom untersagte ein Senatsbeschluß des Jahres 97 v. Chr. Menschenopfer, und der Jurist Julius Paulus bezeugt Anfang des 3. Jahrhundert n. Chr. ein gleiches.71 Indem er aber als Strafe anführt, den Opferer den Zirkusbestien vorzuwerfen, zeigt sich nur ein begrenzter Beitrag zur Hebung der Sitten. Es gab schwere Rückfälle in die legale Brutalität, so im spätrömischen Vulgarrecht, mit dem Ordal und der Inquisition im Mittelalter, mit der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V und den Hexenprozessen. Erst im 18. Jahrhundert wurden in Europa die gesetzlich verwendete Folter und die, zumal im Kirchenstaat, straflos praktizierte Kastration von künftigen Diskantsängern verboten, nachdem jährlich – so heißt es – über 4000 Knaben in Italien kastriert worden waren. Die Sklaverei ist erst Ende des 19. Jahrhundert in der christlichen Welt verschwunden.72 3k. Trotz allen menschenfreundlichen Errungenschaften und den immensen Gewinnen an Lebensqualität sind die wieder mit den Weltkriegen verbundenen

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XVI. Zur Philosophie der Geschichte

Rückfälle in die Roheit dergestalt, daß der Fortschrittsglaube bei den Geschichtsphilosophen ins Wanken geraten ist und die Fortschrittskritik die Stimmung beherrscht.73 Aber gleichviel bleibt die Humanisierung ein um so dringenderes Postulat. Die allgemeine Verkündung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 war immerhin ein Markstein in der Bewußtseinsbildung.74 An der Perfektibilität des Menschen ist nicht zu zweifeln, nur daran, daß er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht.

4. Dekadenz 4a. Die Gegenbewegung zum Fortschritt heißt Dekadenz.75 Das Wort wurde im 17. Jahrhundert nach dem französischen décadence gebildet und geht zurück auf lateinisch (de)cadere – fallen, woraus mittellateinisch decadentia – Verfall gebildet wurde. Sehen wir ab vom mythischen Urglück, setzt Dekadenz Fortschritt insofern voraus, als sie eine durch jenen erreichte Fallhöhe erfordert und den Verlust eines gewonnenen Besitzes bezeichnet. Dekadenz steht für die Abnahme eines für das Lebensgefühl wesentlichen Gutes ähnlich einer Erschlaffung, einer Ermüdung, einer Krankheit oder der Altersschwäche, vergleichbar dem Untergang eines Schiffes oder dem Zerfall eines Bauwerks. 4b. Als Vorstufe des Niedergangs wird oft Stillstand betrachtet und als Stagnation gebrandmarkt. „Was nicht wächst, muß schrumpfen“ heißt es. Gemeint ist, daß da, wo kein Gewinn erzielt wird, doch ein Verlust an Zeit entsteht, die für den Gewinn hätte genutzt werden müssen, um in einer vom Wettbewerb getriebenen Gesellschaft nicht zurückzufallen. Dies ist jedoch ein Urteil aus der Außenperspektive und steht unter Ideologieverdacht, weil es Konkurrenz und Rivalität als normal voraussetzt und nichts über das Selbstverständnis jener aussagt, denen gegenüber der Vorwurf, stehen geblieben zu sein, erhoben wird. Stillstand kann durchaus wünschbar sein, wo nämlich die Vorzüge weiteren Fortschritts zweifelhaft geworden sind. 4c. Die Klage über die gesunkene Gegenwart betraf in der Bibel den Abfall von Gottes Gebot, bei Homer den Verlust an Heldenkraft und Heldenmut, bei Hesiod das Verschwinden der Rechtlichkeit. Bei den Römern war das Lamento über den Sittenverfall ein Dauerthema vom älteren Cato bis zum Kirchenvater Salvian, mithin über sechshundert Jahre. Zutreffend war die Beobachtung, daß die Annehmlichkeiten der Zivilisation die Wehrkraft mindern. Wie oft haben nicht Barbaren Kulturvölker besiegt! Denken wir an die Dorier gegen Mykene, die Germanen gegen Rom, die Araber gegen Persien, die Mongolen gegen China, die Hunnen und Türken gegen Byzanz. Weitere Beispiele lieferte Ibn Khaldun. 4d. Den klassischen Fall eines Dekadenzvorgangs bietet der Niveauverlust der antiken Kultur, ablesbar am Rückgang der Schriftlichkeit, der Sprachreinheit, der Infrastruktur, des Geldverkehrs, des Fernhandels, der Rechtssicherheit, des Städte-



4. Dekadenz

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wesens ...76 Er ist nicht der einzige Kulturverfall. Vorhergegangen war das Verschwinden der eiszeitlichen Fels- und Höhlenmalerei vor 14 000 Jahren, das Ende der Megalithkultur um 2000 v. Chr., das Erlöschen der kretischen und mykenischen Palastkultur im späten 2. Jahrtausend, der Niedergang der altmesopotamischen Stadtstaaten, der Zerfall des Pharaonenreichs und das Verdämmern der griechischen Poliswelt. Der Auflösung des Römerreiches folgten der Verfall von Byzanz, der Abstieg Spaniens, Venedigs und des Osmanenreichs, um von den Maya und den untergegangenen Kulturen Asiens zu schweigen. Die möglichen Erklärungen aus inneren und äußeren Gründen wurden am Fall Roms durchexerziert.77 Nicht in allen Bereichen ging es damals bergab. Fortschritte machten Mission und Organisation der Kirche, die Verwendung des Blätterbuches und der Eisenwerkzeuge sowie die Regeneration des Waldes. Insofern sind bezüglich des Dekadenzcharakters im Fall der Spätantike gewisse Einschränkungen zu machen.78 4e. Geschichtsphilosophen, bei denen der Dekadenzgedanke des Kulturpessimismus dominiert, amputieren die christliche Apokalyptik um den für die Frommen glücklichen Ausgang und enden mit Varianten zu den Wehen des Messias, mit den Schrecknissen, die dem Sieg bei Harmagedon vorhergehen. Schwarzseher galten als geistreich: Aristoteles ait omnes ingeniosos melancholicos esse.79 Humoralpathologisch gesehen, handelt es sich um ein Übermaß an Schwarzer Galle, die auf das Geschichtsbild abfärbt. Die meisten Dekadenztheoretiker bieten jedoch einen Hoffnungsschimmer. So hat sich der Erzvater des Untergangs Spengler gegen den Vorwurf des Pessimismus 1921 nicht ganz überzeugend gewehrt, denn die von ihm dem Abendland und der europäisierten Menschheit in Aussicht gestellte Zivilisation mit ihrem Kampf um die Weltherrschaft ist auch in seinen eigenen Augen ein Abstieg von der Höhe goetheanischer Kultur. Pessimismus ist zumeist ein Vorwurf von Optimisten und daher keine neutrale Kennzeichnung. Pessimisten pflegen sich als Realisten zu verstehen und Optimisten als Wunschdenker zu bezeichnen.80 Prägnant Spengler: „Optimismus ist Feigheit“ – oder, bei Arthur Herman: Optimismus ist amerikanische Staatsideologie.81 4f. Einen endgültigen Abgesang auf das Abendland verdanken wir Theodor Lessings Fluch auf die Kultur von 1921. „Europa wird sich selbst verbrennen auf dem Aschenberge seiner großen Leistungen.“82 Das Ende der Menschheit kündet dann sein Buch ›Der Untergang der Erde am Geist‹ von 1924. Der „Schöpfer der Wirklichkeitswelt und ihrer Geschichte“ war demnach der Teufel. Zeichnete er sich nicht schon durch Klugheit aus in Gestalt der Schlange im Paradies? Die Geschichte ist für den Autor eine „Sackgasse“, das Leben erlischt durch die „Diabolik des Geistes“, jenen „Parasiten am Leben“, der die Naturkraft in uns aufzehrt. Vitalität verdampft in Intellektualität. Es folgt das „Erlöschen des Lebens im Geist“, ja das Weltende.83 Bereits Hegel verband den Geist mit dem Ende, mit dem Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit, sah das aber optimistisch. Die pessimistische Kurzform bietet Ludwig Klages 1929: „Das Wesen des geschichtlichen Prozesses der Mensch-

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heit (auch Fortschritt genannt) ist der siegreich fortschreitende Kampf des Geistes gegen das Leben mit dem – absehbaren Ende der Vernichtung des letzteren.“84 4g. Klagen über die Dekadenz der westlichen Industriegesellschaft kommen aus allen Lagern – ganz rechts wie ganz links.85 In ihrer ›Dialektik der Aufklärung‹ von 1944, geschrieben in Santa Monica, erhoben Horkheimer und Adorno schwere Vorwürfe gegen die seit dem 18. Jahrhundert in Gang befindliche Modernisierung. Die Aufklärung als Lehre der Machbarkeit alles Möglichen habe seit Napoleon ihren humanitären Impuls verraten und die Welt im Namen der praktischen Vernunft instrumentalisiert. Die beiden Autoren wenden sich gleichermaßen gegen den kulturarmen Kapitalismus in Amerika (das sie aufgenommen hat) wie gegen den inhumanen Faschismus (dem sie entkommen sind), zwei Varianten der Barbarei, die als Tief- und Endpunkt der falsch verstandenen Aufklärung erscheint. Der Fortschritt habe durch die Entfesselung der ökonomischen Mächte seine Destruktivkraft entfaltet und allenthalben Rückschritt bewirkt. Folge sei die Selbstzerstörung der Aufklärung. Unschlüssig sind die Autoren hinsichtlich der Form, in der sich die Menschheit vernichten wird. Die Geschichte ist „das Grauen“.86 4h. Zwischen den Argumenten für die Fortschrittlichkeit der Geschichte und den Einwänden der Dekadenzerfahrung ist eine Bilanz schwer zu ziehen. Man kann dem Janus kein drittes Gesicht aufsetzen. Bei jedem Fortschritt gibt es Verlust und Verlierer, bei jeder Dekadenz Genuß und Gewinner. Der Unterschied liegt nur darin, daß die Verlierer beim Fortschrittsprozeß innerhalb, die Gewinner bei Dekadenzvorgängen außerhalb der jeweiligen Gesellschaft stehen. Im zweiten Fall profitieren die robusteren Barbaren von der Erschöpfung einer verfeinerten Zivilisation; im ersten Fall bleiben die Schwächeren in der Konkurrenz auf der Strecke, erkennen Weiterblickende die langfristigen Schäden kurzfristiger Vorteile. Das Für und Wider könnte auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen, bei dem es nicht um Gewinn, sondern um bloße Tätigkeit geht. „Tätig zu sein, ist des Menschen erste Bestimmung“, heißt es im ›Wilhelm Meister‹.

5. Systemfolge 5a. Wenden wir nun die Denkformen, mit denen die Geschichtsphilosophie das menschliche Geschehen überschaubar macht, auf das Nach- und Nebeneinander der geschichtsphilosophischen Systeme selbst an, so stellt sich die Frage, nach der Grundstruktur des Theorienkomplexes. Handelt es sich hier um eine bloße Galerie von Paradigmen, eine Sammlung von typologisch unterschiedenen Systemen? Oder zeigt sich ihrer Abfolge eine Linie? Eine typologische Betrachtung der geschichtsphilosophischen Entwürfe gilt einerseits deren logischer Struktur und andererseits dem thematisch bevorzugten historischen Stoff, der jeweils zugrunde liegt. Das Bild der Geschichte hängt davon ab, ob der Betrachter mit Kant den „Keim der Aufklärung“ oder mit Hegel die Entwicklung der Staatlichkeit im Auge hat, ob er mit



5. Systemfolge

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Marx die Produktion oder mit Spengler die Kunst als Leitsektor betrachtet. Eine chronologische Behandlung hingegen fragt nach dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, nach der doppelten Einbindung der Theorien einerseits in die diachrone Tradition von Denkfiguren und andererseits in die synchrone Vernetzung mit dem jeweiligen Zeitgeist. 5b. Die Grundstimmung einer Zeit kann sehr verschiedene Ausdrucksformen annehmen. Die um die Zeitenwende im Mittelmeergebiet verbreitete Erwartung einer neuen Epoche unter einem Heilsbringer zeigt sich sowohl in der Vergötterung des Augustus als auch wenig später in der Messianität Jesu. Das Endzeitbewußtsein der Kirchenväter äußerte sich bei Euseb in einer Euphorie, bei Augustinus in einer Indifferenz gegenüber dem Imperium Romanum Christianum. Der Fortschrittsglaube der Aufklärung hat bei Kant und bei Robespierre ein durchaus anderes Gesicht. Der Materialismus des 19. Jahrhundert führte bei Karl Marx und bei Ernst Haeckel zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen. 5c. Nicht selten finden sich gegensätzliche Grundstimmungen nebeneinander, indem in derselben gesellschaftlichen Schicht, bisweilen sogar in derselben Person durchaus verschiedene Auffassungen vorkommen. Unter den Vorsokratikern steht dem „weinenden Philosophen“ Heraklit der „lachende Philosoph“ Demokrit gegenüber.87 In der ausgehenden römischen Republik verbinden sich apokalyptische Ängste und chiliastische Erwartungen. Während des römischen Kaiserfriedens begrüßen Velleius, Plinius minor und Aelius Aristides den Wohlstand und die Zivilisation; dagegen beklagen Seneca, Plinius maior und Juvenal die Sittenlosigkeit und die Habsucht. Noch am Ende des römischen Reiches finden wir pessimistische und optimistische Zeitbilder in derselben heidnischen Oberschicht. Über Nähe und Ferne des Endgerichts waren die Christen immer zerstritten. 5d. Im 16. Jahrhundert werden sodann die neuen humanistischen Aufbruchsstimmen von alten biblischen Endzeitproprognosen begleitet.88 Neben den Fortschrittsaposteln der Aufklärer finden sich zeitgleich Skeptiker wie Rousseau und Volney. Seit der Romantik mit ihrem Weltschmerz bleibt ein Dekadenzbewußtsein lebendig, so daß für das 19. und 20. Jahrhundert schwerlich von einer herrschenden Geschichtsphilosophie gesprochen werden kann. Heute bestimmen blasse Fortschrittshoffnungen und krasse Krisengefühle das Geschichtsbild, und noch ist unklar, welche Ansicht das bessere Recht auf ihrer Seite hat. 5e. Der Verschiedenartigkeit der Geschichtsbilder in der gleichen Zeit steht die Gleichartigkeit von Ansichten über Geschichte in verschiedenen Zeiten gegenüber. Es gibt konstante Denkfiguren. Als Salomon die Behauptung aufstellte, es gebe nichts Neues unter der Sonne, fand er damit Beifall, ebenso Heraklit, als er im Gegenteil behauptete, alles befinde sich im Wandel.89 Einzelne Denkfiguren sind seit frühgriechischer Zeit so zählebig wie der Satz des Pythagoras, beispielsweise das Lebensaltergleichnis, das Dekadenzmodell, das Krisengefühl und der Gedanke vom steten Wissensfortschritt. Die Vier-Reiche-Lehre hatte vom 2. Jahrhundert v. Chr.

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bis zum 18. Jahrhundert n. Chr. eine respektable Anhängerschaft. Das biblische Schema wurde wiederholt der wechselnden Erfahrung angepaßt, so daß man es selbst nicht austauschen mußte. Die römische Gegenwartseschatologie überdauerte gut drei Jahrhunderte, die christliche Endzeiterwartung hielt sich fast zwei Jahrtausende. Eine respektable Anpassungsfähigkeit zeigte ebenso die Lehre von der Weltrevolution im historischen Materialismus. Die alte Theorie wurde jeweils so umgedeutet, daß sie mit den neuen Befunden übereinstimmte. Die Expansivkraft des Kapitalismus erschien als Krebsgeschwulst, die Mißwirtschaft des Kommunismus hingegen als Kinderkrankheit. Während die Gegner der betreffenden Auffassung in dieser Anpassungsfähigkeit eine Schwäche erblickten, sahen ihre Anhänger darin eine Stärke. Über die Grenzen der Legitimität in diesem Verfahren ist Einigkeit schwer zu erzielen. Wieweit ich eine Theorie modifizieren darf, ohne ihre Identität zu opfern, ist ein Definitionsproblem. Ist der Globus eine Kugel, trotz der Alpen? 5f. Geschichtsphilosophische Theorien können im Laufe der Zeit beträchtliche Charakteränderungen durchmachen. Dies geht bis zu dem mehrfach beobachtbaren Wandel von einer ursprünglich kritischen Intention zu einer affirmativen Funktion. Die Lehre vom Goldenen Zeitalter diente bei Hesiod dem Angriff auf seine Gegenwart, Vergil verwendete sie zur Verklärung der seinen. Die These von der Weltreichsfolge erscheint bei Daniel in polemischer Absicht gegen die Seleukiden, Polybios gebrauchte sie apologetisch zugunsten Roms. Das Bild von den Lebens­ altern verdeutlichte bei Seneca Roms nahes Ende, verherrlichte bei Ammian die Weisheit und das Ansehen der altersgrauen Roma. Die christliche Eschatologie war unter Nero staatsfeindlich, bei Euseb unter Constantin wurde sie staatsfreundlich. Der historische Materialismus begann vor der Revolution als Angriff auf Staat und Polizei, auf Eigentum und Ehe, Klassenschichtung und Wirtschaftslenkung und diente danach zur Verteidigung all dieser Dinge im real existierenden Sozialismus. Beträchtliche Variationen zeigt auch der Geschichtsbiologismus, der sich von der Rassentheorie über den Sozialdarwinismus zur historischen Verhaltensforschung gemausert hat. Den führenden Köpfen sind die jeweiligen Vorstufen meist peinlich bewußt, sie werden bekämpft wie Häresien von der Orthodoxie.

6. Säkularisierung 6a. Den größten Funktionswandel hat die jüdisch-christliche Eschatologie erlebt. Denn unübersehbar ist der biblische Einfluß zumal auf die progressiven Geschichtskonzepte der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Teleologie ist verweltlichte Theologie. Diese von Wilhelm Dilthey 1883 beschriebene Transformation wurde 1923 von Nikolaus Berdjajew und 1936 von Friedrich Meinecke als Säkularisierung christlichen Ideenguts bezeichnet. Er entdeckte eine dreiphasige der Stufenfolge in der Säkularisation der Heilsgeschichte seit der frühen Neuzeit. Eine erste Abwertung erblickte er in der Eliminierung christlichen Gedankengutes aus dem



6. Säkularisierung

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Weltbild in der Renaissance seit Machiavelli. Die „zweite Säkularisierungswelle“ der Aufklärung bestand in der Umwandlung der Paradieseshoffnung in den Fortschrittsglauben; und die dritte mündete in den Historismus, der auf dem „Mutterboden“ des Christentums erwuchs und dieses nicht verleugnete.90 In diese Tradition fügen sich die Hegelianismen bis zu Marx und Darwin ein; dann aber bricht die Kontinuität ab. Die paradigmatischen und morphologischen Entwürfe setzen diese Linie nicht fort, doch zeigt die Posthistorie wieder Anklänge an die Apokalyptik. 6b. Popularisiert wurde das Konzept des heilsgeschichtlichen Hintergrunds im neuzeitlichen Geschichtsdenken 1949 von Karl Löwith.91 Gegen ihn wandte sich 1968 Hans Blumenberg, indem er den Ausdruck „Säkularisierung“ angriff.92 Mit Recht erinnerte er an die juristische Bedeutung des Wortes, womit die Überführung von Kirchenbesitz in das „weltliche“ Staatseigentum bezeichnet wurde, wie das von Karl Martell im Frankenreich bis zu Montgelas in Bayern periodisch passiert ist und seit der Aufhebung der geistlichen Landesherrschaft im Reichsdeputationshauptschluß 1803 unter dem Begriff „Säkularisation“ lief. Wenn ein Philosoph nun zusätzlich die Übertragung der Vision irdisch gedachter Seligkeit im Jenseits auf die Hoffnung himmlisch vorgestellten Glücks im Diesseits als Säkularisierung bezeichnet, so wird damit nicht die Neuzeit für „illegitim“ erklärt, sondern hingewiesen auf eine offenkundige Erbschaft. 6c. Die Weiterführung biblischer Gedanken war neuzeitlichen Denkern durchaus bewußt. Lessing übernahm aus der Heilsgeschichte die „Erziehung des Menschengeschlechts“, er und Herder sahen in der Geschichte die paidagogia theou. Kant vertrat einen weltlichen „Chiliasmus“ und schrieb: „Das Reich Gottes auf Erden, das ist die letzte Bestimmung, des Menschen Wunsch“.93 Schiller erklärte: „Aus einem Paradies der Unwissenheit und der Knechtschaft“ sollte sich der Mensch, „wäre es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinaufarbeiten.“94 Die christliche Komponente in Hegels Geschichtsdenken ist früh greifbar, so etwa in einem Brief an Schelling Ende Januar 1795: „Das Reich Gottes komme, und unsre Hände seien nicht müßig im Schoße!“ Seine Geschichtsphilosophie will sodann eine Theodizee liefern. Christliche Heilsvorstellungen auf weltliche Zukunftshoffnungen übertragen, finden wir sodann bei den Frühsozialisten, bei Saint-Simon und Comte, sowie bei Marx und Engels, auch wenn bei ihnen ebenso Vorchristliches und Allgemeinmenschliches hereinspielt. Das christliche Fundament des Historismus liegt bei Ranke, Droysen und Meinecke offen. Die Verbindungen zur Heilsgeschichte lassen sich erheblich vermehren, wenn wir an die biblischen Motive bei Freud erinnern und neben der Endzeithoffnung weitere christliche Denkfiguren betrachten, so die paulinischen Begriffe Entfremdung und Emanzipation und die Annahme einer göttlichen oder gottähnlichen höchsten Instanz im Geschichtsprozeß. Das uns von Toynbee verheißene Kingdom of God, nun doch „von dieser Welt“, ist historia sacra in pura forma.

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6d. Zu den Erbstücken aus der Heilsgeschichte im neuzeitlichen Zukunftsglauben gehört ebenso die Idee vom Neuen Menschen. Sie wurde zuerst von Paulus formuliert und dann in der Gnosis zum teleios anthrōpos, dem neuen, geläuterten Menschen modifiziert.95 Die paulinische Idee hat Augustinus übernommen,96 sie hat im Christentum jedoch keinen geschichtsphilosophischen Sinn, denn es geht dort nur um die Bekehrung und Erhebung des Einzelnen. Auf die Gattung bezog Kant den Gedanken der neuen Art, indem er die Vollendung der Naturanlagen des Menschen in der Zukunft erwartete, und ebenso dachte Darwin. Varianten dieser Vorstellung waren der sozialistische Neue Mensch bei Marx 1856, sodann der Übermensch bei Nietzsche 1878 und der „neue geistige Mensch“ 1908 bei Rudolf Eucken.97 6e. Weitere Typen des Neuen Menschen produzierte der Erste Weltkrieg. Der liberale Diplomat Harry Graf Kessler forderte 1922 auf dem internationalen Frauenkongreß im Haag von den kriegsmüden Müttern den „Neuen Menschen als Träger des Neuen Friedens“, während im gleichen Jahr der in der „Hammerschmiede“ der Materialschlacht stahlgehärtete Leutnant Ernst Jünger schrieb: „Der Krieg ist eine große Schule, und der neue Mensch wird von unserem Schlage sein.“ An einen biologischen Mechanismus dachte Hitler zwei Jahre später. Ihm ging es um einen anderen Typus von Neumensch, als er angesichts der „Höherentwicklung aller organischen Lebewesen“ gemäß dem „Willen der Natur zur Höherzüchtung“ den genetisch verbesserten arischen Herrenmenschen ins Auge faßte.98 Voraussetzungen für den künftigen Übermenschen als Superamphibium erörterten dann wieder Horkheimer und Adorno 1944.99 Der existentialistische Denker Karl Jaspers erhoffte 1949 vom „zweiten Atemzug“ der Weltgeschichte die „eigentliche Mensch­ werdung“;100 der konservative Jurist Carl Schmitt annoncierte 1970 den „Neuen Menschen“, der sich von der Tradition löst und sich in der „fortschrittlichen wissenschaftlich-technisch-industriellen freien Gesellschaft“ selbst produziert;101 der Philosoph Günther Anders erblickte 1980 in der amerikanischen fliegenden Comicfigur superman das Idol der menschheitsbeglückenden allgewaltigen Technik;102 der Verhaltensforscher Konrad Lorenz erwartete 1983 den „wahrhaft humanen Menschen“ als neue Rasse in der Zukunft.103 Die einstweilen letzte Neuerung der menschlichen Natur erkannte Fukuyama darin, daß anders als bisher die „Demokratie zu einem grundlegenden Bedürfnis werde wie der Schlaf“.104 Im Ungenügen an der Geschichte konzipieren die genannten Denker einen hoch erwünschten Entwicklungssprung der species humana im Bewußtsein und im ­Verhalten. Der Neue Mensch ist der Träger der kommenden Zeit. Das gilt auch für die super-men Toynbees: Die übermenschlich begabten Heiligen der katholischen Kirche sind bei ihm die Bahnbrecher und Pfadfinder auf dem Weg der Menschheit ins Reich Gottes.105 6f. Christlich inspiriert scheint ebenso das Dreiphasenschema der universalhistorischen Periodisierung. Gewiß gibt es Vorläufer: so Varro mit dem intervallum



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ignotum (bis zur ersten Flut), dem intervallum mythicum (bis zur ersten Olympiade) und dem intervallum historicum (seitdem)106 oder Marc Aurel mit den nicht näher bestimmten Abschnitten der alten, mittleren und neuen Zeit.107 Präzisiert sind die drei Perioden bei Paulus: ante legem (vor Moses), sub lege (seit dem Dekalog) und sub gratia (seit der Inkarnation). Dieses Schema, das auch Augustinus benutzte, wurde abgewandelt durch Joachim von Fiore in die Zeitalter des Vaters (bis zur Inkarnation), des Sohnes (seither) und des Heiligen Geistes (in naher Zukunft). Gemäß dem Epochendenken der Humanisten schuf Christoph Cellarius Ende des 17. Jahrhunderts unser Dreiphasenschema von Alter, Mittlerer und Neuer Geschichte,108 umgedacht bei Vico 1725 in ein göttliches, ein heroisches und ein menschliches Zeitalter, bei Schiller 1795 in einen ersten physischen Zustand, einen zweiten ästhetischen und einen dritten moralischen,109 bei Comte 1844 in seine loi des trois états,110 bei Bachofen 1861 in die Folge Urzeit-Mutterrecht-Vaterrecht; bei Cournot ebenfalls 1861 in den Dreisprung von der primitiven Urgeschichte über die Zeit der Zivilisation in die Endphase der posthistoire;111 bei Arnold Gehlen 1949 in die Trias präneolithisches Frühstadium – Kulturzeitalter – industrielle Global­ zivilisation112 und ähnlich im selben Jahr bei Jaspers in die Stufen Vorgeschichte, Geschichte, Weltgeschichte.113 6g. Am engsten ist der Bezug zum christlichen Zeitbild bei Autoren, die eine Teleologie vertreten und auf eine glückliche Zukunft der Menschheit hoffen. Eine ähnliche Endzeiterwartung fehlt bei Griechen und Römern, findet sich hingegen – noch irdisch konkret – bei den Propheten des Alten Testaments. Wie sie hat der moderne Fortschrittsglaube ein Ziel der Menschheit im Visier. Bisweilen ist es ein Ideal, dem wir uns nähern, ohne es je zu erreichen, so daß es nur die Richtung markiert, in die sich die Menschheit bewegt. So etwa bei Kant mit seiner Aussicht auf einen „ethischen Staat auf Erden“ oder Herder mit seiner Hoffnung auf die Humanisierung. Als Bild der vollendeten Humanität sah er vermutlich Jesus oder den unerreichbaren Menschen der Bergpredigt. Der progressus ad infinitum perfectionis bei Leibniz ist ein schwaches Argument für die These von der besten aller Welten, denn unendliche Vervollkommnung ist gleichbedeutend mit einer endlosen Unvollkommenheit, bleibt doch das Ziel stets gleich weit entfernt. 6h. Häufiger ist die Annahme eines erreichbaren Wunschzustandes, wie er Johannes auf Patmos vorschwebte. Daß dies bereits in der Gegenwart eingetreten sei, war ein säkulares Dogma der Romideologie bei Vergil und den Panegyrikern und begegnet uns wieder im Jubelruf Ulrich von Huttens 1518 und in der Euphorie der Französischen Revolution mit der Ablösung der christlichen Ära durch die neue Zeitrechnung, beginnend mit der Tag- und Nachtgleiche am 22. September 1792, 9 Uhr 18 Minuten und 30 Sekunden. Die Gegenwart als Vollendung der Geschichte finden wir wenig später bei Hegel 1806 und 1992 bei Fukuyama. 6i. In nicht näher bestimmter Zukunft sollte Lessings „Zeit der Vollendung“ erreicht sein“, ebenso Condorcets „Elysium“ der Vernunft und Jean Pauls „goldenes

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Zeitalter ..., wo man nur zuweilen mit dem Pflug Kanonenkugeln aufackert“.114 Der vorkritische Kant und der unkritische Fichte erwarteten das „Reich Gottes auf Erden“. Varianten bieten Bachofens „Realisierung des Vernunftgesetzes“,115 Toynbees „Gemeinschaft der Heiligen im Königreich Gottes“ und Poppers „offene Gesellschaft“. Ob dies durch höhere Gesetzmäßigkeit oder durch menschliche Bemühung erfolgt, macht keinen Unterschied, da letztere nur die Form ist, in der der erstere zur Wirkung gelangt. 6j. Immer und immer wieder glauben Autoren, bereits auf der Schwelle zur Endzeit zu stehen, die in allernächster Zukunft eintreten werde, entsprechend der frühchristlichen Naherwartung des Himmelreiches, dessen Kommen die zweite Bitte im Vaterunser beschleunigen soll. Ein solches Krisengefühl, das eine allgemeine mutatio rerum, einen Völkerfrühling, einen letzten Zeitenmorgen angebrochen sieht, bewog Joachim von Fiore zum Glauben an das nahe Dritte Reich des Heiligen Geistes. Condorcet sah die Menschheit 1793 vor einer „großen Revolution“ der Vernunft und des Glücks.116 Kant folgerte 1798 aus den Nachwehen des gegenwärtigen Krieges eine „nahe bevorstehende Wendung des menschlichen Geschlechts zum Besseren“.117 Bei Fichte 1806 ist der Weg vom Paradies Gottes zum selbsterbauten Paradies der „vollendeten Rechtfertigung und Heiligung“ zurückgelegt, 1807 ist die „Morgenröte der neuen Welt schon angebrochen“;118 Hegel erkannte im gleichen Jahr, „daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist.“119 Saint-Simon sah 1814 das „goldene Zeitalter“ vor sich, Heinrich Heine jubelte: „Jetzt steigt das Morgenlicht herauf – ich grüße dich, Phöbus Apollo!“. Marx hörte 1844 schon im Geiste das „Schmettern des gallischen Hahns“, der den „deutschen Auferstehungstag“ verkünde, und Cournot sah sich 1861 im Vestibül der posthistoire.120 1936 glaubte sich der National­ sozialist Karl Alexander von Müller „mitten in dieser Weltwende“,121 1940 wittern wir politische Morgenluft bei dem Marxisten Benjamin, der am „Himmel der Geschichte“ den Sonnenaufgang begrüßte.122 Ähnliches lesen wir bei dem Existentialisten Jaspers. der 1949 die „Menschheitsgeschichte“ in zwei „Atemzüge“ aufteilte und spürte, wie sie zu letzterem soeben Luft holte,123 sowie bei Vertretern der posthistoire. In der politischen Rhetorik findet sich die Ankündigung einer neuen Zeit bei Bismarck, Hitler und Mao Tse-tung.124 Die Idee einer neuen Weltepoche ist dem traditionellen chinesischen Zeitempfinden zwar fremd, aber Mao steht auf den Schultern des christlich erzogenen Marx, 1834 in der damaligen Seminar-, heute Jesuitenkirche zu Trier konfirmiert. 6k. Das christliche Erbe in den neuzeitlichen Geschichtsphilosophien zeigt sich schließlich auch darin, daß mehrere von ihnen Weltanschauungen begründen, ja Züge von Wissenschafts- oder Ersatzreligionen aufweisen. Die Aufklärung hatte mit ihrer Kritik am christlichen Dogma emotionale Leerstellen geschaffen, die neu zu füllen waren. Am 8. Juni 1794 eröffnete Robespierre mit dem „Fest des Höchsten Wesens“ den Kult der Vernunft. Der überlebte seinen Stifter in der Form des



7. Realitätsgehalt

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Fortschrittsglaubens.125 Schon Lessing hatte anstelle der biblischen Offenbarung ein „neues wahres Evangelium“ erwartet. Die Geschichte als zweite Offenbarung neben der Bibel und den Historiker als Priester der Geschichte kennen wir von Herder und Heine, von Ranke und Meinecke; die Heiligkeit der Geschichte vertrat Schelling, der sich selbst als Wegbereiter einer neuen Religion verstand.126 Nachdem Saint-Simon eine „industrielle Religion“ auf der Basis des Fortschrittsglaubens gefordert hatte, hat sein Schüler Comte mit dem Positivismus den Schritt zum Religionsstifter vollzogen. Du Bois-Reymond verglich 1877 den Beginn des „technisch-induktiven Zeitalters“ im 18. Jahrhundert mit dem einstigen Übergang zum Monotheismus und nannte die von ihm vertretene „naturwissenschaftliche Anschauung“ eine „Religionsform“.127 Haeckel folgte mit dem semisakralen Monismus. Die pseudoreligiösen Kennzeichen des Marxismus wurden von dessen Anhängern nicht verheimlicht.128 Chamberlain sodann forderte eine „wahre Religion“ für die germanische Kultur, und bei Spengler empfindet Botho Strauß immerhin ein „sakrales Weltgefühl“.129

7. Realitätsgehalt 7a. Die Spur christlichen Gedankengutes in den Geschichtskonzepten legt die Frage nahe, ob und wenn wie weit eine Stringenz oder gar eine Entwicklung in der Abfolge dieser Systementwürfe erkennbar ist. Läßt sich hier gar ein Erkenntnisfortschritt ausmachen, so wie die professionelle Geschichtsforschung unser Wissen um die Vergangenheit vermehrt und verbessert? Hegel hat das abgewehrt, als er seinen Hörern erklärte: „Wir müssen uns nicht durch die Historiker vom Fach verführen lassen.“130 Wenn schon deren Wissensgewinn der Geschichtsphilosophie nichts bringt, könnte ja die jeweils jüngere Theorie, auf den älteren aufbauend, dem Wesen der Geschichte näher gekommen sein und einen Konsens unter den Denkern herbeigeführt haben. Eine solche Erwartung wird jedoch enttäuscht. Zwar benutzen alle Entwürfe älteres Gedankenmaterial, doch geschieht dies in je eigener Weise. Dies verhindert, daß jedes neue System, der üblichen Wissenschaftsgeschichte entsprechend, den alten Erkenntnisstand überbietet. Jeder Autor greift unmittelbar auf den gesamten Stoff der Ereignis- und der Geistesgeschichte zurück. 7b. Während die Geschichtsforschung gemäß ihrer facheigenen Methode vorgeht, arbeitet die Geschichtsphilosophie überwiegend intuitiv. Sie wagt weitreichende Äußerungen über die Geschichte, und doch hat uns schon Schiller gelehrt, wie begrenzt das Wissen der Historiker um die Vergangenheit ist.131 Und eben dies gilt für die Geschichtskenntnisse der Philosophen nicht weniger, auch wenn sie sich nicht zu ihrem Dilettantismus bekennen wie der bescheidene Jacob Burckhardt,132 der doch den allerwenigsten Grund dazu hatte. Es gibt im übrigen keinen Anlaß, Dilettanten verächtlich zu machen. Außenseiter, die sich aus Liebhaberei mit einer Materie befassen, sich mit ihr ergötzen (dilet-

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tare) wollen und keine Brotgelehrten im Sinne Schillers sind, gehen oftmals mit größerer Unbefangenheit vor und leisten dann mitunter beträchtliche Beiträge zur Wissenschaft, denken wir nur an Goethe und den Zwischenkieferknochen, an Grotefend und die Entzifferung der Keilschrift und an Schliemann und die Entdeckung von Troja. Angesichts der für den wissenschaftlichen Fortschritt zunehmend erforderlichen Spezialisierung nach dem Motto more and more about less and less erfordert das Bemühen um einen Überblick stets Mut zum Dilettantismus. Er ist nicht mit Pfuscherei oder Stümperei zu verwechseln, die sich ihrer fehlenden Fachkenntnis nicht bewußt ist. Das Loblied auf den Dilettantismus sang schon Schopenhauer 1851 in seinen ›Paralipomena‹, indem er die Lust an der Sache selbst gegen die Lust am Geld für die Sache ausspielte und Goethe als genialen Dilettanten in der Optik feierte.133 7c. Geschichtsphilosophie ist keine akademische Disziplin, kein Teilgebiet der Schulphilosophie wie Logik und Ethik, Metaphysik und Philosophiegeschichte. Geschichtsphilosophie ist das Geschäft von Männern unterschiedlichster Profession. Am Anfang sind es Mythographen, so der Autor der Genesis und Hesiod. Es folgen die Philosophen wie Xenophanes und Heraklit, Platon und die Stoiker. Geschichtsdeutung bieten sodann die Dichter Lukrez, Vergil und Ovid in der Antike, sowie Lessing, Herder und Goethe in der Neuzeit. Die Theologen treten herzu mit den Propheten des Alten Testaments, führen über Paulus und die Kirchenväter bis zu den Klerikern des 18. Jahrhunderts. Zuvor meldeten sich Juristen wie Bodin und Vico, ehe die Universalgelehrten Leibniz und Voltaire, die Fachphilosophen Kant und Hegel, Fichte und Schelling ihre Systeme vorlegten. Aus der Mathematik und der Sozialtheorie kamen die Franzosen Saint-Simon, Condorcet, Comte und Cournot, aus der Sozialökonomie die Deutschen Marx, Engels und Max Weber. Die Biologie ist vertreten mit Darwin, ­Hae­ckel und Lorenz. Der Mathematiklehrer Oswald Spengler bezeichnete sich als „Historiker und Politiker“.134 Freud und Jaspers kommen aus der Psychiatrie, ­Popper studierte Physik, Baudrillard war Deutschlehrer, Kojève arbeitete als Chargé de mission im Finanzministerium, Fukuyama als Beamter im State Department. Fachhistoriker bilden die Ausnahme: Ranke, Burckhardt und Meinecke. Offenbar muß ein Historiker über den Sinn der Geschichte ebensowenig nachdenken wie ein Uhrmacher über die Struktur der Zeit, wie ein Mediziner über das Wesen der Krankheit, ein Jurist über die Grenzen der Gerechtigkeit, ein Ingenieur über Segen und Fluch der Technik. All dies sind philosophische Fragen. 7d. Die bisher erfolgreichste und am häufigsten behandelte – aber auch meistverworfene – Geschichtsphilosophie ist die des Fortschritts.135 Die Annahme, daß sie einen Fortschritt in der Geschichte der Geschichtsphilosophie darstelle, setzt die Anerkennung der Fortschrittlichkeit des Fortschritts voraus. Aber ist der Glaube an den Fortschritt in der Geschichte nicht ein Rückschritt in der Geschichte des Denkens? Dies haben Diogenes und andere fortschrittskritische Philosophen angenom-



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men. Der Historiker stellt hier eine Kompetenzkontroverse fest zwischen den Gewinnern und den Verlierern des Fortschritts. Quis iudicabit? Denn könnten die Gewinner von heute nicht die Verlierer von morgen sein und umgekehrt? Die moderne Industriegesellschaft freilich demonstriert mit Macht, woran sie glaubt. Der Glaube des Baggerführers versetzt Berge. Wo dieser unausgesprochene, aber höchst reale Fortschrittsglaube als Irrglaube bestritten wird, steht im Hintergrund der Ritter von der traurigen Gestalt beim Kampf gegen Windmühlenflügel. Die Stärke eines Glaubens wiegt in der Geschichte mehr als der Wahrheitsgehalt. 7e. Das Neben- und Gegeneinander von Zyklik und Linearität, von Dekadenzund Fortschrittsvorstellungen entscheidet keine wissenschaftliche Kontroverse wie die Frage, ob Amerika durch Erich den Roten oder durch Kolumbus entdeckt wurde; ob Luther seine Ablaßthesen an die Schloßkirchentür von Wittenberg genagelt oder durch Boten versandt hat, ob Philipp Reis oder Thomas Edison der Erfinder des Telefons ist. Historische Sachfragen sind durch Begriffsklärung und Quellenbelege entscheidbar, hier setzt sich gewöhnlich die am besten begründete Ansicht durch. Bei Deutungen ist es anders. Sie beruhen auf unterschiedlicher Bewertung der historischen Vorgänge und Ereignisse, so daß sie durch Gegenbeispiele kaum zu erschüttern sind. Geschichtsphilosophen bestimmen die Beweiskraft der von ihnen respektierten und ignorierten Realien gemäß eben ihrer Geschichtsphilosophie und machen sie damit durch Fakten unangreifbar. Meinecke verwies auf die unterschiedlichen „Grundlieben“ der Denker, jeder „knetet sich die Geschichte nach ihnen zurecht.“ Der Stoff ist derselbe, die Form wechselt.136 Die zeitliche Folge der geschichtsphilosophischen Entwürfe läßt aufs Ganze gesehen keine Entwicklung erkennen, die schrittweise zu einer Globaltheorie, einer gültigen Grammatik der Geschichte geführt hätte oder führen würde. 7f. Das Gesamtbild der Geschichtsphilosophie gleicht demjenigen der Philosophiegeschichte. Wer in Bezug auf sie von Fortschritt redet, bekennt sich zu einer bestimmten Schule, die sich selbst an der Spitze sieht, da sie, was fortschrittlich heißt, gemäß ihrer je eigenen Lehre definiert. So konnte Seneca spotten: Daß zwei Philosophen dieselbe Meinung vertreten, ist so unwahrscheinlich, wie daß zwei Uhren die gleiche Zeit zeigen.137 Inzwischen hat die Technik dieses letztere Problem gelöst, während die Philosophie an ersterem weiter laboriert. Die Positionen liegen heute wie eh und je weit auseinander.138 Wolfgang Stegmüller unterschied schon 1969 zwölf ›Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‹,139 die einander nicht ergänzen wie die verschiedenen Zweige der Geschichtswissenschaft oder der Biologie, sondern einander widersprechen, ja sich gegenseitig der Irrationalität bezichtigen und als Scharlatanerie brandmarken, nicht immer zu Unrecht. Durch den Hinweis auf Anhängerschaft, auf den Anklang einer Lehre ist ein solcher Vorwurf nicht zu entkräften. Der Scharlatan entlarvt sein Publikum. 7g. Ob nun jemand von allen Geschichtsphilosophien gleichermaßen abgestoßen wird,140 ob er sich zu einer bestimmten hingezogen fühlt oder ob er eine eigene

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entwickelt, das beruht auf seiner Persönlichkeit. Fichte hat gesagt, was für eine Philosophie einer wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch er sei.141 Es gibt typenspezifische Angebote.142 Schon Hippokrates unterschied vier humoralpathologisch begründete Temperamente.143 Die großen Philosophen erklären uns nicht das Wesen der Welt, wie es ist, sondern zeigen uns, wie sie es verstehen, und wie auch wir uns in unserem eigenen Kopf zurechtfinden können. Ein gutes philosophisches Buch ist ein Baedeker für unser jeweiliges Gehirn. Und so wie nicht jeder Reise­ führer auf jede Landschaft paßt, so paßt nicht jede Philosophie in jeden Kopf. Es macht einen Unterschied, ob man ein betrogener Bauer ist wie Hesiod, ein Staatsmann in der Verbannung wie Thukydides, ein Günstling des Kaisers wie Vergil, ein frommer Gottsucher wie Augustinus.... Und es kommt darauf an, ob wir in der Geschichte Trost suchen oder Bestätigung, Ermunterung oder Erkenntnis ... . Indem wir unsererseits die Weltbilder der Geschichtsphilosophen durchmustern und innere Nähe oder Ferne zu den einzelnen Konzepten verspüren, erkennen wir, was für ein Mensch wir sind. Wer gar den Autor seines Herzens findet, der hat das Glück des verständigen Fischers aus dem Thomas-Evangelium. Der Fischer warf sein Netz ins Meer, und als er es herauszog, war es voller kleiner Fische. Unter ihnen fand der Fischer einen großen guten Fisch. Da warf er die kleinen Fische wieder ins Meer und wählte den großen Fisch ohne Bedenken.144 In diesem Verstande ist ein Studium der Geschichtsphilosophie ein Bemühen um Selbsterkenntnis. 7h. Geschichtsphilosophie entwirft Strukturbilder, aber beantwortet sie damit zugleich die oft gestellte Frage nach dem Sinn der Geschichte?145 Theodor Lessing verwarf jede Deutung von Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen“, als Koffertheorie. Wir wähnen herauszuholen, was sie uns bietet, und haben das doch selber zuvor hineingelegt. Dies geschieht, wenn wir unsererseits, so wie Schiller und Popper, der Geschichte einen Sinn geben zu können wähnen, den sie dann uns verdankt.146 Dasselbe gilt für Poppers Gegner Habermas, dessen experimentelle „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“ nicht nach einem verborgenen Sinn der Geschichte fahndet, sondern diesen Sinn „rettet, indem sie ihn herstellt“ – durch revolutionäre Praxis zur Behebung der Klassengegensätze.147 Die Sinngebung von Popper und Habermas setzt den praktischen Erfolg der Lehre voraus, die sie jeweils aus der Geschichte ziehen. 7i. Wo nach dem „Sinn“ des Geschehens gefragt wird, hat man ein Ziel im Auge, denn das ist der Sinn von „Sinn“. Althochdeutsch sinnan, verwandt mit „senden“, heißt „sich begeben nach“ oder „streben nach“. Gemäß der Grundbedeutung des Wortes, enthalten im Kompositum „Uhrzeigersinn“, geht es um die Richtung des Geschehens. Sie geht entweder von oben nach unten oder von unten nach oben. Ersteres ist der Fall, wenn Ideen aus dem Himmel sich auf Erden verwirklichen, zum Ausdruck bringen. Doch fügt ein solcher Sinngedanke dem Geschehen nichts hinzu. Letzteres ist der Fall bei einem Aufstieg, einer Vermehrung erstrebenswerter Güter, einer Verbesserung der allgemeinen Lage, wie es der Fortschrittsglaube



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annimmt. Wir ernten die Früchte, die für uns in der Vorwelt gesät wurden und säen die Frucht, die der Nachwelt zugute kommen soll. Mehr als ein Nullsummenspiel wäre das aber nur, wenn das, was wir hinterlassen, sich als wertvoller erwiese als das, was wir übernehmen, verbrauchen und zerstören. Das aber fragt sich. 7j. Verstehen wir „Sinn“ als Absicht oder Zweck, wie er jedem Machwerk zugrunde liegt, so bündeln wir mit der Formel vom „Sinn der Geschichte“ die Menschheit zu einem Phantomsubjekt. Aber die Geschichte wird nicht gemacht, sondern ist das, was dabei herauskommt, wenn Menschen sie zu machen versuchen. Selbst ein Macher wie Bismarck hat am 16. April 1869 im Norddeutschen Reichstag bestritten, daß Geschichte machbar sei. Macht Gott die Geschichte, so ist der Mensch sein Spielzeug, wie schon Heraklit den Zeitgott Aion als brettspielenden Knaben bezeichnete.148 Noch Einstein und Niels Bohr 1926 stritten darüber, ob denn Gott würfele. Spiel dient dem Zeitvertreib. Schuf Gott den Menschen zur Verkürzung seiner Langeweile und zur Erhöhung seiner Herrlichkeit?149 7k. Einen Macher benötigen wir auch, wenn wir der Geschichte einen Sinn im Sinne von objektiver Bedeutung zuschreiben. Für Luther zeigt uns Gott in der Geschichte, wie er die Welt regiert.150 Die Geschichte ist ein Lehrbuch, ein Text, der Mensch ist Leser und Buchstabe zugleich. Herder betrachtete die Geschichte neben der Bibel als Offenbarung und sich selbst darin als „kaum eine Letter“. Emil Cioran schrieb noch bescheidener: „In den Satzbau der Zeit gliedern sich die Menschen wie Kommata ein.“151 Verzichten wir auf den himmlischen Schriftsteller, so verliert die Geschichte ihren Charakter als Botschaft, als lesbarer Text, dem der vom Weltenlenker hineingelegte Sinn durch Hermeneutik zu entnehmen ist.152 Es gibt ein subjektives Sinnbedürfnis, aus dem heraus Vogelflug, Donnerschlag und Mondfinsternis als Mitteilungen der Götter verstanden wurden. So haben die Griechen am Nachthimmel Sternbilder gesehen und in ihnen ihre Mythen wiedererkannt. Ähnlich verhält es sich mit den Figurationen der Geschichtsphilosophen. 7l. Ebensowenig wie die Natur hat die Geschichte einen Sinn. Wohl aber hat die Historie einen Sinn. Die Beschäftigung mit der Geschichte, zumal das Philosophieren über sie besitzt einen Erkenntniswert, denn das bereichert unser Wissen um Glanz und Elend des Menschenlebens. Selbst der Nachweis von der Sinnlosigkeit der Geschichte hat einen Sinn, wie überhaupt jedes Bewußtwerden und Bewußt­ erhalten von Vergangenem. So beklagte Helena das schlimme Schicksal Trojas, von Zeus verhängt, „damit wir künftigen Geschlechtern zum Gesang werden.“ Ihn hat später Odysseus vernommen und war erschüttert.153 In dieser Situation bietet die Geschichtsphilosophie Trost. Die Dekadenztheorie lehrt, daß wir es besser haben als unsere Nachfahren. Der Fortschrittsglaube besagt, daß es uns besser geht als unseren Vorfahren, und er verspricht, daß die gegenwärtigen Mängel behoben werden. Und die Kreislaufidee vermittelt ihren Anhängern das Gefühl, daß es immer schon so war und so sein wird, so daß Klage und Hoffnung gleichermaßen unbegründet sind.

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7m. Unabhängig von der Sinnfrage ist das Problem der von den meisten Geschichtsphilosophen angenommenen Gesetzmäßigkeit der Geschichte, am nachdrücklichsten im Historischen Materialismus.154 Hier prallen die Meinungen aufeinander. Drastisch Nietzsche: „Soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert.“155 Was aber sind historische Gesetze? Wer nicht weiß, was er sucht, erkennt nicht, was er findet. Gleicht nicht der Streit zwischen Otto Hintze und Friedrich Meinecke,156 ob es historische Gesetze gebe, dem Streit zwischen Jabold und Neinbold darum, ob es fliegende Katzen gebe? Als Neinbold das betritt, verwies Jabold auf den philippinischen Kagnang (Galeopithecus volans), den Alfred Brehm als „Fliegende Katze“ benennt.157 Da erklärte Neinbold, damit sei doch „eigentlich“ keine Katze gemeint. Kontroversen über Es-gibt-Behauptungen beruhen gewöhnlich auf semantischer Unklarheit. Was also ist unter „Geschichtsgesetzen“ zu verstehen? Hier leitet uns gewöhnlich die Vorstellung von Naturgesetzen die Kant auch hinter allen menschlichen Handlungen annahm.158 Beide Male handelt es sich um Erfahrungsregeln über Ereignis- oder Zustandsfolgen, die aus Beobachtungen induktiv gewon- nen sind. Sie dienen deduktiv zur Erklärung vergangenen Geschehens und zur Voraussage künftigen Geschehens. Anwendbar sind Erfahrungsregeln nur unter der ceteris paribus – Klausel gleicher Umstände. Genau gleiche Rahmenbedingungen gibt es nie, doch gestattet der vereinbarte Parameter die zulässige Unschärfe und damit die Beweiskraft eines Experiments. Ob ein Gesetz bestätigt, eine Vor­ hersage eingetreten ist, das ist bisweilen eine Frage der Interpretation, der Hermeneutik.159 7n. Die außerordentlich komplexen und rasch wechselnden Randbedingungen, unter denen historische Prozesse abrollen, erlauben nur vergleichsweise allgemein formulierte Erfahrungsregeln. Sie besagen etwa, daß Neues sich gewöhnlich gegen Altes durchsetzt; daß jeder Zustand Veränderungen unterliegt; daß erfolgreiche Aktionen nachgeahmt werden oder daß Notlagen Reaktionen hervorrufen. Es läuft auf ein Definitionsproblem hinaus, ob der häufig zu beobachtende Zusammenhang zwischen Großstadtzivilisation und Nachwuchsmangel, zwischen wachsendem Wohlstand und schrumpfender Widerstandskraft, zwischen Revolution und Diktatur, zwischen Machtfülle und Machtmißbrauch oder zwischen dem Erlaß eines Gesetzes und dessen Befolgung als Kausalität aufgefaßt und ein „Gesetz“ genannt werden kann oder nicht. Dennoch ist ohne die Verwendung von „allgemeinen Erfahrungsregeln“,160 beziehungsweise von covering laws161 kein Verständnis von Ereignisfolgen möglich.162 Historische Erklärungen verweisen auf Parallelen und Konstellationen, die den erklärungsbedürftigen Ausgang erwarten ließen. Sie verstehen kürzere Ereignisfolgen als Teile langfristiger Prozesse, deren einzelne Schritte durch Erfahrungswissen nachvollziehbar sind und die Kohärenz einer Erzählung ausmachen, mit der wir ein Ereignis oder einen Zustand aus seiner Vorgeschichte herleiten.



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7o. Alle Geschichtsphilosophen bieten Vorhersagen, und nicht zuletzt darin liegt ihre Faszination. Die moderne Kritik neigt zu der Annahme, Geschichte lasse sich nicht voraussehen. So schrieb Schelling: „Der Mensch hat nur deswegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum Voraus berechnen läßt.“163 Von fachhistorischer Seite bestätigte dies Eduard Meyer,164 aus philosophischer Sicht tat es Karl Popper.165 Das aber hindert uns nicht, aus Fehlern und Erfolgen, d. h. aus der Geschichte zu lernen. Sie vermittelt anschauliche Beispiele für allgemeine Aussagen und liefert Erfahrung, die Erfolge wiederholbar und Fehler vermeidbar macht. Wenn es zuträfe, daß angesichts der sich rasch wandelnden Umstände die Erkenntnisse von gestern ihren Nutzen für morgen verlieren,166 dann wäre statt rationalem, d. h. empirisch begründetem Handeln nur noch ein blindes Herumtappen möglich. Rationale Pragmatik beruht auf empirischer Prognostik. 7p. Es ist Schadenfreude im Spiel, wenn Fehlprognosen aufgelistet werden. Bedarf menschliche Torheit des Nachweises? Lehrreicher sind Beispiele für eingetretene Vorhersagen. An ihnen fehlt es nicht.167 Die Dekadenztheorie der Vorsokratiker hat den Niedergang der Großmächte erklärt und prognostiziert. Den Fortschrittsglauben eines Xenophanes, eines Seneca, eines Condorcet hat die spätere Zunahme des Wissens tausendfach bestätigt. Die Kreislauftheorie kann auf die mehr oder weniger ähnliche Wiederkehr von Verhaltensweisen in Grenzsituationen verweisen, wenn Ernst Topitsch mit dem Thukydides im Tornister während des Zweiten Weltkriegs vor Überraschungen gefeit war. Der Verfassungskreislauf enthält prognostisch brauchbare Aussagen – so den von Ibn Khaldun erkannten Verschleiß an politischer Kompetenz bei langer Herrschaft. Tocqueville und Max Weber erwarteten die Zunahme an Bürokratie, Burckhardt sah die europäischen Kriege voraus. Spengler erwies die Demokratie als populistisch verbrämte Geldherrschaft, der die nähere Zukunft gehöre. Daß diese Voraussagen bloß zufällig eingetroffen seien, ergibt sich aus den entgegenstehenden Fehlprognosen keineswegs. Denn diese beruhen zumeist auf schwachen Vorkenntnissen oder einem Wunschdenken, das ebenso wie Angstvisionen das Urteil trübt. 7q. Die Zeit- und Zielvorstellungen der verschiedenen Geschichtsphilosophen hatten einen handfesten Praxisbezug. Er äußerte sich – mit mäßigem Erfolg – in der Forderung nach einer Erziehungsreform, einer neuen Pädagogik. Nachdem schon Platon auf diesem Wege seinen Idealstaat realisieren wollte,168 hegten spätere Denker ähnliche Hoffnungen: so Rousseau und Kant, Fichte und Comte. Einflußreich hingegen waren die Geschichtsphilosophien in der Politik. Schrieb Carl Schmitt 1950, alle wesentlichen und aktuellen Fragen seien inzwischen geschichtsphilosophische Fragen geworden,169 so war das nicht ganz neu. Der Glaube an das Recht des Stärkeren wie in der Natur so unter Menschen rechtfertigte den Imperialismus schon der Athener. Die Idee der wiedergekehrten Goldenen Zeit verherrlichte das Kaiserreich des Augustus. Das Schema der vier Weltreiche im Buch Daniel verhieß dem Imperium Romanum Christianum eine gottgewollte Dauer bis

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XVI. Zur Philosophie der Geschichte

zum Jüngsten Tag. Die Fortschrittsphilosophie der Aufklärung propagierte und legitimierte die Ziele der Französischen Revolution. Der Historismus untermauerte den Nationalstaat. Der Biologismus übertrug den Evolutionsgedanken auf die Außenpolitik; die These vom naturgemäßen „Kampf ums Dasein“ forderte und förderte den Kolonialismus und ermöglichte den Rassismus mit der „kreativen Selektion“ des Völkermords. Der historische Materialismus war Glaubensartikel einer Weltmacht, der gleichfalls Millionen von Menschen zum Opfer fielen. 7r. Wenn heute der Westen im Interesse von Demokratie und Kapital in der Dritten Welt die Waffen sprechen läßt, verleiht ihm die Modernisierungstheorie ein gutes Gewissen. Unsere Vorstellung von allgemeingültigen Menschenrechten setzt ein europäisches Menschenbild und einen soliden Fortschrittsglauben voraus. Die Emanzipation der Individuen durch Liberalisierung aber löst traditionelle Gruppenbindungen und soziale Ordnungsgarantien auf, die durchaus höher geschätzt werden können als unsere bürokratisch reglementierte persönliche Freiheit. Demgegenüber können wir nur darauf verweisen, daß die Menschheitsidee der Aufklärung in der Geschichte des Westens von wirtschaftlichen, technischen und politischen Erfolgen gekrönt war, die anderen Ortes ausgeblieben sind, so daß, wer die Resultate schätzt, auch deren Voraussetzungen anerkennen sollte. Hier benötigen wir zur Begründung unserer Ideale Geschichte als Argument. 7s. Die Vielzahl an Möglichkeiten, die Vergangenheit zu deuten, spiegelt die Bandbreite an Möglichkeiten, die Zukunft zu denken. Eine einzig richtige Vorstellung über das Wesen des Gewesenen setzt eine einzig gültige Auffassung über die Zukunft der Menschen voraus. Wollen wir das? Sollten wir wollen, daß alle dasselbe wollen, dasselbe denken? Ein solcher Wunsch wäre vermessen, denn er erforderte ein Wissen über das Allen Zuträgliche, das wir nicht haben. „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk“, so übersetzt Luther den Spruch des Paulus.170 Wörtlich heißt es: „Aus Teilen erkennen wir, aus Teilen prophezeien wir.“ Das Ganze, meint der Apostel, sieht nur Gott. Damit widerspricht er der eingangs referierten Ansicht Strabons. 7t. Dieselbe Lehre wie Paulus gab der Buddha.171 Er wurde eines Tages von seinen Schülern gefragt: Meister, wie ist die Welt? Darauf erzählte der Erleuchtete die Elefantenparabel: Der König von Shravasti ließ einmal zehn Blindgeborene herbeiholen. Er stellte sie um einen Elefanten herum, gab jedem einen Körperteil des Tieres in die Hand und fragte sie, wie der Elefant beschaffen sei. Der den Zahn fühlte, sagte: ein Elefant ist glatt und spitz. Der den Schwanz fühlte, sagte: ein ­Elefant ist rauh und buschelig. Der das Bein fühlte, sagte: ein Elefant ist rund und länglich. Der das Ohr fühlte, sagte: ein Elefant ist flach und schlabbrig – und so fort. Dann begann die Diskussion. Dabei gerieten die Blinden untereinander in Streit und schlugen sich die Köpfe wund, weil jeder meinte, er hätte Recht. Der König aber brach in ein großes Gelächter aus. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lacht er noch heute.

Ein Jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Salomo

Ein Wort hernach Benedetto Croce hat 1915 erklärt, „daß die Geschichtsphilosophie tot ist“,1 und in gebührendem Abstand verkündete Odo Marquard den Abschied von der Geschichtsphilosophie 1973.2 Haben sich die großen Entwürfe mit ihren Verheißungen und Untergangsvisionen, mit ihren ideologischen und politischen Auswüchsen nicht definitiv diskreditiert? Und überhaupt verblüffen die vielfältigen Unstimmigkeiten, ja Absurditäten in den geschichtsphilosophischen Texten bedeutender Denker. Indes: Großvieh macht auch Mist, sogar besonders fruchtbaren. Mitunter brachte sich Juvenal in Erinnerung: difficile est saturam non scribere.3 Also: Was tun? Anstelle der monolithischen Prozeß- oder Strukturmodelle setzt Marquard auf eine philosophische Anthropologie, die im pluralistischen Sinne mit Bausteinen aus den Großtheorien arbeitet. Soweit über der Suche nach dem Wesen des Menschen dessen Geschichte nicht aus dem Blick gerät und das Ziel eines Gesamtbildes erhalten bleibt, haben wir es mit einer Schwundstufe von Geschichtsphilosophie zu tun. Man übernimmt einzelne tragfähige Gedanken aus jenen Systemen, die als ganze nicht mehr überzeugen. Gilt das nicht für alle generalisierenden philosophischen Texte? Omnibus veris falsa quaedam adiuncta, heißt es bei Cicero: Jeder Wahrheit ist etwas Falsches beigemischt. Alle Großentwürfe haben irgendwo Unrecht, aber auch irgendwie Recht, wie es bei Augustinus heißt: haec omnia inde in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt.4 Die Fortschrittstheorien haben einen soliden Kern in der Entwicklung der Zivilisation. Technik, Wissenschaft und Produktion zeigen aufs Ganze gesehen einen durchgehenden Zug und sind weiterhin im Vormarsch. Umstritten ist die anhaltende Wünschbarkeit fernerer Fortschritte angesichts unübersehbarer Begleit­ erscheinungen und unabsehbarer Folgelasten. Darauf verweisen Zeitkritik und Dekadenztheorie. Sie erinnern an den wiederholten Kulturverfall in der Vergangenheit und warnen vor einer fortgesetzten Ausschlachtung der Natur zugunsten eines ad infinitum gesteigerten Wohllebens. Auch hier gibt es ein fundamentum in re. Die Steigerung des Konsums dürfte irgendwann ein Absinken des Lebensstandards bewirken. Wenn der „gehemmte Fortschritt“ des einen Rossebändigers im Berliner Kleistpark nicht zum Zuge kommt, könnte der „beförderte Rückschritt“ des anderen die Richtung weisen.5 So wie der Fortschrittsgedanke und die Deka-

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Ein Wort hernach

denztheorie enthalten sodann auch die Kreislauftheorien, zu denen die paradigmatischen und morphologischen Konzepte gerechnet werden dürfen, eine Dosis Realismus. Sie bezeichnen triftige Subsysteme ähnlich wiederkehrender Ereignis- und Verlaufstypen in der Art politischer Revolutionen oder ökonomischer Krisen. Während die Heilsgeschichte nur noch als historischer Hintergrund moderner Hoffnungsträume wirksam ist, behaupten die Ideale der Aufklärung ihre Überzeugungskraft, so der Appell an die Humanität bei Herder, an die Vernunft bei Kant, an die Freiheit bei Schiller. Hegels Absage an die Unzufriedenheit könnte man gegen die bundesdeutsche Nörgelei ausspielen; Marxens Angriff auf die Klassengesellschaft als Mahnung zur Sozialverträglichkeit abmildern. Goethe und der Historismus bleiben im Zeitalter der Globalisierung mit dem Wertbegriff der Individualität aktuell, Darwin und der Biologismus mit dem Hinweis auf die Naturbedingtheit der kulturellen Erscheinungen. Das Epochengefühl der Renaissance kann als Folie für die moderne Krisenstimmung dienen, die der Idee einer posthistorischen Endzeit zugrunde liegt. Der verfrühte Abschied von der Geschichte korreliert mit der vorzeitigen Absage an die Geschichtsphilosophie. Jede Verabschiedung schmerzt, denn sie erfordert einen Machtakt. Wer ist im Fall der Geschichte dazu befugt und befähigt? Die bisherigen Prognosen vom bevorstehenden Feierabend waren voreilig. Künftigen Prognosen darf man daher eine ähnliche Enttäuschung prognostizieren. Enttäuschungen belehren. Das Wissen um das Nichtwissen verspricht einen Erkenntnisgewinn. Ist nicht jeder Untergang ein Übergang? Wieder zeigt Janus sein Doppelgesicht. Auch wenn die Geschichte eine Tragödie war, der wie der klassischen Trilogie nun ein Satyrspiel folgt, kann der Blick auf die Geschichte doch jene Wirkung hervorrufen, die Aristoteles vom Drama erwartete: eine Reinigung von eitlen Hoffnungen und törichten Ängsten, eine katharsis pathēmatōn.6

Anmerkungen Kapitel I   1 Plinius NH. XXXIV 33; Augustinus CD. VII 9; Macrobius I 9,10.   2 Wie dies in der chinesischen Fingersprache möglich ist, hat mir Heikos Mutter gezeigt.   3 Aristoteles, Metaphysik 1005 b 5.   4 Nietzsche II 820; Kant, KrV.  B 755ff   5 Heraklit VS. 22 B 49a.   6 Kant VI 644 ff.   7 Kant, KrV. B 230f   8 Isidor, Etymologiae I 29,2.   9 Quintilian, Institutio I 10,9 ff; Caesar BG. VI 14; Ammian XV 9,8; Cicero, Tusculanen I 3. 10 AT. 1. Samuel 16,23; Tacitus, Annalen II 88; Sidonius ep. I 2, Jordanes, Getica 28; 43; 214; 256. 11 Odyssee VIII 43ff; 521 ff; Ilias VI 358; VII 436 ff. 12 Herodot I 1; Plinius ep. VI 16,1 ff. 13 Hesiod, Theogonie 54 ff; Anthologia Graeca IX 504 f; Horaz, Oden I 12,2. 14 Ilias IX 63 f; Odyssee VIII 579 f; XII 189 ff. 15 Ilias II 494ff. 16 Strabon I 2,9. 17 Odyssee XI 363ff; XII 189 ff. 18 Odyssee VIII 91. 19 Josephus, Contra .Apionem I 6. 20 Cicero, De oratore II 52. 21 SHA. Tacitus I 1. 22 Dionysios von Halikarnossos, De Thucydide 5. 23 Athenaios 462 F; Polybios IV 40,3. 24 Jacoby, FgrHist. 1, fr.1. 25 Strabon I 2,17; IX 3,12; XI 5,3. 26 Strabon I 2,15. 27 Censorinus 21,1,

28 Plautus, Trinummus 381; ders., Menaechmi 248. 29 Zoepffel 1975. 30 Herodot I pr.; VII 152; Cicero, De legibus I 5. 31 Isidor, Etymologiae I  41. 32 Zoepffel 1975. 33 H. Strasburger, Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides (1954); ders., Der Geschichtsbegriff des Thukydides (1979); ders., Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die ­griechische Geschichtsschreibung (1966). In: ders., Studien zur Alten Geschichte II 1982, 527 ff; 777 ff; 963 ff. 34 Thukydides I 22; III 82. 35 Aristoteles, Poetik 1459 a 20. 36 Herodot I pr.; II 28,5. 37 Thukydides I 97. 38 Polybios I 2,8; 3,1; 3,3. 39 Cicero, Pro Marcello 9. 40 Auctor ad Herennium I 8; 13; so auch SHA. Tacitus 15,4; SHA. ­Probus I 4; Augustinus, De doctrina christiana II 109 . 41 Hintze II 341. 42 Cicero, An Atticus XII 18,1: tempora erudita. 43 Sueton, Augustus 100; Orosius VI 22,10; VII 33,16. 44 Plinius NH. XXVIII 12 45 Koselleck 1975. 46 J. Osterhammel in: LGW. 2002, 320 ff. 47 Demandt, Weltgeschichte 2004. 48 Hegel Gph. 114. 49 Kant I 238. 50 Arrian IV 10,2

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Anmerkungen

51 Benn, Zum Thema Geschichte (1943). In: ders., I 383. Das Zitat stammt aus K. Ploetz, Auszug aus der Geschichte, 1891, 337. 52 Carr 1961. 53 Cicero, De legibus I 2,5; Quintilian, Institutio X 1,31. 54 Hegel Gph. 40. 55 Bei Augustin CD. VI 3. 56 Lübbe spricht gern von „Systemindividualisierung“ durch Geschichte: ders., 1977, 90 ff; 145 ff. 57 Martianus Capella 349: ne quid ­falsum, ne quid plus, ne quid minus. 58 Auctor ad Herennium III 36. 59 Ammian XXVI 1,1. 60 Friedrich der Große I 5. 61 Ibn Khaldun 30. 62 P. Schöttler LGW. 2002, 142 ff. 63 Auctor ad Herennium IV 13; Livius I pr. 64 K. Halm (ed.), Rhetores Latini minores 1863, 588 f. 65 Daß Constantin nachts zu schlafen pflegte, war nicht berichtenswert,

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wohl aber, daß Julian nachts den Studien oblag: Ammian XXV 4,5 f. Max Weber WL. 266 ff; Demandt, Ungeschichte, 53 ff. Kamlah 1969, 89 ff; Demandt, Fall, 216 ff. P. E. Hübinger, Spätantike und frühes Mittelalter, 1952/59; Demandt, Fall, 216 ff; ders., Spätantike, 589 ff. Jaspers UZ. 19; zur Vorgeschichte der Idee: D. Metzler, Achsenzeit als Ereignis und Geschichte. In: M. Fitzenreiter (Hg.), Das Ereignis, 2009, 169 ff. Burckhardt WB. 27 ff. Nietzsche I 209 ff ; Demandt, Über den Umgang mit Geschichte (1993). In: ders., HM. II 144 ff. H.-I. Marrou, De la connaissance historique 1954/66; Th. Schieder, Geschichte als Wissenschaft, 1968; K. G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 1971. Droysen 1857/1993. Diodor I 2,2.

Kapitel II 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Burckhardt GK. II 349 ff; H. Diels, Der antike Pessimismus, 1921. Ilias XVII 446 f; XXIV 525 f. Odyssee XVIII 130 f. Theognis I 425 ff; vgl. 181 f; 291; 441 ff; 647 f; 677 f; Empedokles VS. 31 A 62. Herodot I 31; III 40; 125. Empedokles VS. 31 B 124; Platon, Phaidon 118. Plutarch, Antonius 70. Cicero, Tuskulanen I 83; Valerius Maximus VIII 9 externa 3. Zur Dekadenzidee allgemein: Herman 1997; Demandt HM. II 66 ff (1985); ders. LGW. 54 ff.

10 Horaz, Ars 173; Ilias I 260 ff; V 304; Odyssee II 276 f; IX 223 ff. 11 Strabon I 2,8; Synesios ep. 105. 12 AT. 1. Mose 2,7 f; 2,17 f; 3,1 ff. 13 Demandt, Baumbuch 20 ff. 14 AT. 1. Mose 4,1 f. 15 Kant I 269 ff; Schiller IX 243 ff. 16 AT. 1. Mose 3,22; Julian 93 D. 17 AT. 1.Mose 1,28; 3,21. 18 AT. 1. Mose 2,19; 4,8 ff. 19 AT. 1. Mose 6 ff; 10 f. 20 Hesiod WT. 47–105; ders., Theogonie 561–613. 21 AT. Weisheit Salomons 2, 24. 22 AT. Jeremia 7, 31; Jesaja 66,24; NT. Ev. Luk. 16,24.



23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Kapitel II

Hesiod, Theogonie 535 ff. NT. 1. Joh. 2,18; 4,3. Anthologia Graeca IX 166. Hesiod WT. 109 ff. Nach Th. v. Scheffer. Demandt, Metaphern, 1978, 286. Ed. Meyer 1910, 24 ff. Hesiod WT. 289. VS. 31 B 71–78; Aratos, Phainomena 96 ff; Strohmaier, Al Biruni 175 f. Tibull I 3; Ovid, Metamorphosen I 89 ff; Vergil, Aeneis III 57; Manilius II 589 ff; Pausanias VIII 2,4 ff. Ilias I 260 ff; V 304 f. Rypka 1959, 38 f; Widengren 1961, 181 ff. Strabon XV 1,64; Strohmaier 1991, 174 ff R. Wilhelm, Dschuang Dsi, 1923, 120. AT. 5. Mose 32, 15 ff; Sprüche Salomonis 16,18; 18,12. Diodor XXXIII 7,8. Pythagoras bei Stobaios, Florilegium 43,80; Theognis I 153 f; 605; 693 f; Solon, ­Elegien fr. 5, 9; Heraklit VS. 22 B 125a. Herodot I 155; VII 101 ff; IX 122. Athenaios 519 f; 526; Aelian NA. XVI 23 Platon, Gesetze III 691; ders., Gorgias 515 D ff. Platon, Kritias 111 B ff. Xenophon, Memorabilia III 5. Isokrates or. VII. Isokrates or. VIII 79 ff. Demandt , Argument, 20. Isokrates or. VIII 77–119. Isokrates or. VIII 3; 9; 11; 39; 65 Platon, Gorgias 503 ff. Isokrates or. VIII 12; 51; 123. Isokrates or. VIII 106–113. Cato bei Seneca ep. 71,15; Polybios VI 57.

369

54 Orosius IV 23, 10; Gellius VII 3,14 ; Valerius Maximus IV 1, 10. 55 Sallust, Catilina 9 ff; ders., Jugurtha 41 f; ders., Historien I 11 f. 56 Livius, praefatio; Horaz, Oden III 6; ders., Epoden 7; 16; Diodor XXXIII 8; XXVII 2,1. 57 Seneca maior, Controversiae I pr. 7; Seneca, De providentia 4,13 ff. 58 Plinius NH. XIV 4–6; XXIV 5; XXIX 13 ff. 59 Tacitus, Annalen III 26 f; ders., ­Dialogus 18; ders., Agricola 21. 60 Caesar BG. I 1,3; vgl. Diodor IV 20,1. 61 Juvenal VI 292 ff; X 81; Augustinus CD. II 20. 62 Strabon VII 3,7; Vitruv 135; Caesar BG. I 1,3; Horaz, Oden III 24; Tacitus, Ger­mania 14; 36; Salvian, GD. VI f. 63 Demandt, Metaphern, 1978, 278. 64 Bracher 1948/87, 278 ff; Demandt, Ammian, 1965, 118 ff. 65 Cicero, De republica I 58; Plinius ep. VIII 24,3. 66 Löwith II 384. 67 Polybios XXXVIII 22; VI 51, 4; vgl. 57,1 ff; Ilias VI 448 f. 68 Sallust, Jugurtha 2,3; ders., ep. ad Caesarem I 5. 69 Lucrez II 115 ff; V 65 f. 70 Cicero, De republica II 3; 21; III 34; ders., Pro Sestio 109. 71 Horaz, Oden III 6 u. 24. 72 Lactanz DI. VII 15, 14 ff. 73 Seneca NQ. III 30, 5. 74 Plinius NH. II 117 f; VII 73 f; XIV 1 ff. 75 Aelian VH. VIII 11; Solin I 87–90 76 Pausanias VII 17, 1–4; VIII 2,5. 77 Cyprian, Ad Demetrianum 3 f, um 252. 78 Sallust, Jugurtha 2,3; Hesiod WT. 181.

370

Anmerkungen

79 Augustinus PL. 38, 504. 80 Sidonius ep. VIII 6, 3; Salvian GD. VII 6. 81 (s. V 3d) 82 Seneca, De beneficiis I 10,1; Florus praef. 4. 83 Ammian XIV 6,3 ff; Cicero, De oratore I 1; Symmachus, Relatio III 9 f; Ambrosius ep. 18, 7.

84 Claudian XV 208 ff; Prudentius, Contra Symmachum II 655 ff ; Rutilius I 115 f. 85 Rutilius I 139 f. 86 Demandt, Metaphern, 1978, 79 ff. 87 Marianne Weber, Max Weber, Ein Lebensbild, 1926, 643; Hitler, Reden des Führers am Parteitag Großdeutschland 1938, 1939, 79.

Kapitel III   1 Zum Fortschrittsgedanken in der Antike: Bracher 1948/1987; Edelstein 1967; Meier 1975.   2 Anders Koselleck: „Der Fortschritt ist im Gegensatz zum Niedergang eine moderne Kategorie“, Koselleck/ Widmer, 1981, 215.   3 Homer, Odyssee IX 175ff, vgl. VIII 575.   4 Ilias XXIII 175 ff.   5 AT. 1. Mose 22.   6 Bei Homer noch unbekannt: Ilias IX 144 f. Die „Opferung Iphigeniens“ geht auf den nachhomerischen epischen Kyklos zurück. Die Sage: Hygin, Fabulae 98; Apollodor, Epitome III 22.   7 Plutarch, Moralia 175A; 552A.   8 Herodot I 57; VIII 44; Thukydides I 1,3; 1,6; Aristoteles, Poetik 1461 a; Macrobius, Commentaria II 10, 8.   9 Homerische Hymnen 19. 10 Ilias XVIII 373 ff. 11 Pausanias I 24,5. 12 Diodor IV 81,2. 13 Manilius I 30 ff. 14 Vergil, Georgica I 147 ff; Plinius NH. VII 191: Isididor, Etymologiae XVII 7, 26 ff. 15 Strabon I 2, 15. 16 Hygin, Fabulae 39 f; 274, 15; Apollodor III 214.

17 Platon, Phaidros 261d; Tacitus, Annalen XI 14; Pausanias X 31,1; Hygin, Fabulae 277. 18 Pausanias X 4,4. 19 Aischylos, Prometheus 436ff. 20 H. Schneider 1989. 21 AT. 1. Mose 4,17 ff. 22 W. Jansen, Firdusis Königsbuch, 1922, 9 f. 23 Euripides, Die Flehenden 195ff. 24 Thukydides I 70 f. 25 Isokrates or. IV 22 f. 26 Dittenberger, Sylloge 3704. 27 VS. 21 B 18. 28 VS. 21 B 4; B 19; Herodot I 74. Demandt, Finsternisse, 1970, 25 ff. 29 VS. 88 B 25. Der Autor könnte auch Euripides sein. 30 Sophokles, Antigone 332–373. 31 Plinius NH. VII 191–215; Hygin, Fabulae 273 f; 277; Clemens Alexandrinus, Stromata I 74 ff. 32 Platon, Timaios 21 B ff; ders., Phaidros 274 C ff. 33 Aristoteles, Politik 1329 b 20ff; Diodor I 28. 34 Herodot I 94; V 58 f. als älteste Inschrift gilt die auf einer Kanne im Dipylonstil aus Attika, frühes 8. Jahrhundert. 35 Athenaios 28 BC. 36 Anthologia Graeca XVI 297f.



Kapitel III

37 Pindar, Olympische Oden 13, 16ff mit Scholiast. 38 Diogenes Laertios I 35. 39 Aischylos, Prometheus 981. 40 Theognis I 976. 41 Pindar, Olympischen Oden X 53 ff. 42 Polybios X 47,12; Platon, Gesetze 678 B, proelaunō; Herodot III 96; Cicero, An Atticus XV 16. 43 Gellius XII 11,6. 44 So noch Koselleck bei Koselleck/ Widmer 1981, 221. Er verweist auf Francis Bacon, Novum Organon I 84, dessen Lateinkenntnis ihn jedoch vor dem Irrtum Kosellecks bewahrte. 45 Platon, Gesetze 678 B. 46 Stobaios I 8,38. 47 Herodot II 49 ff; Platon, Timaios 21 B ff. 48 Josephus, Antiquitates I 8,2. 49 Platon?, Epinomis 987 E; ders., Menexenos 237 C ff ; Isokrates, or. IV 21 ff. 50 Polybios VI 25,11. 51 Cicero. De republica II 30; ders., Tuskulanen II 1,5. 52 Athenaios 273 EF. 53 Polybios X 43 ff. 54 Horaz, Ars 53; 268f; 286. 55 Cicero, De oratore I 13; ders., Tuskulanen. I 5; ders., De finibus II 67; ders., De legibus I 5–9; Quintilian, Institutio X 1, 85ff. 56 Cicero, Pro Flacco 62; Cassiodor, Variae VII 5,2. 57 VS. 68 B 118. 58 Diodor I 8; VS. 68, B 5; Karl Reinhardt, in: Hermes 47, 1912, 509ff. 59 Plutarch, Moralia 974 A. 60 Aristoteles, Poetik 1449 A 10. 61 Aristoteles, Poetik 1252 B 15 ff; 1268 B 40. 62 Aristoteles, Politik 1264 a 3; 1329 b 25; Cicero, Tuskulanen. III 69; Burkert 1997, 32 f.

371

63 Varro, De re rustica II 1, 3–5, 64 Cicero, Tuskulanen. II 13; Plutarch, Numa 16. 65 Lucrez V 925 ff. 66 Lucrez I 66; III 1 ff; V 1 ff; VI 5. 67 Plinius NH. II 62; Strabon I 2,1; II 5,12; Cassius Dio LXXVI 13,5. 68 Seneca ep. 64; ders., NQ. VI 5,2 f; VII 25,3 ff; 30,5; ders., Medea 375 ff. 69 Otto Frisingensis, Chronik V pr; AT. Daniel 12,4. 70 Augustinus CD. XXII 24. 71 Aristoteles, Politk 1268 a 5. 72 Hippokrates , De vetere medicina II 19. 73 Platon, Protagoras 320 C ff 74 Platon, Gesetze 677 ff; 697. 75 Strabon XIII 1,25. 76 Platon, Staat 546 A: Demandt, ­Idealstaat, 1993, 86 ff. 77 Platon, Gesetze 769 D, 772 B. 78 Polybios I 2 f; 12,7. 79 Polybios III 59; X 2,5; X 47. 80 Epiktet, Diatriben III 13,9; Orosius V 2. 81 Cicero, De republica I 34 82 Bracher 1948/87; Demandt, Zeitenwende unter Augustus. Zum Ursprung einer Idee (2000). In: ders., HM. II 240 ff; ders., Idealstaat, 1993, 277 ff. 83 Tacitus, Agricola 3; Ampelius 29, 3; Pseudo-Longinus 44; Zosimos I 5,2 f. 84 Vergil, Ekloge 4; ders., Aeneis I 279; VI 847 ff; A. Luther, Historische Studien zu den Bucolica Vergils, 2002, 11 ff. 85 Strabon XVII 3,24; Dion Chrysostomos or. 41,9; Plutarch, Moralia 318 A; Aelius Aristides or. 26. 86 Dion Chrysostomos or. 32,3b. 87 Demandt, Symbolfunktionen, 1979, 53 ff.

372

Anmerkungen

  88 Properz IV 1; Ovid, Ars III 113 ff.   89 Marc Aurel IX 29; Digesten I 2,2; 13.   90 Platon, Kratylos 397 D; Herodot II 53.   91 Plutarch, Numa 16; Livius XXVII 37,13.   92 Herzog in Koselleck/Widmer 1980, 79 ff. Zu Euseb, Ambrosius und Orosius s. u. V 6!   93 Lübbe 1993, 23.   94 Orosius VII 39 f; Prokop, Bella III 5.   95 Sophokles, Antigone 332 ff.   96 Platon, Protagoras 337 D.   97 Diogenes Laertios VII 20ff.   98 Dion Chrysostomos VI 25.

  99 Horaz, Oden. I 3, 25ff. 100 Julian, or. VI und VII. 101 Seneca, NQ. V 18, 4–7 u. 14. 102 Cicero, De finibus V 65; ders., De officiis I 20; Vitruv II 1,6 f; Plinius NH. III 39. 103 NT. 1. Kor. 8,1. 104 NT. 1. Kor. 1,18 ff; Kol. 2,8 f. 105 Tertullian, De idololatria 10; ders., De praescriptionibus haereticorum 7; Lactanz DI. V 1,10; Constitutiones Apostolicae I 6. 106 Theophrast im Gnomologium Vaticanum 335. 107 Vergil, Aeneis XI 362. 108 Strabon X 1,12.

Kapitel IV   1 Augustinus CD. XII 21; Johannes Chrysostomos zu Mt. 24,15.   2 Platon Gesetze 893 B ff; ders., Timaios 34 A; 40 B; 43 B.   3 M. Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, 1953, 5.   4 Hornung 1966, 29.   5 Synesios, De providentia; T. Schmitt, Die Bekehrung des Synesios von Kyrene, 2001, 315 ff.   6 Ammianus Marcellinus XXII 15, 30; J. Assmann, Steinzeit u. Sternzeit, 2011, 222 ff.   7 Oracula Sibyllina I 65; AT. 1. Mose 9,15.   8 Demandt, Metaphern, 1978, 237.   9 Diogenes Laertios VIII 14; Seneca ep. 108,20; Aristoteles, Physik 223 b 24 ff; H. Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, 1999. 10 Marc Aurel VII 18; VIII 6; IX 19; 28 f; NT. Jak. 3,6. 11 Demandt, Metaphern, 1978, 248ff; ders., Denkbilder es europäischen

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Epochenbewußtseins (1979) in: ders., HM. II, 20 ff. Demandt, Restitutio, 2010. VS. 31, A 52; B 17 ff; 26; 35. Herodot I 5; 207. Seneca NQ. III pr. 5ff; Marc Aurel II 12; XII 21; Demandt, Metaphern, 1978, 194 f. AT. 2. Mose 4, 21; 7, 3. Herodot III 40ff; 120ff. S. o. II 4! Augustinus, Confessiones XIII 48 ff; Agapetos PG. 86, 1 S. 1168 c. 11. Ps. Phokylides, Gnomai 27, vgl. Theognis ed. D. V. Hansen, 2005, 25. Cicero, In Pisonem 22 ; Tacitus, Dialogus 23 ; Ammian XXXI 1,1. Carmina Burana 17,1 nach der Übersetzung von Carl Fischer, 1974. Carmina Burana 16,3; Ovid, Metamorphosen XIII 404 ff; 422 f; 483 ff; Shakespeare, Hamlet II 2. Seneca ep. 24,26; Marc Aurel VII 49; XI 1.



Kapitel IV

25 Tacitus, Annalen III 55,4 f; Aurelius Victor 35,13. 26 Thukydides I 76, 2 f; III 45; 82; 84; V 105. 27 Thukydides V 84 ff. 28 Platon, Staat I; ders., Gorgias 483 ff 29 Hesiod WT. 202 ff. 30 Thukydides V 105; Platon, Gesetze 715 A; Horaz, Sermones I 3,111. 31 Antisthenes bei Aristoteles Pol. 84 A 15. 32 Thukydides I 22,4; Horaz, Oden III 30,1; Ovid, Metamorphosen XV 871 ff ; Plinius ep. VI 16,1. 33 Kornhardt 1936, 34 Seneca ep. 6,5. 35 Cicero, De oratore II 36. 36 Polybios I pr.; Livius I pr. 37 Sueton, Augustus 89; Cassius Dio 56,2 ff. 38 Gellius XVII 21,1; Jordanes, Getica 108. 39 Polybios VI 53; Sallust, Jugurtha 4,5 f. 40 Seneca ep. 91; Ammian XXXI 5,8; Claudian XXVI 289. 41 Thukydides I 23; Josephus, Antiquitates. II 16,5; Apuleius, Metamorphosen VI 29, 2; Euseb HE. IX 9,4; Ammian XXXI 4,8. 42 Cicero, Academica II 55; Plutarch, Sertorius 1,1. 43 Platon, Gesetze 644 f; Marc Aurel IV 32; VII 48; X 27; Schopenhauer WWV. I 3,51; zu Benn s. I 6a! 44 Marc Aurel III 8; XII 36. 45 Sueton, Augustus 99. 46 Demandt, Novus Hercules, Novus Alexander. Das politische Rollenspiel in der Antike (1996/2004). In: ders., HM. III, 78 ff. 47 Eunap. fr. 21, 3 Blockley. 48 Aristoteles, De caelo. 279 a 17. 49 S. o. II 4! 50 S. u. V 2i!

51 52 53 54

55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

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73 74

373 Plinius NH. XXXIV 52. Velleius I 6,6; I 17. Grimm, KHM. Nr. 72. Polybios VI 9,10; Platon, Staat VIII 544 D ff; Aristoteles, Politik 1316 A; Demandt, Idealstaat, 1993, 210 ff; Cicero, De republica II 45; Sueton, Caesar 79,2 f; ders., Augustus 7,2. Anthologia Graeca IX 505 f. Thukydides I 22; 76; III 45; 82; 84; V 105; Polybios I 1; III 7. Censorinus 17,6; Plutarch, Sulla 7. Censorinus 17, 2. Augustinus CD. III 18; Weiß 1973. Horaz, Carmen saeculare; Censorinus 17, 9. Aurelius Victor 28,1; Zosimos II 1–7. NT. Mt. 12,32. Lukrez V 65; 238 ff; Augustinus PL. 38, 504. VS. 12 A 10; 14. VS. 21 A 33. VS. 22 A 1; 10; B 63 ff. Platon, Timaios 22 AB; Kritias 112 A; Gesetze 676 A-D ; Sambursky 344 ff. AT. 1. Mose 7; SVF. II 1174. H. Leisegang, Die Gnosis, 1924/55, 227. Cicero, De republica VI 23; Seneca NQ. III 27 ff; ders., Ad Polybium I 2; Plinius NH. VII 191; Vergil, Georgica I 147 ff. Cicero, De republica VI 23; ders., De natura deorum II 118 ; Seneca NQ. III 26 ff; ders., Consolatio ad Marciam 26,6 ff. Macrobius, Commentarium in: somnium Scipionis II 10; Synesios, De providentia 11,7. Platon, Timaios 22 C; Ovid, Metamorphosen I 751 ff; Hygin, Fabulae 154.

374

Anmerkungen

75 Platon, Timaios 22 A; ders., Kritias 112 A; Apollodor I 46 ff; Hygin, Fabulae 153. 76 Xenophanes VS. 21,A 33; AT. Ps. 90,2: Marc Aurel IX 28. 77 Anaximandros VS. 12 A 10; 17. 78 Aristoteles Politik 1329 B 20; ders., De caelo 270 B 19. 79 Eudemos VS. 58 B 34. 80 SVF. II 625 f. 81 D. Hume, Dialoge über natürliche Religion, 1757/1905, Kap. 8.

82 Plinius NH. X 3 ff mit dem Kommentar von König und Winkler 1986. 83 Platon, Timaios 39 D; Cicero, De finibus II 102; ders., De natura deorum II 51; Censorinus 18,11; Boethius, Consolatio III 50. 84 Platon, Politikos 268 D–274 E. 85 Nach Abbé Georges Lemaître 1927. 86 Born 1964, 320 f. 87 Lucrez II 292; E. A. Schmidt, Clinamen, 2007. 88 AT. Prediger 1,9 f.

Kapitel V   1   2   3   4   5   6   7   8   9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Ilias VIII 69 ff ; Apollodor III 48 ff. AT. Ps. 46. Hegel Gph. 256. Plutarch, Moralia 369 E. Widengren 1965, 61. Plutarch, Moralia 370 B ff. Plutarch a. O; Widengren 1961, 197 ff; ders., 1965, 199 ff; 285. Lactanz DI. VII 17,9 ff; C. Colpe, Hystaspes, in: RAC. XVI 1994, 1056 ff. Censorinus 17,5 f; Cassius Dio 55,7; Plutarch, Sulla 7; Servius zu Vergil, Ekloge IX 46. Demandt, Zeitenwende unter Augustus (2000), in: ders. HM. II 240 ff. M. Noth (1957) in: Lammers 1961, 30 f; Alt 1959/70; Campenhausen 1979. AT. 1. Mose 9 f. AT. 1. Mose 8 f; 15; 2. Mose 19 ff; 2. Sam. 7. AT. Sprüche Salomons 3,12. AT. Jes. 49,6; 55,3 ff AT. 1. Sam. 10, 1; Jes. 45. AT. Haggai 2,20 ff. AT. Daniel 7,13 f. AT. Jes. 35.

20 AT. Jes. 11,6 f; 21,11; 41,20; 49,6; 65,17. 21 AT. Jes. 13,8; 66,7 f. 22 AT. Zeph. 3,6 ff; Jes. 51,3; Hes. 36,35; Ps. 84,7. 23 Trieber 1892; Koch 1980. 24 AT. Dan. 2, 31–46, nach Kautzsch. 25 Herodot I 95 f; 130. 26 Photios, Codex 72, 35 b. 27 Velleius I 6,6; Appian pr. 9. 28 AT. Dan. 7, 2–14, nach Kautzsch. 29 AT. Dan. 8; 10 f. 30 Schäfer 1983, 93. 31 Kautzsch, Apokryphen II 217 ff. 32 1. Qumran sb. V 23; Woude 1957; Hengel 1961, 281 ff. 33 Kautzsch, Apokryphen II 331 ff; 402 ff. 34 Sueton, Vespasian 4; Tacitus, Historien V 13; Cassius Dio LXVI 2. 35 Friedlieb 1852; Geffcken 1902; Kautzsch, Apokryphen II 177 ff. 36 Dinkler 1967; Milburn 1954; Wendland 1938. 37 Augustus, Tiberius, Quirinius, ­Pilatus. 38 Herodes d. Gr., Herodes Antipas, Herodes Philippus, Kaiphas, Johannes der Täufer.



Kapitel V

39 Bodin 1566/1650, 8; G. L. Buffon, Histoire naturelle, 1749. 40 Demandt, Zeitenwende (2000), in: ders. HM II 240 ff. 41 Sueton, Augustus 100,3. 42 Lucrez V 95 f; Bracher 1948/87. 43 Vergil, 1. Ekloge 6; H. Dessau, Inscriptiones Latinae selectae III 2, 1916 Nr. 9495 ; Manilius I 9 ; 385 ; 800 ; Sueton, Augustus 94,3. 44 OGIS. 458, 41. 45 A. Luther, Historische Studien zu den Bucolica Vergils, 2002, 11 ff. 46 Pratt 1965, 41 f; Faber 1975. 47 AT. Amos 5,18 ff; Jes. 2,6 ff. 48 NT. Mt. 3,1; Mk. 1,15; Gal. 4,4. 49 NT. Lk. 23,43. 50 NT. Mt. 19,28. 51 NT. Mt. 8,11; 26,29; Lk. 13,29; 23,43. Luther übersetzt das „zu Tische liegen“ mit „zu Tische sitzen“. Das Liegen bei Tische ist eine griechische Sitte orientalischen Ursprungs. 52 NT. Römer 14,17. 53 Irenaeus von Lyon, Adversus Haereses V 33; Euseb VC. III 15. 54 F. Genzmer, Die Edda, 1933, 81. 55 NT. Mt. 27, 37. Demandt, Pilatus, 1999, 109 ff. 56 NT. Mk. 15,7; Luk. 13,1 ff; 23,19. 57 NT: Apg. 5,36–39; 21,38; Hengel 1961. 58 NT. Luk. 11,1; Apg. 19,3 ff. 59 NT. Mt. 10,34; 26, 53; Luk. 14,26; 19,27; 22,36. 60 NT. Mt. 21,44; 24, 15. 61 NT. Ev. Joh. 12,31; 14,30; 16,11. 62 NT. Luk. 17, 20–24. 63 NT. Mt. 24,14. 64 Luz 1968. 65 NT. Röm. 13. 66 NT. Gal. 3,24; 4,1–11. 67 Ambrosius ep. 17,10. 68 NT. Gal. 4,1–7; 3,17.

375

69 NT. Gal. 4,4 f. 70 Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht, 1887/1952, III, 60 Anm.1. 71 NT. 1. Kor. 7,22. 72 NT. 1. Thess. 4, 13; 1. Kor. 15, 51 ff. 73 NT. Mk. 13,10; Mt. 24,14; 2. Thess. 3,10 f. 74 The Constitution oft he People’s Republic of China, Peking 1975, 18. 75 NT. Mt. 3,1; 24,36; Apg. 1,6 f. 76 NT. Mk. 13,6 ff. 77 NT. 2. Petrus 3,7 ff; AT. Jes. 65,17. 78 Al Biruni bei Strohmaier 1991, 140; Colpe 1990, 35. 79 Viermal 367 nach der angenommenen Zahl der Tage eines Jahres? 80 Böhlig 1980, 32 ff; 129 f; 141; 155 f; 239. 81 Podskalsky 1972; Brandes 1990; Koch 1997. 82 Hieronymus CCL. 75 A, S. 771 ff; Codex Justinianus I 1,3. 83 Josephus, Antiquitates X 10 f; Koch 1997, 45 ff. 84 NT. 1. Joh. 2,18; 2,22; 4,3; 2. Joh. 7. 85 Sulpicius Severus, Dialoge I 14,4. 86 E. Fascher, in: RE. V A, 1934, 1016 ff. 87 B. Rubin, Das Zeitalter Justinians, 1960, 204; Prokop, Anekdota 12,26; 18,1. 88 Ammian XIV 6,5; Rutilius I 139 f. 89 Lactanz DI. VII 25, 6–9. 90 NT. 2. Thess. 2,6 f. 91 Aristides, Apologie 16,6; Justinus Martyr, Apologie an Marc Aurel 7,1; Tertullian, Apologeticum 32,1. 92 Orosius II 1. 93 Brandes 1990, 314; Brandes in: Brandes/Schmieder 2008, 157 ff; H. Möhring ebd., 201 ff; Brüder Grimm, Deutsche Sagen, 1816/1956, Nr. 23; 297. 94 AT. Hes. 38 f; NT. Offb. 20,7 ff.

376

Anmerkungen

  95 Koran, Sure 18,93 ff; 21,96; Demandt, Alexander der Große, 2009, 286 ff.   96 Koch 1997, 75 ff; 92.   97 Glasenapp II 411; 415.   98 Annolied 17,9; 19,4; Nellmann 92; Hieronymus CCL. 75 A, 794 f.   99 Koch 1997, 102. 100 Bodin, Methodus 310 ff. 101 Sorokin 1953, 156; Koch 1997, 100. 102 Das Buch Mormon 1964, 199. 103 A. Gow in: Brandes/Schmieder 2008, 1 ff. 104 Justin, Dialogus 45. 105 Irenaeus, Adversus haereses III 11, 8; Campenhausen in: Alonso-Nunez 1991, 298 ff. 106 Irenaeus, Adversus haereses V 33 ff. 107 AT. 1. Mose 1,5 ff; NT. Hebr. 4,4. 108 Barnabas 15,3 ff. 109 Schwarte 1966; Demandt, Metaphern, 1978, 150 ff. 110 NT. Mk. 13,7 f; Joh. 16,20 f. 111 Didache 16. 112 Lactanz DI. VII 14 ff; ders., Epitome 66 f. 113 Bernheim/Stavrides 1992, 94. 114 Aus Plymouth vertrieben, ging Darby 1838 in die Schweiz, von wo sich seine Lehre nach Württemberg und bis ins Siegerland ausbreitete. Sie ist noch heute in 33 Ländern lebendig. Ihr gehörte seit etwa 1855 mein Ururgroßvater Karl Engel Demandt an, Sohn eines Hirten und Leineweber in Niederndorf. 115 Theophilos III 27 f. 116 Schmitz-Berning 1998, 607. 117 Auerbach 1939/1967; Demandt, Metaphern, 1978, 409 ff. 118 Pausanias I 25,2; W. v. Massow, Führer durch das Pergamonmuseum 1932, 51. 119 AT. Jes. 43,16 ff; 2. Mose 14,29; Jona 2,1 ff; NT. Mt. 12,39 ff.

120 Euseb VC. I 38; AT. 2. Mose 14,28; Orosius VII 26, 9 ff; NT. 1. Kor. 10, 6. 121 PL. 67, 487. 122 H. Grotefend, Handbuch der historischen Chronologie, 1872, 21. 123 So jedenfalls bei meinem Besuch dort am 20. März 1993. 124 Winkelmann 1961. 125 AT. 1. Mose 49, 10 ff; 4. Mose 23,19 ff; 24,17 ff. 126 NT. Röm 11,17 ff; Justinus Martyr 119,1; Barnabas 4,6 ff. 127 Clemens, Stromata I 80,5. 128 Tertullian, Apologeticum 17, 6. 129 Euseb PE. IX 6, 9; Augustinus, De doctrina christiana II 108. 130 Euseb HE. I 2,23; Peterson 1935/1951, 83. 131 Euseb, HE. IV 26,7 ff; ders., Theophanie 126 f; 256 f; AT. Ps. 72,7 f; Jes. 2,4; 35,1 ff; Micha 4,3. 132 Winkelmann 1991, 146 ff. 133 Euseb, Laus Constantini 7,13. 134 PL. XIV 1142 f 135 Ambrosius ep. 18,23; ders., Exameron III 65; Demandt, Argument, 1972, 41 ff. 136 Goetz 1980; Koch-Peters 1984; Peterson 1935/51, 97 ff. 137 Orosius I prol. 14f. 138 Orosius III 20; V 2; VI 1 ff; VII 1,11; 39,1 ff. 139 Orosius VI 1 ff; VII 1,11; 39,1 ff. 140 Hieronymus ep. 127,12. Demandt, Spätantike, 2007, 178. 141 Löwith WH. 173 ff; Dinkler 1958; Maier 1955; Schwarte 1966. 142 Augustinus CD. XIX 25. 143 Augustinus, De doctrina christiana II 63; 105; 148; NT. 1. Kor. 8,1. 144 Augustinus verwendet die Weltchronik Eusebs in der lateinischen Übersetzung des Hieronymus. 145 Maier 1955, 84 ff. 146 Tertullian, Apologeticum 38,3.



Kapitel VI

147 Augustinus, De catechizandis rudibus 31. 148 Maier 1955; Kamlah 1957. 149 Augustinus, Confessiones III 18. 150 Böhlig 1980, 45; 150. 151 Strohmaier, Al Biruni 140 152 Zur Herkunft des Begriffs vgl. E. Salin, Civitas Dei, 1926. 153 H. Löwe in: Lammers 1961, 124 ff. 154 J. Ratzinger, Volk und Haus Gottes, 1954; ders., Herkunft und Sinn der Civitas-Lehre Augustins (1954) , in: Lammers 1965, 55 ff. 155 Augustinus CD. I 35; XI 1. 156 Augustinus CD. XX 7; XXII 30; ep. 197; NT. Mt. 24,36. 157 Augustinus CD. XVI 43; XXII 30; R. Schmidt 1956; Demandt, Metaphern, 42. 158 NT. Mt. 24,14; Augustinus ep. 197. 159 NT. Römer 11,25; Offb. 7,4. 160 Augustinus CD. XII 22; ders. CCL. 48,380. 161 Ambrosius CCL. 14,350; Augustinus CCL. 38,318. 162 NT. Joh. 12,31; 14,30; 16,11; 2. Kor. 44. 163 Augustinus CD. IV 3; XV 4; XIX 15; XXII 30. 164 Augustinus, De vera religione XXVI 48,130; XXVII 50,139. 165 NT. Römer 6,6; Eph. 4,22 ff; Kol. 3,9 f; Tit. 3,5; 1. Petrus 1,23. 166 Isidor, Etymologiae V 38 f; Beda, De temporum ratione, MGH. AA. XIII 247 ff; ders., PL. 90, 288 ff. 167 Spörl 1956/61.

377

168 Otto VIII pr. 169 Otto III pr.; IV 4. 170 Otto IV 4; AT. Ps. 84,7. 171 Otto I pr.; V pr.; V 36 ; VII pr. 172 Otto VI 22; 24. 173 Otto VII 34. 174 Otto, Gesta Friderici I 4; Velleius I 17,6 f; Tacitus, Dialogus 23; Carmina Burana 16 f; Demandt, Metaphern, 1978, 236 ff. 175 Otto II 47; VIII pr. 176 Alanus PL. 210, 215 ff. 177 Mottu 1983; Reeves 1989; Wendelborn 1974. 178 Luther WA. 53,1 ff; Glasenapp II 333 ff. 179 Löwith II 150 ff; Sommer 2006, 97 ff. 180 Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte VI, 1773, 324 ff. 181 Schmitz-Berning 1998, 160. 182 Winkelmann 1991, 156 ff. 183 C. Schmitt, Politische Theologie, 1934, 49. 184 E. Peterson, Theologische Traktate, 1951, 45 ff, 149 ff. 185 C. Schmitt, Politische Theologie II, 1970. 186 NT. Mt. 22,21; Römer 13; 1. Petr. 2,13 f. 187 NT. Mt. 7,1; 5,39 u. 44; Römer 12,19 f; 1. Petr. 2,19 ff. 188 C. Schmitt, Positionen und Begriffe, 1940/88, 199 ff. 189 Ich danke Reinhard Mehring für eine kritische Bemerkung hierzu. 190 NT. Römer 11,8 nach AT. Jes. 29,10.

Kapitel VI 1 2

Böhmer 1914, 47. Varga 1932; Demandt, Metaphern, 1978, 154 ff.

3 4

Steck 1961, 170; 178; 183; Demandt, Metaphern, 1978, 102. Horaz, Ars poetica 70.

378

Anmerkungen

  5 Rutilius Namatianus, De reditu suo I 139 f.   6 S. o. II 6!   7 Spranger, Kulturphilosophie 1969 (1960); Trillitzsch 1981.   8 A. Demandt (Hg.), Stätten des Geistes, 1999.   9 P. Piur, Cola di Rienzo, 1931. 10 Aristoteles, Über den Himmel 297 b 24; Demandt, Sternstunden, 2000, 162 ff. 11 Cicero, Academica II 123. 12 Rosenthal, Fortleben. 13 Ibn Khaldun 45; Rosenthal, Fortleben, 24; 344. 14 Pätzold 1992. 15 Ibn Khaldun 37. 16 Ebd. 35; 37; 44 f; 49. 17 Ebd. 13; 31; 39. 18 Ebd. 45; 47. 19 Ebd. 68 f. 20 Ebd. 51; 53; 86 ff. 21 Überlieferter Titel ›Von Lüften, Gewässern und Orten‹, deutsch bei W. Capelle (Hg.), Hippokrates, Fünf auserlesene Schriften, 1955, 85 ff; Aristoteles, Politik VII 1327 B 20. 22 Ibn Khaldun 56 ff. 23 Ebd. 59; 61. 24 Ebd. 116; 125. 25 Ebd. 19; 50. 26 Ebd. 198 f. 27 Ebd. 71; 88 ff; 91; 117 ff; 121 ff; 127 ff. 28 Ebd. 77 ff. 29 Ebd. 121 ff; 19. 30 Ebd. 197 ff. 31 Pätzold 26. 32 Ibn Khaldun 199. 33 Boccaccio, Opere latine minori, ed. A. F. Massèra, 1928, 191 ff 34 Voigt, Wiederbelebung I 119; 164. 35 Plinius NH. XIII 41. 36 Schäffer 1973, 56 f. 37 Buck 1957, 13 ff.

38 Lactanz DI. VII 24; Augustinus CD. X 27; Constantin, Ad Sanctos 19 ff. 39 PL. 106,1427 B. 40 Boccaccio, Opera latine minori 1928, 194. 41 Giovanni di Boccaccio, Das Leben Dantes, übersetzt von O. v. Taube, 1919. 42 LdM. VIII 1526. 43 H. Münkler, Machiavelli, 1981; A. Buck, Machiavelli, 1985. 44 Machiavelli, Principe c. 25. 45 Machiavelli, Discorsi I 29. 46 Polybios VI 56,6 ff; Machiavelli, Discorsi I 11; 14. 47 Machiavelli, Discorsi I 11 f ; II 5. 48 Machiavelli, Principe c. 6. 49 Eine „Ehrenrettung“ (Clausewitz) unternahm J. G. Fichte, Machiavell, 1807. 50 Machiavelli, Principe c. 8. 51 Machiavelli, Discorsi II 8; ders., Principe 13; Demandt, Fall, 1984, 97 ff. 52 Jordanes, Getica 132; Machiavelli, Discorsi II 8. 53 Demandt, Fall, 1984, 99; 161. 54 Machiavelli, Discorsi II pr; II 19; ders., Florenz V 1. 55 S. o. IV 5! 56 Machiavelli, Discorsi II 5. 57 Machiavelli, Principe c. 14 ; ders., Discorsi I 39 ; III 13. 58 Machiavelli, Discorsi II 5. 59 Machiavelli, Discorsi III 1; ders., Kriegskunst, am Ende. 60 Daß dieser ständig wechselt, so daß hier eine Art „Demokratie“ vorliegt, wußte Bodin ebensowenig wie daß der Weisel bei den Bienen eine Königin ist. 61 Bodin, Methodus 288. 62 Steck 1961, 199 zu Dürer. 63 Bodin, Methodus 79 ff; 121. 64 Ebd. 120 f.



Kapitel VII

65 Ebd. 319. 66 Ebd. 210 ff; Buck 1957,11ff. 67 AT. Prediger 1,9 f; Bodin, Methodus 319. 68 Cicero, De oratore II 36; Bodin, Methodus 1; 45. Zum Kanon Polyklets: Plinius NH. XXXIV 55. 69 Bodin, Methodus 323. 70 Ebd. 320 f. 71 S. o. VII 3l! 72 Ebd. 320 ff. 73 Ebd. 146. 74 Buck 1957,19. 75 Bacon, Organon I 84. 76 Otto Frisingensis, Chronik V pr. 77 Bacon, Organon II 52. 78 So auch in Bacons ›Valerius Terminus‹ 1603 79 Bacon, Organon I 78. 80 Bacon, Organon I 78; 81 f; 127. 81 Bacon, Organon I 97; 116. 82 NT. Mt. 13,18 ff. 83 P. Burke, Vico, 2001; Sommer 2006, 188 ff. 84 Vico 1708/1974, 14. 85 Bacon Organon I 71; 77; Vico 1708/1974, 140. 86 Vico 1708/1974, 40; NW. 125; 139.

379

  87 Vico NW. 133 f.   88 Vico 1708/1974, 42.   89 Vico NW. 80.   90 Anderle 1956, 103, 229.   91 S. o. IVa!   92 Vico NW. 138 f; 400.   93 Ebd. 64.   94 Ebd. 422 f.   95 Ebd. 100 f.   96 Vico 1708/1974, 122.   97 Vico NW. 106.   98 Ebd.. 177.   99 S. u. VIII 3d! 100 Vico 1708/1974,126ff. 101 Vico NW. 69 102 Vico 1708/1974,48. 103 Vico NW. 416 ff. 104 Vico 1708/1924, 78. 105 Censorinus 20,12; Marc Aurel VII 1. 106 S. o. V 3l! 107 S. o. V 7l! 108 Voss 1972, 40 ff; E. Pitz, Mittelalter, in: LdM. VI 1999, 684 ff. 109 NT. 2. Thess. 2,4. 110 G. Horn, Historia ecclesiastica et politica, 1666. 111 Spengler UA. I 28 112 Jordanes, Romana 311.

Kapitel VII 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Demandt, Metaphern, 1978, 154 ff. Fridericus Rex. Aussprüche und Gedanken, 1907, 361. Gnomologium Vaticanum 314. Lucrez III 1 ff; V 1455; Quintilian, Institution VIII 3,72 f; Demandt, Metaphern, 1978, 146. Buck 1957,18. Humboldt II 65 ff. MEW. 13, 642; MEGA I 1, 140. B. de Fontenelle, Digression sur des Anciens et les Modernes, 1688. S. o. VI 5!

10 Sommer 2006, 228 ff. 11 Oeuvres de Mr. Turgot II 1808, 52 ff; Loewenstein 2009, 154 ff; 185. 12 S. o. II 4! 13 Vertreibung von Christian Wolff aus Halle 1723, Zensur unter Friedrich Wilhelm II seit 1788. 14 Oeuvres de Mr. Turgot II 1808, 19 ff. 15 Sommer 2006, 291 ff. 16 Text bei Roßmann 1959, 2 ff. 17 Hauptvertreter Spalding, Semler und J. W. Jerusalem.

380

Anmerkungen

18 Das „Auch“ bezieht sich auf Isaak Iselins ›Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit‹ von 1764. Dazu Sommer 2006, 247 ff. 19 S. u. XVI 1a! 20 Herder, Ideen I 41; 50; 57; 60; 93; 100 ff; 172; 188. 21 Ebd. I 138 f; 159; 170 f; 188. 22 Kant I 254. 23 S. u. XIV 2! 24 Herder, Ideen I 51; 171; 186. 25 Ebd. I 13. 26 Ebd. I 106, 137; 189. 27 Augustinus, De vera religione 136. 28 Herder, Auch 131. 29 Ebd. 138 f; 142; Vergil, Aeneis VI 851. 30 Demandt, Fall, 1984, 151 ff. 31 S. u. VIII 1! 32 Herder, Ideen I 338ff. 33 Ebd. II 38.; 92. 34 Luther WA.II 6,82. 35 Herder X 286. 36 Ebd. 288. 37 NT. Gal. 3. 38 PL. 30,15 ff; 33,1099 ff. 39 Herder, Ideen I 188 ff. 40 Herder, Auch 221; ders., Briefe I Nr.25, 36. 41 S. o. VI 2e! 4g! 42 Herder XIII 455f. 43 Sommer 2006, 310 ff. 44 O. Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, 2001, 190. 45 Diogenes Laërtios VI 40; Schlegel 1946, 27. 46 NT. 1.Kor.13,9. 47 Kant IV 81. 48 Kant, Vorlesung 1781/1924, 317 ff. 49 Kant IV 81 f; AT. Ps. 84,7. 50 Kant VI 539f; NT. 1. Kor. 13,11. 51 K. Vorländer, Immanuel Kants Leben, 1921, 180. 52 Kant, Vorlesung 1781/1924, 318 f. 53 Kant I 531 f; V 262 f.

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Kant I 221ff. Kant V 656ff. Kant I 161ff. NT. Römer 6,17 ff: 1. Kor. 13,11; Gal. 3,24 f; 4,7; Eph. 4,14. Kant IV 543. Horaz ep. II 1,40. Kant I 631 ff. Kant, Streit § 4. Kant, Streit § 7. Kant I 531f. Kant VI 540f. Pascal, ed. Brunschwig 1909, 80. Condorcet, Esquisse 76 f; 83; 115; 254. Ebd. 28 ; 271. Ebd. 251. Ebd. 256 f. Ebd. 81. Ebd. 83. Ebd. 15. Zu ihm ausführlich: Löwith, WH. 78 ff. Deutsche Fassung: Comte, Sozio­ logie, 1933. Ebd. 6 f. Comte, Discours § 2; § 69. Ebd. § 11. Comte, Soziologie 267 f. Ebd. 320; 411; 425. Ebd. 117. Ebd. 18. Ebd. 432. Ebd. 425; 557. Ebd. 421 f; Discours § 53. Comte, Soziologie 429; 432 f. Ebd. 433. Ebd. 418 f. Ebd. 422 ff; 431. Ebd. 434 ff. Ebd. 420. Ebd. 421. Ebd. 124 f. Platon, Staat 451 D; Demandt, ­Idealstaat, 1993, 83. Comte, Soziologie 428. Ebd. 506.



Kapitel VIII

  96 Ebd. 428.   97 Ebd. 119 f.   98 Comte, Discours § 53.   99 Popper 1944/70 I 277; II 241; ders., 1965, 119 f. 100 Popper 1965; Nietzsche III 479. 101 Popper 1944/70, I 72; 94; 231 ff; 249 ff; Thukydides II 34 ff. 102 Schiller IX 283 ff. 103 Popper 1944/ 70, II 291. 104 Ebd. 285. 105 Xenophon, Memorabilia II 1,21 ff; NT. Mt. 12,30; Widengren 1965, 96; Kierkegaard, Entweder-Oder, 1843/85; C. Schmitt, Politische Theologie, 1922, 43 ff. 106 Popper 1944/70, II 291. 107 Naxos 467; Aigina 456; Milet 449; Samos 442 und 439; Mytilene 427; Melos 416 v. Chr. 108 Demandt, Alexander der Große, 2009, 372 ff.

381

109 Popper 1944/70, I 243 ff; 252; 267 f; Popper CR. 365 ff. 110 Popper 1944/70, I 21; 236 f; 248. 111 Ebd. 94; 237. 112 Paul Nolte in: LGW. 2002, 218 f. 113 Nietzsche I 40; WM. 1005; anders I 266. 114 Popper 1944/70, I 237; 268; II 42; 333 ff; 1965, 121; ders., Objektive Erkenntnis, 1984, 310. 115 Schiller IX 224 ff. 116 Homer, Odyssee IX 105 ff. 117 Schiller I 334 ff; F. Meinecke, Schillers Spaziergang (1938), in: ders., IV, 323 ff; P. A. Alt, Schiller, 2000, II 20; 283 ff. 118 Schiller I 65. 119 Schiller X 282. 120 Schiller I 114 ff; 376; nach Solon, Elegien 24,4. 121 NT. 1. Thess. 4,13 ff; Kant, Idee § 3.

Kapitel VIII 1 2 3 4 5 6 7

F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 1907/28. Schelling, Schriften 596. Platon, Staat VII Anfang. NT. 1. Kor. 13. VS. 59 B 11 ff; Plotin V 2. Croce 1915/1930, 86; Conte 2007, 45. White 1987, 33: Historische „Ereignisse sind real, nicht weil es sie gab, sondern weil man sich, erstens, an sie erinnerte und weil sie, zweitens, sich in eine chronologische Abfolge einreihen lassen.“ Demgemäß wären weder der Untergang des Palastes von Knossos (an den sich niemand erinnert) noch die Predigt Zarathustras (die man nicht datieren kann) historische Ereignisse.

  8 Dionysios Areopagita IX 2 ff; AT. Daniel 10,21.   9 Herder, Ideen I 346; II 87. 10 Herder, Ideen II 225. 11 Fichte, (Vorlesungen über) Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806/1924; ders. , (Vierzehn) Reden an die deutsche Nation 1807/08, 1912. 12 Fichte, 14. Rede. 13 Fichte, 9. u. 13. Vorlesung; ders., 6. u. 7. Rede. 14 Fichte 1. und 14. Rede. 15 Fichte, 1. Vorlesung; ders., 7. Rede. 16 Fichte, 1. u. 9. Vorlesung. 17 Fichte, 2. Vorlesung. 18 Fichte, 1., 2. und 14. Vorlesung; ders., 4. Rede; Wundt 1927, 191 ff; Löwith II 223.

382

Anmerkungen

19 Plotin V 2; Platon, Sophistes 242 D; VS. 22 B 10. 20 Schelling, System, 110; 438 f. 21 Schelling, Schriften 645; 648; 678. 22 Schelling, System, 308 f; NT. 1. Kor. 13,12; Conte, Croce 2007, 81. 23 Schelling, System 438f. 24 NT. Eph. 4,17 ff. 25 Schelling, Schriften 571 ff; 683. 26 Croce 1938/1944, 25; Conte, Croce 2007, 76. 27 Schelling, Schriften 362; 637; ders., Studium 136. 28 Schelling, Schriften 614; 627. 29 Schelling, Studium 107. 30 Schelling, System 439 ff. 31 Schelling, System 416. 32 Löwith II 224 f. 33 Zum Begriff s. u. XI 4ef! 34 Hegel Gph. 347 ff; 563. 35 Petron, Satyricon 61 f; Plinius NH. VIII 80. 36 Kojève 1947/1957; zu ihm s. u. XV 2a. 37 K. Popper, Was ist Dialektik? In: Topitsch 1968, 262 ff. 38 Text deutsch bei L. u. K. Hallof (Hgg.), Hesiod, 1994, 185 ff. 39 Hegel, Phänomenologie 27 f. 40 Nietzsche I 263. 41 Sie ist durch Mitschriften überliefert, die in mehreren Fassungen vorliegen. Benutzt wurden die Ausgaben von Brunstäd 1907 (Gph) und Lasson 1930 (VG). 42 Hegel Gph. 105; 109. 43 Ebd. 61; 168; 215. 44 Ebd. 168 f. 45 Hegel VG. 39 ff. 46 Hegel, Rechtsphilosophie 1821, § 354 f; ders., Gph. 107 f; Conte , Croce 39 f; 116, 47 Hegel Gph. 255; 318; Augustinus CD. XVI 43. 48 Hegel Gph. 172; 321.

49 Ebd. 173 f. 50 Ebd. 468. 51 Aristoteles, Politik 1327 b; Tacitus, Annalen II 44; 88; ders., Germania 37 52 Demandt, Fall, 1984, 115 ff. 53 Cicero, De oratore I 1. 54 Hegel Gph. 519. 55 Kant I 532; s. o. VII 4l! 56 AT. Jes. 13,1 ff; 66,7 ff; NT. Mk. 13,6 ff; s. o. V 4a! 57 Hegel Gph. 176. 58 Ebd. 174 ff; 559; 586. 59 Ebd. 86; 96; ders., Rechtsphilosophie § 272 Zusatz. 60 Hegel Gph. 83. 61 Ebd. 77 f; 122. 62 S. u. XVI 2j! 63 Kant, Idee § 9; Hegel Gph. 64; 84; 108; 132. 64 Hegel Gph. 62; 64; 71. 65 Hegel VG. 42; 51. 66 Demandt, Metaphern, 1974, 394. 67 Hegel Gph. 75 f; 430; Droysen, Texte 36; Conte, Croce 77, 68 W. Siemann, Metternich, 2010, 48. 69 Hegel Gph. 78; ders., Rechtsphilosophie § 341; § 347. 70 Hegel Gph. 542; Nietzsche I 229; Luther, Schriften 539 71 Hegel, VG. 51; 55. 72 Hegel Gph. 56; 605. 73 Leibniz, Die Hauptwerke, 1933, 190; ders., Theodizee I 9. 74 AT. 1. Mose 1, 31. 75 NT. Römer 9,20 f; AT. Hiob 38 ff; Jes. 45,9 f. 76 Odyssee I 32 ff; Demokrit VS. 68 B 175. 77 Theognis I 687 f, vgl. 142. 157; 444 ff. 78 Kant IV 799 ff. 79 Hegel Gph. 49; 53. 80 VS. 59 B 11 ff. 81 Conte, Croce 80



Kapitel IX

82 Hegel VG. 42 ff. 83 Hegel Gph. 129 ; 132 ; 158 f ; ders., VG. 46; Kant, Idee § 9. 84 Hegel Gph, 70; NT. Ev. Joh. 12,31; 14,30; 16,11. 85 Hegel Gph. 564. 86 Treitschke (1861) 1917, 3. 87 A. v. Humboldt, Kosmos I 1844, 385. 88 W. v. Humboldt, Aufgabe 38, 41. 89 Stadler 1959. 90 Humboldt II 25 ff. 91 Hölderlin, Sämtliche Werke 1961, 1015. 92 Conte, Croce 116. 93 Humboldt, Aufgabe 22. 94 Kant, Idee § 3. 95 Humboldt, Aufgabe 40; Marc Aurel XI 8.

383

  96 Humboldt, Aufgabe 27;30; 34; 42; 49.   97 Ebd. 30; 32; 34.   98 F. Hölderlin, Gesammelte Briefe, 1935, 203.   99 Humboldt, Aufgabe 31 ff. 100 Velleius I 17; Humboldt, AkademieAusgabe IV 1905/1968, 427. 101 Humboldt, Aufgabe 25. 102 Ebd. 48; 56. 103 Ebd. 9; 12; 35. 104 Ebd. 14; 23. 105 Nietzsche I 264; AT. 2. Mose 32. 106 Nietzsche II 936. 107 Platon, Staat 596 A; Goethe LH. 31, 80. 108 Treitschke (1861), 1917, 3. 109 Marx FS. 154.

Kapitel IX   1   2   3   4   5   6   7   8   9 10 11 12 14 15 16 17 18 19

4. November 1823; B. III 37. Goethe B. I 415 ff; III 37. Goethe MR. 271. 4. Dezember 1827 an Zelter. Demandt, Metaphern, 1978, 381 ff. Fontes Iuris Romani Anteiustini­- ani II, ed. J. Baviera 1968, 68; 75; 298. Herder, Auch 202. Goethe B. I 433 ff; B. II 130; Roßmann 1959, 131 ff. 28. September 1775 an Lavater. 15. Februar 1830 an Zelter. NT. 1. Kor. 13,12. Demandt, Metaphern, 1978, 370 ff.
13 Goethe MR. 651; ders., 22. Juli 1819 an Reinhard. LH. 3, 109. B. III 149; B. IV 131. C. VIII 953; MR. 264. S. u. 4d; 6c! B. III 142; LH. 32, 79. NT. 1. Kor. 4,13; Röm. 9,2.

20 Marc Aurel VI 16; 28; VII 3; 29; VIII 50 21 Goethe, 18. August 1792 an Jacobi. 22 14. November 1812 an Reinhardt. 23 Goethe verstieß nur einmal dagegen, 1806 in der Affäre Massenbach, LH. 31, 274. 24 LH. 27, 154. 25 LH. 28,96 f. 26 17. Januar 1831 an Niebuhr. 27 B. III 137. 28 B. III 489. 29 LH. 26, 41; B. III 26. 30 B. I 434. 31 7. Juli 1793 an Jacobi. 32 B. III 62, 33 LH. 28, 258. 34 22. Juli 1810 an Reinhard. Zu Hegel s. o. VIII 3tuv! 35 MR. 517. 36 B. IV 69. 37 LH. 24, 287 ff. 38 LH. 30, 76.

384

Anmerkungen

39 B. I 537. G. Seibt, Goethe und Napoleon, 2008. 40 LH. 24, 248 f. 41 Franz, Urzeit 38. 42 F. Otto, Goethe in Nassau. In: Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde 27, 1895, S. 183. 43 LH. 26, 48. 44 LH. 25, 268; LH. 26, 286. 45 N. Miller, Der Wanderer. Goethe in Italien, 2002. 46 Goethe LH. 44, 180 ff. 47 Franz, Urzeit, 1949. 48 LH. 55, 301 f; Franz, Urzeit 59. 49 Franz, Urzeit 140 ff. 50 LH. 45, 408. 51 LH. 39, 337 ff. 52 LH. 26, 52. 53 B. III 340. 54 Aristoteles, Poetik 51 b 5. 55 Goethe, 17. Dezember 1811 an Niebuhr. 56 LH. 53, 75. 57 MR. 270. 58 LH. 39, 30 f. 59 B. III 226. 60 LH. 6, 41 f; LH. 33, 122; LH. 52, XVI; Thukydides III 84,2. 61 LH. 55, 53; B. III 138; 155, 62 B. II 419; Schopenhauer WWV. I 3, 35. 63 B. III 33. 64 C. XX 479; 732. 65 20. Januar 1798 an Schiller; B. III 202. 66 Polybios VI 3 ff; Goethe, 23. November 1812 an Niebuhr. 67 Velleius I 17,5 ff; Goethe LH. 37,38; s. o! 68 LH. 53, 138. 69 LH. 53, 78 f; LH. 53, 4; 91. 70 LH.  31, 181 f; 53, 3 f. 71 B. I 409; B. II 632. 72 B. IV 196; 356. 73 Soret, Goethe 63..

  74 Goethe LH. 49, 3 ff.   75 B. IV. 41; B. IV. 152.   76 NT. Apg. 3,21; zu Platon s. IV 5!   77 LH. 25, 200 f.   78 Platon, Theaitetos 153 C; Pherekydes VS. 7 B 2 aus Clemens Alexandrinus, Stromata VI 2,9.   79 Meinecke III 502: Platon, Staat 514A ff.   80 Goethe MR. 545; B. II 506.   81 7. September 1831, an Reinhard?   82 MR. 944; LH. 26, 343; B. III 344.   83 LH. 37, 38.   84 1. Mai 1801 an Unbekannt.   85 B. I 435; B. III 27; B. III 323.   86 LH. 32, 78; B. I 482.   87 LH. 28, 242..   88 B. III 75..   89 MR. 291.   90 C. XXI 571 f; B. III 254.   91 6. Juni 1825 an Zelter.   92 19. Oktober 1829 an Zelter.   93 B. IV 353.   94 7. März 1808 an Jacobi..   95 Hesiod WT. 11 ff; Heraklit VS. 22 B 53.   96 Acham 2003.   97 Goethe, 24. Mai 1828 an v. Müller.   98 LH. 53, 139; LH. 52, 29.   99 S. o. VIII 3c! 100 LH. 53, 135; LH. 26, 213. 101 B. III 254; LH. 6, 239. 102 B. III 247; LH. 53,88 ff. Das Bild vom Krankenlager verwendete schon Otto von Freising, s. o. V 7j! 103 LH. 52,84 ff. 104 LH. 6, 159; LH. 53, 76. 105 LH. 53,135 f. 106 LH. 53, 77; LH. 6, 99; B III 75. 107 Goethe, Wanderjahre III 13; LH. 23,187. 108 LH. 8,216. 109 Zum Begriff Paradigma s. XII b! 110 LH. 29,80; Plotin V 2 nach Heraklit VS. 22 B 50.



Kapitel IX

111 LH. 29,44 ff; 29,46. 112 27. März 1784 an Herder. 113 B. I 201; LH. 55, 136; LH. 31, 15 f. 114 LH. 52, 83 ff; LH. 52, 288 ff. 115 3. Mai 1827 an Buttel. 116 B. IV 53; LH. 53, 158. 117 B.IV 69; 337. 118 MR. 412; 432; LH. 22, 251. 119 MR. 434; 438; 1369. 120 LH. 22, 247; B. IV 196. 121 LH. 53, 158. 122 LH. 53,81 f. 123 28. August 1807 an Reinhard. 124 MR. 1244; B. III 36. 125 MR. 554. 126 S. u. XII 1! 127 Schopenhauer WWV. II 3,38. 128 Goethe LH. 22,246. 129 5. Dezember 1796 an Meyer. 130 2. April 1818 an Schubarth. 131 LH. 22,262. 132 B. IV 131; C. XV 402 f; Burckhardt WB. 1. 133 Goethe LH. 48, 165; 18. April 1796 an Meyer; LH. 35, 349. 134 B. I 471; B. III 257; B. I 148. 135 22. August 1817 an Knebel. 136 LH. 24, 71; C. VIII 953; LH. 24,7 f. 137 Platon, Apologie 27 C ff; Goethe LH. 49, 10, 138 B. IV 330; 338; B. IV 358. 139 LH. 48,176 ff. 140 S. o. VIII 3v! 141 B. I 475; B. I 401. 142 B. IV 41; B. II 44; B. I 401. 143 LH. 53, 166 ff. 144 LH. 37. 145 B. I 435; MR. 313; LH. 53, 74. 146 Meinecke III 538; Goethe LH. 53,77.

385

147 H.-J. Weitz, Goethe über die Deutschen, 1965. 148 LH. 33, 111; 15. Januar 1816 an Sack. 149 LH. 53,113. 150 LH. 53, 75. 151 B. II 396; LH. 3, 242; B. III 149. 152 Goethe, 28. August 1807 an Reinhard. 153 10. Mai 1812 an Jacobi.. 154 LH. 53, 67; 73; MR. 1382; LH. 53, 3. 155 NT. Joh. 14,2. 156 Goethe LH. 53, 74. 157 C. VIII 953. 158 B. IV 51; B. III 6; B. I 149. 159 19. November 1796 an Schiller. 160 B. I 443; Burckhardt WB. 274. 161 LH. 22, 262. 162 LH. 3, 289. 163 Faust S. 604, Paralipomena zu Faust I; Hintze III 364. 164 LH. 50, 28; Nietzsche I 209; B. III 148. 165 24. Mai 1828 an v. Müller. 166 B. III 258; C. XV 875; MR.762. 167 MR. 660; C. XVI 523. 168 Tacitus, Annalen II 88. 169 Obschon Goethe das einschlägige Standardwerk, Philipp Clüvers ›Germania antiqua‹ (1616) und natürlich den Tacitus sehr wohl kannte (Franz 66). 170 B. III 37; LH. 53, 79; MR. 167. 171 LH. 53, 161. 172 4. Februar 1811 an Sartorius. 173 Kant, Idee § 9. 174 LH. 53, 3; MR. 105. 175 Meinecke III 537. 176 MR. 495; LH. 5, 110.

386

Anmerkungen

Kapitel X   1   2   3   4   5   6

  7

  8   9 10

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Burckhardt WB. 15 f. Jordan in LGW. 2002, 171 ff. Nietzsche I 209 ff; III 479. Conte, Croce 70; 112; 116. Oncken 1922, 16. Meinecke III. Ausgeblendet bleibt im folgenden der Historismus in der literarischen Hermeneutik. Dazu: G. Scholtz (Hg.), Historismus am Ende des 20. Jahrhundert, 1997, 193 ff. Zur Person: Muhlack in: Ranke, Mächte 1995, 115 ff; Demandt, Ranke unter den Weltweisen (1996). In: ders., HM. I 253 ff. Hintze II 453 ff (1904); Christ 1972, 50 ff; W. Nippel, Johann Gustav Droysen, 2008, 219 ff. Hintze II 333. Die Vorlesung ist seit 1857 achtzehnmal gehalten worden, 1881 überarbeitet, aber erst 1937 durch seinen Enkel Rudolf Hübner nach dem Manuskript und studentischen Mitschriften herausgegeben worden. Als besonders wertvoll erwies sich die Mitschrift von Friedrich Meinecke. Zur Person: Meinecke VIII (Autobiographische Schriften). Meinecke VI 163; VIII 327. Meinecke, Sinn, 48. Hintze II 329; 342. Ranke, Epochen 17. Droysen, Historik 305 f; 346; 371; 373; 378. Ranke, Epochen 17; 141; Werke 53/54, 665 f. Ranke, Epochen 21; 32 ff. Droysen, Texte 59, von 1854. Droysen, Historik 301; 307 ff. Aristoteles, Über die Seele 417 b 7, Meinecke, Sinn 44. Ranke, Epochen 17; Birtsch 1976, 17; 20 f.

24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Hintze II 366 f; 373. Oncken 1922, 35; 71, Meinecke IV 202 f; 374. Ranke, Epochen 17; Conte, Croce 92, Oncken 1922, 5. Ranke, Epochen 57; 141. Ranke, Werke XV 103; ders., Geschichten S. VII. Meinecke, Sinn, 57; Isokrates, Helena 22; Croce 1915/30, 108; Terenz, Heauton timorumenos 25. NT. Mt. 5,45; Lukian, Historia 49; Tacitus, Annalen I 1. Meinecke IV 70 f; 78; 80 f; 376. Buckle, History 109 f. Ebd. 111 f; 118 f. Ebd. 117; 121 f. Droysen, Historik 386 ff. S. o. VI 6b! Birtsch 1976, 17. Hölderlin, Werke 1014; W. v. Humboldt I 56 ff. Humboldt I 56 ff. Ranke, Gespräch 30; 32; 39; 49. Ranke, Gespräch 33; 38; 43; Hegel Gph. 96 f; 44; Treitschke, Schriften I, 1. Ranke, Gespräch 24; 32; 35 f; Hegel Gph. 118. Ranke, Gespräch 48; ders., Epochen 43. Ranke, Gespräch 48. Droysen, Historik 382 f; Ranke, Gespräch 35. Meinecke, Sinn 23 ff; 31 ff; 36; ders. IV 87. Meinecke, Sinn 30 f; ders. V 83. Heine, Werke und Briefe V 1961, 377 f. Demandt, Ranke unter den Weltweisen (1996). In: ders., HM. I 264. K. Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff, 1972, 67; Demandt,



52 53 54 55 56 57 58

59 60 61 62 63 64

Kapitel XI

Ranke, in: ders., HM. I 265; Birtsch 1976, 37 f. Droysen, Historik 12 ff; 266; 415; Meinecke, Sinn 41. Droysen, Historik 207; 216 f; Birtsch 1976, 13. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen, 1833, Einleitung. Aristoteles, Politik 1284 a 10; Motto zu Droysen 1833. Droysen, Historik 243; 245; 251; 266; 384; 400 f. Ebd. 266 vgl. 241 f; 253; 258 ff; 401; Droysen, Alexander 25; 34. H. v. Sybel, Über den Stand der neueren deutschen Geschichtsschreibung. In: ders., Kleine historische Schriften I, 1880, 355; Droysen, Historik 287. Zu Goethe s. o!; zu Nietzsche s. u! Droysen, Historik 26; 329; Hitler, Kampf 124 vgl.120. Meinecke IV 257 Meinecke IV 227; ders., 1939, 11 ff. Meinecke IV 229; 231; 235. Meinecke IV 231.

387

65 Troeltsch 1924, 70; Hintze II 361 ff; W. J. Mommsen 1971,19. 66 Hintze II 373, 67 Weber WL. 489 ff; s. u. XII 3d.. 68 Meinecke IV 225; 232; 341. 69 Meinecke IV 231. 70 Hintze II 334; 367. 71 W. Mommsen 1971, 14. 72 Ebenso Troeltsch: Hintze II 365. 73 Meinecke, VI 611. 74 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 1964/1975, 228. 75 Engelberg 1972, 11 ff; 103 ff; 135 ff. 76 Zu Ranke s. o! Weber GPS. 171; Hintze II 327 ff; 372 f. 77 Meinecke IV 71; 93; 203; 370; VIII 337; ders., Sinn 20. 78 Meinecke VIII 442 ff. 79 Meinecke VIII 300. 80 Lucrez II 1 ff; Demandt, Metaphern, 1978, 184 f; Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, 1979. 81 Meinecke, Sinn 19; ders. IV 208 ff; VI 206. 82 Demandt, Apseudestat, 2006, 32.

Kapitel XI   1 Marx FS. 346.   2 MEW. 21, 293.   3 Demandt, Metaphern, 1978, 308 f; A. Wittkau-Horgby, Materialismus, 1998; W. Küttler in: LGW. 2002, 167 ff.   4 J. Trier, Holz. Etymologien aus dem Niederwald, 1952.   5 Sambursky 1965, 144 ff.   6 MEW. 20,24.   7 MEW. 13, 8 f.   8 Trotzki 1921, 51; Stalin 1947/51, 735.   9 MEW. 19, 108; 23,15; 791. 10 Marx FS. 357; 361; 365; 378; 382; 385; 389; 407 etc.

11 12 13 14 15 16 17 18 19

Demandt, Metaphern, 1978, 506. MEW. 8, 545; 9, 133; 23, 12. Schopenhauer I 596. Marx FS. 349; 354 f; 361 f; Trotzki 1921, 51; Fleischer 1969, 47; Bürger 1786/1959, 43. Polybios I 3,3 f; Bodin, Methodus 322. MEW. 9, 221. Marx FS. 356; 366; 379; 383; 391; 408. MEW. 17, 336; 551; 599; MEW. 27, 451 ff; MEW. 34, 374; FS. 368; 384. Marx FS. 374.

388

Anmerkungen

20 Ähnlich am 25. Januar 1894 an W. Borgius. 21 MEW. 20, 25 22 Marx FS. 349. 23 Plechanow 1898/1961. 24 MEW. 13, 640 f. 25 S. S. Prawer, Karl Marx and World Literature, 1976, 298. 26 Demandt, Metaphern, 1978, 356 ff. 27 MEW. 7, 85. 28 Burckhardt WB. 168; Marx, MEW. 23,16. 29 MEW. 4, 462; 20, 25. 30 Ramm , Frühsozialismus 69 ff 31 Trotzki 1921, 53. 32 MEW. 35, 166 f. 33 Engelberg 1972, 121 ff. 34 Mommsen, RG. III 510 f. 35 Ramm, Frühsozialismus 68 ff. 36 MEW. 13, 640. 37 Demandt, Fall, 1984, 229 f; 316 ff. 38 MEW. 19, 29. 39 MEW. 4, 493; 19, 28; Marx FS. 636. 40 MEW. 12, 3 f. 41 Trotzki 1921, 57 f. 42 Cicero, De republica II 40. 43 Marx FS. 537. 44 R. Michels, Die Verelendungstheorie, 1928. 45 MEW. 21,171; 23,16. 46 Trotzki 1921, 54 f. 47 Marx FS. 361; 531; 560. 48 MEW. 19, 21 u. 28; Marx FS. 361. 49 MEW. 20, 264; 24, 317. 50 MEW. 19, 21 u. 28. 51 H. Saint-Simon, De la réorganisation de la Société Européenne, 1814, 83. 52 Ramm, Frühsozialismus 66 ff. 53 MEGA. III 4, 33. 54 MEW. 21, 173. 55 Breysig 1927, 24. 56 MEW. 21, 266 ff. 57 J. Kuczynski, Der alte Gelehrte, 1989, 9.

58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Löwith (1949) 1953/83, 12. S. u. XVI 6! Benjamin 1977, 251. Nietzsche III 636. MEW. 21, 97; MEW. 23, 741. L. H. Morgan, Die Urgesellschaft, 1877/1908, 475. MEW. 20, 168 f; 262 f. MEW. 26, 1; 377; Goethe LH. 9, 230. MEW. 23, 619; Marx FS. 358 f. Marx FS. 362 f. Marx FS. 235; Fleischer 1969, 15. NT. Eph. 4, 18. Benjamin (1940) 1977, 253; 262. Marx FS. 539. Hitler, Kampf 129 MEW. 1, 391. S. o. VII 4j. S. o. V 7g; s. u. XVI 6d! G. Küenzlen, Der Neue Mensch 1994; Barbara Zehnpfennig in: ­Hildebrandt 2001, 81 ff. Trotzki 1921, 54. MEW. 13, 9; MEW. 19, 21. NT. Mk. 13, 8; Röm. 8, 21 ff. MEW. 23, 779. So mit Bedauern bei Fleischer 1969, 154. NT. Mt. 24,14; Augustinus ep. 198. Marx FS. 363. NT. Off. 20, 1–10. Marx FS. 388; MEW. 13, 629; Fetscher in: Stalin 1938/1956, 85. MEW. 23,16; 791. Marx FS. 338; MEW. 13, 619 f; 624 f. MEW. 20, 106. Fetscher in: Stalin 1938/56, 12. NT. Apg. 4,32–5,11. Ramm , Frühsozialismus 320 ff MEW. 1, 378 f. MEW. 21, 9; MEW. 22, 449. Goethe MR. 819.

95 96 97 98

389

Kapitel XII



AT. Jes. 65,17. Fleischer 1969, 150. MEW. 19, 18. A. Schmidt 1971.

  99 MEW. 37, 436. 100 MEW. 19, 112. 101 Marx, FS. 341. 102 Marx, FS. 208.

Kapitel XII   1 Marx FS. 342.   2 Nietzsche II 226 f.   3 Pseudo-Aristoteles, Rhetorik für Alexander 1429 a 21 ff.   4 Gregorovius, Kleine Schriften III 1892, 46; 54.   5 Christ 1972, 119 ff; W. Rehm, Jacob Burckhardt, 1930; K. Löwith, Jacob Burckhardt (1936), in: ders. VII 39 ff.   6 Unter diesem originalen Titel hat Peter Ganz 1982 die skizzenhaften Aufzeichnungen Burckhardts publiziert. Sie bestätigen die Sorgfalt, mit der Oeri einen lesbaren Text daraus hergestellt hat. Wesentliche Anregungen verdankt Burckhardt Ernst von Lasaulx, Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte, 1856.   7 Nietzsche 7. November 1870 an Carl von Gersdorff.   8 Burckhardt WB. 4; 6.   9 Schopenhauer WWV. II Kap. 38. 10 Hegel, Gph. 105 11 Burckhardt WB. 5; 256. 12 Burckhardt an Preen, 27. Dezember 1890. 13 Burckhardt WB. 14 ff; 212. 14 Ilias VI 358; Odyssee VIII 521 ff. 15 Burckhardt WB. 10 f. 16 WB. 6; 29. 17 WB. 127. 18 Hegel Gph. 76; Burckhardt WB. 211; 229; 241. 19 Burckhardt, Constantin, 348; 383.

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

WB. 159; 167. WB. 192 ff. WB. 168; 188. WB. 161. Burckhardt, Constantin 247 ff; ders., WB. 59, 159 f; 191. WB. 6 f. WB. 97; 263. Eunap fr. 46 Blockley; NT. Röm. 13,1. Burckhardt WB. 266 ff. WB. 161; 189. Thukydides III 70 ff; Burckhardt WB. 181. Hegel Gph. 78; 84 Burckhardt WB. 164; 267. Thukydides III 82,2; Burckhardt WB. 169; 191. WB. 172. WB. 257; 259; 266. Nietzsche II 301; 936; 1170. Ebd. 773; 866; 899. Ebd. 362. Nietzsche I 213; 215; 219. Platon, Staat 328 A. Nietzsche I 223; 225. Ebd. 227 f. Goethe, Faust I 1339 f. Nietzsche I 230; 823. Ebd. 232; Grimm KHM. Nr. 5. Nietzsche I 232 f; 240; 281. Ebd. 225 ff. Nietzsche I 245; 250 f; II 120; 503; 861. Nietzsche I 251. Ebd. 265; 272 f; Horaz, Oden I 12,37 f.

390

Anmerkungen

51 Nietzsche I 270 ff. 52 Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert I, 1879/86, 28. 53 Nietzsche I 251; 315; II 225. 54 I 257; II 360. 55 I 276 f; 284; II 284. 56 I 21; II 1028. 57 II 1229; Horaz, Oden III 30,1. 58 Nietzsche II 622 ff; 1161 ff. 59 Demandt, Fall, 1984, 248 f 60 Insbesondere gegen seinen Schwager Dr. Bernhard Förster und dessen „Antisemiten-Unternehmung“, 20. Mai 1887 an Peter Gast. M. Ferrari Zumbini, Untergänge und Morgenröten. Nietzsche, Spengler, Antisemitismus, 1999. 61 Nietzsche II 786; 884; 926. 62 S. o. VIII 3d!. 63 Nietzsche III 634; Diogenes Laertius VI 20 f. 64 Nietzsche II 168; 730 ff. 65 II 903; 1071; III 1322. 66 III 806 ff; 661. 67 III 725; 774 f. 68 II 955 f; 1121. 69 II 284; 1019; III 809. 70 S. o. VII 6g! 71 I 40. 72 II 360; 661; 889; 1165; III 759. 73 Simmel 1907, 253. 74 Lukian, Kataplous 16. 75 Grimm, Deutsches Wörterbuch, s. v. 76 S. o. V 7g!. 77 Nietzsche WM. 1067. 78 Nietzsche II 729; 1165 79 Percy Ernst Schramm in: Picker 1963, 82. 80 Nietzsche I 314; II 205; UW. II 444. 81 II 340; 443; 445; 963. 82 II 409; 466 f; 1032. 83 III 662; 912; UW. II 463 ff. 84 I 380. 85 S. o. IV 5l! 86 S. o. IV 5k!

  87 III 916; UW. II 467; 475.   88 II 202; UW. II 472.   89 S. o. IV 5k!   90 S. o. IVa!   91 Simmel 1907, 250 ff.   92 Nietzsche II 690; 939; 1172.   93 H.-P. Müller, Max Weber, 2007.   94 Max Weber WL. 180; 184; 214.   95 W. J. Mommsen, Universalgeschichtliches und politisches Denken bei Max Weber. In: HZ. 201, 1965, 557 ff; Abramowski 1966; Kocka 1986.   96 Weber WL. 234 f. Dazu Breysig 1927, 24 ff.   97 Weber WL. 266 ff; Conte, Croce 81 f; Meinecke IV 261.   98 Demandt, Ungeschichte 1984/2011.   99 Max Weber, WL. 146 ff; 215 ff; 484 ff. 100 WL. 141; 495; 507; GPS. 141. 101 WL. 481 ff. 102 WL. 180; 259. 103 SWP. 275. 104 SWP. 103; 317; 338; 416; 462; 472; 481. 105 SWP. 357 ff; 370. 106 AT. 1. Mose 3,17 ff; NT. 2. Thess. 3,10. 107 NT. Mt. 6,19; 19,24; 25,14 ff. 108 Max Weber SWA. 378. 109 WL. 146 ff; 191 ff. 110 WL. 191; 200. 111 SWA. 328; 335; 371; 729. 112 SWP. 725. 113 GPS. 321; SWP. 56 ff; 380. 114 Tocqueville (1835) 1954, 100. 115 W. Mommsen in Kocka 1986, 61; 65. 116 Ed. Meyer, Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums (1895), in: Ders., Kleine Schriften I 1924, 159. 117 Max Weber SWA. 102; 126 f; 724 f. 118 Stern 1956/66, 39 ff. 119 Goethe LH. 50,44.



Kapitel XIII

391

Kapitel XIII   1 Kuhn 1988, 188 ff.   2 Ilias VI 145 ff; Livius II 32,9–12,   3 Platon, Staat 546 A; Polybios VI 51,4; Sallust, Jugurtha II 3.   4 Seneca ep. 71,12 ff; Lactanz DI. VII 15, 14 ff.   5 Seneca NQ. II 30,5.   6 S. o. V 6b!   7 Ramm, Frühsozialismus 69.   8 S. o. X 3!   9 Leo, Naturlehre 121 ff; 166. 10 Demandt, Metaphern, 1978, 252 ff. S. o. VI 6! 11 Schoeps 1953. 12 Vollgraff I–IV 1828/29. 13 Platon, Gesetze 747 c. 14 Frobenius, Paideuma, 1921/1953, 9; 12. 15 Christ 1972, 286 ff; Calder/Demandt 1990. 16 H. Schneider, Die Bücher-MeyerKontroverse, in: Calder/Demandt 1990, 417 ff. 17 Ed. Meyer, Kleine Schriften I 157 18 Ed. Meyer, GdA. IV 2, 150 ff. 19 A. Demandt, Hellenismus – die mo­­ derne Zeit des Altertums? In: B. Funck (Hg.), Hellenismus, 1996, 17 ff. 20 Ed. Meyer, Hellenismus 60. 21 Heraklit VS. 22 A 22; Ilias XVIII 107. 22 Orosius IV 23,10. 23 Horaz, Briefe I 12,19; Manilius I 142. 24 Mommsen RA. 106; 142; anders 322. 25 Ed. Schwartz, Gesammelte Schriften I 1938/63, 173 ff. 26 Ed. Meyer, Staat 97. 27 Max Weber SWA. 99 ff. 28 Ed. Meyer, GdA. I 1, 83; zu Ibn Khaldun s. o. VI 1ce! 29 Ed. Meyer, GdA. I 1, 182 f 30 E. Gibbon, Memoirs of My Life 1796/1966, 6; 136.

31 Lamprecht, Einführung in das historische Denken, 1912. 32 Koktanek 29 ff. 33 Spengler an Misch 5. Januar 1919; Janensch 2006. 34 Frobenius, Paideuma 15. 35 Spengler FW. X. 36 Spengler MT. 14 ff; 26. 37 Kant, Idee § 7. 38 Nietzsche I 233. 39 Spengler 5. Januar 1919 an Misch; ders., UA. I 143; II 43. 40 Spengler UA. I 20 ff. 41 Spengler UA. I 5. 42 Spengler UA. II 583 ff ›Das Geld‹. 43 Plinius NH. XXXV 115. 44 Juvenal X 81. 45 Spengler UA. II 61. 46 Spengler JdE. XI 47 Ebd. 147 ff; RA. 292 f. 48 Ebd. 158 f. 49 Spengler RA. 135 ff. 50 Spengler UA. I 35. 51 Ebd. I 142. 52 Ebd. II 51. 53 Ebd. I 147. 54 Spengler PS. 24 (von 1924). 55 Spengler JdE. 153. 56 Spengler 5. Januar 1919 an Misch. 57 Spengler, Urfragen 31; 34. 58 Spengler UA. I 9. 59 Ebd. I 78 ff. 60 Nietzsche I 140. 61 Bienefeld 1996. 62 Spengler UA. II 227. 63 Demandt, Spengler und die Spät­ antike, in: Ludz 1980, 25 ff. 64 Spengler UA. I 128 ff. 65 Ebd. I 136; 140. 66 Spengler, Urfragen 119; JdE. 63. 67 Spengler UA. I 201 f. 68 Ebd. I 6; 65; Frobenius, Paideuma 9. 69 Ebd. I 28.

392 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

Anmerkungen

Spengler FW. 123; ders. JdE. 157. Spengler UA. II 155. Ebd. II 60. Ebd. I 143. Ebd. I 54; 58. Spengler RA. 136; PS. 127. Koktanek 1968, 447 f; Felken 1988, 219 ff. Th. Mann Briefe 1889–1936, 1961, 202 f. Brief vom 5. Dezember 1922 an Ida Boy-Ed. Seine Weltkriegsschriften enthalten Greuelpropaganda gegen Deutschland. Toynbee, Study VI 157; Anderle 1955, 48. Zu den ersten neun Zivilisationen: Werner 1955. Anderle 1955. Huntington 1996, 45. Spengler FW. 44. Gedacht ist hier an die Überläufer zu den Westgoten nach 376; wahrscheinlich handelte es sich um ger-

manische Zwangsarbeiter. Demandt, Spätantike, 2007, 151.   85 Demandt, Fall, 1984, 460.   86 Toynbee; Gang II 263 ff.   87 Bei Actium hätte Antonius siegen müssen: Spengler UA. II 230.   88 Toynbee, Study IV 35; IX 296; ders., Scheideweg 243.   89 Anderle 1955, 439 f.   90 Toynbee, Scheideweg, 246 ff.   91 Ebd. 243; 259 ff.   92 Toynbee, Study VI 321; ders., Scheideweg 266 ff.   93 Anderle 1955, 104; 113; 387; 445.   94 Karl Heim bei Wolf Goetze in Reusch: 1938, 50.   95 Schröter 1949, 17 ff.   96 Benn I 281.   97 Weizsäcker 1948/54, 107.   98 Spengler UA. II 52.   99 Kant I 219; V 685; Schopenhauer IV 253. 100 Seneca ep. 107,9: 11; SVF. I S. 119.

Kapitel XIV 1 2 3

4 5 6 7

S. o. VII 5 f! S. o. VIII ! Annales. Economies, Sociétés, Civilisations 24, 1969. Numéro spécial : Histoire biologique et société; Mann, Biologismus, 1973 ; Demandt, Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert (1982/83). In: ders., HM. I 81 ff; ders., Biologistische Dekadenz- theorien (1985). In: ders., HM. II 66 ff. Findeisen 1956. Polybios XV 20,3. Theognis I 183 ff ; Platon, Politeia 459 A; Plutarch, Lykurg 15. Strabon XIV 2, 28; Ilias II 867.

  8 Herodot IV 76 f; Cicero, Tuskulanen V 90.   9 Platon, Staat 469 f; Aristoteles, Problemata 14; ders., Politik I 1,5; VII 6,1. 10 Prudentius, Contra Symmachum II 816; Gregor von Nazianz or. IV 50; Augustinus CD. I 20. 11 Gobineau, Essai 210 f; 861 f. 12 Mann 1975, 285. 13 AT. 1. Mose 10. 14 Cassirer 1949, 317. 15 Mann 1975, 76. 16 W. Preyer, Darwin. Sein Leben und Wirken, 1896; Loewenstein, 2009, 303 ff. 17 Kant II 251 ff.



Kapitel XIV

18 VS. 12 A 10 f; 30. 19 J. B. Robinet, De la nature, 1761/63; zu Herder s. o! 20 Kant I 254. 21 Darwin 1860/1893, 35. 22 S. K. Padover (Hg.), Karl Marx in seinen Briefen, 1981, 182. 23 A. Wittkau-Horby in: LGW. 2002, 88 ff. 24 Cicero, De finibus I 25; ders., De divinatione I 127. 25 W. Kaplan, Organismenvielfalt und unser Weltbild. In: Naturwissenschaftliche Rundschau 42, 1989, 354 ff. Wolters in: Burgen 1997, 211 spricht von „nur“ 95 % ausgestorbenen unter den bekannten Arten. 26 Darwin 1860/1893, 159. 27 Lorenz 1983, 63 f. 28 Nietzsche II 1174. 29 Kant, Idee § 1. 30 Lorenz 1983, 28. 31 Ich übernehme den Begriff von Christian Vogel, der die Weitergabe von Information auf dem biologischen Erbweg als „biogenetisch“ und die Vermittlung auf mündlichem oder schriftlichem Wege, d. h. durch Tradition und Erziehung als „tradigenetisch“ bezeichnete. 32 Vogel in seiner Einleitung zu ­Darwins Abstammungsbuch 1871/1982. 33 S. o. II 4! 34 Nietzsche II 1167 f. 35 Zu Theognis s. o! Darwin 1871/1982, 292. 36 Darwin 1871/1982, 188. 37 F. Galton, Inquiries into Human Faculty, 1883. Die Colliers Encyclopedia 1971, IX p. 385 meldet für 1960 insgesamt 62162 Sterilisierungen von Geistesschwachen in den USA. 38 Monod 1970/1982, 143 ff.

393

39 Wolters in: Burgen 1997, 203. ­Darwins British bulldog war T. H. Huxley. 40 E. Haeckel, Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, 1892/1922. 41 Seneca NQ. II 45,3; Plinius NH. II 27; Haeckel 1879/98, 153; Demandt, Fall, 1984, 371 ff. 42 Eine Rückzugsposition des Lamarckismus wäre die Annahme, daß Gewohnheitsänderungen genetische Dispositionen voraussetzen, die sich durchaus vererben können. 43 Bernheim 1889/1903, 667 ff. 44 Chamberlain, Grundlagen 25; 122; 266. 45 Ebd. 10. 46 Ebd. XIII; 9. 47 Ebd. 10; 43; 260. 48 MEW. 21, 145; Chamberlain 139 ff; 263. 49 Ebd. 296. 50 Ebd. 42; 44; 190. 51 J.W.Hauer, Ein arischer Christus?, 1939; K. A. Eckhardt, Die Herkunft des Messias, AKuG 31, 1942, 257 ff. 52 Chamberlain 17; 219 f; 324. 53 NT, 1. Thess. 2,15. 54 Chamberlain 265; 278; 282; 284; 289. 55 Ebd. 19. 56 MEW. 6, 273 ff; MEW. 8, 544; MEW. 35, 279; 282. 57 Chamberlain 17 f. 58 Demandt, Fall, 1984, 368 ff. 59 Bertrand Russell, Ehe und Moral, 1929, 176 ff. Er empfahl, lediglich Geisteskranke zu sterilisieren. 60 Kessler, Walther Rathenau, 1928, 43; Rathenau, Reflexionen 1908, 237 ff. Die Germanen als Kulturbringer der Menschheit auch bei Breysig 1927, 18 ff.

394 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

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Anmerkungen

Hitler, Tischgespräche 3. März 1942 Hitler, Mein Kampf 296; 312 f. Ebd. 315 ff. Padover, Marx 1981, 67; Engels, MEW. 20, 168. Hitler, Mein Kampf 323 f Ebd. 329 ff Picker 152 f. Speer, Erinnerungen 446; Hitler, Mein Kampf 105. Diese und andere Texte bieten Freuds ›Kulturhistorische Schriften‹ von 1986. Freud, Schriften 17; 226; 249; 285; 515. Ebd. 152; 185; 228; 265 f; 440; 528; 547; 565; 571; 574 f. Ebd. 114; 425. Ebd. 52; 56 f; 115 f; 126; 243. „Männchen“ wäre hier wohl unangemessen. Freud, Schriften 426; am 1. April? Ebd. 53; 114; 257 ff; 426 f; 438; 529 ff; 578. Ebd. 428; 530 ff, 560. Mühlmann, Ethnologie 1964, 215 ff. Freud, Schriften 126; 233; 428; 439; 530. Ebd. 126; 176; 267; 425. Ebd. 455 ff; 532; 534; 579. „Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse darf man ablehnen“, Freud, Schriften 251. Ebd. 177; 206; 213; 249; 504; 521. Ebd. 182; 222. Ebd. 275 ff. Ebd. 250; 263; 282; 286. Ebd. 140 ff; 182; 208; 212; 240 f; 248; 267; 270; 284. Platon, Protagoras 337 D. Freud, Schriften 42 ff; 140; 231; 559. z. B. der Psychoanalyse. Freud, Schriften 147; 207; 212; 237. Herder, Ideen I 147.

  93 Schiller 1795, 15. Brief; Huizinga, Homo ludens 1938.   94 Freud Schriften 372; 378.   95 Ebd. 214; 363; 452.   96 Ebd. 269; 363.   97 Ebd. 44; 264; 285.   98 Ebd. 262; 547.   99 AT. 2. Mose 20,5; 4. Mose 14,18; 5. Mose 5,9. 100 NT. Röm. 5,12 ff. 101 Freud, Schriften, 177 f. 102 Meinecke VIII 321 ff. 103 Kritische Hinweise verdanke ich langen Gesprächen mit Norbert Bischof in Bernried. 104 Lorenz 1973/83, 87; 1973, 238. 105 Lorenz 1973, 258; 329; 1963, 37; 236; 1983, 35 ff. 106 Lorenz 1963, 318; 320; 1967, 388; 1973, 44 f; 50 (Fortschritt); 256 f; 1973/83, 14; 1983, 42. 107 Lorenz 1983, 25. 108 Popper, Historizismus, 1965. 109 S. o. VII 6! 110 Lorenz 1983, 14 f. 111 Ebd. 67. 112 Lorenz 1973, 236 f; 257. 113 Herder, Ideen I 75. 114 Seneca NQ. I 1,6. 115 Lorenz 1965, 15; 69. 116 Lorenz 1983, 282. 117 Lorenz 1973, 252; 1974/1978, 335; 1963, 114. 118 Lorenz 1963, 111; 114. 119 Lorenz 1973, 235; 1976/1982, 96. 120 Lorenz 1967, 385 f. 121 Lorenz 1940, 75; 1973/1983, 8; 58; 94; Demandt, Reinheit, 2010. 122 Lorenz 1973/83, 94. 123 Lorenz 1963, 38; 64 f; 236; 1983, 79. 124 Lorenz 1973, 258. 125 Lorenz 1963/65, 20; 1973, 257. 126 Die Formel ist nicht belegt; sinn­ gemäß: Plutarch, Cato maior 27,3; ­Plinius NH. XV 74.



Kapitel XIV

127 Diodor XXXIV 33; Orosius IV 23,10. 128 Demandt, Biologistische Dekadenztheorien (1985). In: ders., HM. II 66 ff. 129 Lorenz 1973, 273; 321. 130 Lorenz 1963, 62 f; 236; 1983, 28. 131 Lorenz 1963, 77; 1973/83, 8; 20; 1983, 143 ff; 258. 132 Vgl. Lorenz 1963, 160. 133 Lorenz 1963, 64 f; 77; 236 f, 350. 134 Lorenz 1973/83, 12; 44; 49. 135 Lorenz 1940, 52 ff. 136 Lorenz 1973/83, 44. 137 Lorenz 1973, 209 f; 1963, 342. 138 Lorenz 1963, 345; 1973, 229 ff; 1973/83, 51 ff. 139 Lorenz 1973, 230. 140 Nietzsche III 742. 141 Freud, Schriften 285. 142 Lorenz 1940; Bischof 1993, 35. 143 Lorenz 1973/ 1983, 44; 1974/1978, 352 f. 144 Lorenz 1983, 55. 145 Lorenz 1963, 47. 146 Lorenz 1963, 47; 63; 236; 227; 340; 344; 1973/83, 33. 147 Lorenz 1963, 62; 1973, 256. 148 Lorenz 1940, 62; Spengler RA. 136. 149 Lorenz 1963, 344; 351. 150 Lorenz 1983, 52. 151 Lorenz 1973, 257 f; 1973/83, 21; 30; 63; 105. 152 Lorenz 1973, 14; 305. 153 Eibl-Eibesfeldt 1976. 154 Lorenz 1963, 63; 236; 340; 1973/1883, 66. 155 Demandt, Fall, 1984. 156 Bischof 1993, 36. 157 Lorenz 1973, 255; 258; 320 f; 1983, 55. 158 Die These, daß täglich zwanzig bis fünfzig Arten ausgerottet würden, steht methodisch auf schwachen Beinen. Wer hat das weltweit beobachtet?

395

159 A. Weismann, Über den Rückschritt in der Natur, 1887. 160 Lorenz 1963, 322 ff. 161 Lorenz 1963, 323; 327; Demandt, Endzeit, 1993, 207. 162 Huxley, Brave New World, 1932. 163 Bischof 1993, 36. 164 Seneca NQ. III 30,7 f; s. o. Kap. IV 6! 165 P. E. Schramm bei Picker 1963, 79. 166 Dilthey/Yorck 3. 167 Herder, Ideen I 179; Humboldt, Kosmos I 1845, 385. 168 „Der Unterschied zwischen Natur und Geschichte ... ist heute eine Sache der Vergangenheit“, so Hannah Arendt, Natur und Geschichte. In: dieselbe, Fragwürdige Traditionsbestände 1957, 47 ff, 69. 169 Lübbe 1977, 90 ff. 170 S. o. VI 6b! 171 Lorenz 1973, 29 f; 1963, 111. 172 Lorenz 1973, 255; Demandt, Reinheit 2010. 173 Hesiod WT. 24 ff. 174 A. Gehlen, Anthropologische Forschung, 1961, 58 f. 175 Cicero, Tuskulanen II 13; Ilias XXIV. 176 AT. 1. Mose 3,22. 177 Commune animalium omnium secundum naturam vivere, Cicero, De finibus V 26. 178 Lorenz 1973, 238. 179 Haeckel 1904/1924, 482. 180 Cicero, De natura deorum II 29. 181 Platon, Gesetze 645 A; Zenon SVF. I 39; Lactanz DI. V 17. 182 Lorenz 1973, 17. 183 K. Vorländer, Immanuel Kants Leben, 1921, 208; Demandt, Dekadenztheorien (1985),in: ders., HM. II 2002, 97. 184 Lorenz 1973/83, 100. 185 Bürger, Münchhausen 43.

396

Anmerkungen

186 Nietzsche I 263. 187 Bion fr. 29; W. Nestle, Die Sokratiker, 1922, 119. 188 Kant I 269 ff; Burckhardt WB. 24 f: „Die Geschichte ist etwas anderes als die Natur“; K. Marx FS. 275: „Der Mensch ist nicht nur Naturwesen.“

189 Lorenz 1963, 345. 190 Justinus Martyr, Apologie 29,1 ff, zitiert um 160 n. Chr. ein römisches Gesetz, wonach Ärzte den Wunsch nach religiös motivierter Kastration nur mit Genehmigung des Statthalters erfüllen durften.

Kapitel XV   1 Cicero, De finibus IV 16 ; V 26; Seneca NQ. III 27,2.   2 Augustinus CD. 22,30.   3 NT. Offb. 10,6.   4 Berdjajew 1923/25, 250   5 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I 1956/80, 276 ff.   6 Freyer, Die Vollendbarkeit der Ge­­ schichte. In: Ders., 1955, 62 ff; A. Geh- len, Ende der Geschichte? In: Ders., Einblicke, 1975, 115 ff; Niethammer 1989; Demandt, Endzeit, 1993.   7 Gaiser 1961, 21.   8 NT. Mk. 1,15.   9 L. Heidbrink, Vom Ende der Kunst zur historischen Verantwortung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45, 1997, 745 ff. 10 Maurer 1980. 11 Hegel Gph. 588. 12 Tocqueville, Gleichheit 98. 13 S. o. XIV 1c! 14 Das von deutschen Übersetzern verwendete Neutrum „das“ posthistoire schmerzt jeden, der historia und l’histoire als Femininum in Erinnerung hat. 15 Cournot 1861/1911; Anderson 1993, 32 ff. 16 Engels 2008. 17 E. Jünger, Der Arbeiter, 1932/82, 78 ff; 95; ders., An der Zeitmauer 1959, 96, 111; 182; 258. 18 Juvenal IV 77 ff.

19 Jünger, Eumeswil 80; 203; 382. 20 E. Jünger, Gestaltwandel. In: Die Zeit, Nr. 29, 16. Juli 1993, S. 36. 21 Benn, Ptolemäer, 131 ff. 22 Odyssee IX 82; Apollodor, Epitome 7,3. 23 Huizinga, Schatten 175 ff; ders., Zeitkritik 124; 136 f; 278. 24 De Man 1951, 125 f; 175; 180 ff. 25 Gehlen, Urmensch und Spätkultur 1956; ders., Über kulturelle Kristallisation, 1963. 26 Anders, Antiquiertheit 1980, 271 ff. 27 Lukian, Der Lügenfreund (Philospseudes) 35 f. 28 Guardini, Ende 91; 94; 98. 29 Thema der Dissertation war ›Die Geschichtsphilosophie Wladimir Solowjews‹, 1930, und umfaßte 20 Seiten. 30 Kojève 1947/57; Anderson 1993, 57 ff. 31 J. Baudrillard, Die Revolution und das Ende der Utopie. In: Kursbuch 23, 1989, 21 ff; ders., 1990 und 1993. 32 De Man 1952, 88 33 Vondung 1988, 501. 34 Baudrillard 1990, 27. 35 Fukuyama, The End of History? In: The National Interest 16, 1989, 3 ff. 36 Martin Meyer 1993; Burns 1994. J. Farrenkopf, Francis Fukuyama’s Political Idealism. In: Australian Journal of International Affairs 49, 1995, 69 ff; Maurer 2003.



37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Kapitel XVI

Fukuyama 1992, 16. S. o. VII 6b! Fukuyama 1992, 371 ff; 440; 443. Burns 1994. Anderson 1993, 102. Fukuyama 1992, 93; Nietzsche I 267. Nach dem Titel des Musicals von Cole Porter von 1934. Nietzsche II 889. Horkheimer/Adorno 1986, 236. NT. Gal. 4,4; Eph. 1,10. Augustinus, De doctrina Christiana II 63; 105. Yorck an Dilthey 4. Dezember 1887. Bernheim/Stavrides 122 f. Demandt, Geschichtslosigkeit (1997). In: Ders. HM. II, 190 ff. Hegel Gph. 83. Ilias II 101 ff; IX 96 ff. Spengler UA. II 58 ff; 416. Mommsen, Römische Kaisergeschichte (1879 ff), 2005, 58 f; 235; ders. am 4. Februar 1884 an Wilamowitz. Livius IV 7,1; Vergil, Aeneis VII 601 f. S. o. I 6h! Burckhardt WB. 168. Carl Ritter, Einleitung zur allgemeinen vergleichenden Geographie 1852, 226; Ed. Meyer GdA. I, 192.

59 60 61 62 63 64 65 66

67 68 69 70 71

72 73

397 Spengler UA. II 61; 224. Synesios ep. 148. Ulrich Bräker 1789. Hegel 1822/1961, 109 ff. Spengler UA. II 58 ff. Spengler UA. II 57. Tacitus, Germania 33. Demandt, Endzeit, 1993, 155 ff; ders., Geschichtslosigkeit (1997), in: ders., HM. II 190 ff; Nolte, 1998, 597 ff. So seine These in Foreign Affairs und sein Buch von 1996. Foucault 1977, 178. Kant II 421. Horkheimer/Adorno 236. Jaspers UZ. 1949, 260 ff; ders., Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 1957; Anders, Antiquiertheit I 1956/79, 233 ff; C. F. v. Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, 1957; ders, Mit der Bombe leben, 1958; ders., Wege in der Gefahr, 1976. Demandt, Weltgeschichte, 2004, 339 ff. Seneca NQ. III 27,5; Pascal, Pensées 347.

Kapitel XVI 1 2 3 4 5

6

Vgl. Anatole France, Oeuvres II 1987, 301 f. S. o. I 7i! VS. 22 B 40 f; Athenaios 610 B. Strabon II 5,1 Ein Exemplar befindet sich in der Bibliothek der Humboldt-Univer­ sität Berlin, Signatur 2006 A 217, bis zum 16. Juli 2011 ungelesen. So die Ohren des falschen Smerdis bei Herodot (S. 39) und Alexander in Jerusalem bei Josephus (S. 216 ff).

7

8 9

So im Fragment Sur l’historie générale von 1773. Voltaire, Essai, 1990,II 951. David Friedrich Strauß spricht 1870 in seinem vierten Vortrag über Voltaire von einer Abhandlung über die Philosophie der Geschichte für Madame de Châtelet aus der Zeit um 1740. Gibt es den Text? So aber Marquard 1973, 15. So aber H. Lübbe, Geschichtsphilosophie, 23.

398

Anmerkungen

10 Croce 1915/30, 275; 278 f. 11 Wittgenstein, Bemerkungen 41 (1931), zur Sprache. 12 Cioran, Über das reaktionäre ­Denken, 1957/90, 68. Ähnlich ­defätistische Ansichten finden sich bei Donoso Cortes, Henry Ford, Theodor Lessing, Karlheinz Deschner u. a. 13 Droysen, Historik 13. 14 Marquard 1973, 67. 15 M. Heidegger, Sein und Zeit, 1929/86, 395. 16 K. Lorenz, Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis (1959), 1963. 17 E. Gibbon, Essai sur l‘étude de la littérature (1761). In : Ders., Miscellaneous Works, 2. ed., 1814 IV, sec. XLVIII. Gibbon benutzte die Eloge auf den Marquis Dangeau von Fontenelle, nachzulesen im 6. Band der Nouvelle Édition seiner Werke, Paris 1766, 106 ff. 18 Aristoteles, Poetik 1451 b 5. 19 Schopenhauer WWV. §14; § 51. 20 So am 22. August 1896. Dilthey hat sein Verdikt aus dem Entwurf für Überweg/Heinze III, 8. Auflage 277 f revidiert; und schon am 5. November schreibt er ganz ­unbefangen von „Philosophie der Geschichte.“ Dilthey/Yorck 223; 226; 251. 21 Fichte 9. Vorlesung. 22 Julian or. VIII 244 BC. 23 S. o. V 5g! 24 Luther, WA. 50, 383; ders., Schriften, 1927, 184. 25 Cicero, De oratore II 36. 26 Benjamin 1977, 258. 27 Th. Carlyle, Heldentum und Macht, 1935, XXIV. 28 Schopenhauer bei Nietzsche I 270. 29 Spengler UA. I 28.

30 S. o.; Friedrich d. Gr. an Maria Antonia, 15. März 1775; Kissinger in: Der Spiegel 1974, 43, S. 120. 31 C. F. v. Weizsäcker, Der Aufbau der Physik, 1985. 32 Theognis I 911 f 33 Demandt, Ungeschichte, 1984/2011. 34 Ilias VIII 69 ff; XXII 209 ff; Demandt, Metaphern, 1978, 302. 35 Nonnos XII 30 ff. 36 Bürger 1786/1959, 20. 37 AT. (Deutero) Jesaja 55,8; Augustinus, Enchiridion 100. 38 Ausonius, Epigrammata 10; alias Ausonius XIX 3. 39 Leibniz, Theodizee I 10. 40 Schiller IX 241. 41 Kant I 531 f. 42 Fichte, 11. Vorlesung. 43 Droysen, Historik 179; ders., Texte 36. 44 Engels an J. Bloch am 22. September 1890. 45 Meinecke IV 80. 46 Th. Lessing 1930, 354. 47 Nietzsche I 21. 48 Mommsen RG. II (1857) 1908, 452; ders., RA. 132. 49 Treitschke 1861/1917, 28. 50 Freud, Schriften 246 f. 51 C. Schmitt 1927, 10 ff; ders., Land und Meer, 1942/81. 52 Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 1929/1972, 69. 53 Meinecke, Werke VI 1962, 348. 54 Lorenz 1973, 238. 55 Weber WL. 602. 56 J. Ritter, Fortschritt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie II 1971, 1032 ff; R. Koselleck, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe II 1975, 351 ff; Demandt, Fortschritt, in: LGW. 2002, 94 ff. 57 Mommsen RA.121



58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

74 75

76 77 78 79

Kapitel XVI

Ebd. 20. Ilias XVIII 501; XXIII 486. Jaspers UZ. 335. Hölderlin, Werke 235. Thukydides III 82,8. G. W. Allport 1937 in: H. Thomae (Hg.), Die Motivation menschlichen Handelns, 1965, 26; 494. Demandt, Alexander der Große, 2009, 250 ff. Xenophanes, Kritias, Diagoras, Theodoros, Euhemeros, Epikur, Lukian. Bernheim/Stavrides 1992. VS. Bd. I S. 469. Burckhardt WB. 66; 256. Kant 1784 § 6 und 7. Plutarch, Moralia 175 A; 552 A; Porphyrios, De abstinentia II 56. Plinius NH. XXX 12; Paulus, ­Sentenzen V 23,16. E. Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, 2009. R. Eucken, Lebenserinnerungen 1922, 105 ff; 117; Meinecke IV 200 (1942); Horkheimer/Adorno, Dialektik, 1944; Stern 1956/666, 26; Löwith II 393 ff (1963); Ph. Ariès, L’histoire des mentalités. In: J. Le Goff (ed.), La nouvelle histoire, 1978, 402 ff; R. Spaemann, Philosophische Essays, 1983, 130 ff; generell: Bollenbeck 2007;Loewenstein 2009. Demandt, Sternstunden, 2000, 266 ff. Herman 1997; Demandt, Dekadenz in LGW. 2002, 54 ff; ders., Dekadenz als Mythos, Modell und Metapher. In: Kein Wille zur Macht. Dekadenz. Merkur 700, 2007 (Sonderheft), 709 ff. Demandt, Spätantike, 2007, 586 f. Demandt, Fall, 1984. Demandt, Neuerungen, 2008. Cicero, Tuskulanen I 80.

399

80 Ludwig Marcuse, Pessimismus – ein Stadium der Reife, 1953. 81 Spengler JdE. 88; Herman 1997. 82 Lessing, Die verfluchte Kultur, 1921/1981, 52. 83 Th. Lessing 1924, 455 ff. 84 L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele I, 1929. 85 R. Korherr, Geburtenrückgang, 1927; Ph. Ariès, Plädoyer für das dekadente Europa, 1977/78; Bollenbeck 2007. 86 Horkheimer/Adorno 1986, 236. 87 VS. 68 A 21. 88 Gaspar Bruschius erwartete 1553 das Weltende 1588. Demandt, Fall, 1984, 82. 89 AT. Prediger 1,9 f; Heraklit VS. 22 A 6. 90 Meinecke IV 219; 221; s. o! 91 Dilthey (1883) 1966, 100; Berdjajew 1923/25, 255 f; Meinecke IV 213; Löwith WH. 215 u. a. 92 Löwith WH. 452; Kamlah 1969, 58 ff; Koselleck 2000, 177 ff. 93 Kant, V 262 f; Erdmann, Reflexionen Kants 1882, I 213. 94 Schiller IX 244. 95 Böhlig, Gnosis 183. 96 S. o. V 7g! 97 Marx, Speech at the Anniversary of the People’s Paper, in Marx/Engels, On Britain, Moskau 1953, 446 f; Kon II 272; Löwith WH. 46; Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart 909; ders., Der Sinn und Wert des Lebens, 1913, 86; 159. 98 Löwith WH. 46; G. Küenzlen, Der neue Mensch, 1994; B. Zehnpfennig, Der Neue Mensch, in: Hildebrandt 2001, 81 ff; H. Kessler, Tagebücher 1918 bis 1937, 1961, 352; E. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders., Werke V (1960), 77; ders., Der Arbeiter 1932/82, 79; Hitler, Mein Kampf, 312.

400

Anmerkungen

  99 Horkheimer/Adorno 1986, 235. 100 Jaspers UZ. 46. 101 Schmitt 1970, 125 f. 102 Anders, Antiquiertheit 1980; 286 ff. 103 S. o. XIV 5q! 104 Anderson 1993, 99. 105 Anderle 1956, 176 f. 106 Varro bei Censorinus 21,1. 107 Marc Aurel VII 1 108 Demandt, Spätantike, 2007, 585 109 Schiller, 24. Brief über die ästhetische Erziehung. 110 S. o. VII 5g! 111 Anderson 1993, 41 f. 112 Gehlen 1949; ders. 1957, 87 ff; 93. 113 Jaspers UZ. 98. 114 Jean Paul, Über die Wüste und das gelobte Land des Menschensohnes, 1795; Demandt, Endzeit 37 f. 115 Bachofen (1841) I 20. 116 Condorcet, Esquisse, 86. 117 Kant I 648. 118 Fichte, Grundzüge, 1. Vorlesung; 1. Rede. 119 Hegel Gph. 15. Die neue Periode war dann 1822 erreicht, s.o! 120 Heine, Werke, hg. von E. Elster, 1890, VII 410 f; Marx FS. 224. 121 Stern 1956/66, 353. 122 Benjamin 1977, 252. 123 Jaspers ZU. 46. 124 Demandt Metaphern, 1978, 156 f. 125 Loewenstein 2009. 126 Demandt, Metaphern, 1978, 386; 395. 127 Du Bois-Reymond 1974, 135 f. 128 S. o. XI 4! 129 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. August 2007, 19 f. 130 Hegel Gph. 50. 131 Schiller IX 236 ff. 132 Burckhardt WB. 22 f. 133 Schopenhauer V 525 ff; Parerga und Paralipomena II § 249 f: Der Titel beruht auf Polybios VI 11,6.

134 Sundwall in: Reusch 1938, 112. 135 Loewenstein 2009. 136 Meinecke IV 233. 137 Seneca, Apokolokyntosis 2,2. 138 Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie. In: ders. 1983, 104 ff. 139 So das gleichnamige Buch von 1969. 140 Gemeint ist meist nur der Hegelianismus: Nietzsche I 270; Burckhardt WB. 4; Benn (1934) I 281; Bachofen (1841) I 18, anders s. o! Cioran (1949), in: ders., Zerfall 1979, 63; anders s. o! 141 Fichte, Politik und Weltanschauung, hg. W. Steinbeck, 1941, 104 ff. 142 Ed. Spranger, Lebensformen, 1925/30, 121 ff. 143 Sanguiniker, Melancholiker, Phlegmatiker und Choleriker. 144 J. Leipoldt (Hg.), Das Evangelium nach Thomas, 1967, 29. 145 Sieben Positionen bietet der Sammelband von Reinisch 1961; Vossler 1979; weiteres bei Berdjajew 1923; Rickert 1924, 109 ff; Spranger, Kulturphilosophie, 1969, 195 (1954); Löwith II  377ff (1961); Mehlis 1915, 330 ff; Rüsen, Sinn, in: LGW. 2002, 263 ff; Sommer 2006. 146 Popper in ; Reinisch 1961, 102. 147 H. Pilot in: Positivismusstreit, 1969, 307. 148 VS. 22 B 52. 149 Nietzsche II 1213. 150 Luther, Schriften, 184 f (1538). 151 Herder, Auch 227; Cioran, Zerfall 39; Demandt, Metaphern, 384, 152 So H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode 1965, 186 ff; Demandt, Metaphern, 379 ff. 153 Ilias VI 357 f; Odyssee VIII 521 ff. 154 Stalin 1938/56, 74 f. 155 Nietzsche I 273. 156 Hintze II 15, er bejahte es.



Anmerkungen zu „Ein Wort hernach“

157 Brehms Tierleben II 1900, 403. 158 Kant I 223; Rickert 1924, 89 ff. 159 Dies ist die Achillesfers der trialand-error-Methode Poppers. 160 M. Weber WL. 283. 161 C. G. Hempel, Explanation in Science and History. In: Dray 1966, 95 ff. 162 Demandt, Fall, 1984, 526 ff. 163 Schelling, System 1800, 416. 164 Ed. Meyer, Kleine Schriften I 35; II 538. 165 Popper, Historizismus, 1965.

401

166 Lübbe 1993, 19 ff; Koselleck 2000, 203 ff. 167 Demandt, Läßt sich Geschichte voraussagen? (1987) In: ders., HM. I 170 ff. 168 Platon, Staat 518 E; 520 D; 527 C; 540 AB. 169 Schmitt, Glossarium, 1991, 290 zum 12. Januar 1950. 170 NT. 1. Kor.13, 9 f. 171 Glasenapp II 505 ff; Demandt, Was ist Geschichte? (1984), in: ders., HM. II 2002, 57.

Anmerkungen zu „Ein Wort hernach“ 1 2 3 4

Croce 1915/1930, 62. Marquard 1973, 20 ff. Juvenal I 30. Cicero, De natura deorum I 12; Augustinus, Soliloquia II 10.

5 6

R. M. Meyer, Vierhundert Schlagworte, 1900, 63. Aristoteles, Poetik 49 b 28.

Abkürzungen 1 Qumran sb. 1. Joh. 1. Kor. 1. Mose 1. Petr. 1. Sam. 1. Thess. 2. Kor. 2. Mose 2. Petr. 2. Sam. 2. Thess. 4. Mose 5. Mose AJ AKuG Anm. ANRW Anth. Gr. Apg. AT B. BG c. C. CCL CD CR Dan. ders. DI ebd. ed. ep. Eph. Ev. Joh. Ev. Luk. FgrHist. fr. FS FW

Qumranschriften, Segenssprüche (Berakhot) 1. Johannesbrief (NT) 1. Korintherbrief (NT) 1. Buch Mose / Genesis (AT) 1. Petrusbrief (NT) 1. Buch Samuel (AT) 1. Thessalonicherbrief (NT) 2. Korintherbrief (NT) 2. Buch Mose / Exodus (AT) 2. Petrusbrief (NT) 2. Buch Samuel (AT) 2. Thessalonicherbrief (NT) 4. Buch Mose / Numeri (AT) 5. Buch Mose / Deuteronomium (AT) Antiquitates Iudaicae (Flavius Josephus) Archiv für Kulturgeschichte, 1903 ff Anmerkung Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, 1972 ff Anthologia Graeca Apostelgeschichte (NT) Altes Testament Goethes Gespräche, Gesamtausgabe, I–V, 1909 ff, hg. von F. v. Biedermann Caesar, Commentarii de Bello Gallico capitolo J. W. v. Goethe, Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Cotta, Stuttgart 1950 ff. Corpus Christianorum, Series Latina (Turnhout), 1954 ff. Augustinus, De civitate Dei R. Popper, Conjectures and Refutations, 1963/72 Das Buch Daniel (AT) derselbe Autor Divinae institutiones (Laktanz) ebenda edidit epistola Epheserbrief (NT) Johannesevangelium (NT) Lukasevangelium (NT) Die Fragmente der griechischen Historiker, ed. Felix Jacoby, 1923ff. fragmentum K. Marx, Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, 1968 O. Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte. Fragmente aus dem Nachlaß, 1966



Gal. GD GdA gest. GK Gph.

Abkürzungen

403

Galaterbrief (NT) Salvian, De gubernatione Dei Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, 1884 ff gestorben J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 1898–1902/1956 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 1822/1961 GPS M. Weber, Gesammelte politische Schriften, 1958 HE Eusebios von Caesarea, Historia Ecclesiastica Hes. Das Buch Ezechiel (Hesekiel) (AT) Hg. / Hgg. Herausgeber HM. I A. Demandt, Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays, Historica Minora I, 1997 HM. II A. Demandt, Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays, Historica Minora II, 2001 HM. III A. Demandt, Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte, Historica Minora III, 2005 HZ Historische Zeitschrift, 1859 ff Jahrb. Jahrbuch Jak. Jakobusbrief (NT) JdE O. Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933 Jes. Das Buch Jesaja (AT) KHM J. u. W. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, 1819 Kl. Schr. Ed. Meyer, Kleine Schriften, 1924 Kol. Kolosserbrief (NT) Kr V I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781/1925 LdM Lexikon des Mittelaters, 1999 LGW St. Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft, 2002 LH J. W. v. Goethe, Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand in Kleinoktav, 1827 ff. Lk. Lukasevangelium (NT) MEGA Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe, 1975 ff MEW Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, 1–42, 1958–1983 ff MfG A. Demandt, Metaphern für Geschichte, 1978 MGH Monumenta Germaniae Historica, 1826 ff MGH AA MGH Auctores Antiquissimi Mk. Markusevangelium (NT) MR (mit Nr.) J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Ders. Gesamtausgabe II, 1950 (Cotta). MT O. Spengler, Der Mensch und die Technik, 1931 Mt. Matthäusevangelium (NT) NA Claudius Aelianus, De natura animalium NH Plinius der Ältere, Naturalis Historia NQ Seneca, Naturales quaestiones NT Novum Testamentum / Neues Testament

404 NW Off. OGIS or. PE PG PhG PL pr./ praef. Prediger prol. Ps. Ps. PS R RA RAC RE RG RGG Röm. s. o. s. u. s. v. Schol. SHA SN SVF I / II SW SWA SWP Tit. UA UW UZ VC VH VS WA WaG

Abkürzungen

G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, 1725/1924 Offenbarung des Johannes (NT) Orientis Graeci inscriptiones selectae, ed. W. Dittenberger, 1903–1905 oratio Eusebius von Caesarea, Praeparatio evangelica Patrologia Graeca, ed. J. P. Migne, 1857 ff. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807/1952 Patrologia Latina, ed. J. P. Migne, 1844 ff. praefatio Das Buch Kohelet oder Prediger Salomis / Ekklesiastes (AT) prologus Psalm / Die Psalmen (AT) Pseudo O. Spengler, Politische Schriften, 1933 K. Roßmann (Hg.), Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, 1959 Reden und Aufsätze Reallexikon für Antike und Christentum, ed. Theodor Klauser, 1950 ff Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. von A. Pauly und G. Wissowa,1893–1978 Th. Mommsen, Römische Geschichte III 1856/1909 Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage 1957–1965 Römerbrief (NT) siehe oben siehe unten sub voce Scholien Scriptores Historiae Augustae G. Vico, La Scienza Nuova, ed. B. Bicci, 1961 Stoicorum veterum fragmenta, ed. J. v. Arnim, 1905 ff L. v. Ranke, Sämtliche Werke, 1881 ff M. Weber, Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 2006 M. Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, 1968 Titusbrief (NT) O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918/1950 F. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens I/II, 1931 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949 Eusebius von Caesarea, Vita Constantini Claudius Aelianus, Varia historia Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von H. Diels u. W. Kranz, I–III, 1934–1937 M. Luther, Weimarer Ausgabe, 1883–2009 Die Welt als Geschichte, Eine Zeitschrift für Universalgeschichte, 1935–1963



WB WH WL WM WT WWV Zeph.

Abkürzungen

J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1868/1935. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1953/1983 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1968 F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, 1930 Hesiod, Werke und Tage A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818/1859. Das Buch Zephania (AT)

405

Literatur Genannt werden Titel, die mehrfach zitiert und benutzt wurden. Nur einmal herangezogene Werke und kleinere Lexikonartikel erscheinen suo loco in den Fußnoten. Ausgaben antiker Autoren werden in der Regel hier nicht angeführt, sondern mit Buch, Kapitel und Paragraph zitiert. Römische Zahlen hinter neuzeitlichen Namen verweisen auf unten genannte Werkausgaben. Abramowski, G., Das Geschichtsbild Max Webers, 1966 Acham, K., Polarität und Komplementarität als Leitideen in Goethes Ansichten über die Kunst, den Menschen und die Gesellschaft. In: G. Kühne-Bertram (Hg.), Kultur verstehen, 2003, 145 ff. Al Biruni, In den Gärten der Wissenschaft, deutsch von G. Strohmaier, 1991 Alt, A., Die Deutung der Weltgeschichte im Alten Testament (1959), in: Ders., Grundfragen der Geschichte des Volkes Israel, 1970, 440 ff Anderle, O., Das Universalhistorische System Arnold Joseph Toynbees, 1955 Anderle, O. Giambattista Vico als Vorläufer einer morphologischen Geschichtsbetrachtung. In: WaG. 16, 1956, 85 ff. Anderle, O., Toynbees Antwort an seine Kritiker, HZ. 208, 1969, 81ff Anders, G., Die Antiquiertheit des Menschen I 1956, II 1980 Anderson, P., Zum Ende der Geschichte, 1993 Angehrn, E. Geschichtsphilosophie, 1991 Arnim, J. v., Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF), 1905 ff Auerbach, E., Figura, (1939). In: Ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, 1967, 55 ff. Auffarth, Ch., Der drohende Untergang. Schöpfung in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezechielbuches, 1991 Bachofen, J. J., Mutterrecht und Urreligion, 1927 Bachofen, J. J., Gesammelte Werke, 1943 ff. Bacon, F., Essays (1620), 1806 Bacon, F., Neues Organ der Wissenschaften (1620), hg. v. A. Th. Brück, 1971 Baron, H. Das Erwachen des historischen Denkens im Humanismus des Quattrocento, HZ. 147, 1932, 5 ff. Baudrillard, J., Das Jahr 2000 findet nicht statt, 1990 Baudrillard, J., Die Rückwendung der Geschichte, in: Lettre International 15, 1993, 13ff. Bautz, T., Hegels Lehre von der Weltgeschichte, 1988 Benjamin, W., Über den Begriff der Geschichte (1940). In: Ders., Illuminationen 1977, 251 ff. Benn, G., Der Ptolemäer, 1947/1956 Benn, G., Dorische Welt (1934). In: Ders. , Essays, Reden, Vorträge, 1959, 262 ff. Benn, G., Gesammelte Werke I 1959 Berdjajew, N., Der Sinn der Geschichte, 1923/25 Bernheim, E., Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 1889/1903 Bernheim, E., Einleitung in die Geschichtswissenschaft, 1912



Literatur

407

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Literatur

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Meyer, Ed., Kleine Schriften, 2. Aufl. I, 1924 Meyer, Ed., Staat und Wirtschaft. In: Vom Altertum zur Gegenwart, 1920, 80 ff Meyer, Martin, Ende der Geschichte?, 1993 Milburn, R. L. P., Early Christian Interpretations of History, 1954 Mommsen, Th., Römische Kaisergeschichte (1879 ff), 2005 Mommsen, W., Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, 1971 Monod, J., Zufall und Notwendigkeit, 1970/82 Mottu, H., Joachim von Fiore. In: M. Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, III, 1983, 249 ff. Muhlack, U., Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, 1991 Mühlen, P. von zur, Rassenideologien, Geschichte und Hintergründe, 1977 Mühlmann, W. E., Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie, 1964 Müller, R., Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der Kultur, Das Altertum 14, 1968, 67 ff Niethammer, L., Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? 1989 Nietzsche, F., Der Wille zur Macht, 1930 (WM) Nietzsche, F., Die Unschuld des Werdens I/II, 1931 (UW) Nietzsche, F., Werke in drei Bänden, hg. von K. Schlechta, 1960 (DB) Nippel, W., Johann Gustav Droysen. Ein Lebenzwischen Wissenschaft und Politik, 2008 Nolte, E., Nietzsche und der Nietzscheanismus, 1990 Nolte, E., Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas, 1991 Nolte, E., Historische Existenz zwischen Anfang und Ende der Geschichte? 1998 Oncken, H., Aus Rankes Frühzeit, 1922 Ortega y Gasset, J., Eine Interpretation der Weltgeschichte. Rund um Toynbee, 1964 Padover, S. K., Karl Marx in seinen Briefen, 1981 Pätzold s. Ibn Khaldun Petsch, R., Das Volksbuch vom Doctor Faust, 1911 Picker, H., Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–42, 1963 Plechanow, G. W., Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, 1898/1961 Popper, K., Der Zauber Platons, 1944/70 (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I) Popper, K., Falsche Propheten, 1944/70 (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II) Popper, K., The Open Society and Its Enemies, 1944 Popper, K., Das Elend des Historizismus, 1965 Popper, K., Conjectures and Refutations, 1963/72 (CR) (Positivismusstreit). Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969 Pratt, K. J., Rome as Eternal. In: Journal of the History of Ideas, 26, 1965, 25 ff. Ramm, Th. (Hg.), Der Frühsozialismus. Ausgewählte Quellentexte, 1956 Ranke, L. .v., Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 1824/1885 Ranke, L. v., Sämtliche Werke, 1881ff (SW) Ranke, L. v., Über die Epochen der neueren Geschichte, 1854/1899 Ranke. L. v., Politisches Gespräch, 1836/1924

416

Literatur

Ranke, L. v., Die großen Mächte. Politisches Gespräch, hg. U. Muhlack, 1995 Rastätter, K., Aufklärerisches Denken in der Geschichtsphilosophie Kants, Saeculum 24, 1973, 266 ff. Reckford, K. J., Some Appearances of the Golden Age. In: Classical Journal 54, 1958, 79 ff Reeves, M., Joachim of Fiore, Dante and the Prophecy of the Last World Emperor. In: Kathegetria. Essays Presented to Joan Hussey for Her 80th Birthday, 1989 Reinisch, L. (Hg.), Der Sinn der Geschichte, 1961 Reitzenstein, R., Die nordischen, persischen und christlichen Vorstellungen vom Weltuntergang (1923/24), In: Ders., Antike und Christentum 1963, 76 ff Reusch, P. (Hg.), Spengler zum Gedenken, 1938 Ribeiro, D., Der zivilisatorische Prozeß, 1971 Richter, R., Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk, 1903 Rickert, H., Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1924 Ritter, J., Fortschritt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 2, 1971, 1032 ff Rohr, G., Platons Stellung zur Geschichte, 1932 Romein, J., Die Biographie, 1946/48 Rosenthal, F., Das Fortleben der Antike im Islam, 1965 Roßmann, K. (Hg.), Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, 1959 ( R) Rotermundt, R., Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte, 1994 Rudberg, G., Biologie und Urgeschichte im ionischen Denken, in: Symbolae Osloenses 20, 1940, 1 ff Sambursky, S., Das physikalische Weltbild der Antike, 1965 Sasse, H., Aion. In: RAC. I 1950, 193 ff Schäfer, P., Geschichte der Juden in der Antike, 1983 Schäffer, P. (ed.) Joachim Vadianus, De poetica et carminis ratione (1518), 1973 Schaeffler, R., Einführung in die Geschichtsphilosophie, 1973 Schelling, F. W. J., Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, hg. M. Schröter, 1926 Schelling, F. W. J., Studium Generale. Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1803/1954 Schelling, F. W. J., System des transzendentalen Idealismus, 1800 Schiller, F.,Sämtliche Werke, 1844 Schlegel, F., Vom romantischen Geist, 1946 Schmidt, A., Geschichte und Struktur, 1971 Schmidt, R., Aetates Mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67, 1955/56, 288 ff. Schmidt, R. W., Die Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos, 1982 Schmiel, R., The olbos-koros-hybris- atē Sequence. In: Traditio, 45, 1989/90, 343 ff Schmitt, C., Der Begriff des Politischen, 1927 Schmitt, C., Politische Theologie II, 1970 Schmitt, C., Glossarium, 1991 Schmitz-Berning, Cornelia, Vokabular des Nationalsozialismus, 1998 Schneider, Helmuth, Das griechische Technikverständnis: von den Epen Homers bis zu den Anfängen der technologischen Fachliteratur, 1991 Schneider, Hermann, Philosophie der Geschichte I/II, 1923



Literatur

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Schoeps, H. J., Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Jahrhundert, 1953. Schopenhauer, A., Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818 /1859 (WWV) Schopenhauer, A., Sämtliche Werke in fünf Bänden (Insel) o. J. Schröter, M., Metaphysik des Untergangs. Eine Kulturkritische Studie über Oswald Spengler, 1949 Schuler, R., Das Exemplarische bei Goethe, 1973 Schwarte, K. H., Die Vorgeschichte der augustinischen Weltalterlehre, 1966 Schweinitz, B. (Hg.), Philosophie und Geschichte. Beiträge zur Geschichtsphilosophie der deutschen Klassik, 1983 Schwinden, L., Goethe und die Igeler Säule. In: Kurtrierisches Jahrbuch 22, 1982, 37 ff Sichirollo, L., La fine de tutte le cose, in: Belfagor 49, 1994, 325ff. Simmel, G., Schopenhauer und Nietzsche, 1907 Sommer, A. U., Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, 2006 Sordi, M., L´idea di crisi e di rinnovamento nella concezione romano-etrusca della storia. ANRW. I, 2, 1972, S. 781–793. Soret, F., Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an Weimars klassische Zeit 1822 bis 1832, hg. von H.H. Houben, 1929 Sorokin, P., Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie, 1951/53 Spaemann, R., Philosophische Essays, 1983 Spengler, O., Briefe 1913–1936, 1963 Spengler, O., Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte I/II, 1918/1950 (UA) Spengler, O., Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen ›Eis heauton‹ aus dem Nachlaß, (Tagebücher 1913 bis 1919), 2007 Spengler, O., Preußentum und Sozialismus, 1924 Spengler, O., Jahre der Entscheidung, 1933 (JdE) Spengler, O., Politische Schriften, 1933 (PS) Spengler, O., Briefe 1913–1936, 1963 Spengler, O., Reden und Aufsätze, 1938 (RA) Spengler, O., Urfragen. Fragmente aus dem Nachlaß, 1965 Spengler, O., Frühzeit der Weltgeschichte. Fragmente aus dem Nachlaß, 1966 (FW) (Spengler, O.), Der Briefwechsel zwischen Oswald Spengler und Wolfgang E. Groeger, hg. v. Xenia Werner, 1987 Spoerri, W., Späthellenistische Berichte über Welt, Kultur und Götter. Untersuchungen zu Diodor von Sizilien, 1959 Spörl, J., Die Civitas Dei im Geschichtsdenken Ottos von Freising (1956). In: Lammers 1961, 298 ff. Spranger, E., Goethes Weltanschauung, 1932 Srbik, H. Ritter von, Goethe und das Reich, 1940 Stadler, P. B., Wilhelm von Humboldts Bild der Antike, 1959 Stalin, J., Fragen des Leninismus, 1947/51 Stalin, J., Über dialektischen und historischen Materialismus (1938), kommentiert von Iring Fetscher, 1956 Stern, F. (Hg.), Geschichte und Geschichtsschreibung, 1956/66

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Literatur

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Literatur

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Vondung, K., Die Apokalypse in Deutschland, 1988 Voss, J., Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs, 1972 Vossler, O., Geschichte als Sinn, 1979 Weber, Max, Gesammelte politische Schriften, 1958 (GPS) Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1968 (WL) Weber, Max, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, 1968 (SWP) Weber, Max, Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 2006 (SWA) Weiß, P., Die Säkularspiele der Republik – eine annalistische Fiktion? In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, römische Abteilung 80, 1973, 205 ff Weizsäcker, C. F. v., Die Geschichte der Natur, 1948/54 Weizsäcker, C. F. v., Die Einheit der Natur, 1971/81 Weizsäcker, C. F. v., Der Garten des Menschlichen, 1977/78 Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne, 1991 Wendelborn, G., Gott und Geschichte. Joachim von Fiore und die Hoffnung der Christenheit, 1974 Wendland, H. D., Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament, 1938 Werner, H., Spengler und Toynbee. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29, 1955, 526 ff. Weyand, K., Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Kantstudien, Einzelhefte 85, 1964 White, H., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen der Geschichtsschreibung, 1987/90 Wickert, L., Goethe und der Historismus. In: Convivium, Festgabe für K. Ziegler, 1954, 154 ff. Widengren, G., Iranische Geisteswelt, 1961 Widengren, G., Die Religion Irans, 1965 Widmer, P., Die unbequeme Realität, 1983 Winkelmann, F., Euseb von Kaisareia, 1991 Wittgenstein, L., Vermischte Bemerkungen, 1977/1987 Worstbrock, F. G., Translatio artium, AKuG. 47, 1965, 1 ff. Woude, A. S. van der, Die messianischen Vorstellungen der Gemeinde von Qumran, 1957 Wundt, M., Johann Gottlieb Fichte, 1927 Würtenberg, G., Goethe und der Historismus, 1929; vgl. Meinecke in: HZ. 142, 1930, 562 ff Yorck s. Dilthey! Yovel, Y., Kant and the Philosophy of History, 1975. Zoepffel, Historia und Geschichte bei Aristoteles, 1975

Detailübersicht I. Zum Begriff der Geschichte a. Janus b. Gegenstand oder Bereich des Historikers?

c. res gestae d. Bezeichnungen für Zeitalter e. Überlieferung stiftet Geschichte

1. Geschichtlichkeit a. Geschichte definierbar? b. Zeit und Geschichtlichkeit c. Veränderung d. Kontinuität e. Umkehr und Wiederholung f. Zustände wechseln, Gegenstand bleibt g. Namen stiften Identität h. Substanz und Idee i. Vorgeschichten j. Entstehen und Vergehen

5. Geschichte a. Geschehnis b. Kollektivsingular seit dem 17. Jahrhundert c. Weltgeschichte seit dem 18. Jahrhundert d. Geschehnis, Erzählung, Märe e. history-histoire f. Hegel: Historie gleich Geschichte g. Idealisten - Materialisten

2. Mythos a. Begriffsgeschichte b. Ältestes Erzählgut c. Kosmogonie d. Heldenlied: Homer e. Barden f. Demodokos in der Odyssee g. Muse Klio h. Kriegsgeschehen i. Mythos bei Homer j. Epos 3. Historia a. Chronistik b. Vorsokratiker: Kritik c. Varro: intervallum historicum d. Herodot: historia e. Isidor: Etymologie dazu f. Commentarii etc. g. Thukydides: Wahrheit 4. Res gestae a. Aristoteles: praxis und pathos b. Polybios: pragmata

6. Begriffsinhalt a. Benn aus dem Ploetz b. Geschichtsdefinitionen c. Werturteile darin d. Literaturgattungen darin e. Handlung f. Rangordnung im Geschehen g. Verachtenswertes h. Berichtenswertes i. Drei Pflichten des Historikers j. Relevanzkriterien k. Zusammenhang entscheidet 7. Wissenschaft a. Erkenntnis b. Selbsterlebtes als Grundlage c. Historische Quellen d. Geschichtsforschung e. Geschichtsschreibung f. Periodisierung g. Geschichtsphilosophie h. Geschichtstheorie i. Wissenschaften vom Menschen j. Sieben Aporien

Detailübersicht



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II. Dekadenz von Anbeginn a. Ungenügen an der Gegenwart b. Timon der Menschenfeind c. Lob der Vergangenheit 1. Sündenfälle a. Mythen b. Sündenfall in der Genesis c. Kants Deutung d. Die Schlange im Paradies e. Feigenblatt f. Kain und Abel g. Sintflut und Turmbau 2. Das goldene Zeitalter a. Prometheus bei Hesiod b. Satan und Prometheus c. Ein Dämon als Mittler d. Feuerdiebstahl e. Der gefesselte Dämon f. Erbübel Frau g. Vom Zwei- zum Fünfstufenmodell h. Goldenes Geschlecht i. Silbernes Geschlecht j. Ehernes Geschlecht k. Heroisches Geschlecht l. Eisernes Geschlecht m. Metallsymbolik für Geschichte n. Hesiod und die Propheten o. Gute und böse Eris p. Ovid 3. Asiatische Urzeitmythen a. Archetypen b. Zarathustras Metallbaum c. Der nackte Kalanos d. Dschuang Dsi: Verfall in Stufen e. Feuer f. Naturverlust 4. Das klassische Dekadenzmodell a. Erfahrungssatz b. Hybris in der Bibel c. Vorsokratiker

d. Herodot e. Platon f. Xenophon g. Isokrates h. Beispiel Athen i. Schema j. Gegenbeispiel Megara k. Wünschbarkeit der Zyklenphasen l. Selbstkritik m. Friede undemokratisch? n. Krieg destruktiv o. Cato und Polybios p. Scipio Nasica und der Wetzstein q. Pessimismus in der späten Republik r. Seneca und Plinius s. Tacitus t. Juvenal u. Gesunde Barbaren v. Nachantike Verwendung des Modells 5. Das Lebensaltergleichnis a. Dekadenzbegriff b. Staat als Organismus c. Ägypter d. Polybios e. Sallust f. Lucrez g. Cicero h. Seneca i. Plinius j. Cyprian k. Lactanz l. Augustin m.Salvian 6. Die Idee der Verjüngung a. Neubeginn b. Ammian und Symmachus c. Claudian und Rutilius d. Renaissancen

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III. Der Fortschrittsgedanke in der Antike a. Urzeitmythen b. Barbarenvergleich: Kyklop c. Vorgriechische Pelasger 1. Mythische Stifter a. Gaben der Götter b. Kulturheroen der Griechen c. im Orient d. Athen als Wiege der Zivilisation 2. Historische Erfinder a. Xenophanes’ Bekenntnis zum Fortschritt b. Kritias: Erfindung der Götter c. Sophokles: Fortschritt der Zivilisation d. Erfinderkataloge e. Völker als Lehrmeister f. Erfinderkonkurrenz 3. Progressive Zeit a. Thales und Aischylos b. Pindar c. Sophokles: die Wahrheit als Tochter der Zeit d. Platon und Moschion e. Geschichte als Lernprozeß f. Römer als Schüler g. Polybios: methodische Wissenschaft h. Cicero: Übernommenes verbessert 4. Kulturentwicklung a. Demokrit b. Diodor c. Aristoteles d. Dikaiarch, Kulturbegriff e. Lucrez f. Seneca f. Christen: Wissensfortschritt h. Augustinus: Gottesgaben

5. Verbesserungen im Staatsleben a. Thukydide’ „Archäologie“ b. Bündnis gegen Troja c. Erste Städte d. Neue Schiffstypen e. Athen und Sparta f. Hippodamos und Hippokrates g. Protagoras und die Demokratie h. Platon zum Ursprung des Staates i. Arbeitsteilung j. Erste Kriege k. Nomoi: Zivilisationsentwicklung l. Urhorde m. Königtum n. Staatenbund o. Musterpolis p. Polybios: Roms Weltreich q. Cicero: Republikideal r. Romideologie der Kaiserzeit s. Roms Bauten t. Recht und Religion u. Christliche Fortschrittsideen v. Fortschrittsbewußtsein in der Antike 6. Fortschrittskritik a. Ambivalenz der Technik b. Hiob: Weisheit fehlt c. Sophokles und Thukydides d. Sophisten: Naturideal e. Diogenes und die Kyniker f. Seneca gegen Poseidonios g. Tertullian: Fortschritt? h. Die Rache der Natur i. Fleischliche Neugier j. Militärische Schadensbegrenzung

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IV. Frühe Kreislauftheorien a. Augustin: Kreislauf sinnlos b. Platon: Kreislauf vollkommen c. Christlich versus antik? 1. Geschichte als Ritual im Orient a. Archaische Zyklik b. Ägypten: Maat c. Ereignistypen d. Drama e. Zyklik im Orient 2. Das Rad der Geschichte a. Naturzeit b. Unaufhaltsamkeit c. Marc Aurel und Jakobusbrief d. Mängel des Bildes e. Pendelschwung bei Empedokles f. Herodot, Stoa: Auf und Ab g. Augustin: Werden und Vergehen h. Glücksrad i. Der Sturz der Hecuba 3. Ewige Wiederkehr a. Nichts Neues seit Salomo b. Kreislauf bei Tacitus und Aurelius Victor c. Anthrōpeia physis bei Thukydides d. Das natürliche Recht des Stärkeren e. Ewiger Ruhm f. Zeitlose Exempla g. Augustus appelliert an die Vergangenheit h. Beispielsammlungen i. Ahnenbilder j. Trostliteratur k. Exempla heute l. Analogieschluß m. Atomtheorie Demokrits n. Sprache typisiert o. Einerlei auf der Weltenbühne p. Keine Handlungseinheit q. Rollenspiel r. Die Maske macht die Person

4. Regelkreise a. Astronomische Zustandsfolgen b. Teilkreise: Sitten, Künste c. Verfassungskreislauf d. Roms Rückkehr zur Monarchie e. Naturkonstanz f. Geschichtskenntnis erlaubt Prognosen g. Ereignisfolgeregeln 5. Zeitalter und Weltperioden a. Lauter Kreisläufe b. Saeculum c. „Welt“ biblisch d. Weltzyklus organisch e. Feuer und Wasser vernichten die Welt f. Seneca: Weltende g. Neue Welt h. Phaëton und Deukalion i. Fossilien beweisen die Sintflut j. Mehrzahl der Welten k. Unendliche Wiederholung l. Plato: Großes Jahr m. Vor- und Rückdrehung n. Thermodynamik o. Universale Periodizität 6. Zyklik und Linearität a. Periodizität als Binnenfigur b. Entwicklung innerhalb der Zyklen c. Nachantike Kreislauftheorien

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V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte a. Schicksalsbegriffe b. Heilsplan im Monotheismus 1. Die persische Weltalterlehre a. Zarathustra b. Weltzeiten im Zervanismus c. Das Orakel Hystaspes d. Etrusker und die Metakosmesis 2. Die Juden als auserwähltes Volk a. Anfang, Mitte, Ende b. Auserwähltes Volk: Bund mit Jahwe c. Die Feinde als Geißeln Gottes d. Neuer Bund verkündet e. Messias f. Kosmische Erneuerung g. Alter Aion, neuer Aion h. Weltgericht i. Danielprophetie j. Koloß auf tönernen Füßen k. Weltreiche griechisch l. Das ewige Reich m. Makkabäer n. Henoch-Vision o. Qumran: die letzte Schlacht p. Spätere Apokalypsen: Baruch und IV Esra q. Sibyllinen verheißen Rache 3. Geschichte im Neuen Testament a. Geschichte? b. Heilsgeschichte c. Zeitenwende im Mittelmeerraum d. Augustus als Heilsbringer e. Dein Reich komme! f. Messias Jesus g. Zeloten in Israel h. Quietistisch oder militant? i. Äußeres oder inneres Ereignis? j. Doppelte Parusie k. Paulus und Rom l. Das Gesetz als Pädagoge

m. Die Mündigkeit der Gläubigen n. Erlösung meint Loskauf o. Emanzipation p. Parusieverzögerung 4. Endzeit gemäß Daniel a. Geburtswehen der Endzeit b. Manis Weltenbrand c. Johannesapokalypse d. Danielschema der Weltreiche e. Antichrist f. Katechon g. Daniel in Byzanz h. Gog und Magog im Koran i. Die Weltreichslehre im Mittelalter j. Daniel in der Frühen Neuzeit k. wiederum politisiert l. Buch Mormon 5. Die Inkarnation als Epoche a. Dreiteilung bei Justinus Martyr b. Vierteilung bei Irenaeus c. Weltenwoche bei Barnabas d. Lactanz und das Tausendjährige Reich e. Chiliasmus Dauerthema f. Das Alter der Welt g. Figurale Deutung h. in der Bibel i. Die Bibel als Geschichtskommentar j. Anno Domini 6. Die Reichstheologie Eusebs a. Altersbeweis des wahren Glaubens b. Heidnische Vorschule c. Moses lehrt Platon d. Fortschritt christlich e. Eusebs Augustus-Theologie f. Der gottgeliebte Constantin g. Ambrosius: Christentum fortschrittlich h. Die christliche Romidee bei Orosius



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7. Augustins Zwei-Reiche-Lehre a. Alarich in Rom b. Augustins Romkritik c. Die Zweireichelehre d. Weltenwoche e. Lebensalter der Welt f. Die Rolle des Teufels g. Der Neue Mensch h. Otto von Freising i. Dreiphasenschema j. Imperium Christianum als Gipfel k. Antichrist und Weltgericht l. Joachim von Fiore m. Luthers Supputatio n. Bossuet, Buffon, Hitler

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8. Geschichtstheologie a. Transzendenz b. Buchreligionen c. Erik Peterson gegen Carl Schmitt d. Trostbedarf

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VI. Das Epochenbewußtsein der Renaissance a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k.

Hutten, Aegidius, Sachs Epochenmetaphern Renaissance-Begriff bei Vasari Vom Epochen- zum Typenbegriff Humanismus Nachhumanismus Ende der alten Mächte Aufstieg des Bürgertums Politische Erneuerung Kulturelle Erneuerung Religiöse Erneuerung

1. Dekadenz bei Ibn Khaldun a. Griechische Wissenschaft im Islam b. Ibn Khalduns Buch der Beispiele c. Kulturentwicklung d. Klimatheorie e. Dekadenzkreislauf f. Lebensaltergleichnis 2. Boccaccios Naturtheologie a. Antikensehnsucht b. Wegbereiter: Dante und Petrarca c. Vergils Zeitlob aktualisiert d. Naturtheologie e. Poesie Gottes 3. Geschichte als Musterbuch bei Machiavelli a. Leben und Werk b. Zufall und Tugend c. Verderbnis der Kirche d. Savonarola e. Perfektion der Politik f. Technik und Moral g. Italien einigen! h. Die Schuld am Untergang Roms i. Kreisläufe in der Geschichte j. Kosmoszyklen k. Ad fontes!

4. Bodin und die heiligen Gesetze der Geschichte a. Zwischen den Konfessionen b. Souveränität und Absolutismus c. Drei Geschichtsepochen d. Weltreiche obsolet e. Magistra vitae f. Ewiger Wechsel g. Nutzen der Kulturbrache h. Erreichte Fortschritte i. Muster Deutschland 5. Bacon: Die Neuen sind die Alten a. Novum Organon: Wir sind die Alten b. Einheit der Geschichte c. Fortschritt als Lernprozeß d. Sündenfall Naturverlust e. Lebenslauf der Staaten f. Drei Oasen g. Der neue Weg zum Fortschritt 6. Vico und die Kreislauflehre a. Antike Muster b. Nur Gemachtes ist verständlich c. Die neue Wissenschaft von der Natur der Völker d. Kreisläufe allenthalben e. in der Verfassung f. im Recht g. Fortschritt in der Religion zum Christentum h. in der Humanität 7. Altertum – Mittelalter – Neuzeit a. Mittelalter als Zwischenzeit b. Zäsuren bei Cellarius c. Das Mittelalter unter dem Antichrist d. Methodenprobleme der Periodi­ sierung e. Spenglers Bild vom Bandwurm f. Rückwärtsblick im Reisewagen

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VII. Geschichte als Aufklärung a. Drei Faktoren b. Fortschrittsgewißheit c. Lichtsymbolik 1. Frühe Stimmen aus Frankreich a. Querelle des Anciens et des Modernes b. Fontenelle: Die Alten sind die Jungen c. Turgots Optimismus d. Rousseaus Zeitkritik e. Zurück zur Natur! 2. Lessing und die Erziehung des Menschengeschlechts a. Kampf gegen die Kirche b. Christentum als Paidagogia Theou c. Erziehung des Menschengeschlechts d. Die Bibel als Schulbuch e. Ein neues Evangelium! f. Vollendung erwartet g. Zweck der Offenbarung h. Gott und Natur 3. Herder und die Humanität a. Leben und Schriften b. Die Kette der Erdorganisation c. Lebensaltervergleich d. Nationalkultur statt Universalstaat e. Erziehungshaus Erde f. Entfaltung der Vernunft g. Offenbarung erzieht h. Bibel historisiert i. Vorbild Paulus j. Ein neuer Pelagianismus k. Fortschritt trotz Katastrophen l. Islam als Brücke zur Neuzeit 4. Kant und der ewige Friede a. Drei Leitfragen b. Kants Gottvertrauen c. Moralische Vollkommenheit als Ziel d. Bibel als Leitband e. Erziehung des Menschengeschlechts f. Völkerbund der Republiken

g. Ewiger Friede h. Kosten der Rüstung i. Aufklärung kommt j. Emanzipation erforderlich k. Erziehung statt Revolution l. Historie im Dienst des Fortschritts m. Französische Revolution gibt Hoffnung n. Naturglaube o. Teleologie als regulative Idee p. Säkularer Chiliasmus 5. Condorcet und Comte a. Condorcet b. Vervollkommnung unbegrenzt c. Neun Zeiten d. Gleichberechtigung kommt e. Humanität setzt sich durch f. Comte g. Dreistadiengesetz h. Dialektik der Großperioden i. Zukunftsgesellschaft j. Arbeiter unten – Bankiers oben k. Fortschrittsreligion l. Vorbild Katholizismus 6. Poppers offene Gesellschaft a. Historizismus verpönt b. Offene gegen geschlossene Gesellschaft c. Dualismus d. Kampf der Systeme e. Die große Revolution in Athen f. Selbstentfremdung wird überwunden g. Die Rechtfertigung der Geschichte durch Demokratie 7. Fortschritt schillert a. Schillers Antrittsvorlesung b. Ästhetische Erziehung c. Der Spaziergang d. Worte des Wahns e. Trostbedürfnis

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VIII. Der Historische Idealismus a. b. c. d. e.

Die Französische Revolution Romantik und Nationalismus Ideen und ihr Schatten Philosophischer Idealismus Volksgeist und Weltgeist

1. Volksgeist bei Herder und Fichte a. Romantik und Nationalismus b. Volksgeister im Garten der Geschichte c. Wettlauf zur Humanität d. Volkslied e. Fichte f. Die Deutschen als Normalvolk g. Fünf Stufen zur Ewigkeit h. Das kommende Zeitalter des Geistes 2. Schelling und die Offenbarung des Absoluten a. Weltseele b. Kosmische Harmonie c. Geschichte als Offenbarung d. Spiegel des Weltgeists e. Entwicklung der absoluten Synthesis f. Ewige Notwendigkeit g. Verlauf in Gegensätzen h. Drei Perioden der Offenbarung i. Chronologie 3. Hegel und der Fortschritt zur Freiheit a. Hegel ein Gebirge b. Der Weltgeist als Werwolf c. Dialektik im Geschehen d. Herr und Knecht e. Der Kauz der Minerva f. Napoleon als Weltgeist g. Fortschritt zur Freiheit dreigeteilt h. Volksgeist als Organismus i. Vier Lebensalter: 1.Kind-Orient j. Knabe-Persien k. 2. Jüngling-Griechen l. 3. Mann-Rom m. 4. Greis – Germanen

n. Schmutziges Mittelalter o. Reformation auf der Schwelle zur Freiheit p. Staat als göttliche Idee q. Gegenwart am Ziel r. List der Vernunft s. Notwendigkeit ist notwendig t. Das höhere Recht des Weltgeists u. Die Schlachtbank der Geschichte v. Geschäftsführer des Weltgeists w. Der tiefere Sinn des Schießpulvers x. Geschichte als Theodizee y. Unvernunft gibt es nicht z. Die Asche des Phönix 4. Humboldt und die Individualität a. Wilhelm b. Alexander c. Interesse an der Zukunft d. Griechen: zeitloses Muster e. Sprache als Ausdruck des Volksgeists f. Teleologie irrführend g. Individuen als Hauptsache h. Menschheitsbaum i. Mannigfaltigkeit der Kulturen j. Die Geschichte realisiert Ideen k. Der Staat als Nachtwächter l. Pflanzenmetaphern m. Viele Gipfelpunkte n. Lebenszyklus der Individuen o. Historie zeigt die Ideen p. Selbstbildung durch Historie q. Ziel der Geschichte: ihre Ganzheit 5. Faktum und Idee a. Prinzipien im Geschehen b. Nietzsches Kritik c. Goethes Ironie c. Identitätsphilosophische Begriffsmixtur e. Tendenzen und Potenzen f. Marx: Idee als Dämon

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IX. Goethes universaler Individualismus a. Uomo universale b. Verstreute Quellen c. Gründervater für Vieles 1. Unbehagen an der Geschichte a. Faust und Wagner b. Sieben Siegel c. Herder und Luden d. Geschichte als Spiegel e. Historie ein Euphemismus f. Kehrichtfaß und Rumpelkammer g. Politik verächtlich h. Julirevolution 1830 i. Unsinn und Labyrinth j. Trümmerhaufen k. Ewige Krankheit l. Die Welt als Hospital der Humanität 2. Antiquarisches Interesse a. Pflege der Erinnerung b. Erlebte Geschichte c. Denkmäler: Frankfurt d. Straßburg und Elsaß e. Italien und Sizilien f. Igeler Säule g. Urgeschichte aufschlußreich h. Knochensammlung i. Historische Lektüre 3. Poetische Gestaltung a. Literarische Verarbeitung b. Dichterische Freiheit c. Dichtung plus Wahrheit d. Poesie versus Historie? 4. Kreislauf statt Fortschritt a. Nichts Neues b. Brief an den Sohn c. Kreisläufe d. Spiraltendenz e. Geistesepochen f. Verjüngung g. Wissenschaftsgeschichte als Fuge

h. Das biologische Lebensgesetz i. Steigerung und Fortschritt j. Gegenwart als Endzeit k. Polarität l. Hin und Her in Kunst und Politik m. Glaube und Unglaube n. Fortschritt ambivalent o. Gegensätze p. Zauberlehrling q. Egmonts Sonnenpferde 5. Paradigmatik a. Bedeutungshierarchie b. Urpflanze und Metamorphose c. Zwischenkieferknochen d. Urphänomen e. Alles ist Symbol f. Historische Musterfälle g. Repräsentanz h. Das Allgemeine im Besonderen i. Der Wert der Biographie j. Das Dämonische k. Napoleon l. Negative Größen m. Dreierschema im Lebenslauf n. Winckelmann o. Wahlverwandtschaft p. Völker und Zeiten 6. Anschauung und Aneignung a. Symphonie der Wissenschafts­ geschichte b. Hausmetapher c. Jahreszeitengleichnis d. Schaffender Spiegel e. Antike beispielhaft f. Kein Heimweh! g. Geschichte umschreiben! h. Ordnungsbegriffe i. Auswahl des Bedeutsamen j. Enthusiasmus

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X. Der Deutsche Historismus a. Professionalisierung b. Geschichte als Argument oder als Sedativ c. Historisierung allenthalben d. Professoren zur Geschichtsphilo­ sophie e. Ranke f. Droysen g. Meinecke h. Individualität und Universal­ geschichte 1. Entwicklung a. Erziehung des Menschen­ geschlechts b. Fortschritt bei Ranke c. bei Droysen d. Permanente Selbstvollendung 2. Individualität a. Einmaligkeit alles Historischen b. Spezial- und Universalgeschichte c. Alles ist unmittelbar zu Gott d. Unparteilichkeit gefordert e. Selbstlos verstehen geboten f. Gerechtigkeit wahren! g. Meinecke: Dienst am Göttlichen h. Buckle: Vorbild Naturwissenschaft? i. Statistische Gesetzmäßigkeit j. Droysens sittliche Welt

3. Staat a. Ranke konservativ b. Lebensprinzipien der Staaten c. sind historisch erkennbar d. Krankheit und Gesundheut e. Trieb zur Vortrefflichkeit f. Meinecke: Entelechie g. Selbstbehauptung erforderlich 4. Politik a. Rankes Indifferentismus b. Heines Fortschrittsglaube c. Droysen gegen Rankes feige Intelligenz d. Begeisterung für den Gemeinsinn! e. Volksart fördern! f. Kosten abbuchen! g. Gemeinschaft stärken! h. Eunuchische Objektivität i. Befruchtung durch Historie j. Parteilichkeit vonnöten 5. Die Pandorabüchse des Historismus a. Drei Bühnen b. Der Weltkrieg als Weltgericht c. Historisierung der Werte d. Troeltsch contra Weber e. Religionsersatz f. Relativismus lähmt g. Das Gespenst als Historismus h. Meineckes Goethegemeinden i. Tragödie und Exzelsiordrang

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XI. Der Historische Materialismus a. b. c. d. e. f.

Eine einzige Wissenschaft Marx und Engels Hegels Erbe Materie und Materialismus Demokrits Atome Platons Idealismus

1. Der Grundtext a. Politische Ökonomie b. Basis und Überbau c. Revolution als Lokomotive d. Vier Gesellschaftsformationen e. Weltrevolution 2. Basis und Überbau a. Einheit und Notwendigkeit der Menschheitsentwicklung b. Die Entfaltung der Produktivkräfte c. Aufstieg der Zivilisation d. Widerspiegelung der Produktionsverhältnisse in der Kultur e. Realdialektik f. Aufsteigende Kausalität g. Die Rolle der Persönlichkeit nach Hegel h. Brot ist die Basis und Kunst ist die Krönung 3. Die Rolle der Revolutionen a. Französische Revolution als Muster b. Vom Werkzeug zur Fessel c. Klassenkampf zwischen Herr und Knecht d. Revolution bei Saint-Simon e. Andere Revolutionen f. Weltperioden bei Marx g. bei Saint-Simon h. Geschichtsloser Orient i. Vom Feudalismus zur frühbürger­ lichen Revolution j. Der letzte Kampf k. Die nahe Weltrevolution l. Proletarii und Proletarier

m. Verelendung nach dem ehernen Lohrgesetz n. Führungsauftrag der Kommunisten o. Die klassenlose Gesellschaft der Zukunft p. Endzeit bei Saint-Simon q. seine Industrielle Religion r. Urgesellschaft wird erneuert s. Abstieg bei Engels 4. Das christliche Erbe a. Löwith zur Säkularisierung b. Großgliederung parallel c. Felix culpa am Anfang d. Erbsünde Arbeitsteilung e. Entfremdung wie bei Hegel f. Ähnlich bei Paulus g. Taktischer Dualismus h. Emanzipation paulinisch i. Endkampf bei Harmagedon j. Die Wehen der Wende k. Universalität der neuen Zeit l. Die Idee der letzten Instanz m. Grobmaterielle Produktion als höchste Gewalt n. Notwendigkeit oder Freiheit? 5. Eine Wissenschaftsreligion a. Massenwirksamkeit b. Kommunismus in der Urgemeinde c. Thomas Münzer d. Campanella e. Simplicissimus f. Christlicher Frühsozialismus g. Der Marxismus ein Krisenprodukt h. Die frühen Christen als erste Sozialisten i. Resäkularisierung der Heilsbotschaft j. Visionen oder Illusionen? k. Heilige Schriften der Klassiker l. Marxistische Apokryphen m. Orthodoxie und Häresie n. Liefert Marx den Universalschlüssel? o. Feuerbach Elf

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XII. Paradigmatische Geschichtskonzepte a. Antihegelianisch b. Paradigmatik statt Linearität c. Eklektik? 1. Burckhardts Kulturkonstanten a. Betrachtung der Weltgeschichte b. Kentaur am Waldesrand c. Weltpläne sind Projektion d. Lebensstandard ist kein Maßstab e. Erkenntnisfortschritt f. Weise für immer g. Historische Konstanten: Drei Potenzen h. Kulturmetropolen Athen und ­Florenz i. Repräsentative Persönlichkeiten j. Krisen als beschleunigte Prozesse k. Rolle der Gewalt l. Lebenszyklen m. Pathologie n. Macht ist böse o. Kompensation p. Sekurität heißt Sterilität q. Die Kosten der Krise r. Mißbrauch der Kompensations­ theorie s. Trübe Zukunft t. Glück und Unglück 2. Nietzsches ewige Wiederkehr a. Idealismus ein Hirngespinst b. Sinn von Wahrheit c. Das Pathos der Distanz d. Nutzen und Nachteil der Historie e. Leben geht vor f. Drei Historien: monumentalisch g. antiquarisch h. kritisch i. Ist Vielwisserei Bildung? j. Eierlegende Professoren k. Erkennen ist perspektivisch l. Gerechtigkeit ist Sache Gottes m. Götzendienst des Tatsächlichen

n. o. p. q. r. s. t. u. v. w. x. y. z.

Höchste Exemplare allein relevant Volk und Masse Jugend als Hoffnungsträger Das Außerhistorische als Gegen­ gewicht Dionysisch-Apollinisch Christentum destruktiv Germanen als blonde Bestien Herrenmoral und Sklavenmoral Dekadenz der Gegenwart Übermensch ahoi! Wille zur Macht Götzendämmerung Die ewige Wiederkehr

3. Max Webers Idealtypen a. Fünf Fächer b. Chaos des Weltgeschehens c. Methodologie reflektiert d. Wertfreiheit gefordert e. Ideale individuell f. Interessen unvereinbar g. Rationalisierung und Entzauberung h. Protestantismus als Produktivkraft i. Calvinistisches Arbeitsethos j. Idealtyp k. als heuristisches Instrument l. Heimliche Teleologie m. Bürokratie im Vormarsch n. Eine neue Spätantike? 4. Paradigmatik a. Frühe Exemplasammlungen b. Voltaires vier Zeiten c. Pragmatik

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XIII. Morphologien der Weltgeschichte a. Goethes Morphologie des Organischen b. Spenglers Morphologie des Historischen 1. Das Lebensaltergleichnis a. Metaphern b. Organik als Denkmuster c. Lebensaltergleichnis d. Seneca: Roms Altersstufen e. Erziehungsmetapher in der ­Aufklärung f. Organisches Denken in der Romantik 2. Vorreiter a. Vollgraff: Völker reifen und sterben b. Frobenius’ Kulturkreislehre c. Paideuma statt Volksgeist d. Lebenszyklik bei Eduard Meyer e. in der europäischen Wirtschafts­ geschichte f. Kulturhöhepunkt Athen g. Dauergewinn Individualismus h. Roms Lebenslauf i. Pax Romana macht müde j. Greisenalter k. Initialzündung Weltkrieg 3. Spenglers Hochkulturen a. Ein Privatgelehrter b. Traumprojekt Afrikasien c. Untergang auf dem Papier d. Hoch- und Flachkultur e. Parallelisierung als Methode f. Entsprechungen Antike-Europa: Archaik g. Staatlichkeit h. Gesellschaft i. Kunst j. Literatur k. Religion l. Philosophie

m. Spätzeit: Weltstadtzivilisation n. Siegreiche Randmächte o. Spätkunst stillos p. Ethik, panem et circenses q. Zweite Religiosität r. Cäsarismus s. Acht Hochkulturen t. Kulturseele statt Volksgeist u. Wesensunterschiede zwischen Antike und Abendland v. Spätantike Pseudomorphose w. Verfälschte Kultur? x. Biologismus? y. Zoologie der Zivilisation z. Politische Ambitionen 4. Toynbees „Theologia Historici“ a. Ein Gentleman b. Ein umfangreiches Hauptwerk c. Diverse Kulturtypen d. Schöpferische Minderheit e. Herrschende Minderheit f. Verfall ein Dauerthema g. Organik und Moral h. Challenge and response i. Gemeinschaft der Heiligen j. Kingdom of God 5. Eine Relativitätstheorie der Kultur a. Einstein 1920 b. Weizsäcker 1948 c. Sind Kulturkontakte Mißverständnisse? d. Bausteine Spenglers e. Fatalismus soweit nötig

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XIV. Geschichtsbiologismus a. b. c. d. e. f. g.

Jakob Grimm Naturwissenschaft als Vorbild Mensch und Tier Menschenzüchtung Ungleichheit: Barbarenbild Kirchenväter Von Lamettrie zu Lorenz

1. Gobineau und die Arier a. Leben und Programm b. Zehn Kulturen c. Arische Rasse als Kulturbringer d. Degeneration durch Rassen­ mischung e. Pessimismus 2. Darwin und die Evolution a. Epochal für die Biologie b. Vorläufer seit Anaximandros c. Lamarck und die Stammes­ geschichte d. Daseinskampf bei Malthus e. Der Bildgehalt von Evolution f. Vermehrung und Aussterben g. Komplexität und Überlebensfähigkeit h. Teleologie oder Metamorphose? i. Progress towards perfection j. Darwins Rassenlehre k. Sozialdarwinismus von Anfang an l. Dekadenz der Griechen m. Degeneration durch Humanität n. Haustierzucht Vorbild o. Eugenik bei Galton p. Haeckel und der Monismus q. Politik ist Kampf ums Sosein 3. Chamberlain und die Rassenlehre a. Ein neuer Biologismus b. Germanen als Kulturschöpfer c. Zwei Perioden d. Das Ende der Antike im Rassenchaos

e. Christentum und Persönlichkeit f. Jesus – ein Arier? g. Antisemitismus nach Dühring h. Rassereinheit i. Der gesunde Instinkt j. Rassistisches bei Marx und Engels k. Parteilichkeit gefordert l. Krupps Preisausschreiben 1900 m. Rasse bei Rathenau n. Hitlers Naturglaube o. Das Kulturmonopol der Arier p. Niedere Rassen q. Juden als Gegenrasse r. Ausrottung als Rassenkampf s. Der Sieg der Slawen 1945 4. Freuds Pessismismus a. Die Kulturgeschichte ist ein ­organischer Prozeß b. Lebensaltergleichnis biopsycho­ logisch c. Urhorde und Urvatermord d. Mutterrecht nach Bachofen e. Patriarchat progressiv f. Monotheismus ägyptisch g. Religion als Schuldkomplex h. Unsere Gottähnlichkeit wächst i. Kultur als Korsett j. Sexualtabu und Ersatzbefriedigung k. Die Neurose der Menschheit l. Erbschuld als roter Faden m. Biblische Spuren bei Freud 5. Lorenz und die Höherentwicklung a. Evolution und Wertzuwachs b. Einzelkulturen statt Gesamt­ entwicklung c. Fulguration am Anfang jeder ­Kultur d. Kulturen sind lebende Systeme e. Abgrenzung erforderlich f. Aggressivität sinnvoll g. Kulturzerfall heute



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h. 1. Verfallsgrund: Sippenkämpfe i. 2. Verfallsgrund: Verweichlichung j. 3. Verfallsgrund: Erbschäden k. Selbstdomestikation verderblich l. Innerspezifische Auslese satanisch m. Vulgarisation durch Zivilisation n. Normenkonflikt in der Spätkultur o. Acht Todsünden der Moderne p. Drei Biokatastrophen q. Übermensch kommt r. Nachmensch: Homo sapientissimus 6. Grenzen der Biologik a. Hitlerismus b. Geschichte – ein Naturvorgang? c. Kulturaustausch statt Isolation d. Selektion ist Destruktion e. Wettbewerb und Krieg

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f. Domestikation kulturnotwendig g. Ethik und Ethologie h. Alles nur Zufall und Notwendigkeit? i. Evolutionäre Erkenntnistheorie j. Vernunft immer lebensfördernd? k. Gehirn als Werkzeug l. Was verraten die grauen Zellen? m. Evolution als Arbeitshypothese n. Ist Erkenntnis der Natur ein Teil der Natur? o. Innere Distanz der Selbsterkenntnis p. Priorität zwischen Objekt und Subjekt? q. Darwinismus als Wissenschafts­ religion r. Naturmonismus ist Selbstentmündigung

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XV. Posthistorische Endzeit a. b. c. d. e.

Conservatrix historia Zeitloser Weltensabbat Apokalypse auf Raten Die Weltgesellschaft der Zukunft Posthistoire und andere post-fixierte Zeitqualitäten f. Neo-geprägte Richtungen 1. Finis historiae a. Hegel: Stunde der Nachteule b. Marx: Ende der Vorgeschichte c. Cournot: posthistoire d. Spengler: Zoologie e. Jünger: Weltwende f. Benn: Aprèslude g. Huizinga: Ende der Kultur h. de Man und Gehlen: Vermassung und Kristallisation i. Günther Anders: Geschichtslosigkeit j. Guardini: Frevelhafter Autono­ mismus 2. Die Geburt der Komödie a. Kojève: État homogène et universel b. Baudrillard: Implosion in Aktualität c. Fukuyama: Triumph der Demo­ kratie d. Lyotard: Postmoderne e. Zeitgemäße Spaßphilosophie

3. Geschichtslosigkeit a. Messianische Entgeschichtlichung b. Paradiesische Geschichtslosigkeit c. Begriffsmanipulationen: d. Kein Mittelalter e. Keine römische Kaiserzeit f. Selektivität der Historie g. Geschichte ist quantifizierbar h. Ereignisarme Urgeschichte i. Der wohltemperierte Endzeitbürger j. Homogene Nachgeschichte k. Versorgung und Erregungsbedarf l. Posthistorische Historie 4. Themen der Zukunft a. Bevölkerungsexplosion b. Destruktive Industriefolgen c. Fundamentalismus d. Ende der Menschheit gewiß e. Hartes Ende: Atomtod f. Weiches Ende: Neue Steinzeit g. Seneca und Pascal

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XVI. Zur Philosophie der Geschichte a. Prinz Zemir b. Philosophie als Leitfaden 1. Begriff Geschichtsphilosophie a. Bazin alias Voltaire 1765 b. Herder 1774 c. Vor- und Frühformen der Geschichtsphilosophie d. Geschichtsbewußtsein e. Systemcharakter variiert f. Posesie und Historie bei Aristoteles g. Diltheys Verdikt 2. Arsenal oder Prozeß? a. Verschiedene Landkarten für ­dieselbe Gegend b. Thematische Fallsammlungen c. Lehrreiche Beispiele d. Exzerpte in praktischer Absicht e. Vorgang als Raumvorstellung f. Der Weg der Geschichte g. Metapherntücke h. Vorherbestimmung oder freier Wille? i. Gott und Gottersatz j. List der Vernunft k. Welthistorische Gegensätze l. Gut und Böse m. Polarität als Movens n. Wertung problematisch 3. Fortschritt a. Begriff fehlgebildet b. Historie als Totengericht c. Die Anmaßung der Theodizee d. Tatendrang produziert Geschichte e. Zivilisation ungleich verteilt f. Fortschrittsfreie Bereiche g. Mehr Glück? h. Wie meßbar? i. Mehr Humanität? j. Ende der Menschenopfer k. Fortschrittskritik

4. Dekadenz a. Begriff décadence b. Stillstand gleich Rückschritt? c. Sittenverfall militärisch d. Rückschritte und Untergänge e. Pessimismus f. Diabolik des Geistes g. Kehrseiten der Aufklärung h. Nullsummenspiel? 5. Systemfolge a. Grundstruktur des Theorien­ komplexes b. Ausdrucksformen für Grund­ annahmen c. Gegensätzliche Grundstimmungen gleicher Zeit d. Zeitübergreifende Denkfiguren e. Funktionswechsel gleicher Motive 6. Säkularisierung a. Stufenfolge nach Meinecke b. Begriffskritik bei Blumenberg c. Bewußte Umdeutung seit Lessing d. Der Neue Mensch seit Paulus e. Neumenschen seit 1922 f. Das Dreierschema g. Wunschziele der Geschichte h. in der Gegenwart i. in der Zukunft j. Schwellengefühle k. Wissenschaftsreligionen 7. Realitätsgehalt a. Erkenntnisfortschritt in der philosophischen Geschichtsdeutung? b. Geschichtsphilosophischer ­Dilettantismus c. Fachbildung der Geschichts­ philosophen d. Fortschrittlichkeit der Fortschrittstheorie? e. Deutung widerlegbar?

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f. Denkschulen g. Baedeker h. Sinngebung i. Sinn von Sinn j. Wird Geschichte gemacht? k. Geschichte als Text l. Sinn der Historie: Trost m. Geschichtsgesetze? n. Erfahrungsregeln

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o. Vorhersagen möglich? p. Gelungene Prognosen q. Geschichtsphilosophie im Dienst von Pädagogik und Politik r. Menschenrechte geschichtsphilosophisch begründet s. Einzige Zukunft? t. Elefantenparabel

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Alexander Demandt versucht in den hier publizierten Essays dem Verlust an Universalität entgegenzuwirken. Es geht u.a. um Dekadenz und Fortschritt, Epochenverständnis und Apokalyptik, um Geschehenes und Ungeschehenes.

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