Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz: Untersuchungen anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz 3515116877, 9783515116879

Sprachliche Unterschiede zwischen Dialekten gehen auf Sprachwandel zurück. Anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz

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Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz: Untersuchungen anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz
 3515116877, 9783515116879

Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
VERZEICHNIS DER KARTEN
TERMINOLOGIE, ABKÜRZUNGEN, TYPOGRAFISCHE KONVENTIONEN
TERMINOLOGIE
ABKÜRZUNGEN
TYPOGRAFISCHE KONVENTIONEN
ZUR DIALEKTSCHREIBUNG
1 EINLEITUNG
1.1 FRAGESTELLUNG
1.2 DIVERSITÄT
1.3 AREALITÄT
1.4 SPRACHWANDEL
1.5 DIE ONOMASIOLOGISCHE PERSPEKTIVE
1.6 UNTERSUCHUNGSOBJEKT UND DATENBASIS
1.7 ZUR INTERPRETATION ONOMASIOLOGISCHER KARTEN
2 BEZEICHNUNGSWANDEL: SYSTEMATISCHE ASPEKTE
2.1 BEZEICHNUNGSWANDEL ALS SPRACHWANDEL
2.2 VARIATION IN DER LEXIKALISCHEN INNOVATION
2.3 BEZEICHNUNGSWANDEL UND WORTSCHATZSTRUKTUR
3 BEZEICHNUNGSWANDEL UND AREALE DIVERSITÄT
3.1 EINLEITUNG
3.2 GRUNDFORMEN DER ENTSTEHUNG AREALER DIVERSITÄT
3.3 KOMBINATIONEN VON DIVERSIFIZIERUNGSPROZESSEN
3.4 ÜBERGÄNGE UND AMBIGUITÄTEN ZWISCHEN WORTERSATZ UND KONZEPTUELLER INNOVATION
3.5 UMSTRUKTURIERUNGEN IM WORTSCHATZ
3.6 GRENZEN DER DIACHRONEN INTERPRETIERBARKEIT
3.7 LOKALE VARIANZ ALS REFLEX VON SPRACHWANDEL
4 VARIANTENMUSTER IN DER SYNCHRONIE
4.1 EINLEITUNG
4.2 VARIANTENMUSTER BEI DESKRIPTIVER MOTIVIERTHEIT
4.3 HETEROGENITÄT AUFGRUND VON DEMOTIVIERUNG DURCH SPRACHWANDEL
4.4 VARIANTENMUSTER BEI SACHWANDEL UND SACHINNOVATION
4.5 VARIANTENMUSTER BEI IKONISCHEN BEZEICHNUNGSTYPEN
4.6 VARIANTENMUSTER BEI ASSOZIATIVEN ABWANDLUNGEN
4.7 ÜBERGÄNGE ZWISCHEN ASSOZIATIVITÄT, IKONIZITÄT UND SEMANTISCHER VERSCHIEBUNG
4.8 INHÄRENTE HETEROGENITÄT
4.9 KOMPLEXE FORMEN DER HETEROMORPHIE UND ÜBERSCHICHTUNGEN VON VARIANTENMUSTERN
4.10 BEZEICHNUNGSSTILE
4.11 SCHLUSSFOLGERUNGEN
5 AREALE DISTRIBUTIONSMUSTER
5.1 MERKMALE AREALER DISTRIBUTIONSMUSTER
5.2 TYPEN AREALER DISTRIBUTIONSMUSTER
5.3 DYNAMISCHE HINTERGRÜNDE VON AREALEN DISTRIBUTIONSMUSTERN
5.4 DISTRIBUTIONSMUSTER UND VARIANTENMUSTER
6 VARIATIONEN IN DIVERSITÄTSMUSTERN
6.1 EINLEITUNG
6.2 DIVERSITÄT UND NATURWAHRNEHMUNG
6.3 ELEMENTARES KÖRPERVERHALTEN
6.4 ZUCHT- UND HAUSTIERE AUF DEM BAUERNHOF
6.5 GEGENSTÄNDE DES ALLTAGSLEBENS
7 DIVERSITÄT UND ANLÄSSE VON WORTSCHATZWANDEL – VERSUCH EINER SYNTHESE
LITERATURVERZEICHNIS
REGISTER DER BEHANDELTEN SDS-KARTEN

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Andreas Lötscher Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 169

Andreas Lötscher

Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz Untersuchungen anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11687-9 (Print) ISBN 978-3-515-11689-3 (E-Book)

Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück. (Karl Kraus) Hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen. (Stanisław Jerzy Lec) Eine Geschichte ist dann eine Geschichte, wenn sie an eine Geschichte erinnert. (Peter Bichsel)

VORWORT „Variatio delectat“ – das gilt nicht nur für Texte, sondern auch für Dialekte. Bei den Wortkarten eines Sprachatlas ist das Vergnügen mehrfach: Nicht nur ist jede Karte ein eigenes Bildwerk mit einem Ineinander von Varianten, auch zwischen den Karten zeigen sich vielfältige Variationen von lexikalischen und räumlichen Ähnlichkeiten und Unterschieden. Vielfältig ist auch die Art und Weise, wie die Dinge dieser Welt in den verschiedenen Dialekten in Sprache gefasst werden. Die Faszination, die von dieser Vielschichtigkeit der Variation im Dialektwortschatz ausgeht, war Anreiz und Hintergrund für die vorliegende Arbeit. Für einen Wissenschaftler ist das Staunen nicht das Ende, sondern ein Anfang. Wer sich als Dialektologe in die Kartenbilder des Sprachatlas der deutschen Schweiz vertieft, dem flüstern die Karten früher oder später einen Wunsch zu: Erzähle uns eine Geschichte über uns! – Welche Geschichte? Sind noch nicht genug Geschichten über euch erzählt worden? – Es warten aber noch mehr! Finde sie! Es sind viele Geschichten in uns versteckt! Je genauer man die Karten des Sprachatlas der deutschen Schweiz studiert, desto mehr staunt man über den Reichtum an Daten, der darin enthalten ist. Der Sprachatlas der deutschen Schweiz und das Schweizerdeutsche Wörterbuch bilden zusammen eine synchrone und diachrone Dokumentation zur Wortschatzvielfalt der Alltagssprache, wie sie es so umfassend und detailliert für kaum ein anderes Dialektgebiet gibt. Ohne die immense intellektuelle und organisatorische Leistung und die präzise, selbstlose und geduldige Arbeit der Initiatoren und der Bearbeiterinnen und Bearbeiter dieser Werke wären Untersuchungen wie die vorliegende nicht möglich. Mit Hochachtung und Dankbarkeit für diese Arbeit benutzte ich diese Werke. Es wäre in meinen Augen eine fahrlässige Unterlassung, sie zwar zu bewundern, sonst aber als bloßes Datenarchiv ruhen zu lassen. Dialekte sind eigentliche Experimentierstuben für Sprachkreativität und seit dem Beginn der Dialektologie eine Fundgrube, um theoretische Annahmen über Sprache und Sprachwandel an der konkreten Sprachrealität zu überprüfen. Ohne Daten gibt es nichts zu erklären, und Theorien ohne Daten erklären keine Realität. Das gilt auch für den in dieser Beziehung eher stiefmütterlich behandelten Bereich des Wortschatzes. Die vorliegende Arbeit möge dazu weitere Perspektiven öffnen. Den Herausgebern der ZDL-Beihefte danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Elisabeth Hug danke ich für das sorgfältige und geduldige Lektorieren und für alles andere.

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT .............................................................................................................7 VERZEICHNIS DER KARTEN ...........................................................................13 TERMINOLOGIE, ABKÜRZUNGEN, TYPOGRAFISCHE KONVENTIONEN ................................................................................................15 Terminologie ..........................................................................................................15 Abkürzungen ..........................................................................................................16 Typografische Konventionen .................................................................................17 ZUR DIALEKTSCHREIBUNG............................................................................18 1 EINLEITUNG..................................................................................................19 1.1 Fragestellung ....................................................................................................19 1.2 Diversität ..........................................................................................................20 1.3 Arealität............................................................................................................21 1.4 Sprachwandel ...................................................................................................23 1.5 Die onomasiologische Perspektive ..................................................................25 1.6 Untersuchungsobjekt und Datenbasis ..............................................................25 1.7 Zur Interpretation onomasiologischer Karten ..................................................28 2 BEZEICHNUNGSWANDEL: SYSTEMATISCHE ASPEKTE ....................32 2.1 Bezeichnungswandel als Sprachwandel ..........................................................32 2.1.1 Bezeichnungswandel als Innovation ......................................................32 2.1.2 Wort – Bedeutung – Konzept im Bezeichnungswandel.........................35 2.1.3 Die Raumlosigkeit von Innovation ........................................................41 2.1.4 Dimensionen des Bezeichnungswandels ................................................41 2.1.5 Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel .......................................43 2.2 Variation in der lexikalischen Innovation ........................................................46 2.2.1 Innovationen auf Ausdrucksebene .........................................................46 2.2.1.1 Semantische Umfunktionierung .......................................................46 2.2.1.2 Wortbildung......................................................................................48 2.2.1.3 Wortschöpfung („Urschöpfung“): Onomatopoesie und Lautgebärde ......................................................................................50 2.2.1.4 Assoziative Abwandlung („Deformation“) ......................................51 2.2.1.5 Entlehnung........................................................................................56 2.2.2 Inhaltsbezüge – Motiviertheit.................................................................58 2.2.2.1 Motiviertheit als Form-Inhaltsbezug ................................................59

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Inhaltsverzeichnis

2.2.2.2 Motiviertheit als Metonymie ............................................................60 2.2.2.3 Taxonomische Bezüge......................................................................64 2.2.2.4 Definitorische Verfahren ..................................................................66 2.2.2.5 Narrative Motiviertheit .....................................................................67 2.2.3 Fazit: Die inhärente Variabilität von lexikalischer Innovation ..............68 2.3 Bezeichnungswandel und Wortschatzstruktur .................................................71 2.3.1 Wortersatz ..............................................................................................72 2.3.2 Wortschatzerweiterung aufgrund von konzeptueller Innovation ...........74 2.3.3 Wortschatzwandel aufgrund von Sachinnovation und Sachwandel ......76 2.3.4 Monosemierung von Quasi-Synonymen ................................................77 2.3.5 Umstrukturierungen des Wortschatzes...................................................79 2.3.5.1 Semantische Differenzierung von Quasi-Synonymen (Bedeutungsdifferenzierung) ............................................................79 2.3.5.2 Innovationen zum Ausgleich von Bedeutungswandel .....................80 2.3.5.3 Umschichtungen in einem Konzeptfeld ...........................................81 3 BEZEICHNUNGSWANDEL UND AREALE DIVERSITÄT.......................83 3.1 Einleitung .........................................................................................................83 3.1.1 Innovation im Raum ...............................................................................83 3.1.2 Variabilität in Innovationen und Diversität ............................................83 3.1.3 Diffusion.................................................................................................83 3.1.4 Staffelungen und Schichtungen ..............................................................85 3.1.5 Zur diachronen Interpretation von Wortschatzkarten ............................85 3.2 Grundformen der Entstehung arealer Diversität ..............................................88 3.2.1 Wortersatz ..............................................................................................89 3.2.2 Monosemierung von Quasi-Synonymen ................................................94 3.2.3 Konzeptuelle Innovation ........................................................................97 3.2.4 Sachinnovation und Sachwandel ..........................................................103 3.3 Kombinationen von Diversifizierungsprozessen ...........................................113 3.4 Übergänge und Ambiguitäten zwischen Wortersatz und konzeptueller Innovation ............................................................................................117 3.5 Umstrukturierungen im Wortschatz ...............................................................120 3.5.1 Semantische Differenzierung von Quasi-Synonymen (Bedeutungsdifferenzierung) ...............................................................120 3.5.2 Innovation zum Ausgleich von Bedeutungswandel .............................122 3.5.3 Umschichtungen in Konzeptfeldern .....................................................123 3.5.3.1 Konzeptfeld SCHICHT AUF MILCH ..................................................123 3.5.3.2 Konzeptfeld KÖRBE ........................................................................125 3.5.3.3 Konzeptfeld WEINEN .......................................................................133 3.6 Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit ...................................................139 3.7 Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel ...............................................154 3.7.1 Varianz im lokalen Wortschatz ............................................................154 3.7.1.1 Gleichwertige Varianten aus Primärmaterial .................................154 3.7.1.2 Variationen zwischen Primärmaterial und Sekundärmaterial ........155

Inhaltsverzeichnis

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3.7.1.3 Diachrone Einstufungen .................................................................156 3.7.1.4 Stilistische Bewertungen ................................................................157 3.7.2 Die dynamische Interpretation von lokaler Varianz ............................158 3.7.3 Lokale Varianz im Raum .....................................................................168 4 VARIANTENMUSTER IN DER SYNCHRONIE .......................................178 4.1 Einleitung .......................................................................................................178 4.1.1 Heteromorphie: Ähnlichkeit und Heterogenität ...................................178 4.1.2 Variantenmuster ...................................................................................178 4.2 Variantenmuster bei deskriptiver Motiviertheit .............................................179 4.2.1 Variationen der Heterogenität bei deskriptiv motivierten Variantenmustern .................................................................................179 4.2.2 Semantische Strukturen in Heteronymien ............................................186 4.2.3 Deskriptive Heteronymie als kollektive Sachbeschreibung .................187 4.3 Heterogenität aufgrund von Demotivierung durch Sprachwandel ................188 4.4 Variantenmuster bei Sachwandel und Sachinnovation ..................................192 4.5 Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen ....................................193 4.6 Variantenmuster bei assoziativen Abwandlungen .........................................205 4.7 Übergänge zwischen Assoziativität, Ikonizität und semantischer Verschiebung .......................................................................................212 4.8 Inhärente Heterogenität ..................................................................................217 4.9 Komplexe Formen der Heteromorphie und Überschichtungen von Variantenmustern ................................................................................217 4.10 Bezeichnungsstile ........................................................................................222 4.11 Schlussfolgerungen ......................................................................................224 5 AREALE DISTRIBUTIONSMUSTER ........................................................225 5.1 Merkmale arealer Distributionsmuster ..........................................................225 5.2 Typen arealer Distributionsmuster .................................................................227 5.3 Dynamische Hintergründe von arealen Distributionsmustern .......................239 5.3.1 Innovation und Diffusion als Einflussfaktoren ....................................239 5.3.2 Detailanalysen ......................................................................................240 5.4 Distributionsmuster und Variantenmuster .....................................................243 5.4.1 Kohärente – inkohärente Distribution von Heteronymen ....................243 5.4.2 Areale Kohärenz und lexikalische Ähnlichkeit ....................................248 6 VARIATIONEN IN DIVERSITÄTSMUSTERN .........................................256 6.1 Einleitung .......................................................................................................256 6.1.1 Diversitätsmuster ..................................................................................257 6.1.2 Innovationsaffinität – Diffusionsaffinität .............................................258 6.1.3 Zeit – Diachronie – Geschichtlichkeit ..................................................262 6.2 Diversität und Naturwahrnehmung ................................................................263 6.2.1 Freilebende Insekten ............................................................................263 6.2.1.1 Diversitätstypen ..............................................................................263

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Inhaltsverzeichnis

6.2.1.2 Lexikalische und konzeptionelle Kontinuität .................................273 6.2.1.3 Kontinuität, Wahrnehmbarkeit und Prototypizität .........................275 6.2.1.4 Alltagssprachliche Taxonomien .....................................................275 6.2.1.5 Bezeichnungsstile ...........................................................................277 6.2.1.6 Faktoren der Diversität ...................................................................279 6.2.2 Wildlebende Säugetiere........................................................................281 6.2.3 Wildwachsende Bäume und Sträucher .................................................282 6.2.3.1 Diversitätstypen ..............................................................................283 6.2.3.2 Faktoren der Diversität ...................................................................294 6.2.4 Wildwachsende Blumen .......................................................................296 6.2.5 Wetterphänomene.................................................................................304 6.2.5.1 Diversitätstypen ..............................................................................304 6.2.5.2 Faktoren der Diversität ...................................................................308 6.3 Elementares Körperverhalten.........................................................................309 6.3.1 Diversitätstypen ....................................................................................310 6.3.2 Faktoren der Diversität .........................................................................315 6.4 Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof ......................................................320 6.4.1 Rind ......................................................................................................322 6.4.2 Schwein ................................................................................................327 6.4.3 Ziege .....................................................................................................331 6.4.4 Pferd .....................................................................................................333 6.4.5 Haushuhn ..............................................................................................334 6.4.6 Hund und Katze ....................................................................................336 6.4.7 Zusammenfassung ................................................................................339 6.5 Gegenstände des Alltagslebens ......................................................................341 6.5.1 Möbel ...................................................................................................342 6.5.1.1 Diversitätstypen ..............................................................................342 6.5.1.2 Faktoren der Diversität ...................................................................347 6.5.2 Kleidung ...............................................................................................348 6.5.2.1 Diversitätstypen ..............................................................................349 6.5.2.2 Faktoren der Diversität ...................................................................354 6.5.3 Nahrung ................................................................................................354 6.5.3.1 Diversitätstypen ..............................................................................355 6.5.3.2 Faktoren der Diversität ...................................................................361 7 DIVERSITÄT UND ANLÄSSE VON WORTSCHATZWANDEL – VERSUCH EINER SYNTHESE ..................................................................363 LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................367 REGISTER DER BEHANDELTEN SDS-KARTEN .........................................376

VERZEICHNIS DER KARTEN Vorbemerkungen zu den Karten: Die Karten bezwecken vor allem eine knappe Veranschaulichung der räumlichen Verteilung der besprochenen Heteronyme. Präzise Darstellungen der arealen Verhältnisse sind im gegebenen beschränkten Format nicht angestrebt und ohnehin selten möglich, da die Geltungsbereiche der Heteronyme sich meist überlappen. Auch wo Isoglossen angegeben werden, stellen diese starke Vereinfachungen dar. Für Detailinformationen sei auf die entsprechenden Originalkarten im SDS oder ggf. auf die Karten im KSDS verwiesen. Als Bezeichnungen (Titel) der SDS-Karten (und entsprechende Benennungen von Onomemen) werden soweit möglich die Titel im KSDS übernommen; diese sind teilweise gegenüber denjenigen des SDS vereinfacht. Ansonsten werden die Überschriften des SDS verwendet, auch hier wo sinnvoll mit Vereinfachungen. Karte 1: „annähen (Knopf)“ (SDS VII 77) ..........................................................89 Karte 2: „Schmetterling“ (SDS VI 237/238) .......................................................91 Karte 3: „Schluckauf“ (SDS IV 71) .....................................................................92 Karte 4: „Zuchtstier“ (SDS VIII 3) ......................................................................93 Karte 5: „Brei/Mus“ (SDS V 193/194) ................................................................96 Karte 6: „Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47) ............................................100 Karte 7: „zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170) ............................102 Karte 8: „(Kartoffeln) stecken“ (SDS VI 204) ..................................................104 Karte 9: „Kartoffel“ (SDS VI 202) ....................................................................107 Karte 10: „Konfitüre“ (SDS V 191).....................................................................111 Karte 11: „Kartoffelraffel“ (SDS VII 198) ..........................................................112 Karte 12: „Schürze der Frau“ (SDS V 142) .........................................................114 Karte 13: „stolpern“ (SDS VII 171).....................................................................116 Karte 14: „Anfangsstück des Brotes“ (SDS V 171) ............................................118 Karte 15: „Glockenschwengel“ (SDS V 43) ........................................................120 Karte 16: „Konzeptfeld SCHICHT AUF MILCH“ (SDS V 163) ..............................124 Karte 17: „Konzeptfeld KÖRBE“: Geografische Verteilung der regionalen Strukturvarianten (SDS VII 62–68) ....................................................128 Karte 18: „Konzeptfeld WEINEN“: Geografische Verteilung der regionalen Strukturvarianten (SDS IV 97–110) ...................................................136 Karte 19: „ausruhen“ (SDS IV 113) ....................................................................140 Karte 20: „Regenwurm“ (SDS VI 220) ...............................................................143 Karte 21: „Hahn“ (SDS VIII 94) .........................................................................145 Karte 22: „Viehweglein“ (SDS VI 73) ................................................................146 Karte 23: „Pfütze“ (SDS VI 40)...........................................................................148 Karte 24: „Reisigbündel“ (SDS VIII 155) ...........................................................150

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Verzeichnis der Karten

Karte 25: „Getreide“ (SDS VIII 192) ..................................................................152 Karte 26: „Blumen gießen“ (SDS VI 218) ..........................................................153 Karte 27: „schnarchen“ (SDS IV 77, Ausschnitt BE)..........................................169 Karte 28: „Hahn“ (SDS VIII 94, Ausschnitt BE-LU-OW-WS) ..........................170 Karte 29: „Quetschflecken auf der Haut“ (SDS IV 46, Ausschnitt SO-AG-LU) 170 Karte 30: „Spielpuppe“ (SDS V 73, Ausschnitt SO-AG-LU) .............................171 Karte 31: „Reisigbündel“ (SDS VIII 155, Ausschnitt ZH-TG) ...........................172 Karte 32: „zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170, Ausschnitt ZH-TG-SG) .......................................................................174 Karte 33: „Schnupfen“ (SDS IV 63, Ausschnitt SO-BE) ....................................175 Karte 34: „Löwenzahn“ (SDS VI 123) ................................................................185 Karte 35: „Heuschrecke“ (SDS VI 222) ..............................................................216 Karte 36: „Küchenzwiebel“ (SDS VI 179) ..........................................................228 Karte 37: „Fasnachtslarve“ (SDS V 63) ..............................................................229 Karte 38: „kauern“ (SDS IV 39) ..........................................................................230 Karte 39: „Zöpfe“ (SDS IV 7) .............................................................................232 Karte 40: „Sommersprossen“ (SDS IV 43–44) ...................................................234 Karte 41: „Buschbohne“ (SDS VI 197) ...............................................................235 Karte 42: „Oberteil des männlichen Anzugs“ (SDS V 123) ................................236 Karte 43: „Bonbon“ (SDS V 212) .......................................................................237 Karte 44: „Stalljauche“ (SDS VII 230) ................................................................244 Karte 45: „Mistplatz“ (SDS VII 229) ..................................................................245 Karte 46: „Ofenkrücke“ (SDS VII 110)...............................................................246 Karte 47: „gären lassen (Hefeteig)“ (SDS VII 101) ............................................247 Karte 48: „Kartoffeln häufeln“ (SDS VI 210) .....................................................249 Karte 49: „niesen“ (SDS IV 67)...........................................................................250 Karte 50: „quatschen (von durchnässten Schuhen)“ (SDS VI 41) ......................251 Karte 51: „Ameise“ (SDS VI 229).......................................................................253

TERMINOLOGIE, ABKÜRZUNGEN, TYPOGRAFISCHE KONVENTIONEN TERMINOLOGIE a. Konzept, Bedeutung, Sache:1 Konzept: mentale Repräsentation eines Sachverhaltstyps innerhalb eines Weltmodells Konzeptfeld: Gruppe sachlich zusammengehöriger Konzepte in einem konzeptuell umreißbaren Sachbereich Bedeutung (eines Wortes): konventionell mit einer Wortform assoziiertes sozial geltendes Konzept Sache: Denotation eines Konzepts oder eines Wortes; Gesamtheit der tatsächlichen und möglichen Phänomene in einer außersprachlichen Welt, die mit einem Konzept bzw. mit der Bedeutung eines Wortes erfassbar und abgrenzbar sind. Sachen können Typen von Objekten, Relationen, Gefühlen, Handlungen, Qualitäten und komplexe Verknüpfungen davon sein.2 b. Heteronym, Heteromorphie, Onomem, Varianz Heteronymie: Koexistenz mehrerer quasi-synonymer Ausdrücke in areal getrennten Gebieten, diatopische Synonymie Heteronym: eine einzelne, areal beschränkt geltende Bezeichnung eines Konzepts aus einer Menge von mehreren areal unterschiedlich verteilten synonymen Bezeichnungen Heteromorphie: Formverschiedenheit zwischen Heteronymen Onomem: Menge der Heteronyme in einem bestimmten geografischen Raum (onomasiologisches Paradigma in einem bestimmten geografischen Raum)3 Varianz: Koexistenz verschiedener quasi-synonymischer Lexeme innerhalb eines lokalen oder individuellen Wortschatzes

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S. dazu im Einzelnen Abschnitt 2.1.2. Sprachlich schließt die Verwendung des Ausdrucks Sache an die Terminologie der traditionellen Onomasiologie an. Inhaltlich kann deren einfache referenzielle Zeichentheorie natürlich nicht übernommen werden. Der Terminus des ‚onomasiologischen Paradigmas‘ in einem weiteren Sinn ist in der germanistischen Lexikologie von H. HENNE und H. E. WIEGAND eingeführt worden (HENNE / WIEGAND 1969, WIEGAND 1970). Die Wortbildung Onomem lehnt sich an die Terminologiemuster Phon/Allophon/Phonem, Morph/Allomorph/Morphem an. In der Terminologie der Variationslinguistik entspricht ein Onomem einer Variablen als Menge von Varianten, welche die gleiche semantische Funktion haben, in unserem Zusammenhang verteilt in der diatopischen Dimension.

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Terminologie, Abkürzungen, typografische Konventionen

ABKÜRZUNGEN a. Kantonsnamen (nach SDS) AG: Aargau Appenzell (Außerrhoden und Innerrhoden) AP: Basel (Stadt und Land) BA: Bern BE: FR: Freiburg Glarus GL: GR: Graubünden LU: Luzern SG: St. Gallen Schaffhausen SH: SO: Solothurn SZ: Schwyz TG: Thurgau UW: Unterwalden (Nidwalden und Obwalden) Uri UR: Wallis WS: Zug ZG: ZH: Zürich Teilgebiete werden mit der Kantonsabkürzung und der üblichen Regionsbezeichnung bezeichnet: AG-Fricktal. b. Sonstige Abkürzungen ae. altenglich althochdeutsch ahd. an. altnordisch englisch engl. feminin f. französisch franz. frankoprov. frankoprovenzalisch germanisch germ. got. gotisch hd. hochdeutsch idg. indogermanisch ital. italienisch m. maskulin mhd. mittelhochdeutsch mlat. mittellateinisch n. neutrum piemont. piemontesisch rätorom. rätoromanisch standarddt. standarddeutsch schwzdt. schweizerdeutsch

Typografische Konventionen

s. v. st. V sw. V.

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(sub voce) unter dem Stichwort starkes Verb schwaches Verb

c. abgekürzt zitierte Literatur, Sprachatlanten, Wörterbücher: s. Literaturverzeichnis TYPOGRAFISCHE KONVENTIONEN kursiv (z. B. schnarchen): Bezeichnung eines Lexems in schriftsprachlich oder lexikografisch standardisierter Form KAPITÄLCHEN (z. B. SCHUBLADE): Bezeichnung eines Konzepts „doppelte Anführungszeichen“ (z. B. „schnarchen“): Bezeichnung eines Onomems (Menge der Heteronyme im Dialektgebiet); Überschriften von Wortkarten sind Bezeichnungen der entsprechenden Onomeme »doppelte Winkelklammern« (z. B. »Chleidli«): Bezeichnung eines Dialektlexems oder -morphems in der interdialektal normalisierten Form des SDS in standardisierter Dialektschreibung (s. unten) ›einfache Winkelklammern‹ (z. B. ›Kleidlein‹): Bezeichnung der standarddeutschen Entsprechung eines Dialektlexems oder des Worttyps, normalisiert auf die entsprechende etymologisch identische standarddeutsche Form (Worttyp: Menge von etymologisch gleichen Varianten); ggf. Bezeichnung eines Etymons (Menge von Wortformen mit dem gleichen etymologischen Hintergrund) ‘hochgestellte einfache Anführungszeichen’ (z. B. ‘schnarchen’): Bezeichnung der Bedeutung eines Lexems /Schrägstriche/ (z. B. /schnarchen/): Bezeichnung der Ausdrucksform (des Designans) eines Lexems in phonologisch standardisierter Form (normalerweise in standarddeutscher Orthografie) |einfache senkrechte Klammern| (z. B. |schnaarche|): im SDS (Kartenlegende oder Liste zu Karten) angegebene einzeldialektale Lautform (in vereinfachter Schreibung) ‟doppelte hochgestellte Anführungszeichen” (z. B. ‟gelb wie Butter”): Bezeichnung des Benennungsmotivs in einem Ausdruck *Asterix* (z. B. *Kopf*): Bezeichnung des Denotats eines sprachlichen Ausdrucks (der Menge der Sachen, die mit einem Ausdruck bezeichnet werden können; s. Definition von Sache oben); verwendet bei Bedarf in metasprachlichen Zusammenhängen.

ZUR DIALEKTSCHREIBUNG Die Dialektschreibung richtet sich nach der ‚Dieth-Schreibung‘ (DIETH 1986), mit einigen Vereinfachungen: Vokale: Kurze Vokale werden einfach, lange Vokale doppelt geschrieben. Andere Kennzeichnungen von Längen, z. B. Dehnungs-h oder -e, entfallen. Der Diphthong eu (in standarddeutscher Orthografie) wird öi geschrieben, ausgenommen bei Ableitungen von Wörtern mit au (z. B. Diminutiv »Bäumli« zu »Baum«) Öffnungsgrade: Bei e werden zwei Öffnungsstufen unterschieden: e (dem Primärumlaut mhd. e entsprechend) und ä (‚überoffen‘, normalerweise mhd. ë entsprechend). Entsprechend wird auch ei und äi unterschieden. Der phonetische Öffnungsgrad ist je nach Dialekt unterschiedlich. Unterschiedliche Öffnungsgrade bei i, o und u werden (entgegen der DiethSchreibung) i. Allg. nicht angegeben; falls erforderlich wird größerer Öffnungsgrad durch accent grave angegeben (ì, ò, ù). Konsonanten: Fortisierung bzw. Dehnung wird durch Doppelschreibung bezeichnet, wo dies möglich und sinnvoll ist, also vor allem bei g, f, l, m, n, s, p, t nach Kurzvokal. k bezeichnet die velare Affrikate /kch/: trinke [trinkche]. Die Zeichen p, t, gg bezeichnen nicht-aspirierte Fortes. Velarer gedehnter Verschlusslaut (unbehaucht) (/k/) wird mit gg dargestellt: Glogge ›Glocke‹. Aspiration von /p/ wird mit h bezeichnet: Phunkt [phunkcht]. [w] wird als w geschrieben: Waase ›Vase‹, [f] als v, wo im Standarddeutschen v steht: Vatter ›Vater‹. Assimilationen: Assimilierte Präfixe, namentlich /g-/ in Partizipien, werden explizit, aber in der assmilierten Form geschrieben: pputzt ›geputzt‹.

1 EINLEITUNG 1.1 FRAGESTELLUNG Dialekte im traditionellen Sinn gibt es, weil es räumliche Unterschiede in der Sprachform gibt. Das gilt auch für den Wortschatz: Die gleiche Sache wird an verschiedenen Orten unterschiedlich bezeichnet. Dieses Phänomen wird hier als ‚areale Diversität‘ bezeichnet. Sprachwissenschaftlich gesprochen wird damit zweierlei thematisiert: erstens die Verschiedenheit (Variation) des Wortschatzes als onomasiologisches Phänomen – für eine Sache gibt es mehrere variante Ausdrucksmöglichkeiten; zweitens der Umstand, dass diese Variation sich in der diatopischen Dimension (räumlich) realisiert, im Gegensatz zu anderen Dimensionen der Variation, etwa der diachronen (Variation in der Zeit), diastratischen (Variation zwischen sozialen Gruppen) oder der diaphasischen Dimension (Variation entsprechend der Kommunikationssituation). Thema dieser Arbeit ist die areale Diversität des dialektalen Wortschatzes in onomasiologischer und diachroner Perspektive: Worin besteht onomasiologische Verschiedenheit zwischen Dialekten? Wie kann man diese Verschiedenheit begrifflich fassen und beschreiben? In welchen unterschiedlichen Formen konkretisiert sie sich? Warum gibt es überhaupt Verschiedenheit im Raum? Wie ist sie enstanden, wie verändert sie sich? Der Fokus liegt auf der Verschiedenheit an sich. Die geografischen Merkmale der Verteilung im Raum sind bei dieser Thematik nur sekundär von Interesse. Diese Fragestellung unterscheidet sich von den Fragestellungen der meisten anderen Arbeiten, die sich mit lexikalischen Verschiedenheiten zwischen Dialekten und der diatopischen Varianz des Wortschatzes beschäftigen. In der Regel wird von der Diversität als gegebenem Faktum ausgegangen und versucht, darin typische Raumstrukturen und räumliche Gliederungen von Dialektregionen zu finden.1 Variation interessiert insoweit, als sie allgemeinere Raumbilder zeigen kann oder in anderen Bereichen gefundene Raumbilder bestätigt (oder allenfalls widerlegt). In einer anderen Perspektive werden Prozesse wie der Aufbau oder Abbau von Verschiedenheiten (Divergenz und Konvergenz) entweder zwischen benachbarten Dialekten oder zwischen Dialekten und überdachenden Varianten wie

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Beispielhaft etwa die Darstellung bei HILDEBRAND (1983). Auch in den theoretisch breiter konzipierten Arbeiten von PICKL (2013) und PRÖLL (2015) fokussiert sich das Forschungsinteresse auf die Möglichkeiten, aus den Variationen Raumstrukturen abzuleiten, auch wenn dabei von der Vorstellung von scharf abgegrenzten Dialektgrenzen Abschied genommen wird. – Etwas näher bei der Themenstellung dieser Arbeit sind die Erläuterungen zu Wortkarten in Werken wie KÖNIG / RENN (2007) und im KSDS. Dort wird jedoch jeweils nur der Einzelfall besprochen und die Etymologie einzelner Ausdrücke erklärt.

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überregionaler Umgangssprache und Standardsprache untersucht.2 In diesem Falle stehen die Gegensätze zwischen Dialekten als räumlichen Gegebenheiten im Vordergrund, die Bildung oder der Abbau von Dialektgrenzen oder von Dialektunterschieden. Divergenz und Konvergenz implizieren eine zweiseitige Relation, ein Neben- und Gegeneinander von zwei verschiedenen Dialekten oder Dialekträumen. Entsprechend mündet auch hier die Diskussion von Divergenz im Falle von Dialekten typischerweise in die Diskussion von Isoglossen als Divergenzlinien zwischen zwei Dialektgebieten und der Hintergründe von deren Entstehen, Verschieben oder Verschwinden. Das Phänomen der Diversität als solcher ist aber jener der Raumbildung vorgelagert: Gäbe es keine areale Diversität an sich, könnte auch die Frage der dialektalen Raumbildung im Wortschatz nicht gestellt werden. Die Beschreibung von Raumbildungstendenzen erklärt und beschreibt die Entstehung und die Erscheinungsformen von Diversität noch nicht. Die Frage, wie sich bestimmte Raumstrukturen bilden, folgt auf die Frage, wie Diversität entsteht. Die Frage nach der Ausbildung bestimmter Raumstrukturen wird im Folgenden entsprechend ausgeklammert. Grenzen und Isoglossen sind bei diesem Zugang zunächst nur als Symptom des – nicht trivialen – Umstands relevant, dass dialektale Sprachgebräuche lokal gebunden und ihre Geltung lokal beschränkt sind und ohne diese lokale Gebundenheit areale Diversität nicht existieren würde. Dialektgrenzen und Isoglossenverläufe sind in dieser Perspektive nur insoweit von Bedeutung, als aus ihnen Indizien für die Entstehung von Diversität gewonnen werden können. Sie geben keine direkte Antwort auf die Frage nach dem Warum und Wie der Diversität. 1.2 DIVERSITÄT Lexikalische Diversität, Verschiedenheit an sich zum Thema zu machen, mag paradox scheinen. Die bloße Feststellung von Diversität ist nur die Benennung von kruden Fakten und enthält selbst noch keine sprachwissenschaftlich weiterführenden Aussagen.3 Aber auch das Phänomen der Diversität an sich kann als Problem thematisiert werden. Worin besteht überhaupt diese Verschiedenheit? Kann man Arten von Verschiedenheiten identifizieren, die beschrieben, unterschieden und untereinander verglichen werden können? Verschiedenheit selbst ist zudem zwar eine universale, aber keine apriorische Eigenschaft von Sprache. Sie 2 3

S. die Übersichtsdarstellungen bei SIEBENHAAR (2010), RØYNELAND (2010), HARNISCH (2010). Vgl. die Kritik an der bloßen „data presentation on a map“ in einer traditionellen Dialektgeografie bei CHAMBERS (2000, 607). Anglophone Sprachgeografen und Dialektologen ignorieren freilich weitgehend die breite Diskussion historischer und kultureller Aspekte der Sprachgeografie in der deutschen Dialektologie seit ihren Anfängen. Auch ist die Darstellung von Wortschatz in Wortschatzkarten wie im SDS keineswegs nur eine Präsentation von kruden Primärdaten, sondern setzt selbst methodologische Vorüberlegungen voraus und ist das Ergebnis von vielerlei Abstraktionen.

Arealität

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ist ein kontingentes historisches Phänomen. Die Existenz von Verschiedenheit wirft die Frage nach deren Entstehung und Ursachen auf. Derartige allgemeine Fragestellungen scheinen für den Wortschatz theoretisch weniger ergiebig als etwa für die Lautebene und die Ebene der Morphologie, die, aus einer beschränkten Menge von Elementen aufgebaut, zusammen relativ abgeschlossene, strukturierte Systeme bilden und deren Veränderung als Umstrukturierung geschlossener Systeme aufgrund allgemeiner funktionaler Prinzipien interpretiert werden kann. Der Wortschatz erscheint demgegenüber von Natur aus offen und unübersichtlich: Wörter können sich ändern, verschwinden oder hinzukommen, ohne dass sich damit notwendigerweise die Gesamtstruktur des Wortschatzes verändert. Die bezeichneten Inhalte stellen ein offenes, nur teilweise strukturiertes Universum dar. Dessen Einzelelemente können jeweils auf unterschiedliche Weise bezeichnet werden. Wenn schon auf der Lautebene gilt „chaque mot a son histoire“, so trifft dies umso mehr auf die lexikalische Ebene zu.4 Dieser Umstand kann jedoch kein Einwand dagegen sein, Geschichte, Form und Substanz von lexikalischer Verschiedenheit als solche zum Gegenstand der Reflexion zu machen, selbst wenn sich dabei herausstellt, dass Irregularität und Unvorhersehbarkeit sich auch aus theoretischen Gründen als konstitutiv für diesen Bereich erweist. Auch Irregularität und Unvorhersehbarkeit ist ein wissenschaftlich zu beschreibendes und zu erklärendes Phänomen. Der bloße Verweis auf die Arbitrarität von Sprache kann keine ausreichende Begründung gegen den Sinn einer sprachwissenschaftlichen Analyse von Diversität sein. 1.3 AREALITÄT Diversität wird in dieser Arbeit als Variation im Raum untersucht. Variation im Raum setzt eine enge Verknüpfung von Sprachformen und geografischem Ort voraus: Konkrete einzelne Sprachformen sind ein Merkmal der Sprechweise an einem bestimmten Ort. Ein solcher Zusammenhang ist an bestimmte historische, soziale und wirtschaftliche Lebensformen gebunden. Er setzt eine relative Stabilität des Wohnorts durch eine lange Lebensspanne und Identität der Orte des Familienlebens, des Arbeitslebens und des sonstigen sozialen Lebens voraus. Damit verbunden ist die soziale Identifikation von Sprache und Ort, was auch eine generelle Geltung des traditionellen Sprachgebrauchs an diesem Ort als dominierender Sprachgebrauch einschließt. Damit kann eine bestimmte Sprachform unabhängig von konkreten Sprechern mit einem bestimmten Ort assoziiert werden. Eine Sprachform gilt als Identitätsmerkmal eines Ortes, und wer sich als zu diesem Ort zugehörig zeigen will, übernimmt auch diese Sprachform.5 Es ist klar, dass heuti4 5

Das Diktum wird unterschiedlichen Autoren wie HUGO SCHUCHARDT oder JULES GILLIERON zugeschrieben, nach CHRISTMANN (1971) ist es aber schon bei JACOB GRIMM formuliert. Damit ist der (recht häufige) Fall zu beschreiben, dass eine Person im Laufe ihres Lebens den Wohnort ändert und dabei ihren angestammten Dialekt behält, beispielsweise in Bern weiterhin den Dialekt der Stadt Sankt Gallen beibehält. Im allgemeinen Verständnis spricht diese Person dann weiterhin ‚Sankt-Galler-Dialekt‘, also eine räumlich definierte Sprachvariante,

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ge Formen der (innerstaatlichen und zwischenstaatlichen) Mobilität die Geltung solcher Voraussetzungen vielfach relativieren. Tendenziell gilt die Bindung zwischen Sprachform und Raum aber in der Schweiz noch heute, wenn auch weniger kleinräumig als in einer stabilen bäuerlichen und kleinstädtischen Gesellschaft, wie sie die Schweiz bis nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat. Im Rahmen dieser Arbeit geht es jedoch, wie anfangs erwähnt, nicht um die speziellen geografischen Strukturen („Sprachlandschaften“), in denen sich diese räumliche Diversität konkretisiert, sondern um die Konkretisierungsmöglichkeiten der Diversität im einzelnen Onomem. Die Frage von Dialekten und Dialektgrenzen bewegt sich in anderen Dimensionen. Dialekte sind diatopische Varietäten, d. h. Kombinationen von korrelierten kookurrenten Varianten auf mehreren Ebenen (BERRUTO 2010, 229). Varietätenbezogene Raumstrukturen ergeben sich, falls sie existieren, aus der Überlagerung und Übereinstimmung von Unterschieden und Grenzen auf mehreren Ebenen. Das einzelne Merkmal ist nur ein einzelnes Element aus der gesamten Menge von definierenden Merkmalen und definiert für sich allein nicht eine Varietät. Lexikalische Diversität, wie sie hier thematisiert wird, entsteht und besteht demgegenüber als zu beschreibendes Faktum unabhängig davon, ob die räumliche Geltung eines Heteronyms mit Dialektgrenzen übereinstimmt oder nicht. Das wirft die Frage auf, wieweit Arealität überhaupt ein eigenständiger relevanter Aspekt von Diversität sein kann. Mit GEERAERTS (2010, 822) könnte man die Position einnehmen, dass Variation im Raum nicht verschieden ist von soziolinguistischer Variation allgemein und dass man demzufolge bei der Analyse von (dialektaler) Wortschatzvariation die Räumlichkeit letztlich vernachlässigen kann. Diese pauschale Einschätzung wird hier jedoch nicht übernommen.6 Zwar stellen sich die methodischen Probleme, die GEERAERTS (2010) aufwirft, für jede Art von lexikalischer Varianz, hauptsächlich das Problem, dass onomasiologisch in jeder

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dies aber nicht am variantendefinierenden Ort. Umgekehrt übernehmen Jugendliche in der Schweiz, die an einen neuen Wohnort ziehen, in der Regel wenigstens als Zweit-Dialekt den Dialekt des neuen Wohnorts, oder Kinder übernehmen von Beginn des Kindergartens oder der Primarschule an den Ortsdialekt, vor allem, wenn dieser sich stark vom Dialekt der Eltern unterscheidet. Generell erfolgt die Identifikation von eigenem Dialekt und Ort in der Jugend bis zur Adoleszenz. Erwachsene ändern ihren Dialekt aufgrund von Wohnortswechsel höchst selten bewusst, meist nur unbewusst über Anpassung (Akkomodation) in Details. Die Argumente, die GEERAERTS (2010, 822) dafür vorbringt, dass diatopische Variation letztlich nicht unterscheidbar ist von sozialer Variation an sich, sind nicht stichhaltig als Argumente dagegen, dass räumliche Variation als Variation sui generis beschrieben werden kann. U. a. wendet GEERAERTS ein, dass der ursprünglich lokale Sprachgebrauch von Immigrantengruppen am fremden Ort zu einem sozialen Marker werden kann. Dies ist aber eine sekundäre Ableitung der Funktion eines ursprünglich lokal markierten Sprachgebrauchs, der ohne die ursprüngliche Raumbindung nicht funktionieren würde, auch wenn er im späteren Verlauf diese Raumbindung verlieren kann. Kein Gegenargument ist auch die Tatsache, dass die räumliche Geltung des Gebrauchs von Lexemen sich nicht mit ‚Dialekt‘ deckt. Damit wird die geografische Geltung eines einzelnen Merkmals auf eine Weise mit der Substanz des Begriffs Dialekt identifiziert, wie sie weder mit einem theoretisch fundierten Begriff von Dialekt noch mit der Realität in Einklang zu bringen ist.

Sprachwandel

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Hinsicht das Gleiche mit Gleichem zu vergleichen ist. Dabei ist mit Schwierigkeiten zu rechnen wie derjenigen, dass gleiche Ausdrücke in unterschiedlichen Regionen unterschiedlichen Sprachebenen angehören können, dass sie unterschiedlich polysem sein können und sich in ihrer Bedeutung unterschiedlich mit anderen Ausdrücken überlappen oder dass man neben der onomasiologischen auch die semasiologische Betrachtungsweise einbeziehen müsste, um die Strukturunterschiede angemessen zu beschreiben. Auch könnte man im Anschluss an GEERAERTS Position (oder deren Umkehrung) formulieren, dass jede Variation, die auch funktionale Aspekte hat, als Variation in einem Raum in einem abstrakten Sinn gedeutet werden kann. Auch soziolinguistische Variation etwa zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaftsstruktur kann so als ‚räumliche Variation‘ dargestellt werden. Eine funktionale Beschreibung der Variation zielt dann darauf, der einzelnen Variante einen Ort in diesem Raum zu geben. Jedoch spielt die Materialität der Dimension, in der Variation auftritt – Sozialstrukturen, Geschlecht, Alter, Textfunktion usw. – für die Erscheinungsform von Variation sowohl aus theoretischen wie aus empirischen Gründen eine Rolle. Variation als Ausdruck der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen in einer komplexen Gesellschaftsstruktur mit entsprechendem unterschiedlichem Sprachbewusstsein der unterschiedlichen Gruppen unterliegt anderen Realisierungsbedingungen als die Variation im geografischen Raum, im räumlichen Nebeneinander verschiedener Sprechergemeinschaften. Historisch ist zu vermuten, dass diastratische Variation sich auch lexikalisch anders entwickelt und manifestiert als diatopische Variation. Nicht zuletzt die Art der Räumlichkeit muss bei der Ausbildung von Variation eine Rolle spielen. Der geografische Raum ist in seiner Ausdehnung weit weniger eingeschränkt als gesellschaftliche, soziolinguistische Räume. Varianten können sich über den Raum fast unbegrenzt entwickeln und differenzieren, im Unterschied zu soziolinguistischen Räumen, deren Dimensionen durch die Gesellschaftsstrukturen rein zahlenmäßig klar begrenzt sind. Auch berühren und beeinflussen sich Teilareale in soziolinguistischen Räumen viel enger, als das in geografischen Räumen mit möglicherweise weiten Abständen oft der Fall ist. All dies führt dazu, dass räumliche Diversität eine weit größere Variabilität sowohl zahlenmäßig wie in der Formenentwicklung zulässt. Das öffnet auch zusätzliche Perspektiven auf die Möglichkeiten von Variation an sich. 1.4 SPRACHWANDEL Eine zentrale Voraussetzung dieser Untersuchung ist, dass Diversität Resultat von Sprachwandel ist und deshalb jede Analyse auch unter diachroner Perspektive erfolgen muss. Das ist ja auch bei der Beschreibung von arealer Diversität auf Laut- und Formenebene der grundlegende Erklärungshorizont. Im Bereich des Wortschatzes wird dieser Ansatz weniger konsequent verfolgt. In Erläuterungen zu Wortkarten (z. B. in KSDS, KÖNIG / RENN 2007, DRENDA 2008) liegt das Schwergewicht sprachhistorischer Erläuterungen auf der Erklä-

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rung der Etymologie und Wortgeschichte einzelner Wörter. Darauf, wie die Diversität entstanden ist und sich im Zusammenhang entwickelt hat, wird selten eingegangen. In dieser Arbeit wird konsequenter versucht, die Diversität mit Sprachwandel in Zusammenhang zu bringen. Einerseits wird Diversität als solche als Reflex von Sprachwandel gesehen. Die Arbeitshypothese ist, dass synchrone Diversität sich besser beschreiben und verstehen lässt, wenn man die Verschiedenheit von Varianten als Resultat von Sprachwandel betrachtet. Zugespitzt kann man die Hypothese formulieren, dass es Diversität ohne Sprachwandel nicht gäbe. Das impliziert, dass in einem ursprünglichen ‚Urzustand‘ in einer räumlich ausgedehnten Sprechergemeinschaft für ein bestimmtes Konzept anfänglich ein einheitlicher, undiversifizierter Wortgebrauch gegolten haben muss. Das mag als allzu abstrakte und vereinfachte Voraussetzung erscheinen. Ein Urzustand eines Sprachgebrauchs in einem Sprachraum, der als solcher bereits areale Verschiedenheit aufweist, wäre aber noch schwerer zu begründen und würde jedenfalls die Frage unbeantwortet lassen, wie es in diesem Falle zu arealer Diversität gekommen ist. Das ist freilich ein Gedankenexperiment, allerdings kein völlig unrealistisches, denn es gibt durchaus belegte Sprachzustände, bei denen heutiger Diversität ein einheitlicher Sprachgebrauch voranging. Dies lückenlos nachzuweisen ist allerdings selten möglich. Die Vorgeschichte jedes Sprachzustands verliert sich im Nebel der Unzugänglichkeit. In der Regel ist entweder der Anfangszustand unbekannt oder in einem historisch fassbaren Anfangszustand ist bereits Diversität enthalten. Aus historischen Quellen sind frühere Sprachgebräuche nur beschränkt rekonstruierbar, erst recht für Zeiträume, für die keine direkten schriftlichen Zeugnisse vorhanden sind. Die verfügbaren Informationen erlauben oft nur beschränkt Spekulationen über einen hypothetischen vorangehenden Zustand eines Sprachgebrauchs. Hypothesen arbeiten so oft mit Voraussetzungen, die nicht mehr direkt oder überhaupt nicht zugänglich sind. Auch die räumliche Verteilung von Varianten in früheren Zeiten ist meist nicht präzis rekonstruierbar. Zudem verändern sich durch immer wieder neue Überlagerungen von Innovations- und Diffusionsprozessen die raum-zeitlichen Gegebenheiten. Was einst ein diversifizierter Sprachraum gewesen ist, kann durch Diffusion zu einem einheitlichen Sprachraum werden, der durch neue isolierte Innovationen wiederum von neuem diversifiziert wird. Durch derartige Prozesse werden synchrone Zustände intransparent für frühere Zustände. Das alles bedeutet nicht, dass die theoretische Voraussetzung, wonach jede Diversität durch Sprachwandel aus einer Einheitlichkeit heraus entstanden ist, grundsätzlich falsch wäre, sondern nur, dass in der Praxis Erklärungen der historischen Entstehung von Diversität hypothetisch und unvollständig bleiben müssen (ohnehin eine generelle Erfahrung bei Beschreibungen von Sprachwandel). Dass diachrone Entwicklungen über längere Zeit stattfinden und das Resultat – der ‚Output‘ – eines Sprachwandels wiederum durch nachfolgenden Sprachwandel verändert werden kann, also den ‚Input‘ eines nachfolgenden Sprachwandels bildet, heißt, dass mit der bloßen Beschreibung der Geschichte der einzelnen Heteronyme die historische Entwicklung eines Onomems meist nicht adäquat

Untersuchungsobjekt und Datenbasis

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abgebildet wird. In einer synchronen Heteronymie stecken möglicherweise mehrere historische Schichten von lexikalischen Innovationen, die untereinander geordnet werden können. Diversität aus Sprachwandel zu erklären, heißt auch, diese Etappen und Schichtungen zu rekonstruieren. 1.5 DIE ONOMASIOLOGISCHE PERSPEKTIVE Die Fragestellung dieser Arbeit geht von der onomasiologischen Perspektive aus: Gegeben ist ein Inhalt (was immer darunter verstanden werde)7, gefragt wird nach den Ausdrucksformen dafür und nach den Unterschieden zwischen Sprachvarianten oder Sprachen. Die onomasiologische Perspektive erscheint für die Untersuchung der Probleme arealer Diversität im Wortschatz als die angemessene, ja wohl als die einzig mögliche. Wohl kann man im Einzelfall areale Diversität auch in semasiologischer Sicht untersuchen und fragen: Was bedeuten Wörter gleicher Form oder Etymologie in verschiedenen Dialekten? So gibt es in Sprachatlanten auch einzelne semasiologisch formulierte Karten.8 Es ist aber kein Zufall, dass Wortschatzkarten in Dialektatlanten fast ausschließlich onomasiologisch orientiert sind. Semasiologisch wäre eine einigermaßen repräsentative Darstellung der Dialektunterschiede kaum möglich, da der Wortschatz der Dialekte semasiologisch sehr zersplittert ist und nur ein kleiner Teil der Wortformen sich überhaupt semasiologisch vergleichen lässt. Gemeinsamkeiten, die Vergleiche ermöglichen, sind primär auf der Ebene der Sachen und Konzepte gegeben. In der onomasiologischen Perspektive bekommt auch das Phänomen des Wortschatzwandels seine besonderen Dimensionen. Verändern können sich nicht nur Bezeichnungen von Sachen, sondern auch die Sachen selbst, die Wahrnehmung von Sachen und die Beziehung zwischen Welt und Sprache. Onomasiologischer Wandel muss also mehr Veränderungen in Betracht ziehen als nur die Bezeichnungen von sprachlich bereits integrierten Phänomenen. Wenn die Anlässe des Sprachwandels in der aktiven Innovation gesehen werden, dann liegt auch näher, diese als onomasiologische Innovation zu sehen: Dass Sachen aus irgendwelchen Gründen neu benannt werden, ist häufiger der Fall, als dass Wörter um der Bedeutungsveränderung willen in ihrer Bedeutung verändert werden (außer eben, um eine Sache neu zu benennen). 1.6 UNTERSUCHUNGSOBJEKT UND DATENBASIS Untersuchungsobjekt sind die Verhältnisse in den schweizerdeutschen Dialekten, Materialbasis ist der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS). Die Aufnahmen zum SDS sind in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts ge7 8

In der traditionellen Onomasiologie oft „Sache“ genannt. Zur Frage des Wortinhalts s. Abschnitt 2.1.2 S. z. B. SDS IV 88 „sperze“; VI 86 „Bünte“; VI 87 „Acker“; VII 145 „Gade“.

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macht worden. Damit wird von einem Zustand ausgegangen, der inzwischen historisch ist.9 Nicht nur hat in manchen Beziehungen seither ein ‚normaler‘ Sprachwandel stattgefunden. Der SDS dokumentiert auch sachlich, von der zugrundeliegenden Lebenswelt her, einen Zustand, welcher der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entspricht. Inzwischen (vom Jahr 2017 aus gesehen) hat die Lebens- und Alltagswelt auch sozial und technologisch tiefgreifende Umwälzungen erfahren. Die landwirtschaftliche Produktionsweise ist modernisiert worden, so dass manche Geräte und Verfahren heute verschwunden sind, die im SDS ausführlich dokumentiert werden. Die dörfliche Lebenswelt hat sich bis in entlegene Gegenden der heutigen Dienstleistungsgesellschaft angepasst. Die Mobilität gleicht Dialektgegensätze aus. Die heutigen Medien haben die Diglossiesituation stark verändert: Radio, Fernsehen, Zeitungen (z. B. Gratiszeitungen) sind weit präsenter als früher, und das beeinflusst auch die Präsenz von Standarddeutsch im dialektalen Sprachalltag. Auch ist die Sprache von neuen technologischen Entwicklungen international geprägt. Damit ist der Einfluss des Standarddeutschen auf den Dialektwortschatz weit intensiver geworden. Die ‚vertikale Diffusion‘ spielt also heute eine sehr viel größere Rolle als früher. Der SDS dokumentiert demgegenüber eine ländlich geprägte, eher statische, kleinräumige Lebenskultur. Die Mobilität jeder Art (beruflich, sozial, in der Freizeit) umfasst meist relativ geringe Distanzen, die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden sind traditionell geprägt, als Massenmedien existieren nur Zeitungen und der nationale Rundfunk. Dafür sind Naturerscheinungen wie wilde Pflanzen und Tiere direkter erfahrbar als in den heutigen städtisch geprägten Agglomerationen, und deren Benennungen werden direkt aus der mündlichen Kommunikation zwischen Generationen vermittelt. Auch methodisch bringt die Verwendung des SDS als Datenbasis gewisse Einschränkungen mit sich. So wurden an jedem Erhebungsort eine alters- und zahlenmäßig eingeschränkte Gruppe von Gewährspersonen befragt: normalerweise eine bis drei Gewährspersonen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Mit der Konzentration auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als Gewährspersonen kommt in der Regel eine ganz bestimmte Sprachschicht zum Vorschein. Dagegen kann man einwenden, dass damit die tatsächliche Sprachvielfalt und Sprachvariation an einem Ort ausgeblendet wird und so ein unrealistisches Bild der lokalen Dialekte vermittelt wird. Abgesehen von praktischen Erwägungen – es wäre rein zeit- und arbeitsmäßig nicht zu leisten, bei einem so dichten Ortsnetz wie beim SDS für jeden Ort die ganzen Sprachschichtungen präzise zu erheben – kann diese Beschränkung auf eine einzelne Sprachschicht auch theoretisch gerechtfertigt werden. Es sollte bei einer derartigen Untersuchung ja immer das Gleiche mit dem Gleichen verglichen werden. Unterschiedliche Sprachschichten an verschiedenen Orten sind nicht direkt vergleichbar. Die Beschränkung auf einen immer gleich definierten Kreis von Gewährspersonen kann am ehesten gewährleisten, dass die geografischen Varianten direkt vergleichbar sind und nicht etwa von Ort zu Ort unterschiedliche Sprachschichten dargestellt werden. Im Übrigen kommt 9

Bereits HOTZENKÖCHERLE (1962, 5) stellte fest, dass der SDS „nach seiner ganzen Zielsetzung leicht archaisierend“ ist; s. auch seine Bemerkungen dort S. 212.

Untersuchungsobjekt und Datenbasis

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allerdings, wie in Abschnitt 3.7 dargestellt wird, in den Antworten der Gewährspersonen und in den SDS-Karten auch lokale Sprachvariation durchaus zum Vorschein. Ein Unsicherheitsfaktor kann schließlich auch in der geringen Anzahl von Gewährspersonen pro Ortschaft liegen. Es ist u. U. nicht gewährleistet, dass eine einzelne Person repräsentativ auch nur für ihre soziale Gruppe und Altersgruppe ist. Wenn zwei oder mehr Personen in einer Ortschaft befragt werden, können die einzelnen Antworten auf eine Frage immerhin sich gegenseitig bestätigen oder relativieren. In manchen Fällen kann auch die räumliche Einbettung einer Antwort im größeren sprachgeografischen Umfeld Aufschluss geben: Wo eine Antwort mit ihrem größeren geografischen Umfeld übereinstimmt, kann ihr ein großes Maß an Repräsentativität zugemessen werden; wo sie umgekehrt isoliert in einem anders gearteten Umfeld steht, kann diese Isolation gewisse Probleme vermuten lassen.10 Die Exploratoren konnten aber ihrerseits Probleme und Zweifelsfälle aufgrund ihrer Erfahrungen bei ihrer Arbeit durch Nachfragen und Suggestionsfragen auch direkt zu klären versuchen. Auf jeden Fall sind die Antworten von Gewährspersonen, wie abweichend sie auch von Erwartungen sein mögen, als etablierte Daten ernst zu nehmen. Probleme von unerwarteten Abweichungen stehen in der Regel ebenfalls in Zusammenhang mit Sprachwandelphänomenen und Sprachvariation. Die Beurteilung hängt auch mit der Natur der betreffenden Sache zusammen: Je mehr eine Sache vor allem familiärer, privater Natur ist, desto eher sind individuelle Sprachgebräuche zu erwarten. Die Daten mögen in solchen Fällen nicht repräsentativ für einen gefestigten Sprachgebrauch einer größeren Sprechergemeinschaft sein, aber gerade dies gehört ebenfalls zu den Merkmalen von Diversität. Zweck der vorliegenden Untersuchung ist aber letztlich nicht, einen historischen Zustand in seinen besonderen Eigenheiten zu beschreiben. Das Interesse liegt vor allem darin, im Besonderen die allgemeinen Einflussfaktoren zu erkennen, die zu arealer Diversität führen können, und ein theoretisch und praktisch adäquates Begriffsgerüst zu deren Beschreibung zu entwickeln. Das Allgemeine kann ja auch in der Sprache nur in seiner konkreten Realisierung gesucht werden. Die Fokussierung auf die Datenpräsentation im SDS wirft die Frage nach der Repräsentativität der dargestellten Verhältnisse in einer weiteren Perspektive auf. Die Begrenzung auf Landesgrenzen verdeckt zum einen, dass das Schweizerdeutsche Teil einer größeren Dialektlandschaft ist. Manche Erscheinungen im Schweizerdeutschen müssen in ihrer Dynamik in einem weiteren Zusammenhang gesehen werden. Innovationen im Schweizerdeutschen haben nicht selten ihren Ausgang in außerschweizerischen Regionen genommen und das Schweizerdeutsche reflektiert oft Sprachwandel, der größere Räume betrifft.11 Zum anderen ist das Schweizerdeutsche durch eine spezifische Kleinräumigkeit geprägt, die nicht überall anzutreffen ist. Im Hinblick auf den Sprachwandel an sich und dessen Auswirkungen auf die areale Diversität ist dieses Faktum jedoch von sekundärer Bedeutung. Es muss vor allem bei der Beschreibung der zugrundeliegenden dy10 11

Vgl. auch PRÖLL (2015, 33). S. HOTZENKÖCHERLE (1984, Kap. 1).

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namischen Entwicklungen berücksichtigt werden. Die Größenverhältnisse bei den betreffenden Räumen sind für die Phänomene von Diversität durch Sprachwandel von beschränkter Relevanz. Areale Diversität ist sozusagen eine fraktale Erscheinung: Diversitätsstrukturen im Kleinen sind Kopien von Diversitätsstrukturen im Großen und umgekehrt. Diversität im Kleinen kann zeigen, woraus Diversität überhaupt besteht. Darin kann auch das allgemeine theoretische Interesse an der Untersuchung einzelner, historisch gewachsener Dialekte gesehen werden. 1.7 ZUR INTERPRETATION ONOMASIOLOGISCHER KARTEN Die Methodologie einer onomasiologischen Wortschatzdarstellung wie in den Wortkarten des SDS bringt Komplikationen mit sich, die bei der Interpretation der entsprechenden Karten berücksichtigt werden müssen. „Isolationistisch“12 werden die örtlichen Bezeichnungen für einzelne Sachen erfragt und inventarisiert. Ausgangspunkt ist ein als Sachtyp vorgestelltes Denotat. Als Antwort wird eine möglichst präzise Bezeichnung dieses Denotats gesucht. Dabei wird davon ausgegangen, dass mit der Fragestellung ein bestimmtes, klar umrissenes, für die ganze Region in gleicher Weise geltendes Konzept getroffen wird. Dies ist aus sprachtheoretischen und methodologischen Gründen gelegentlich nicht unproblematisch. Sache, Denotation und Konzept sind entgegen den gewöhnlichen Alltagsintuitionen nicht dasselbe, und deren Strukturierung kann regional differieren. Aus verschiedenen Gründen ist oft nicht klar, ob die Varianten genau die Bedeutung enthalten, die ihnen aufgrund der Fragestellung zuzuschreiben wäre. Die Probleme können auf der methodologischen Ebene liegen. Es ist schwierig, Konzepte zu erfragen, die nicht durch Zeigen gegenseitig manifest gemacht werden können. Bei weniger anschaulichen Themen oder unscharf umgrenzten Phänomenen wird im SDS das zu benennende Phänomen zuweilen durch situative Beschreibungen und Kontextualisierungen nahezubringen versucht. So wird die Frage nach den verschiedenen Arten des Weinens dadurch zu differenzieren versucht, dass gefragt wird nach dem Weinen bei einem Begräbnis oder dem Weinen von Kindern, wenn sie gezüchtigt werden (SDS IV 98, IV 101). Die Frage nach der Bezeichnung für fehlende Würze wird konkretisiert in der Frage danach, wie man eine zu wenig gesalzene Suppe bezeichne (SDS V 170). Methodisch konsequent wird diese Fragestellung jeweils auch als Grundlage der entsprechenden Karte angegeben. Eine zweite Voraussetzung ist, dass dabei ‚die einzig richtige‘ Bezeichnung für dieses Konzept angegeben wird oder angegeben werden kann. Damit werden verschiedene Aspekte des Sprachgebrauchs und der Wortsemantik ausgeblendet, vor allem die Frage nach der Beziehung der speziellen, onomasiologisch definierten Verwendungsweise des angegebenen Ausdrucks zum sachlichen und semantischen Umfeld. In der traditionellen onomasiologischen Methodologie wird meist nicht klar zwischen Sache und Konzept, zwischen Bedeutung

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REICHMANN (1983, 1305)

Zur Interpretation onomasiologischer Karten

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und Denotat unterschieden.13 Es liegt in der Natur der Sprache, dass es für reale Sachen in der Regel mehrere Bezeichnungsmöglichkeiten gibt. Vermutlich geht die onomasiologische Fragemethode davon aus, dass als ‚einzig richtige‘ Bezeichnung das Wort mit der engsten möglichen Bedeutung angegeben wird. Idealtypisch wird vorausgesetzt, dass für die gemeinte Sache (bzw. das gemeinte Konzept) eine klar abgegrenzte, eindeutige ‚Nomination‘ existiert, d. h. eine für Standardsituationen standardmäßig vorgegebene einheitliche Bezeichnung für ein in der Sprechergemeinschaft eindeutig konventionell identifizierbares Konzept. 14 Ohne diese Voraussetzung ist eine onomasiologische Erforschung eines Sachgebiets überhaupt nicht möglich, denn andernfalls würde die Masse der denkbaren Antworten unübersehbar und semantisch nicht systematisierbar. Es hängt im Einzelfall aber von der Gesprächssituation und vom verfügbaren Wortschatz ab, ob ein bestimmtes Wort als die korrekte Nomination für einen Inhalt gelten kann. Es bleibt in manchen Fällen nicht ganz klar, ob die spezifische Bedeutung eines Wortes präzis den sachlich thematisierten Denotatsbereich erfasst oder ob es beispielsweise eigentlich einen Oberbegriff beinhaltet und in gewissem Sinne in der Befragungssituation nur eine Verlegenheitsantwort mangels präziserer Benennungsmöglichkeiten darstellt. Wenn beispielsweise in SDS IV 9 auf die Frage nach der Bezeichnung für JEMANDEN AN DEN HAAREN ZIEHEN die Antwort gegeben wird »a de Haare zie« ›an den Haaren ziehen‹, dann liegt diese unspezifische, allgemeine Ausdrucksweise nicht auf der gleichen begrifflichen Ebene wie »tschuupe«, das präzis nur das Ziehen an den Haaren meint. Explizit wird in der Legende II zu SDS IV 95 „kreischen“ darauf hingewiesen, dass gewisse Ausdrücke offenbar nur als Verlegenheitsantworten zu bewerten sind. Onomasiologisch muss daraus geschlossen werden, dass am betreffenden Ort und für die betreffende Gewährsperson eine ‚Bezeichnungslücke‘ besteht. Die allgemeinere Verlegenheitsantwort muss damit begrifflich auf einer anderen Ebene eingeordnet werden als die spezifischen Antworten. Wieder anders sind die Mehrfachangaben zu „(Hosen) flicken“ (SDS VII 76) zu interpretieren, wo meist neben areal eingeschränkten Spezialausdrücken wie »büeze« oder »blätze« gleichzeitig der Ausdruck »flicke« vermerkt wird. Es ist davon auszugehen, dass »flicke« der allgemeine Ausdruck für ‘einen Schaden an einer Sache beheben’ ist, während »büeze« und »blätze« usw. die speziellen Bezeichnungen für das Flicken eines Schadens (Risses, Lochs) an einem Textilstück durch Nähen bezeichnen. Die beiden angegebenen Ausdrücke können in der konkreten Situation das gleiche Denotat bezeichnen, haben aber eine verschiedene Bedeutung. Bei situativ und kontextualisiert gestalteten Fragetechniken stellt sich generell die Frage, ob die entsprechende Antwort spezifisch nur die in der Frage präsentierte Situation bezeichnet oder eine allgemeinere Bedeutung impliziert. Beim erwähnten Fall „(bei einem Begräbnis) weinen“ scheint klar, dass die Antworten die Bezeichnung für zurückhaltendes Weinen allgemein angeben, unabhängig von der miterwähnten Situation einer Beerdigung. Zu vermuten ist auch bei „zu wenig gesalzen (von der Sup13 14

S. die Bemerkungen bei REICHMANN (1983, 1301). Zum Begriff der Nomination und dessen Problematik s. KNOBLOCH 1996.

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Einleitung

pe)“ (SDS V 170), dass die Antworten nicht nur das Fehlen von Salz, sondern jede Art von fehlender Würze meinen. Anders gesagt: Der in der Frage und im Kartentitel genannte Sachverhalt wird mit einem Ausdruck benannt, der eine weitere Bedeutung hat bzw. ein umfassenderes Konzept bezeichnet. Ein verwandtes Problem der isolationistischen Darstellungsweise traditioneller Wortatlanten besteht darin, dass bei (allzu) detaillierten Fragen übergreifende semantische Strukturbildungen in der Wortbedeutung (Polysemie) und im Wortschatz („Wortfeld“) nicht oder nur zufällig erkennbar werden. Wörter sind in sehr vielen Fällen polysem; ob und wie die Verwendung des Wortes zur Bezeichnung einer bestimmten Sache mit verwandten Verwendungsmöglichkeiten zusammenhängt, bleibt ausgeklammert. In SDS VII 14–15 werden die Bezeichnungen für die „einhenkligen Traggefäße für Wasser in der Küche“ dargestellt. Es fällt auf, dass die entsprechenden Bezeichnungen auch für andere Gefäße verwendet werden können, so etwa »Chessel« ›Kessel‹, »Eimer« oder »Mälchtere« ‘Melkgeschirr’. Entweder haben die entsprechenden Bezeichnungen eine allgemeinere Bedeutung oder sie sind polysem. Beides wird in der differenzierten Darstellung der Bezeichnungsmöglichkeiten spezieller Gefäße nicht sichtbar. Interpretationsprobleme ergeben sich zuweilen auch dadurch, dass die sprachliche Diversität möglicherweise mit sachlichen Unterschieden einhergeht. Sprachtheoretisch wirft dies die Frage auf, ob mit den verschiedenen Wörtern das gleiche begriffliche Konzept bezeichnet wird und die unterschiedlichen sachlichen Phänomene unter ein gleiches Konzept gefasst werden oder ob die unterschiedlichen Sachen unterschiedlich konzeptualisiert werden, so dass die sprachlichen Repräsentationen dieser Sache Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung sind. Diese Probleme können in unterschiedlicher Form auftreten. So wurde bei „Kartoffelacker“ (SDS VI 85) schon die Frage nach dem Gegenstand offenbar unterschiedlich verstanden: Wird nach der Benennung einer einzelnen Parzelle oder nach der Bodenart (Ackerland vs. Grasland) gefragt? Dazu kam das Problem, das viele Gewährsleute bei ihren Bezeichnungen nach der Größe der entsprechenden Parzelle unterschieden. Der Kartoffelanbau kann unterschiedlich betrieben werden, was auch vom Zweck (landwirtschaftliche Produktion oder für den Eigenbedarf), von landschaftlichen Bedingungen (eignet sich Gelände und Klima für Kartoffelanbau im größeren Stil?) und entsprechenden Anbaugewohnheiten abhängt. Wenn etwa in UW, UR und SZ der Kartoffelacker als »Garte« bezeichnet wird (mit Bemerkungen von Gewährsleuten, dass es sich dabei um ein eingezäuntes Stück Land handelt), dann liegt hier wohl eine andere Art des Kartoffelanbaus (für den Eigengebrauch auf einem kleineren Stück Land) vor als in flacheren Gegenden. Ein weiteres Beispiel für funktional ähnliche, sachlich mit einiger Wahrscheinlichkeit zuweilen unterschiedliche Sachen bietet die Heteronymie zum Thema „Hauswiese“ (SDS VI 90). Das um das Bauernhaus gelegene Gelände kann unterschiedlich beschaffen sein. Grundsätzlich handelt es sich um eine Wiese, diese kann eingezäunt sein, ist oft mit Obstbäumen bewachsen, beides kann aber auch fehlen. Der Ausdruck »Iifang« etwa (ZH Oberland) deutet auf Einzäunung als hervorstechendes Merkmal hin. Die Hauswiese hat auch je nach Gebäudetyp unterschiedliche Ausgestaltung. Während sie beim einzeln stehenden Bauernhaustyp rund um das

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Haus gelegen sein kann, kann sie beim fricktalischen Straßenreihenhaus (im nördlichen AG) aus baulichen Gründen nur hinter dem Haus liegen. Der dort übliche Ausdruck »Hinderhuus« ›Hinterhaus‹ hat also durchaus spezifische sachliche Hintergründe. Wieweit die Heteronymie tatsächlich als Synonymie zu gelten hat, muss in solchen Fällen offen bleiben Heteronymie impliziert definitionsgemäß Synonymie. Vergleichbar sind nur Varianten mit der gleichen Bedeutung. Dass Lexeme die gleiche Bedeutung haben oder auf dem gleichen Konzept basieren, wenn damit in der Explorationssituation die gleiche Sache bezeichnet worden ist, ist nicht a priori gewährleistet. Wortkarten sind, zusammengefasst, bezüglich der konkreten Bedeutung der genannten Wörter interpretationsbedürftig und können nicht unbesehen als Repräsentation von Heteronymen mit identischer Bedeutung genommen werden.

2 BEZEICHNUNGSWANDEL: SYSTEMATISCHE ASPEKTE 2.1 BEZEICHNUNGSWANDEL ALS SPRACHWANDEL Wortschatzwandel im Raum beginnt mit lokalem Bezeichnungswandel, d. h. mit Bezeichnungswandel im Sprachsystem einer geschlossenen, räumlich undifferenzierten Sprechergemeinschaft; dies gilt jedenfalls unter den raumgebundenen Bedingungen der historisch gewachsenen dialektalen Alltagssprache im Schweizerdeutschen. 1 Auch theoretisch ist Bezeichnungswandel zunächst als Wandel in einem Sprachsystem losgelöst von räumlichen Differenzierungen zu beschreiben. In den Bedingungen des lokalen Bezeichnungswandels sind aber schon wesentliche Voraussetzungen arealer Diversität angelegt. 2.1.1 Bezeichnungswandel als Innovation Bezeichnungswandel stellt eine Innovation in einem Wortschatz dar.2 Innovation wird hier als Veränderung von sprachlichen Konventionen innerhalb eines gegebenen Sprachsystems in einer räumlich abgegrenzten, lokal definierten Sprechergemeinschaft verstanden. Nicht jeder Sprachgebrauch, der als Abweichung oder als Verwendung einer neuen Variante erscheint, ist eine Innovation in dem Sinne, dass dadurch Sprache als Kommunikationssystem verändert wird.3 Eine spezielle, möglicherweise vom Usus abweichende Ausdrucksweise wird dadurch zur Innovation, dass sie durch Konventionalisierung im möglichen Sprachgebrauch einer Sprechergemeinschaft zu einer normativen Größe wird.4 Sprache ist jederzeit variabel. Verwendung von Sprache in Äußerungen ist selbst Variation. Äußerungsbedeutungen werden aus Äußerungen kontextspezifisch in jeder Situation neu hergestellt und sind so einmalige, individuelle Phäno1 2

3 4

Vertikal initiierter Sprachwandel in diglossischen oder zweisprachigen Sprachsituationen funktioniert anders. Diese Situation wird hier ausgeklammert. Bezeichnungswandel wird hier in einem umfassenden Sinn verstanden für alle Veränderungen auf onomasiologischer Ebene, also nicht nur Änderung der Bezeichnung einer einzelnen Sache, sondern auch Einführung neuer Konzepte und Umstrukturierungen des Wortschatzes. „Variability is not change“ (POPLACK / LEVEY 2010, 394). Die Terminologie in diesem Bereich ist uneinheitlich. Oft wird schon die Bildung einer neuen Sprechweise in der Äußerung als Innovation oder Neuerung bezeichnet. Dies erscheint u. U. insofern missverständlich oder unpräzis, als situativ gebundene Sprechhandlungen überwiegend einmalig und damit kreativ und von den Konventionen nicht vorherbestimmt sind. Oft wird jedoch präziser zwischen „Innovation“ bzw. „Neuerung“ als situativer Neuschöpfung und „change“ bzw, „Sprachwandel“ als kollektiver Übernahme in eine Konvention unterschieden, so beispielsweise bei COSERIU (1973, 79–80), OESTERREICHER (2001, 1583), MILROY (1992, 211).

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mene. Jede Äußerungsbedeutung ist, mit dem Ausdruck PAULS (1920, 75), „occasionell“, individuell. In heutiger Ausdrucksweise ist eine Äußerungsbedeutung keine identische Reduplikation einer lexikalischen Bedeutung, sondern ein eigenständiges Produkt, die Umsetzung einer abstrakten Regel in einem konkreten, situationsbezogenen Kommunikationsakt, wobei über die Anwendung von Konversationsregeln und Implikaturen im Rahmen des Kommunikationskontextes mit Hilfe der abstrakten Bedeutung eine konkrete, inhaltlich reiche Information konstruiert wird. Eine Äußerung ist ein Signal, mit dem auf ein mentales Modell als Abbildung einer Situation Bezug genommen wird und mit dem eine Rezipientin veranlasst werden soll, ein entsprechendes Modell zu rekonstruieren. Jede Äußerung sagt mehr, als die Sprachform zeigt, jede Äußerung ist eine elliptische, metonymische, oft auch metaphorische Verwendung von Sprachzeichen. Was aus einer lexikalischen Bedeutung im Äußerungsakt gemacht wird, ist immer eine Variante. Elementare Formen der Sprachvariation im Sprachgebrauch gibt es auch in onomasiologischer Sicht. Jedes Referenzobjekt kann in der einzelnen Äußerung auf sehr unterschiedliche Weise bezeichnet werden. Einen Strauß von Rosen kann man in der gegebenen Situation als „die Rosen“, „der Strauß“, „die Blumen“ benennen. Auf ein Fahrrad kann als „Fahrrad“, aber in einer gegebenen Situation ebenso gut als „zweirädriges motorloses Personenfahrzeug“ Bezug genommen werden. Eine bestimmte Person kann je nach Situation als „Herr Müller“, „mein Ehemann“, „der Versicherungsvertreter von gestern“, „der Mann mit dem grauen Schnurrbart“, „der Kassier des Kegelklubs“, „der Trottel, der von hinten in mein Auto reingefahren ist“ bezeichnet werden. Maßgebend für die Art und Weise, wie in der Äußerungssituation auf eine Person oder eine Situation sprachlich verwiesen wird, sind Relevanzkriterien und Mitteilungsabsichten. Umgekehrt hat jedes Inhaltswort in der einzelnen Äußerung seine situativ besondere Äußerungsbedeutung. Das Verb steigen bezeichnet in einer Aussage „Der Nebel steigt“ sachlich einen völlig anderen Vorgang als in der Aussage „Der Wirt steigt in den Keller hinunter“. Durch die individuelle Variation des Mitteilungsgehaltes eines Wortes im Kontext wird seine konventionelle Bedeutung nicht verändert. Sie verändert sich erst dadurch, dass durch wiederholte ähnliche Verwendungsweisen Erwartungen geändert und auf neue Weise gesteuert werden. Es ist ein Grundkonsens in der Theorie des Sprachwandels, dass Änderungen von Regeln bzw. Konventionen ihren Anfang in der individuellen Sprachverwendung nehmen.5 Erwartungen können verändert werden durch Wiederholung von spezifischen Formulierungen mit einer speziellen Funktion. Es braucht sich dabei nicht um abweichende Verwendungen (Regelverstöße) zu handeln, es kann auch nur um die Bevorzugung einer bestimmten Variante innerhalb der gegebenen Variationsmöglichkeiten gehen. Diese Erwartungen sind in der Regel zunächst auf bestimmte Kontexte und Situationen beschränkt und stehen in Konkurrenz zu den allgemeinen Konventionen. 5

Vgl. die klassische Formulierung von PAUL (1920, 32): „Die eigentliche Ursache für die Veränderung des Usus ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit.“

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Sprachwandel, speziell lexikalischer Wandel besteht darin, dass diese Erwartungen und damit auch die Sprechgewohnheiten auf immer mehr Situationen ausgedehnt werden. Dies ist der Prozess der Usualisierung einer Sprachverwendung. Im Endergebnis können diese Erwartungen zum Normalfall der Verwendung beispielsweise eines Wortes werden, womit der Schritt zur Konventionalisierung vollzogen ist.6 Aus sprachsoziologischer Perspektive setzt sich eine Variante über die Phasen der Akkommodation (Anpassung des Sprachgebrauchs zwischen Mitgliedern einer Kommunikations- oder Sprechergemeinschaft), Adaption (Anpassung des Sprachgebrauchs eines Mitglieds einer Sprechergemeinschaft an den dominierenden Sprachgebrauch) bis zur Etablierung (Anerkennung einer Sprachvariante als allgemeine Konvention) durch (vgl. PICKL 2013, 47–50). Erst dadurch, dass eine Sprachform von einer Sprechergemeinschaft als Sprachkonvention der der gesamten Sprechergemeinschaft akzeptiert und befolgt wird, wird sie zu einer Innovation, hat Sprachwandel im hier verstandenen Sinn stattgefunden.7 Die Entwicklung von der individuellen Wiederholung über Usualisierung bis zur Konventionalisierung verläuft in der Regel nicht sprunghaft, sondern allmählich, über Zwischenstufen und Perioden von Mischungen von Gewohnheiten. 8 Innerhalb einer Sprechergemeinschaft kann es dabei auch zu internen Differenzierungen kommen; ältere und jüngere Mitglieder bevorzugen etwa unterschiedliche 6

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Die wesentlichen Merkmale einer Konvention als Verhaltensregelung lassen sich, CROFT (2000, 98) folgend, verkürzt und vereinfacht wie folgt umschreiben: 1. Das Verhalten folgt einer Regularität. 2. Es ist teilweise arbiträr, insofern als andere Mittel zum gleichen Ziel führen könnten. 3. Es gehört zum ‚common ground‘ der (Sprecher-)gemeinschaft, zum ‚gemeinsamen Wissenshintergrund‘. 4. Es dient als Koordinationsmittel; praktisch alle Mitglieder der (Sprecher-)Gemeinschaft verhalten sich danach und erwarten, dass die anderen sich ebenfalls danach verhalten. CROFT fasst in seiner Fassung des Begriffs der Konvention Ansätze von CLARK (1996) und LEWIS (1969) zusammen. S. KOCH (2001, 9–10), für die Dialektologie HAAS (1978, 9), für die Soziologie MILROY (1992, 221): „A innovation in a speakers output is not a linguistic change until it has been agreed on and adopted by some community of speakers“. Die allmähliche Durchsetzung einer Variante vom individuellen zum konventionellen Sprachgebrauch nennt CROFT (2000, 4) „propagation“. Vgl. die Stufen des Sprachwandels bei FRITZ (2006, 64) („Routinisierung – Standardisierung – Konventionalisierung“), SCHIPPAN (1972, 157) und BLANK (1997, 119–124, v. a. im Schema S. 123). SCHIPPAN setzt als Ausgangspunkt allerdings individuelle Abweichungen im einzelnen Sprechakt von der geltenden sprachlichen Regel an. Die Sprachregeln legen jedoch, wie oben angedeutet, nicht jede einzelne Bedeutungsnuance der Äußerung fest; neben Abweichungen kann auch die Usualisierung von individuellen zusätzlichen Bedeutungsspezifikationen zu Sprachwandel führen. Im Anschluss an KOCH (1997) führt BLANK (1997, 119) noch als Zwischenebene die Ebene von „Diskurs“ und „Diskurstraditionen“ und als Zwischenstadium das Eindringen einer Innovation in einen Diskurs als neue Diskursregel ein. Lexikalischer Wandel unterscheidet sich in wichtigen Aspekten z. B. von Lautwandel, z. B. indem die Veränderung eines einzelnen Wortes in den meisten Fällen keine weiteren Auswirkungen hat, anders als beim Lautwandel, wo ein Lautersatz wellenartig sich vom einzelnen Wort über Wortgruppen zu einer allgemeinen, abstrakten Regel des Lautersatzes mit „abruptem“ allgemeinem Wandel entwickeln kann (HAAS 1978, 38–40).

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Sprechweisen. Innerhalb einer Sprechergemeinschaft ergeben sich so soziolinguistische Untergruppierungen, etwa nach Generationen oder nach Gesellschaftsschichten. Wann das Stadium der Konventionalisierung erreicht ist und damit der Sprachwandel im definierten Sinne stattgefunden hat, ist deshalb meist nicht präzis angebbar. Auch kann die Wahrnehmung der einzelnen Sprachteilnehmer darin variieren. Im Wesen der Innovation als Konventionalisierung von zufällig eingeführten Varianten des Sprachgebrauchs ist die Möglichkeit der Diversität bereits angelegt. In jedem Augenblick der Sprachverwendung sind viele Realisierungsarten möglich. Welche Variante so beliebt ist, dass sie in der Wiederholung usualisiert wird und dann als Konvention von einer Sprechergemeinschaft übernommen wird, warum gerade diese Variante in dieser Weise übernommen wird, ist zufällig. In verschiedenen Umgebungen und Sprechergemeinschaften kann ein und dieselbe Ausgangslage zu verschiedenen Resultaten führen. 2.1.2 Wort – Bedeutung – Konzept im Bezeichnungswandel Wörter als elementare sprachliche Zeichen sind, stark vereinfacht, konventionelle Verbindungen zwischen einer Ausdrucksform und einem Inhalt, wie auch immer das Wesen dieses Inhalts definiert werde und im Einzelfall aussehe.9 Wenn eine Ausdrucksform über Bedeutungswandel eine neue Bedeutung erhalten hat, ist dies, wie im vorangehenden Abschnitt beschrieben, eine neue konventionelle Verknüpfung von Ausdruck und Inhalt. Damit ist folglich ein neues Wort entstanden. Konkret: Wenn mhd. kopf mit der Bedeutung ‘Trinkschale’ die Bedeutung ‘Kopf’ erhält, dann ist dieses kopf als neue Verbindung einer Ausdrucksform /kopf/ mit einer neuen Bedeutung ‘Kopf’ ein neues Wort. Die Frage der Identität von Wörtern mag als eher theoretisches Problem erscheinen. Sie führt aber zu weiteren Fragen. Wandel impliziert, dass bei einer Veränderung etwas identisch bleibt. Bei semasiologischem Wandel erscheint eine entsprechende Beschreibung unproblematisch: Bei einer gleichbleibenden, identischen Wortform hat sich der konventionell damit verknüpfte Inhalt geändert. Schwieriger ist die Sachlage bei Bezeichnungswandel. Bezeichnungswandel impliziert, dass trotz der Veränderung einer Wortform ein inhaltliches Element identisch bleibt. Wie ist die Tatsache wortsemantisch korrekt auszudrücken, dass nhd. Kopf dieselbe Bedeutung hat wie mhd. houbet? Zu sagen, dass die beiden Wörter die gleiche Sache als physikalisch vorhandenes Denotat bezeichnen konnten, ist entweder falsch oder unpräzis; der direkte Bezug auf Sachen in einem physikalischen Sinn in einer Bedeutungstheorie ist bekanntlich ein Irrweg. Denn eine Sache wie den konkreten *Kopf* gibt es nicht, es gibt eine Menge sehr vieler Objekte, für die diese Bezeichnung angewandt werden kann. Alternativ könnte man die 9

Für die Zwecke der Argumentation werden hier definitorische und klassifikatorische Probleme für die unterschiedlichen Arten von Bedeutung im Einzelnen ausgeklammert. Relevant sind im Folgenden Formen der ‚deskriptiven‘ Bedeutung.

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Vergleichbarkeit der Wörter auf eine innersprachliche Ebene verschieben und sagen, dass houbit und Kopf die gleiche Bedeutung haben. Wie und woher aber hat mhd. kopf diese neue Bedeutung bekommen? Könnte man sagen, dass kopf die Bedeutung von houbet erhalten hat? In einer solchen Formulierung wird eine Wortbedeutung zu einem selbständigen Objekt, das unabhängig von einem konkreten Wort existiert und als solches von einem Wort auf ein anderes übertragen werden kann. Dieses Problem stellt sich, wie auch immer Bedeutung definiert und die Herkunft einer Wortbedeutung in einem onomasiologischen Wandel beschrieben wird, auch etwa bei einer Gebrauchstheorie von Bedeutung, wonach Bedeutung eine Regel der Verwendung eines Wortes im Hinblick auf seinen Beitrag zum Handlungspotenzial eines Satzes ist. In dieser Betrachtungsweise hat kopf die gleiche Verwendungsregel wie houbet bekommen. Hat diese Regel unabhängig von der Lautform existiert und ist von einer Wortform auf die andere übertragen worden? Diese Frage ist falsch gestellt. Denn am Anfang einer Innovation steht nicht eine Regel, sondern eine kommunikative Absicht, in der konkreten Situation einen bestimmten Sachverhalt mit einem bestimmten Wort mit einer bestimmten lexikalischen Bedeutung zu bezeichnen und aus der Kombination von Objekt und lexikalischer Bedeutung über allgemeinere pragmatische Verwendungs- und Interpretationsregeln bestimmte kommunikative Effekte zu erzielen. Dies ist jedenfalls bei ‚echtem‘ Bezeichnungswandel der Fall, wo aus kommunikativen Gründen die Verwendung einer anderen Bezeichnung für eine bestimmte Gegebenheit als die standardmäßige konventionalisiert wird.10 Es trifft zwar zu, dass die Existenz des Wortes houbet als üblicher Ausdruck eine Rolle beim Verstehen von kopf als speziellere Bezeichnung spielt, entsprechend der GRICE’schen Maxime der Qualität, wonach mit einer abweichenden Formulierung besondere Mitteilungsabsichten verbunden werden, und dass so das Nebeneinander der beiden Wörter deren Verwendung beeinflusst. Die Bedeutungsentwicklung von mhd. kopf von ‘Trinkgefäss’ zu ‘Kopf’ kann aber nicht durch Übertragung der lexikalischen Verwendungsregeln von houbet zu kopf erklärt werden, sondern nur dadurch, dass sich kopf auf einen Sachverhalt bezieht, bei dem man eigentlich die Verwendung von houbet erwarten würde. In der sprachlichen Kommunikation sind solche Sachverhalte aber nicht als reale Objekte vorhanden, sondern als kognitive Gegebenheiten. Für die einzelne Äußerung wurde oben die Äußerungsbedeutung als mentales Modell verstanden, das Ausgangspunkt eines sprachlichen Signals ist und beim Rezipienten als Resultat einer Äußerung konstruiert wird. Die kognitive Teileinheit, die der einzelnen grammatisch-semantischen Einheit in der Äußerung und im einfachen Fall dem einzelnen Lexem entspricht, können wir als Konzept bezeichnen. Anders gesagt: Was bei einem solchen Bezeichnungswandel vergleichbar oder identisch ist, ist der gemeinsame Bezug einer Wortform auf ein gleiches oder

10

Bezeichnungswandel kann theoretisch auch eine indirekte Folge von Bedeutungswandel sein, indem ein Wort eine neue Bedeutung erhält, die bereits von einem anderen Wort besetzt ist, s. Abschnitt 2.1.5.

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vergleichbares Konzept; dieses muss theoretisch unabhängig von einer konkreten einzelnen sprachlichen Benennung gedacht werden. Für eine kohärente Beschreibung von Bezeichnungswandel müssen wir mit anderen Worten eine konzeptuelle Ebene voraussetzen, die unabhängig von der lexikalischen Ebene existiert, auch wenn sie damit interagiert. Dies gilt nicht nur für den Ersatz einer Bezeichnung durch eine andere wie im Falle des Wandels von houbit zu kopf, sondern auch und noch mehr für die Fälle, in denen neue Wörter für ‚neue Begriffe‘ zum Wortschatz hinzukommen. Wenn für das Konzept STEUERGERÄT, UM IN EINEM PERSONAL-COMPUTER DEN AKTIVEN BEARBEITUNGSPUNKT AUF DEM BILDSCHIRM AN EINEM BESTIMMTEN ORT ZU PLATZIEREN der Ausdruck engl. mouse bzw. dt. Maus in die Sprache eingeführt wird, muss dieses Konzept schon vor der Lexikalisierung vorhanden sein, denn sonst könnte man keine Benennung dafür schaffen. Der Begriff des Konzepts ist zentral in der heutigen kognitiven Semantik, allerdings gibt es dafür keine einheitliche Definition.11 MURPHY (2002, 270) definiert „concept“ „as the mental representation of classes of objects and entities in the world, which are used in thinking about those entities“.12 In einer solchen Definition müssen die Definientia „objects“, „entities“ und „world“ sehr weit gefasst werden. Konzepte sind nicht nur einfache modellhafte Repräsentationen von Objekten und Handlungen, sie müssen auch komplexe Beziehungen, Zusammenhänge, Zustände usw. erfassen, in denen Objekte, Handlungen usw. regelmäßig vorkommen. Unter „world“ kann ferner nicht nur die reale Welt verstanden werden; je nachdem beziehen sich Konzepte auch auf fiktive Welten wie z. B. bei beamen ‘in entmaterialisierter Form an einen anderen Ort bewegen’. Zudem sind es komplexe, ganzheitliche mentale Repräsentationen, die nicht nur inhärente Eigenschaften in der Sache selbst, sondern auch deren wechselnden Erscheinungsweisen, eher nebensächliche, aber häufig oder regelmäßig verknüpfte Akzidenzien, grundlegende Funktionen und Verwendungen, Einstellungen von Menschen dazu usw. umfassen. Im Rahmen einer Stereotypentheorie nennt sie LUTZEIER (1995, 49) „naive, umfassende Alltagstheorien“. Zur Definition eines Konzepts gehört 11

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S. die umfassende Diskussion in WACEWICZ (2015). Zusammenfassende Überblicke geben MURPHY (2002), GEERAERTS (2002), SCHMID (2002), LÖBNER (2003, 256–258, 300–313). WACEWICZ (2015, 235–236) definiert abweichend vom hier verwendeten Sprachgebrauch concept als „mental representation that has a lexical correlate“ (hier Bedeutung) und mental representation als „any relatively stable mental structure that can be consistently reployed in cognitive operations“ (hier Konzept). Offenkundig eignet sich diese Umschreibung als Grundlage für eine Bedeutungsbeschreibung nur für mentale Objekte, die in irgendeiner Weise einen repräsentationalen Bezug zu einer Wirklichkeit haben. Für andere Ausdrucksmittel wie Konnektoren, Modalitätsfunktoren, Abtönungspartikel und ähnliche Ausdrucksmittel, die nicht direkt als Input für die Konstruktion mentaler Repräsentationen dienen, sondern als Steuerungsmittel für Implikaturen und die Kontextualisierung von Äußerungen, dürfte dieser Begriff von Konzept als Theorieinstrument weniger geeignet sein. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit geht es aber primär um die lexikalische Semantik von repräsentationalen Lexemen. – Auf alternative oder ergänzende Konzepte wie Prototypentheorien oder Stereotypentheorien kann hier nicht speziell eingegangen werden.

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auch dessen Einbettung in größere Zusammenhänge. Isolierte, für sich allein stehende Konzepte gibt es nicht. Zum Konzept BEIL gehört beispielsweise nicht nur Wissen über die Form, die Teile und deren Materialien, sondern auch wie dies aus dem Verwendungszweck begründbar ist, welches die daraus sich ergebenden typischen Handlungen sind, welchen Platz Beile in einer Auswahl von Hauwerkzeugen einnehmen, usw. Diese Betrachtungsweise wirft die Frage auf, ob qualitativ zwischen Konzepten auf der Ebene des Wissens, der lexikalischen Bedeutung und der Äußerungsbedeutung zu unterscheiden ist oder nicht. 13 Im ‚Einebenen-Ansatz‘ wird zwischen Semantik und Weltwissen keine Trennung gemacht; semantisches Wissen ist danach dem Wesen nach das Gleiche wie Weltwissen. BLANK (2001, 131–134) nimmt hier eine differenzierende Position ein. Nach ihm ist „enzyklopädisches Wissen“ in der Substanz dasselbe wie „sememisches Wissen“ (lexikalische Bedeutungen). Die beiden sind kategoriell aber zu unterscheiden: Die beiden Wissensbestände sind unterschiedlichen Bereichen anzusiedeln; enzyklopädisches Wissen ist Wissen in einem außersprachlichen Kontext, sememisches Wissen ist Wissen innerhalb einer Sprache. Äußerungsbedeutungen grenzt BLANK dabei nicht gesondert von lexikalischem Wissen ab. Auch sonst scheinen in EinebenenAnsätzen die in Äußerungsbedeutungen konstruierten mentalen Strukturen lediglich konkretere Ausprägungen der gleichen Art von mentalen Strukturen, wie sie in lexikalischen Bedeutungen kodifiziert sind. ‚Mehrebenen-Ansätze‘ bauen dagegen auf modularen Verarbeitungsmodellen auf. Die abstrakte lexikalische Information wird im Satz zu einer Logischen Form verarbeitet, in der Äußerung wird sie, gesteuert vom ‚konzeptuellen Kenntnissystem‘, zu einer spezifizierten konzeptuellen Bedeutung umgeformt. Wie sich die Logische Form in Bezug auf Form und Struktur von einer konzeptuellen Bedeutung unterscheidet, ist aber nicht klar. Außer Acht bleibt dabei in der Regel die Frage der Modalität des konzeptuellen und enzyklopädischen Wissens. ‚Enzyklopädisches Wissen‘ in einem präziseren Sinn ist faktisches Wissen, referenziell bezogen auf Realitäten (wenn auch möglicherweise fiktionale). (In der Regel ist auch enzyklopädisches Wissen so ungenau wie konzeptuelles Wissen). Konzeptuelles Wissen, soweit es von enzyklopädischem Wissen unterschieden wird, hat dagegen eine deontische Modalität, die nicht-referenzieller Art ist: Es ist Wissen, ‚wie die Welt normalerweise ist‘, ‚wie sie sein sollte, wenn sie den Standards entspricht‘ oder ‚wie sie im DefaultFall erwartet wird‘. Ein Konzept in diesem Sinne hat keinen direkten referenziellen Bezug auf eine Welt, auch wenn sie aus Welterfahrung entwickelt wird. Konzepte werden aus der Erfahrung von wiederholter qualitativer Gleichheit in wechselnden raum-zeitlich-psychischen konkreten Erfahrungen gebildet, aber von diesen konkreten Erfahrungen losgelöst aufbewahrt. Die konzeptuelle Organisation der Welt ist eine Ordnungsstruktur, die dazu dient, die erfahrene Welt zu organisieren und reale Erscheinungen darin einzuordnen, stellt aber kein direktes referenzielles Wissen über die erfahrene Welt dar. Die gleichen Überlegungen gelten 13

S. die Übersicht in SCHWARZ (2008, 40–59).

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für den Unterschied zwischen Konzepten als Wortbedeutungen und mentalen Modellen als Inhalte von Äußerungen. Im Konzept HUND ist enthalten, dass das entsprechende Lebewesen vier Beine, zwei Ohren und ein Fell hat, ohne dass damit konkret auf eine Menge von real existierenden Lebewesen referiert wird. In der referenziell gemeinten Bezeichnung eines Individuums „der Hund meines Nachbarn“ kann es sein, dass das entsprechende Lebewesen infolge eines Unfalls aber nur drei Beine hat. Die Nicht-Unterscheidung von enzyklopädischem und konzeptuellem Wissen impliziert den Fehler des normativen Fehlschlusses von Tatsachen auf Normen.14 Ebenso muss nach der intersubjektiven Gültigkeit von Konzepten gefragt werden. Sind Konzepte privates Wissen oder kollektives Wissen? Ein alter Einwand gegen die Vorgänger von Konzepttheorien, die Vorstellungstheorien, lautet, dass Vorstellungen nur private Inhalte sind, Sprache aber der intersubjektiven Verständigung diene und Bedeutungen somit soziales Wissen sein müssen. Die Sachlage ist aber sicherlich komplexer. Elementares konzeptuelles Wissen wie über die visuelle oder räumliche Beschaffenheit der Welt ist wohl universales Wissen aufgrund der Tatsache, dass es in der angeborenen Körperlichkeit und kognitiven Grundausstattung des Menschen begründet ist. Daneben gibt es kulturspezifisches kollektives konzeptuelles Wissen, das durch gemeinsame Praxis, Kooperation und Kommunikation hergestellt, übermittelt und erworben wird. Schließlich gibt es auch spezifisch individuelles konzeptuelles Wissen, beispielsweise darüber, welches der Geschmack des persönlich bevorzugten Weins ist oder wie man am besten Bananenmarmelade macht, Wissen, das sich nur durch individuelle Erfahrungen und Praxis gebildet hat. Wenn Konzepte unabhängig von einer Assoziation mit sprachlichen Zeichen definiert werden können, müssen sie auch unabhängig von Sprache existieren können. Dies ist zweifellos keine unvernünftige Annahme. Es gibt zahllose individuelle und soziale stereotype Annahmen über Dinge, Verhaltensweisen und Ereignistypen, für die es keine sprachlich konventionell fixierte Standardbezeichnung gibt. Mehrere Spontanumfragen in Basel ergaben beispielsweise, dass keine der befragten Personen (darunter auch Kassiererinnen in Supermärkten) eine konventionelle sprachliche Bezeichnung für das Konzept WARENTRENNER AUF DEM FLIESSBAND EINER KASSE IN SUPERMÄRKTEN (der Stab, der dazu dient, die Ware verschiedener Kunden auf dem Warenfließband bei der Kasse von Supermärkten voneinander zu trennen) kannte. 15 Für alle Personen, die regelmäßig in Supermärkten einkaufen oder als Kassierer/Kassiererin arbeiten, ist aber dieser Gegenstand und seine zweckentsprechende Verwendung eine fixierte konzeptuelle Gegebenheit, deren allgemeine Kenntnis auch in der Kooperation an der Kasse vorausgesetzt wird. BLANK (2001, 131) argumentiert plausibel, dass es zwar im 14

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Dieselbe Gefahr eines normativen Fehlschlusses liegt bei manchen sog. Gebrauchstheorien der Bedeutung nahe, wenn Bedeutung allzu wörtlich direkt als (tatsächlicher) Gebrauch eines Wortes umschrieben wird. Die Menge der tatsächlichen (z. B. metaphorischen) Verwendungen darf nicht identifiziert werden mit der Regel, die den Verwendungen zugrunde liegt. Vgl. auch die Diskussion in Der Sprachdienst, Jahrgang 54 (2010), Heft 5, 160.

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Deutschen lexikalisch keine Unterscheidung zwischen Kopfhaar und Körperhaar gibt wie sie sprachlich etwa im Französischen zwischen cheveux vs. poil gemacht wird, dass aber auch Deutschsprachige über entsprechende differenzierte Konzepte dafür verfügen. Dass Konzepte nicht lexikalisch versprachlicht sind, heißt allerdings nicht, dass darüber nicht als vorgegebene Größen sprachlich kommuniziert werden könnte. Dies geschieht aber in solchen Fällen in individuellen Äußerungsformen, mit Umschreibungen, nicht mittels lexikalisch konventionalisierten fixierten Bezeichnungen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit einer differenzierten Umschreibung der Wortbedeutung als Konzept. Eine Wortbedeutung ist nicht Teil des enzyklopädischen Wissens, sondern des konzeptuellen Wissens im oben erläuterten Sinn. Ein Wort ist eine konventionelle Verbindung einer Ausdrucksform mit einem Inhalt. Wenn der Inhalt ein Konzept sein soll, dann muss es sich entsprechend um ein sozial geltendes Konzept mit sozialer, u. U. auch konventioneller Geltung handeln, denn private Konzepte können ihrem Wesen nach nicht in eine konventionalisierte Assoziation mit einer Ausdrucksform gebracht werden. Eine Wortbedeutung ist entsprechend ein konventionell mit einer Wortform assoziiertes sozial geltendes Konzept. Dabei erscheint nicht nur die soziale Geltung des Konzepts selbst als Merkmal der Konventionalität, sondern auch die Konventionalität der Assoziation. Nicht nur der assoziierte Gehalt, die Assoziation selbst ist Teil der Bedeutungshaftigkeit eines Wortes. Daraus ergibt sich, dass bei Bezeichnungswandel als Etablierung einer neuen konventionellen Verbindung von Inhalt und Ausdruck die zugrundeliegenden Konzepte zuvor soziale Gegebenheiten sein müssen, bevor sie lexikalisiert werden können. Dafür, wie ein Konzept zu einem kollektiven Wissenselement und durch die konventionelle Fixierung in einem Wort zu einem konventionalisierten Bedeutungselement gemacht werden kann, sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. In etablierten Institutionen kann ein neues Konzept durch öffentlich mitgeteilte Definition und Erläuterung unmittelbar durch die autoritative Festlegung in die Gesellschaft eingeführt werden. In der Alltagswelt entwickeln sich Konzepte eher durch Routinisierung und Usualisierung von Wahrnehmungen und allenfalls sprachliche Begleitung mit entsprechenden Kommentaren in der Kooperation. Der Übergang von einer individuellen zu einer sozialen Konzeptualisierung eines Phänomens ist fließend. Schon die Wiederholung einer bestimmten Bezeichnungsweise von jeweils ähnlichen Sachverhalten mit der gleichen Mitteilungsabsicht muss aber die Wirkung haben, dass zu diesem Sachverhalt ein Konzept gebildet wird und die Bezeichnung als usualisierte Ausdrucksweise sich einer Konvention annähert. Dabei spielt auch das von CROFT (2000, 176) als „First Law of propagation“ bezeichnete Prinzip eine wichtige Rolle: In einer Sprechergemeinschaft wird eine von den möglichen Bezeichnungsvarianten eines Konzepts über die Zeit tendenziell bevorzugt und schließlich als einzige konventionalisiert.16

16

„The First Law of propagation: a natural human tendency to increase the conventionality of one variant of a lingueme in community at the expense of another“ CROFT (2000, 176).

Bezeichnungswandel als Sprachwandel

41

2.1.3 Die Raumlosigkeit von Innovation Innovation als Wandel von Konventionen ist ein Veränderungsprozess, der bezogen auf ein Sprachsystem in einer Sprechergemeinschaft jenseits eines geografischen Raums zu denken ist. Der Sprachgebrauch in einer Sprechergemeinschaft muss unabhängig von räumlichen Differenzierungen gelten, sonst wird ja der Sprachgebrauch mit örtlichen Bedingungen verknüpft, also zum Dialektmerkmal im Raum, als Gegensatz zu anderen, benachbarten Dialekten. Raumlosigkeit als Unabhängigkeit des Sprachgebrauchs von Raum bedeutet, dass Sprecher einer Sprechergemeinschaft sich in einem physischen Raum bewegen können, ohne dass sich die Bedingungen des Sprachgebrauchs verändern. Dies ist wenigstens in der Theorie auch aus der Voraussetzung notwendig, dass Sprachwandel Wandel von Konventionen ist. Ein Sprachgebrauch kann nicht Konvention einer Sprechergemeinschaft sein, wenn sie nicht von allen Mitgliedern dieser Sprechergemeinschaft in gleicher Weise akzeptiert wird (s. die Definition von ‚Konvention‘ in Fn. 6). Das ist natürlich eine Idealisierung. Die Verhältnisse in der Realität sind meist komplizierter, vor allem aufgrund der Tatsache, dass Sprachwandel ein langsamer Vorgang mit Zwischenstufen ist, die notwendigerweise Varianz und auch sprachsoziologische Differenzierungen enthalten. Die Prozesse der Innovation und der Ausbreitung im Raum (Diffusion) können sich überlappen, die Übergänge zwischen der Phase der lokalen Innovation und der räumlichen Ausbreitung (Diffusion) können fließend verlaufen. Dies sind jedoch zusätzliche Aspekte, die andere Dimensionen des Sprachwandels einbeziehen und die beim Bezeichnungswandel im engeren Sinn ausgeklammert werden müssen. Sie kommen speziell in Abschnitt 3.7 zur Sprache. 2.1.4 Dimensionen des Bezeichnungswandels Bezeichnungswandel scheint auf den ersten Blick ein relativ einfaches Phänomen: Für ein bestimmtes Designatum (Inhalt) gilt zu einem Zeitpunkt t1 das Designans (die Ausdrucksform) a, zu einem späteren Zeitpunkt t2 das Designans b: t1 (mhd.) ‘Kopf’ /houbet/

——————> t2 (nhd.) ‘Kopf’ ——————–> /Kopf/

Schematisch gesagt: Im Lauf der Zeit wird das Designans a für das Designatum x durch das Designans b ersetzt.17 17

Zur Diskussion, was als ‚designatum‘ zu gelten hat, s. Abschnitt 2.1.2. – Eine allgemeine Übersicht über den Bezeichnungswandel bietet GZREGA (2004). Zur diachronen Onomasiologie s. auch BLANK (2003) und SCHMIDT-WIEGAND (2002, 743–744) mit weiteren Hinweisen. Zusätzlich sind die allgemeinen Rahmenbedingungen für Sprachwandel in Rechnung zu stellen. Die verschiedenen Aspekte und Stufen des inhaltlichen Wortwandels werden zumeist an-

42

Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

Eine derartige Darstellung ist zu einfach. Onomasiologischer Wortschatzwandel ist ein komplexes Ereignis, das sich auf mehreren Ebenen abspielt. Mindestens folgende Aspekte sind zu unterscheiden: a. Lexikalische Verfahren auf Ausdrucksebene Mit welchen lexikalischen Verfahren werden neue Wortformen für einen Inhalt gebildet? Bezeichnungswandel hat ein formales Korrelat auf Ausdrucksebene: Neue Formen werden eingeführt für (alte oder neue) Konzepte als Bedeutungen. Zu fragen ist, mit welchen Verfahren Formen gebildet werden, wenn eine neue Bezeichnung für einen bestimmten Inhalt geschaffen wird. b. Verfahren auf der Inhaltsebene: Motiviertheit der Innovation Welches Bezeichnungskriterium steht beim neuen Ausdruck im Vordergrund? Inhaltlich kann die Frage beim Bezeichnungswandel nicht lauten, welche neue Bedeutung ein neuer Ausdruck hat, denn diese ist ja unabhängig vom Wandel als Konzept vorgegeben und eine eigenständige Größe (s. Abschnitt 2.1.2). Konkrete Fragen auf semantischer Ebene beziehen sich auf die Motiviertheit einer Innovation: Werden einer Innovation in der Form irgendwelche kognitiv-assoziativen Beziehungen zu anderen Spracheinheiten zugrunde gelegt und diese Beziehungen nutzbar gemacht, um den bezeichneten Inhalt erkennbar zu machen? Motiviertheit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass aus der Form eines Wortes Rückschlüsse auf seinen Inhalt gezogen werden können. c. Wandel in der Wortschatzstruktur Wie verändert sich die Wortschatzstruktur durch Bezeichnungswandel? In radikaler Vereinfachung können wir Wörter als konventionelle, gesellschaftlich fixierte Abbildungen von Konzepten verstehen und den Wortschatz, die Gesamtheit dieser Wörter, als eine konventionalisierte sprachlich strukturierte Abbildung einer konventionellen Struktur von Konzepten. Bezeichnungswandel hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Struktur eines Wortschatzes als Abbildung einer Konzeptstruktur. Wenn für ein bestimmtes Konzept der Ausdruck ausgetauscht wird, ändert sich strukturell am Wortschatz nichts. Es findet lediglich ein einzelner Designatersatz (Wortersatz) statt. Onomasiologische Veränderungen können aber auch mit strukturellen Änderungen im Wortschatz einhergehen, mit Erweiterungen, Umstrukturierungen von Konzeptstrukturen u. ä. d. Pragmatische Anlässe und Motivationen des Wandels Warum findet ein Bezeichnungswandel statt? Sprache ist als System von Konventionen an sich auf Kontinuität ausgerichtet. Wandel setzt daher aus theoretischen Gründen zusätzliche auslösende Faktoren voraus, auch wenn diese, da sie in der Sprechtätigkeit ihren Ursprung haben, in der Regel nicht direkt fassbar sind. Die Suche nach Anlässen für Bezeichnungshand des Bedeutungswandels diskutiert (s. BLANK 1997, 114–118, FRITZ 2006). Die nachfolgende Systematik weicht in den Einzelheiten von den Ansätzen in den genannten Werken ab.

Bezeichnungswandel als Sprachwandel

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wandel endet letztlich bei den Begriffen ‚Ursache‘ und ‚Grund‘. Diese Begriffe enthalten Unterschiedliches. Bezeichnungswandel kann vom Ausgangspunkt her bestimmt sein: Ein gegebenes Wort erfährt im Gebrauch eine Veränderung, beispielsweise Bedeutungswandel; der Bezeichnungswandel ist sekundäres Resultat eines primären Wandels auf einer anderen Ebene. Der Bezeichnungswandel kann aber auch vom Ziel her bestimmt sein: Für eine bestimmte Sache wird eine neue Bezeichnung gebildet. Ein allfälliger Bedeutungswandel eines Wortes ist in diesem Falle eine sekundäre Folge. GRZEGA (2004, 156–265) stellt 33 mögliche Einflussfaktoren für onomasiologischem Sprachwandel („Bezeichnungswandelkräfte“) zusammen, darunter Sachwandel, Einführung eines neuen Konzepts, Tabuisierung einer bestehenden Bezeichnung, Prestige und Sprachmoden, Mangel an Motiviertheit eines bestehenden Ausdrucks, übermäßige Länge eines bestehenden Ausdrucks, Unschärfe eines Konzepts bzw. seiner Bezeichnung. Genau genommen sind allerdings viele dieser Einflussfaktoren, etwa neue Konzepte, Tabuisierung, Dominanz eines Prototyps, selbst gar keine Anstöße zu einem Wandel, sondern typische inhaltliche oder strukturelle Veränderungsmuster. Es ist nützlich, diese einzelnen Situationen unter den beiden unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Sprachbenutzer können Bezeichnungswandel ‚erleiden‘, weil auf einer anderen Ebene Sprachwandel stattgefunden hat, sie können aber auch Bezeichnungswandel selbst herbeiführen durch ihre Sprechtätigkeit. Oft werden Anlass und Motivation des Bezeichnungswandels nicht unterschieden. Handlungstheoretisch ist besteht der Anlass zu einem Bezeichnungswandel primär darin, dass eine bestimmte Situation als Problemsituation beurteilt wird. Der Anlass selbst ist noch nicht die Behebung des Mangels. Es braucht zusätzlich eine Motivation, diese Problemsituation mit einer Innovation zu beseitigen. Die Nichtunterscheidung zwischen Anlass und Motivation einer Innovation führt zuweilen zu unproduktiven Diskussionen, etwa bei der Begründung von Neubenennungen aufgrund einer „lexikalischen Lücke“. Ob in Bezug auf eine Sache eine lexikalische Lücke besteht oder nicht, ist eher zufällig. Dass die Nichtbenennung einer Sache zu einer Innovation führt, setzt voraus, dass diese Nichtbenennung als Mangel empfunden wird. Die Beurteilung als Mangel ist der Anlass zur Innovation, die Motivation, eine neue Bezeichnung einzuführen, liegt in der Absicht, den Mangel zu beseitigen. Anlässe, Motivation und Art des Wandels hängen meist zusammen. Aus der Beschreibung der Art eines Bezeichnungswandels kann oft auf den Anlass oder die Motivation geschlossen werden, umgekehrt kann aber die Identifikation eines Anlasses auch zur Charakterisierung der Motivation zum Wandel beitragen. 2.1.5 Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel sind eng miteinander verbunden. In manchen Situationen sind Bedeutungswandel – die Veränderung der Bedeutung eines Wortes – und Bezeichnungswandel – die Veränderung der Bezeichnungsmöglichkeiten einer Sache – zwei unterschiedliche Aspekte des gleichen Sprach-

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

wandelprozesses, zwei Seiten der gleichen Medaille. Wenn ein Wort seine Bedeutung ändert, hat sich damit auch die Benennung einer Sache geändert. Wenn die Bedeutung von mhd. blœde sich ändert von ‘schwach, gebrechlich’, bezogen auf die Körperkonstitution, zu nhd. blöde ‘schwachsinnig’, bezogen auf die geistigen Fähigkeiten, dann hat sich auch die Bezeichnung des Konzepts SCHWACHSINNIG geändert. In der Theorie dreht sich die Diskussion um die Frage, was prioritär sei, der Bedeutungswandel oder der Bezeichnungswandel. In diesem Rahmen bezweifeln Vertreter einer Position, welche die Priorität des Bezeichnungswandels verteidigen, dass eine onomasiologische Beschreibung des Wortschatzes und von Sprachwandel allgemein möglich sei. Sie sei letztlich nur für konkrete Dinge geeignet. Viele Phänomene wie Gemütszustände oder intellektuelle Eigenschaften seien so diffus und vage, dass nach ihnen überhaupt nicht gefragt werden könne. Typisch ist die Position von TAYLOR (2003, 268): For many conceptual domains, it is difficult to imagine how the onomasiological approach could be implemented at all. One cannot hold up an exemplar for an emotional state, and ask how this emotional state may be named.

Dies ist allerdings eher ein praktisches Problem und allenfalls ein methodologischer Einwand, der sich historisch auf eine unzureichende zeichentheoretische Konzeption von Bedeutung und Bedeutungsbeschreibung bezieht, bei der zwischen Sache, Konzept, konzeptuellen Modellen und Bedeutung keinerlei Unterscheidung gemacht wird. Auch bei Wörtern mit vermeintlich „konkreter“ Bedeutung wie Getreide oder Fensterladen kann man die Bedeutung nicht ostensiv durch Vorzeigen eines einzelnen Gegenstandes angeben. Im Grunde fällt der Einwand auf die Semasiologie zurück: Wenn man nicht-dingliche Konzepte nicht genügend klar unabhängig von einer konkreten einzelsprachlichen Bezeichnung beschreiben kann, kann man auch in der Semasiologie nicht klar über die Bedeutung von entsprechenden Wörtern sprechen und ist auch die Beschreibung von Bedeutungswandel nicht möglich. Die Skepsis gegenüber den Möglichkeiten einer diachronen Onomasiologie enthebt nicht der Frage nach der kausalen Priorität von Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel. Dass jeder lexikalische Wandel deskriptiv und theoretisch als Bedeutungswandel beschrieben werden kann, ist eine unhaltbare Position. Zwar gilt, dass jedem Bedeutungswandel ein Bezeichnungswandel entspricht, die Umkehrung jedoch trifft nicht zu. Ein Bezeichnungswandel kann auch durch andere Mittel zustande kommen, vor allem durch Bildung neuer Ausdrucksformen, z. B. über Wortbildung, die bislang im Sprachsystem nicht existierten und bei denen deshalb auch kein Bedeutungswandel stattfinden kann. Auch dass Bedeutungswandel der Faktor ist, der den Sprachwandel auslöst und motiviert, ist nicht generell der Fall. Wenn ein Lexem sprachlich innovativ verwendet wird, dann steht in der Regel zuerst die Sache und die Mitteilungsabsicht im Fokus. Es geht darum, ein bestimmtes Konzept oder eine bestimmte Sache zu bezeichnen und dafür eine situationsentsprechende Bezeichnung zu wählen. Eine Möglichkeit besteht darin, auf der Basis allgemeiner (rhetorischer) Verfahren ein gegebenes

Bezeichnungswandel als Sprachwandel

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Lexem ‚umzufunktionieren‘ (s. Abschnitt 2.2.1). Die Bedeutung des Wortes ändert sich, weil das Wort gewohnheitsmäßig und schließlich konventionell zur Bezeichnung einer anderen Sache als in der Vergangenheit verwendet wird. Mhd. kopf erhielt die Bedeutung ‘Kopf’, weil das Konzept KOPF (oder die Sache *Kopf*) metaphorisch neu mit einem Ausdruck bezeichnet wurde, der konventionell eigentlich ‘Trinkschale’ bedeutet. Eine semasiologiezentrierte Sichtweise würde beinhalten, dass im Ursprung ‘Kopf’ neu als kopf statt als houbet bezeichnet wurde, weil das Wort kopf aus irgendeinem unerklärten Grund diese neue Bedeutung erhielt. Diese Sichtweise ist offenkundig realitätsfern und aus dem Sprachgebrauch kaum zu erklären; sie entspricht auch nicht den geläufigen Beschreibungen der tatsächlichen Abläufe.18 Anders gesagt: Lexikalische Innovation ist in der Regel im Ursprung onomasiologischer Wandel, denn sie entspringt der sprachlichen Tätigkeit, gegebene Sachen und Konzepte innovativ und kreativ mit varianten Ausdrucksweisen zu bezeichnen.19 Das schließt nicht aus, dass lexikalische Innovation sich auch primär als Bedeutungswandel vollzieht. In diesen Fällen ist dann der onomasiologische Wandel sekundäre Folge dieses Bedeutungswandels. Ein mögliches Beispiel dafür ist die häufige Einschränkung der Bedeutung von ›Korn‹ von ‘Getreide’ auf eine spezielle Getreidesorte wie ‘Roggen’ oder ‘Dinkel’.20 Hintergrund ist der Umstand, dass außer der speziellen Getreidesorte keine andere angepflanzt wird oder diese die hauptsächliche oder prototypische Getreidesorte ist. Die Benennung von *Roggen* als ›Korn‹/‘Getreide’ ist per se kein abweichender Sprachgebrauch; die Bedeutung von ›Korn‹ bleibt dabei zunächst unverändert. Durch die usuelle Bezeichnung der speziellen Getreidesorte durch die Bezeichnung des übergeordneten Konzepts, die zunächst keine semantischen Verschiebungen implizieren, verfestigt sich über Implikaturen aber die denotative Einschränkung und schließlich bleibt dem Ausdruck die eingeschränkte Bedeutung. In anderen Fällen verändert sich die Bedeutung im Gebrauch aufgrund von konzeptueller Unschärfe. So hat ahd. barug ‘kastrierter Eber’ in WS die Bedeutungskomponente ‘kastriert’ verloren und ist zur Bezeichnung des Ebers generell geworden (SDS VIII 80). Offenbar war das unterscheidende Element zwischen ›Eber‹ und ›Barg‹ mit der Zeit in Vergessenheit geraten. In den meisten Fällen, die im Folgenden als lexikalische Innovationen diskutiert werden, ist im Ursprung jedoch onomasiologisch induzierter Wandel als primärer Faktor anzunehmen.

18 19 20

S. z. B. DWB 11, 1748–1749, FRITZ (2005, 150–154). S. auch KOCH / OESTERREICHER (1996, 77). S. KÖNIG (2011, 202), SDS VIII 193.

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

2.2 VARIATION IN DER LEXIKALISCHEN INNOVATION Zu Bezeichnungswandel gehört lexikalische Innovation, zu lexikalischer Innovation gehört Variation, Variation ist Voraussetzung für areale Diversität. In lexikalischer Innovation wird ein bestimmtes Konzept als Designatum neu mit einer bestimmten Ausdrucksform als Designans assoziiert. Damit wird ein neues Lexem in das Sprachsystem eingeführt: Auch wenn das Konzept oder die Ausdrucksform für sich genommen schon existiert haben mögen, die konkrete konventionelle Inhalts-Ausdrucks-Assoziation hat in dieser Form noch nicht bestanden. Jede Sprache bietet eine reiche Palette von möglichen Verfahren, um eine Ausdrucksform für ein Konzept zu bilden. In dieser Vielfalt und im Umstand, dass im konkreten Fall in gewissem Maße frei zwischen den verschiedenen Möglichkeiten ausgewählt werden kann, ist die Möglichkeit der Variation und Diversität systematisch angelegt. 2.2.1 Innovationen auf Ausdrucksebene Bezeichnungswandel hat ein formales Korrelat auf der Ausdrucksebene: Neue Formen werden eingeführt als Bezeichnungen für (alte oder neue) Konzepte. Die Möglichkeit der Varianz und Diversität ergibt sich daraus, dass eine Vielzahl von Verfahren zur Bildung neuer Wortformen besteht.21 2.2.1.1 Semantische Umfunktionierung Lexikalische Innovation kann dadurch erfolgen, dass die Ausdrucksform eines schon bestehenden Wortes neu für ein anderes Konzept verwendet wird. Eine bestehende Ausdrucksform wird sozusagen semantisch umfunktioniert. Als Beispiel kann der bereits erwähnte Fall von Kopf dienen: Das Konzept KOPF wird im Mittelhochdeutschen neu mit dem Ausdruck kopf bezeichnet, der ursprünglich das Konzept TRINKSCHALE bezeichnet. Mit der neuen konventionellen Verbindung einer Ausdrucksform mit einem geänderten Konzept ist ein neues Wort entstanden.22 Diese Beschreibung mag verwirren. Üblicherweise wird diese Art von onomasiologischem Wandel als Bedeutungswandel charakterisiert: Eine neue Be21

22

Der folgende Überblick bezweckt nicht, ein vollständiges Inventar zusammenzustellen. Das Schweizerdeutsche weicht auch nicht grundsätzlich von anderen Sprachvarianten des Deutschen ab, zeigt aber bestimmte Präferenzen. Eine umfassende Zusammenstellung der Möglichkeiten lexikalischer Innovation bietet GRZEGA (2004, Kap. III), mit weiteren Verweisen auf TOURNIER (1985), GEERAERTS (1997), KOCH (2002). Eine Typologie lexikalischer Innovation findet sich bereits bei KRONASSER (1952, § 71). Auf das Problem der Polysemie, das oft damit verbunden ist, kann hier nicht eingegangen werden (s. BEHRENS 2002). Es spielt im Folgenden in der Regel keine Rolle, namentlich dann, wenn die ursprüngliche Bedeutung der Wortform verloren gegangen ist wie bei Kopf.

Variation in der lexikalischen Innovation

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zeichnung entsteht dadurch, dass ein bestehendes Wort seine Bedeutung ändert.23 Das ist jedoch eine semasiologische Betrachtungsweise. Sie ist naheliegend, weil lexikalische Umfunktionierung Hand in Hand geht mit Bedeutungswandel. Jedoch besteht onomasiologisch die Innovation nicht darin, dass ein bestehendes Wort eine neue Bedeutung erhält, sondern darin, dass ein gegebenes Konzept neu mit einer bestehenden Wortform assoziiert wird. Umfunktionierung ist nicht willkürlich; es kommt kaum vor, dass eine gegebene Ausdrucksform beliebig mit einem neuen Inhalt assoziiert wird.24 Grundsätzlich folgt sie vielmehr inhaltlichen Verknüpfungen zwischen Konzepten, wie sie im Gebrauch von Wörtern in Äußerungen auf der Ebene der Sprechtätigkeit alltäglich sind. Semantische Umfunktionierung ist das Resultat der Konventionalisierung von pragmatischen Verfahren der Anwendung von lexikalischen Bedeutungen in der individuellen Situation.25 Diese Inhaltsbeziehungen zwischen Ausgangsbedeutung und Zielbedeutung sind in den allgemeinen Darstellungen des Bezeichnungswandels und Bedeutungswandels schon so oft ausführlich dargestellt worden, dass hier auf Details verzichtet werden kann:26 a. uneigentlicher Gebrauch – Similarität – Metapher: »Huut« ›Haut‹, »Rinde« ‘Schale des Apfels’ (SDS VII 153) < ‘äußerste Schicht des Menschen/eines Baumes’ – Tertium comparationis: ÄUSSERSTE SCHICHT (EINES KÖRPERS) – Engynomie – Kontiguität – Metonymie: sachliche Nähe: »Chifel« ‘Kinn’ (SDS IV 23) < ‘Kiefer’ – sachliche Nachbarschaft27 b. unpräziser Gebrauch: Verschiebungen innerhalb einer begrifflichen Taxonomie28 – vager Gebrauch: Verwendung des Oberbegriffs statt des präziseren Unterbegriffs: »sich abehäbe«, »sich abe-/nider/vorahi-nider-/z Bode

23 24

25 26 27

28

Vgl. GRZEGA (2004, 63–99). S. auch die Bemerkungen zur Motiviertheit in Abschnitt 2.2.2. Ausnahmen finden sich in Anwendungen der „Humpty-Dumpty-Regel“ (WARREN 1992, 136, zit. nach GRZEGA 2004, 97). Ein literarisches Beispiel ist PETER BICHSELS bekannte Erzählung „Ein Tisch ist ein Tisch“ (BICHSEL 1986, 18–27). Vgl. KOCH (2004, 20–12). S. z. B. GRZEGA (2004, Kap. III.4) im Anschluss an BLANK (1997), BLANK (2003). Der Wortersatz Kiefel für Kinn ist nach KLAUSMANN / KUNZE / SCHRAMBKE (1997, 83) auch nördlich der Schweiz, so nördlich der Wutachschlucht, im mittlerer Schwarzwald und in der südlichen Ortenau belegt. Die Verbreitung in der Schweiz zeigt aber, dass diese Vertauschungen jeweils lokal einzeln erfolgt sind. – Auch in der Romania sind ähnliche Vermischungen zu beobachten, so etwa zwischen lat. maxilla ‘Unterkiefer’ > ital. *maxella ‘Wange’ (s. BLANK 1997, 389). Charakterisierung aus der Perspektive des Bezeichnungsverfahrens. Traditionell werden diese Arten von Umfunktionierung aus semasiologischer Sicht als Bedeutungsverengung bzw. als Bedeutungserweiterung bezeichnet. Diese Charakterisierung ist allerdings missverständlich im Hinblick auf die Frage, was mit ‚Verengung‘ und ‚Erweiterung‘ bezeichnet werden soll (Denotation oder Inhalt? Vgl. die Diskussion in BLANK 1997, 193–196). Zu Verschiebungen innerhalb von Taxonomien s. auch Abschnitt 2.2.2.3.

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte





haa« ›sich hinunter/nieder/zu Boden halten‹ ‘sich bücken’ (SDS VII 172) < ‘den Körper nach unten halten’ unscharfer Gebrauch: Verwendung eines Unterbegriffs statt des Oberbegriffs mit Vernachlässigung von relevanten Unterscheidungskriterien: »aabüeze«/»aabüesse« ‘annähen’ (SDS VII 76/77) < »büeze/büesse« ‘flicken’ Vertauschung: Verwendung einer Bezeichnung einer Sache innerhalb der gleichen Taxonomie: »Buggele« ‘Löwenzahn (taraxacum officinale)’ (SDS VI 123, KSDS 140) < ‘Wegwarte (Cichorium)’ 2.2.1.2 Wortbildung

Lexikalische Innovation kann dadurch erfolgen, dass zu einem Konzept eine neue Ausdrucksform mittels Wortbildung gebildet wird. Die allgemeinen Strukturmöglichkeiten der Wortbildung im Schweizerdeutschen entsprechen denjenigen, die auch für das Standarddeutsche bekannt sind: Komposition, Derivation/Ableitung (zwischen verschiedenen Wortarten, so Verb < Nomen, Adjektiv, Verb; Nomen < Verb, Adjektiv, Nomen; Adjektiv < Nomen, Verb, Adjektiv). Was in der Alltagssprache der traditionellen Dialekte (anders als in der modernen Umgangssprache) kaum vorkommt, sind spezielle Bildungsmuster wie Akronyme und Kurzwörter. Für jedes Wortbildungsmuster existieren zahlreiche Bildungsmöglichkeiten und Morpheme. a. Komposition •

»Stangen-«, »Stäcke-«, »Stickel-«, »Stichelboone« ‘Stangenbohne’ (SDS VI 198)



»Höiergschiir« ›Heuergeschirr‹, »Höierwärchgschiir« ›Heuerwerkgeschirr‹, »Höierwärchzüüg« ›Heuerwerkzeug‹, »Höierzüüg« ›Heuerzeug‹, »Höierruschtig« ›Heuer(aus-)rüstung‹‚‘Gesamtheit der Geräte des Heuers’ (SDS VIII 183)

b. Derivation – Verb > Nomen •

»Riiber« < »riibe« ›reiben‹, »Raffler« < »raffle« (zu ›raffeln‹), »Rapser« < »rapse« ›rapsen‹ ‘Kartoffelraffel’ (SDS VII 198)



»Wüschete« < »wüsche«, »Fürbete« < »fürbe« (‘fegen, wischen’) ‘Kehrichthäufchen nach dem Fegen des Bodens’ (SDS VII 94)



»Schüssel« ‘Brotschieber’ < »schüüsse« ›schießen‹ ‘schnell bewegen’ (SDS VII 109)



»Aahau« ›Anhau‹ ‘(abgeschnittenes) Anfangsstücks des Brotes’ (SDS V 171) zu »aahaue« ‘anschneiden’

Variation in der lexikalischen Innovation



49

Nomen > Verb

• »gluggere«, »chluggere«, »chlüggerle« < »Glugger(e)«, »Chluggere« ‘(kleine) Kugel, Marmel’ (Id. 3, 6441) ‘mit Marmeln spielen’ (SDS V 90) –

Adjektiv > Verb



»-el(e)«: »grööijele« < »graau« ›grau‹ ‘schimmlig riechen’/‘schimmlig aussehen (von Wäsche)’ (SDS 147/148)

c. Kombinationen von Bildungsmustern – Kompositum mit Derivation •

»Heugumper«, »Heugümper«, »Heujucker«, »Heugüpfer« ‘Heuschrecke’ (SDS VI 222, KSDS 168)



»schlittschüele« < »Schlittschue« ›Schlittschuh‹, »schliffschüele« < »Schliiffschue« ›Schleifschuh‹, »schliiffisele« < »Schliiffiise« › Schleifeisen‹ (‘Schlittschuh’) ‘Schlittschuh laufen’ (SDS V 102)29



Possesssivkomposita



»Langbeiner«, »Hoobeiner« ›Hochbeiner‹ ‘ein x, das lange/hohe Beine hat’ ‘Weberknecht’ (SDS VI 241, KSDS 174)



Derivation aus Derivationen



»Heblete« ‘Vorteig’ (SDS VII 102) < »heble« ‘den Vorteig bereiten’ (SDS VII 103) < »Hebel« ‘Hefe’ (SDS VII 100, Id. 2, 942)

d. Wortkürzung Ein Grenzfall der Wortbildung ist die Wortkürzung (‚Ellipse’), z. B. die Kürzung eines Determinativkompositums um ein Element.30 Derartige Kürzungen ergeben sich in der Regel aus früheren Wortbildungen, also aus ursprünglichen Innovationen, und sind so sekundäre Prozesse. Synchron erscheinen sie als Bedeutungsveränderung und sind meist nur im historischen Kontext als solche zu erkennen: Wenn ein Kompositum um das Determinativelement weggekürzt wird, die Bedeutung des Kompositums aber beibehalten wird, hat sich die Bedeutung des (übriggebliebenen) Grundwortes entsprechend verändert. •

»Gülle« für ‘Stalljauche’ < »Mischtgülle« (SDS VII 230, KSDS 182) (Karte 44, S. 244) »Gülle« ist mittelhochdeutsch und regional noch heute die Bezeichnung für ‘Lache’, ‘Pfütze’, dann auch ‘schmutziges Wasser’. Dazu wurde schon früh (MAALER 1561, 291) das Kompositum mistgülle (neben mistlache) gebildet als Bezeichnung für die schmutzige Flüssigkeit, die aus dem Kuhmist fließt.

29

‘Sich gleitend auf Eis bewegen’ wird in vielen Deutschschweizer Regionen als »schliiffe« bezeichnet (s. SDS V 103 „schlittern (zum Vergnügen mit den Schuhen auf dem Eis gleiten)“). Vgl. GRZEGA (2004, 124).

30

50 •

Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

»Schüübe/Schöibe« für ‘Schürze’ < »Fürschüübe/-schöibe« (SDS V 142, KSDS 120) (Karte 12, S. 114) Im Mittelland zwischen Reuß und Emmental ist für ‘Schürze’ ein Ausdruck »Schüübe/Schöibe« ›Schiebe‹ verbreitet, lautlich ein feminines Abstraktum zum Verb ›schieben‹. Der sachliche Zusammenhang ist allerdings nicht leicht herzustellen; zu denken wäre an ‘Kleidungsstück, das vor die eigentlichen Kleider vorgeschoben wird’. Die Belege in Id. 12, 75–78 zeigen, dass in der älteren Sprache (16. und 17. Jahrhundert) die Varianten fürschiebe/fürschöube gebräuchlicher waren, analog zum noch heute geläufigen Ausdruck ›Fürtuch‹ (SDS V 142, KSDS 120, KÖNIG / RENN 2007, 198–199). Auch semantisch ist der Ausdruck ›Fürschiebe‹ ‘vorgeschobenes Stück Tuch’ plausibler als das Simplex. Es ist somit zu vermuten, dass »Schüübe/Schöibe« das Resultat einer Kürzung ist. 2.2.1.3 Wortschöpfung („Urschöpfung“): Onomatopoesie und Lautgebärde

Lexikalische Innovation kann darin bestehen, dass eine Ausdrucksform ohne lexikalische Grundlage oder Anknüpfung innerhalb des bestehenden Wortschatzes gebildet wird.31 In der Alltagssprache haben die meisten dieser Wortschöpfungen ikonischen Charakter: Es bestehen bestimmte Ähnlichkeiten zwischen der Lautgestalt des Wortes und seiner Bedeutung, die Ausdrucksform hat „Lautbedeutsamkeit“ (SEEBOLD 1981, 180). 32 Damit diese Wörter in den Wortschatz integriert werden können, müssen sie in die gegebenen Wortarten mit ihren morphologischen Eigenschaften eingefügt werden (außer es handle sich um elementare Formen der Interjektion wie platsch). Neben ihrer ikonischen Motiviertheit haben diese Wörter also auch regelmäßig Merkmale der Arbitrarität. Die Ikonizität ist im Wortstamm enthalten. In der Wortbildungstheorie wenig beachtet, ist das Phänomen in der Alltagssprache in gewissen Bereichen regelmäßig anzutreffen.33 Die ikonischen Beziehungen können auf unterschiedlichen Ebenen liegen.34 Im Dialektwortschatz des Schweizerdeutschen sind vor allem die folgenden Arten anzutreffen: a. Onomatopoesie – Lautnachahmung: Die Wortform hat eine akustische Ähnlichkeit zum bezeichneten Laut

31 32

33

34

SEEBOLD (1981, 180): „Urschöpfung“. In der Alltagssprache ist wohl keine andere Art von Herstellungsverfahren universalpragmatisch sinnvoll. Ganz anders in der heutigen Welt der Markennamen, in der die künstliche Herstellung von (aus markenrechtlichen Gründen möglichst) unmotivierten, zumindest lexikalisch isolierten Namen aus sachlichen Gründen eine dominante Rolle spielt. Bei GRZEGA (2004, 153) wird das Phänomen auf einer halben Seite abgehandelt; bei Autoren, die Bezeichnungswandel direkt mit Bedeutungswandel koppeln (wie etwa KOCH 2001), fällt das Phänomen naturgemäß im entsprechenden Beschreibungsraster durch die Maschen. S. dazu SEEBOLD (1981, 181–185), UNGERER (2002, 375–377).

Variation in der lexikalischen Innovation

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• »giire» ‘Knarren (von der Tür)’ (SDS V 136); »gi(i)gge«/»gi(i)xe» ‘kreischen’ (SDS IV 95); »Huuri« ‘Uhu’ (SDS VI 252) (nach dem Laut des Uhus); »Güügge« ‘Pfeife aus Löwenzahnstängel’ (SDS V 93), »Tägge« für die ‘Karfreitagsklapper’ (ein Instrument mit einem hölzernen Hämmerchen, das beim Schütteln auf ein Brett schlägt, als Ersatz für die Schelle an katholischen Gegenden an Karfreitag verwendet) (SDS V 67). b. Lautgebärde: Die Wortform hat artikulatorisch eine Ähnlichkeit mit einer körperlichen Bewegung in der bezeichneten Sache •

»Higger«, »Higgi« ‘Schluckauf’ (SDS IV 71, KSDS 82): der Hauchlaut /h/, gefolgt vom abrupten Verschlusslaut /gg/ ahmt das stoßartige, abrupt gestoppte Einatmen beim Schluckauf nach (allerdings respiratorisch in der umgekehrten Richtung); »Nuggi« ‘Schnuller’ (SDS V 5, 6): die Bewegung vom alveolaren /n/ zum velaren /gg/ ahmt die Saugbewegung mit dem Schnuller nach.

c. diagrammatische Ikonizität: Form-Inhaltsähnlichkeit mit abstrakterem Bezug, z. B. zur Rhythmik einer Bewegung •

»tüpfe« ‘(Ostereier leicht) zusammenstoßen’ (SDS V 65): die Lippenbewegung ahmt das Zusammenstoßen nach.



»gigampfe« ‘(auf der Balkenschaukel) schaukeln’ (SDS V 85): die Folge /giga/ bildet artikulatorisch das räumliche Hoch-Nieder beim Schaukeln ab; das Wort selbst ist eine Weiterentwicklung aus »gamp(f)e« ‘schaukeln’. 2.2.1.4 Assoziative Abwandlung („Deformation“)

Selten behandelt, aber in Dialekten recht häufig ist die Erscheinung, dass eine Wortform in einer unsystematischen Weise abgewandelt wird, die mehr als nur eine lautliche Veränderung darstellt, aber nicht als ein systematisches Wortbildungsmuster interpretiert werden kann. In der deutschen Dialektologie werden derartige Veränderungen auch als „Deformation“ bezeichnet. 35 Insofern als dadurch neue Wortformen entstehen, die verfestigt und lexikalisiert werden und den Zusammenhang mit der Ursprungsform verlieren, sind diese Abwandlungen im Endeffekt als lexikalische Innovation einzustufen und nicht einfach als lautliche Varianten. Ein Indiz für die Eigenständigkeit solcher Neubildungen ist auch, dass diese neuen Formen wiederum eigenständig weiterentwickelt werden können. Vom Austausch einzelner Laute bis zur Veränderung größerer Teilelemente eines Wortes gibt es eine große Bandbreite der Formen von assoziativen Abwand35

S. NEUBAUER (1958), SCHUMACHER (1968), RÖSSING (1958, 561–564), HÖING (1968, 353– 355), LÖTSCHER (2006). GRZEGA (2004, 233–234) diskutiert entsprechende Erscheinungen als morphologische (Re-)Motivierung; damit werden allerdings nicht alle der hier relevanten Erscheinungen erfasst. – Im Folgenden wird als allgemeine Bezeichnung der Ausdruck ‚assoziative Abwandlung‘ verwendet, um die negative Wertung, die in ‚Deformation‘ enthalten ist, zu vermeiden. Darunter wird auch die Volksetymologie genommen, die von Formen der Deformation in einem engeren Sinn oft kaum abzutrennen ist.

52

Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

lungen. Ein Extremfall ist die sog. „Volksetymologie“, der Vorgang, dass ein isoliertes Wort durch lautliche Abwandlung eine Form bekommt, die mit anderen Elementen des Wortschatzes in Zusammenhang gebracht werden kann, z. B. als Wortbildung (‚Remotivierung‘).36 a. Willkürliche Veränderung einzelner Laute •

»Manigfalt« > »Mängepfalt«; »Mängfalt« > »Ängfalt« ‘Blättermagen’ (SDS VIII 26)



»Pfnüsel« > »Pflüsel«, »Chnüsel«, »Flüsel« ‘Schnupfen’ (SDS IV 63) (»Pfnüsel« < mhd. pfnûsen ‘schnauben’).37 Dass »Pschnüsel« einen onomatopoetischen Bezug zum Geräusch des Niesens enthält, könnte darauf hindeuten, dass diese Bildung zusätzlich ikonisch motiviert ist.

b. Abwandlung als lexikalische Angleichung ohne semantische Motivierung Als isoliert empfundene Lexeme können in Teilen an ähnlich lautende Wörter angenähert werden, auch wenn diese Wörter keinen sachlichen oder semantischen Zusammenhang mit der Bedeutung des abgewandelten Wortes selbst haben. •

»Hornigel« ›Hornigel‹, »chuenigle/-negle/-nagle«, »Chuenagel« ›Kuhnagel‹, »schuenegle« ›schuhnageln‹ < »Uunigel«/»uunigle« ‘Nagelfrost’ (‘prickelnder Schmerz, der beim Aufwärmen von durch Kälte gefrorener Glieder, vor allem in den Fingern, gefühlt wird’) (SDS IV 59)38 Die ursprüngliche Ausgangsform der Varianten ist nicht völlig klar. Wenn man der außergewöhnlich ausführlichen Diskussion in Id. 1, 151–154 folgt, ist am ehesten an iglen ‘stechend schmerzen’ bzw. Agel ‘stechender Schmerz’ anzuknüpfen. Umstritten ist der Ursprung der vorangehenden Wortbestandteile. Ein Ansatz besteht darin, eine Ausgangsbildung mit der

36 37

Vgl. OLSCHANSKY (1996, 107). S. auch PANAGL (2005). Zu den (vermuteten) weiteren etymologischen Zusammenhängen mit germ. *fnus- s. WEIMANN (1955, 157). WEIMANN nimmt für Typen wie »Flüsel« und »Gflüsel« Kontamination mit Fluss/fließen an, was nicht unmöglich erscheint, da in der gleichen Region auch Bezeichnungen wie »Flussfieber« und »flessig« vorkommen. Für »Chnüsel« verweist Id. 3, 762 auf das im Bairischen belegte Wort knus(el)ig ‘unsauber, schmutzig’, was aber doch eher unbestimmte Zusammenhänge beinhaltet. Die räumliche Verteilung Nachbarschaft von »Chnüsel« und »Pfnüsel« legt nahe, dass »Chnüsel« eine assoziative Abwandlung aus »Pfnüsel« ist. Typischerweise bezeichnet WEIMANN (1955, 162) die etymologische Anknüpfung als „unklar“. Die Etymologie als Erklärungsverfahren kennt als Erklärungsmöglichkeiten für Formentwicklungen nur lautlich und morphologisch reguläre Entwicklungsmuster. Dies ist methodisch begründet, da der Rückgriff auf assoziative Abwandlung bei Herleitungen der Willkür Tür und Tor öffnen kann. Umso wichtiger und hilfreicher erscheint in solchen Fällen das sprachgeografische Umfeld von onomasiologischen Varianten. Der Ausdruck Nagelfrost ist ein Helvetismus, zu dem es anscheinend keine standarddeutsche Entsprechung gibt. Eine stichprobenartige Befragung von Sprecherinnen und Sprechern des Deutschen aus verschiedenen Gegenden der Bundesrepublik ergab, dass offenbar in der deutschen Standard- und Umgangssprache für das Phänomen keine gängige vergleichbare Bezeichnung existiert. Als Bezeichnungen wurden jeweils weniger spezifische Ausdrücke wie prickeln u. ä. vorgeschlagen. In anderen regionalen Sprachatlanten wird in Kartenüberschriften ebenfalls auf regionale Varianten zurückgegriffen.

38

Variation in der lexikalischen Innovation

53

Vorsilbe »uu-« (un-) anzunehmen, die am ehesten als Verstärkung des negativ konnotierten Wortes Agel zu interpretieren ist. 39 Dieser Ansatz wird meist abgelehnt;40 es gibt jedoch einige Argumente dafür; die üblicherweise konservativsten Dialekte (BE Oberland, WS, GR) zeigen eine Wortstruktur, die diesem Ansatz am nächsten ist. Dass assoziative Abwandlung die Ursache der Varianten ist, ist kaum zu bestreiten; eine unabhängige lokale Bildung solcher Formen ist höchst unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich ist vor allem, dass aus einer lexikalisch zwar transparenten, semantisch aber unmotivierten Form eine weniger transparente Form entsteht. In der Regel tendiert assoziative Abwandlung dazu, intransparente in transparentere Formen umzuwandeln. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich die Entwicklung so interpretieren, dass die Wortstruktur gewöhnlich uminterpretiert zu Uu-nigle wurde. Dabei wurde vielerorts der zweite Bestandteil mit »Nagel«/»nagle« ›nageln‹ identifziert. Die Vorsilbe wurde zudem an vielen Orten durch bedeutungshaltige Lexeme wie »Horn-« ›Horn-‹ und »Chue« ›Kuh-‹ oder »Schue-« ersetzt. Der Ersatz erfolgt aber lediglich aufgrund lautlicher Ähnlichkeit, der semantische Gehalt steht in keinerlei Beziehung zur Bedeutung des ganzen Wortes. •

»Waldgäischt« < »Waldhäischt« < »Waldhängscht« ‘Waldameise’ (SDS VI 232). Die Ursprungsform lautet »Waldhängscht« ›Waldhengst‹. Nach dem „Staubschen Gesetz“ wurde »Hängscht« durch Nasalschwund mit Diphthongierung lautgesetzlich zu »Häischt«.41 Das nicht mehr verständliche Element »Häischt« wurde durch »Gäischt« ›Geist‹ ersetzt, ein Ersatz, der nur durch lautliche Assoziation, nicht inhaltlich begründbar ist.

c. Abwandlung als semantisch gestützte lexikalische Angleichung Dem Begriff der Volksetymologie am nächsten kommt die assoziative Abwandlung, bei der ein Element eingefügt wird, das semantisch einen potenziellen Beitrag zur Gesamtbedeutung des Wortes beitragen kann bzw. ein Inhaltselement der Sache aufnimmt. •

»Chanebett« ‘Sofa (mit fester Rückenlehne)’ (SDS VII 181, KSDS 128) < »Kanebee« (< franz. canapé). Die Endsilbe »-bee« wird durch »-bett« ersetzt, was semantisch aufgrund der Ähnlichkeit des Sofas mit einem Bett motiviert erscheint.



»Zwifolter(e)«, »Flüüg-/Fliggholtere« < »Fifalter« (ahd. fifaltra) ‘Schmetterling’ (SDS VI 237/238), KSDS 170). Die Ausgangsform entspricht der althochdeutschen Bezeichnung fîfaltra. Schon für das Althochdeutsche sind Ne-

39

S. LÖTSCHER (2006, 145), Id. 1, 298; 1, 151. Die Vorsilbe »uu-« wird auch in der Gegenwartssprache idiomatisch zur Verstärkung verwendet: »uuschöön« ‘sehr schön’, »uuhuere« ‘sehr, außerordentlich’ als Verstärkung von »huere« ‘außerordentlich’. S. „Wortgeschichten“ (historische Worterläuterungen von Redaktoren des Schweizerdeutschen Wörterbuchs) in: < http://wortgeschichten.tumblr.com/ >; Stand: 16.4.2014) „Staubsches Gesetz“: Schwund von Nasalkonsonant vor Frikativ, mit Dehnung oder Diphthongierung des vorangehenden Vokals: /fünf/ > /füüf/ oder /föif/. Zum Staubschen Gesetz vgl. SDS II 124–136, KSDS 259.

40 41

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

benformen wie zwifaltra belegt. Zweifellos ist schon diese letztere Form eine assoziative Abwandlung mit Anklang an zwi ›zwei‹, was als Bezug auf die zwei Flügel motivierbar ist. In einzelnen Gegenden wird im Anschluss an eine morphologische Umdeutung zu »Pfifholtere« die erste Silbe durch einzeldialektale Varianten von ›flieg-‹ ersetzt: »Flüüg-/Fliggholtere«. Die Assoziation zu ›fliegen‹ ist inhaltlich nicht unmotiviert. In beiden Fällen bleibt das zweite Element »-foltere« bzw. »-holtere« semantisch inhaltsleer. Zuweilen lässt sich der Ausgangspunkt zu offensichtlich assoziativen Variantenbildungen nicht klar identifizieren: •

„Mumps“ (SDS IV 55, KSDS 84) Eine Gruppe von Bezeichnungen für den Mumps, die Viruserkrankung der Speicheldrüsen, umfasst Zusammensetzungen mit »Oore-« ›Ohren‹. Ein verbreitetes Muster umfasst Varianten wie »Ooremüggeli/-müggelere« u. ä. (BE). Dazu existieren Varianten wie »Ooreniggeli/niggel(er)«, »Oorenüggeler«, »Oorenigel«, »Oorechnüttel« anzutreffen. Die Verbreitung der Formen lässt darauf schließen, dass allen diesen Formen eine gemeinsame Ursprungsform zugrunde liegt. Diese ist jedoch nicht eindeutig bestimmbar. Grundformen wie »*Müggel« oder »*Niggel« sind im Zusammenhang mit „Mumps“ entweder nicht belegt oder in diesem Zusammenhang nicht motiviert.42 Sowohl »Ooremüggel(i)/(er)« wie »Ooreniggel(i)« sind schon relativ früh, nämlich seit dem 16. Jahrhundert schriftlich belegt (s. Id. 4, 127; 4, 705). Denkbar ist, dass schon diese Formen das Resultat von assoziativen Abwandlungen einer allerdings nicht klar identifizierbaren Urspungsform sind.

d. Austausch innerhalb einer lexikalischen Klasse ohne semantische Motivierung •

„Gerstenkorn am Lid“– »Margriitli«, »Griitli«, »Greetli« (< ›Mar-)grit‹) < »U(u)rseli/Ü(ü)rseli« < »U(ur)scheli/Ü(ü)rscheli« (SDS IV 53) Die Entlehnung »Uurscheli« als Bezeichnung des Gerstenkorns am Lid wird zunächst als weiblicher Eigenname »Uurseli« (Diminutiv von ›Ursula‹) umgedeutet und dann durch dialektale (z. T.) gekürzte Diminutivvarianten zu »Margriit« ersetzt. Die Assoziation zum Namen ›Ursula‹ führt in einer zwar vom Worttyp, aber in keiner Weise von der Bedeutung her bestimmten Weise zum Ersatz durch andere weibliche Vornamen.

e. Hybridbildung Eine besondere Art von assoziativen Abwandlungen sind Hybridbildungen, bei denen nicht ein einzelner Ausdruck zusammen mit einer lautlichen oder inhaltlichen Assoziation Ausgangspunkt eines neuen Ausdrucks ist, sondern zwei ver-

42

Immerhin gibt Id. für Wortformen wie »Näggel« (Id. 4, 702), »Niggel« (Id. 4, 705) und »Noggel« (Id. 4, 709) u. a. Bedeutungen wie ‘kleiner, deformierter, runder Gegenstand’ an.

Variation in der lexikalischen Innovation

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schiedene Ausdrücke mitwirken, aus denen jeweils ein Teil für den neuen Ausdruck übernommen wird.43 •

»Sägel« ‘Sitzstange (für Hühner im Hühnerverschlag)’ (AG 33, 39 in der Legende); Überblendung der etymologisch besser begründeten Formen »Sädel« und »Seigel« (SDS VIII 101)



»Glumpe« ‘Pfütze’ < »Gumpe« x »Glunnge« (SDS VI 40, KSDS 184). Das »Glumpe«-Gebiet in LU liegt zwischen Regionen, in denen als Bezeichnungen für ‘Pfütze’ »Gumpe« und »Glungge« gelten. Die regionale Verteilung lässt vermuten, dass das »Glumpe«-Gebiet ursprünglich Teil eines größeren »Gumpe«-Gebiets war und die Veränderung des Anlauts zu »Gl-« durch das benachbarte »Glungge« beeinflusst war.

Die Entstehung von Hybridbildungen bietet ein besonderes Erklärungsproblem. Hybridbildungen können nicht als reine lokale Innovationen wie assoziative Abwandlungen beschrieben werden. Sie setzen eine Beeinflussung durch andere Lexeme in der Nachbarschaft voraus. Es findet sozusagen eine Art Diffusion von lexikalischen Teileigenschaften statt, die zur Veränderung eines gegebenen Lexems führt. Verwandt ist dieser Prozess mit der Diffusion im engeren Sinn, als eine solche Übernahme nur aufgrund von Kenntnissen der Sprachform in der Nachbarschaft möglich ist.44 Formendifferenzierung durch assoziative Abwandlung wirft im konkreten Fall die Frage auf, wie weit zwei verschiedene Formen synchron als bloß akzidenzielle lautliche Varianten ein und desselben Lexems oder als zwei verschiedene Lexeme eingestuft werden sollen.45 Lautliche Nähe wie bei »Pflüsel«, »Flüsel«, »Gflüsel« kann derartige Formenunterschiede als bloße lautliche Variation erscheinen lassen. Lautgeschichte und Abwandlungen können über die Zeit aber auch Formen entstehen lassen, die synchron nicht mehr als Varianten eines und desselben Grundmusters erkennbar sind. Das ist etwa der Fall, wenn nebeneinander »Wuläischt« und »Waldhäntsche« als Umwandlungsergebnisse von »Waldhängscht« existieren (SDS VI 232). Im Id. werden derartige Varianten unterschiedlich behandelt. In Id. 2, 375 werden »göisse« und »göichse« als Nebenformen zum Eintrag günsen (‘schrill schreien’) angeführt. Die beiden Formen wichsen (Id. 15, 356) und winsen (Id. 16, 698) werden dagegen getrennt lemmatisiert, obwohl die Variation entwicklungsmäßig nach dem gleichen Muster zu beschreiben ist wie jene von »göisse und »göichse« (vgl. auch SDS VIII 132). In Id. 15, 332 wird »Wäschge« als Nebenform zu »Wächse« ‘Wespe’, genommen, dagegen erhält »Wäspi« (Id. 16, 2155) einen eigenen Ansatz. Unzweifelhaft gehen alle diese Formen auf das Althochdeutsche zurück, wo allerdings bereits die Varianten wefsa und wespa nebeneinander bezeugt sind. 43

44 45

Nicht unter Hybridbildungen in unserem Zusammenhang fallen Blends/Wortkreuzungen, die auf mehr oder weniger systematische, semantisch sinnvolle und planmäßige Kombinationen von Wortbestandteilen zurückgehen, wie sozio-kulturell, E-Mail. Zum Begriff der Diffusion s. Abschnitt 3.1.3; s. auch Abschnitt 5.4.2. S. auch die Diskussion in ARZBERGER (2005).

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

Eine eindeutige Entscheidung, ob es sich bei zwei Heteronymen um zwei verschiedene Lexeme oder lautliche Varianten handelt, ist mangels unabhängiger Entscheidungskriteren nicht immer möglich oder willkürlich, zumal in den meisten Fällen diese Heteronyme regional getrennt existieren und also nicht als zusammengehörige Varianten innerhalb eines Wortschatzes gelten können. Es gibt aber genügend Fälle, in denen die Ergebnisse von assoziativer Abwandlung soweit entfernt sind von einer Ausgangsform oder von anderen Resultaten aus der gleichen Ursprungsform, dass synchron von neuen Wörtern gesprochen werden kann und assoziative Abwandlung als eine Form der lexikalischen Innovation gelten kann. 2.2.1.5 Entlehnung Lexikalische Innovation kann darin bestehen, dass eine Wortform, meist zusammen mit ihrer Bedeutung, aus einer anderen Sprache übernommen wird. Mit der Übernahme wird normalerweise die fremdsprachige Wortform in der Phonologie und/oder Graphematik an das Sprachsystem der Empfängersprache angepasst, beispielsweise bei Computer oder Büro. Seit BETZ (1949) werden neben der direkten Übernahme ganzer Wörter weitere Verfahren dazu gerechnet, so vor allem Neubildungen mit Mitteln der eigenen Sprache nach dem Muster der Fremdsprache („Lehnprägung“, z. B. Wolkenkratzer nach engl. sky scraper) oder die Einführung einer neuen Bedeutung eines bestehenden Wortes nach dem Muster einer anderen Sprache („Lehnbedeutung“, z. B. Fall ‘grammatisch regierte nominale Form’ nach lat. casus). Aus einer innersprachlichen onomasiologischen Sicht erscheinen diese letzteren Innovationen mit Mitteln des eigenen Sprachmaterials als gewöhnliche Innovationen über semantische Umfunktionierung oder über Wortbildung. Entlehnung von Wörtern, die formal nicht durch Bezüge zum restlichen Wortschatz gestützt erscheinen, stehen ihrerseits in gewisser Weise auf der gleichen Stufe wie „Urschöpfungen“. Der Unterschied besteht darin, dass derartige inhaltlich unmotivierte Entlehnungen im Allgemeinen nicht ikonisch motiviert sind. Entlehnung impliziert Variabilität insofern, als auch meist eine Auswahl zwischen verschiedenen möglichen andersprachigen Ausdrücken besteht. Die Art und Weise einer Entlehnung ist von spezifischen kulturellen und historischen Bedingungen abhängig. Entlehnungsvorgänge können über horizontale oder vertikale Einflüsse erfolgen, horizontal aus benachbarten Sprachen auf der gleichen Diskursebene, vertikal aus einer Sprache, einer Sprachschicht oder einem Diskurs, der funktional der persönlichen Alltagssprache überlagert ist und aufgrund der medialen Verhältnisse überregional gilt. Vertikale Entlehnung resultiert im Allgemeinen nicht in arealer Diversität. Für areale Diversität ist hauptsächlich horizontale Beeinflussung von Bedeutung. In der Regel geschieht diese in Regionen, die an fremdsprachige Regionen angrenzen, im direkten Sprachkontakt. Indirekt können Entlehnungen auch im Zuge von Mobilität eindringen. Durch Handel und Reisläuferei haben Sprecher des Schweizerdeutschen beispielsweise in der frühen

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Neuzeit nicht selten fremdsprachige Ausdrücke aus dem Ausland mitgebracht, die dann in den lokalen Sprachgebrauch übernommen worden sind. Im Zuge der Einwanderung der Alemannen im Frühmittelalter erfolgten auch umgekehrt Entlehnungen aus der Sprache der ansässigen keltoromanischen Bevölkerung in die Sprache der Neuzuzüger. Je nach Sprachepoche und Sprachgegend zeigt das Schweizerdeutsche unterschiedliche Typen und Schichten von Entlehnung. Diese Unterschiede sind auch für die Beschreibung des Wortschatzwandels im Einzelnen relevant:46 a. Frühmittelalterliche Entlehnungen („Reliktformen“) im Südalemannischen durch Sprachkontakt mit der galloromanischen Bevölkerung, oft von Ausdrücken vorromanischer Herkunft •

»Tröie«/»Treije« ‘Viehweglein, vom Vieh parallel zum Hang eingetretenen Trittwege in steilen Weidewiesen’ (SDS VI 73) < vorromanisch. *troju47



»Gumpe«, »Gunte« ‘Pfütze’ (SDS VI 40, KSDS 188) < keltoromanisch bzw. vorromanisch *cumba (> »Gumpe«), bzw. *cumbeta (> »Gunte«) ‘Bodenvertiefung’, ‘Tümpel’



»Glutte« > romanisch bzw. vorromanisch clot ‘Pfütze’48 (SDS VI 40, KSDS 188)

b. Entlehnungen aus dem Frankoprovenzalischen in westschweizerdeutschen Dialekten •

»Tääl(l)e« ‘Föhre’ (SDS VI 128) < frankoprov. daille



»U(u)rscheli«, »U(u)rseli« u. ä. ‘Gerstenkorn am Lid’ (SDS IV 53) < frankoprov. orgelet bzw. dialektal oržwé ‘Gerstenkorn am Lid’ (< ‘Gerste’)

c. Entlehnungen aus der französischen Hochsprache in westschweizerdeutschen Dialekten •

»Goggelüsche« ‘Keuchhusten’ (SDS IV 116) < franz. coqueluche »Rüü(m)me« ‘Schnupfen’ (SDS IV 63) < franz. rhume



»Ore(l)jiee« ‘kleines Kopfkissen’ (SDS VII 186, KSDS 206) < franz. oreiller ‘kleines Kopfkissen’



»Poort« ‘Tür’ (SDS VII 166) sehr wahrscheinlich < franz. porte (nur im Wallis, Übernahme aus dem Italienischen ist ebenfalls möglich)

d.

Entlehnungen aus dem Italienischen bzw. lombardischen Dialekten



»Tretsche/Trütsche« für ‘Zöpfe’ (SDS IV 7, KSDS 80) < ital. treccia ‘Zopf’

46

Zu den Romanismen allgemein s. HOTZENKÖCHERLE (1961, 223–226 mit weiteren Literaturangaben), JUD (1946), speziell aus dem Französischen STEINER (1921). Das Wort ist auch östlich der Schweiz (Vorarlberg, Tirol) verbreitet. S. VALTS Kommentarband IV, 329; DWB XI 12, 2, 323 s. v. Treue; Id. 14, 714. JUD (1946, 57).

47 48

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte



»Gruschte« ‘Brotrinde’, ‘Käserinde’ (SDS V 173/174, KSDS 98) < lombard. crusta49



»Fäsche« ‘Reisigbündel’ (SDS VIII 155, KSDS 210) < ital. fascia ‘Reisigbündel’

e. Entlehnungen in Bündner Dialekten aus dem Rätoromanischen: •

»Bränte« ‘Nebel’ (SDS VI 43) < rätorom. brenta50



»Schgarnutz« ‘Papiersack’ (SDS V 211, KSDS 116) < rätorom. scarnuz /s-charnuz ‘Papiersack’

f.

Lokal beschränkte vertikale Entlehnung aus dem Standarddeutschen Im Rahmen der diglossischen Verhältnissen des Schweizerdeutschen, in denen die Dialekte gegenüber der standardsprachlichen Dachsprache relativ eigenständige Systeme sind, sind auch Übernahmen aus dem Standarddeutschen als Entlehnungen zu qualifizieren, soweit es sich um innerhalb der Dialekte isolierte Wörter handelt. Wenn etwa das Wort Schmetterling übernommen wird, wird dabei eine Ausdrucksform übernommen, die im Schweizerdeutschen erstens keine historische Kontinuität und zweitens auch keinen lexikalischen oder morphologischen Anknüpfungspunkt besitzt. Das Eindringen des Wortes hat also die gleichen Wirkungen auf den Wortschatz wie etwa »Kompjuuter« < Computer. Entlehnungen aus dem Standarddeutschen erfolgen aber überwiegend über vertikale Wortübernahme.51 2.2.2 Inhaltsbezüge – Motiviertheit

Außer bei Entlehnung fremder Wortformen und bei assoziativer Abwandlung sind Sprachbenutzerinnen und -benutzer bei lexikalischen Innovationen in der Regel bestrebt, bedeutungshaltige Ausdrücke zu kreiieren, d. h. Ausdrücke zu schaffen, die in der Form erkennen lassen, was inhaltlich gemeint ist. Der Umstand, dass die Ausdrucksseite eines Wortes Schlussfolgerungen auf die Inhaltsseite möglich macht, wird hier als ‚Motiviertheit‘ bezeichnet.52 Aufgrund von Konversations49

50 51

52

Dass die Entlehnung aus den lombardischen Mundarten südlich der Alpen übernommen worden ist, zeigt die Lautform mit anlautend /g-/. Das im Deutschen sonst verbreitete Lehnwort Kruste aus lat. crusta hat im Schweizerdeutschen lautgesetzlich die Form »Chruschte«, ist aber in dieser Form und mit der Bedeutung ‘Kruste, Rinde’ nur verstreut als moderne Lehnübernahme aus dem Standarddeutschen belegt. JUD (1946, 85). Von der vertikalen Entlehnung aus dem Standarddeutschen ist die Übernahme standarddeutscher Ausdrücke aus den benachbarten Regionen Deutschlands durch horizontale Diffusion zu unterscheiden. Standarddeutsche Ausdrücke werden dabei sekundär übernommen infolge des Umstands, dass in der deutschen Nachbarschaft die standarddeutschen Formen sich bereits durchgesetzt haben. Zu Motivation bzw. Motiviertheit allgemein s. ULLMANN (1963, 86–88), ALINEI (1997), KOCH (2001, 1156–1168), UNGERER (2002). ‚Motiviertheit‘ wird hier dem Ausdruck ‚Motivation‘ vorgezogen, um die Zweideutigkeit mit dessen Bedeutung ‚Handlungsgrund‘ (s. dazu

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maximen, vor allem der Relevanzmaxime werden derartige mögliche Bezüge bei der Einführung von Innovationen auch als Inhaltselemente interpretiert: Die Wahl einer bestimmten Ausdrucksform muss durch relevante Bezüge zur Sache bedingt sein. In der Usualisierung werden solche Bezüge semantisch verfestigt. Auch in Bezug auf die Motiviertheit bzw. Motivierbarkeit von lexikalischen Innovationen besteht eine reiche Palette von unterschiedlichen Möglichkeiten; dies schafft wiederum Spielräume der Variation. 2.2.2.1 Motiviertheit als Form-Inhaltsbezug Bei lexikalischer Innovation über lexikalische Umfunktionierung, Wortbildung und Wortschöpfung sind aufgrund der pragmatischen Entstehungsbedingungen aus der Form der Bildung in der Regel gewisse Inhaltselemente erschließbar: Die Wortform lässt Schlussfolgerungen (Implikaturen) über den Inhalt zu. Bei Wortschöpfung beruhen diese auf ikonischen Beziehungen zwischen Form und Inhalt: Die Lautform hat Ähnlichkeiten mit dem bezeichneten Konzept. Bei Innovationen mittels semantischer Umfunktionierung und Wortbildung beruhen diese Interpretationsmöglichkeiten auf lexikalischen Beziehungen zwischen dem Quelllexem und der Innovation: – – –

ikonische Motiviertheit: die Eigenschaft eines Wortes, dass aus seiner Lautstruktur aufgrund lautlicher Ähnlichkeiten auf bestimmte Inhalte geschlossen werden kann deskriptive Motiviertheit: die Eigenschaft eines Wortes, dass aus seiner lexikalischen Struktur aufgrund lexikalischer Beziehungen zu anderen Wörtern auf bestimmte Inhalte geschlossen werden kann53 Benennungsmotiv: Inhaltselement, das aus der Wortform eines Wortes erschlossen werden kann

Das Gegenstück zu lexikalischer Motiviertheit ist Isoliertheit. Das Gegenstück zu ikonischer Motiviertheit ist Arbitrarität (UNGERER 2002). Ikonische und deskriptive Motiviertheit liegen auf verschiedenen Ebenen: Ikonische Motiviertheit ist eine Beziehung zwischen dem Inhalt und der Ausdrucksform eines Lexems. Deskriptive Motiviertheit ist eine Beziehung eines Le-

53

Abschnitt 2.1.4, S. 44) zu vermeiden. Im Folgenden wird unter Motiviertheit in einem engen Sinn ‘Erschließbarkeit semantischer Gehalte aus der Form’ verstanden. In UNGERER (2002, 397) wird dagegen Motivation „als Summe aller Phänomene verstanden, durch die die Existenz eines Wortes linguistisch begründet werden kann“. ‚Deskriptive Motiviertheit‘ in dem Sinne, dass daraus eine Sachbeschreibung des Konzepts bzw. des Denotats abgeleitet werden kann. – Es gibt auch in der Wortbildung durchaus ikonische Elemente der Motiviertheit. So bilden Ableitungen in ihrer Form oft figure-groundVerhältnisse ab, indem das Basiswort den Hintergrund für einen Sachkomplex gibt, die Ableitung den fokussierten Vordergrund. In movierten Feminina (wie Bäckerin) spiegelt sich beispielsweise die Verteilung von prototypischen Vertretern und außerordentlichen Vertreterinnen einer Personengruppe. S. auch KOCH (2004), KOCH (2005, 13–17).

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xems zu einem anderen Lexem. Motiviertheit gilt für die Bildung eines Wortes zum Zeitpunkt der Innovation und bezieht sich auch auf die denotativen Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt.54 Die Benennung des Oberteils des männlichen Anzugs (Jackett) als »Chutte« ›Kutte‹ (SDS V 123) ist aus der Verwendung dieses Wortes als Bezeichnung des langärmligen hemdartigen Oberteiles der Bauernbekleidung übernommen, nicht aus der ursprünglichen Bedeutung ‘Mönchsgewand’. Motiviertheit ist zu unterscheiden von etymologischer Rekonstruierbarkeit. Die Motiviertheit ist für spätere Zeiten nicht gewährleistet, wenn etwa die Basis der Bildung durch Sprachwandel verloren geht oder unkenntlich wird und damit die lexikalischen Beziehungen oder die ikonischen Eigenschaften nicht mehr bestehen, welche ursprünglich Grundlage der entsprechenden Implikaturen waren. Motiviertheit ist nicht Zweck einer lexikalischen Innovation, sondern Folge davon, dass bestimmte kommunikative Strategien zur Bildung eines neuen Ausdrucks angewendet werden. Die Inhaltselemente, die aus der Form eines Wortes erschlossen werden können, also die Benennungsmotive, sind nicht mit der Bedeutung der Innovation zu identifizieren. Diese (komplexe) Bedeutung ist definitionsgemäß schon dadurch vorgegeben, dass ein bestimmtes Konzept benannt werden soll.55 Das Benennungsmotiv mag im Ausgangswort die Kernbedeutung ausmachen, in der neugebildeten Bezeichnung ist es aber in der Regel nur ein Teilelement. Diese Teilelemente können in verschiedenen Beziehungen zur Gesamtbedeutung stehen. Die wichtigsten sind metonymische und taxonomische Beziehungen sowie Charakterisierungen über definitorische Verfahren. 2.2.2.2 Motiviertheit als Metonymie Wenn der Quetschfleck auf der Haut als »Blööiele«, also mit einer Ableitung zu »blaau« ›blau‹ bezeichnet wird (SDS IV 45), dann heißt das, dass bei der Bildung dieses Wortes von den vielen Merkmalen dieser körperlichen Erscheinung wie Entstehung durch starke Krafteinwirkung auf die Haut durch Schlag oder Quetschen, Bluterguss und Schwellung, Schmerzhaftigkeit, vorübergehende Verfärbung usw. die Farbe als einzelnes Identifikationsmittel in den Fokus genommen und thematisiert wird. Mit einem Benennungsmotiv wird ein bestimmter Aspekt 54 55

Vgl. ALINEI (1996, 15–17). Dies ist auch Ausgangspunkt der ‚Wörter-und-Sachen‘-Schule, vgl. HELLER 1998. Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich in der Perspektive von derjenigen, wie sie in der „kognitiven diachronen Onomasiologie“ bei BLANK (2003) und KOCH (2001) entwickelt wird. Dort steht tendenziell in einer etymologisch inspirierten Perspektive im Vordergrund, dass eine onomasiologische Innovation dadurch zustande kommt, dass von einer gegebenen Bezeichnung eines bestimmten Konzepts (des Quellkonzepts) mittels Bedeutungsentwicklung oder Wortbildung eine neue Bezeichnung eines neuen Konzepts entwickelt wird. Für KOCH (2001, 25–26) beispielsweise lautet die Frage: Auf welches Quellkonzept greift der Sprecher zurück, um ein Zielkonzept zu bezeichnen? S. auch BLANK (2003, 45–59). Hier wird die umgekehrte Perspektive zugrunde gelegt, dass das Zielkonzept gegeben ist und in einem aktiven Innovationsakt eine Benennung gesucht wird, die nicht vom Quellkonzept vorgegeben ist. (Zu ‚nicht-intentionalen‘ Innovationen s. Abschnitt 2.1.5).

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einer Sache oder eines Konzepts ausgewählt und thematisiert. Eine Benennung über die Thematisierung einer einzelnen Eigenschaft muss die meisten anderen, möglicherweise ebenso relevanten Eigenschaften dieser Sache ausklammern. Eine Benennung eines Konzepts über ein einzelnes deskriptives Merkmal stellt also eine Form der Metonymie dar.56 Auch metaphorische Neubildungen gehören zu den Verfahren einer metonymischen Charakterisierung. Die Motiviertheit einer derartigen Bezeichnung besteht nicht in der Metapher an sich, sondern im tertium comparationis, in dem sich die Beziehung substantiiert. Die Metapher enthält kein selbständiges Bedeutungsmotiv, sondern dient dazu, dieses in anschaulicher Form zu komprimieren. Manche Bezeichnungen der Buschbohne sind Ableitungen zu Verben mit der Bedeutung ‘kauern’, so »Gruuper«, »Gruupli« (»gruupe« ‘kauern’) (SDS VI 197). Diese Bezeichnungen sind metaphorische Charakterisierungen über das Konzept KAUERN, die besondere niedrige Körperposition des Menschen. Mit dieser Metapher wird als einzelnes, konkretes Merkmal das niedrige Wachstum und die Nähe zum Boden als Benennungsmotiv thematisiert. Es handelt sich um ein metonymisches Verfahren über den Zwischenweg eines metaphorischen Vergleichs. Ähnlich liegt bei der Bezeichnung der Schneidbank zur Bearbeitung von Holz als »Esel« (SDS VIII 158) das Benennungsmotiv nicht in einem Bezug zum Tier, sondern in der Charakterisierung über die äußere Form, im tertium comparationis ‟vierbeinig mit länglichem Körper”. Metaphern dienen dazu, abstrakte Charakterisierungen auf anschauliche Art zu verbildlichen. Dass expressive Konnotationen eine zusätzliche Rolle spielen, ist dabei mitgegeben. Wertende Konnotationen haben sicherlich bei der metaphorischen Umfunktionierung von Kopf aus der Bedeutung ‘Trinkschale’ für KOPF eine Rolle gespielt. Die metonymische Charakterisierung einer Sache in einer lexikalischen Innovation impliziert vom Wesen des Verfahrens her Variationsmöglichkeiten in der Auswahl eines Benennungsmotivs. Aus einer abstrakten kommunikationstheoretischen Sicht sollte die Wahl eines geeigneten Identifikationsmerkmals durch allgemeine Kommunikationsprinzipien bestimmt sein: Die Benennung sollte das gemeinte Konzept eindeutig und gleichzeitig möglichst unmittelbar einleuchtend bezeichnen. Dazu müsste sie die kognitiven Bedingungen der Wahrnehmung einer Sache berücksichtigen. Am besten entscheide ich mich danach für eine Eigenschaft, die intersubjektiv und kognitiv am Konzept als besonders auffällig und/oder wichtig erscheint. 57 Auch derartige grundlegende Auswahlprinzipien führen aber nicht zu eindeutigen Entscheidungen. Es gibt bei jeder Sache jeweils unterschiedliche Aspekte, die als Fundus von Benennungsmotiven dienen können und sich thematisieren lassen. Damit ist gegeben, dass bei der Benennung einer 56 57

Vgl. auch ALINEI (1997). Die Fragestellung berührt sich mit der Frage nach den „Universalien des Bezeichnungswandels“ (KOCH 2001, 25–31, mit weiteren Verweisen). Auch die Diskussion von derartigen Universalien konzentriert sich in der Praxis auf typische Einzelfälle von polygenetischer Bezeichnungsähnlichkeit, zu denen Detailinformationen vorliegen, namentlich (bei KOCH 2001 und BLANK (2003) mit weiteren Verweisen) auf die Bezeichnung der Pupille des Auges, von Bäumen und von Körperteilen.

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Sache oder Konzepts im Allgemeinen mehrere unterschiedliche Benennungsmotive möglich sind. Auch bei Merkmalen, die als ‚inhärente‘ Eigenschaft einer Sache gelten können, gibt es in der Regel mehrere, die als ähnlich auffällig wahrgenommen werden können. Der Blitz ist primär optisch ein auffälliges Ereignis. Bezeichnungen für den Blitz beziehen sich deshalb häufig auf den hellen Schein. Das ist schon beim ältesten Ausdruck mhd. blicken ‘glänzen, scheinen’ der Fall, der sich über die Intensivableitung mhd. blick(e)zen und blitzgen, schwzdt. »blitzge«, zu blitzen, schwzdt. »blitze« entwickelte (s. SDS VI 38, KSDS 190). Daneben thematisieren aber andere Ausdrücke die schnelle Bewegung, so »wätterleiche/-leine/-leie« zu mhd. leichen ‘hüpfen, aufspringen’, daneben auch »schiesse« ›schiessen‹ mit der Konnotation ‘schnelle Bewegung’.58 Zur Variabilität der Auswahlmöglichkeiten trägt bei, dass es bei der Wahl oft nicht um die sachliche Relevanz einer Eigenschaft geht. Als Bezeichnungskriterium ist in vielen Fällen die unmittelbare Anschaulichkeit einer Charakterisierung wichtiger als der Bezug auf eine wesentliche inhärente Eigenschaft. Das zeigt sich bei Tierbezeichnungen. Tiere werden vielfach über ein auffälliges körperliches Merkmal oder auffälliges Verhalten wie den charakteristischen Laut bezeichnet. Eine auffällige, aber wenig bedeutsame Eigenschaft wird bei der Bezeichnung des Hahns als »Gugel« hervorgehoben, falls zutrifft, dass diese Bezeichnung mit dem Wort Gugel ‘Kapuze’ in Zusammenhang zu bringen ist. Ebenfalls beim Hahn ist der charakteristische Laut bei der Bezeichnung als »Güggel« der Ausgangspunkt (Ruf des Hahns: */güügge/, »Güggeriggüü«). Auffälliges Verhalten ist der Anhaltspunkt bei »Höigümper«, »Höijucker« (zu »gumpe« und »jucke« ‘hüpfen, springen’) ‘Heuschrecke’; vor allem sexuelles Verhalten wird thematisiert bei »Hagi« (zu «hegle« ‘stechen’) für den Stier, bei »Rammler« (zu »rammle« ‘stoßen’, ‘bespringen’) für das Kaninchen und »Rolli«, »Rööl« u. ä. (zu »rolle«, ahd. *rollōn ‘sich lärmend, ungestüm herumbewegen’) für den Kater. Nicht nur Eigenschaften der Sache selbst, sondern auch die Rolle einer Sache in umfassenderen Handlungskontexten können als Benennungsmotiv dienen. Ausgangspunkt ist der Umgang der Menschen mit einer Sache. Als Basis zur Benennung von Konzepten können damit auch Aspekte einbezogen werden, die zu weiteren Ereignis- oder Handlungskontexten (‚frames‘ im Sinn von übergreifenden typischen Handlungsmustern) gehören, mit denen diese Sachen prototypisch verbunden sind.59 Handlungen als komplexe Konzepte bieten hier zahlreiche Variationsmöglichkeiten. Benennungsmotiv kann etwa die Funktion eines Gegenstands bei der Durchführung einer Handlung sein. Dies ist ein häufiger Bezug bei Werkzeugen. Der Zweck des Brotschiebers ist, das Brot im traditionellen, direkt mit Glut beheizten heißen Backofen einzuschieben; diese Handlung wird »ii58

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Bei »Wätter-« ›Wetter-‹ muss in diesem Zusammenhang wohl von der Bedeutung ‘Gewitter’ ausgegangen werden, womit hier doch ein wesentliches Element des Phänomens als solches benannt wird. – Der nhd. Ausdruck Wetterleuchten ist eine volksetymologische Umdeutung von wetterleichen, s. KLUGE / SEEBOLD (2011, 985). Diesem Typ entspricht in einer Systematik der konzeptuellen Relationen die Kontiguität innerhalb von konzeptuellen ‚Frames‘ aufgrund von ‚Engynomie‘ (von gr. engýs ‘nahe’) (KOCH 2001, 18f). Zum Konzept ‚Frame‘ in der Sprachtheorie s. BUSSE (2012).

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schüsse» ›einschießen‹ genannt. Entsprechend wird der Gegenstand als »Schüssel« ›[Ein-]Schießer‹ bezeichnet (SDS VII 109). Der Tragbogen an einem (runden) Melkgefäß dient dazu, dieses mit der Hand zu halten, schwzdt. »hebe«; deshalb wird er weithin als »(Hand-)Hebi» bezeichnet (SDS VII 19). Vielfach wird auch eine eher sekundäre typische Handlung thematisiert, die mit dem Gegenstand vollzogen wird, wobei freilich der Zweck der Handlung im entsprechenden Handlungskonzept oft implizit mitenthalten ist. Grundlage eines Großteils der Bezeichnungen für die Kartoffelraffel ist die Handlung des Reibens, die typischerweise mit dem Zerkleinern des geriebenen Gegenstands einhergeht: »Schaber«, »Riiber/Riibi« (zu »riibe« ›reiben‹), »Raffler/Raffle/Raffli/Rafele« u. ä. (zu ›raffeln‹), »Rapser/Rapse/Rapsi« (zu ›rapsen‹), »Raschper/Raschpe/Raschpler/Raschpel« u. ä. (zu ›raspe(l)n‹) (SDS VII 198). Gegenstände können das Produkt von Handlungen sein und werden dann nach dieser Handlung benannt. Der Teigrest (SDS VII 106), der nach dem Formen von Broten noch zusammengekratzt wird, wird häufig als Resultat dieses Zusammenkratzens benannt: »Scharete»/»Schärete« ‘Zusammengescharrtes’ zu »schare«/»schäre« ›scharren‹, »Chratzete« zu »chratze« ›kratzen‹, »Schabete« zu »schaben« ‘scharren’. Daneben kommen Verweise auf das Aufräumen und Reinigen vor: »Butzete« zu »butze« ›putzen‹ ‘reinigen’, »Ruumete« zu »ruume« ›(auf)räumen‹. Der Abfall beim Schälen von rohen Kartoffeln (SDS V 203) wird als Resultat des Schälens charakterisiert: »Schääri«/Schäärete« zu »schääre« ›scheren‹ ‘beschneiden’, »Bschniidi«/»Bschniidete« zu »bschniide« ›beschneiden‹, »Schnittete«, »Schnitz«, »Schööni«/»Schöönete« zu «schööne« ›schönen‹ ‘schälen’ (< ‘schön machen’) (vgl. die Karte „(rohe Kartoffeln) schälen“, SDS V 201). Eine andere Perspektive liegt bei den Bezeichnungen für das Überbleibsel (vom Futter) in der Futterkrippe (SDS VIII 31) vor: Ausdrücke wie »(Chrippe-)butzete« zu »butze« ‘reinigen’ oder »Chrippe-/Baare-/Us(e)-/UufRuumete« zu »ruume« ‘aufräumen’ evozieren eher die noch zu erledigende Arbeit als das Resultat. Vergleichbar damit, wenn auch eher in Bezug auf ein unbeabsichtigtes Ereignis, ist die Bezeichnung des Quetschflecks auf der Haut (SDS IV 45) als »Tätsch«, d. h. als Resultat eines Schlages (= »Tätsch«). Auch Örtlichkeiten können über Handlungen bezeichnet werden, wenn ihr Zweck mit einer Handlung verknüpft ist, die typischerweise oder häufig dort durchgeführt wird. Der Mistplatz wird als »Legi« (‘Ort, um Mist hinzulegen’) zu »lege« ›legen‹ oder »Würffi« (‘Ort, um Mist hinzuwerfen’) zu »wärffe« ›werfen‹ bezeichnet (SDS VII 229). Metonymisch sind auch viele Verfahren bei der Bildung von Handlungsbenennungen. Häufig werden Handlungen über den Gegenstand benannt, der dabei verwendet wird. Typisch ist etwa die Benennung von MIT MARMELN SPIELEN als »gluggere« und »marbele«, entsprechend den Bezeichnungen der dabei verwendeten Marmeln als »Gluggere« oder »Marbel« (SDS V 90). Als metonymisch in einem weiten Sinn kann auch das Verfahren verstanden werden, übergreifende Handlungskonzepte über Teilhandlungen oder Teilaspekte der entsprechenden Handlung zu bezeichnen. Als prägnantester Teilaspekt einer Handlung kann deren Ziel als Basis einer Benennung gemacht werden. Das Kastrieren des jungen Stiers

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(SDS VIII 5) wird als »ochsnen« ‘zum Ochsen machen’ bezeichnet, 60 das Schälen von rohen Kartoffeln als »schöön(n)e« ‘schön machen’ (SDS V, 201 „(rohe) Kartoffeln schälen“). Daneben können in der Benennung auch konkrete Teilhandlungen thematisiert werden. Ein einfaches Beispiel ist „scheuern (des Bodens)“ (SDS VII 97), d. h. die gründliche Reinigung eines Bodens mit Wasser und Bürste. Viele Ausdrücke dafür wie »fäge« ›fegen‹, »wäsche« ›wasche‹, »bürschte« ›bürsten‹ und »uufnää« ›aufnehmen‹ (wohl bezogen auf das Aufnehmen des Wassers nach dem Reinigen das Bodens), thematisieren unterschiedliche Teilaspekte der Handlung, das Reiben mit einem Schrubber oder die Verwendung von Wasser zur Reinigung. Das Kastrieren des Jungstiers wird neben den bereits genannten Ausdrücken mit der Fokusssierung auf das Ziel auch über das Motiv der konkreten Handlung bezeichnet, so mit »(ver-)schniide« ›(ver-)schneiden‹, »(uus)haue« ›(aus-) -hauen‹ (mit der Bedeutung ‘schneiden’ für »haue«, vgl. SDS VII 84). Bei »chlammere« ›klammern‹ und »(ver-)chluppe« zu »Chluppe« ‘Klammer, Zange’ wird die Handlung über das damit verwendete Instrument charakterisiert. Wenn das Pflügen mit festen Fügungen wie »z Acher gaa/faare« ›zum Acker gehen/fahren‹ bezeichnet wird, wird schließlich der Beginn der Handlung thematisiert, das Hinfahren, ein Handlungsaspekt, der eher innerhalb der gesamten Arbeitsorganisation auf einem Bauernhof als für die Handlung selbst ein prägnanter Aspekt ist. Ein besonderer, konzeptuell komplexer Fall von Motivübertragung findet sich in Bezeichnungen von Spielen, die in TUN, WIE WENN ... bestehen. Die Übertragung von Konzepten von einem Bereich auf einen anderen gehört zum Wesen von vielen Spielen in einem tieferen, handlungsbezogenen Sinn. In den Benennungen solcher Spiele wird regelmäßig die Handlung thematisiert, die im betreffenden Spiel nachgespielt wird. Viele Benennungen für das Spielen mit Spielzeug (SDS V 74, KSDS 76) sind so zu erklären, v. a. »gvätterle« u. ä. zu »Gvatter« ›Gevatter‹, »täntele« zu »Tante«, »bäsele« zu »Base« und »hüüsele« zu »Huus« ›Haus‹, die alle als Bezeichnungen von Eltern- oder Familienspielen zu verstehen sind und deren ursprüngliche Bedeutung dementsprechend zu interpretieren ist als ‘Gevatter/Tante/Base usw. spielen’ bzw. ‘Haus(halt) spielen’. 2.2.2.3 Taxonomische Bezüge Semantische Bezüge von lexikalischen Innovationen können auf Taxonomien, also logisch-begrifflich organisierten hierarchischen Konzeptstrukturen basieren. Die Innovation hat in einem solchen Fall Bezüge zu einem Lexem, das innerhalb 60

Der (weiter verbreitete) Ausdruck »(ver-)heile« ›verheilen‹ könnte ebenfalls als Bezeichnung mittels Zielcharakterisierung interpretiert werden; auf eine derartige (volkstümliche) Interpretation deutet auch die Vorsilbe »ver-« hin. Die semantischen Zusammenhänge sprechen aber eher dagegen (kastrieren kann schwerlich im Ursprung als heilen verstanden werden). S. die ausführliche Diskussion in Id 3, 1145; DWB 10, 825 verneint einen Zusammenhang mit dem Verb heilen in der Bedeutung ‘heil machen’.

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einer hierarchischen Konzeptstruktur benachbart ist (nebengeordnet, übergeordnet oder untergeordnet). a. Kohyponymische Übertragung Bei der kohyponymischen Übertragung wird eine Sache mit einem Ausdruck benannt, der ursprünglich eine benachbarte Sache in der gleichen Taxonomie bezeichnet.61 Ein typischer Fall ist die kohyponymische Übertragung im Falle von Sachwandel: Eine neue Sache wird mit dem Ausdruck bezeichnet, mit dem zuvor der funktionale Vorgänger benannt wurde. Das klassische Beispiel ist die Bezeichnung des Schreibwerkzeugs mit Stahlfeder als Feder, der Bezeichnung für das Schreibwerkzeug, das aus Gänsefedern hergestellt worden war. Ein Beispiel aus dem Schweizerdeutschen sind die Bezeichnungen für das Oberteil des männlichen des Anzugs (Jackett) (SDS V 123), etwa als »Tschoope« ›Joppe‹, »Chittel« ›Kittel‹ oder »Rock«, ältere Bezeichnungen in der Bauernbekleidung für halblange Kleidungsstücke aus festem Stoff mit Ärmeln, die über Hemd und Hose getragen werden. In dieser Bedeutung sind »Chittel« sowie »Tschoope« in der Form »Schopen« schon im älteren Deutsch geläufig. Kohyponymische Übertragung ist auch bei Handlungsbezeichnungen möglich. Wenn das Stecken von Kartoffeln als »(Härdöpfel) setze« ›(Kartoffeln) setzen‹ bezeichnet wird (SDS VI 204), liegt dieser Benennung die funktionale Ähnlichkeit mit dem Setzen von ganzen Pflanzen (mit Wurzeln) zugrunde. b. Vertikale taxonomische Übertragungen Taxonomische Übertragungen können innerhalb einer Taxonomie auch in vertikaler Richtung erfolgen. Bei der spezialisierten Verwendung eines Lexems wird ein Konzept mit einem Ausdruck benannt, der ursprünglich ein taxonomisch übergeordnetes Konzept bezeichnet. Die Innovation erhält also eine engere Bedeutung als das Ausgangslexem, aber innerhalb der gleichen Konzepttaxonomie. Zugrunde liegt die alltägliche Strategie, bei Ermangelung einer spezifischen Benennung die Sache als Instanziierung eines allgemeineren Sachtyps zu behandeln. Das Wäschegut (die Gesamtheit der gewaschenen Kleidungsstücke) wird in vielen Regionen kurz als »Gwand« bezeichnet (SDS VII 87), der Weihnachtsbaum in manchen Gegenden vor allem des Kantons Bern als »Tannebaum« ›Tannenbaum‹ (SDS V 59). Für das Scheuern (des Bodens) (SDS VII 97) werden an einzelnen Orten allgemeine Ausdrücke wie »butze« ›putzen‹ ‘reinigen’ oder »busle« ‘Dreckarbeit besorgen’ verwendet, (wobei im letzteren Fall noch die Konnotation ‘unangenehme Arbeit’ hinzutritt). Auch die Bezeichnungen für den Anzug des Mannes (SDS V 121) sind oft aus Hyperonymen entwickelt, die in der Regel auch als allgemeine Bezeichnung für die Gesamtheit einer Oberbekleidung dienen: »Chläid« ›Kleid‹, »Kläidig« ›Kleidung‹, »Bchläidig« ›Bekleidung‹, »Gwand« ›Gewand‹, »Aalegi« ›Anlege‹, »Hääs« ›Häß‹, »Aazug« ›Anzug‹ ‘was man (als Kleidung) anzieht’. Das Kehrichthäufchen wird vielerorts als »Güsel« bezeichnet, dem Ausdruck, der an sich die allgemeinere Bedeutung ‘Kehricht’ hat (SDS VII 94).

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S. BLANK (1997, 207–217), GRZEGA (2004, 78–83).

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Im Schweizerdeutschen anscheinend selten im Vergleich zur Spezialisierung ist die Verallgemeinerung, die Bezeichnung eines allgemeinen Konzepts mit einem Ausdruck, der ursprünglich für ein spezielleres Konzept galt. Ein Beispiel ist die Benennung von ‘nähen’ als »büeze«, ursprünglich ‘flicken’ (SDS VII 76/77). 2.2.2.4 Definitorische Verfahren Eine Kombination von taxonomischer Einordnung mit zusätzlicher Eingrenzung findet sich in einem Muster, das dem ehrwürdigen Klassifizierungsverfahren der „definitio per genus proximum et differentiam specificam“ entspricht. Dabei wird ein Konzept in ein übergeordnetes Konzept eingeordnet (taxonomische Unterordnung) und in diesem Rahmen durch ein zusätzliches wesentliches Merkmal charakterisiert und ausgesondert (metonymische Charakterisierung). Die allgemeinste, sprachlich transparenteste Realisierung für entsprechende Konzeptbenennungen ist im Deutschen das Determinativkompositum: Das Grundwort bezeichnet die nächsthöhere Gattung, die Angabe der differentia (specifica) erfolgt durch das Bestimmungsglied. Das Heuergerät, die Gesamtheit der Geräte, die der Bauer zum Heuen verwendet, wird beispielsweise mit Komposita mit der allgemeineren Bedeutung ‘Werkzeug’ als Grundwort und »Heuer« als Bestimmungswort bezeichnet: »Höiergschiir« ›Heuergeschirr‹, »Höierwärchgschiir« ›Heuerwerkgeschirr‹, »Höierwärchzüüg« ›Heuerwerkzeug‹, »Höierzüüg« ›Heuerzeug‹, »Höierruschtig« ›Heuer(aus-)rüstung‹ (SDS VIII 183). Weitere Beispiele sind »Wöschzuber« ›Wäschezuber‹ ‘Wäschebottich’ (SDS VII 24), »Mischtbrüe« ›Mistbrühe‹ ‘Stalljauche’ (SDS VII 230). In der Praxis erfüllen die Benennungen nach diesem Prinzip die Anforderungen der klassischen Definitionslehre selten. Erstens ergibt sich die Wahl des genus proximum kaum je automatisch aus einer begrifflich klar vorgegebenen baumartig strukturierten Taxonomie. Eine Sache kann je nach Sichtweise unterschiedlichen Konzeptstrukturen zugeordnet werden. Der Kohlrabi wird teils als »Cholrääbe« ‘Kohlrübe’, teils als »Rüebchööli« ‘Rübenkohl’ bezeichnet (SDS VI 192), also unterschiedlichen Gemüsekategorien zugeordnet. Das Grundwort kann ferner selbst eine unterschiedlich motivierte metaphorische Bildung sein, etwa in den Bezeichnungen »Zuckerboone« ›Zuckerbohne‹ oder »Zuckerstei« ›Zuckerstein‹ (SDS V 212, KSDS 104). Auch die Ausgrenzung durch ein zusätzliches Merkmal erfolgt in der Regel nicht durch Angabe einer differentia specifica, die den Anforderungen einer Definitionslehre genügen würde; es gelten die gleichen Freiheiten wie bei der direkten metonymischen Wahl eines Benennungsmotivs. Das Taschentuch wird mit unterschiedlichen Komposita mit unterschiedlicher Basis und unterschiedlichen Determinativelementen als »Naastuech« ›Nastuch‹, »Naselumpe« ›Nasenlumpen‹ (»Lumpe« = ‘Lappen’) oder »Schnuderlumpe« ›Schnuderlumpen‹ (»Schnuder« = ’Nasenschleim’) bezeichnet (SDS V 139). Diese Möglichkeiten führen auch bei definitorischen Bezeichnungsverfahren zu Variabilität.

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2.2.2.5 Narrative Motiviertheit Ein Sonderfall unter den metonymischen Bezeichnungsarten sind Bezeichnungen mit ‚narrativer‘ Motiviertheit: Benennungen nehmen nicht Bezug auf eine Eigenschaft oder auf den konkreten Umgang damit, sondern auf Erzählungen, wertende Anspielungen oder Gebräuche, die sekundär mit der Sache assoziiert werden. Ob diese narrativen Elemente einen konkreten sachlichen Gehalt haben oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Narrative Motivierungen kommen vor allem bei kleinen Insekten und Pflanzen vor. Ein typisches Beispiel einer derartigen narrativen Motiviertheit sind die Bezeichnungen des Ohrwurms als »Ooregrübel«, »Ooregrübler« ›Ohrengrübler‹, »Ooreschlüüffer« u. ä. ›Ohrenschlüpfer‹, Bezeichnungen, die suggerieren, dass das Insekt in die Ohren hineinschlüpft, eine Vermutung, die durch keinerlei konkrete Erfahrung gestützt wird.62 Bekannt sind auch die Bezeichnungen von lästigen Insekten mit Ortsnamen, die wohl eine angebliche Herkunft aus diesen Gegenden andeuten sollen. Beispiele im Schweizerdeutschen sind etwa »Wal(li)ser«, »Schwööbli« ›Schwäblein‹, »Stadtbueb(li)« ›Stadtbube‹ für die kleine Bremse (Regenbremse) (SDS VI 234). 63 Dagegen sind beim Marienkäfer religiöse Anspielungen üblich, so in der Benennung als »Muettergotteschäferli/güegeli« ›Muttergotteskäferchen‹ (»Gueg« = ‘Käfer’, s. SDS VI 224).64 Mehr anekdotisch-narrative als sachliche Motivationen finden sich auch bei wilden Pflanzen, so wenn der Löwenzahn »Söiblueme« ›Saublume‹, »Schwiiblueme« ›Schweineblume‹ oder »Chrottepösche« ›Krötenbüschel‹ genannt wird (SDS VI 123). Weder fressen diese Tiere die Pflanze besonders gerne, noch sind sie besonders häufig bei diesen Pflanzen zu finden. Viel eher wird damit die Geringschätzung zum Ausdruck gebracht, mit Hilfe der Anspielung auf Tierbezeichnungen, die selbst entsprechende Konnotationen haben. Die Erklärungen zu den Hintergründen und Bedeutungen solcher Namensgebungen sind unterschiedlich. So wird gesagt, der Marienkäfer werde Gott oder einer Heiligen geweiht, unter den Schutz Marias gestellt, oder als Käfer bezeichnet, der bei der entsprechenden Heiligen Segen, Gaben oder gutes Wetter hole.65 Damit werden oft entsprechende Sprüche und Kinderreime verbunden. Dabei wird auch etwa vermutet, dass der Name aus dem Reimspruch abgeleitet ist. Dass als Patronin die hl. Katharina (von Alexandrien) gewählt wird, wird etwa damit begründet, dass der Käfer zu dieser Heiligen gesandt wird, um gutes Wetter zu bestellen. Die vielen unterschiedlichen Reimsprüche zu diesem Käfer lassen aber vermuten, dass ebenso gut umgekehrt die Verse nachträglich aus dem Namen

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Zu den weiteren historischen Voraussetzungen s. auch Abschnitt 6.2.1.1, S. 268. Auffallend ist, dass dieses Benennungsverfahren für unbeliebte Sachen in vielen Sprachen belegt ist. So wird die Küchenschabe als Schwabenkäfer oder Russe bezeichnet. Die Benutzung religiöser Motive zur Benennung des Marienkäfers ist ein gesamteuropäisches Phänomen, s. ALE I, 43, ALINEI / BARROS FERREIRA (1986). Vgl. z. B. THURNHERR (1938, 49, 58, 64, 79).

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entwickelt worden sind.66 In ähnlicher Weise selbstreproduzierend sind die Entwicklungen, die zur Benennungsvariation bei „Ohrwurm“ geführt haben. Das narrative Motiv, dass der Ohrwurm in die Ohren schlüpfe, beruht nach SEEBOLD (1981, § 260) auf dem Missverstehen der Bezeichnung auricula forficula für das Insekt. Diese war ursprünglich in der Spätantike darauf begründet, dass solche Tiere getrocknet und zerstoßen als Heilmittel verwendet wurden gegen Ohrenkrankheiten, die durch vermeintlich im Ohr vorhandene Würmer verursacht waren. Das Insekt wurde später aufgrund der Sachbezeichnung mit diesen Ohrwürmern des Volksglaubens verwechselt. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass das Tier in das Ohr schlüpfe. In den verschiedenen Varianten tritt dieses Motiv oft in den Hintergrund, bewahrt wird der allgemeine Bezug zu den Ohren. Allgemein erhält man bei den Variationen von narrativen Benennungsmotiven den Eindruck, dass das Prinzip der Narrativität an sich im Vordergrund steht und dass die Erzählungen selbst frei variiert werden. 2.2.3 Fazit: Die inhärente Variabilität von lexikalischer Innovation Die vorangehenden Abschnitte zeigen, dass auf verschiedenen semiotischen Ebenen Verfahren zur Bildung von lexikalischen Innovationen zur Verfügung stehen und dass auf jeder Ebene wieder weitere Auswahlmöglichkeiten gegeben sind. Grundsätzlich ist die Wahl zwischen den unterschiedlichen Verfahren und Realisierungsmöglichkeiten frei. Denn Innovation gründet, wie anfangs ausgeführt, in der Freiheit der Wahl von neuen Benennungsmöglichkeiten in der einzelnen Äußerungssituation. Aufgrund des „First Law of propagation“ (CROFT 2000, 176) überlebt innerhalb eines Sprachsystems normalerweise von den möglichen Bezeichnungsvarianten für ein Konzept nur eine als konventionalisierte Bezeichnung. Dass für eine Sache grundsätzlich immer mehrere Bezeichnungsvarianten tatsächlich möglich sind oder waren, ist synchron deshalb innerhalb eines Sprachsystems nur selten erkennbar. Manifest kann es im synchronen Nebeneinander verschiedener Sprachvarianten werden. Sie wird am direktesten in der arealen Diversität innerhalb eines Dialektraums sichtbar. Die Entstehung und Substanz dieser Varianz ist im Einzelnen Thema der nachfolgenden Analysen. An dieser Stelle soll

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Ein Merkmal solcher narrativ motivierter Benennungen ist ohnehin, dass die Hintergründe oft nicht mehr verstanden werden und nachträglich dazu neue passende Erzählungen geschaffen werden. Ein Beispiel dafür findet sich bei der Benennung des Gänseblümchens (bellis perennis) im Wallis und anderswo als »Johannismeie« ‘Johannisblume’. Mit der Benennung werden allerlei Gebräuche am Johannistag (24. Juni) in Verbindung gebracht, die untereinander wenig Gemeinsamkeit haben: Am 24. Juni sei ein Orakel mit dieser Blume besonders zauberkräftig; wenn man am 24. Juni einen Strauß mit diesen Blumen auf das Dach lege, schütze dies das Haus vor Blitzen u. a. m. Für die Bezeichnung »Johannismeie« gibt es auch keine sachliche Begründung, sie ist wohl eher aufgrund einer Übernahme der Bezeichnung für die große Margerite – Leucanthemum vulgare – entstanden, einer Blume, die um den Johannistag zu blühen beginnt.

Variation in der lexikalischen Innovation

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lediglich anhand konkreter Beispiele diese allgemeine Benennungsvariabilität für einzelne Konzepte zusammenfassend demonstriert werden. –

Variabilität bei der Anwendung von Wortbildungsmitteln Für das gleiche Konzept können unterschiedliche Wortbildungsmittel mit dem gleichen Grundwort angewendet werden.



„Vorteig“ (SDS VII 102): »Hebi«, »Heblete«



„den Vorteig zubereiten“ (SDS VII 103): »de Hebel mache«, »heble«



„Traggriff des Melkeimers“ (SDS VII 20): »Handhebi», »(Hand-)heber«



Variabilität in der lexikalischen Repräsentation eines Benennungsmotivs Ein und dasselbe Benennungsmotiv kann lexikalisch unterschiedlich formuliert werden, etwa wenn es metaphorisch umschrieben wird.



„zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170, KSDS 110) Das Motiv der schwachen Intensität/Kraft des Geschmacks wird über metaphorische Bezüge in unterschiedlichen Dimensionen wiedergegeben: »liis/ leis« ›leise‹, mhd. ‘langsam’, »lääi« ›lau‹, »blööd« ursprünglich ‘schwach, zaghaft’, »lugg« ‘locker’.

Auch bei narrativer Motivik kann ein bestimmtes Benennungsmotiv unterschiedlich realisiert werden. •

„kleine Bremse (Regenbremse)“ (SDS VI 234) Die Regenbremse wird mit Ortsnamen bezeichnet, die wohl eine angebliche Herkunft aus diesen Gegenden andeuten sollen. Diese Ortsnamen varieren regional. In der Ostschweiz heißt das Insekt »Schwoob« ›Schwabe‹, im westlichen Berner Oberland »Latterbacher (Brämi)« (Latterbach: Dorf im Simmental), in UR »Palänzer« (Palänzertal: alter deutscher Ausdruck für das Bleniotal). Die Bezeichnung als »Walliser« oder »Walser« in SZ und »Wali« in einigen Bündner Walsertälern dürfte wohl aus »Wal-« ›Welsch‹ als Bezeichnung der rätoromanisch sprechenden Bevölkerung zwischen Chur und Walensee entstanden sein.



Variabilität bei der Wahl eines Benennungsmotivs Bei der Benennung einer Sache können unterschiedliche saliente Aspekte thematisiert werden.



„blitzen“ (SDS VI 38, KSDS 190) Der Blitz wird bevorzugt über optische Eigenschaften benannt, konkret den hellen Schein: »blitz(g)e«, »schiine«, »zünde«. Daneben finden sich Ausdrücke, welche die schnelle Bewegung thematisieren: »wätterleiche/-leine/-leie« zu mhd. leichen ‘hüpfen, aufspringen’, »schiesse« ›schiessen‹ mit der Konnotation ‘schnelle Bewegung’.



„Brotgestell“ (SDS VII 112) Das Gestell, das zum Aufbewahren des Brotes und zum Schutz vor Mäusen und Katzen an der Decke des Kellers oder im Estrich aufgehängt wird, wird

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teils entsprechend der Form als »(Broot-)Leitere« ›Leiter‹ (Gestell mit schmalen runden Stäben) bzw. »(Broot-)Lade« (»Lade« ‘Brett’) bezeichnet, andernorts entsprechend der Befestigung als »Bääre« (sonst ‘Traggestell’, zu mhd. bëran ‘tragen’, s. Id. 4, 1478) oder »Traage« ›Trage‹ und schließlich entsprechend dem Zweck als »Huurd« (sonst ‘Gestell zum Aufbewahren von Obst, Kartoffeln usw.’, s. Id. 2, 1603). –

Variabilität bei der Anwendung definitorischer Verfahren Bei definitorischen Benennungsverfahren können unterschiedliche Kategorisierungen und differenzierende Merkmale verwendet werden.



„Hauswiese“ (SDS VI 90, KSDS 184) Bei den verschiedenen Bezeichnungen der Hauswiese, d. h. der bei einem Bauernhaus gelegenen Wiese, meist mit spezieller Nutzung, ist die Einordnung in ein Grundkonzept als Raumart, genus proximum, nicht eindeutig vorgegeben (SDS VI 90, KSDS 184). Der Raum kann einfach als eine besondere Art von Stelle aufgefasst werden, wie beim Typ ›Hofstatt‹ (»Hoschtet« u. ä.). Oder er kann speziell als Wiese (Grasland) konzeptualisiert werden: »Huuswise« ›Hauswiese‹ und »Huusmatte«. Schließlich kann auch auf die Eigenschaft Bezug genommen werden, dass der Platz eingezäunt ist; so wird bei »Baumgarte« ›Baumgarten‹ (»Bungert« u. ä.) und »Graasgaarte« das Stück Land als Garten (ausgegrenztes, besonders bebautes Stück Land) gesehen. Auch bei der näheren Charakterisierung durch Determinativglieder können unterschiedliche Aspekte thematisiert werden, obwohl die Nutzung dieser Bereiche jeweils die gleiche ist: Bei »Hofstatt«, »Huuswise« und »Huusmatte« lässt sie sich etwa als ‘Wiese/Matte in der Nähe des Hauses/rund um das Haus/in der Nähe des Hofes’ verstehen, bei »Baumgarte« und »Graasgaarte« als ‘Garten, der besonders durch Bepflanzung mit Bäumen charakterisiert ist’ bzw. ‘Garten, der besonders durch Nutzung als Graswiese charakterisiert ist’ interpretieren.



Variabilität sowohl bei Auswahl der Benennungsmotive wie bei der lexikalischen Repräsentation der Benennungsmotive und der Wahl der Wortbildungsmittel Die Variabilität kann gleichzeitig auf allen semiotischen Ebenen und den entsprechenden Konkretisierungen der Wahlmöglichkeiten bestehen. Es kann zwischen unterschiedlichen Benennungsmotiven gewählt werden; wenn ein bestimmtes Benennungsmotiv gewählt wird, kann dieses auf unterschiedliche Weise konkret lexikalisiert werden, und bei der Lexikalisierung stehen normalerweise wiederum verschiedene Wortbildungsmittel zur Verfügung.



„Abfall beim Schälen roher Kartoffeln“ (SDS V 203) Die Bezeichnungen des Abfalls beim Schälen roher Kartoffeln können auf unterschiedlichen Benennungsmotiven basieren: Der Abfall kann als Resultat des Schälens bezeichnet werden, als Teil der geschälten Kartoffel (als Schale) oder als wertloser Rest. Wenn er als Resultat des Schälens bezeichnet wird, kann von unterschiedlichen verbalen Benennungen des Schälens ausgegangen

Bezeichnungswandel und Wortschatzstruktur

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werden und das Resultat dieser Tätigkeitsbenennungen mit unterschiedlichen Wortbildungsmitteln ausgedrückt werden: »Schääri«, »Schäärete« zu »schääre«, »Schööni«, »Gschöön«, »Schöönete« zu »schööne«, »Bschniidi«, »Bschniidete« zu »bschniide«, alles Verben mit der Bedeutung ‘beschneiden’. Die Bezeichnung als ‘Kartoffelschale’ kann unterschiedlich lexikalisch realisiert werden: »Rinde«, »Hültsche«, »Hüüt«, »Schale«. Zur Bezeichnung als wertloser Rest stehen Ausdrücke wie »Abzüüg«, »Abfall«, »Abgang« zur Verfügung. –

Variabilität bei onomatopoetischen Verfahren Die onomatopoetische Wiedergabe eines nichtsprachlichen Lautes oder Lautkonzepts in einem Sprachmuster ist variabel, da jede lautliche Nachahmung eines Schalles durch einen Sprachlaut nur als Annäherung möglich. Es gibt immer mehrere Annährungsverfahren für die Nachbildung eines nichtsprachlichen Schalls in Sprachlauten. All dies impliziert Variabilität bei entsprechenden Innovationen.



„grunzen (vom Schwein)“ (SDS VIII 89)67 Das Grunzen der Schweine ist von den konventionellen Artikulationsmöglichkeiten von Lauten in gegebenen Sprachsystemen relativ weit entfernt. Die rauhe Intermittenz des Grunzens wird auf unterschiedliche Weise durch Kombinationen aus den Lauten /r-/ und /-ch-/ wiedergegeben. Die Kombinierbarkeit dieser Laute in einem konkreten Wort ist relativ frei variierbar. So sind Formen möglich wie »rochle«, »charchle«, »mure«, »chure«. 2.3 BEZEICHNUNGSWANDEL UND WORTSCHATZSTRUKTUR

Bezeichnungswandel findet innerhalb eines Wortschatzes statt, innerhalb einer vorgegebenen strukturierten Menge von konventionellen Sprachzeichen. Im onomasiologischen Zusammenhang steht dabei die inhaltliche (konzeptuelle) Strukturierung der Welt durch den Wortschatz im Vordergrund. Jede lexikalische Innovation hat aus dieser Perspektive potenziell Auswirkungen auf den Gesamtwortschatz und seine Struktur. Diese Auswirkungen können unterschiedlicher Art sein: Der Wortschatz bleibt in seiner Struktur erhalten, er wird erweitert, oder er wird umstrukturiert. Dass er reduziert wird, also ein Wort und damit ein Konzept aus dem Wortschatz verschwindet, kann theoretisch ebenfalls als onomasiologischer Wandel verstanden werden, spielt in unserem Zusammenhang aber keine Rolle. Die Art und Weise, wie sich ein onomasiologischer Wandel innerhalb eines Wortschatzes abspielt, wirkt sich in vielfältiger Weise auf die Entwicklung von Heteronymie aus.68 67 68

Die gesamte Heteronymie ist komplexer und die einzelnen Bezeichnungen haben auch verschiedene diachrone Hintergründe. S. dazu Abschnitt 4.5, S. 197. Vgl. MUNSKE (2005) allgemein zum Wortschatzwandel auf den verschiedenen Strukturebenen des Wortschatzes. Implizit erscheint dort der onomasiologische Wandel unter dem Stichwort „Bedeutungswandel“. – Ob und wie Bezeichnungswandel Auswirkungen auf die

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

2.3.1 Wortersatz Im einfachsten Fall wird mit einer lexikalischen Innovation eine gegebene Bezeichnung für ein bestimmtes Konzept ohne Veränderung dieses Konzepts durch eine neue Bezeichnung ersetzt. Die Struktur des Wortschatzes verändert sich dabei im Prinzip nicht. Allerdings ist, wie in Abschnitt 2.1.1 erwähnt, der bloße Ersatz eines Wortes durch ein anderes gewöhnlich das Endergebnis eines längeren Prozesses mit Zwischenstadien von Varianz. Damit ein neuer Ausdruck an die Stelle eines älteren tritt, muss er zuerst in Konkurrenz zum bestehenden in den Sprachgebrauch eingeführt werden. Dadurch wird der Wortschatz über eine bestimmte Periode durch einen partiell synonymen Ausdruck vermehrt, während der die alte und die neue Bezeichnung als Konkurrenten nebeneinander existieren. Das neuere Wort existiert zunächst als ‚Trabantenwort‘, als markiertes Element neben dem unmarkierten alten Wort (VON WARTBURG 1970, 146). Es verliert aber mit der Zeit seinen markierten Sonderstatus und wird praktisch gleichwertig, die beiden Ausdrücke werden quasi-synonym. Durch Monosemierung der QuasiSynonyme wird schließlich der ältere Ausdruck ausgeschieden. Dieser Vorgang berührt sich damit mit dem Vorgang der Monosemierung von Quasi-Synonymen, die aufgrund anderer Entwicklungen entstehen (s. Abschnitt 2.3.4). Ein typisches Beispiel für diese Entwicklung ist der bereits erwähnte Ersatz von altdeutsch (ahd./mhd.) houbet ›Haupt‹ durch Kopf. Neben der angestammten Bezeichnung houbet für ‘Kopf’ verbreitete sich seit dem 13. Jahrhundert regional allmählich die Bezeichnung von ‘Kopf’ als kopf, ein Wort mit der Bedeutung ‘Becher, Trinkschale’, ursprünglich wohl als affektiv-pejorative metaphorische Übertragung von einem formal ähnlichen, aber weniger wertvollen Gegenstand.69 Diese Verwendung, zu Beginn eine individuelle Augenblicksschöpfung, war eine stilistisch markierte Sonderbezeichnung neben der Standardbezeichnung houbet. Dadurch, dass sie in der Wiederholung zunehmend usualisiert wurde und die pejorative Konnotation verlor, wurde sie schließlich zu einer neutralen konventionel-

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Struktur eines Wortschatzes hat, wird in der Onomasiologie kaum je als eigenes Problem thematisiert. Ein Grund dürfte die Fokussierung des theoretischen Interesses auf die Motiviertheit der Benennungen bei einzelnen Konzepten und die historischen Veränderungen bei der Benennung einzelner (gegebener) Konzepte bzw. Sachen sein. In dieser Perspektive sind der Zusammenhang einer Innovation mit dem gesamten Wortschatz und die Schichtungen bei Varianten aus unterschiedlichen Zeitstufen von geringer Bedeutung. Der Ausdruck ‚Bezeichnungswandel‘, wörtlich verstanden als ‚Wandel der Bezeichnung einer einzelnen Sache‘, mag zudem GRZEGA (2004, 172) zur Feststellung veranlasst haben, dass bei der Einführung einer neuen Bezeichnung für ein bislang nicht benanntes Konzept „eigentlich kein Fall von Bezeichnungswandel im strengen Sinne vorliegt.“ S. SEEBOLD (1981, 244–245), FRITZ (2006, 107–108), DWB 11, 1748. – Der metaphorische Vergleich des Kopfes mit einem banalen runden Gegenstand und die entsprechende lexikalische Innovation sind regelmäßig vorkommende Vorgänge auch in anderen Sprachen. Vgl. im heutigen Schweizerdeutschen umgangssprachliche (derbe) Bezeichnungen für den Kopf wie »Chürbse« ›Kürbis‹ oder »Bire« ›Birne‹ oder die Entwicklung von lat. testa ‘Schale aus gebranntem Ton’ zu ital. testa und franz. tête.

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len Bezeichnung. Im Gegenzug wurde Haupt zu einem archaischen und/oder literarischen Ausdruck und so aus der Alltagssprache verdrängt.70 Wortersatz erfolgt über die in Abschnitt 2.2 beschriebenen lexikalischen Innovationen, über Neubildungen durch Bedeutungsveränderung, Wortbildung, über Entlehnung, über assoziative Abwandlung. Der Ersatz von Haupt durch Kopf etwa ist ein Beispiel für den Ersatz durch eine Innovation mittels metaphorischer Umfunktionierung. Ein Wortgebrauch ist auf Wortersatz zurückzuführen, wenn er als lexikalische Innovation zu interpretieren ist und aus dem historischen und geografischen Kontext erschließbar ist, dass dieser Bezeichnung eines Konzeptes ursprünglich eine andere Benennung im Sprachgebrauch der gleichen Sprechergemeinschaft voranging. •

»haue« für ‘schneiden’ (SDS VII 84; VII 85, Kommentar zu ‘Brot abschneiden) (= ‘einen Gegenstand mit einem Messer oder einer Schere zertrennen’) Der Ausdruck »haue« ‘schneiden’ < mhd. houwen ‘mit einem Instrument wie Beil oder Sense durch starke, kraftvolle Bewegung abtrennen oder bearbeiten’, ‘mit einem Speer u. ä. stechen’ ersetzt mit der neuen Bedeutung ursprünglicheres »schniide«, mhd. snîden, oder »schääre« mdh. schern.



»Müntschi/Muntschi« für »Chuss« ›Kuss‹ (SDS V 21, KSDS 58) »Müntschi/Muntschi«: Diminutivbildung zu »Mund«, ersetzt »Chuss« ‘Kuss’, mhd. kuss.



»Summervogel« für ahd./mhd. fifalter ‘Schmetterling’ (SDS VI 237/238, KSDS 170) Das Kompositium »Summervogel« ‘Schmetterling’ mit metaphorischer Klassifizierung des Schmetterlings als Vogel ersetzt ahd./mhd. fifalter bzw. seine Nachfolger.

Wortersatz stellen oft auch sehr viele Wortübernahmen aus dem Standarddeutschen dar: •

»Schmätterling« für »Summervogel« (SDS VI 237, KSDS 170) »Schmätterling« hat im Schweizerdeutschen keine etymologischen Anknüpfungspunkte.

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In das Schweizerdeutsche drang der neue Wortgebrauch durch Diffusion offenbar seit dem 15/16. Jahrhundert von Norden ein. Der früheste Beleg für die Bedeutung ‘Kopf’ von ›Kopf‹ in Id. 3, 408 stammt von 1483 (Eidg. Abschiede). Belege für ›Haupt‹ als ‘Kopf’ finden sich nach Id. 2, 1495 in Sachtexten noch im 17. Jahrhundert. Zur Zeit der SDS-Aufnahmen war die Verwendung von »Haupt« als neutrale Bezeichnung von ‘Kopf’ im Berner Oberland noch üblich oder bekannt (SDS IV, 1). – Wie häufig in solchen Fällen der lexikalischen Verdrängung lebt der ältere Ausdruck Haupt- in anderen lexikalischen Kontexten weiter, z. B. als Bestandteil von Zusammensetzungen, im Standarddeutschen z. B. in Hauptsache, in schweizerdeutschen Dialekten in ›Hauptkissen‹ ‘kleines Kopfkissen’ (vgl. SDS IV 2, VII 186), und als Einzellexem in speziellen Verwendungen, z. B. als Zähleinheit für Rindvieh („ein Haupt Vieh“) oder für Kopfsalat (s. SDS VI 201). In anderer Perspektive stellen solche Verwendungen wiederum eine Vermehrung des Wortschatzes um Lexeme infolge Bedeutungswandel dar.

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

Von ihrer Natur her sind auch assoziative Abwandlungen Wortersatz: Es handelt sich um formale Änderungen eines bestehenden Lexems, welche die Ausgangsform ersetzen. 2.3.2 Wortschatzerweiterung aufgrund von konzeptueller Innovation Der Wortschatz kann durch lexikalischen Wandel dadurch verändert werden, dass ihm neue Wörter mit neuen Bedeutungen hinzugefügt werden.71 Im Unterschied zum Wortersatz wird dabei der Wortschatz erweitert und so in seiner Struktur verändert. Aus einer denotativen Perspektive (aus der Perspektive einer sprachunabhängig vorgegebenen Welt) können wir zwei Situationen unterscheiden: In einer lexikalischen Innovation kann eine schon immer vorhandene Sache neu bezeichnet werden, ohne dass sich die gegebene Welt verändert hat; die lexikalische Innovation kann aber auch Reflex einer veränderten Welt, von Sachwandel sein. Thema dieses Abschnittes ist die erste Art von Innovation. Sie wird hier konzeptuelle Innovation genannt: Ein bestehendes oder ein neu gebildetes Konzept für eine vorgegebene Sache erhält neu eine Bezeichnung. Dass das entsprechende Konzept systematisch vor der lexikalischen Innovation als Benennung vorhanden war, ergibt sich aus den Überlegungen in Abschnitt 2.1.2: Damit eine Innovation sich als sprachliche Konvention durchsetzen kann, muss die Bedeutung des Wortes sich vorher als gesellschaftlich etabliertes Konzept durchgesetzt haben, denn sonst könnte das Konzept nicht als Bedeutung mit der Ausdrucksform assoziiert werden. Dass ein neues Wort für eine bislang nicht durch ein einfaches Wort konventionell benennbare oder benannte, aber schon immer vorhandene Gegebenheit in den Wortschatz eingeführt wird, scheint innerhalb der lexikologischen und onomasiologischen Systematik ein relativ klarer, übersichtlicher Fall. Der Vorgang wirft aber einige theoretische Fragen auf. Das Problem wird in der Lexikologie und Onomasiologie v. a. im Zusammenhang mit dem Stichwort „lexikalische Lücke“ diskutiert.72 Wörter werden nach dieser Vorstellung neu gebildet, weil eine Lücke im Wortschatz empfunden wird: Für einen bestimmten Bereich in der Welt (in der Konzeptstruktur, in der Welt der Bedeutungen?), für den es keine sprachliche Benennung gibt, wird neu eine solche geschaffen. Der Begriff der ‚lexikalischen Lücke‘ manifestiert allerdings ein allzu sprachorientiertes Bild des Zusammenhangs zwischen Sprache und Welterfassung: Er impliziert die Vorstellung, dass die außersprachliche Welt im Wortschatz strukturell identisch und prinzipiell vollständig abgebildet ist; wenn der Wortschatz zufällig an einem einzelnen Ort die außersprachliche Welt nicht lückenlos abbildet, kann dies als Lücke empfun71

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Wortschatzerweiterung im hier eingeführten Sinn wird in der Onomasiologie höchstens auf der Ebene der pragmatischen Anlässe von Wortschatzwandel diskutiert, vor allem im Zusammenhang mit Sachinnovation und Sachwandel (vgl. z. B. GRZEGA 2004, 169–172). Zum Begriff s. SCHWARZ-FRIESEL / CHUR (2014, 68–72), BLANK (1998, 392) (mit Kritik), MARTÍN RODRÍGEZ (2011). Die Frage der lexikalischen Lücke wird primär im Sprachvergleich diskutiert.

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den werden, die wiederum durch ein Wort gefüllt und so das Abbild vervollständigt werden kann. Der Zusammenhang zwischen Welt, Bedeutungen, Wortschatz und Wortschatzstruktur ist aber natürlich keineswegs so direkt und einfach. Nicht alle außersprachlichen Erscheinungen werden überhaupt konzeptualisiert. Wie die Vielfalt der wahrgenommenen Welt überhaupt konzeptuell strukturiert wird, ist nicht aus der Welt direkt abzuleiten. Und es gibt sehr viele Erscheinungen, die mehr oder weniger bewusst in Konzepte gefasst sind, für die aber keine lexikalisierte Bezeichnung besteht.73 Anders wäre das Phänomen von Umschreibungen, Verlegenheitsbenennungen und Ad-hoc-Formulierungen nicht verstehbar und beschreibbar. Schließlich ist die Welt nicht eine Ansammlung von Einzelobjekten, sondern kann unterschiedlich differenziert in allgemeinere und speziellere Konzepte gefasst werden. Es muss nicht als Lücke empfunden werden, wenn eine spezielle Erscheinung, etwa ein zweiplätziges Auto, nur als Realisierung eines allgemeineren Konzepts AUTO erfasst und dazu keine eigene Bezeichnung geschaffen wird. Es gibt zu jedem Konzept zusätzliche Differenzierungsmöglichkeiten, die nie sprachlich realisiert werden. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, warum in bestimmten Fällen trotzdem neue Konzepte gebildet und dafür eine Benennung konventionalisiert wird. Diese Frage ist aber nicht generell beantwortbar, sondern nur für konkrete Fälle in ihrem historischen Kontext.74 Kein triviales Problem ist es, nachzuweisen, dass es sich bei einer lexikalischen Innovation tatsächlich um eine konzeptuelle Innovation und nicht um Wortersatz handelt. Theoretisch ist meist denkbar, dass statt der belegten Lexeme früher andere galten und die Innovationen lediglich diese nicht belegten älteren Lexeme ersetzten. Eine regelmäßige Quelle von lexikalisierten Innovationen für konzeptuelle Innovationen sind situativ gebundene Umschreibungen und Ad-hocFormulierungen. Derartige Formulierungen bedienen sich im Allgemeinen der lexikalischen Innovationsverfahren über Bedeutungsveränderung und Wortbildung. Da dies die gleichen Verfahren sind, wie sie auch beim Wortersatz verwendet werden, ist aus den synchronen lexikalischen Gegebenheiten nicht entscheidbar, ob ein bestimmter Ausdruck über Wortschatzerweiterung aufgrund von konzeptueller Innovation oder als Wortersatz in den Wortschatz eingeführt worden ist. Plausibel erscheint die Annahme einer konzeptuellen Innovation dann, wenn für eine bestimmte Sache oder ein bestimmtes Konzept in allen parallelen Sprachvarianten lediglich deskriptiv motivierte Bezeichnungen vorkommen und in älteren Quellen keine Bezeichnung überliefert ist. Wenn eine Sache schon immer benannt worden wäre, müssten sich in der Regel solche älteren Bezeichnungen erhalten haben, auch wenn sie möglicherweise in früheren Quellen nicht belegt sind. Ein Indiz für konzeptuelle Innovation ist es auch, wenn in manchen Regionen keine konkret motivierten Bezeichnungen existieren und bei Befragungen lediglich all73 74

S. auch die Bemerkungen in Abschnitt 2.1.2. GRZEGA (2004, 187–190) diskutiert derartige Probleme unter dem Stichwort „Kulturelle Zunahme der Salienz eines Konzeptfeldes oder eines Konzepts“: Sachen oder Konzepte finden in einer Sprechergemeinschaft aus irgendwelchen Gründen vermehrt Beachtung. Als Beispiel nennt GRZEGA die Vermehrung von Farbbezeichnungen in modernen Sprachen.

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

gemeine Umschreibungen als Antworten gegeben werden. Konzeptuelle Innovation kann im Übrigen aber auch dann vorliegen, wenn historisch ältere Bezeichnungen einer Sache belegt sind. Denn für manche alltäglichen Dinge, die nicht ständig Thema der Kommunikation in einer Sprechergemeinschaft sind, können einmal vorhandene Bezeichnungen auch verloren gehen und dann wieder ohne Vorgabe neu geschaffen werden. Vor allem in den Bezeichnungen alltäglicher Konzepte lässt sich die Entstehungsweise von Neubezeichnungen aus individuellen Umschreibungen und Adhoc-Formulierungen über Lexikalisierung oft anhand der Angaben des SDS direkt nachvollziehen. Die entsprechenden Karten zeigen oft ungleichmäßige Abstraktionsebenen der Antworten, es gibt Übergänge zwischen individuellen Ad-hocBezeichnungen, Bezeichnungen im engeren familiären Umfeld und regional geltenden lexikalisierten Bezeichnungen. Ein typisches Beispiel stellt die Heteronymie für das Kehrichthäufchen dar: •

„Kehrichthäufchen“ (SDS VII 94) Die Heteronymie für das Konzept KEHRICHTHÄUFCHEN zeigt ein Nebeneinander von speziellen Bezeichnungen, die auf den Arbeitsvorgang Bezug nehmen, und Ausdrücken, die als Oberbegriff ‘Kehricht’ zu deuten sind und somit nicht eigentliche spezielle Bezeichnungen für diese besondere Form der Ansammlung von Kehricht sein dürften. In SDS VII 94 wird denn auch bemerkt, dass zwischen ‘Kehricht’ und ‘Kehrichthäufchen’ begrifflich nicht scharf zu trennen sei. Dies kann allerdings nur für die Fälle zutreffen, bei denen statt eines speziellen Ausdrucks eine Bezeichnung für ein allgemeineres Konzept genannt wird. Es handelt sich um Ausdrücke wie »Güsel«, »Ghüder«, »Staub«, »Dräck« und »Chaat« mit der Bedeutung ‘Kehricht’ oder noch allgemeiner ‘Dreck’. Solche Antworten sind so zu deuten, dass an diesen Orten keine spezielle Bezeichnung für Kehrichthäufchen existiert. An anderen Orten gibt es spezifische Bezeichnungen für das Kehrichthäufchen als Resultat des Zusammenfegens »Wüschete« und »Fürbete«, Verbalabstrakta zu den Verben »wüsche« ›wischen‹ und »fürbe« (‘fegen, wischen’ ahd. furben). Die Existenz und die geschlossene geografische Ausbreitung solcher Ausdrücke zeigen, dass sich eine spezielle Bezeichnung für diese Ansammlung von Kehricht innerhalb eines alltäglichen Arbeitsprozesses herausgebildet hat. Dafür, dass es sich dabei um lokale Neubenennungen handelt, spricht umgekehrt auch der Umstand, dass an anderen Orten kein spezialisierter Begriff für die Sache besteht, sondern zur Bezeichnung ein allgemeiner Oberbegriff verwendet wird. 2.3.3 Wortschatzwandel aufgrund von Sachinnovation und Sachwandel

Wortschatzwandel kann durch Sachwandel verursacht werden: Eine neu eingeführte Sache wird neu in ein Konzept gefasst und dann mit einer Bezeichnung versehen. Der Vorgang kann im einfachen Fall als Wortschatzerweiterung er-

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scheinen. Die Realität ist in der Regel aber komplizierter. Häufig beinhaltet Sachinnovation genau genommen nicht die Einführung einer vollständig neuen Sache in eine gegebene Welt, sondern nur die Veränderung eines bestehenden Sachtyps; m. a. W. es liegt nicht eine Sachinnovation vor, sondern Sachwandel. Eine neue Sache ist nur in Bezug auf einzelne Eigenschaften eine Neuheit, nicht in Bezug auf ein übergeordnetes Gegenstandskonzept. Die Bezeichnungsgeschichte von Sachinnovationen ist eng mit der Sachgeschichte verbunden und diese wiederum mit der entsprechenden Konzeptgeschichte. Eine Sachinnovation oder ein Sachwandel erfolgt innerhalb einer vorgegebenen Konzeptstruktur, die je nachdem als Ganzes erweitert oder umstrukturiert wird. Das hat auch Auswirkungen auf die Verfahren der entsprechenden lexikalischen Innovationen. Bezeichnungen von Sachinnovationen schließen sich sehr häufig an Bezeichnungen vorbestehender Konzepte oder an vorgegebene lexikalisch-semantische Muster an. Lexikalische Innovationen sind so neben vollständigen Neubildungen durch Wortbildung nicht selten semantische Umfunktionierungen von Bezeichnungen. Möglich ist auch, dass die Sachinnovation einen Konzeptwandel verursacht, so dass alte Unterscheidungen oder konzeptuelle Eingrenzungen durch die Einführung funktionsähnlicher oder funktionsgleicher Sachen nivelliert werden. Der Wortschatz wird in diesem Fall nicht erweitert, sondern konzeptuell umorganisiert. Wie etwa das Beispiel (Schreib-)Feder zeigt, geschieht es häufig, dass sich die materielle Gestalt einer Sache im Zuge des Sachwandels verändert, die – ursprünglich sekundär – damit verbundene Funktion aber erhalten bleibt und schließlich zum dominierenden Konzeptelement wird. Ein vergleichbares Beispiel aus dem Schweizerdeutschen sind die Bezeichnungen des Fensterladens. Der alte Fensterladen des Bauernhauses war in vielen Gegenden ein Fallladen, der über dem Fenster angebracht war und zum Schließen heruntergelassen wurde; er wurde entsprechend als »Fällade« ›Fällladen‹ bezeichnet. Als Neuerung wurde später der Jalousieladen eingeführt (mit Latten mit Zwischenraum). Dieser ist generell ein zweiflügliger Schlagladen, der seitlich an den Fenstern angebracht ist. In manchen Gegenden wird auch dieser Laden als »Fällade« bezeichnet (s. SDS VII 174/175). Offenbar wurde das Konzept FENSTERLADEN, das ursprünglich auf den Prototyp des Fallladens beschränkt war, auf alle Arten von Fensterladen erweitert und dabei weiterhin mit der überlieferten Ausdrucksform bezeichnet. 2.3.4 Monosemierung von Quasi-Synonymen Bedeutungsveränderungen und Neubildungen, die sich in der Bedeutung mit anderen Wörtern überlappen, können dazu führen, dass zwei Lexeme semantisch nicht mehr klar voneinander geschieden werden können. Möglicherweise haben sie zwar unterschiedliche Kernbedeutungen, sie können aber in der konkreten Situation die gleiche Denotation haben und die Bedeutungen können sich in der Verwendung überlappen. Insofern können wir solche Varianten als QuasiSynonyme auffassen.

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Quasi-Synonymie ist kein seltenes Phänomen. Sie stellt einen überschüssigen Wortreichtum dar, der u. U. funktionslos ist. Bei quasi-synonymen Varianten wird deshalb tendenziell eine gegenüber anderen bevorzugt und schließlich auf Kosten der anderen Varianten zur alleinigen konventionellen Bezeichnung für eine bestimmte Sache.75 Welche der verfügbaren Varianten die Oberhand gewinnt, ist im Allgemeinen nicht vorhersehbar. Wie in Abschnitt 2.1.1 festgestellt wird, findet auch bei jedem Wortersatz, bei dem ein Wort durch ein anderes verdrängt wird, eine Monosemierung statt: In einer Anfangsphase existieren die angestammte Bezeichnung und die Innovation quasi-synonym nebeneinander. Innovation ist nachhaltig, wenn in einer derartigen Situation die Quasi-Synonymie zugunsten der Innovation beseitigt wird. Monosemierung führt innerhalb des Sprachsystems zu einer Reduktion des Wortschatzes, falls dieser nicht wieder durch Neudifferenzierungen ergänzt wird (s. Abschnitt 2.3.5.2). •

„Zaun“ (SDS VIII 207, KSDS 186, SSA IV/4.04) Ein relativ alter Fall von Monosemierung von Quasi-Synonymie, der den süddeutschen Raum einschließt, ist die regionale Nivellierung des Gegensatzes »Zuun« – »Haag« als Bezeichnungen für die Einfriedung von Gelände. Beide Wörter sind germanisch gut bezeugte und auch im Althochdeutschen geläufige Ausdrücke (ahd. zūn - hag). Die älteren Verwendungsweisen und Ableitungen lassen vermuten, dass ahd. zūn bzw. germ. *tūna- eher feste Bauwerke aus Holz oder Mauerwerk bezeichnete, während ahd. hag bzw. germ. *hagasich eher auf Abtrennungen mit Gebüsch oder Strauchwerk bezog.76 Schon im Althochdeutschen haben sich die Bedeutungen allerdings angenähert. Baumaterial und Zweck wurden zunehmend unwichtig, und relevant als Bedeutungselement wurde in beiden Fällen vor allem die Funktion als Einfriedung. So decken sich die beiden Wörter in der Bedeutungskomponente ‘Einfriedung eines Gebietes, v. a. eines Weidegebietes’. Damit wurden die beiden Wörter Quasi-Synonyme. In den meisten Regionen des Mittellandes und auch in mittleren Gebieten des Alpenraums wurde die Quasi-Synonymie zugunsten eines der beiden Varianten beseitigt (s. Abschnitt 3.2.2).

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Entsprechend dem „first law of propagation“ (CROFT 2000, 176). Eine alternative Entwicklung besteht in der semantischen Differenzierung derartiger Quasi-Synonyme (s. Abschnitt 2.3.5.1). Vgl. für ahd. zūn die Glossierung von lat. maceria und vallum mit zūn (KÖBLER, Ahd. Wb. s. v. zūn) sowie die Entwicklung zu ‘befestigter Platz’ im Keltischen, für mhd. hac die Bedeutung ‘Gestrüpp’, ‘Dornhecke’ und die Ableitung Hecke (*hag-jô-). Allerdings gibt es auch bei hag althochdeutsche Glossierungen zu lat. agger ‘Erdwall’, so dass bereits für das Althochdeutsche zumindest Quasi-Synonymie bestanden zu haben scheint.

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2.3.5 Umstrukturierungen des Wortschatzes Eine onomasiologische Veränderung hat zuweilen Auswirkungen auf das weitere lexikalische Umfeld. Wortersatz oder Bedeutungsverschiebungen einzelner Lexeme aufgrund von konzeptuellen Innovationen können die Bezeichnungsmöglichkeiten anderer Konzepte verändern. Durch lexikalische Innovation über semantische Veränderungen kann ein Wort seine alte Bedeutung verlieren, dadurch können Bezeichnungslücken entstehen, die wieder gefüllt werden sollen. Wortersatz kann für die alte Bezeichnung neue Verwendungsmöglichkeiten eröffnen, ein Konzeptbereich wird zusätzlich differenziert und umstrukturiert, mit gruppenweisen Verschiebungen der Bezeichnungen, usw. In einer auf einzelne Onomeme orientierten onomasiologischen Sprachatlasdarstellung kommen solche Veränderungen gewöhnlich nicht direkt zum Vorschein. Sie zeigen sich allenfalls, wenn mehrere Karten zu einem ganzen Konzeptbereich vorliegen, oder in Detailinformationen in den Anmerkungen zu einzelnen Karten. Der SDS bietet immerhin an verschiedenen Stellen Informationen zu derartigen Phänomenen. 2.3.5.1 Semantische Differenzierung von Quasi-Synonymen (Bedeutungsdifferenzierung) Quasi-Synonymie oder Synonymie kann statt durch Monosemierung (Abschnitt 2.3.4) auch durch semantische Differenzierung (Bedeutungsdifferenzierung) beseitigt werden, also dadurch, dass zwei (allenfalls durch Wortschatzwandel entstandene) (quasi-)synonyme Ausdrücke unterschiedliche semantische Interpretationen erhalten. Während bei Monosemierung eines der beiden Quasi-Synonyme verschwindet, bleiben bei semantischer Differenzierung beide Lexeme erhalten, eines oder beide mit veränderter Bedeutung.77 Anstoß für die semantische Differenzierung von Synonymen ist das Phänomen der Synonymenflucht, wonach Synonymie ein unerwünschter Zustand ist. 78 Dieser Tendenz liegt eine Maxime der semantischen Relevanz formaler Differenzierung zugrunde: Wenn zwei Ausdrücke formal unterschiedlich sind, wird vermutet, dass sie auch inhaltlich unterschieden sind, selbst wenn sie im Gebrauch 77

78

S. auch BERTHOLD (1938). Ein weiteres, in Wörterbüchern und im SDS nicht dokumentiertes Beispiel: Die sonst in der Schweiz als »Serwela« (›Cervelat‹) bekannte mittelgroße Brühwurst wird in Basel »Chlöpfer« (bzw. |Glepfer|) genannt. In AG-Fricktal werden beide Wörter verwendet, aber semantisch differenziert zur Unterscheidung ähnlicher Brühwürste.– Oft scheinen derartige Differenzierungen eher individuell zu sein, wenn auch durch lexikalische Felder beeinflusst. Diesen Eindruck erwecken beispielsweise die individuellen Angaben von Gewährspersonen zur Bedeutungsdifferenzierung zwischen »sprütze« und »bschütte« in SDS VI 218, beispielsweise BE 44, ZG 3: »bschütte« „ohne Brause“, »sprütze« „mit Brause“ (»sprütze« ist das neu eindringende Wort, mit Gießkanne statt Eimer begießen die neuere Art). ULLMANN (1963, 108).

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semantisch und denotativ nahe verwandt erscheinen, denn formale Unterschiedlichkeit muss auch funktional relevant sein. Onomasiologisch wirkt sich Bedeutungsdifferenzierung in der Regel in zusätzlichen Differenzierungen der Bezeichnungsmöglichkeiten in einem Sachfeld aus, entsprechend einer konzeptuellen Innovation. •

»Sässel« für ‘Stuhl mit geflochtener Sitzfläche’ (SDS VII 178) Im Mittelhochdeutschen existieren als Bezeichnungen für das Sitzmöbel für eine einzelne Person nebeneinander u. a. stuol und sezzel, wobei wohl sezzel ein vornehmeres Sitzmöbel bezeichnete. Mit der Veränderung der Sitzmöbel entstanden unterschiedliche neue Abgrenzungen von ›Stuhl‹ und ›Sessel‹, offenbar zuweilen auch mit Zusammenfall der Bedeutungen. Durch Monosemierung wurde teilweise ›Sessel‹ zur allgemeinen Bezeichnung des einsitzigen Sitzmöbels, so im Österreichischen wie auch in weiten Bereichen des Schweizerdeutschen.79 In der Schweiz bleibt jedoch an vielen Orten die Unterscheidung von »Stuel« und »Sässel« unscharf. An verschiedenen Orten wird ferner zu »Sässel« angegeben, dass (entgegen der üblichen Differenzierung) das Wort ein einfacheres Sitzmöbel mit geflochtener Sitzfläche, wohl mit Bugrohrkonstruktion bezeichne (BA 19 »Strausässel« ›Strohsessel‹, BA 20 »Roorsässel« ›Rohrsessel‹, ZH 37III, 40, 44, BE 73, 84V, GL 5, GR 5, 18 ‘Stuhl mit geflochtener Sitzfläche’). Die Synonymie ist also zugunsten einer inhaltlichen Differenzierung aufgelöst worden. Möglicherweise steht im Hintergrund der Umstand, dass im Fachhandel der Bugrohrstuhl mit geflochtener Sitzfläche als „Wiener Sessel“ bezeichnet wird (im Einklang mit der österreichischen Verwendung von ›Sessel‹ für ‘Stuhl’). In der konkreten Verwendung dürfte dieser fachsprachliche Hintergrund keine Rolle (mehr) spielen und die semantische Differenzierung sich aufgrund des lexikalischen Unterschiedes halten. 2.3.5.2 Innovationen zum Ausgleich von Bedeutungswandel

Wortersatz über Bedeutungswandel oder Monosemierung kann eine Bezeichnungslücke oder Ambiguitäten verursachen: Für das ursprüngliche Denotat des betreffenden Lexem ist durch dessen Bedeutungswandel keine Bezeichnung mehr vorhanden oder das betreffende Lexem erhält durch den Bedeutungswandel zwei unterschiedliche Bedeutungen, ebenfalls ein unerwünschter Zustand. In beiden Fällen kann das Problem durch die Bildung von Neubezeichnungen gelöst werden.80

79 80

Für das Österreichische s. Variantenwörterbuch 672 s. v. Sessel, für das Schweizerdeutsche SDS VII 178. Ein binnendeutsches Beispiel führt HILDEBRANDT (1963, 357) an: Danach führt die Bedeutungsverengung von Kachel ‘irdener Topf’ zu ‘Nachtgeschirr’ dazu, dass die leergewordene Stelle ‘irdener Topf’ durch ein anderes Wort gefüllt werden muss.

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„Getreide“ (SDS VIII 192, 193, KSDS 160) (Karte 25, S. 152) Ein Musterfall für den Ersatz von Bezeichnungslücken, die durch Bedeutungsveränderungen entstanden sind, ergibt sich bei der Einengung der Bedeutung von »Chorn« ›Korn‹ von ‘Getreide’ auf eine einzelne, lokal dominierende Getreidesorte wie Dinkel, Roggen oder Gerste (s. SDS VIII 192, 193). Die Einengung kann dazu führen, dass nunmehr kein eindeutiger Ausdruck mehr für den Kollektivbegriff ‘Getreide’ existiert. Im Schweizerdeutschen des Mittellandes hat sich wie in den angrenzenden südwestdeutschen Gebieten in den mittelländischen Dialekten zur Bezeichnung des Begriffs ‘Getreide’ der Ausdruck »Frucht« durchgesetzt (wohl über Diffusion aus dem Norden, s. KÖNIG 2011, 202). Im Berndeutschen ist stattdessen die Neubezeichnung »Gwächs« ›Gewächs‹ eingeführt worden.81 2.3.5.3 Umschichtungen in einem Konzeptfeld

Bedeutungswandel kann weiterreichende Umschichtungen in einem Konzeptfeld zur Folge haben. Zur Differenzierung innerhalb eines Konzeptfeldes kann beispielsweise ein neues hyponymisches Wort eingeführt werden, was u. U. zu parallelem Bedeutungswandel eines anderen Wortes führen kann. Die Entwicklung kann darin bestehen, dass der bisherige Oberbegriff polysemisch mit einem der bisherigen Lexeme bezeichnet wird oder dass er durch Wortersatz eine neue Bezeichnung erhält. In komplexeren Situationen können ganze Konzeptfelder durch mehrere onomasiologische Transformationen mit konzeptueller Innovation, Wortersatz in unterschiedliche Richtung usw. neu organisiert werden. Ein verhältnismäßig einfacher Fall ist die Umschichtung im Konzeptfeld SCHICHT AUF MILCH: •

Konzeptfeld SCHICHT AUF MILCH: „Rahm auf roher Milch“ (SDS V 161) – „Schicht auf gekochter Milch“ (SDS V 162); (Kombinationskarte SDS V 163)82 Auf stehender Milch können sich auf der Oberfläche unterschiedliche Arten von Schichten absetzen. Bei roher Milch sammelt sich zuoberst das Milchfett, das Ausgangssubstanz für die wertvollen Substanzen Speiserahm und Butter ist und auch rein genossen schmackhaft ist. Die Haut auf gekochter Milch, eine Schicht geronnenes Kasein, ist von anderer Konsistenz als die Schicht aus Milchfett auf der rohen Milch. Kasein hat keinen Nährwert oder Geschmackswert und löst bei vielen Menschen Widerwillen aus. In der älteren Sprache wurde diese Unterscheidung nicht gemacht oder hatte die Haut auf gekochter Milch keine besondere Bezeichnung. In einigen

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Kein praktisches Bezeichnungsproblem ergibt sich in Gegenden, in denen nur eine Sorte Getreide angebaut wurde, wie etwa im Wallis, in dem nur Roggen angebaut wurde, oder in den alpinen Bündner Tälern, in denen Gerste das einzige angebaute Getreide ist. – Vgl. auch HÖING (1958) zur Schließung der Lücke ‘Getreide’ durch ›Getreide‹ nach der Einengung von ›Korn‹ auf ‘Roggen’. S. auch Abschnitt 3.5.3.1.

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Bezeichnungswandel: Systematische Aspekte

Regionen wurden in einer späteren Entwicklungsstufe für die Haut auf der gekochten Milch neue Bezeichnungen eingeführt; es wird also eine neue konzeptuelle Differenzierung geschaffen. Dass diese Bezeichnungen für die Haut auf der gekochten Milch nachträgliche Neuerungen sind, zeigt sich an deren Bildung. Es sind Bedeutungsübertragungen aus anderen Bereichen oder transparente Neubildungen mit metaphorischem oder metonymischem Gehalt, beispielsweise Bezeichnungen aufgrund der konkreten Erscheinung wie »Huut« ›Haut‹, »Pelz« und »Fäum/Fäim« zu mhd. feim ‘obenauf befindliche Schaumschicht’. Mit der Einführung spezieller Bezeichnungen für die Schicht auf der gekochten Milch verändert sich auch die Bedeutung der ursprünglichen undifferenzierten Bezeichnungen (»Niidel/Niidle« oder »Roum/Ruum/Ruun«), die eingeschränkt wird auf ‘Rahmschicht auf roher Milch’.

3 BEZEICHNUNGSWANDEL UND AREALE DIVERSITÄT 3.1 EINLEITUNG Areale Diversität ist, so die Voraussetzung, das Resultat von Sprachwandel. Daraus leitet sich die Aufgabe ab, konkrete Erscheinungen der arealen Diversität aus lokalem Bezeichnungswandel im Raum zu erklären. So unterschiedlich die Formen des Bezeichnungswandels als systematisches Phänomen sind, so unterschiedlich können die diachronen Prozesse sein, die zu arealer Diversität führen. 3.1.1 Innovation im Raum Wenn Sprechergemeinschaften und Varietäten sich im geografischen Raum konstituieren – und das ist in der traditionellen Sprachwelt der Alltagssprache in der Deutschschweiz generell der Fall –, dann ist Bezeichnungswandel im Ursprung meist lokaler Bezeichnungswandel. Er beginnt örtlich begrenzt und wird örtlich begrenzt zur Konvention. Als solcher ist er immer auch ein räumliches Ereignis. Er findet in einem Teilraum innerhalb eines größeren Raumes statt. Lokaler Sprachwandel schafft so eine Divergenz zu benachbarten Räumen und, bezogen auf den größeren Raum, Heteronymie und areale Diversität. 3.1.2 Variabilität in Innovationen und Diversität Innerhalb eines einzelnen Onomems finden oft mehrere Innovationen an verschiedenen Orten statt, gleichzeitig oder zeitlich gestaffelt. Da Innovation inhärent mit Variabilität verbunden ist (s. Abschnitt 2.2) und die Konkretisierung einer Innovation nicht vorherbestimmt ist, resultieren in diesem Fall bei lokal voneinander unabhängigen Innovationen potenziell unterschiedliche konkrete Bezeichnungen für ein bestimmtes Konzept. Mit derartigen mehrfachen lokalen Innovationen potenziert sich die Diversität. 3.1.3 Diffusion Eine erfolgreiche Innovation bleibt meist nicht auf eine einzelne Sprechergemeinschaft beschränkt, sondern wird von weiteren Sprechergemeinschaften in anderen Räumen übernommen: Die Innovation breitet sich im Raum durch Diffusion aus. Wie, warum und auf welchen Wegen eine Sprachform sich räumlich ausbreitet, ist eine komplexe Fragestellung, die hier nicht vertieft werden kann. Sie ist

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

auch kein maßgebendes Element für die Analyse von Diversität an sich. Relevant ist sie vor allem für räumliche Verteilung von Diversität. Die Entstehung von Varianten und ihre lexikalischen Differenzen an sich sind jedoch Sachverhalte, die unabhängig von Diffusionsprozessen zu beschreiben sind. Anlässe, Bedingungen und Verlauf von Diffusion berühren Fragestellungen auf anderen, vor allem soziolinguistischen Ebenen: Welche Kontakte und soziologischen Netzwerke existieren, welche Sprecher und Sprechergruppen haben welches Prestige, welche Übernahmebereitschaft für auswärtige Formen hat eine bestimmte Sprechergemeinschaft aufgrund ihrer politischen und gesellschaftlichen Einstellungen zur Umgebung?1 All diese Einflussfaktoren sind von konkreten soziologischen und geografischen Voraussetzungen bestimmt; einzelne Beschreibungsmodelle können nicht unbesehen verallgemeinert und auf andere Sprechergemeinschaften übertragen werden. Im Rahmen des historischen Schweizerdeutschen ist vorauszusetzen, dass Diffusion kontinuierlich über den Kontakt zwischen räumlich direkt benachbarten Sprechergruppen erfolgt, entsprechend dem ‚Strahlungsmodell‘. Physische Hindernisse wie Berge oder schlechte Verkehrsverbindungen und politisch-kulturelle Hindernisse wie politische, wirtschaftliche und konfessionelle Grenzen können die distanzmäßige Nachbarschaft relativieren bzw. gesellschaftliche und kommunikative Distanzen relativ größer machen. Gleichwohl bleibt die horizontale Ausbreitung über direkte geografische Nachbarschaft der dominierende Diffusionsmechanismus. Vertikale Einflüsse des Standarddeutschen sind zwar ebenfalls ein Diffusionsphänomen, das aber meist nicht oder nur vorübergehend in arealer Diversität resultiert. Auch für das sog. „urban hierarchy/cascade model“, die sprungweise Ausbreitung von Oberzentren zu Unterzentren (BRITAIN 2012, 2035), sind die Bedingungen in der politisch und geografisch fragmentierten Eidgenossenschaft wenigstens bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig günstig.2 Diffusion als räumliche Ausweitung eines Sprachgebrauchs bezieht mehrere räumlich umrissene Sprechergemeinschaften ein. Dies ist die Perspektive eines externen Sprachbeobachters, der außerhalb der verschiedenen Sprechergemeinschaften steht. Aus der Perspektive einer einzelnen lokalen Sprechergemeinschaft erscheint Diffusion als lokale Innovation auf der Ebene von Sprachkonventionen. Wenn die Übernahme des Sprachgebrauchs einer benachbarten Sprechergemein1

2

Einzelne Teilaspekte werden in Kap. 5 und Kap. 6 angesprochen. Für detaillierte Diskussionen der Bedingungen und Erklärungsmodelle von Diffusion s. BRITAIN (2010; 2012; 2013). S. auch das Konzept der Synchronisierung bei SCHMIDT / HERRGEN (2011, Abschnitt 2.1.3), wo allerdings die Dimension der Räumlichkeit ausgeblendet bleibt. Unter dem Einfluss von physisch-geografischen, politischen, konfessionellen und verkehrsmäßigen Faktoren der Nähe und Distanz wiederholen sich ähnliche Diffusionsvorgänge in allen Sprachdimensionen, was wiederum zu bestimmten dialektalen Raumstrukturen führt. Auch dies ist eine Fragestellung auf einer anderen Ebene, die nicht direkt zum Thema dieser Arbeit gehört. Zudem entspricht die Diffusion lexikalischer Innovation weit weniger regelmäßig den sonstigen Raumstrukturen als jene von systemhafteren Aspekten wie Phonologie und Morphologie. Räumliche Strukturerscheinungen bleiben aus all diesen Gründen in der Folge ausgeklammert, außer sie tragen zur Interpretation der diachronen Hintergründe der Diversität bei. S. auch die Bemerkungen in Abschnitt 1.1. – Grundlegend zur Ausbildung von Raumstrukturen im Schweizerdeutschen ist HOTZENKÖCHERLE (1984).

Einleitung

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schaft nicht eine lokale Innovation im eigentlichen Sinne wäre, könnte das Resultat der Diffusion nicht zum nachhaltig etablierten Element des Sprachsystems der übernehmenden Sprechergemeinschaft werden. Der Unterschied zur endogenen Innovation innerhalb einer Sprechergemeinschaft besteht darin, dass bei der Diffusion als exogener Innovation eine Sprechergemeinschaft sich nicht mit Alternativen innerhalb ihrer selbst auseinanderzusetzen hat, sondern mit Konventionen einer anderen Sprechergemeinschaft. Diffusionsprozesse sind in der Regel von Phasen der Varianz begleitet, vergleichbar der Varianz bei lexikalischer Innovation. Dies führt oft zu areal ausgebreiteten Zonen der Varianz (s. Abschnitt 3.7). Wo scharfe Grenzen zwischen zwei Heteronymen bestehen, muss davon ausgegangen werden, dass hier die Diffusion wenigstens im gegenwärtigen Zeitraum an ein Ende gekommen ist, sei es wegen geografischer Hindernisse, sei es, weil eine Variante einer benachbarten Varietät für die eigene sprachliche Identität keinen Mehrwert darstellt oder sogar verpönt ist. 3.1.4 Staffelungen und Schichtungen Innovationen können im Zeitverlauf immer wieder neu stattfinden und durch Diffusion verbreitet werden. Bezeichnungswandel erfolgt über längere Zeiträume oft vielfach gestaffelt. Das Ergebnis von gestaffelten Veränderungen erscheint synchron gesehen als Nebeneinander von Heteronymen. Im Lichte der Diachronie gehören die verschiedenen Heteronyme historisch unterschiedlichen Entwicklungsschichten an. 3.1.5 Zur diachronen Interpretation von Wortschatzkarten Synchrone Heteronymie und areale Diversität als Reflexe von Innovation und Diffusion zu verstehen, heißt u. a., diese synchrone Variation auf zeitlich zurückliegende Innovationen und deren Diffusion zurückzuführen. Der in einer Wortschatzkarte repräsentierte synchrone Zustand stellt eine Art Filter beim Blick in die Vergangenheit dar. Er ist nur ein einzelner synchroner Schnitt innerhalb einer langen Geschichte von Veränderungen, aber der einzige, der direkt zugänglich ist. Alle je aufgetauchten und wieder verschwundenen Varianten zu einem Onomem zu rekonstruieren und zu ordnen, also eine vollständige Darstellung der gesamten Geschichte eines Onomems zu geben, ist in den meisten Fällen unmöglich. In der synchronen Heteronymie zeigen sich die diachronen Veränderungen und Schichtungen nicht direkt. Das beschränkt die Beantwortbarkeit der Frage, wie ein konkreter synchroner Zustand zustande gekommen ist. Veränderungen sind allenfalls dann rekonstruierbar, wenn eine Variante von den Sprachbenutzern selbst in „apparent time“als ‚veraltet‘ oder ‚neuer‘ qualifiziert wird (s. dazu Abschnitt 3.7.1.3).

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

Die Rückführung synchroner Gegebenheiten auf Ereignisse in der Diachronie bedarf aber im Allgemeinen des Einbezugs zusätzlicher Daten.3 a. Historische Daten Rückschlüsse auf diachrone Schichtungen lassen sich aus historischen Daten ziehen. Historische Belege können als termini post quem für den Gebrauch eines Wortes gelten. Zeitlich unterschiedlich belegte Heteronyme können so unterschiedlichen Zeitepochen entstammen. Das Heteronym »Hane« ‘Hahn’ ist schon althochdeutsch in dieser Bedeutung als hano gut belegt, das Heteronym »Güggel« dagegen erst später, somit eine jüngere Innovation. Da es oft zufällig ist, wieweit ein Lexem historisch zuverlässig belegt ist, und auch der Schluss aus dem terminus post quem oft die tatsächlichen zeitlichen Verhältnisse offenlässt, ergeben sich aus diesen Interpretationskriterien vielfach keine eindeutigen Resultate. In der Praxis ebenso wichtig ist die Beobachtung, dass eine historisch belegte Wortform seine Bedeutung geändert hat, also seine heutige Verwendung das Resultat einer Innovation ist. Das lässt die Verwendung von /Kopf/ für ‘Kopf’ (mhd. ‘Trinkgefäß’) als Neuerung gegenüber dem Heteronym /Haupt/ ‘Kopf’ interpretieren. b. Lexikalische Strukturen und Bildungsmuster In morphologischen Bildungsstrukturen und semantischen Beziehungen lassen sich Ausgangsformen von abgeleiteten Formen unterscheiden. Eine abgeleitete Form muss das Resultat einer Innovation und im Verhältnis zur Ausgangsform später entstanden sein. Isolierte Lexeme, die im Sprachsystem als indigene Grundwörter erscheinen, oder Lexeme, die Basis von Ableitungen sind, sind diachron wahrscheinlich ebenfalls älter sein als synchron motivierte Ableitungen. Das Lexem »Challe« ‘Glockenschwengel’ ist im Schweizerdeutschen ein isoliertes Wort, Heteronyme wie »Plämpel« oder »Schwängel« können als Ableitungen an entsprechende Verben angeschlossen werden und sind zudem Wörter, die polysem auch andere, ähnliche Gegenstände bezeichnen können (s. SDS V 43 „Glockenschwengel“, Karte 15, S. 120). Sie sind gegenüber der isolierten Form als spätere Innovationen zu deuten. Heute als isoliert erscheinende Formen sind zwar oft ursprünglich ebenfalls Ableitungen, bei denen aber die strukturellen Zusammenhänge durch spätere lautliche und formale Entwicklungen verdunkelt worden sind. Eine solche Verdunkelung kann ebenfalls Indiz für ein höheres Alter sein, da die entsprechenden Prozesse ihrerseits Zeit benötigen. Aufschlussreich für die Entwicklung sind u. a. auch Hybridbildungen, die aus der Kombination zweier verschiedener Wortformen entstanden sind. Hybridbildungen müssen aufgrund dieser formalen Beziehungen als spätere Innovationen gegenüber den Ausgangsformen gelten. Ein Beispiel ist die Form »Glumpe« ‘Pfütze’ in LU, die als Hybridbildung aus den benachbarten For-

3

Zu den Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit von Wortschatzkarten s. auch Abschnitt 3.6.

Einleitung

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men »Gumpe« und »Glunte« zu interpretieren ist (SDS VI 40, KSDS 188, Karte 23, S. 148) c. Raumstrukturen Aus der räumlichen Verteilung von Heteronymen kann auf Innovations- und Diffusionsprozesse geschlossen werden. Bekanntlich deuten bestimmte räumliche Konstellationen auf bestimmte dynamische Entwicklungen. Grundlage dazu sind gewisse Voraussetzungen über die Lokalisierung von Innovationen und die Ausbreitungsformen von Innovationen. Nach dem hier als dominant vorausgesetzten Strahlungsmodell müssen gleiche Formen durch Diffusion aus einem gemeinsamen Innovationsort verbreitet worden sein. Horizontale Diffusion impliziert räumliche Nachbarschaft. Wenn eine Form in geografisch nicht zusammenhängenden Gebieten anzutreffen ist, muss nach dieser Voraussetzung eine ursprünglich zusammenhängende Region durch eine nachträgliche lokale Innovation aufgespalten worden sein. Diese Innovation muss also neuer sein als die verstreuten identischen Formen. Ein Beispiel ist Bezeichnung »Chorn« ›Korn‹ mit der Bedeutung ‘Getreide’: Diese Verwendung ist im inneralpinen Raum in isolierten Talschaften gebräuchlich; dazwischen sind andere Heteronyme verbreitet, die ebenfalls für das Mittelland gelten (SDS VIII 192, KSDS 160, Karte 25, S. 152). Diese Situation ist so zu interpretieren, dass »Chorn« ‘Getreide’ eine ältere Form darstellt, die durch neuere Heteronyme wie »Gwächs« und »Frucht« durch Diffusion verdrängt worden ist. Die Interpretation derartiger Situationen hängt im Einzelfall freilich auch von der Kenntnis der allgemeinen geografischen und historischen Rahmenbedingungen ab: Welches sind im Hinblick auf die physische und wirtschaftlichkulturelle Geografie mögliche und wahrscheinliche Zentren von Innovation und Ausbreitungsrichtungen der Diffusion? Die Interpretation des Einzelfalls kann dabei gestützt werden durch die Wiederkehr ähnlicher Raumstrukturen unter ähnlichen Bedingungen. Im Schweizerdeutschen sind gewisse Regionen des alpinen Raums bekanntlich Reliktgebiete älterer Formen und entsprechend sind offenere nördlichere Regionen Strahlungszentren von Innovationen. Dies gilt allerdings nicht generell. Gerade im Bereich der Lexik finden sich immer wieder räumlich abgelegene Regionen im alpinen Raum mit eigenständigen innovativen Sprachgebräuchen. Dass diese Innovationen sind, ist u. a. aus ihrer lexikalischen Struktur zu erschließen. So muss etwa das abgeschlossene Gebiet des Heteronyms »Gschlaargg« ‘Konfitüre’ im östlichen Berner Oberland (SDS V 191), sonst eher ein Reliktgebiet, v. a. aus lexikalischen Gründen als Resultat einer eigenen Innovation gedeutet werden (s. Karte 10, S. 111). Für eine diachrone Interpretation von Wortschatzkarten müssen die verschiedenen Entscheidungskriterien kombiniert angewendet werden. Auch so erlauben die zugänglichen Daten oft keine eindeutige Entscheidung. Der Ursprungsort einer lexikalischen Innovation ist meist kaum direkt zu lokalisieren. Dies gilt auch dann, wenn mehr oder weniger zufällig in älteren historischen Quellen der älteste und

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

ältere Gebrauch eines Wortes dokumentiert oder daraus rekonstruierbar ist. Selbst wenn ein Wort für ältere Epochen belegt ist, ist damit noch wenig darüber gesagt, ob nicht schon zu jener Zeit bereits andere, schriftlich nicht belegte Synonyme bestanden und ob es in mündlicher Alltagssprache bestimmte geografische Verteilungen gab. Geografische Informationen vor allem kleinräumigerer Art sind aus älteren schriftlichen Quellen kaum je rekonstruierbar. Zudem haben sich die Wortbedeutungen der entsprechenden Lexeme im Laufe der Zeit oft auf eine Weise verändert, die im Einzelnen nicht eindeutig nachvollziehbar und erklärbar ist. Ferner verändern Diffusionsvorgänge dauernd die Zahl und die räumliche Verteilung von Heteronymen. Jede lokale Innovation kann durch Diffusion zu einem regional allgemein gültigen Sprachgebrauch werden, der dann wieder durch erneute Innovation diversifiziert werden kann. Eine einmal als Innovation eingeführte Konvention kann durch Eindringen einer neuerlichen Innovation zu einer älteren Form werden und schließlich verschwinden. Für die Form ›Grundbirne‹ als Bezeichnung für die Kartoffel gibt Id. 4, 1501 Belege für Gegenden wie BALandschaft, BE-Oberland, ZG, GL, SG und GR-Prättigau, Gegenden, in denen heute nach SDS VI 202 davon keine Spuren mehr zu finden sind. Es kommt umgekehrt auch vor, dass ältere, verdrängte Formen unter veränderten Bedingungen sich wieder neu ausbreiten. Der Ausdruck pfetzen ‘kneifen’ beispielsweise ist im Schweizerdeutsche für das 16. Jahrhundert gut belegt (vgl. Id. 3, 1206), kommt in Karte SDS IV 92 jedoch nur für ein Randgebiet im Nordwesten vor. Er ist offensichtlich im Laufe der Jahrhunderte im Schweizerdeutschen durch andere Ausdrücke verdrängt worden. Neu dringt das Wort aus dem Oberrhein-Gebiet wieder in die Nordwestschweiz ein. Historische Belege sind also nicht unbesehen als Zeugnisse von Kontinuität zu interpretieren. 3.2 GRUNDFORMEN DER ENTSTEHUNG AREALER DIVERSITÄT Die Entstehung von lexikalischer arealer Diversität kann im Prinzip auf einige wenige Grundformen des Bezeichnungswandels zurückgeführt werden. Diese Grundformen entsprechen den elementaren strukturellen Typen von Bezeichnungswandel, nämlich Wortersatz, Wortschatzerweiterung aufgrund von konzeptueller Innovation oder Sachinnovation und Monosemierung. Die Rolle des Bezeichnungswandels in der Wortschatzstruktur prägt wesentlich die Art und Weise, wie Innovationen eingeführt werden und wie sich die Diversität entwickelt. Die verschiedenen lexikalischen Verfahren zur Bildung von Innovationen sind lediglich Instrumente und somit sekundäre Aspekte bei der Veränderung des Wortschatzes durch Innovationen. Komplexe Formen von arealer Diversität lassen sich in der Regel als Resultat von vielschichtigen Veränderungen über mehrere Etappen verstehen.

Grundformen der Entstehung arealer Diversität

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3.2.1 Wortersatz Areale Diversität kann durch Innovation in der Form von Wortersatz entstehen. Wenn lokal ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt wird und der Wortersatz sich anschließend durch Diffusion ausbreitet, entsteht Heteronymie zwischen zwei Regionen. Diese Heteronymie impliziert gleichzeitig eine diachrone Schichtung: In der einen gilt weiterhin der alte Ausdruck, in der anderen gilt die Innovation. •

„annähen (Knopf)“ (SDS VII 77) (Karte 1) Das einfache Muster mit einer einfachen Zweiteilung durch Wortersatz ist im arealen Gegensatz zwischen »nääije« und »büeze« für ‘nähen’ repräsentiert. Mit der Bedeutungsausweitung von »büeze« ‘flicken’ zu ‘nähen’ in »aabüeze« ‘annähen’, im Gegensatz zu einem ursprünglicheren »aanääje« ›annähen‹, entstehen zwei Regionen mit unterschiedlichem Sprachgebrauch.



Karte 1: „annähen (Knopf)“ (SDS VII 77)

Wortersatz kann sich innerhalb desselben Onomems wiederholen. Wiederholungen von Wortersatz innerhalb der bestehenden Teilräume vermehren die Differenzen, soweit sie nicht durch Diffusion einzelner Heteronyme ausgeglichen und die Menge der Heteronyme reduziert wird. Sie resultieren in komplexen historischen Schichtungen der Heteronymie. Je öfter der Wortschatz durch Wortersatz differenziert wird, desto komplexer werden potenziell die Verhältnisse.

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

Relativ durchsichtig sind Fälle, in denen die verschiedenen Heteronyme als Fortsetzungen einzelner früherer Innovationen identifiziert werden können. Im günstigen Fall können die Heteronyme mehreren übereinander gelagerten und in der Entwicklung sich verzweigenden Innovationsschichten zugeordnet werden. •

„Schmetterling“ (SDS VI 237/238, KSDS 170) (Karte 2) Als Ausgangsform für die ältesten Bezeichnungen für ’Schmetterling’ ist fifaltra f. anzusetzen. Dafür spricht etwa die ae. Parallele fifealde. Schon für das Althochdeutsche sind aber Nebenformen wie pifoltra oder zwifaltra belegt, zweifellos assoziative Abwandlungen zu fifaltra. Beide Formen finden im Schweizerdeutschen in »Fifolter(e)« und »Zwifolter(e)« direkte Fortsetzungen. Dazu wurden weitere assoziative Abwandlungen gebildet: »Pipolter«, »Pfipfolter(e)«, »Pfifoltere«, »Pfifholter«, »Flüüg-/Fliggholtere«, »Zwifoltere«. Andernorts wurde der Typ ›Fifalter‹ durch Wortersatz mit lexikalischen Innovationen ersetzt. Im Mittelland erfolgte dies durch die Wortbildung »Summervogel«, in einem eng begrenzten Gebiet durch »Toggeli« zu »Toggel« ‘(unförmige)Strohpuppe’, wohl verallgemeinert aus der Bezeichnung für die Puppe des Schmetterlings. Auch »Summervogel« erfährt Abwandlungen, wahrscheinlich auch hier über Zwischenstufen. Eine primär lautlich motivierte, aber sekundär auch inhaltlich nachvollziehbare Abwandlung ist »Sunnevogel« ›Sonnenvogel‹. Weitere Bezeichnungen wie »Müllervogel« und »Määlvogel« ›Mehlvogel‹ sind vermutlich ursprünglich Benennungen besonderer Falter, entweder weiße Schmetterlinge wie Kohlweißlinge oder dann Nachtfalter mit dem bestaubten Aussehen von deren Flügeln. Beide Bezeichnungen setzen aber eine allgemeine innovative Bildung mit ›-vogel‹, wohl »Summervogel« voraus. An vielen Orten ist schließlich neben diesen einheimischen Bezeichnungen auch »Schmätterling« ›Schmetterling‹ als Entlehnung aus dem Standarddeutschen eingedrungen. In diachroner Sicht zeigt die Karte „Schmetterling“ somit mehrere Schichten, die wieder untereinander geschichtet sind: einerseits einen Bereich ›Fifalter‹ mit einer Schichtung von älteren und neueren assoziativen Abwandlungen, andererseits einen Bereich mit dem Ersatz durch die Innovation ›Sommervogel‹, der seinerseits wieder überlagert wird durch nachträgliche Innovationen. Zuletzt und bis heute breitet sich über Entlehnung punktuell gestreut als weitere lexikalische Schicht ›Schmetterling‹ aus. Schematische Darstellung der Schichtung 1 Fifalter → 1.a Fifolter(e) 1.b Zwifalter(e) 1.c Flüüg-/Fliggholtere 1.d Pipolter, Pfipfolter(e), Pfifoltere 2.1 Toggeli 2.2 Summervogel → 2.2.a Sunnevogel, Müllervogel, Määlvogel

Grundformen der Entstehung arealer Diversität

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Karte 2: „Schmetterling“ (SDS VI 237/238)



„Schluckauf“ (SDS IV 71 KSDS 82) (Karte 3) Nach Ausweis der historischen Quellen ist im Mittelhochdeutschen die verbreitete Bezeichnung für den Schluckauf das Verb hëschen. Bereits in althochdeutschen Glossen ist die Ableitung heskezzen als Glossierung zu ‘oscitare’ (‘gähnen’) und ‘singultus’ (‘Schluckauf’) zu finden. Das Verb hëschen findet im Schweizerdeutschen seine direkte Fortsetzung in den Nomen »Hescher/Heschi/Hösch(er)«, die somit als Repräsentanten der ältesten lexikalischen Schicht anzusprechen sind. Diese Ausdrücke sind heute überwiegend in getrennten Randregionen gebräuchlich, ein Symptom für eine Reliktsituation. Diese alte Schicht ist in zentraleren Gebieten durch vielfältige Innovationen überlagert worden. Einmal finden sich im einzelnen teilweise schwer erklärbare lautlich-assoziative Abwandlungen zu »Hescher/Heschi« wie »Jescher«, »Nöscher« oder »Herschi«; allenfalls »Hötscher« lässt sich als Intensivierung (oder Hybridbildung) von »Höscher» mit Assoziation an »hotze« ‘aufspringen’ interpretieren. Daneben überwiegen onomatopoetische Neubildungen aus den (Verb-?)Stämmen »higg-« und »glugg-«, zunächst mit den Nomen »Higger«/»Higgi« und »Glugger/»Gluggi«. Wohl durch Anfügen des im Mittelhochdeutschen produktiven Intensivierungsmorphems -etzen wurden daraus die Formen »Higgser/»Higgsi« und »Glugger«/»Gluggsi« weiterentwickelt. Aus »Higgser«/»Higgsi« entstand ferner durch Metathese »Hitzger/»Hitzgi«.

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

Die Heteronymie zu „Schluckauf“ ist so durch eine mehrfache Überlagerung und Verzweigung von Innovationen charakterisiert. Schematische Darstellung der Schichtung 1 Hescher/Höscher ⟶ 1.a Jescher, Nöscher, Herschi, Hötscher 2.1 Higger/Higgi ⟶ 2.1.a Higgser/Higgsi ⟶ 2.1.a.a Hitzger/Hitzgi 2.2 Glugger/Gluggi ⟶ 2.2.a Gluggser/Gluggsi

Karte 3: „Schluckauf“ (SDS IV 71)





„Zuchtstier“ (SDS VIII 3, KSDS 18) (Karte 4) Als Bezeichnungen des Zuchtstiers finden wir mit »Stier« und »Pfarr« Lexeme vor, die schon für das Althochdeutsche belegt sind (ahd. far, nhd. Farr(e), ahd. stior). Im Althochdeutschen scheint far der geläufigere Ausdruck gewesen zu sein; seit dem Mittelhochdeutschen hat der Ausdruck aber gegenüber stier an Verwendungshäufigkeit eingebüßt. Die historischen Belege lassen vermuten, dass ursprünglich far der Oberbegriff war und stior spe-

Grundformen der Entstehung arealer Diversität

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ziell das junge männliche Rind bezeichnete. 4 Die Bedeutungen haben sich aber offenbar schon im Mittelhochdeutschen angenähert.

Karte 4: „Zuchtstier“ (SDS VIII 3)

Das regional unterschiedliche Überleben von »Stier« und »Pfarr« dürfte so das Ergebnis einer Monosemierung der zu Synonymen gewordenen alten Bezeichnungen sein. Diese Schicht von alten Bezeichnungen wurde jedoch von Neuerungen überdeckt. Schon mittelhochdeutsch belegt ist hagen, von dem sich »Hage« mit Varianten wie »Hägi«, »Hagi« herleiten, mit einer unklaren Beziehung zu Hegel ‘Messer’, was eine Bedeutung wie ‘stossen’ oder ‘stechen’ assoziieren könnte. Das Wort ist anscheinend schwäbischen Ursprungs, also keine lokale Neuerung, sondern über Diffusion in das nördliche Schweizerdeutsche eingedrungen. 5 Heute im Vordergrund steht die Bezeichnung »Muni«, wie »Murrli« wohl eine Ableitung von einem Verb mit der Bedeutung ‘dumpf brüllen’. Weniger häufig kommt daneben »Muchel« vor, vermutlich eine Ableitung von »muuche«, ursprünglich ‘im Hinterhalt lauern’, woraus sich eine Bedeutung ‘in geduckter Stellung heimtückisch dastehen’ entwickelte. An einzelnen Orten wird als Bezeichnung »Böckel« angegeben, eine 4

5

Gemäß KÖBLER, Ahd. WB ist far im Althochdeutschen in einer Mehrzahl von auch größeren Denkmälern belegt, stior dagegen nur in Glossen. Nach AhdWb glossiert far überwiegend lat. taurus, während stior nach KÖBLER, Ahd. WB daneben auch Glosse zu lat. iuvencus und vitulus ist. Zur ursprünglichen. Differenzierung von far und stior s. auch DWB 18, 2845. S. KLAUSMANN (2004, 238, Karte S. 246).

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

-el-Ableitung zu ›Bock‹; diese Bezeichnung stellt aber wohl keine spezifische Bezeichnung für den Zuchtstier dar, sondern ist die auch sonst geläufige analytische Bezeichnung für das männliche Tier einer Gattung (s. dazu Abschnitt 6.4). Das Bezeichnungsmotiv bei »Bautschi« als Ableitung zu Verben des Stoßens oder Stechens (»bautsche« ‘stoßen’) ist entweder das Stoßen mit Hörnern oder der Geschlechtsverkehr. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass als älteste historische Schicht die Wörter »Pfarr« und »Stier« gelten müssen. »Stier« ist dadurch zum verbreiteten Ausdruck geworden, dass es zunächst regional über Vernachläßigung der semantischen Unterschiede quasi-synonym mit »(P)farr« geworden ist und danach »Pfarr« durch Monosemierung verdängt hat. »Hage« ist im Vergleich dazu offenbar eine spätere, aber ebenfalls noch mittelalterliche Neuerung, die von außen diffundierte. Die neusten Innovationen stellen sprechende Bezeichnungen wie »Muni«, »Murrli«, »Muchel«, »Böckel« oder »Bautschi« dar. Die lokale Varianz und die Einstufung der Ausdrücke durch die Gewährspersonen zeigen, dass »Hage«/»Hagi«/»Hägi« an den betreffenden Orten der ältere Ausdruck ist und Wörter wie »Muni« durch Diffusion später eindringen; daraus lässt sich immerhin für diese Regionen eine zusätzliche zeitliche Abstufung der Innovationen interpolieren. Schematische Darstellung der Schichtung 1 Pfarr 1.1 Stier 2 Hage 3 Muni, Murrli, Muchel, Böckel, Bautschi 3.2.2 Monosemierung von Quasi-Synonymen Monosemierung von Quasi-Synonymen, d. h. das Ausscheiden eines von zwei synonymen Ausdrücken zugunsten eines einzigen (s. Abschnitt 2.3.4) führt zu arealer Diversität, wenn diese Ausscheidung in den einzelnen Regionen unterschiedlich ausfällt. Schon im vorangehenden Abschnitt wurde die räumlich differenzierte Geltung von »Stier« und »Pfarr« ‘Stier’ so interpretiert. •

»Zaun« – »Hag« für ‘Zaun’ (SDS VIII 207, KSDS 186, SSA IV/4.04) Ahd./mhd. zûn und hag wurden, wie in Abschnitt 2.3.4 argumentiert, zu Quasi-Synonymen mit der Bedeutung ‘Einfriedung eines Geländes, v. a. Weidegebietes’. Diese Quasi-Synonymie wurde regional beseitigt, indem zur Bezeichnung der Einfriedung von Weidegebieten einer der beiden verfügbaren Ausdrücke usuell bevorzugt wurde. In den meisten Regionen des Mittellandes und auch in mittleren Gebieten des Alpenraums gilt heute »Haag«. Nach der räumlichen Verteilung zu schließen, die den klassischen Nord-Süd-Gegensatz im Schweizerdeutschen zeigt, scheint diese Bevorzugung und Konventionalisierung von Hag im nördlichen Alemannischen ihren Ursprung genommen zu haben. In den westlichen Gebieten, vor allem des Berner Mittellandes und des

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westlichen Berner Oberlandes gilt überwiegend eine Bedeutungsdifferenzierung zwischen »Zuun« für ‘Zaun’ (aus speziell hergestellten Materialien wie Pflöcken, Brettern usw.) und »Haag« für ‘Hecke (aus Büschen)’; es wurde also die alte Unterscheidung weitergeführt. •

„Biene“ (SDS VIII 105, KSDS 172) In der Nordschweiz und der Ostschweiz entlang des Rheins und des Bodensees gelten als Bezeichnungen der Biene »Imbi/Immi« und diminutivische Varianten, im übrigen Schweizerdeutschen »Bij(l)i/Beij(el)i«. Der geografischen Differenz geht wohl eine ursprüngliche Quasi-Synonymie von »Bii(j)i/Biili/Beiji« und »Imbi/Immi/Immli« im heutigen »Imbi«-Gebiet voraus, die durch einen vorangehenden Bedeutungswandel von ahd. imbi verursacht ist. Ahd. imbi bezeichnete ursprünglich den Bienenschwarm, im Gegensatz zu ahd. bīa als Bezeichnung für das einzelne Insekt. Dadurch, dass mhd. imbe regional zur Bezeichnung der einzelnen Biene wurde, wurden in diesem Gebiet die beiden Wörter quasi-synonym. Im Endergebnis wurde diese QuasiSynonymie durch Verschwinden von »Biiji/Beiji« beseitigt. Diese Verdrängung von »Biiji/Beiji« durch »Imbi« in der Nordschweiz geht wohl ursprünglich auf Einfluss aus dem süddeutschen Raum zurück.



„Lehm“ (SDS VI 74) Seit dem Althochdeutschen existieren die beiden Wörter leim und letto, mhd. lette in der Bedeutung ‘Lehm’ quasi-synonym nebeneinander.6 Im Schweizerdeutschen hat in den meisten Gegenden Monosemierung stattgefunden, indem eines der beiden Lexeme (meist in lautgeschichtlich veränderter Form) allein gebraucht wird, in großen Teilen von BE, SO und LU als »Lätt(e)«, in den übrigen Teilen der Schweiz in Varianten zu »Lei(m)« (z. B. in der Ostschweiz mit Monophthongierung als |Lèè, |Laa|, |Loo|).7



›Brei‹/›Mus‹ (SDS V 193/194) (Karte 5) Neben anderen, wohl über Wortersatz eingeführten Bezeichnungen für gekochte Speisen aus Getreide oder Früchten wie »(Griess/Öpfel-)bappe« zu »Bappe« im Nordwesten oder »Choch« zu »choche« ›kochen‹ im Wallis oder »Zonne« in Appenzell dominieren als Bezeichnungen für Grießbrei und Apfelmus hauptsächlich Komposita mit »Brii/Brei« ›Brei‹ und »Mues« ›Mus‹. Beide Ausdrücke sind schon im Althochdeutschen belegt, allerdings mit unterschiedlicher Bedeutung. Ahd. brîo hatte die Bedeutung ‘gekochte (Getreide-)speise’, ahd. muos allgemeiner ‘Speise, Mahl’. Im Mittelhochdeutschen näherte sich die Bedeutung von muos jener von brî im Sinne von ‘gekochte, breiartige Speise’ an, sodass zwischen beiden praktisch Quasi-Synonymie

6

DWB 12, 791 zitiert mehrere Wörterbucheinträge vor allem bei MAALER, in denen die Doppelform „lett oder leimen“ verwendet wird, z. B. MAALER (1561, 167v): „Leim oder lätt (der) Argilla“. An einzelnen Orten wird die Synonymie durch semantische Differenzierung beseitigt (s. Abschnitt 3.5.1, S. 120).

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

entstand.8 In mehreren Dialekten wurden die beiden Bezeichnungen vereinheitlicht. Im Berndeutschen gelten überwiegend »Griessbrei/-brii«/»Öpfelbrei/brii«, allerdings neben »Griessbrii/-brei«/»Öpfelmues«; die Antworten der Gewährspersonen scheinen jedoch darauf zu deuten, dass »Öpfelbrii/brei« an vielen Orten die ältere Form ist und ursprünglich eine Vereinheitlichung zugunsten von »-Brei« vorlag. In ZH und SG gilt dagegen »Griesmues« und »Öpfelmues«; es wurde also zugunsten von »Mues« ausgeglichen.9

Karte 5: „Brei/Mus“ (SDS V 193/194)





„kochen (Wäsche)“ (SDS VII 87) Das Kochen der Wäsche im Waschkessel wird im Westen als »choche« ›kochen‹ bezeichnet, im Osten und im Wallis als »süüde/siede« ›sieden‹. Beide Ausdrücke sind aus der Küchenarbeit übertragen, wobei zwischen »choche« und »süüde/siede« komplizierte semantische und konzeptuelle Überlappungen bestehen. Einerseits ist »choche« polysem, indem es sowohl allgemein die

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Die Hauptmahlzeit bestand im Mittelalter hauptsächlich aus Getreidebrei. S. auch Abschnitt 6.5.3. – Je nach Art der Zutaten – Früchte oder Grieß – und der Zubereitung wird in manchen Dialekten zusätzlich differenziert. Dabei dürfte auch die Konsistenz (breiartig oder mit einzelnen Früchten in u. U. verdickter Flüssigkeit) eine Rolle spielen. So werden vielfach Grießbrei, Apfelmus und Kirschenmus lexikalisch unterschieden, in Teilen von LU z. B. zwischen »Griesbappe« ‘Grießbrei’, »Öpfelmues/-bappe/-sturm« ‘Apfelmus’ und »Chriesibrägel« ‘Kirschenmus’ (zu »brägle« ‘braten’, wohl weil traditionell Kirschenmus unter Zusatz von geröstetem Mehl zubereitet wird).

Grundformen der Entstehung arealer Diversität

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Zubereitung einer warmen Mahlzeit als Ganzes bezeichnen kann (»Zmittag choche« ‘Das Mittagessen zubereiten’) wie das Garmachen einer Speise, z. B. Gemüse, unter Hitzeeinwirkung. Mit »süüde/siede« wird dagegen regional eingeschränkt und u. U. je nach Speise differenziert das Garen in kochendem Wasser bezeichnet (s. SDS V 205 „(Fleisch) kochen“ mit den Anmerkungen zum Kochen anderer Speisen). Semantisch erscheint »choche« im Allgemeinen in der Bedeutung ‘eine Speise zubereiten unter Hitzeeinwirkung’ als Oberbegriff zu »süüde/siede« ‘garen in kochendem Wasser’. Denotativ kann der gleiche Vorgang in der konkreten Situation als Realisierung beider Konzepte gleichzeitig interpretiert werden, so dass sich in dieser Hinsicht QuasiSynonymie ergibt. Diese spiegelt sich in manchen Gegenden darin, dass beide Wörter nebeneinander angegeben werden, offenbar also lokal keine Monosemierung stattgefunden hat. Potenziell wird diese Quasi-Synonymie aktiviert bei der Übertragung der Terminologie aus der Küche auf das Reinigen von Wäsche in kochendem Wasser, denn hier verschwinden die Differenzierungen zwischen den Vorgängen beim Garen. Diese Quasi-Synonymie wird effektiv durch Monosemierung beseitigt, aber in unterschiedlichen Richtungen. •

»Matte« – »Wise« ‘(privates) Grasland’ (im Gegensatz zu ACKER) (SDS VI 93) »Matte« und »Wise« ›Wiese‹ bezeichneten ursprünglich unterschiedlich genutzte Wiesenflächen: »Wise« die zur Weide bestimmte Grasfläche, »Matte« die zum Mähen bestimmte Grasfläche. Soweit (v. a. im Mittelland und in den Voralpen) überhaupt eine allgemeine Bezeichnung für Grasflächen unabhängig von der Bewirtschaftungsart verwendet wird, hat sich im Westen dafür »Matte« durchgesetzt, im Osten »Wise«. Voraussetzung dafür ist, dass der Bedeutungsunterschied zwischen diesen Ausdrücken verschwand und die beiden mindestens zu Quasi-Synonymen wurden.10 3.2.3 Konzeptuelle Innovation

Areale Diversität kann auf zweierlei Arten durch konzeptuelle Innovation entstehen, also durch die Einführung einer lexikalischen Innovation für ein neu gebildetes Konzept. Sie kann sich erstens dadurch ergeben, dass eine konzeptuelle Innovation nur an einem einzelnen Ort stattfindet; an den übrigen Orten besteht dann in Bezug auf diese Sache eine ‚Bezeichnungslücke‘. Diese wird in Sprachkarten aufgrund der methodischen Voraussetzungen vielfach nur implizit manifest, allenfalls dadurch, dass an einzelnen Orten zu einem Konzept keine Bezeichnung oder nur Umschreibungen oder Ad-hoc-Bezeichnungen angegeben werden. 11 Zuweilen 10 11

Der West-Ost-Gegensatz ›Matte‹ – ›Wiese‹ setzt sich im nördlichen badischen Raum fort (s. SSA VI/5.39). S. auch GEERAERTS / SPEELMAN (2010, 30–32) zum Phänomen der arealen Benennungslücke als Element der Diversität.

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

wird im SDS in den Kommentaren zu einzelnen Karten explizit vermerkt, dass zu einer Sache an einzelnen Orten keine Bezeichnung existiert. Die einzelnen Sprachvarietäten weisen in diesem Fall unterschiedliche Wortschatzstrukturen auf. Areale Diversität kann zweitens dadurch entstehen, dass für das gleiche Konzept polygenetisch mehr oder weniger parallel an verschiedenen Orten unterschiedliche Bezeichnungen gebildet werden. Wie in den Abschnitten 2.2. und 2.3 dargestellt, ist die Wahl eines bestimmten Bezeichnungsverfahrens und Benennungsmotivs in gewissem Rahmen beliebig und die Entscheidung für ein Benennungsmotiv mehr oder weniger zufällig oder zumindest unvorhersehbar. Dass an verschiedenen Orten unabhängig voneinander dasselbe Konzept neu versprachlicht wird, erscheint im Vergleich zur konzeptuellen Innovation an einem einzelnen Ort eher als zusätzlich zu erklärender Sonderfall. Dass eine solche Polygenese simultan erfolgt, ist nicht wahrscheinlich, eher ist von gestaffelten Innovationen auszugehen. Eine derartige zeitliche Staffelung ist allerdings in Bezug auf die Diversität an sich nicht relevant. Onomeme, deren Diversität über konzeptuelle Innovation entstanden ist, zeigen meist Kombinationen beider Entwicklungsarten. Neben klar motivierten spezifischen Bezeichnungen finden sich auch allgemeine Umschreibungen und verstreute Ad-hoc-Formulierungen, Indizien dafür, dass hier Lücken in der Lexikalisierung des betreffenden Konzepts bestehen. Aufgrund der Arbitrarität und Zufälligkeit der Benennung eines neu versprachlichten Konzepts besteht eine große Vielgestaltigkeit der Benennungsmotive und Ungleichmäßigkeit in der Realisierung von konventionalisierten Bezeichnungen. Je weiter zurück die Bezeichnungen für eine Sache gehen, desto schwieriger wird es in der Praxis, zu entscheiden, ob der Diversität Polygenese in diesem Sinn zugrunde liegt oder ob sie durch Wortersatz überlagert ist. Diffusionsprozesse verändern auf jeden Fall polygenetische Entstehungsformen. Welches die tatsächlichen Entwicklungen im Ursprung waren, ist so bei Onomemen mit einer längeren Geschichte oft nicht klar bestimmbar.12 Dass die im Folgenden analysierten Onomeme Beispiele von konzeptueller Innovation sind, ergibt sich aus allgemeinen Überlegungen und aus der Struktur ihrer Heteronymie. Diachron gesehen scheinen die entsprechenden Konzepte und ihre Benennungen keine kontinuierliche Geschichte zu haben. Es gibt keine historischen Belege, die eine ununterbrochene Überlieferung des Konzepts und seiner Benennung bis in die Gegenwart zeigen würden. Auf Diskontinuität bzw. Abwesenheit von Bezeichnungen lassen auch Symptome von Lücken in der arealen Abdeckung durch Heteronyme schließen. Ferner sind die Benennungen durchgehend motivierte Benennungen, also Innovationen mit einer kurzen Geschichte.

12

S. die Diskussion bei „stolpern“ (Abschnitt 3.3, S. 117), wo letztlich nicht entscheidbar ist, ob die Heteronyme mhd. *striucheln und mhd. stüllen ursprünglich unabhängig voneinander konventionalisierte Bezeichnungen waren, also polygenetische Entstehung vorliegt, oder ob eines der beiden Heteronyme das andere als Innovation ersetzt hat.

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Die Heteronymien für konzeptuelle Innovationen zeigen unterschiedliche Muster, wie die Möglichkeiten und Varianten ausgenützt werden, Sachen und Konzepte neu zu benennen. •

„Holzsplitter in der Haut“ (SDS IV 29, KSDS 88) Die schweizerdeutschen Bezeichnungen für den in den Finger gedrungenen kleinen Holzsplitter wie »Spriis(s)e(le)«, »Spiis(s)e«, »Spiess«, »Schipfe/Schüpfe« und »Schine« sind alle auf ähnlich Weise entstanden, nämlich durch Bedeutungsverengungen aus Bezeichnungen für unterschiedliche längliche schmale Gegenstände aus Holz oder Metall. Dass für Holzsplitter in der Haut eine ursprüngliche spezifische Bezeichnung bestand, ist unwahrscheinlich. Die Variante »Spriis(s)e(le)« ist eine Ableitung zu mhd. sprîzen ‘splittern’, bedeutet also zunächst ‘abgesplittertes Holzstück’. »Spiis(s)e« entstand sehr wahrscheinlich aus »Spriisse« durch Elision des -r-, möglicherweise durch Kontamination mit »Spiess« ›Spiess‹.13 »Spiss« (mit kurzem /-i-/) seinerseits ist die Fortsetzung von mhd. spiz ‘Bratspiess’, ursprünglich ‘gespitztes Holzstück’. 14 Auch »Schipfe/Schüpfe« bezeichnet ursprünglich ein (mit dem Beil) abgetrenntes Holzstück. Einen etwas anderen Ausgangspunkt hat »Schine«: Es hat sich aus mhd. schine ‘schmales, langes Stück, z. B. aus Holz’ entwickelt. Neben der eingeengten Bedeutung verschwand an vielen Orten die ursprünglichere weitere Bedeutung; zuweilen bleibt allerdings auch Polysemie.15 Die Heteronymie ergab sich durch den Umstand, dass unterschiedliche Gegenstände als Ausgangsmotiv zur Bezeichnung dienten.



„Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47/48) (Karte 6) Die Heteronymie zu „Klemmflecken am Finger“ ist durch Übergänge zwischen Ad-hoc-Umschreibungen und lexikalisierten Bezeichnungen und bei letzteren durch die Variabilität bei ähnlichen Benennungsansätzen charakterisiert. Die Benennungsmotivik in der schweizerdeutschen Heteronymie ist an sich ziemlich einheitlich und bezieht sich hauptsächlich auf das Aussehen und die Tatsache, dass beim Einklemmen unter der Haut sich eine dunkelfarbige Blutblase bildet. Die einheitliche Motivik lässt aber mancherlei Variationen zu. So finden sich zerstreut an verschiedenen Orten Ausdrücke wie »bluetunderlauffes/-loffes Bluet« u. ä. ›blutunterlaufenes Blut‹, »aagschossnigs Bluet« ›angeschossenes Blut‹ und mancherlei weitere isolierte Varianten dazu, ferner Ausdrücke wie »schwarze Fläcke« ›schwarzer Fleck‹ oder »Bluetfläcke« ›Blutfleck‹. Die Isolation solcher Bezeichnungen lässt auf individuelle Fixierung von Umschreibungen schließen. In einem Übergangsbereich zwischen allgemeinen, unspezifischen Ad-hoc-Bildungen und fixierten Spezialbezeichnungen befinden sich sprechende Bezeichnungen, etwa solche

13

Die Lenisierung von -s- in |Spriise| und |Spiise| ist durch die vorangehende Vokallänge verursacht; vgl. z. B. |müese| aus |müesse| ›müssen‹, |Soose| aus |Soosse| ›Soße‹. Zu den lautlichen Entwicklungen im Einzelnen s. SEEBOLD (1983, 137–145). In der onomasiologisch ausgerichteten Darstellung des SDS ist die Polysemie nicht erkennbar; s. aber die Angaben z. B. in ASCHWANDEN (2013, 434), VON GREYERZ / BIETENHARD (2008, 284), SCHMUTZ / HAAS (2000, 427), BRATSCHI / TRÜB (1991, 260).

14 15

100

Bezeichnungswandel und areale Diversität

die aus Zusammensetzungen mit »Bluet-« ›Blut‹, »-Tropfe«, ›Tropfen‹, »-Blaatere /Blootere« ‘Blase’, u. ä. gebildet sind: »Bluetstropfe«, »Bluetblaatere«, »Chlemmblaatere«, »schwarzi Blaatere«.

Karte 6: „Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47)

Speziellere Varianten sind »Bluetschwille«, »Bluetschwildere«, ›Blutschwiele‹ und »Bluetwäärze« ›Blutwarze‹. Auch die Bezeichnung »schwarze Moon/schwarzes Mööni« ›schwarzer Mond‹ ist als ursprüngliche Ad-hocBildung zu interpretieren; sie leitet sich aus der Bezeichnung für die größeren Quetschflecken auf der Haut ab (vgl. SDS IV 45/46). Einen Sonderfall stellen die Zusammensetzungen mit »Toote-« in »Tootebluet« ›Totenblut‹ und davon abgeleite »Tooteblüete« ›Totenblüte‹ in der Nord- und Nordostschweiz dar. Der Ausdruck ›Totenblut‹ ist ursprünglich die Bezeichnung für die dunkeln Flecken, die nach dem Tod an Leichen auftreten. Einige der spezielleren Varianten zeigen eine klar umschlossene geografische Verbreitung. Das deutet darauf hin, dass solche Bezeichnungen konventionell fixiert sind. Viele der allgemeineren Umschreibungen treten dagegen verstreut an isolierten Orten auf, was auf lokale ad-hoc-Bildungen schließen lässt. Stärker noch als in der Karte SDS IV 47 wird die Variabilität des Wortgebrauchs in der detaillierten Liste in SDS IV 48 erkennbar.16 Die örtlich starke Zersplitterung dieser Vari16

Die Symbolkarte SDS IV 47 ist nur eine vereinfachte Darstellung der Variantenvielfalt, erst recht kann die Auswahl in Karte 6 die Vielfalt an Heteronymen nur andeuten.

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anten, die motivische Einheitlichkeit sowie die Tatsache, dass an manchen Orten für diese Sache kein Wort bekannt war, sind Anzeichen dafür, dass die fixierten Bezeichnungen des Konzepts aus Konventionalisierungen von Adhoc-Umschreibungen in lokal eng begrenzten Kommunikationsräumen entstehen und diese Konventionalisierung vielleicht auch immer wieder neu stattfindet. Damit erklärt sich die areale Diversität direkt aus den charakteristischen Entstehungsbedingungen der Bezeichnungen für ein Phänomen, das außerhalb eines engeren privaten Bereichs kaum thematisiert wird. •

„Pfeife aus Löwenzahnstängel“ (SDS V 93) Die „Pfeife aus Löwenzahnstängel“ ist ein Beispiel für die inhärente Variabilität der Bezeichnungsmöglichkeiten und damit der Innovationsmöglichkeiten bei an sich relativ einfachen Bezeichnungsstrategien. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die Sache mit Ausdrücken für Blasinstrumente zu benennen, so als »Flööte« ›Flöte‹ oder »Trompeete« ›Trompete‹ oder als »Hippe«, einer Bezeichnung für ein röhrenförmiges Gebäck. In den meisten Fällen liegen den Benennungen aber onomatopoetische Bildungen zugrunde: »Huupe«, »Pheepe«, »Güügge«/»Guugge«, »Tuute«/»Tüüte«, »Pfure« u. ä. mit jeweils vielen Varianten. Areale Diversität entsteht dadurch, dass die gleichen allgemeinen Bezeichnungsverfahren unabhängig voneinander an verschiedenen Orten angewandt werden werden, jedoch mit unterschiedlichen Ausdrucksformen.



„zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170, KSDS 110) (Karte 7) Das Onomem „zu wenig gesalzen“ zeigt typische Merkmale einer konzeptuellen Innovation für eine Sache, die sprachlich nur schwer benennbar ist und deshalb sehr unterschiedliche Benennungen mit unterschiedlichen lexikalischen Verfahren findet. Teilweise bleibt sie aber auch überhaupt unbenannt. Die Innovationen gehen von isolierten einzelnen Orten aus, ein typisches Merkmal von Polygenese. Die entstehende Heteronymie ist auch nicht flächendeckend. Die Lückenhaftigkeit zeigt sich darin, dass statt spezieller Ausdrücke zuweilen auch allgemeine Umschreibungen wie »gschmackloos« ›geschmacklos‹ oder »z wenig gsalze« ›zu wenig gesalzen‹ genannt werden, Umschreibungen, die nicht als besondere, konventionalisierte Bezeichnungen für dieses spezifische Konzept einzustufen sind, sondern als behelfsmäßige Umschreibungen. Schon durch diese Lückenhaftigkeit entsteht areale Diversität.17 Andere Angaben stellen Übergänge zwischen behelfsmäßigen Umschreibungen und konventionalisierten spezifischen Bezeichnungen dar, so der abstrakte Ausdruck »nüütelig« (adjektivische Ableitung von »nüüt« ‘nichts’) oder die Bezeichnung »ke Chuscht« ‘kein Geschmack’. Die regionale Konzentration der Verwendung dieser Ausdrücke zeigt allerdings, dass sie lokal idiomatisiert und konventionalisiert worden sind.

17

Auf der Karte SDS V 170 sind gemäß Vorbemerkung allgemeine und untypische Antworten ausgeschieden, so dass teilweise Lücken nur indirekt erkennbar werden.

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

(SDS V 170) Karte 7: „zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ Eine letzte Gruppe von Heteronymen besteht aus metaphorischen Übertragungen. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten ausgenützt. Die abstraktesten unter ihnen beziehen sich auf bloße Abwesenheit; das ist das Benennungsmotiv bei »ööd/eed« ›öde‹ mit der Bedeutung ‘leer’ und »lööter/leeter«, einer Variante zu »löötig« ‘rein, ohne Zutat’. In einer größeren Gruppe wird metaphorisch ‘geringe Intensität’ oder ‘geringe Kraft’ als tertium comparationis aus anderen Dimensionen übernommen. Im Vordergrund steht die Metapher von fehlender physischer Kraft, so bei »blööd« zu mhd. bloede mit der Nebenbedeutung ‘(körperlich) schwach, kraftlos’, »luem« zu mhd. lüeme ‘matt, schwach’ und »mätt«, wohl zu ›matt‹. Schwer erklärbar ist »läsch«, dessen Bedeutung in Id. 3,1458 mit ‘leer’ angegeben wird, ohne Zusammenhang mit der sonstigen Wortgruppe »laasch« mit der Bedeutung ‘schlapp, nachläßig’. Denkbar ist eine Kreuzung zwischen »liis« und »laasch«. Aus der Dimension der Bewegung oder Berührung wird das Element der fehlenden Kraft bei freiburgerisch |söuft| ›sanft‹ und »liis/less« ›leise‹ mit der älteren Bedeutung ‘langsam, sanft’ entnommen, letzteres vielleicht auch dem akustischen Bereich, falls »liis/less« direkt aus der neueren Bedeutung ‘schwache Lautstärke’ übertragen worden ist. Die Dimension der (schwachen) Wärme dient endlich als Ausgangspunkt von »lääi« mit der eigentlichen Bedeutung ’lau’. Wie diese Ausdrücke zeigen auch die fest etablierten Bezeichnungen aus metaphorischen Übertragungen wie »blööd«, »luem«, »mätt«,

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|söuft,|»liis/less« und »lääi« eine große Streuung, dabei oft mit lokaler Varianz und mit Anzeichen unterschiedlicher Diffusionsschichten. Die areale Diversität wird großflächig zusätzlich durch die Entlehnung »faad« aus standarddeutsch fade überdeckt, sicherlich eine neuere Entwicklung. 3.2.4 Sachinnovation und Sachwandel Ob und wie Sachinnovation zu arealer Diversität führt, hängt u. a. davon ab, auf welche Weise eine Sachinnovation in eine Region eingeführt wird. Geschieht dies über überregionale Kanäle, so wird mit der Sache auch die allgemein geltende Bezeichnung dafür überregional eingeführt. In diesem Fall ist keine areal diversifizierte Heteronymie zu erwarten. In neuerer Zeit ist dies bei massenhaft verbreiteten Konsumgütern der Fall. Aber schon im Mittelalter treten vergleichbare Verbreitungsarten von Innovationen auf, etwa bei Heil- und Gartenkräutern, die über Klöster heimisch wurden und deren Bezeichnungen oft aus der entsprechenden überregional rezipierten lateinischen Literatur übernommen wurden. Heteronymie entsteht bei Sachinnovation im einfachsten Fall dadurch, dass die Sachinnovation regional oder lokal eingeführt wurde und dass mit der Sache an den einzelnen Orten individuell eine neue Bezeichnung geschaffen wurde. Das impliziert grundsätzlich auch, dass die verschiedenen Benennungen unabhängig und polygenetisch gebildet wurden. Diversität erklärt sich unter diesen Umständen aus den theoretisch zum vorneherein gegebenen Variationsmöglichkeiten bei der Benennung einer Sache. •

„(Tisch-)Schublade“ (SDS VII 189, KSDS 126)18 Die (Tisch-)Schublade ist wohl eine spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Neuerung, bei welcher der Tisch durch ein zusätzliches Fach unter der Tischplatte versehen wurde.19 Regional sind unterschiedliche Bezeichnungen mit unterschiedlichen Verfahren gebildet worden. Ein Teil der Benennungen schließt an ältere Benennungen für einfache freie kleinere Behältnisse an, so »(Tisch-)Trucke« (verwandt mit ›Truhe‹, s. DWB 22, 1321), »Chaschte« ›Kasten‹, oder »Schriine» (Femininbildung zu »Schriin« ›Schrein‹, nach Id. 9, 1625 in Anlehnung an »Trucke«), wohl vor allem aufgrund der gleichartigen Funktion als kleineres schließbares Behältnis. Alleinstehendes »Trucke« dürfte eine elliptische Verkürzung aus »Tischtrucke« (verschiedentlich ebenfalls erwähnt) oder »Schiebtrucke« oder »Schubtrucke« sein (für das 17. und 18. Jahrhundert belegt, Id. 14, 859). In einem Ausdruck wie »Schiebtrucke« wird

18

Nach SDS VII 189 wird an manchen Orten zwischen Tischschubladen und Kommodenschubladen lexikalisch unterschieden. Hier wird nur die Tischschublade behandelt. Voraussetzung ist, dass die Tischplatte fest mit den Beinen verbunden ist. – Die frühesten Belege in Id. zu (Tisch-)Trucke (Id. 14, 848 und 865) und in DWB zu Schublade (DWB 15, 1820) mit der Bedeutung ‘Fach in Möbeln zum Herausziehen’ stammen aus dem 16. Jahrhundert In einem Nachlassverzeichnis von 1448 (Breslau) findet sich ein Beleg zu schōzladen ‘Schublade’ („eynen guten eychentisch mit eyner schoßladen“, LEXER 2, 762).

19

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

als unterscheidendes Merkmal zusätzlich die besondere Bedienung thematisiert. Dieses Benennungsmotiv steht als alleiniges Benennungselement bei »Züche« (›Ziehe‹ zu »züche« ›ziehen‹) sowie »Schieber« und »Schöübe» ›Schiebe‹ im Vordergrund. Das gleiche Benennungsmotiv liegt auch der Variante »Schublaade« ›Schublade‹ zugrunde. Dieses Wort dürfte allerdings (direkt, d. h. vertikal, oder indirekt durch Diffusion aus der nördlichen Nachbarschaft) aus dem Standarddeutschen übernommen worden sein.20 Die gleiche Neuerung, die als solche sich durch Sachdiffusion geografisch verbreitet haben dürfte, ist jeweils an den verschiedenen Orten individuell und unterschiedlich benannt worden. •

„(Kartoffeln) stecken“ (SDS VI 204) (Karte 8) Mit der Einführung des Anbaus der Kartoffel als Grundnahrungsmittel mussten auch besondere Anbauverfahren entwickelt werden. Um die Kartoffelstecklinge in den Boden zu bringen, gab es unterschiedliche Verfahren (s. Kommentar in SDS VI 206): Man konnte mit einem Arbeitsinstrument (Karst, Hacke) in das Erdreich Furchen machen, die Kartoffelstecklinge hineinlegen und die Furche anschließend wieder zudecken. Alternativ wurde der Steckling direkt oder aber, nachdem mit einem Instrument zuerst ein Loch gemacht worden war, in den Boden gesteckt.

Karte 8: „(Kartoffeln) stecken“ (SDS VI 204) 20

Darauf deutet die Aussprache /Schublaade/ mit langem /aa/ in den Gegenden hin, wo »Lade« in der Bedeutung ‘Kaufladen’ oder in »Fänschterlade« ›Fensterladen‹ lautgesetzlich kurz geblieben ist.

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Die verschiedenen Verfahrensweisen widerspiegeln sich teilweise auch in den einzelnen Heteronymen, vor allem in den Ausdrücken »stecke« ›stecken‹ und »stupfe« ›stupfen‹ (beide im Sinne von ‘hineinstoßen’), in vereinzelten Belegen mit »legge« ›legen‹ in BA. Diese Bezeichnungen wie auch »underetue« ›runtertun‹ machen die konkrete Handlung zum Benennungsmotiv. Im Westen überwiegt allerdings »setze« ›setzen‹, übernommen vom Setzen von Pflanzen. Dieser Ausdruck wie auch lokal gestreute Bezeichnungen wie »sääije« ›säen‹, »aapflanze« ›anpflanzen‹ oder »aamache« ›anmachen‹ ordnen die spezielle Handlung in ähnliche, funktional verwandte Handlungskonzepte ein. Die Heteronymie und damit die areale Diversität ergibt sich daraus, dass je nach Region unterschiedliche Teilaspekte der Handlung lexikalisch thematisiert werden. Oft werden bei Sachinnovationen mit der Übernahme einer Sachinnovation auch fremde Benennungen entlehnt. Diversität entsteht dabei dadurch, dass mehrere unterschiedliche Entlehnungen möglich sind und dass zudem lokal statt einer Entlehnung auch eine eigene Bezeichnung entwickelt wird. •

„Wagenbremse“ (SDS VIII 166) Die fest am Wagen montierte Wagenbremse mit einem Keil, der mit einer Kurbel mit Schraubengewinde an das Rad gepresst werden kann, ist eine Innovation gegenüber losen Wagenbremsen, die in Keilform oder anderer Form unter das Rad gelegt werden. 21 Sie wird im Westen als »Mekaanik« oder »Mechaanik« (mit Weiterentwicklungen wie »Mekaaner«, »Mechaaner«) bezeichnet. Die (vor allem in BE und FR belegte) Lautform |Mekanik| deutet auf Entlehnung aus dem Französischen (mécanique), die Lautform |Mechaanik| auf Entlehnung aus dem Standarddeutschen. Diesen beiden Entlehnungen steht die Eigenentwicklung »Spannig« ›Spannung‹ in der östlichen Hälfte entgegen.



„Regenschirm“ (SDS V 153) Der Regenschirm kam im 17. Jahrhundert zuerst als Sonnenschirm, später auch als Schutz gegen den Regen in gehobenen Kreisen allmählich in Mode. Wie in vielen Fällen der Kleidung und Mode verbreitete sich auch diese Erfindung in Mitteleuropa hauptsächlich von Frankreich her aus. Diese Herkunft zeigt sich im Westschweizerdeutschen in der Übernahme und Anverwandlung des franz. parasol (eigentlich ‘Sonnenschutz’) als »Parisool«, »Pärisool«, »Palisool« u. ä. Dieser Typ war, aus den Angaben in SDS V 153/154 zu schließen, ursprünglich im Schweizerdeutschen offenbar allgemein verbreitet. Im Nordwestschweizerdeutschen ist stattdessen – später? – das neuere franz. parapluie als »Paareplüü« u. ä. eingeführt worden. In mittleren und östlichen Teilen der Deutschschweiz sind dagegen (daneben oder später) Ausdrücke aus allgemeinen Bezeichnungen für Schutzgegenstände gegen Einwirkungen von oben gebildet worden: in der Innerschweiz »Tach« ›Dach‹,

21

S. WILDHABER (1973). Vgl. auch SSA IV 5.18.

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

ursprünglich wohl als Kompositum »Rägetach« ›Regendach‹,22 im östlichen Berner Oberland »Schäärm«, in WS-Lötschental |Rägehued| ›Regenhut‹. – Heute sind allerdings die meisten traditionellen Ausdrücke zugunsten von Varianten zu standarddeutsch ›(Regen-)schirm‹ verschwunden. Die in SDS V 153 dargestellte Heteronymie stellt also einen früheren historischen Zustand dar. Benennungen von Sachinnovationen werden häufig nicht voraussetzungslos neu gebildet. Sachinnovationen erfolgen innerhalb einer bereits bestehenden Sachund Funktionswelt. Neue Sachen haben Ähnlichkeiten mit bestehenden Sachen oder ersetzen diese. Bei der Benennung einer neuen Sache wird häufig an die Benennung eines derartigen bereits bestehenden Konzepts angeschlossen. Schon die Subsumierung des Steckens von Kartoffeln unter Konzepte wie SÄEN oder PFLANZEN ist ein Beispiel dafür. Auch hier sind allerdings Variationen möglich, die zu Diversität führen. •

„Kartoffel“ (SDS VI 202, KSDS 156) (Karte 9) In der Schweiz wurde der Kartoffelanbau im 18. Jahrhundert eingeführt.23 Diese Pflanze musste also neu benannt werden. Ihre Benennungen im Schweizerdeutschen sind aber keine vollständigen Innovationen, sondern schließen sich meist an gleiche oder gleichartige Benennungen ähnlicher Bodenfrüchte an. Sie decken sich mit Bezeichnungen in angrenzenden deutschen Dialekten, sodass wenigstens teilweise Übernahme durch Diffusion oder wenigstens Anleihen bei der Benennungsmotivik wahrscheinlich sind. Aber auch die gesamtdeutsche Diversität demonstriert, wie die Benennung von Sachneuerungen mit lexikalischer Diversität einhergeht.24 Am verbreitetsten ist die Variante »Härdöpfel« ›Erdapfel‹, ein Wort, das bereits seit dem Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen als Bezeichnung für verschiedene Pflanzen geläufig war, die in der Erde oder direkt auf der Erde wachsen, so etwa für Kürbisse, Gurken, Melonen, später auch für die Topinambur-Knolle, die vor der Kartoffel in Europa kultiviert wurde. Daneben kommen auch lautliche Weiterentwicklungen bzw. Abschleifungen von »Härdbire« ›Erdbirne‹ wie »Häppere«, »Häppiir« u. ä. vor. Nach SEEBOLD (1981, 213–215) liegt diesem lexikalischen Unterschied eine ursprüngliche Unterscheidung zwischen ›Erdapfel‹ als Bezeichnung der Topinambur-Knolle und ›Erdbirne‹ als Bezeichnung der Kartoffel zugrunde (nach KSDS 156 der Süßkartoffel). Allerdings bietet Id. 4, 1500 auch Belege für die Verwendung von ›Erdbirne‹ als Bezeichnung der Topinambur-Knolle. So oder so erweisen sich diese Benennungen der Kartoffel als Anleihen aus Lexemen, die ursprünglich für andere, ähnliche Früchte geläufig waren. Die semantische Entwicklung besteht damit entweder in der Spezialisierung einer ursprünglich allgemeineren Wortbedeutung oder in einer Übertragung einer Bezeichnung eines Konzepts auf ein an-

22 23 24

Vgl. die Vereinfachung von Regenschirm zu Schirm. Zur Einführung des Kartoffelanbaus in der Schweiz s. Art. „Kartoffel“ in: HLS 7, 108–109. Vgl. KÖNIG (2011, 206), DWA I, 9, SSA IV/5.39.

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deres, ähnliches Konzept. Typisch ist die generelle Strategie, dass zur Benennung einer Sachinnovation kein vollständig neues Benennungsmuster entwickelt wird, sondern auf bereits bestehende Muster bei anderen, ähnlichen Sachen zurückgegriffen wird. Die areale Streuung beim Typ ›Herdbirne‹ spricht gegen eine Übernahme durch horizontale Diffusion, im Unterschied zum Typ ›Herdäpfel‹, der geografisch direkt an eine nördliche Region mit ›Erdäpfel‹ anschließt.25 Beeinflussung durch überregionale schriftliche Vermittlung oder andere Kontakte muss bei diesem wichtigen Landwirtschaftsprodukt in Zusammenhang mit Landwirtschaftsreformen ebenfalls eingerechnet werden. Zur Diversität trägt im Übrigen als eine weitere Bezeichnung der Ausdruck »Gumel(i)« bei. Das Wort wird als assoziative Abwandlung aus der Entlehnung franz. pomme de terre über die dialektale Form »Bummeliterre« und Assoziation mit »Gummel« ‘Knolle’ erklärt; es liegt danach letztlich eine Entlehnung zugrunde.26 Im Dunkeln bleibt, warum diese Bezeichnung isoliert in der Innerschweiz verbreitet ist (direkter Import durch Emigranten, etwa Söldner aus Frankreich?).

Karte 9: „Kartoffel“ (SDS VI 202)

25 26

S. KÖNIG (2011, 206). ASCHWANDEN (2013, 382).

108 •

Bezeichnungswandel und areale Diversität

„Sofa“ (SDS VII 181, KSDS 128) Das Polstermöbel für mehrere Personen mit fester Rückenlehne, u. U. auch mit Seitenlehnen, hat sich mit Sache und Begriff ausgehend von Frankreich über die bürgerliche Kultur im 18. und 19. Jahrhundert in ländlichen Haushalten verbreitet. Von der Sache her kann man gepolsterte Sitzmöbel für mehrere Personen ohne Lehnen, nur mit Rückenlehne, nur mit Seitenlehnen und mit Rückenlehne und Seitenlehne unterscheiden. Für diese Möbel stehen im Französischen die Bezeichnungen canapé (ursprünglich ‘Himmelbett’), divan und sofa (Entlehnungen aus dem Orient) zur Verfügung, deren Bedeutungen sich mit der Entwicklung der Sache verändert haben. Zunächst war divan die Bezeichnung für das Sitzmöbel ohne Rücken- und Seitenlehnen, canapé jene für das Sitzmöbel nur mit Rückenlehne und sofa diejenige für das Sitzmöbel mit Rücken- und Seitenlehne. Schon im Französischen haben sich diese Bezeichnungen einander angenähert. Im Französischen hat sich canapé als hauptsächliche Bezeichnung für das Sitzmöbel mit Rücken- und Seitenlehnen durchgesetzt. Im Schweizerdeutschen ist diese Bezeichnung als Entlehnung in weiten Teilen mit lautlicher Anpassung als »Kanepee/Chanebee« übernommen und beibehalten worden. Im Wallis wurde daraus mit Anlehnung an ›Bett‹ die Hybridbildung »Chanebett« gebildet. Die Bezeichnung »Soffa« ›Sofa‹ dominiert demgegenüber in der Ostschweiz. Die sonstigen verstreuten Belege für »Soffa« lassen vermuten, dass hier Einfluss des Standarddeutschen mitgespielt hat. Dazu passt, dass nach den Belegen des DWB 16, 1400 auch im Deutschen zunächst canapé übernommen worden ist und dieses später durch Sofa verdrängt wurde. Eine weitere Variante stellt »Ruebett« ›Ruhebett‹ dar, die alte einheimische Bezeichnung für ein anderes, seinerzeit ebenfalls neu eingeführtes Liegemöbel, nämlich der einfachen Liege, die in Wohnräumen steht. Der Zusatz »Rue-« deutet darauf, dass diese Liege nicht zum Schlafen in der Nacht, sondern bloß zum Ausruhen in der Stube diente. Das neuere Sofa war funktionaler Nachfolger dieses älteren Möbels und die Bezeichnung dafür wurde für die Sachinnovation übernommen. Die Heteronymie setzt sich also aus Entlehnungen mit lautlichen Anpassungen und Anpassungen der Bezeichnung eines funktionalen Vorgängers zusammen.

Auch dann, wenn an mehreren Orten gleichartige Benennungsmotive gewählt werden, kann dieser Rückgriff auf Benennungen von Vorgängerobjekten zu Heteronymie führen, wenn auf Sprachmuster zurückgegriffen wird, die ihrerseits bereits areal differenziert sind. •

„Tasse“ (SDS VII 194) Die tradtionellen Bezeichnungen für die Tasse (Kaffeetasse, Teetasse) sind Beispiele für die Einordnung eines neuen Gegenstands in bereits bestehende Sachkonzepte. Die Tasse in der heutigen Form, das kleine Trinkgefäß aus Steingut oder Porzellan für warme Getränke, normalerweise mit Henkel, war offenbar in ländlichen Gegenden eine Neuerung gegenüber alten, größeren

Grundformen der Entstehung arealer Diversität

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Schalen aus Holz oder Steingut.27 Das neue Gefäß wird in verschiedenen Gegenden jeweils mit unterschiedlichen alteingesessenen Wörtern für die älteren Trinkgefäße bezeichnet, oft mit Diminutivformen. Die Tasse erscheint also als kleinere Version der älteren schalenförmigen Trinkgefäße oder Gefäße zum Aufbewahren von Flüssigkeiten. Verbreitet sind Bezeichnungen wie »Becki«, »Beckeli« (›Becken‹), »Schüssle«, »Schüsseli« (›Schüssel‹), »Chachle«, »Chacheli« (›Kachel‹ ‘irdenes Gefäß’). Der diatopischen Heteronymie dürfte zumindest teilweise eine frühere für die größeren Speisegefäße zugrunde liegen; dies lässt sich jedenfalls vermuten aufgrund der sehr ähnlichen Verteilung der Bezeichnungen für das Aufrahmgefäß aus Steingut (SDS VII 35), bei welchem einem größeren Gebiet im Mittelland und Osten mit »Becki« ein berndeutsches Gebiet mit »Chachle« gegenübersteht. Neben diesen Bezeichnungen schweizerdeutschen Ursprungs wird im Wallis die direkt aus dem Französische übernommene Entlehnung »Tasse« verwendet.28 Eine Sonderform »Tatze« ist dagegen aus dem ital. tazza übernommen. •

„Konfitüre“ (SDS V 191) (Karte 10) Die Konfitüre (bzw. Marmelade), der süße Brotaufstrich aus eingekochten, gezuckerten Früchten, ist als Sache in der heutigen Form jüngeren Datums. Die Herstellung wurde erst allgemein möglich und üblich mit der billigen Herstellung von Zucker aus der Zuckerrübe im 19. Jahrhundert.29 Für die Benennung werden lokal unterschiedliche Verfahren angewendet. Häufig werden Bezeichnungen für ähnliche Vorgängerprodukte mit gleicher Verwendung oder von Produkten mit ähnlicher Konsistenz übernommen. So sind die Ausdrücke »Saft«, »Hung(g)« ›Honig‹ und »Latwääri« ›Latwerge‹ sowie das neuere »Sirup« ursprünglich Bezeichnungen von eingedickten süßen Fruchtsäften vor allem aus Birnen und Holunder, die zum Teil ebenfalls als süßer Brotaufstrich verwendet wurden.30 »Hung(g)« ist als Bezeichnung von Konfitüre nicht direkt aus der Bezeichnung für Bienenhonig übertragen worden, sondern aus der Verwendung des Wortes als Bezeichnung von eingedicktem Birnen- oder Apfelsaft (Id. 2, 1367). Auch »Saft« und »Saasse« in FR-Sense, eine Entlehnung aus dem jurassischen Patois (sâsse), hatten in gewissen Zu-

27

Diese kleinere, feinere Form des Trinkgefässes dürfte sich wohl im Zusammenhang mit der Porzellanproduktion und der Herstellung und der Verbreitung von feinerem Geschirr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (Meißen 1710, Sèvres 1736) mit der entsprechenden Bezeichnung ausgebreitet haben Das Wort Tasse verbreitete sich in der heutigen Bedeutung im Deutschen als Übernahme aus dem Französischen. Franz. tasse ist übernommen aus ital. tazza. Im Alemannischen des 15./16. Jahrhundert ist das aus dem Ital. übernommene tatze gut belegt, jedoch in der Bedeutung ‘feines, aus Edelmetall hergestelltes Trinkgefäss’ (Id. 13, 1746). Das heutige Wort Tasse setzt nicht diese ältere Verwendung fort. Die verstreuten Belege für »Tasse« in der nördlichen Deutschschweiz dürften dagegen aus dem Standarddeutschen übernommen worden sein. Gemäß SDS V, 191, Einleitung ist die Konfitüre etwa im Wallis erst anfangs des 20. Jahrhunderts bekannt geworden. S. DWB 12, 281, Id. 3, 1486.

28 29 30

110

Bezeichnungswandel und areale Diversität

sammenhängen die Bedeutung ‘(süße) eingedickte Flüssigkeit’.31 Die räumliche Verteilung lässt vermuten, dass diese Ausdrücke schon mit ihrer älteren Bedeutung areal differenziert waren. 32 Die Heteronymie der Innovation setzt also wohl eine vorangehende areale Diversität bei der Bezeichnung von Vorgängerprodukten fort. Diese ältere areale Diversität muss ihrerseits auf Polygenese bei Sachinnovationen zurückgehen. In anderen Fällen sind die Bezeichnungen unterschiedliche Spezialisierungen (Bedeutungseinengungen) von allgemeinen Bezeichnungen für dickflüssige, eingekochte Speisen, so bei »Iigchochts« ›Eingekochtes‹ und »Iigmachts« ›Eingemachtes‹, Ableitungen zu den Bezeichnungen »iichoche« und »iimache« für das lange Einkochen zum Haltbarmachen in luftdicht abgeschlossenen Gläsern. »Mues« ›Mus‹ ist eine ähnliche Spezialisierung einer allgemeineren Bezeichnung für dickflüssige gekochte Speisen (vor allem aus Früchten, vgl. SDS V 194 „Apfelmus“, Karte 5). In der Regel bleibt bei der Verwendung dieser Wörter für die Innovation die alte Bedeutung beibehalten, wodurch diese Wörter polysem werden. Zu dieser Gruppe gehört indirekt auch »Gschlaargg« (zu »schlaarggen« ‘dickflüssige Masse unschön verstreichen’), allerdings ein Wort mit eigentlich pejorativen Konnotationen, das auch nicht auf Speisen beschränkt ist. Neueren Datums ist schließlich die heute am weitesten verbreitete Bezeichnung »Konfitüre« (mit Weiterentwicklungen wie »Gomfi«, »Komfi«, »Kumfi«, »Gumfi«), eine Entlehnung des franz. confiture, die als Handelswort der industriellen Hersteller oder über die französische Nachbarschaft in die Alltagssprache eingedrungen ist.33 Diese Bezeichnung überdeckt heute als Handelsbegriff gesamtschweizerdeutsch die ältere Heteronymie. „Konfitüre“ ist damit ein Musterbeispiel für die Kombination unterschiedlicher lexikalischer Innovationsmöglichkeiten bei der Benennung einer Sachinnovation und dafür, wie Diversität durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Entstehungsfaktoren entsteht: durch die unterschiedliche Wahl eines Benennungsmotivs und die vorausgehende Diversität von Bezeichnungen mit ähnlicher Bedeutung bei gleichartigen Benennungsmotiven. Derartige mehrfache Schichtungen von regionalen Bedeutungsentwicklungen lassen Versuche, diachrone Schichtungen innerhalb der Heteronymie zu etablieren, als eher zweckloses Unterfangen erscheinen. 31 32

33

Zu »Saft« s. Id. 7, 360, zu »Saasse« s. Id. 7, 1378. Die Belege und Ortsangaben in Id. 2, 1367 für »Hung(g)« in der älteren Bedeutung ‘eingedickter Fruchtsaft’ sind auf die Ostschweiz konzentriert, jene für »Latwääri« in der gleichen Bedeutung auf die Ostschweiz, ZH und LU (Id.3, 1486), für »Saft« auf BE und GL, daneben AP (Id. 7, 360 Bedeutung 2.a.δ; vgl. auch Id. 7, 366 s. v. Biresaft). Auch im Französischen ist die Bedeutung eine Weiterentwicklung aus einer älteren Verwendung; bis Mitte des 19. Jahrhunderts. bezeichnete confiture im Französischen mit Zucker eingekochte Früchte zum Haltbarmachen, also Kompott (BRUNT 1983, 206). Die Wahl von Konfitüre (statt des in Deutschland bis 1983 gebräuchlicheren Ausdrucks Marmelade, als die EU eine terminologische Vereinheitlichung durchsetzte) ist durch die Nähe zum französischen Sprachgebiet bedingt.

Grundformen der Entstehung arealer Diversität

Karte 10: „Konfitüre“ (SDS V 191)



111



„Kartoffelraffel“ (SDS VII 198) (Karte 11) Die Kartoffelraffel in der in der Schweiz üblichen Form ist eine flache Raffel aus Metall mit eingestanzten Schneiden und/oder Löcherreihen zum Raffeln von gekochten Kartoffeln vor allem für die „Rösti“ (aus geraffelten gekochten Kartoffeln gebraten), weshalb das Instrument auch Röstiraffel genannt wird. Als solche ist sie industriell hergestellte, standardisierte Massenware, also eine typische Innovation des 20. Jahrhunderts. Trotzdem zeigt das Onomem eine reichhaltige, teilweise stark gestreute Heteronymie, die kartografisch im Detail nicht vollständig abbildbar ist. Ein Teil der Benennungen ist anscheinend polygenetisch unmittelbar aus dem Alltag heraus entstanden. Dabei werden überwiegend prototypische Benennungsverfahren und -motive für Alltagswerkzeuge wie Handhabung und Zweck thematisiert. Viele Bezeichnungen beziehen sich auf charakteristische Handlungen wie ‘(ab)reiben’, ‘(ab)schaben’ (meist mit einem rauen oder scharfen Gegenstand): »Schaber«, »Riiber/Riibi« (zu »riibe« ›reiben‹), »Raffle/Raffler/ Raffli/ Rafele« (zu ›raffeln‹), »Rapser/Rapse/Rapsi« (zu ›rapsen‹), »Raschper/Raschpe/Raschpler/Raschpel« u. ä. (zu ›raspe(l)n‹), »Schnätz(l)er« zu ›schnetzeln‹ ‘mit einem Messer kleinschneiden’. Zur gleichen Bedeutungsgruppe gehört »Riibiise« ›Reibeisen‹. Andere Ableitungen beziehen sich auf das Resultat: »Schiibler« ›Scheibler‹ (zu »schiible« ‘in Scheiben schnei-

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

den’)‚ »Blättler« (Instrument, um Kartoffeln zu ›blätteln‹, d. h. zu flachen, ‚blattartigen‘ Scheiben zu schneiden).



Karte 11: „Kartoffelraffel“ (SDS VII 198)

»Schiibler«, »Blättler« und auch »Hobel« können sich in ihrer präzisen Bedeutung nur auf das Zerkleinern mit der geraden Schneide beziehen, nicht auf die Löcherreihe. Diese Bezeichnungen scheinen deshalb von älteren, einfacheren Instrumenten herzurühren. Denn für die Kartoffelraffel in der modernen Form gab es früher z. T. selbst hergestellte Vorgängerinstrumente (s. die Erläuterungen SDS VII 195 unten). Sprachlich ist dies aber nicht immer deutlich nachzuvollziehen, denn der Zweck und auch die Handhabung und entsprechend die Bezeichnungsmöglichkeiten haben sich vom Übergang von den älteren Instrumenten zum neuen Gegenstand oft nicht verändert. Eine Übernahme der Bezeichnung von älteren Instrumenten ist bei Ausdrücken wie »Hächler/ Hächle/Hächli/ Hächel«, »Rätsche« und »Drucker/Drücker« anzunehmen. Deren wörtliche Bedeutung lässt keinen erkennbaren Zusammenhang mit der tatsächlichen Verwendung mehr erkennen. »Hächler/Hächle/ Hächli/Hächel« ›Hechel‹ und »Rätsche« sind ursprünglich Bezeichnungen für Instrumente zum Trennen bzw. Brechen der Fasern von Hanf oder Flachs. Diese Instrumente bestanden aus Holzteilen mit herausstehenden Metallzähnen. Die Bezeichnungen wurden auf ähnlich konstruierte Werkzeuge übertragen, die zum Zerkleinern von Obst und Gemüse verwendet wurden, und später entsprechend der Funktion auf die moderne Raffel übernommen. Auch

Kombinationen von Diversifizierungsprozessen

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»Drucker/Drücker« ist aus der Bezeichnung von Vorläuferinstrumenten abgeleitet, nämlich von der Kartoffelpresse, ursprünglich einem in einem Holzrahmen eingespannten Drahtgeflecht, durch das die Kartoffeln zum Verkleinern hindurchgedrückt wurden (vgl. Id. 14, 833). Auch die Bezeichnung »Hobel« kann eine sekundäre Übertragung aus einem Vorgängerinstrument sein, einem Brett mit einer einzelnen eingelassenen Klinge, das seinerseits seine Bezeichnung vom (Holz-)Hobel des Schreiners erhielt. Die Diversität ist in charakteristischer Weise auf Variationsmöglichkeiten bei der Innovation auf verschiedenen Ebenen zurückzuführen: Vielfalt und Zufälligkeit bei der Auswahl möglicher Benennungsmotive, bei einem einzelnen Benennungsmotiv geografische Vielfalt der einzelnen Bezeichnungen, geografische Vielfalt von Vorgängerinstrumenten und deren Bezeichnung. Vor allem die Bezeichnungstypen ›Rapser‹, ›Raffler‹, ›Reiber/Reibeisen‹ und ›Schaber‹, in denen die konkrete Tätigkeit thematisiert wird, treten u. a. auch an einzelnen, isolierten Orten zerstreut auf, was dort auf individuelle sprachliche Innovation und Polygenese hindeutet. Kohärenter sind die Verbreitungsgebiete für die auf alte Instrumente zurückgehenden Ausdrücke »Drücker«, »Hächle« und »Rätsche«. Diese Innovationen müssen ihren Ursprung vor der Einführung der standardisierten Massenware *Röstiraffel* haben und ihre Konstruktion und Bezeichnung muss schon früher diffundiert sein. 3.3 KOMBINATIONEN VON DIVERSIFIZIERUNGSPROZESSEN Die Diversifizierungsprozesse Wortersatz, Monosemierung und konzeptuelle Innovation können auch nebeneinander oder gestaffelt auftreten. Das führt automatisch zu größerer arealer Diversität. •

„Schürze der Frau“ (SDS V 142, KSDS 120) (Karte 12) Für die Schürze der Frau kommen einerseits die schon althochdeutsch und mittelhochdeutsch bezeugten Ausdrücke »Schooss« (im Osten) und »Schurz« vor. Beide bezeichneten schon im Mittelhochdeutschen besondere Kleidungsstücke, allerdings ursprünglich nicht im Sinne von ‘Schürze’. Die Bedeutung ‘Schürze’ bei «Schoss« hat sich wohl aus ‘herabhängendes (vorderes unteres) Teil des Frauenkleides’ entwickelt (vgl. Id. 8, 1451), diejenige von »Schurz« aus ‘kurzes, (um die Hüften gewickeltes) Tuch’. Nach Id. 8, 1318 und 8, 1451 ist für beide Wörter in der Schweiz spätestens seit dem 16. Jahrhundert die gleiche Bedeutung ‘Schürze’ anzutreffen. Die heutige unterschiedliche geografische Geltung von »Schooss« und »Schurz« ist so gesehen als regional divergierende Monosemierung zu verstehen. Eine Neubildung ist »Fürtuech« ›Vortuch‹ (‘Tuch vor dem Kleid’) mit lautlichen Abwandlungen und Abschleifungen vom Nordwesten bis zum Westen; dessen Geltungsbereich

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

reicht sehr weit bis in das Rheinische und dürfte vom Oberrhein in das Schweizerdeutsche diffundiert sein.34

Karte 12: „Schürze der Frau“ (SDS V 142)

Zwischen südwestliches »Schuurz« und nordöstliches »Schooss« schiebt sich »Schöibe«/»Schüübe« ›Schiebe‹, eine Neubildung zu ›schieben‹.35 Das heutige Wort hat sich elliptisch aus »Fürschöibe/-schüübe« ‘vor das Kleid geschobenes Tuch’ entwickelt; »Fürschüübe« ist regional in UR noch heute gebräuchlich. Der Wortbildung und der geografischen Verteilung nach handelt es sich um ein Wort, das als Wortersatz für »Schurz« bzw. »Schooss« eingeführt worden ist und diese Lexeme sowie auch den Typ »Fürtuech« verdrängt hat. Die Heteronymie mit ihrer geografischen Verteilung legt somit nahe, dass ein Ergebnis der Monosemierung durch Innovation und Wortersatz überdeckt worden ist. Eine andere Entwicklung hat im Wallis stattgefunden: Zu »Schooss« ist in dessen älterer Bedeutung die Neubildung »Vorschooss« mit der Bedeutung ‘Kleidungsstück vor dem Schoß’ (»Schooss« = ‘vorderes Teil des Kleides’) eingeführt worden. Der Ausdruck »Fürschooss« ist in der älteren Sprache 34 35

S. RhWb 8, 1425, PfWb 2, 1555. Der Gegensatz »Schüübe«/»Schöibe« entspricht einem allgemeinen innerschweizerdeutschen lautgeschichtlichen Gegensatz bei altoberdeutsch /iu/ vor Labial und Velar (s. SDS I 134– 139); die beiden Formen realisieren also das gleiche Etymon.

Kombinationen von Diversifizierungsprozessen

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auch für die nördliche Schweiz belegt (s. Id. 8, 1461). Dessen Entstehung ist allerdings an verschiedenen Orten unabhängig voneinander denkbar; das Vorkommen in WS und in der älteren Sprache der Nordschweiz muss nicht miteinander zusammenhängen. Die Bildung ist heute in der nördlichen Schweiz nicht mehr geläufig; offenbar ist in der Auseinandersetzung zwischen den quasi-synonymen »Schooss« und »Fürschoss« letzteres durch Monosemierung eliminiert worden.36 •

„stolpern“ (SDS VII 171, KSDS 66) (Karte 13) Die vielfältigen Bezeichnungen für das Stolpern sind ein Beispiel für die Überschichtung von Varianz mit alten, ursprünglich etymologisch relativ klar identifizierbaren Heteronymen durch zusätzliche Variantenbildung über Hybridbildung und assoziative Abwandlungen. Im Ursprung stehen einige wenige Grundformen. Aufgrund der sprachhistorischen Beleglage müssen »stürchle« und »stüle« der ältesten Schicht zugerechnet werden. Sie sind nach Id. 11, 283 u. 1472 schon im 16. Jahrhundert belegt (MAALER 1561, 394v, Zürcher Bibel). Beide können etymologisch auf alte Etyma zurückgeführt werden. Die Form »stürchle« wird etymologisch zu ahd. strūhhōn (> nhd. straucheln) bzw. mhd. *striucheln gestellt, woraus es sich durch Metathese entwickelt hat (DWB 20, 572);37 »stüle« wird aus ahd. (fir-/gi-)stullen ‘einhalten, (stehen) bleiben’ abgeleitet (Id. 11, 283), was lautlich wenig Probleme bietet, jedoch gewisse semantische Fragen offen lässt. Diese Erklärungen setzen ein geografisches Nebeneinander schon in älterer Zeit voraus, dessen Entstehung nicht präziser definiert werden kann. Denkbar sind verschiedene vorausgehende Entwicklungen, von lokalem Wortersatz (von striuchen durch stüllen?) über Monosemierung älterer Quasi-Synonymie bis zu ursprünglicher Polygenese aufgrund von konzeptueller Innovation. Die Varianten »stofle« und »stogle«/»stoggele« gehören einer Formengruppe ›stof-‹ und ›stogg-‹ an, die sich etymologisch nicht auf alte Grundwörter zurückführen lässt und deren Entstehung und Entfaltung wohl nicht regulär laut- und formengeschichtlich erklärbar ist. Im Schweizerdeutschen deckt sie aber ein gut belegtes, reich verzweigtes Bedeutungsfeld ab mit Kernbedeutungen wie ‘steif, unbeholfen, unsicher gehen’. Als expressiv gefärbte, assoziativ mit anderen Bedeutungen verbundene Bezeichnungen sind diese Ausdrücke als Wortersatz für die älteren Ausdrücke einzustufen. Einer motivisch und damit wohl auch diachron späteren Schicht gehören auch »ver-/b-stürze« ›ver-/be-stürzen‹ an, metonymische konkretisierende Weiterentwicklungen aus dem abstrakteren ›stürzen‹. Die Bezeichnung »stolpere« ›stolpern‹ endlich ist wohl noch später aus Deutschland eingedrungen. Sie wurde aber ebenfalls Ausgangspunkt von Weiterentwicklungen.

36

Denkbar wäre auch Vereinfachung von »Fürschoss« zu »Schooss« durch Wegfall der Vorsilbe, wie bei »Schöibe/Schüübe«. Allerdings hat einfaches »Schooss« die Bedeutung ‘Schürze’ schon zur gleichen Zeit oder noch früher als »Fürschooss«. Als Verb selbst ist mhd. *striucheln nicht direkt belegt, jedoch im Kompositum striuchelstôz ‘Stoß, der Straucheln macht’ in Form einer Ableitung bezeugt (LEXER 2, 1245).

37

116

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Einer genetisch letzten Schicht gehören verschiedene weitere Formen an, die aus den Ausgangswörtern durch Hybridbildung entstanden sind. Wohl durch Einfluss von »stüle« ist »stog(g)ele« zu »stügele« abgewandelt worden. »Stüchele« ist eine Hybridbildung aus »stügele« und »stürchle«, ähnlich »stürfle« eine solche aus »stofle« und »stürchle».38 Die Formen »stülpere« und »störple« sind ihrerseits Kreuzungen aus den Formen »stürchle« und »stolpere«. Eine weitere Form »tschülpere« ist wiederum eine Hybridbildung aus »stülpere« und »tschalpe« ‘unbeholfen gehen’.

Karte 13: „stolpern“ (SDS VII 171)

Schematische Darstellung der Schichtung 1.1 stürchle (mhd. *striucheln) 1.2 stüle (mhd. stüllen) 2.1 stofle 2.2 stogle, stoggele 2.3 verstürze, bstürze 3 stolpere 4 stügele (stüle x stog(g)ele), stüch(e)le (stügele x stürchle), stürfle (stofle x stürchle), stülpere, störple (stürchle x stolpere), tschülpere (stülpere x tschalpe) 38

Die Annahme, dass »stürfle« eine Hybridbildung aus »stürchle« und »stofle« ist, setzt voraus, dass in der betreffenden Gegend (BE-Oberland) ursprünglich benachbart »stofle« (mutmaßlich im Westen) und »stürchle« (mutmaßlich im Osten) gegolten haben.

Übergänge und Ambiguitäten zwischen Wortersatz und konzeptueller Innovation

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3.4 ÜBERGÄNGE UND AMBIGUITÄTEN ZWISCHEN WORTERSATZ UND KONZEPTUELLER INNOVATION Die verfügbaren Daten lassen nicht immer klar erkennen, ob eine lexikalische Innovation als Wortersatz für ein bereits vorhandenes Heteronym oder als konzeptuelle Innovation zu interpretieren ist. Schon dadurch, dass in beiden Fällen dieselben Mittel lexikalischer Innovation verwendet werden, verwischt sich das Erscheinungsbild der beiden Arten von Wortschatzwandel. Namentlich bei Bezeichnungen von Alltagserscheinungen ist nicht immer erkennbar, ob im Ursprung eine allgemein gebräuchliche Bezeichnung bekannt war und ersetzt wird oder ob diese Bezeichnung ‚aus dem Nichts‘ gebildet wird, also eine Neuerfindung ist, ohne dass vorher ein etabliertes Wort galt. •

„Anfangsstück des Brotes“ (SDS V 171) (Karte 14) In der SDS-Karte V 171 „(abgeschnittenes) Anfangsstück des Brotes“ zeigen sich Übergänge zwischen großräumigen lexikalisierten Bezeichnungen mit neutralem Bezeichnungsmotiv wie Ableitungen aus ›anschneiden‹ bzw. ›anhauen‹ (»Aaschnitt« und »Aahau«, »Aahäuli«, »Aahäulig« u. a.) und kleinräumigeren eher expressiven Bildungen aus Bezeichnungen von kleinen (ungestalten oder runden) Dingen wie »Mutsch«, »Mürggel«, »Chropf« oder »Gupf«.39 Dazu kommen zahlreiche, in der Symbolkarte nicht verzeichnete Ad-hoc-Bildungen, die anscheinend eher dem engeren familiären Umfeld entstammen, und lexikalisierte Bezeichnungen wie »Chopf« ›Kopf‹ (SO 11), »Mumpf(el)« (Id. 4, 213: ‘ein Mund voll, Bissen’) (SO 18), »Gipf« (SG 9) (Kreuzung zwischen »Gipfel« und »Gupf« ‘Spitze’?), »Chnubel« ‘herausstehender Auswuchs’, ‘Hügel’ (BE 84), »Büürzi« ‘Geflügelsteiß’/‘Haarknoten, Dutt’ (LU 29). In der Legende wird angemerkt, dass manche Ausdrücke „vielleicht familiär“ sind. Manche Bezeichnungen muten schließlich als Verlegenheitsumschreibungen an. Auch viele weiter verbreitete Ausdrücke fallen durch starke Streuung ohne areale Kohärenz auf. Die gleiche Benennung kann u. U. an verschiedenen Orten unabhängig von anderen etabliert werden. Sowohl eine Punkt- wie eine Flächenkarte können derartige komplexe Verhältnisse, die auch lokale Schichtungen vermuten lassen, letztlich nicht präzis darstellen. Die starke Streuung der verschiedenen Bezeichnungen wirft die Frage auf, ob jeweils in eher familiärem Kreis ein neuer, möglicherweise expressiverer Ausdruck als spielerischer Wortersatz für eine allgemeine verbreitete und bekannte Bezeichnung eingeführt wurde oder ob die Einführung einer solchen Bezeichnung in Unkenntnis einer allgemein gültigen Benennung als konzeptuelle Innovation erfolgte.

39

Die Basis »haue« in »Aahau« und verwandten Ableitungen erklärt sich aus der Bedeutung ‘schneiden’ für das Verb »haue« (s. SDS VII 84).

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

V 171) Karte 14: „Anfangsstück des Brotes“ (SDS



„Glockenschwengel“ (SDS V 43) (Karte 15) Die Heteronymie zum „Glockenschwengel“ lässt mehrere Innovationsstufen in historischer Zeit erkennen. Es finden sich Bezeichnungen, die als semantische Weiterentwicklungen (Spezialisierungen oder metonymische Weiterentwicklungen) von älteren Wörtern schon in früheren Epochen zu verstehen sind, heute aber isolierte, undurchsichtige Lexeme sind. Schwierig zu erklären ist vor allem »Challe«; es wird in Id. 3, 194 als instrumentale Ableitung zum Verb ahd. kallōn, mhd. kallen gedeutet, das im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen mit der Bedeutung ‘laut sprechen/singen/brüllen’ belegt ist.40 Die Verwendung als Bezeichnung für den Glockenschwengel setzt für kallōn eine ursprüngliche Bedeutung ‘(lauten Schall) verursachen’ voraus, eine Bedeutung, die als solche nirgends belegt ist. Als Variante zu »Challe« wird in Id. 2, 1128 auch »Halle(r)« gestellt, und zwar als (wohl assoziative) Abwandlung mit Anklang zu »halle« ›hallen‹. Klarer sind »Chlängel«, »Chlangel«, »Halm« und »Chängel«, die innerhalb des Mittelhochdeutschen durchsichtige, motivierte Ableitungen sind. »Chlängel« und »Chlangel«, setzen mhd. klengel und *klangel fort, reguläre Ableitungen zu mhd. klengen ‘zum Klingen bringen’ und klangelen ‘klingen’. »Halm« und »Chängel« sind zu mhd. halm bzw. kengel zu stellen. Beide Wörter bezeichnen zunächst kleine, röhren- oder stengelartige Gebilde und entwickeln sich zu Bezeichnungen von länglichen

40

Ebenso an. kalla ‘laut rufen’.

Übergänge und Ambiguitäten zwischen Wortersatz und konzeptueller Innovation

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Gegenständen, so zu Stielen von Werkzeugen. »Halm« und »Chängel« sind aber heute isolierte Bildungen. Schließlich kommen eher verstreut und isoliert Bezeichnungen vor, die innerhalb der Gegenwartssprache Bezeichnungen für formähnliche – längliche, runde – Objekte oder Ableitungen von Verben des losen Herunterhängens sind: »Schwängel, »Schwingel«, »Schlänggel«, »Pambel/Bämbel«, »Plämpel«, »Plamper«, »Cholbe«, »Chlöppel«, »Pändel«, »Bängel«. Diese Wörter können ebenso gut Ad-hoc-Umschreibungen wie lexikalisierte spezialisierte Bezeichnungen sein. Aus dem Grad der synchronen Motiviertheit der einzelnen Ausdrücke innerhalb der Wortschätze in einem bestimmten Sprachstadium lässt sich eine Abfolge von Innovationen rekonstruieren. »Challe« muss einer ältesten Schicht zugeordnet werden. Das Wort war schon im Mittelhochdeutschen eine unmotivierte Bezeichnung, denn es kann nicht auf eine durchsichtige, semantisch motivierte Weise zu einem anderen im Mittelhochdeutschen gebrauchten Wort in Beziehung gebracht werden. Anders verhält es sich bei »Chlängel«, »Chlangel«, »Halm« und »Chängel«, die aus dem mittelhochdeutschen Wortschatz direkt ableitbar sind. Demzufolge dürften die letzteren Ausdrücke Ersatzbildungen zu einem ursprünglicheren »Challe« sein, ebenso, wenn es sich um eine Abwandlung handelt, »Halle(r)«. Zu einer allerneusten Schicht gehören Ausdrücke wie »Schwängel«, »Schwingel«, »Schlänggel«, »Pambel/Bämbel«, »Plämpel«, »Plamper«, »Cholbe«, »Chlöppel«, »Pändel«, »Bängel«, lauter Wörter, die in der Gegenwartssprache auch in anderen Verwendungen präsent sind. Bei dieser Schicht fällt neben der starken Streuung der Varianten auf, dass sie ausschließlich im nördlichen Teil vertreten ist. Die Streuung der Varianten würde an sich darauf deuten, dass die ursprünglichen Bezeichnungen nicht (mehr) bekannt waren und sie ad hoc als neue Bezeichnungen geschaffen wurden. Dies müsste aber eigentlich für alle Regionen in vergleichbarer Weise gelten. Dieser Umstand macht es schwierig, zu bestimmen, ob die Innovationen Ersatzinnovationen (Wortersatz) für intransparent gewordene Ausdrücke oder neue Konzeptualisierungen für verloren gegangene Bezeichnungen sind. Rein wortgeschichtlich ist die Schichtung der Varianten allerdings relativ klar rekonstruierbar. Schematische Darstellung der Schichtung 1 Challe 2 Chlängel, Chlangel, Halm, Chängel 3 Halle(r) 4 Schwängel, Schwingel, Schlänggel, Pambel/Bämbel, Plämpel, Plamper, Cholbe, Chlöppel, Pändel, Bängel

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

Karte 15: „Glockenschwengel“ (SDS V 43)

3.5 UMSTRUKTURIERUNGEN IM WORTSCHATZ Umstrukturierungen im Wortschatz können großräumig erfolgen, aber in den Teilregionen auf unterschiedliche Weise. Dadurch entsteht areale Diversität auf einer strukturellen Ebene, die über Diversität beim einzelnen Konzept hinausgeht. Isolierte onomasiologische Karten bieten selten genügend Informationen, um die Strukturierung ganzer Wortfelder rekonstruieren zu können. Zu einigen Beispielen bietet der SDS jedoch ausführliche Karten. 3.5.1 Semantische Differenzierung von Quasi-Synonymen (Bedeutungsdifferenzierung) Durch Diffusionsprozesse kann regional Quasi-Synonymie entstehen, konkret dadurch, dass aufgrund von Diffusion eine Zeitlang neben einem älteren eine neueres, aus einer Nachbarregion übernommenes gleichbedeutendes Wort verwendet wird. Statt durch Monosemierung kann diese Quasi-Synonymie auch durch semantische Differenzierung beseitigt werden. In diesen Fällen entsteht zwischen benachbarten Regionen eine strukturelle Heteronymie: Es gelten unterschiedliche Bedeutungsdifferenzierungen zwischen einzelnen Wörtern.

Umstrukturierungen im Wortschatz

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»Wälle« – » Buurdi« ‘Reisigbündel’ (SDS VIII 155) (Karte 24, S. 150, Karte 31, S. 172) In Teilen von ZH dringt zu einem älteren »Buurdi« ‘Reisigbündel’ ein neueres »Wälle« ein.41 Für ZH 62 und 64 wird im Kommentar angegeben, dass dort »Wälle« ein gröberes Reisigbündel bezeichnet, «Buurdi« ein feineres (aus feineren Ästen gebündelt). In den benachbarten Orten wird die QuasiSynonymie teilweise als solche geduldet.



„Lehm“ (SDS VI 74) Die alte Quasi-Synonymie »Leim« – »Lätte« für ‘Lehm, Tonerde’ wird gewöhnlich durch Monosemierung beseitigt (s. Abschnitt 3.2.2). An einzelnen Orten der Nordwestschweiz (BA, SO) wird sie dagegen zu inhaltlichen Unterscheidungen verwendet, die allerdings lokal sehr unterschiedlich oder sogar gegensätzlich sein können. Vorherrschend ist die Verwendung von »Leim« für die feine, tonige Erde (fachsprachlich Ton), die auch für Gebrauchszwecke (Töpferei, Ziegel, Abdichten) verwendbar ist, während mit »Lätt» die grobe, bröckelige mit Sand vermischte, unbrauchbare Lehmerde bezeichnet wird (s. SDS VI 74 Legende I). Die vielfältigen Varianten der Bedeutungsunterscheidungen zeigen, dass die Unterscheidungen nicht ursprünglich sind, sondern nachträglich aufgrund der Implikatur ‚formaler Unterschied ⇒ inhaltlicher Unterschied‘ abgeleitet worden sind.



»klemmen« - »klimmen« ‘(ein-)klemmen’/’kneifen’ (SDS IV 91/92, KSDS 62) Die Differenzierung zwischen ‘(sich den Finger) einklemmen’ und ‘(jd.) kneifen’ ist im Schweizerdeutschen kompliziert, schon dadurch, dass auch die einzelnen Heteronymien sehr vielgestaltig sind. An dieser Stelle soll nur die Differenzierung zwischen »chlimme« (ahd. *klimban, mhd. klimben, klimmen st. V.) und «chlemme« (germanisch *klambian, mhd. klemmen sw. V.) betrachtet werden. In Teilen des Schweizerdeutschen sind die beiden Wörter semantisch zusammengefallen und werden undifferenziert für beide Vorgänge verwendet: In BE, SO, Teilen von AG (der alte Berner Aargau) und BS wird »chlemme« undifferenziert mit einer allgemeinen Bedeutung ‘klemmen’ (sowohl ‘sich den Finger einklemmen’ wie ‘kneifen’) verwendet, in LU und AGFreiamt wird ebenso undifferenziert für ‘klemmen’ die Form »chlimme« verwendet. Im Norden von AG (Fricktal, Baden) dagegen wird differenziert zwischen »(ii-)chlemme« ‘(sich den Finger ein-)klemmen’ und »chlimme« ‘(jd.) kneifen’. Diese Differenzierung ist nicht aus dem mittelhochdeutschen Wortgebrauch erklärbar, sondern muss sich nachträglich aus einem Nebeneinander von synonymen »chlimme« und »chlemme« entwickelt haben.

41

Zu den Einzelheiten dieser Deutung s. Abschnitt 3.7 S. 178

122

Bezeichnungswandel und areale Diversität

3.5.2 Innovation zum Ausgleich von Bedeutungswandel Wie in Abschnitt 2.3.5.2 beschrieben, kann Wortschatzwandel auch darin bestehen, dass zum Ausgleich von Wortverlust durch Bedeutungswandel ein neues Wort eingeführt wird. Auch dies kann regional beschränkt oder lexikalisch unterschiedlich erfolgen, so dass in Bezug auf die konzeptuelle Differenzierung eines Sachbereichs regionale Differenzen entstehen. •

„kleines Kopfkissen“ (SDS VII 186/187, KSDS 206) Zur älteren (bürgerlichen) Schlafkultur gehört die Ausstattung des Bettes mit zwei übereinander gelegten Kopfkissen verschiedener Größe. Aus den Belegen in Id. 5, 1099 ist zu schließen, dass im Frühneuhochdeutschen mit kissen und pfulwen/pfulben u. ä. eine Unterscheidung zwischen Kissen verschiedener Größe gemacht wird; dabei bezeichnet kissen das kleinere Kissen, pfulwen/pfulben das größere Kissen. 42 Diese Unterscheidung wird in der Ostschweiz weitergeführt, wo das größere Unterkissen nach SDS VII 187 als »Pfulme«, »Pfulb(e)«, »Pulf(e)« bezeichnet wird, das kleinere Kissen als »(Chopf-)Chüssi» ›(Kopf-)kissen‹. Westlich von ZH und GL ist die Unterscheidung dadurch dahingefallen, dass der Typ ›Pfulwen‹ verschwunden ist und nur der Typ ›Kissen‹ übriggeblieben ist. Offenbar verschwand die alte begriffliche Differenzierung zwischen den beiden Lexemen und die QuasiSynonymie wurde zugunsten von »Chüssi« beseitigt. Damit konnten die beiden Kissenarten jedoch lexikalisch nicht mehr unterschieden werden. Dieses Problem wurde unterschiedlich gelöst. Teilweise wird mehr deskriptiv mittels differenzierenden Adjektiven zwischen »chlii(ner) Chüssi« und »lang/länger Chüssi« ›klein(er)es Kissen‹ – ›langes/längeres Kissen‹ unterschieden. An anderen Orten wird gegenüber dem kleineren »Chüssi« das größere Kissen als »Chopfchüssi« ›Kopfkissen‹ oder »Hauptchüssi« ›Hauptkissen‹ bezeichnet; dabei erfährt das Lexem ›Haupt‹ in Gegenden, in denen das Lexem als Bezeichnung für ‘Kopf’ verschwunden ist, offenbar eine Umdeutung zu ‘wichtigeres Kissen’. Überwiegend werden aber für das kleine Kissen neue Ausdrücke eingeführt. Im Kanton Bern ist franz. oreiller als Entlehnung in der Form »Oreijee« oder in Umformung in Anlehnung zu »Oor« ›Ohr‹ als »Ooreli« übernommen worden. In LU wird dagegen eine neue Bezeichnung »Wängerli« ‘Wangenkissen’ kreiert, in BS-Baselland »Schulterli« ‘Schulterkissen’.



„Zaun“ und „Hecke“ (SDS VIII 207/208) Wie in Abschnitt 3.2.2 beschrieben, erhielt durch Monosemierung der zu Quasi-Synonymen gewordenen »Zuun« und »Haag« im vielen Regionen der Ausdruck »Haag« die Bedeutung ‘Zaun’ (‘Abgrenzung aus festen Materialien wie Stein und Holz’). In diesen Gegenden ergab sich durch den Bedeutungs-

42

Vgl. Belege wie „Ein bett git XVI hllr; ein pfulw git VIII hllr, ein küssy git II hllr.“ (Zollordnung Brugg AG a. 1460). – „An Bettzüg: 4 Bettschaften, ein Kinder-Fäder-Deckli, ein Pfulmen und 6 kleine Küsseli“ (ZH a. 1655).

Umstrukturierungen im Wortschatz

123

wandel von »Haag« das onomasiologisches Problem, dass danach für die Hecke (Abgrenzung aus Büschen) kein althergebrachtes Wort mehr zur Verfügung stand. Vor allem in jenen Gegenden wurden deshalb neue Bezeichnungen mit »Haag« gebildet, meist Komposita und adjektivische Kombinationen wie »Läbhaag« ›Lebhag‹, »läbige Haag« ›lebendiger Hag‹, »Grüenhaag« ›Grünhag‹, »grüene Haag« ›grüner Hag‹, »Stuudehaag« ›Staudenhag‹, »Dornhaag« ›Dornhag‹. Komplex sind die Verhältnisse im »Zuun«-Gebiet. Funktional gesehen würde die weitere Verwendung von »Haag« in der alten Bedeutung zur Konzeptunterscheidung reichen. Ebenso geläufig ist allerdings auch in diesen Gebieten »Läbhaag«, eigentlich eine redundante Präzisierung von »Haag«. Daneben kommen dort auch Formen wie »Läbzuun«, »läbige Zuun«, (v. a. WS und GR), »Dörnzuun« ›Dornzaun‹ (v. a. GL) vor. Diese Verhältnisse lassen unterschiedliche Interpretationen zu. Nahe liegt, dass auch im »Zuun«-Gebiet vielfach eine Monosemierung mit Elimination von »Haag« stattgefunden hat. Die Lücke wird überwiegend durch Übernahme von »Läbhaag« als fixiertes Lexem durch Diffusion gefüllt. Sie kann aber auch mit Komposita von »Zuun« gefüllt werden. 3.5.3 Umschichtungen in Konzeptfeldern Umschichtungen in Konzeptfeldern (s. Abschnitt 2.3.5.3) können dadurch zu arealer Diversität führen, dass diese Umschichtungen lokal beschränkt durchgeführt oder lexikalisch über unterschiedliche Innovationen realisiert werden. Wie früher erwähnt, sind aus einzelnen onomasiologischen Karten Umschichtungen in Konzeptfeldern kaum je direkt erkennbar. Sie lassen sich in manchen Fällen aus dem Vergleich mehrerer Karten zu einem zusammenhängenden Sachgebiet rekonstruieren, falls ein solches dargestellt wird. Im SDS finden sich einzelne solche Fälle. Ein vielfältiger Bereich wird im Kapitel „Gefäße aus Holz, Metall, Ton“ in SDS VIII dargestellt, in dem sich Wortgeschichte, Sachgeschichte und Sachwandel in komplexer Weise durchdringen. Sonderfälle sind Kombinationskarten, in denen die unterschiedlichen lokalen Strukturierungen des Wortgebrauchs in onomasiologischer Perspektive dargestellt werden. Ein Beispiel dafür ist SDS VIII 14 „Altersstufen des Rindes“.43 3.5.3.1 Konzeptfeld SCHICHT AUF MILCH Ein verhältnismäßig einfaches Beispiel für die Entstehung arealer Diversität durch Umschichtungen in einem Konzeptfeld ist das Konzeptfeld SCHICHT AUF MILCH (SDS V 163) (Karte 16).

43

S. dazu auch Abschnitt 6.4.1, S. 323.

124

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Karte 16: „Konzeptfeld SCHICHT AUF M ILCH“ (SDS V 163)

Wie in Abschnitt 2.3.5.3 ausgeführt, wurde in gewissen Regionen als Neuerung eine lexikalische Differenzierung zwischen der Rahmschicht auf der rohen Milch und der Kaseinschicht auf der gekochten Milch eingeführt.44 In anderen Gegenden wird jede Art von Schicht auf der Milch einheitlich bezeichnet, je nachdem als »Niidel/Niidle« oder »Roum/Ruum/Ruun«. Dadurch entsteht erstens ein Gegensatz zwischen Gegenden mit bzw. ohne konzeptuelle Differenzierung der beiden Sachen. Zweitens ergibt sich ein lexikalischer Gegensatz innerhalb der Regionen, in denen keine konzeptuelle Differenzierung zwischen den beiden Arten von Schichten gilt. In den Gegenden, in denen zwischen beiden Arten von Schichten unterschieden wird, werden unterschiedliche Ausdrücke für die Haut auf der gekochten Milch verwendet. Entweder wird eine vermutlich ursprüngliche QuasiSynonymie »Niidel« – »Raum/»Ruum« durch semantische Differenzierung zur konzeptuellen Differenzierung ausgenützt. Auffallend ist, dass in diesen Fällen »Niidel/Niidle« immer die Rahmschicht, die Varianten »Raum/Room/Ruum« immer die Schicht auf der gekochten Milch bezeichnen und dass dies ein Merkmal vornehmlich von inneralpinen Dialekten ist. Unabhängig davon werden in anderen Regionen zur Bezeichnung der Haut auf der gekochten Milch neue Bezeichnung durch metaphorische oder metonymische Übertragungen wie »Pelz«,

44

S. die Karten „Rahm auf roher Milch“ (SDS V 161), „Schicht auf gekochter Milch“ (SDS V 162) und die Kombinationskarte SDS V 163.

Umstrukturierungen im Wortschatz

125

»Huut«, »Schlämpe«, »Chüejer«, »Fäum«, »Poppel«, »Plämpel« geschaffen. Diese Heteronymie schafft eine dritte Ebene von arealer Diversität. 3.5.3.2 Konzeptfeld KÖRBE Das Konzeptfeld KÖRBE ‘aus (Weiden-)Ruten geflochtene Tragbehältnisse’ umfasst mehrere Arten von Körben mit verschiedenen Formen, Größen und Zwecken. Die sprachliche Organisation des Konzeptfeldes zeigt areal vielfältige Unterschiede: Die gleichen Bezeichnungen werden für unterschiedliche Typen von Körben verwendet, gleichzeitig werden unterschiedliche Differenzierungen gemacht. Dies ist das Resultat vielfältiger Veränderungen des Wortschatzes. Die Verhältnisse, wie sie im SDS dokumentiert werden (SDS VII 62–68), sind im Einzelnen recht komplex, oft mit unscharfen Grenzen. Die Darstellung wird hier auf die Analyse der klar abgrenzbaren und musterhaften Haupttypen beschränkt. In der onomasiologischen Differenzierung und Kartografierung in SDS VII 62–66 werden folgende Korbtypen unterschieden: A große zweihenklige, meist runde Körbe zum Transportieren von Holz, Kartoffeln und ähnlichen (gröberen) Gegenständen B große (meist ovale) zweihenklige Wäschekörbe (normalerweise auch feiner gearbeitet als die Körbe zum Transportieren von gröberen Gegenständen) C einhenklige kleinere Körbe, vor allem zum Befördern von Speisen (Verpflegung), aber auch zur Verwendung beim Ernten von Kirschen oder Zwetschgen D

Rückentragkörbe

Zur Bezeichnung von Tragkörben stehen im Schweizerdeutschen einerseits alte, schon im Althochdeutschen oder Mittelhochdeutschen belegte Lexeme zur Verfügung, nämlich »Cho(o)rb« ›Korb‹, »Zäine« ›Zaine‹ und »Chratte« ›Kratten‹. 45 Dazu kommen als neuere Bildung »Schin(n)er« (zu mhd. schine ‘längliches Stück Holz, Zweig’) und in der nordöstlichen Ecke von AG »Chucher« zu ahd. kohhar ›Köcher‹ ‘Gefäß, Behälter, v. a. für Pfeile’.46 Für Rückentragkörbe enthält SDS VII 66 eine Reihe zusätzlicher, spezieller Ausdrücke, v. a. »Hutte« (Westschweizerdeutsch), »Chrää(n)ze« (ZH, SG, GR), »Tschif(e)re« (WS, UW) und «Raschi» (GL, Obertoggenburg, Walensee-Seeztal). Die Etymologien sind nicht immer klar. »Hutte« wird von Id. 2, 1778 in Zusammenhang mit Hütte gestellt; gemeinsamer Hintergrund ist das Motiv ‘Flechtwerk’. Der Ausdruck »Chrääze« kann aufgrund des Langvokals nicht als etymologisch identisch oder verwandt mit Krätze (ahd. krezzo, eine Variante zu Kratten) einge45 46

»Chorb«: ahd. korb (< lat. corbis) ‘Korb’, »Zäine«: ahd. zein(n)a ‘Korb’ (germ. *tainjon, zu germ. *taina, *tainaz, ‘Gerte’, ‘Zweig’?), »Chratte«: ahd. kratto. »Schinner« ist auch im Hotzenwald nördlich von AG belegt und hatte demzufolge offenbar früher eine weitere Verbreitung (s. SSA IV/4.09).

126

Bezeichnungswandel und areale Diversität

ordnet werden. In Id. 3,296 wird es stattdessen in Verbindung zu bair. Krachsen/Krächsen/Kraxen/Kräxen (SCHMELLER I 1360, DWB V 1923) gebracht, die hrerseits zu chrachseln/chrächseln und chrääzen ‘mühsam gehen, kriechen’ gestellt werden, woraus eine Verbindung zu ‘mühsam schleppen’ herzustellen ist.47 Im Vergleich zu »Hutte« ist mit dieser Herleitung »Chrääze« als Innovation und damit als Wortersatz zu interpretieren. Als Entlehnung ist in WS und UW »Tschif(e)re « (aus lombardisch civéra, vgl. Id. 14, 1697) eingedrungen und entsprechend ebenfalls als Wortersatz einzustufen. Als Neuerung durch Wortersatz muss auch »Raschi« gelten, das in einem Gebiet zwischen Zürichsee, Walensee und GL verwendet wird; nach Id. ist es ebenfalls ein neueres Wort. Aufs Ganze gesehen sind die Bezeichnungen der Rückentragkörbe überwiegend lexikalische Innovationen.48 Weitere Spezialisierungen von besonderen Korbtypen werden in der Regel durch vorangestellte Bestimmungswörter gebildet (»Chirsichratte« ›Kirschenkratten‹); diese Differenzierungen bleiben im Folgenden aber ausgeklammert. Die vorkommenden Lexeme werden in unterschiedlicher geografischer Verteilung zur Benennung der einzelnen Korbtypen verwendet. In Abb. 3.1 und Karte 17 werden die Hauptgruppierungen in einer vereinfachenden schematischen Übersicht dargestellt.49 Es geht dabei vor allem um die Strukturtypen an sich, nicht um die genaue regionale Gliederung, die kaum darstellbar ist. Praktisch jeder Ort hat seine eigenen Besonderheiten, und es gibt viele Übergangs- und Überlappungszonen. Die Verteilung ist insofern schwer zu überblicken, als mit gleichen Ausdrücken unterschiedliche Korbtypen bezeichnet werden und die Korbtypen unterschiedlich gruppiert werden. Die alten Bezeichnungen »Choorb« und »Zäine« treffen wir regional unterschiedlich als Benennungen des großen zweihenkligen Korbs an: »Choorb im Westen, »Zäine« mit Abwandlungen wie »Zaale, Zoole usw. (monophthongierte Verkürzungen von Diminutivformen) im Osten, in einer Zwischenzone die neuere Entwicklung »Schinner«, (im Nordosten von AG zusätzlich »Chucher«). Die gleiche Verteilung gilt grundsätzlich für den Wäschekorb, jedoch wird im »Schinner«-Gebiet der Wäschekorb meist als »Zäine« bezeichnet. Gleichzeitig werden regional unterschiedlich »Choorb« und »Zäine« als Oberbegriff für mehrere Korbarten verwendet oder mit den vorhandenen Lexemen die verschiedenen Korbarten auch sprachlich unterschieden.

47

48

49

Die konzeptuelle Ähnlichkeit zur Bildung von ›Tanse‹ (»Tause« usw.) ‘Rückentraggefäss für den Milchtransport’ (SDS VII 44, KSDS 196, Id. 13, 722/34) als Ableitung zu ahd. dinsan ‘mühsam ziehen, schleppen tragen’ ist auffallend. Die Etymologie ist unklar. Eine Beziehung zum Verb »rasche« ‘zusammenlesen, mühsam sammeln’ (Id. 3, 1659) ist nicht leicht herzustellen; allenfalls könnte man einen Ursprung in der Bezeichnung des Rückentragkorbs als ‘Gefäß zum Aufbewahren von (kleinen) gesammelten Dingen (z. B. kleine Äste)’ vermuten. Die Strukturtypen der Konzeptfelder werden durch Ziffern unterschieden, die unterschiedlichen lexikalischen Realisierungsformen durch zusätzliche Buchstaben.

127

Umstrukturierungen im Wortschatz

Typ

Region

A

1a

BE

zweihenkliger großer Korb Choorb

B Wäschekorb

C

D

einhenkliger kleiner Korb

Rückentragkorb

Choorb

Choorb

Hutte

1b 1c

WS SZ, UR

Choorb Zäine

Choorb Zäine

Tschifere Choorb

Zäine Choorb Zäine Zäine

Zäine Choorb Zäine Zäine

2d

ZG BS-West, AG-Süd BS-Landschaft Ost ZH-Nord GR-Nord ZH-Süd

Choorb Zäine (UR: auch Choorb) Choorb Chratte Choorb Chratte

1d 2a 2b 2c

Zäine

Zäine

Chratte/ (Choorb)

2e

UW

Zäine

Zäine

2f

TG, SG-Nord, AP

2g 2h 3a

Zaane, Zole usw. (aus Zäine) Zäine Zäine Zäine

3b

GL, SG-Walensee GR-Südost AG-Fricktal SO-Ost AG-Nordost

Zaane, Zole usw. (aus Zäine) Zäine Zäine Choorb

Chratte/ (Choorb) Choorb

(Schoosu.ä.) -Choorb Tschifere

Zäine

3c

LU

Chucher/ (Schinner) Schinner

Zäine

Choorb Hutte Hutte Chrääze

Chrää(n)ze

Choorb Choorb Chratte

Raschi Tschifere Hutte

Chratte/ (Choorb) Choorb

Hutte Hutte

Abb. 3.1: Regionale Strukturierungen des Konzeptfeld KÖRBE (SDS VII 62–68)

Eine interpretatorische Schwierigkeit bieten die Bezeichnungen des einhenkligen Korbes, in SDS VII 64 am Beispiel des „einhenkligen Verpflegungskorbs“ kartiert. Dieser Typ Korb wird an den meisten Orten allgemein als »Choorb« bezeichnet. Dazu wird in einem größeren nördlichen Bereich (SO, BA, AG, ZH, am Bodensee und in nördlichen Teilen von GR als zusätzliche Möglichkeit »Chratte« angegeben, an einzelnen Orten auch als einzige Möglichkeit. »Chratte« wird zudem in Dialektwörterbüchern auch für Gegenden angegeben, für die der SDS »Chratte« nicht belegt.50 Dieses Nebeneinander von »Choorb« und »Chratte ist anhand der SDS-Darstellung nicht leicht zu interpretieren. Gemäß SDS VII 64 be50

So etwa VON GREYERZ / BIETENHARD (2008, 79), ASCHWANDEN (2013, 115).

128

Bezeichnungswandel und areale Diversität



Karte 17: „Konzeptfeld KÖRBE“: Geografische Verteilung der regionalen Strukturvarianten (SDS VII 62–68)

stehen in den meisten Fällen zwischen »Choorb« und »Chratte« auch sachliche Unterschiede; diese werden aber in der Darstellung des SDS nicht näher ausgeführt. Bei einer Deutung muss gleichzeitig die Verwendung von »Choorb« für große Körbe mitberücksichtigt werden. Allgemein deuten die Angaben darauf hin, dass in unterschiedlicher Weise »Choorb« ein allgemeinerer Ausdruck ist als »Chratte« und dass «Chratte« generell nur für spezielle Arten von Körben verwendet wird. Wo »Choorb«, wie in BE und AG-Berner Aargau, gleichzeitig als Bezeichnung aller Arten von großen zweihenkligen Körben dient, kann der Schluss gezogen werden, dass es nur für den kleinen einhenkligen Korb eine spezielle Bezeichnung gibt bzw. dass »Choorb« polysem zwischen dem Oberbegriff ‘Korb’ und dem Spezialbegriff ‘großer zweihenkliger Korb’ ist. Wo »Choorb« nicht anderweitig bereits besetzt ist, (also in den Gegenden, in denen für große Korbe »Zäine« und »Schinner« gilt), kann aus dem Nebeneinander von »Choorb« und »Chratte« als Bezeichnungen für den kleinen einhenkligen Korb entweder abgeleitet werden, dass beide freie Synonyme sind, oder dass »Choorb« der Überbegriff für alle Arten von Tragkörben ist und zusätzlich für spezielle Körbe (großer Korb – kleiner Korb) je besondere Unterbegriffe bestehen. Überhaupt ist nach den Angaben generell davon auszugehen, dass »Choorb« in allen Dialekten als Bezeichnung des Oberbegriffs für alle Körbe oder der prototypischen Körbe existiert. Der Ausdruck wird in Angaben zur Bezeichnung der speziellen Korbtypen

Umstrukturierungen im Wortschatz

129

deshalb nicht erwähnt, weil eine solche Antwort der GRICE’schen Maxime der Quantität widersprechen würde: Man nennt nicht den Oberbegriff, wenn die Bezeichnung des speziellen Gegenstands erfragt ist. Vereinfacht lassen sich aufgrund von Abb. 3.1 für die einzelnen Regionen folgende Wortfeldstrukturen mit ihrer lexikalischen Realisierung rekonstruieren. Konzeptfeldtyp 1: Zweiteilige Klassifikationsssysteme Konzeptfeldtypen 1a, 1b und 1c: Es gibt eine allgemeine Bezeichnung für alle Korbarten, die von Hand getragen werden. Davon werden Rückentragkörbe unterschieden, mit regional unterschiedlichen Bezeichnungen. Regionen 1a und 1b: ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ Choorb

‘zum Tragen am Rücken’ BE: Hutte WS: Tschif(e)re

Abb. 3.2: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in den Regionen 1a und 1b

Region 1c: ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ Zäine

‘zum Tragen am Rücken’ Choorb

Abb. 3.3: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in der Region 1c

Konzeptfeldtyp 1d (Region 1d): Unterschieden werden große Korbarten und kleine Korbarten, bei diesen gleichgültig, ob sie von Hand oder am Rücken getragem werden ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘großer Korb’ Zäine

‘kleiner Korb (zum Tragen von Hand oder am Rücken)’ Choorb

Abb. 3.4: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in der Region 1d

Konzeptfeldtyp 2: Dreiteilige Klassifikationssysteme: Es gibt eine allgemeine Bezeichnung für die großen zweihenkligen Körbe. Davon werden der kleine einhenklige Korb sowie der Rückentragkorb unterschieden.

130

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Region 2a ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ ‘zweihenklig, groß’ Choorb

‘einhenklig, klein’ Chratte

‘zum Tragen am Rücken’ Hutte

Abb. 3.5: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in der Region 2a

Regionen 2b und 2f ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ ‘zweihenklig, groß’ BS-Landschaft: Zäine TG, SG-Nord, AP: Zaane, Zoole usw. (< Zäine)

‘einhenklig, klein’ »Choorb«

‘zum Tragen am Rücken’ BS-Landschaft: Hutte TG, SG-Nord, AP: Chrää(n)ze

Abb. 3.6: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in den Regionen 2b und 2f

Regionen 2c, 2d und 2e ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ ‘zweihenklig, groß’ Zäine

‘einhenklig, klein’ Chratte

‘zum Tragen am Rücken’ ZH-Nord: Chrääze ZH-Süd: -Choorb UW: Tschif(e)re

Abb. 3.7: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in den Regionen 2c, 2d und 2e

Regionen 2g und 2h ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ ‘zweihenklig, groß’ Zäine

‘einhenklig, klein’ Choorb

‘zum Tragen am Rücken’ SG-Walensee: Raschi GR-West: Tschifere

Abb. 3.8: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in der Region 2g

131

Umstrukturierungen im Wortschatz

Konzeptfeldtyp 3: Vierteilige Klassifikationssysteme: Alle Korbtypen werden sprachlich unterschieden. Regionen 3a und 3b: ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ ‘zweihenklig, groß’ ‘rund, für ‘viereckig, für Wäsche usw.’ Gröberes’ Zäine AG-Fricktal: Choorb AG-Nordost: Chucher/ (Schinner)

‘einhenklig, klein’ Chratte

‘zum Tragen am Rücken’ Hutte

Abb. 3.9: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in den Regionen 3a und 3b

Region 3c ‘geflochtenes Traggefäß’ ‘zum Tragen von Hand’ ‘zweihenklig, groß’ ‘rund, für ‘viereckig, für Gröberes’ Wäsche usw.’ Schinner Zäine

‘einhenklig, klein’ Choorb

‘zum Tragen am Rücken’ Hutte

Abb. 3.10: Semantische Strukturierung des Konzeptfelds KÖRBE in der Region 3c

Die Frage stellt sich, durch welche diachronen Prozesse diese unterschiedlichen Wortfeldstrukturen zustande gekommen sind. Auszugehen ist von einem In- und Nacheinander von Monosemierung und Innovationen, kombiniert mit semantischer Differenzierung. Als Ausgangspunkt ist eine historische Quasi-Synonymie von »Choorb« und »Zäine« als Bezeichnung für Körbe, möglicherweise speziell für große Körbe, anzunehmen. Beide Lexeme sind seit dem Althochdeutschen nebeneinander belegt. In Glossen dienen sie als Interpretamente der gleichen lateinischen Ausdrücke. In DWB 31, 210 wird zwar bei frühneuhochdeutschen Belegen angemerkt, dass in Doppelnennungen offenbar ein Unterschied zwischen Korb und Zaine besteht. Die widersprüchlichen Bedeutungsentwicklungen von Zaine in den verschiedenen Dialekten zeigen aber, dass die Bedeutung von Zaine unstabil ist. Zaine kann beispielsweise auch auf dem Kopf getragene (also eher kleine) Körbe bezeichnen. Für die Verteilung zwischen »Choorb« und »Zäine« im Schweizerdeutschen ist anzunehmen, dass die beiden Wörter zu einer bestimmten Zeit qua-

132

Bezeichnungswandel und areale Diversität

si-synonym (geworden) waren. Für die weitere Entwicklung können wir annehmen, dass diese Quasi-Synonymie im Westen und im Osten in unterschiedlicher Weise beseitigt wurde. In der Region 1a wurde durch Monosemierung »Choorb« zur alleinigen Bezeichnung von Körben aller Art. Umgekehrt wurde in SZ und UR (Region 1c) »Zäine« zur allgemeinen Bezeichnung von Körben. Im Osten wurde dagegen die Quasi-Synonymie dadurch beseitigt, dass eine semantische Differenzierung hergestellt wurde: »Zäine« wurde zur speziellen Bezeichnung von großen Körben, im Unterschied zu »Choorb«, das die allgemeine Bezeichnung von geflochtenen Traggefäßen blieb, speziell kleinen, einhenkligen Körben zum Tragen am Arm. Das System wurde zusätzlich in einem mittleren Streifen umgeschichtet durch die Neuerung »Schin(n)er«. Dadurch entstand eine neue Quasi-Synonymie, die wiederum durch semantische Differenzierung beseitigt wurde: »Schin(n)er« wurde auf die großen Tragkörbe für grobe Gegenstände beschränkt, der Ausdruck »Zäine« wurde für die feineren Tragkörbe für Wäsche spezialisiert. Ähnliche Entwicklungen sind zu vermuten im kleinen Gebiet im Nordosten von AG (Region 3b), wo der zweihenklige große Korb als »Chucher« bezeichnet wird. Diese Verwendung des Wortes muss als Ausweitung der Bedeutung des Lexems »Chucher« verstanden werde; nach Ausweis der Belege (s. etwa DWB 11, 1560) bezeichnete es ursprünglich einen kleinen, länglichen Behälter speziell für Pfeile, dann auch (geflochtene) Fischreusen und kleine, längliche Körbe für die Obsternte u. ä. Die Ausdehnung auf große Körbe schuf eine Quasi-Synonymie mit »Zäine«, die wie im ursprünglichen benachbarten »Schin(n)er«/»Zäine«-Gebiet durch Differenzierung zwischen »Chucher« ‘großer zweihenkliger Korb für grobe Gegenstände’ – »Zäine« ‘Wäschekorb’ aufgelöst wurde.51 Mehrdeutig sind, wie beschrieben, die Verhältnisse bei den Bezeichnungen für den einhenkligen Verpflegungskorb. Die Karte zeigt ein regional eingeschränktes Geltungsgebiet für »Chratte«, mit dem eine allgemeine Verbreitung von »Choorb« einhergeht; in einem zentralen Gebiet in SZ und UR wird dafür statt dessen »Zäine« genannt. Wo »Chratte« nicht genannt wird, scheint ein spezielles Wort für diese Art von Korb zu fehlen, obwohl es ursprünglich wohl vorhanden war. Wie dieses Verschwinden zu interpretieren ist, ist unklar; u. U. ist es daraus zu erklären, dass es zwar an sich bekannt ist, aber für den erfragten Typ von Korb nicht passte. D. h., das Wort hat im Zusammenhang mit den anderen Ausdrücken eine zusätzliche semantische Spezialisierung erfahren, die den Ausdruck durch das Netz der Befragung und Kartografierung rutschen ließ. Die Heteronymie bei „Rückentragkorb“ schließlich ist zum größten Teil durch Wortersatz mit Neuentwicklungen zustande gekommen. Dem alten Ausdruck »Hutte«, der im Westen dominiert, stehen im Osten, wie oben beschrieben, als 51

Die allgemeine Geltung »Choorb« für den großen zweihenkligen Tragkorb im Gebiet AGMitte muss bernischem Einfluss zugeschrieben werden. (Die mittleren Teile des heutigen Kantons Aargau waren 1415–1801 bernisches Hoheitsgebiet und zeigen auch sonst manche Beeinflussungen durch das Berndeutsche im engeren Sinn, s. HOTZENKÖCHERLE 1984, 80– 86.)

Umstrukturierungen im Wortschatz

133

Neuentwicklungen »Chrää(n)ze« und »Raschi«, im Süden und in UW die Entlehnung »Tschif(e)re« gegenüber. Zu Bemerkungen Anlass gibt hier vor allem der Umstand, dass in SZ und UR »Choorb« als Bezeichnung für diese Art von Korb gilt. Es ist dies genau das Gebiet, in dem »Zäine« als allgemeines Wort für alle Arten von handgetragenen Körben gilt. Strukturell wurde damit grundsätzlich »Choorb« als Bezeichnung für eine spezielle Art von Körben frei. Jedoch erklärt dies nicht die Spezialisierung des Wortes für Rückentragkörbe, da ja bereits alte Bezeichnungen wie »Hutte« bestanden haben und ein Ersatzbedarf nicht bestand. Zudem gilt in allen anderen Dialekten eine feste Differenzierung zwischen Rückentragkörben und anderen Körben, auch wenn unter den handgetragenen Körben die Bezeichnungssysteme umgeschichtet werden. Möglicherweise haben wir mit einer Entwicklung in mehreren Phasen zu rechnen. Eine mögliche Erklärung dafür, dass anstelle eines konkreteren, spezialisierten Ausdrucks wie etwa »Hutte« der ursprünglich abstraktere Ausdruck »Choorb« für den Rückentragkorb durchdringt, kann darin bestehen, dass durch die Verallgemeinerung von »Zäine« auf alle handgetragenen Körbe »Choorb« zu einem Quasi-Synonym wurde, das über das Bedürfnis der nachträglichen semantischen Differenzierung neu auch zur Bezeichnung für den Rückentragkorb wurde und dann die so neu entstandene Quasi-Synonymie zuungunsten des alten Lexems »Hutte« beseitigt wurde. Wie auch immer die Entwicklungen im Einzelnen interpretiert werden, die Hintergründe für die lokalen Bezeichnungen für die einzelnen Sachtypen sind nur aus dem Zusammenspiel der Veränderungen der Bezeichnungen im Zusammenhang des ganzen Konzeptfelds zu verstehen, und die Heteronymie muss als Heteronymie des ganzen Konzeptfelds betrachtet werden. 3.5.3.3 Konzeptfeld WEINEN Die Onomemgruppe „Weinen“ zum Konzeptfeld WEINEN (SDS IV 97–110) zeigt Schichtungen und Umschichtungen in einem Wortfeld, die auch eher konnotative und stilistische Differenzierungen betreffen. Für das Konzeptfeld WEINEN findet sich generell in den Dialekten des Deutschen eine außerordentlich reich differenzierte Palette von Bezeichnungen, wie die ausführliche Darstellung von GLOMBIKHUJER (1968) als Analyse der Karte 19.XX des DWA zeigt. Das Schweizerdeutsche weicht in Bezug auf die vorkommenden Ausdrucksformen und ihre Motiviertheit von den Verhältnissen in den übrigen deutschen Dialekten nicht grundsätzlich ab; die meisten Heteronyme des Schweizerdeutschen kennen Parallelen in anderen Dialekten. Die Karten und Beleglisten im SDS zeigen jedoch, dass die Verhältnisse sich nicht als eine einschichtige areale Verteilung von semantisch äquivalenten Heteronymen darstellen lassen. Das Bedeutungsfeld WEINEN ist in sich differenziert. Es gibt in der Regel mehrere bedeutungsähnliche Wörter; das

134

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Konzept WEINEN splittert sich in verschiedene Teilkonzepte auf, die unterschiedlich benannt werden.52 Von den ältesten im Althochdeutschen bekannten Bezeichnungen des Weinens – wuofan/wuofen, riozan und weinôn – sind im gegenwärtigen Schweizerdeutschen keine Spuren mehr zu finden.53 Die heutigen Ausdrücke haben sich aus Wörtern mit anderen Ursprungsbedeutungen entwickelt, gehen also auf Innovationen zurück. Eine erste Gruppe von Ausdrücken leitet sich von Verben ab, deren ursprüngliche Bedeutung ‘das Gesicht/den Mund verziehen’, ‘die Zähne zeigen’ u. ä. war. Es handelt sich namentlich um »briegge«, »griine«, »gränne«, »(p)flänne« und »zänne«.54 Eine zweite Gruppe basiert auf Wörtern, die primär laute Stimmäußerungen bezeichnen: »brüele«, »brööle«, «brülle« (alle auf ein ahd. *bruollen < germ. *brôljan, mhd. brüelen zurückzuführen), »brälle«, »plääre« ›plärren‹, »schreije« ›schreien‹, »hüüle« ›heulen‹, »bäägge«, »böögge«, »bläägge«, »räägge«, »rääre« (mhd. rêren, vgl. nhd. röhren vom Schreien des Hirsches), »muele« (möglicherweise eine Ableitung zu [mu:], dem Muhen der Kuh, s. Id. 4, 191). Aus dem Rahmen fällt »tulle«, ein isolierter Ausdruck im Wallis, zu dem keine etymologische Herleitung möglich scheint. Die beiden Gruppen gehören unterschiedlichen Entwicklungsschichten an. Die mimischen Bezeichnungsarten dürften die älteren sein und später durch die phonischen überlagert worden sein. Die Wörter, die auf Bezeichnungen für mimischen Ausdruck zurückgehen, haben ihre Polysemie und damit ihre Motiviertheit verloren und sind heute lexikalisch isoliert. Dagegen sind die meisten der Ausdrücke, die auf Bezeichnungen für laute Stimmäußerungen zurückgehen, polysem. Sie haben ihren ursprünglichen Bedeutungsbezug behalten und können weithin neben dem Weinen auch laute Stimmäußerungen in anderen Zusammenhängen bezeichnen.55 Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass sie, mit Ausnahme von »brüele«, und »schreije«, auch synchron eine onomatopoetische Qualität besitzen. Die mimisch motivierten Ausdrücke zeigen heute eine zwar in ihren Grenzen unscharfe, aber in den Schwerpunkten doch klar erkennbare geografische Verteilung (vgl. SDS IV 105–109). Die Variante »griine« ist auf den Nordwesten, das westliche Wallis und in GR auf die westlichen Randregionen der Bündner Walserdialekte beschränkt, die Variante »gränne« auf den Kanton Bern, ohne die inneren Talgebiete des Berner Oberlands, die Variante »(p)flänne« auf einen mitt52

53 54

55

Ein Blick in Dialektwörterbücher zeigt zudem, dass auch die komplexen Wortkarten des SDS noch starke Vereinfachungen darstellen, sowohl in Bezug auf die Synonymik wie auf die möglichen Differenzierungen im Konzeptfeld WEINEN. Spuren für ›weinen‹ finden sich nach SDS IV 97–101 noch in Südwalser Dialekten (Bosco Gurin, Rimella). Belege aus dem 20. Jahrhundert nennt auch Id. 16, 135. Zu »briegge« s. Id. 5, 531, GLOMBIK-HUJER (1968, 67), zu »griine« s. Id. 2, 745, GLOMBIKHUJER (1968, 89), zu »gränne s. Id. 2, 742, GLOMBIK-HUJER (1968, 92), zu »(p)flänne« s. Id. 1, 1199, GLOMBIK-HUJER (1968, 69–70), zu »zänne« s. GLOMBIK-HUJER (1968, 99). S. SDS VIII 61 für das Meckern der Ziege: »bäägge«, »pläääre«, SDS VIII 74 für das Blöken des Schafs: »bäägge«, »bläägge«, »brüele«, »muele«, SDS VIII 90 für das Schreien des Schweins »schreje«, »räägge«, »bäägge«, VON GREYERZ / BIETENHARD (2008) s. v. päägge, rägge, schreie, ASCHWANDEN (2013) s. v. bääggä, pläärä, briälä, und die entsprechenden Artikel in Id.

Umstrukturierungen im Wortschatz

135

leren Streifen zwischen BS und UR, dazu kommt sie im Berner Oberland und im Wallis in Gebieten, in denen »griine« oder »gränne« nicht belegt ist, und im Nordosten in AP und einigen benachbarten Orten vor.56 In einem nördlichen Teil von SG ist ferner »zänne« anzutreffen, das resthaft verstreut auch in LU noch vorkommt. Aufs Ganze gesehen verteilen sich die verschiedenen Varianten dieser Gruppe somit auf getrennte Gebiete. Wenn man davon ausgeht, dass ursprünglich die verschiedenen Ausdrücke Quasi-Synonyme waren, lässt sich dies damit erklären, dass zwischen diesen Quasi-Synonymen eine regional unterschiedliche Bereinigung über Monosemierung stattgefunden hat. Bei der regionalen Verteilung sind auch zusätzlich Diffusionsprozesse mit einzurechnen. Vor allem in BE deutet alles darauf hin, dass »gränne« ein typisches Expansionsprodukt eines mittelbernischen Gebrauchs darstellt, das sich auf Kosten anderer Ausdrücke regional ausbreitet. Markant ist auch das Nebeneinander von »briegge« und »pflänne« in LU, wo »pflänne« nach SDS IV 109 zwar überall bekannt ist, aber fast überall erst auf direkte Wortabfrage angegeben wird. Aufgrund der arealen Verteilung und der übrigen Daten lässt sich das nur so verstehen, dass »briegge« und »pflänne« zwar ursprünglich als Synonyme nebeneinander existierten, heute aber »pflänne« in den Hintergrund getreten ist (und wohl auf längere Sicht verschwinden dürfte). In den meisten Gegenden kommen phonisch motivierte Bezeichnungen hinzu, welche die mimisch motivierten Bezeichnungen überlagern. Auch die phonisch motivierten Typen zeigen regional abgegrenzte Schwerpunkte, auch wenn hier ebenfalls meist keine klaren Grenzen angegeben werden können. Der Umstand, dass derartige regionale Schwerpunkte identifizierbar sind, zeigt immerhin, wie auch im Rahmen einer gemeinsamen Motiviertheitsstrategie regional unterschiedliche Konventionalisierungen und damit teilweise arbiträre Entscheidungen die Regel sind. In den meisten Fällen haben aber die (neueren) phonisch motivierten Ausdrücke die mimisch motivierten nicht verdrängt. Die verschiedenen Ausdrücke existieren nebeneinander. Das Nebeneinander ist in der Regel mit semantischen Differenzen verbunden, die aber im Einzelnen auch für die Gewährspersonen offensichtlich nicht immer klar fassbar sind. Zwar wurde in der Frageanlage des SDS versucht, auf diese Differenzierungsmöglichkeiten einzugehen. Es wurde einzeln gefragt nach einer allgemeinen, neutralen Bezeichnung für ‘weinen’ (SDS IV 97), dem Weinen bei einem Begräbnis (SDS IV 98), womit wohl auf Bezeichnungen für zurückhaltendes, feineres Weinen abgezielt werden sollte, und dem lauten Heulen von Kindern, die gezüchtigt werden (SDS IV 97). Die Ergebnisse sind aber auch bei diesen Differenzierungen überaus unübersichtlich. Mehrfachantworten sind die Regel und die Kartenbilder ergeben aus sich selbst höchstens Tendenzen und kein klares Bild entsprechender semantischer Differenzierungen. Bei der Frage nach einem allgemeinen Ausdruck (Hyperonym?) für ‘weinen’ ist nicht 56

Auch die unterschiedlichen Anlaute /fl-/ und /pfl-/ sind regional verteilt: Im Mittelland gilt grundsätzlich /pfl-/, die (ältere) Lautung /fl-/ finden sich vor allem in Randregionen (westliches Berner Oberland, westliches Wallis) (s. SDS IV 109 Legende II.1).

136

Bezeichnungswandel und areale Diversität

immer klar, ob die Gewährspersonen einen solchen kannten oder in ihren Angaben Varianten mit Bedeutungsunterschieden aufzählten. Wenn Unterscheidungskriterien angegeben werden, werden zudem Aspekte in unterschiedlichen Dimensionen genannt: Lautstärke, Grund des Weinens, Situationsangemessenheit, Bewertung als lästig, unnötig, stilistische Einordnung. Es bleibt also oft unklar, welches Konzept mit den Antworten verknüpft ist und welches Kriterium für die Unterscheidung zweier Ausdrücke maßgebend ist. Aus den unterschiedlichen Gewichtungen der einzelnen Heteronyme in den Karten SDS IV 97, 98 und 101 und den Kommentaren der Gewährspersonen in den Antwortlisten SDS 99–100 lassen sich jedoch häufig gewisse semantische Differenzierungen zwischen den einzelnen Ausdrücken ungefähr erschließen. Je nach regionaler Geltung der einzelnen Ausdrücke ergeben sich auch unterschiedliche lexikalische Realisierungen des entsprechenden „Mini-Wortfelds“. Eine klare räumliche Abgrenzung dieser unterschiedlichen Wortfeldorganisationen ist zwar unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich (und würde wohl auch keiner Realität entsprechen). Aus den Angaben und Daten im SDS lassen sich aber immerhin gewisse Wortfeldmuster regional lokalisieren (Karte 18 und Abb. 3.11). In Klammern werden in Abb. 3.11 verstreute Einzelbelege vermerkt.

Karte 18: „Konzeptfeld WEINEN“: Geografische Verteilung der regionalen Strukturvarianten (SDS IV 97–110)

137

Umstrukturierungen im Wortschatz

Typ

Region

eher zurückhaltendes Weinen, „feiner“

primäre Antwort als allg. Ausdruck

eher lautes Weinen/Heulen, „gröber“ (neben allg. Ausdrücken)

1

BA-Nordwest

griine (tw. keine Angaben)

griine, (brüele)

brüele, schreije

2

AG-nördl. Fricktal



hüüle, brüele, (zänne)

brüele, schreije (plääre)

3

BE-Mittelland

plääre (briegge)

gränne, plääre

brüele, hüüle

4

FR

plääre

plääre

brüele, bäägge

5

BE-Oberland Südwest (Simmental)

griine

brüele west: griine, bäägge ost: brüele, muele, rääre, (hüüle)

6

BE-Oberland Mitte (Kandertal, Lütschinentäler)

briegge, (rääre)

(briegge)

brüele, rääre, (muele)

7

BE-Oberland Ost (Haslital)

brüele

brüele, muele, rääre, (hüüle)

bäägge, (muele)

8

WS-west

griine

griine, tulle

(höire, schriije, tulle)

9

WS-ost

flänne

flänne, brülle

(höire, schriije, tulle)

10

WS-süd

brülle, griine

flänne, brülle

(höire, schriije, tulle)

11

LU

briegge

briegge, (brüele, pflänne)

(hüüle, bäägge, schreije)

12

UW

brüele, schreije

brüele, schriije, bäägge

brüele, bäägge

13

ZH

schreije, briegge

brüele, briegge, schreije

brüele, (schreije, göisse)

14

SZ

briegge

brüele, bäägge

brüele, schriije

15

UR

(briegge)

rääre, (brüele, flänne)

(schreije)

16

TG

schräije

brüele, schräije, (briegge)

brüele

138

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Typ

Region

eher zurückhaltendes Weinen, „feiner“

primäre Antwort als allg. Ausdruck

eher lautes Weinen/Heulen, „gröber“ (neben allg. Ausdrücken)

17

SG-Nord

(nicht gefragt)

zänne, (bläägge)

schreije, es Gschrei laa

18

AP

(nicht gefragt)

bläägge, pflänne

Schrei laa

19

GL

briegge, (schriije)

böögge, (brüele)

(hüüne, brüele)

20

GR

räägge, (brälle, griine)

räägge, (brälle)

brülle, brälle, (räägge)

Abb. 3.11: Regionale Varianten der semantischen Strukturierung des Konzeptfelds WEINEN (SDS IV 97–110)

Die semantischen Differenzierungen zwischen den einzelnen Bezeichnungen und Bezeichnungstypen sind nur schwer systematisierbar. Manche Differenzierungen erscheinen zufällig. Gewisse Grundmuster lassen sich allerdings festmachen: In vielen Regionen (Regionen 1, 6, 13, 14, 15, 19) besteht die Tendenz, »briegge« gegenüber andern, vor allem stimmlich motivierten Ausdrücken als das „feinere“ Wort einzustufen und es entsprechend auch für die zurückhaltenden Formen des Weinens zu bevorzugen. Das gilt vor allem für Gebiete, in denen als Konkurrenzausdruck ein onomatopoetisches Wort zur Verfügung steht. Zwei Faktoren dürften hier mitspielen: An vielen Orten ist »briegge« ein Wort, das aus anderen Gebieten diffundiert und aufgrund seiner Herkunft als das feinere Wort eingestuft wird; andererseits weckt es wegen seiner lexikalischen Isolation keine onomatopoetischen Assoziationen an lautes, unbeherrschtes Weinen wie der konkurrierende Ausdruck. 57 Ähnliche Tendenzen sind für »griine« zu beobachten (Regionen 5 und 8–10). In anderen Gegenden ist dieser Unterschied paradoxerweise allerdings irrelevant oder beinhaltet sogar eine inverse semantische Differenzierung. So bezeichnet in BE-Berner Mittelland (Region 3) das onomatopoetisch expressive »plääre« ein zurückhaltenderes Weinen als »gränne«. Ähnlich ist in GR (Region 20) »räägge«, das man intuitiv als besonders onomatopoetischen und expressiven Ausdruck charakterisieren würde, auch die Bezeichnung für zurückhaltendes Weinen. Be57

Zum stilistischen Unterschied (»briegge« als „feiner“ bzw. das Konkurrenzwort als „gröber“) vgl. die Kommentare von Gewährsleuten in SO 13, 17, 20, 26, 29, AG 24, 29, 37, 44, ZH 6, 20, 42, 51, SH 4, 5, 11, TG 11, SG 35, 36, AP 9, BE 10, 20, 26, 36, 39, 42, 44, 70, 72, 74, 78, 79, 99, LU 4, 14, 26, 32, UW 2, 3, 4, ZG 4, 6, SZ 14, GL 1, 5, 6, GR 22. – Zum Sprachwandel (»briegge» als „neuer“ bzw. das Konkurrenzwort als „älter“) vgl. die Kommentare in BE 47, 77, 79, 100, LU 11, UW 1, SZ 1, 6. – An einzelnen wenigen Orten wird »briegge« als „älter“ bezeichnet, so in BE 53, 99, ZG 6. An diesen Orten sind andere (parallele) Diffusionsprozesse im Gange.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit

139

merkenswert ist auch die Verteilung zwischen »schreije« und »brüele« im Nordosten (Regionen 13 und 16): »schreije« gilt in dieser Region überwiegend als der feinere Ausdruck als »brüele« und bezeichnet eher das zurückhaltendere Weinen. Im Gegensatz dazu bedeutet in den meisten anderen Gegenden »schreije« primär ‘laut heulen’ und/oder ‘laut rufen/lärmen’, entsprechend der ursprünglichen Bedeutung. Die vielfältigen und im Einzelfall oft unbestimmten, vielleicht teilweise sogar individuell geprägten Organisationsformen des Konzeptfeldes WEINEN sind das Resultat von mehrschichtigen Innovations- und Diffusionsprozessen. Zugrunde liegt den Bedeutungsdifferenzierungen neben den historischen Überschichtungen, bei denen ältere und neuere Ausdrücke differenziert bewertet werden, wohl auch die (nachträgliche) semantische Differenzierung von Quasi-Synonymen (Synonymenflucht). Die unterschiedlichen Entwicklungen an den einzelnen Orten zeigen, dass die Richtung dieser Differenzierungen im Einzelfall unvorhersehbar ist und lokal unterschiedlich erfolgen kann. Auch dies kann zu arealer Diversität bei der Strukturierung von Konzeptfeldern führen. 3.6 GRENZEN DER DIACHRONEN INTERPRETIERBARKEIT Mangelnde Hintergrundinformationen oder methodische Schwierigkeiten machen nicht selten eine eindeutige, sichere Interpretation der historischen Entwicklung und deren Systematisierung schwierig, selbst wenn auch in solchen Fällen punktuell differenzierte diachrone Abläufe und historische Schichtungen naheliegen. Wenn synchron vorhandene Varianten schon für frühe Zeiten parallel belegt sind, reichen aber die verfügbaren Informationen vielfach nicht aus, um die Entstehung der synchronen Heteronymie aus diachronen Veränderungen schlüssig zu rekonstruieren. Dass die vermutlich alte Heteronymie von mhd. strûcheln und stüllen in ihrer Genese nicht eindeutig geklärt werden kann, wurde in Abschnitt 3.2.1 festgestellt. Oft sind entsprechende Bezeichnungen für die älteren Epochen nur in Einzelfällen belegt, so dass daraus auch ihre damalige geografische Geltung nicht rekonstruierbar ist. Intransparenz kann dabei auch durch Überschichtungen von aufeinanderfolgenden onomasiologischen Wandlungen entstehen. Jede diffundierte Innovation kann wiederum durch eine nachfolgende Innovation verdrängt werden. Das Resultat der letzten Innovation verdeckt den vorletzten und alle früheren Zustände. Es ist unter diesen Bedingungen nicht mehr rekonstruierbar, ob der bestehenden Zustand mit arealer Diversität auf einen älteren, einheitlichen Zustand zurückgeht, der durch nachträgliche Neuerungen infolge Wortersatz diversifiziert worden ist, oder ob es einen solchen ersten einheitlichen Zustand gar nicht gab und die Diversität schon in einer ersten Phase der polygenetischen Benennung des Phänomens entstand. Ferner kann es infolge von Überschichtungen von diachronen Veränderungen schwierig werden, im Einzelnen die synchronen Verhältnisse auf transparente Weise diesen diachronen Entwicklungen zuzuordnen.

140 •

Bezeichnungswandel und areale Diversität

„ausruhen“ (SDS IV 113, KSDS 68) (Karte 19) Im Schweizerdeutschen sind drei Benennungstypen für ‘ausruhen’ verbreitet: In einem nördlichen und nordöstlichen Bereich kommen verschiedene lautgeschichtlich und wortbildungsmäßig begründete Varianten zu einem älteren deutschen ruowen/ruojen vor: »rue«, »(g)rueje«, »(g)ruebe«, »gruene«. Im Gotthard-Grimsel-Raum (UR, UW, Oberwallis sowie Rheinwald) ist »(g)hirme« anzutreffen, in BE und im angrenzenden LU-Entlebuch sowie im westlichen Wallis gilt als dritter Bezeichnungstyp »lüeje/lüewe« mit Abwandlungen, regional mit entsprechenden lautlichen Veränderungen und mit oder ohne Präfix (g-).58 Die Etymologie dieses Wortes ist ungeklärt (Id. 3, 1545).

Karte 19: „ausruhen“ (SDS IV 113)



Der Typ »(g-)hirme« setzt ein im Mittelhochdeutschen über das ganze deutsche Sprachgebiet gut belegtes Lexem fort. Auf dessen Lebendigkeit lassen auch Ableitungen schon im Althochdeutschen schließen, selbst wenn diese z. T. auf ein ursprünglich weiteres Bedeutungsfeld hindeuten (ahd. ungihirmigōn ‘überheblich werden’, ungihirmit ‘rücksichtslos’, mhd. ungehirm ‘Rastlosigkeit’). Allerdings ist nur bei NOTKER das einfache Verb gehirmen belegt. Weitere etymologische Zusammenhänge sind unbekannt. Ebenfalls auf 58

Bemerkenswert ist, dass das Anfügen des Präfixes »g-« ›ge-‹ bei allen drei Verbtypen vorkommt und über deren Geltungsbereich ein geschlossenes Geltungsgebiet hat. Der Wortbildungstyp überschichtet also sozusagen die lexikalischen Typen.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit

141

das Althochdeutsche zurückzuverfolgen ist der Typ »rue(b/j)e« (ahd. ruowēn, mhd. ruowen mit Varianten, ein Ableitung zu ruowe ›Ruhe‹). Vollständig isoliert und auch im älteren Deutsch nicht belegt ist dagegen der Typ »lüeje/lüewe«. Sein Auftauchen ist also nicht erklärbar. Die diachronen Bedingungen für das Nebeneinander dieser Formen sind so unklar. Sind beispielsweise die beiden Typen ruowen und (ge-)hirmen im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen synonym, sind sie regional unterschiedlich verteilt? Ist »lüewe/lüeje» eine Innovation oder eine Reliktform? Gewisse Rückschlüsse können aus der regionalen Verteilung gezogen werden. Die Variante »(g-)hirme« ist im Gotthard-Grimsel-Raum dominant. Diese Region ist häufig der Rückzugsort von Reliktformen. Dazu passt auch der isolierte Restbestand in einigen Bündner Walser Orten. Auffallend ist darüber hinaus die Ost-West-Zweiteilung in WS sowie in BE-Berner Oberland zwischen dem Typ »lüewe/lüeje» im Westen und dem Typ »hirme« im Osten, eine Ost-West-Zweiteilung, die bei vielen Erscheinungen zu finden ist und einer allgemeinen Tendenz entspricht. Sie wird mit siedungsgeschichtlichen Bedingungen in Zusammenhang gebracht: Die alemannische Besiedlung des Wallis erfolgt über zwei Bahnen, einer westlichen und einer östlichen, wobei eine ältere sprachliche Zweiteilung des Berner Oberlandes sich im Wallis weiterpflanzte.59 Die Ausbreitung erfolgte in früher Zeit, das Wort muss deshalb schon früh gegolten haben. Die verbreitete Geltung von »lüewe/lüeje« im nördlichen Berndeutschen weist andererseits darauf hin, dass dieses Wort sich expansiv ausgebreitet haben dürfte. Aufgrund dieser Beobachtungen können gewisse Vermutungen formuliert werden: Das Nebeneinander von »(g-)hirme« und »(g)rueje«, »(g)ruebe« lässt sich entweder als alte Quasi-Synonymie deuten, die durch regional unterschiedliche Verläufe der Monosemierung beseitigt wurde. Alternativ könnte ahd. ruowēn eine Neubildung sein, eine Ableitung von ruowa, die außerhalb des Schweizerdeutschen (bzw. des Südalemannischen) entstand und von Norden her in das Schweizerdeutsche eindrang. Argumente dafür können die Abwesenheit dieses Wortes bei NOTKER und die Reliktstellung von »(g-)hirme« im Gotthard-Grimsel-Raum sein. Die geografische Geltung des Typs »lüewe/lüeje» wäre so zu interpretieren, dass das Lexem im südwestlichen Aareraum sehr früh als Innovation eingeführt worden ist, auch wenn nicht geklärt werden kann, welches die Quelle dieser Innovation ist. Diese Überlegungen müssen aber angesichts des Alters der Heteronyme spekulativ bleiben. •

„Regenwurm“ (SDS VI 220) (Karte 20) Als Bezeichnungen für den Regenwurm gibt SDS VI 220 mehrere Ausdrücke unterschiedlichen Ursprungs an. Neben dem allgemein gebräuchlichen »Rägewurm« ›Regenwurm‹ findet sich im Südwesten (BE Oberland sowie im westlichen Teil von WS) »Chäärder« zu ahd./mhd. quërder/kërder ‘Köder’, (möglicherweise verkürzt aus »Acherchäärder«, d. h. ‘Köder aus dem Acker’),

59

S. HOTZENKÖCHERLE (1984, 177–185).

142

Bezeichnungswandel und areale Diversität

in einem mittleren Streifen (im östlichen WS, in UR, UW, SZ, ZG, LU bis in Teile von SO) »Mettel« und Abwandlungen dazu wie »Mertel«. Die Bezeichnung »Chäärder« leitet sich wohl von der Verwendung von Regenwürmern als Angelköder ab.60 Nach den Belegen in Id. 3, 458 aus dem 17. Jahrhundert konnten damals Würmer (und Raupen?) allgemein als Kerder bezeichnet werden. Das Wort »Mettel« andererseits wird als Ableitung zu ›Made‹ gedeutet (Id. 4, 555). An einzelnen Orten in FR und WS wird auch »(Chäder-) Guoge/Guege« als Bezeichnung angegeben.61 Die Frage ist, ob die verschiedenen Bezeichnungen sich unabhängig voneinander zur Bezeichnung des Regenwurms entwickelt haben oder ob »Chärder«, »Mettel« und »Gueg« einen vorher allgemein geltenden Typ ›Regenwurm‹ ersetzt haben. Es ist an sich möglich, dass es sich dabei um Wortersatz für ein ursprünglicheres »Rägewurm« handelt. Dafür könnte sprechen, dass bereits für das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche Ausdrücke wie reganwurm bzw. regenwurm (LEXER 2, 375) belegt sind und auch das Altenglische in regnwyrm das gleiche Muster kennt. Der Typ ›Regenwurm‹ scheint also recht alt. Auch bei KONRAD VON MEGENBERG ist regenwurm die Bezeichnung für die Sache im engeren Sinn (KONRAD VON MEGENBERG 2003, 339); als offenbar ebenfalls übliche Variante nennt er allerdings gleichzeitig ërtwurm.62 Aber auch Mettel wird schon von MAALER (1561, 298) als Synonym zu Rägenwurm genannt. Alle Bezeichnungen sind im Rahmen des mittelalterlichen Wortschatzes motivisch durchsichtig. Wörter wie wurm, medel und guog bezeichnen in älterer Zeit sehr unterschiedliche Arten von niedrigen Tieren wie Kriechtiere Schlangen, Würmer, Raupen, Maden, aber auch Insekten.63 Die Verwendung als Bezeichnung von Regenwürmern wäre danach als konventionalisierte Einengung auf die Bedeutung ‘Regenwurm’ aus der pragmatischen Einengung der Denotation in speziellen situativen oder sprachlichen Kontexten zu verstehen. Die areale Verteilung legt wieder eine andere Entwicklung nahe. Die Typen »Chärder«, »Me(r)ttel« und »Gueg« gelten in den westlichen inneralpinen Gegenden, mit Ausläufern in LU und AG, mithin primär in tendenziell kon60 61 62 63

Vgl. KONRAD VON MEGENBERG (2003, 339): „idoch haizt aigenleichen in der geschrift vermis ein regenwurm, da mit man die ængel æzzt, so man di visch will vahen“. »Gueg« ist auch eine regionale Bezeichnung für Käfer und Engerlinge (s. SDS VI 233, VI 224, VI 225 und Abschnitt 6.2.1.1. LEXER (1, 1344) führt zusätzlich eine einzelne Belegstelle für horwurm (zu horw ‘kotiger Boden’) an. KONRAD VON MEGENBERG (2003, Buch III.F) rechnet in seinem „Buch der Natur“ zu den „wurmen in ainer gemain“ (Würmer im Allgemeinen) eine sehr heterogene Gruppe von Lebewesen: Wirbellose wie Würmer, Maden, Raupen, Regenwürmer, aber auch Insekten, dazu Wirbeltiere wie Schlangen, Blindschleichen und Frösche. Als gemeinsames verbindendes Merkmal gilt für Konrad von Megenberg die Eigenschaft, dass sie statt Blut „ain fæuchten seim in seim leib“ haben (KONRAD VON MEGENBERG 2003, 316). Dem klassifikatorischen Problem liegt offensichtlich der Umstand zugrunde, dass sich die verschiedenen Kriterien ‘ohne Beine’, ‘wirbellos’ und ‘ohne Blut’ überkreuzen, die am Anfang einer Ausscheidung von Tieren aufgrund einer Alltagsphänomenologie stand.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit

143

servativen Regionen, der Typ »Rägewurm« ist dagegen in den nördlichen und mittleren Regionen mit Ausläufern nach GR verbreitet, in einem Gebiet, das generell als Diffusionszone für Einflüsse aus dem Norden gilt. Eher unwahrscheinlich ist aufgrund der geografischen Verteilung, dass ein altes »Rägewurm« in inneralpinen Gebieten durch später gebildete Innovationen ersetzt worden ist. Andererseits muss auch die Verbreitung von »Chärder« und »Me(r)ttel« ein Resultat von Diffusionsbewegungen sein. Das führt zur Hypothese, dass der Typ ›Regenwurm‹ im Schweizerdeutschen keine ursprüngliche Bezeichnung des Regenwurms war. Vielmehr wurden über polygenetische konzeptionelle Innovationen in der Schweiz die Typen »Chärder«, »Mettel« und »Guog« als eigenständige Bezeichnungen für den Regenwurm konventionalisiert. ›Regenwurm‹ diffundierte von Norden her sekundär in das Schweizerdeutsche. Diese Hypothese kann allerdings nicht durch konkrete historische Belege erhärtet werden.

Karte 20: „Regenwurm“ (SDS VI 220)

Eine Entscheidung über die mögliche Schichtung von Innovationen hängt auch von der etymologischen Erklärung einer Innovation ab, die je nach dem einen früheren oder späteren Ansatz voraussetzt. •

„Hahn“ (SDS VIII 94, KSDS 176) (Karte 21) Die seit dem Althochdeutschen bezeugte ursprüngliche Bezeichnung des Männchens des Haushuhns lautet ahd. hano, mhd. hane. Diese Bezeichnung

144

Bezeichnungswandel und areale Diversität

ist im inneralpinen Raum noch gebräuchlich. Wie in anderen süddeutschen Dialektgebieten hat der Hahn aber neuere Benennungen bekommen. Diese Innovationen basieren in der Regel auf Lautmustern wie /GOK/, /GOG/, /GUK/, /GUG/.64 Dem entspricht auch der häufigste schweizerdeutsche Typ »Güggel«. Weitere ähnliche Varianten lauten »Gügeler« und »Gugeler«. Unklar bleibt generell die Etymologie dieser Varianten und deren gegenseitiges Verhältnis. Üblicherweise werden die verschiedenen Formen auf lautmalerische Nachahmung des Rufes des Hahns bezogen.65 Die lautliche Ähnlichkeit von »Güggel« und »Gugel« ist auffallend, aber »Gugel« kann lautgeschichtlich und etymologisch nicht in einen direkten Zusammenhang mit »Güggel« gebracht werden. Möglicherweise handelt es sich um eine Angleichung oder Vermischung mit mhd. gugel(e) ‘spitze Mütze, Kappe’ (im Sinne einer assoziativen Abwandlung); assoziiert würde dabei der Kamm des Hahns. Die Form »Gügeler« ist schließlich wohl eine Vermischung von »Gügel« mit dem östlich benachbarten allgäuischen Goggeler (s. RENN / KÖNIG 2006, 198). Etymologisch unsicher ist auch »Güli/Guli». In Id. wird keine dieser Formen direkt angegeben. Angegeben wird einerseits Gulli (Id. 2, 221), andererseits Gūl (Id. 2, 220). Eine Vereinfachung von »Gulli« zu »Guli« ist denkbar. Die lautliche Ähnlichkeit von Gulli mit badischem Guller ‘Hahn’ ist auffallend, aber etymologisch schwer zu erklären.66 In Id. 2, 221 wird bemerkt, dass Gulli die Form eines nomen agentis zu einem allerdings nicht existierenden Verb *gullen habe, das immerhin eine auffallende Ähnlichkeit mit mhd. gellen ‘laut schreien’ und ahd. galan ‘singen’ hat. Das Wort müsste damit relativ alt sein. Denkbar erscheint allerdings auch eine Interpretation als Ableitung von mhd. gūl ’Pferd’ (›Gaul‹, speziell ‘männliches Pferd’, aber auch allgemeiner ‘männliche Erscheinungsform einer Gattung’).67 Die ältesten historischen Belege für »Güggel«, »Gugel« und »Guul« stammen alle aus dem 16. Jahrhundert. Aus der Beleglage ist eine genauere zeitliche und örtliche Festlegung der Entstehung und Diffusion der einzelnen Formen nicht möglich. Die Rekonstruktion einer zeitlichen Abfolge hängt auch vom etymologischen Ansatz von »Güli/Guli« ab. Ist es eine ablautende Ableitung zu gellen oder galan, müsste der Ausdruck sehr alt und jedenfalls früher entstanden sein als die übrigen Innovationen. Als Ableitung zu mhd. gūl jedoch wäre das Lexem als Innovation zeitlich parallel zu »Güggel«, »Gugel/Gügel« usw. anzusetzen. Auch 64 65

66 67

S. DWA XV 7, speziell zum benachbarten Badischen s. POST (2010, 136 mit Karte), zum Bairischen RENN / KÖNIG (2006, 198) Vgl. Id. 3, 191, daneben RENN / KÖNIG (2006, 199). Zuweilen wird auch „Verwandtschaft“ mit franz. coq ‘Hahn’ oder gar Entlehnung vermutet. Die lautliche Beziehung ist aber wohl eher zufällig bzw. darauf zurückzuführen, dass auch coq lautmalerischen Ursprungs ist. Welcher Laut mit Gück-/Gock- usw. genau nachgeahmt werden soll, darüber herrscht keine Einigkeit. RENN / KÖNIG (2006, 199) beziehen ihn auf den „Sammelruf“ des Hahns. Schweizerdeutsch »Güggel« kann aber auch auf den lauten Imponierruf bezogen werden, zumal dieser im Schweizerdeutschen mit »Güggeriggüü« benannt wird. S. BadWb 2, 499. Vgl. BMZ 1, 586a.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit

145

unter diesen letzteren Bezeichnungen sind aber konkrete Abläufe und Schichtungen zeitlich nicht rekonstruierbar. Schematische Darstellung der Schichtung: 1 Hane 2 ? Guli/Güli Güggel, Gügeler/Gugeler, Gugel/Gügel

Karte 21: „Hahn“ (SDS VIII 94)



Bei frühen Entlehnungen bzw. frühmittelalterlichen Reliktwörtern ist oft kaum entscheidbar, welches diachrone Verhältnis diese Entlehnungen zu den eigenständigen germanischen bzw. alemannischen Bildungen haben, namentlich dann, wenn es sich um Naturphänomene handelt. •

„Viehweglein“ (SDS VI 73) (Karte 22) Viehweglein, die vom Vieh parallel zum Hang eingetretenen Trittwege in steilen Weidewiesen, werden in den westlichen alpinen Gegenden (BE-Oberland, WS) sowie in UW, GR und SG Oberland mit »Tröie« bzw. »Treije«, einer Entlehnung aus einer vorrömischen Sprachschicht, bezeichnet.68 Nördlich

68

Das Wort ist auch östlich der Schweiz (Vorarlberg, Tirol) verbreitet. S. VALTS, Kommentarband, 329; DWB 22, 343 s. v. Treue; Id. 14, 714.

146

Bezeichnungswandel und areale Diversität

davon werden Formen aus schweizerdeutschen Lexemen wie »(Chue-)Tritt« ›Kuhtritt‹, »Chuewägl(i)« ›Kuhweglein‹, »Weidwäg« ›Weideweg‹ u. ä. angegeben. Wir können die Hypothese formulieren, dass die Sache selbst für die einwandernden Alemannen neu war. Dort, wo die Alemannen auf die ansäßige Bevölkerung trafen, übernahmen sie deren angestammte Bezeichnung dafür. Im nördlichen Mittelland und Jura dagegen schufen als konzeptionelle Innovationen eigene Bezeichnungen. Eine derartige Hypothese ist allerdings kaum beweisbar; auch lässt sich daraus keine chronologische Abfolge rekonstruieren, abgesehen davon, dass derartige Innovationen im Rahmen unterschiedlicher Innovationsprozesse erfolgten.

Karte 22: „Viehweglein“ (SDS VI 73)





„Pfütze“ (SDS VI 40) (Karte 23) Vergleichbare, aber noch komplexere Probleme für die diachrone Rekonstruktion der Entstehung einer Heteronymie ergeben sich bei „Pfütze“ mit der mutmaßlich frühen Entlehnung von keltoromanischen und romanischen Ausdrücken neben einer ebenso alten Schicht germanischer Erbwörter.69 Der germanischen Schicht sind Ausdrücke wie »Gülle« mhd. gülle ‘Pfütze’ und »Lache« ahd. lahha, mhd. lache ‘Pfütze’ zuzuordnen, auch wenn die

69

Fragen über die mutmaßlichen Diffusionsvorgänge stellen sich auch in Bezug auf die räumliche Verteilung der einzelnen Heteronyme. Darauf kann hier jedoch nicht weiter eingegangen werden.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit

147

Etymologie im Einzelnen unklar oder umstritten ist.70 Beide Ausdrücke sind zwar heute nicht mehr sehr weit gebräuchlich, in Flur- und Ortsnamen aber als ursprüngliche Appellative verbreitet bezeugt. Neben diesen auf das Germanische zurückführbaren Ausdrücken finden sich Bezeichnungen, die in frühmittelalterlicher Zeit vermutlich aus dem Keltoromanischen übernommen worden sind. Es handelt sich um »Gumpe« aus keltoromanisch *cumba, und »Gunte« aus keltoromanisch *cumbeta, beide mit der Bedeutung ‘Bodensenke, Tümpel’. Aus der komplizierten geografischen Verteilung vor allem im Mittelland und im Nordosten ist nicht klar rekonstruierbar, auf welche Weise diese Entlehnung im Einzelnen stattfand. Ebenfalls als Entlehnungen werden »Glutte« zu frankoprov. *clot ‘fosse, creux’ (seinerseits mit vorromanischem Hintergrund) und »Butz(le)«/ »Bütz(e)« zu lat. puteus eingestuft.71 Während die Entlehnung von »Glutte« in Nachbarschaft zu einer romanischsprachigen Bevölkerung keine Probleme schafft, ist der Weg der Übernahme von »Butz(le)«, »Bütz(e)« aus lat. puteus schwieriger zu erklären. JUD (1946, 75) nimmt aufgrund der Lautform lombardischen Einfluss an. Diese These stößt auf Schwierigkeiten für das Vorkommen von »Bütze« in BE-Oberland und in GL. In diesen Fällen ist ebenfalls eher an direkte Übernahme von der anwesenden romanischsprachigen Bevölkerung zu denken. Aufgrund der lautlichen Gestalt müssen alle diese Wörter nach Abschluss der Wirksamkeit der 2. Lautverschiebung übernommen worden sein, aufgrund der geografischen Verteilung aber »Butze« vor und »Glutte« nach den Walserwanderungen. Die Heteronymie zeigt weitere Schichten, in denen diese älteren Ausdrücke nachfolgend durch Neubildungen und Hybridbildungen ersetzt wurden. Als Hybridbildung aus »Gunte« und »Glutte« ist einerseits »Glunte« (BEOberland) anzusehen. Daneben wurde in BE neu der Ausdruck »Glungge« eingeführt, wohl eine lautmalerische Bildung zum Verb »glungge« ‘hohl gurgend plätschern’. Aus der Kombination »Glungge« und »Gumpe« ergab sich darauf folgend in LU die Hybridbildung »Glumpe«. Systematisch (möglicherweise auch chronologisch) daran anschließend wurden die älteren Ausdrücke durch neuere, meist lautmalerisch motivierte Bezeichnungen ersetzt, so in GR durch »Gudle« und verstreut »Südere(te)« zu den Verben »gudle« und »südere«, beide mit einer Bedeutung ‘geräuschvoll mit Wasser umgehen’. Als eine Übergangsform zwischen Lautmalerei und assoziativer Abwandlung zu »Gumpe« (oder »Glumpe«?) ist »Plumpe/-i« in der Nordwestschweiz anzusehen. In einer letzten, neuesten Schicht dringt schließlich aus dem Standarddeutschen die Bezeichnung »Pfütze« ein. Aufgrund der lexikalischen und historischen Zusammenhänge lassen sich einzelne Wortgruppen zu Gruppen zusammenfassen, die entwicklungsmäßig zusammengehören und sich damit von andern abheben. Untereinander lassen 70 71

Zu »Gülle« s. DWB 9, 1072, zu »Lache« s. DWB 112, 13. Die gelegentlich anzutreffende Herleitung von »Lache« aus lat. lacus wird meist abgelehnt. JUD (1946, 57).

148

Bezeichnungswandel und areale Diversität

sich die einzelnen Lexeme innerhalb dieser Gruppen aber historisch nicht weiter differenzieren. Die hauptsächliche Unbestimmtheit liegt im Nebeneinander von »Gülle«, »Lache«, »Gumpe«, »Gunte«, »Glutte« und »Butz(le)/Bütz(e)«, die auch untereinander diachron geschichtet sein können. Vor allem bleibt die Frage, warum ein derart allgemeines, seit jeher unmittelbar wahrnehmbares Naturphänomen wie die Pfütze an so vielen Orten durch Entlehnungen bezeichnet wird.

Karte 23: „Pfütze“ (SDS VI 40)



Schematische Darstellung der Schichtung 1 Gülle, Lache, Gumpe, Gunte, Glutte, Butz(le)/Bütz(e) → 2.1 Glunte (Gunte x Glutte) → 2.2 Glungge 3 Glumpe (Gumpe x Glungge) 4 Gudle, Südere(te), Plumpe/-i 5 Pfütze Auch bei neueren Entwicklungen mit einer Mehrzahl von deskriptiv motivierten, ursprünglich oder noch heute durchsichtigen Bildungen ist oft schwer entscheidbar, ob es sich bei den einzelnen Bildungen um eigenständige konzeptuelle Innovationen oder um Wortersatz handelt.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit



149

„Reisigbündel“ (SDS VIII 155, KSDS 210) (Karte 24) Reisigbündel, die aus dickeren und dünneren Ästen zum Heizen in großen Öfen gebunden werden, dürften der Sache nach und nach den Belegen in den Wörterbüchern schon lange bekannt sein. Dem Erscheinungsbild nach und nach der Beleglage ist die lexikalische Struktur des Onomems „Reisigbündel“ spätmittelalterlichen Ursprungs, ohne dass die zeitliche Entwicklung der einzelnen Ausdrücke klar abstufbar wäre.72 In SDS VIII 155 sind folgende Heteronyme aufgeführt: 1. »Wälle« ›Welle‹ (zu Welle ‘walzenförmig gebundener Gegenstand, bes. Bündel’) 2. »Buurdi, Buurdeli« ›Bürde‹ (zu ahd. burdîn ‘Last’, ‘Bündel, Gepäck’, Verbalabstraktum zu ahd./mhd. bëran ‘tragen’) 3. »(Chriis/Heizi-)Buschel«/»Büschel« ›(Reisig/Heiz-)Büschel‹ 4. »Wedele« (zu ahd. wadil, mhd. wedel ‘Wisch, Bündel’) 5. »Stuud(e)« ›Staude‹ (zur Bedeutung ‘abgeschnittener Zweig, Reisig’) 6. »(Stuude-)Garbe« ›(Stauden)-Garbe‹ 7. »Räschpe« (zu mhd. rëspen ‘zusammenraffen’, also ‘Bündel aus gesammeltem dürren Holz’) 8. »Fäsche« (WS), »Faschine« (GR) (Lehnwörter aus dem Frankoprovenzalischen bzw. Bündnerromanischen) Außer den Entlehnungen »Fäsche« und »Faschine« sind alle Heteronyme leicht als Spezialisierungen aus den ursprünglichen Bedeutungen der jeweiligen autochthonen Wörter, teilweise über heteronymische Zwischenentwicklungen, erklärbar. Der sprachgeografische Befund ist mehrdeutig. Einerseits zeichnen sich einzelne relativ klar umrissene Teilgebiete ab. Im Westen mit FR, BE und dem westlichen Teil von SO gilt in einem geschlossenen Gebiet »Wedele«. Im Nordosten findet sich ein Gebiet mit dem Typ »Buschle« mit verschiedenen Wortbildungsvarianten (Diminutiv, Umlaut u. ä.). Der Bezeichnungstyp »Buschle« dürfte aus dem nördlichen Schwäbisch übernommen worden sein (s. KÖNIG / RENN 2007, 292, SSA IV/6.03). In UR gilt relativ einheitlich »Studegarbe«. Klar sind auch die Verhältnisse in den Gebieten mit »Fäsche« (WS), »Faschine« (GR): In beiden Fällen handelt es sich um Übernahmen von Bezeichnungen aus benachbarten anderssprachigen Gegenden. Größere Bereiche zeigen aber mannigfache Überschichtungen, die auf verschiedene Diffusionsprozesse hindeuten. Das «Faschine«-Gebiet in GR wird von einem »Büscheli«-Gebiet durchbrochen. Das »Büscheli«-Gebiet in GR ist seinerseits von einem verwandten »Büscheli«-Gebiet in SG-Rheintal durch ein »Buurdeli«-Gebiet abgetrennt. Im Nordwesten findet sich ein geschlossenes Gebiet mit »Wälle«; dieser Ausdruck findet sich aber verstreut auch im Gebiet des Zürichsees und vereinzelt in LU-Entlebuch. Auch »Buurdi« (mit Wortbildungsvarianten) hat verschiedene nur schwach zusam-

72

Nach DWB 28, Sp. 1394 ist welle seit dem 15. Jahrhundert mit der Bedeutung ‘Reisigbündel’ bekannt. Id. 4, 1542 gibt einen Beleg von 1390 für burdi ‘Holzbündel’.

150

Bezeichnungswandel und areale Diversität

menhängende Verbreitungsgebiete in LU, in ZH-Oberland, SZ, GL und im Süden von SG. Sowohl das »Wälle«-Gebiet wie das »Buurdi«-Gebiet werden in einem mittleren Streifen durch »Stuude« unterbrochen. Auffällig ist, dass sich an dieses »Stuude«-Gebiet zwischen Rhein (AG) und Muotatal (SZ) südlich das Gebiet mit »Stuudegarbe« anschließt. Schließlich finden sich ganz im Westen in FR isolierte Gebiete mit »Gäärbli« und »Räschpe«.



Karte 24: „Reisigbündel“ (SDS VIII 155)

Diese geografischen Verhältnisse lassen sich allgemein so interpretieren, dass im Norden zwischen BS und ZH sich ursprünglich ein »Wälle«-Gebiet mit größerem Geltungsbereich erstreckte, südlich davon (LU, ZG, SZ ?) ein »Buurdi«-Gebiet. Dieses «Buurdi«-Gebiet dehnte sich später nach Osten und Nordosten aus, einerseits in weite Bereiche des ursprünglichen »Wälle«Gebiets in ZH, dann auch entlang Linth und Walensee bis in ein ursprüngliches »Büschel«-Gebiet in GR, das dadurch isoliert wurde. Das »Wälle«»Buurdi«-Gebiet wird entlang einer Linie Reuss-SZ durch »Stuude« überlagert und durchbrochen. Kompliziert sind die Verhältnisse in ZH, wo heute ein differenziertes Nebeneinander von »Wälle« und »Buurdi« mit verschiedenen Formen lokaler Varianz anzutreffen ist.73 Diese Interpretation lässt offen, wie die einzelnen Heteronyme in den Wortschatz eingeführt worden sind. Aufgrund der jeweiligen Benennungsmo73

S. dazu im Einzelnen Abschnitt 3.7.3, S. 172.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit

151

tivik sind meist sowohl lokal selbständige Polygenese wie spätere Differenzierungen durch Wortersatz denkbar. Um isolierte lokale Innovationen dürfte es sich bei »Gäärbli« und »Räschpe« in FR handeln. Die historischen Belege in Id. 15, 460 bzw. 15, 1189 zeigen ferner, dass »Wedele« seit jeher in BE, »Wälle« dagegen eher im Norden (BS, SH) geläufig ist. Das entspricht noch der heutigen Verteilung und würde teilweise auf Polygenese schließen lassen. Die Verwendung des Lexems »Gaarbe« in so verschiedenen Gegenden wie UR und FR könnte auf lokalen Wortersatz in verschiedenen Etappen deuten, ebenso die geografische Verteilung von »Stuude« zwischen den weiter verbreiteten »Wälle« und »Buurdi«. Die Sache selbst ist jedoch zu alt, um die ursprüngliche Entstehung der Heteronymie klar identifizieren zu können. Aus den synchronen Verhältnissen ist jedenfalls klar, dass die ursprünglichen Verhältnisse durch verschiedene spätere Diffusionsvorgänge überdeckt worden sind. Dadurch wird auch eine einfache Darstellung der diachronen Schichtungen unmöglich. Eine andere Art der Mehrschichtigkeit zeigt die Diachronie, wenn mit dem Wortschatzwandel Umstrukturierungen des Wortschatzes verbunden sind. Die Veränderungen sind deshalb in ihrer zeitlichen Abfolge auch hier meist kaum konkret nachzuzeichnen. Als relativ übersichtliches Beispiel kann die Entwicklung der verschiedenen Bezeichnungen für das Getreide dienen. •

„Getreide“ (SDS VIII 192, 193, KSDS 156) (Karte 25) Wie in Abschnitt 2.3.5.2 beschrieben, wurden die Ausdrücke »Frucht« und »Gewächs« als Ersatzinnovation zur Bezeichnung des Kollektivbegriffs ‘Getreide’ eingeführt, da die frühere Bezeichnung »Chorn« eingeengt wurde auf die lokale spezielle Getreidesorte, je nach Gegend den Dinkel oder den Roggen. Die Kollektivbedeutung ‘Getreide’ für »Chorn« hat sich offenbar schon im Althochdeutschen etabliert.74 Sie lebt nach SDS VIII 193 noch in einigen nordalpinen Gegenden weiter, in Gegenden, in denen gemäß SDS VIII 192 (Einleitung) traditionell kein Getreide angebaut wurde. Die Entwicklung von »Chorn« zur Bezeichnung des Dinkels hat möglicherweise schon ab dem 14. Jahrhundert eingesetzt. 75 Wann »Frucht« als Kollektiv eingedrungen ist, ist aus den spärlichen Belegen in Id. 1, 1272 nur ungefähr zu erschließen. Belege dafür finden sich nach HÖING (1958, 173) für 1349 (Thurgau), nach Id. 1, 1272 für 1468 (Appenzell). Die Belege bei HÖING (1958, 138) zeigen ferner,

74

Die These in REICHMANN (1983, 1310), dass die Verwendung von Korn als Kollektivum ‘Getreide’ in einem schmalen nordschwäbischen Streifen eine neue Bedeutungsgeneralisierung zwischen der nördlichen Spezialbedeutung ‘Roggen’ und der südlichen Bedeutung ‘Dinkel’ sei, ist nach der historischen und dialektgeografischen Gesamtlage unplausibel. Eher handelt es sich wie im Schweizerdeutschen um eine Relikterscheinung. Belege für BS-Landschaft nach HÖING (1958, 172) ab 1384, wahrscheinlich für St. Gallen, und in Id. 3, 470. Allerdings wurde Dinkel nicht selten auch als Kern bezeichnet (Belege in Id. 3, 465 u. a. für das 16. Jahrhundert), obwohl kern ursprünglich hauptsächlich speziell den Weizen bezeichnet (schon bei NOTKER für triticum): „ob sy nit kernen sunder weissen erbuwen hetten, so soll man von inen weissen nemen für den kernen“ (1502, nach Id. 3, 466).

75

152

Bezeichnungswandel und areale Diversität

dass die Bedeutungsentwicklung von Frucht zu ‘Getreide’ im Westmitteldeutschen ab dem späten 14. Jahrhundert begonnen hat. Die Karte 15 in HÖING (1958, 176) zeigt auch eine klare westlich-östliche Verteilung zwischen Frucht und Getreide. Das lässt vermuten, dass »Frucht« durch Diffusion aus dem Norden in das Schweizerdeutsche gedrungen ist. Der Ausdruck »Gwächs« seinerseits ist im Berndeutschen seit dem 17. Jahrhundert belegt (Id. 15, 314). Ob »Gwächs« in der betreffenden Gegend ein älteres »Frucht« ersetzt hat oder unabhängig davon eine offene Lücke ‘Getreide’ gefüllt hat, ist aber aus der Beleglage schwer zu entscheiden.

Karte 25: „Getreide“ (SDS VIII 192)

Schematische Darstellung der Schichtung 1 Chorn 2 Frucht 3 Gwächs Die schematische Darstellung ist insofern lückenhaft, als sie die zusätzlichen Umstrukturierungen im Wortfeld ausblendet. In manchen Fällen ist auch bei neueren Heteronymien die Abgrenzung zwischen Wortschatzerweiterung als konzeptuelle Innovation und Wortschatzerweiterung aufgrund von Sachwandel schwierig. Nicht immer ist klar, wie alt ein Sachbereich tatsächlich ist, ob eine Tätigkeit seit jeher ausgeübt wurde oder ob sie durch kulturelle Veränderungen erst in neuerer Zeit üblich wurde.

Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit



153

„Blumen gießen“ (SDS VI 218, KSDS 136) (Karte 26) Seit wann werden Blumen als Zierpflanzen im Haus oder vor dem Fenster gehalten, so dass sie begossen werden müssen? Die entsprechende Synonymik macht den Eindruck, relativ jung zu sein. Es handelt sich ausnahmslos um Spezialisierungen von Ausdrücken, die entweder schon länger für vergleichbare Tätigkeiten verwendet werden oder eine allgemeinere Bedeutung haben oder die als Ableitungen oder idiomatische Fügungen unmittelbar naheliegen: »(g)sprütze« ›spritzen‹, »tränke« ›tränken‹, »netze« ›netzen‹, »bschütte« ›beschütten‹, »Wasser gää« ›Wasser geben‹, »füechte« ›feuchten‹.

Karte 26: „Blumen gießen“ (SDS VI 218)

Es scheint zuweilen eher zufällig, welcher dieser Ausdrücke tatsächlich dominant ist. Vor allem »sprütze« und «Wasser gää« gelten oft am selben Ort nebeneinander. Dennoch ist im Allgemeinen die Verwendung der einzelnen Lexeme räumlich klar abgegrenzt, so dass sie als konkrete lexikalisierte Bezeichnungen des Konzepts gelten müssen. Wie diese areale Verteilung entstanden ist, lässt sich aber diachron nicht rekonstruieren.

154

Bezeichnungswandel und areale Diversität

3.7 LOKALE VARIANZ ALS REFLEX VON SPRACHWANDEL 3.7.1 Varianz im lokalen Wortschatz Areale Diversität wird vielfach überblendet und verunklärt durch lokale Varianz, d. h. durch das Nebeneinander quasi-synonymischer Lexeme innerhalb des gleichen lokalen Wortschatzes. Dieses Phänomen wird im SDS in vielen Karten detailliert dokumentiert. Sprachvarianz am einzelnen Ort kann sich aus unterschiedlichen Antworten der verschiedenen Gewährspersonen ergeben, aber auch aus Mehrfachangaben einer einzelnen Gewährsperson. HOTZENKÖCHERLE (1962, 132–135) unterscheidet verschiedene Informationsschichten: Primärmaterial, Sekundärmaterial, Spontanmaterial. Das Primärmaterial umfasst spontane direkte Antworten auf eine Sachfrage. Sekundärmaterial sind Antworten auf Nachfragen oder auf suggerierte Formen. Spontanmaterial sind Angaben, die außerhalb der direkten Fragestellung im Explorationsgespräch, sozusagen nebenbei und unbeabsichtigt, zu einer gegebenen Sache gemacht werden. Hinzu kommen Selbstkorrekturen. Nicht selten unterscheiden sich die Angaben im Primärmaterial, Sekundärmaterial und Spontanmaterial. In solchen Differenzen manifestiert sich Varianz in unterschiedlichen Formen. Primärmaterial und Sekundärmaterial repräsentieren jeweils unterschiedliche Schichten im Sprachbewusstsein der Gewährspersonen, sie zeigen in den Worten von HOTZENKÖCHERLE (1962, 133) eine „Tiefenstaffelung des Sprachbewusstseins“. Im Primärmaterial und im Spontanmaterial kommt das aktuelle saliente Sprachwissen des Individuums zum Vorschein, das auch die geltenden unmarkierten und unreflektierten Konventionen in der Sprachgemeinschaft widerspiegelt. In Selbstkorrekturen und Zweitantworten auf Nachfragen kommt zusätzliches Hintergrundwissen zum Vorschein, das aber nicht spontan als unmittelbar naheliegendes Mittel der Nomination verwendet wird. Die Varianz setzt sich also oft aus Einzelformen mit unterschiedlichem Status innerhalb des Sprachgebrauchs zusammen. 3.7.1.1 Gleichwertige Varianten aus Primärmaterial Varianz kann sich in synonymen Angaben der Gewährspersonen manifestieren, ohne dass zwischen den Varianten eine explizite Bewertung gemacht wird: a. Lokale Synonymie bei der einzelnen Gewährsperson: An einem Ort werden als Primärantwort mehrere Formen als gleichwertig angegeben, wobei weder nach Geltung noch nach Bewertung differenziert wird: •

„Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47/48): ZH 60 Bluetschwile, underschosses Bluet76

76

Die in den Kommentaren des SDS i. A. in phonetischer Transkription dargestellten Angaben werden hier in normalisierender Vereinfachung wiedergegeben.

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

155

Zuweilen gibt auch eine einzelne Gewährsperson explizit an, dass zwei Wörter gleichberechtigte Geltung haben: •

„ausruhen“ (SDS VI 113/114) : BE 112 ghirme oder liuwe

Daneben gibt es auch Auskünfte, dass ein Wort „häufiger“ bzw. „seltener“ ist als das andere, wobei nicht immer klar ist, was damit tatsächlich impliziert ist: •

„scharren (der Hühner beim Futtersuchen)“ (SDS VIII 98): BE 20 chraaue, „häufiger“ schare; BE 43 sperze, „seltener“ schare

b. Divergenzen zwischen Gewährspersonen (lokale Heteronymie): Die verschiedenen Gewährsleute an einem Ort geben unterschiedliche Antworten:77 •

„Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47(48): ZH 21 I Bluetschwile, II e bluetunderloffni stell, III schwaarzi Mose



„Anfangsstück des Brotes“ (SDS V 171): AG 38 II Ahöilig, III Mürggel, Mütschli „oft, bodenständig?“



„brünstig (von der Ziege)“ (SDS VIII 59): ZH 28 I gitzlig, IV böckig; SG 43 I boggig, III jaagig

In einzelnen Fällen lassen sich die Gewährspersonen auch generationenmäßig einteilen: •

„Sommersprossen“ (SDS IV 43/44): GL 1 Gwä (= ältere Gewährsperson) Laubflägge, Gwj (= jüngere Gewährsperson, Tochter von Gwä) Meerzeflägge



„schnarchen“ (SDS IV 77/78): GR 19 II schnaarchla, IIIj. schnaarchlend, IIIä ruuze 3.7.1.2 Variationen zwischen Primärmaterial und Sekundärmaterial

Hin und wieder gibt eine Gewährsperson in verschiedenen Schichten der Sprachkompetenz unterschiedliche Antworten. a. Selbstkorrektur: Zur ersten Antwort hinzu geben Gewährspersonen spontan als Selbstkorrektur (= korr.) eine zweite Antwort: •

„schnarchen“ (SDS IV 77/78): BE 81, 99: schnaarchle, korr. ruusse



„(jd. mit dem Finger) stupfen“ (SDS IV 83/85): SG 4 stopfe, korr. schopfe; FR 1 schüpfe, korr. müpfe



„Schürze“ (SDS V 142/145): AG 54: Schuurz, korr. Schöibe



„Blumen gießen“ (SDS VI 218): ZH 51 sprütze, korr. Wasser gee; SZ 6 tränke, korr. bschütte, Wasser gää

77

Gewährspersonen werden im SDS mit römischen Ziffern unterschieden. Altersunterschiede werden mit ä = ältere Gewährsperson und j = jüngere Gewährsperson angegeben. S. zu den Abkürzungen im Übrigen HOTZENKÖCHERLE (1962, XIV).

156

Bezeichnungswandel und areale Diversität



„Mähne“ (SDS VIII 113): BE 5, 11, 34 Määne, korr. Chammhoor



„scharren (der Hühner beim Futtersuchen)“ (SDS VIII 98): BE 52 schare, korr. chraaue, BE 105 chratze, korr. chraaue

b. Unterschiede zwischen Primärantwort und Spontanmaterial: Verwandt mit der Selbstkorrektur sind Abweichungen zwischen der primären Antwort auf die direkte Thematisierung des Phänomens und dem Spontanmaterial (= sp.), d. h. in Formen, die in anderen Zusammenhängen verwendet werden: •

„rein, unvermischt“ (SDS VI 167): ZG 7 läär, sp. löötig



„ausruhen“ (SDS VI 113/114): ZH 34 ruebe, sp. uusgruene



„Gießkanne“ (SDS VI 219): ZH 43: Sprützerli, sp. Sprützkane, ZH 56 Sprützkäntli, sp. Sprützerli

c. Antworten auf zusätzliche Suggestivfragen des Explorators: Auf Nachfragen und Suggestivfragen der Exploratoren werden zusätzliche Lexeme als mögliche Varianten erwähnt (= sugg.): •

„Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47/48): ZH 21 III schwaarzi mose, sugg. underloffes bluet



„zu wenig gesalzen“ (SDS V 170): BA 7 lääi, sugg. liis; AG 7 blööd, schwach, sugg. liis gsalze

Diese Variabilität kann sich auch als gleichzeitige Varianz zwischen den verschiedenen Gewährspersonen und innerhalb der Antworten einer einzelnen Gewährsperson manifestieren: •

„(jd. mit dem Finger) stupfen“ (SDS IV 85): BE 47 I und III müpfe, II und IV: stoosse, korr. müpfe, V: sugg. stöpfe 3.7.1.3 Diachrone Einstufungen

Oft geben die Gewährspersonen explizite Angaben zur historischen Schichtung von Varianten, indem sie explizit unterschiedliche Formen als „älter“ oder „jünger“ charakterisieren. Sowohl in Primärantworten wie in Sekundärantworten kommen solche Kommentare und Bewertungen vor. •

„Sommersprossen“ (SDS IV 43/44): ZH 2: Merzespriggel, korr. Merzebriggele „früher, in meiner Mädchenzeit“, Merzeblueme „älter“, Merzeflecke „neues Wort“; AG 47: Loubfläcke, Läberfläcke „jünger“; SG 15: Mierzedreck „alter Ausdruck“, Summerfleacke „heute sagt man so“



„Schürze“ (SDS V 142/145): ZG 8 Schüübe, Schooss „neuer“



„schnarchen“ (SDS IV 77/78: WS 24: schnaarche, sugg. rütschu „alter Ausdruck“

157

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel



„Quetschflecken auf der Haut“ (SDS IV 45/46): AG 29 I es blaaus Tääschi, blaaui Tääschi, sugg. e Mose, Möse „jünger“ 3.7.1.4 Stilistische Bewertungen

In manchen Fällen wird Varianz zwischen Synonymen mit einer stilistischen Differenzierung verbunden. Vor allem werden einzelne Formen als „ländlich“, „bäurisch“ oder (bzw. und deshalb) als „gröber“ bewertet und umgekehrt alternative Formen als „feiner“ bezeichnet. Mit Ländlichkeit kann allerdings auch ein positiver Wert verbunden sein, wenn Formen etwa als „urchiger“ bezeichnet werden. Oft werden diese Formen von anderen Gewährsleuten gleichzeitig als ältere oder im Gebrauch verschwindende Formen bezeichnet: Karte

Ort

IV 7/8 „die Zöpfe“ BE 54

IV 51/52 „die Eisse“ (Eiterbeule)“

IV 77/78 „schnarchen“ V 23 „Sarg“

Primärantwort Züpfe

BE 40

zusätzl. Angaben mit stilistischer Bewertung Trütsche „so sagen die Bauern“ Esel „mehr in der Familie gebraucht“ Eisse „mehr im Verkehr mit besseren Leuten, z. B. Arzt, Pfarrer“ Esel „häufig, bes. unter der Schuljugend“ Esel „eher grob“

Vergleichsantworten BE 45 sugg. Trütsche „früher, heute nicht mehr“

BE 41

Eiss, Eisse

BE 104

Eiss

BE 89 (ähnlich BE 91) ZH 21

schnaarchle „feiner“

ruusse „grob“

Sarg

Tootebaum Tootebaum I: „selten, mehr II, III: „veraltet“ auf dem Land gebraucht, ungebräuchlich“

BE 94: sugg. Esel „früher“ BE 100 sugg. ruusse „früher“

158

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Karte

Ort

Primärantwort

V 104 „(Steine) werfen“

BA 1

wäärfe

V 104 „(Steine) werfen“

BA 8

bängle

schiesse „feiner“

BA 23 BE 38

schiesse Rinde, Chääsrouft „urchiger“ Raschpler

bängle „gröber“

V 174 „Käserinde“

VII 198 „Kartoffel- AP 4 raffel“

zusätzl. Angaben mit stilistischer Bewertung sugg. bängle „grob“

Vergleichsantworten BA 26 sugg. bängle „treffender, älter“ SO 8 sugg. bängle „älter“

BE 45 Chääsrauft „älter“ sugg. Hechler „besserer Dialekt“

Abb. 3.12: Stilistische Bewertungen von Varianten durch Gewährspersonen

3.7.2 Die dynamische Interpretation von lokaler Varianz Varianz in einem lokalen Wortschatz kann als synchroner Reflex von Sprachwandel interpretiert werden, als Überlagerung eines älteren Sprachgebrauchs durch einen neueren, sei dieser durch lokale Innovation oder durch Diffusion eingedrungen. Im Hintergrund steht die Hypothese, dass Varianz zwar synchron stets möglich, aber grundsätzlich kein stabiler Zustand ist, sondern ein Durchgangszustand innerhalb von Veränderungsprozessen. Wie in Abschnitt 2.2.1 beschrieben, erfolgt Sprachwandel nicht sprunghaft, sondern in kleinen Schritten von der Einführung einer Innovation im einzelnen Sprechakt über Wiederholung und Usualisierung zur allgemeingültigen Konventionalisierung. Das gilt sowohl bei lokaler Innovation wie bei Diffusion, also der Übernahme eines Wortes aus einer benachbarten Region. Über eine gewisse Zeit bestehen der ursprüngliche und der innovative Sprachgebrauch innerhalb eines lokalen Sprachsystems nebeneinander, es gibt mit anderen Worten eine Phase der Varianz. In solchen Zwischenphasen haben die verschiedenen Lexeme einen gewissen, wenn auch unterschiedlich fixierten Grad an Konventionalität. Die gängige Untersuchungsmethode besteht darin, den parallelen Sprachgebrauch von unterschiedlichen Altersgruppen ein und derselben Sprechergemeinschaft zu vergleichen und als Repräsentation von verschiedenen zeitlichen Entwicklungsstufen der Sprachentwicklung innerhalb dieser Sprechergemeinschaft zu interpretieren (Vergleich in „apparent time“). 78 Es gibt, wie oben in Abschnitt 3.7.1.1 erwähnt, auch in den Daten des SDS Beispiele von generationenmäßigen 78

CUKOR-AVILA / BAILEY (2002), HAAS (1999).

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

159

Unterschieden. Die Ausdrücke, die von der jüngeren Generation erwähnt werden, sind denn auch lokale Innovationen, die sich mit der Zeit durchsetzen dürften. Überwiegend stammen die Angaben aber von Gewährspersonen der gleichen, älteren Generation. Die Variationen können so oft nicht direkt mit bestimmten dynamischen Prozessen einer bestimmten Generation korreliert werden. Ihr Stellenwert als Zeugnis von Sprachvariation und Sprachwandel ist somit in jedem Fall interpretationsbedürftig. Direkt oder indirekt lassen sich aber aus den verschiedenen Zusatzinformationen und aus der Schichtung der Antworten Rückschlüsse ziehen. Unmittelbar gegeben ist eine dynamische Interpretation in jenen Fällen, wo Varianten explizit als „jünger“ bzw. „älter“ bezeichnet werden oder wo die ältere und die jüngere Generation unterschiedliche Formen verwenden (vgl. Abschnitte 3.7.1.1 und 3.7.1.3). Bei Varianten, die als „älter“ bzw. „jünger“ kommentiert und gegeneinander abgegrenzt werden, ist offenkundig die als „jünger“ bezeichnete eine Innovation. Sie dürfte die „ältere“ auf längere Sicht verdrängen. Wenn die „jüngere“ Variante spontan in der Primärantwort angeführt wird, ist daraus zu schließen, dass sie die konventionell erwartete ist. Wenn eine Variante umgekehrt nur in Sekundärantworten als die „ältere“ erwähnt wird, ist sie praktisch schon von der jüngeren Variante als allgemein akzeptierte Sprachkonvention abgelöst worden. Mittelbar dürften auch stilistische Bewertungen wie „gröber“, „ländlich“ usw. auf diachrone Prozesse zurückgehen. Dafür spricht die regelmäßige Verknüpfung mit der Einstufung als „älter“. Stilistische Bewertungen sind gewöhnlich nicht aus dem Wortinhalt oder der Form zu erklären, sondern rein konventioneller Natur. Der Hintergrund dürfte sein, dass die Innovation von städtischen Zentren ausging und/oder dabei standardsprachnahe Formen eingeführt wurden. Aus beiden Gründen gilt der neue Ausdruck als „feiner“. Wenn eine Form als „bäurisch“ oder „ländlich“ eingestuft wird, zeigt auch das die Richtung der Diffusion: Die Einstufung als „ländliche“ Form gibt das Laienempfinden wieder, dass eine Form in der Diffusion eine Reliktform darstellt. Stilistische Bewertungen können in einzelnen Fällen allerdings auch andere Hintergründe haben. Bei »bängle« für ‘Steine werfen’ (s. Abb. 3.12) können zusätzlich konnotative Gründe für die Bewertung als „grob“ eine Rolle spielen: Das Verb »bängle« ist ein polysemer Ausdruck, der auch ‘(mit großer Kraft) dreinschlagen’ (mit einem »Bängel« ‘Knüppel’) bedeuten kann. Immerhin ist auch in diesem Falle »bängle« aufgrund der Gesamtsituation als Rückzugsform einzustufen. Ferner können stilistische Differenzierungen konventionalisiert werden und dann zu einer stabilen lexikalischen Differenzierung führen. Im SDS nicht dokumentiert ist der stilistische Gegensatz zwischen ›sitzen‹ und ›hocken‹: In vielen Gegenden gilt ›sitzen‹ als der neutrale Ausdruck, ›hocken‹ als derb.79 Dem Unter79 Vgl. VON GREYERZ / BIETENHARD (2008, 172): „hocke (Ld., St. eher derb)“; MENG (1986, 18): „sitzen: sitze, derb hocke“; GALLMANN (2015): „hocke (derb), im Unterschied zu einigen anderen Dialekten gilt hocke ‘sitze’ bei uns als derb und ungepflegt“; GASSER / HÄCKI BUHOFER / HOFER (2010, 175): „hogge gilt gegenüber sitze für Teile der Sprachgemeinschaft als saloppe Variante“. In ländlichen Dialekten etwa des Berndeutschen ist »hocke« weiterhin ein neutraler Ausdruck (s. die erwähnte Angabe in VON GREYERZ / BIETENHARD 2008, 172).

160

Bezeichnungswandel und areale Diversität

schied dürfte auch hier ursprünglich ein Sprachwandel zugrunde liegen, bei dem in städtischen Gegenden ein älteres neutrales ›hocken‹ durch ›sitzen‹ verdrängt wurde und dabei das ländliche ›hocken‹ neu als gröbere Variante uminterpretiert wurde. Der Sprachwandel resultiert in solchen Fällen nicht in der Verdrängung einer Form durch eine Innovation, sondern in einer semantischen Differenzierung als Folge von Synonymenflucht (vgl. die Abschnitte 2.3.5.1 und 3.7.1.4). Mit der stilistischen Bewertung repräsentiert also hier die Varianz unter Umständen einen stabilen Zustand, nicht einen Zwischenzustand in einem dynamischen Prozess. Wenn in einer Primärantwort zwei Ausdrücke gleichberechtigt nebeneinander erwähnt werden, allenfalls mit stilistischen Differenzierungen, oder mit den verschiedenen Antwortschichten (spontaner Wortgebrauch vs. Selbstkorrektur oder suggerierte Form) keine zusätzliche diachrone Bewertung („älter“ – „jünger“) gegeben wird, lassen sich dahinter liegende dynamische Prozesse vor allem aus den Verhältnissen im größeren Raum erschließen. In der Regel ist ein allfälliger dynamischer Hintergrund einer Varianz den Sprachbenutzern selbst nicht bewusst und für sie innerhalb des gegebenen Sprachsystems auch nicht relevant. Dass die Synonymie ein Zwischenzustand in einem dynamischen Prozess ist, ergibt sich etwa aus allfälligen Kommentaren an benachbarten Orten, aus dem allgemeinen Raumbild und den allgemeinen, im betreffenden Gebiet zu beobachtenden Diffusionstendenzen. Isoliert betrachtet besteht etwa für ‘schnarchen’ an manchen Orten des Berner Oberlandes ein undifferenziertes Nebeneinander von »schnarch(l)e« und »ruusse«, die so als Synonyme erscheinen (SDS IV 77/78 „schnarchen“). Dass hier bestimmte Veränderungsprozesse im Hintergrund stehen, zeigt sich, wenn wir die Schichtung und die zusätzliche Bewertung der Antworten an benachbarten Orten mit einbeziehen: BE 80: BE 81: BE 82: BE 83: BE 84: BE 86: BE 87: BE 88: BE 89: BE 90: BE 91:

schnarchle, sugg. ruusse „gröber“ schnaarchle, korr. ruusse schnarchle, gruussed (Part. Perf.) „selten“ schnarchle, sugg. ruusse schnarchle, sugg. ruusse schnarchle rüüsse, andere Gw. schnarchle schnaarche, ruusse schnaarchle „feiner“, sugg. ruusse „grob“ ruusse schnaarchle, sugg. ruusse „grob“

Neben den Orten, in denen »schnaarchle« und »ruusse« gleichwertig nebeneinander angegeben werden, wird »ruusse« in benachbarten Orten erst auf Nachfrage erwähnt, und dann als „gröber“, also als markierte Form bewertet. Tendenziell ist also »schnaarche« regional die Form, die im Gebrauch vorherrscht. Zweitens sind die Formen in einer Nord-Süd-Staffelung mit einem Übergangsgebiet um den Thunersee verteilt, eine Verteilung, die regelmäßig das Ergebnis eines Diffusionsprozesses vom mittelbernischen Norden in die Täler des Berner Oberlandes ist. Das Nebeneinander ist somit eindeutig ein Resultat des Vordringens eines Mittel-

161

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

bernischen »schnarchle« in ein ursprüngliches »ruusse«-Gebiet. Das Beispiel zeigt auch hier, dass stilistische Bewertungen wie „ländlich“ oder „grob“ auf älteren Sprachgebrauch deuten. – Auf diese Einbettung lokaler Varianz in größeren geografischen Zusammenhängen wird im folgenden Abschnitt noch näher eingegangen. Wie das Beispiel „schnarchen“ zeigt, werden in suggerierten Antworten und Selbstkorrekturen häufig Formen angegeben, die dabei sind, durch Innovationen verdrängt zu werden oder bereits aus dem üblichen Sprachgebrauch verschwunden sind. In suggerierten Antworten kommt Sprachwissen zum Vorschein, das im eigenen Sprachgebrauch nicht unmittelbar präsent oder gar nicht darin enthalten ist. Dabei wird die Form allerdings nicht abgelehnt (diese Möglichkeit ist immer auch gegeben), was impliziert, dass sie im Wortschatz in irgendeiner Weise präsent ist. Grundsätzlich ist allerdings nicht zum vorneherein klar, welchen Status in einem Sprachwandelprozess nicht-saliente Formen konkret besitzen. Dies zeigen die Stichproben in Abb. 3.13. Der Stellenwert der suggerierten Antworten wird jeweils mit Hilfe von andern Informationen zu eruieren versucht. Als ‚Rückzugsform‘ wird eine Variante interpretiert, die nach der geografischen Verteilung und den Antworten von Gewährspersonen in benachbarten Orten der betreffenden Region wahrscheinlich die ältere Form ist, die von einer anderen Form regional verdrängt wird; umgekehrt wird als ‚Diffusionsform‘ eine Form interpretiert, die sich in der betreffenden Region als Innovation ausbreitet. Karte

Ort

Primärantwort

suggerierte Form

IV 7/8 „Zöpfe“

BE 54, 55

Züpfe

Trütsche (BE 54: „so sagen die Bauern“)

BE 18

Züpfe

Trütsche („veral- Rückzugsform tet“)

BE 79, 94, 105

Backe

Wang

IV 17 „Wange“

IV 45/46 „Quetsch- BE 1 flecken auf der Haut“ BE 17

Status der suggerierten Form in der betreffenden Region Rückzugsform

Rückzugsform

(BE 77, 78, 100, 101, 107: nur Backe) e blöie Flegge

e blöie Mose „viel seltener“

Diffusionsform

Müüssi

Mose

Diffusionsform

BE 10

Moon

Mose

Diffusionsform (jüngere Gewährsperson: Mose)

AG 55

Moon

Mose

Diffusionsform

AG 28

es Tääschi

Mose

Diffusionsform

162 Karte

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Ort

IV 45/46 „Quetsch- AG 29 flecken auf der Haut“

Primärantwort I es blaus Tääschi

suggerierte Form

Status der suggerierten Form in der betreffenden Region e Mose „jünger“ Diffusionsform

II en blaue Mose

es Tääschi Rückzugsform, mit Bedeutungswandel („früher in der gleichen Bedeutung, heute nur noch als ‘Schmutzfleck’“)

III Mose

es Tääschi ‘Fettfleck’

(»Mose« ist überall die Diffusionsform. In den angrenzenden Regionen zu den angegebenen Orten ist ausschließlich »Mose« gebräuchlich, an den oben angeführten Orten in AG und BE wird »Mose« immer mindestens mit angegeben.) IV 51/52 „Eisse (Eiterbeule)“

BE 61, 67, 68

Esel

IV 77/78 „schnarchen“

BE 83, 84, 85

schnaarchle

IV 113/114 „(bei SG 11, der Feldarbeit) aus- 12, 13, ruhen“ 14

Diffusionsform Eiss (BE 61: „seltener“, BE 67: „neuer“, BE 68: „jünger“) ruusse Rückzugsform (s. S. 160)

ruebe

reschte, röschte; Rückzugsform (SG 12, 13: „ge- (In SG und AP sonst überall nur ruebe) bräuchlicher“, Spontanmaterial: rüschte)

V 65 „(Ostereier) zusammenstossen“

BE 80

pütsche

tüpfe

Diffusionsform (BE 85: tüpfe; pütsche „früher“)

V 85 „schaukeln (auf der Wippe, Balkenschaukel)“

SO 21

ridigampfe

gigampfe

Diffusionsform (SO 10: gigampfe „jünger, seltener“)

VII 76 „flicken (Hosen)“

SG 2

flicke („häufi- büeze („gröber“) Rückzugsform ger“)

163

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

Karte

Ort

Primärantwort

VII 198 „Kartoffelraffel“

AG 38

I Raffle

VIII 81 „Mutterschwein“

ZH 61

Loos „boden- Moore (Pl.) „zu- Diffusionsform ständig“ gewandert“

VIII 166 „Wagenbremse“

UR 3

I Spannig, Bräms; Mechanik „früher“ Mechanik III Mechanik „üblicher“ (I Spanni) I Mechanik

ZH 8 ZH 28

ZH 59

Suggerierte Form

Status der suggerierten Form in der betreffenden Region Hächle („älter“) Rückzugsform (II: Raffle „jünger“)

III Mechanik „früher“

Rückzugsform80

Spanni Spanni

Rückzugsform Rückzugsform (vgl. ZH 21 II Spanni „älter“) Rückzugsform

Spänni („älter“)

Abb. 3.13: Dynamische Bewertungen von suggerierten Antworten durch Gewährspersonen

Suggerierte Formen gehen auf aktive Mitwirkung des Explorators zurück. Sie entspringen also einer potenziell unnatürlichen Sprachsituation und repräsentieren damit auch nicht unbedingt den aktiven Wortschatz einer Gewährsperson. Wenn eine suggerierte Form dem eigenen Wortschatz angehört, dann auf jeden Fall einer versteckten, sozusagen ‚vergessenen‘ Schicht, also einer Schicht, die nicht mehr einem aktiven Sprachgebrauch angehört und damit als veraltet zum Verschwinden verurteilt ist. Suggerierte Formen können aber auch akzeptiert werden, weil sie zwar nicht dem eigenen Sprachgebrauch, aber jenem in der weiteren Sprechergemeinschaft angehören. Bei den Gewährspersonen aus der älteren Generation muss das fast notwendigerweise Sprachgebrauch von jüngeren Mitgliedern der Sprachgemeinschaft sein, mithin innovativer Sprachgebrauch. Die Ambivalenz von suggerierten Formen zwischen Rückzugsform und Diffusionsform ist somit erklärbar aus der Ambivalenz, welche Ebene des Sprachwissens (individuelles oder kollektives) damit angesprochen wird. In Selbstkorrekturen erscheinen dagegen fast ausschließlich Rückzugsformen (Abb. 3.14).

80

Die unterschiedliche Bewertung in UR und in ZH zeigt, dass für gleiche Variantenpaare (hier »Spannig« und »Mechanik«) in unterschiedlichen Gegenden unterschiedliche Diffusionsprozesse gelten können.

164

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Karte

Ort

Primärantwort

Selbstkorrektur Status der Selbstkorrektur am betreffenden Ort

IV 7/8 „Zöpfe“

LU 14

Zöpf

Züpfe

Rückzugsform (LU 18: Züpfe „früher so, heute selten“)

IV 51/52 „Eisse (Eiterbeule)“

BE 49

Eisse

Esel

Rückzugsform (BE 48: Esel „wohl älter“; s. auch Abb. 3.13)

IV 77/78 „schnarchen“

BE 81

schnarchle

ruusse

Rückzugsform (BE 100: sugg. ruusse „früher“; s. auch Abb. 3.12)

IV 113/114 „(bei der Feldarbeit) ausruhen“

UW 2

grue

ghirme

Rückzugsform? (UW 2: an der Grenze zwischen »grue« im Norden und »ghirme« im Süden, einem Rückzugsgebiet)

V 102 „Schlitt– schuh laufen“

BA 8

Schlittschue laufe

schliiffisele

Rückzugsform (BA 10 schliffisele „früher“)

VI 218 „Blumen gießen“

SG 2 L („Landaufnahme“)

sprötze

trenke

Rückzugsform ? (»sprötze« als Stadtsprache, »trenke« als ländliche Form?)

flicke

büeze

Rückzugsform (sonst überall »flicke« als neuerer, feinerer Ausdruck)

Schublaade

Trucke

Rückzugsform (In den angrenzenden Gebieten ist »Schublaade« die dominierende Form oder wird zumindest mitverwendet.)

VII 76 „flicken (Ho- ZH 48 sen)“

VII 189 „Schublade“

AG 58

165

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

Karte

Ort

Primärantwort

Selbstkorrektur Status der Selbstkorrektur am betreffenden Ort

VII 198 „Kartoffelraffel“

AP 2

Herdepfelscha- Hächler ber

VIII 113 „Mähne“

BE 5, 11, Määne 34

Chammhoor

Rückzugsform? (AP 6: Raffel, sugg. Hächler „bodenständiger“)81 Rückzugsform (BE 57: Määne, sugg. Chammhoor „bodenständiger“ BE 59: Chammhoor „älter und üblicher“; BE 62: Chammhoor „bodenständiger“)

Abb. 3.14: Dynamische Interpretation von Selbstkorrekturen

Wenn Formen in Selbstkorrekturen nachträglich erwähnt werden, kann man annehmen, dass die erste, spontan angegebene Form jene ist, die lokal als unauffällige Form am ehesten verwendet wird, dass es die im Sprachbewusstsein salienteste Form ist. Dass eine zweite Form als Korrektur nachgeschoben wird, kann darauf hindeuten, dass diese als die „eigentliche, bessere Mundart“ erscheint. Sonst würde die Form nicht in dieser Weise als Korrektur erwähnt. Es ist jene Form, die von einem größerräumigen Sprachgebrauch abweicht und spezieller erscheint. In einem traditionellen Dialektbewusstsein wird der besondere Dialektgebrauch als der „bodenständigere“ auch als der bessere bewertet. Explizit wird dies z. B. an den Antworten zu „Mähne“, bei denen verschiedentlich an anderen Orten derselben Gegend (BE-Oberaargau/Emmental) die Angabe »Chammhoor« als die ältere, bodenständigere Form charakterisiert wird. Vor allem, wenn als Primärantwort ein standardnahes Wort angegeben wird und ein davon abweichendes Wort als Korrektur nachgeschoben wird wie bei »Määne«, ist das damit erklärbar, dass nachträglich zum Bewusstsein kommt, dass das dialektspezifische Wort das eigentlich bessere wäre. Wenn eine Form als „bodenständiger“ und als „besserer Dialekt“ bewertet wird, impliziert dies allerdings auch, dass diese Form bereits in ihrer allgemeinen Geltung bedroht ist. Genau umgekehrt sind die Beziehungen bei Differenzen zwischen Primärantwort und Spontangebrauch (s. Abb. 3.15).

81

Von den geografischen Gegebenheiten erscheint »Schaber« als marginale, verstreute Form, »Hächler« dagegen als räumlich dominierendes Heteronym. Warum die Gw. in AP 2 zuerst »Härdöpfelschaber« angibt, muss deshalb offenbleiben, insbesondere, ob sich hier ein Sprachwandel erst im Ansatz ankündigt.

166

Bezeichnungswandel und areale Diversität

Karte

Ort

Primärantwort

Spontanbeleg

Status des Spontanbelegs am betreffenden Ort

SDS V 211 „Papiersack“

SG 38

Scharmutz

Papiirsack

Diffusionsform

SDS V 212 „Bonbon“

BA 9

Täfeli

Gutsi

Diffusionsform (BA 7: sugg. Täfeli „seltener“, AG 4: Täfeli „früher“)

SDS V 217 „aufheben“

BE 104

uufbüre, uuflüpfe „jünger“

uuflüpfe

Diffusionsform

SDS VII 50 „Jaucheschöpfer“

ZH 10

Schöpfer

Schüeffi „jünger“

Diffusionsform

SDS VII 221 „Stalldecke“

BS 21

Brügi

Büüni

Diffusionsform

SDS VIII 166 „Wagenbremse“

TG 22

Spannig „bodenständiger“, Brämse

Mechaanik

Diffusionsform

SDS VIII 208 „Zaun“

SO 21

Haag

Zuun

Diffusionsform (SO 29: Zuun „jünger“)

SDS VIII 180 „Grasschwaden ausbreiten“

BE 31

zette

woorbe (sugg. woorbe)

Rückzugsform

Abb. 3.15: Dynamische Interpretation von Spontanbelegen

In der Befragungssituation basiert die erste explizite Antwort auf bewusster Sprachreflexion. Die Gewährsperson gibt dasjenige Wort an, das gegenüber dem Explorator als ‚richtige‘, ‚gute‘ Mundart erscheint. Das Spontanmaterial repräsentiert den unauffälligen, spontanen Wortgebrauch, also möglicherweise die synchron besser etablierte Form. Wie bei Selbstkorrekturen dürfte die ‚bessere‘ Form die ältere sein, welche durch die im Spontangebrauch verwendete Form potenziell bedroht ist. In manchen Fällen bestätigt die Spontanform, dass eine andernorts als „jünger“ bezeichnete Zweitantwort tatsächlich die gebräuchlichere Diffusionsform ist. Allerdings sind auch hier die Verhältnisse im Einzelfall zu beurteilen. Wenn eine Gewährsperson den eigenen Spontangebrauch als „älter“ bezeichnet, kann das auch damit erklärt werden, dass sie selbst einer älteren Generation angehört und die Primärantwort die Sprachschicht einer jüngeren Generation angibt. Ähnlich ist der Fall von BE 31 in SDS VIII 180 „Grasschwaden ausbreiten“ zu bewerten: Die Gewährsperson gibt als Primärantwort »zette« an, die suggerierte Variante »worbe« wird als Nebenform bestätigt, aber als „seltener“ bezeichnet, im

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

167

Spontangebrauch verwendet die Gewährsperson jedoch »worbe«. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass »zette« das normale Wort in BE-Mittelland ist, welches das im westlich davon gelegenen Bielerseegebiet »worbe« wohl verdrängt. Die Gewährsperson verwendet offenbar selbst die ältere Form »worbe«, kennt aber die neuere Form »zette«, die wohl jene der jüngeren Generation ist, die aber erst am Beginn des Eindringens ist. Grenzsituationen ergeben sich in Fällen, wo Gewährspersonen offenbar nicht auf lokal konventionalisierte Bezeichnungen zurückgreifen oder zurückgreifen können. Dies kommt besonders bei unscheinbaren Phänomenen vor, die primär die unmittelbare persönliche Erfahrungswelt betreffen. Einerseits kennen in solchen Fällen manche Gewährspersonen überhaupt keine vorgegebene Bezeichnung und nehmen zu individuellen Ad-hoc-Umschreibungen Zuflucht. Das dürfte der Hintergrund der Varianz bei „Klemmflecken am Finger“ (SDS IV 47/48) in ZH 21 sein (s. auch Abschnitt 3.7.1.1, S. 154). Zwei Gewährspersonen nennen unterschiedliche Formen aus zwei benachbarten Gebieten: Die Form »Bluetschwile« passt zu einem westlichen Bereich, die Form »bluetunderloffni Stell« zu einem östlichen Bereich. Der dritte Ausdruck, der angegeben wird, »schwaarzi Mose«, ist schließlich eine isolierte Bildung, die eher den Eindruck einer individuellen Spontanbildung oder einer Ad-hoc-Umschreibung macht. Vergleichbare Probleme stellt die Varianz bei „Anfangsstück des Brotes“ (SDS V 171) in AG 38 (s. Abschnitt 3.7.1.1, S. 154). Die von der ersten Gewährsperson angegebene Variante »Ahöilig« entspricht einem auch sonst in der Region belegten Muster. Die zweite Form »Mütschli« ist eine Diminutivform zu einer anderen, ebenfalls im Umfeld belegten »Mutsch«, offenbar eine individuelle Weiterentwicklung, bei der die Gewährsperson aber gewisse Unsicherheiten in Bezug auf die allgemeine Geltung zeigt. Dieselbe Gewährsperson erwähnt darüber hinaus »Mürggel«, eine Form, die sonst in dieser Gegend vor allem den kropfartigen Auswuchs am Brotlaib bezeichnet und generell eine allgemeine Bezeichnung für unförmige, runde und harte Stücke aus irgendeinem Material ist (s. SDS V 172, Id. 4, 405). Diese Form erscheint im Sprachgebrauch der betreffenden Person eher als Element der Familiensprache, dürfte also keine größere regionale Geltung haben. Varianz ist in diesen besonderen Fällen Manifestation von individuellen Entscheidungen oder nicht-konventionalisiertem Sprachgebrauch. Insgesamt ist Varianz generell als Zwischenstadium eines Übergangs in einem Sprachwandelprozess interpretierbar, der letztlich in der Beseitigung von Varianz enden wird, wenn sie nicht als lexikalische Differenzierung im Sprachsystem integriert (und damit ebenfalls als Varianz beseitigt) wird. Die verschiedenen Schichtungen von Varianz sind Symptome von unterschiedlichen Etappen und Formen des lokalen Sprachwandels. Aus der Sicht von Gewährspersonen einer älteren Generation bzw. in ihren Antworten in der Befragung manifestiert sich dieser Sprachwandel schematisiert in folgenden Etappen:

168

Bezeichnungswandel und areale Diversität









Der Sprachgebrauch der eigenen Generation ist stabil, man beobachtet aber abweichenden Sprachgebrauch (und Zerfall des alten, guten Dialekts) bei jüngeren Generationen: Die Innovation dringt bei der jüngeren Generation ein. Verschiedene Mitglieder der eigenen Generation haben einen unterschiedlichen Sprachgebrauch: Die Innovation ist – wohl weil sie schon seit längerem im Gange ist – bei verschiedenen Individuen unterschiedlich weit aufgenommen worden. Man verfügt sowohl über den „besseren“ älteren wie den neueren Sprachgebrauch, benutzt aber spontan die neuere Form: Die Innovation ist gegenüber der älteren Form vorherrschend, die ältere Form ist bereits die sekundäre Form. Man benützt den neueren Ausdruck und kennt den älteren Ausdruck nur noch passiv: Der ältere Ausdruck wird nicht mehr aktiv verwendet, er existiert als passiv akzeptierte Form, die aus dem vergangenen Sprachgebrauch bekannt ist. 3.7.3 Lokale Varianz im Raum

Lokale Varianz kann sich über einen größeren zusammenhängenden Raum erstrecken und dadurch zu einem räumlich ausgedehnten Phänomen werden. In synchroner Perspektive besteht dann in einer mehr oder weniger geschlossenen Region Quasi-Synonymie zwischen verschiedenen Lexemen, meist allerdings als differenzierte Mehrschichtigkeit, wie sie im vorangehenden Abschnitt diskutiert worden ist. Komplex wird das Bild u. a. dadurch, dass die einzelnen Varianten an verschiedenen Orten nicht denselben Status haben. In einfachen Fällen ist Varianz im Raum Reflex von längerdauernden Diffusionsprozessen entlang einer großräumigen, aber geografisch mehr oder weniger deutlich umschreibbaren Diffusionszone. Varianz ist das Resultat der Tatsache, dass Diffusionsprozesse nicht sprungweise von Ort zu Ort erfolgen in der Weise, dass ein Ausdruck sich erst in einen nächsten Ort ausdehnt, wenn er sich an einem Ort vollständig als maßgebende Konvention etabliert hat. Vielmehr zeigen Karten vielfach größere Zonen mit variablem Sprachgebrauch. Implizit ist diese Situation bereits im Beispiel „schnarchen“ in der Kombination einzelner Kommentare in benachbarten Orten zum Vorschein gekommen. In kartografischer Darstellung ergibt sich daraus die in Karte 27 wiedergegebene Situation:

169

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel



ruusse schna(a)rchle schnü(ü)rfle

Karte 27: „schnarchen“ (SDS IV 77, Ausschnitt BE)

Im nördlichen Mittelland gilt im Allgemeinen »schna(a)rchle«. In den inneren Tälern des Berner Oberlandes ist daneben auch »ruusse« belegt, überwiegend in sekundärer Geltung, in den inneren Regionen teilweise aber auch als primäre Verwendung, mit »schna(a)rchle« als sekundärer Nebenform. Diese unterschiedliche Schichtung widerspiegelt einen aktuellen Diffusionsprozess.82 Die Verhältnisse bei „schnarchen“ sind repräsentativ für viele gleichartige Fälle in der gleichen Region. Dasselbe Bild einer abgestuften Mehrschichtigkeit findet sich, mit noch weiterer räumlicher Ausdehnung, beispielsweise bei „Hahn“ (SDS VIII 94) (Karte 28). Zwischen der Stadt Bern, den Tälern des Berner Oberlandes und dem Deutschfreiburgischen erstreckt sich eine ausgedehnte Zone der Varianz mit älterem »Hane« und neuerem »Güggel«. In der differenzierten Symbolik zeigt sich auch die lokale Gewichtung zwischen den beiden Varianten. Im Norden des Mischgebietes ist »Güggel« meist die „häufigere“ Variante, in den südwestlichen inneren Tälern (Simmental, Kandertal usw.) dagegen die seltenere, oft nur suggeriert erwähnt. Bemerkenswert ist auch die stärkere Geltung von »Güggel« entlang der wichtigen Verkehrswege: »Güggel« hat sich entlang des Aarelaufes zwischen Bern und dem Haslital (als Zugang zu mehreren Alpenpässen) zum Zeitpunkt der Aufnahmen weit stärker durchgesetzt als in den südlichen Seitentälern. In der Art und Weise der Geltung von »Güggel« in Konkurrenz zu »Hane« spiegelt sich die relative Dominanz der einzelnen Formen und mit der zunehmenden Dominanz von »Güggel« nach Norden relativ genau der zeitliche Ablauf der Diffusion.

82

Im SDS gelten standardisierte Konventionen für die kartografische Darstellung der unterschiedlichen Geltungsweise von zwei Varianten: Varianten mit Bedeutungsunterschied werden ohne Satzzeichen nebeneinander gestellt. Gleichwertige Antworten werden durch Komma getrennt. Das Symbol für die in den Antworten dominierende Variante steht voran. Ein hinter Punkt angefügtes Symbol gibt eine suggerierte Antwort an. Ein Apostroph ’ rechts über dem Symbol zeigt, dass das Wort „alt“ ist (entweder als „alt“ bezeichnet oder nur von einer älteren Gewährsperson angegeben).

170

Bezeichnungswandel und areale Diversität



Güggel Gügger Hane Han Karte 28: „Hahn“ (SDS VIII 94, Ausschnitt BE-LU-OW-WS)

Ähnliche Muster finden sich in anderen Regionen, mit jeweils typischen spezifischen Ausprägungen und besonderen Problemstellungen. Eine Zone mit häufig auftretender ausgeprägter Varianz findet sich im Mittelland zwischen Berner Oberaargau, Solothurn, Luzern und Aargau. Charakteristisch sind etwa die Varianzzonen bei „Quetschflecken auf der Haut“ (SDS IV 46) (Karte 29) und „Spielpuppe“ (SDS V 73) (Karte 30):

Mose Moon(d) Blätz Fläcke Mool Karte 29: „Quetschflecken auf der Haut“ (SDS IV 46, Ausschnitt SO-AG-LU)

171

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

Titti Bääbi Puppi

Karte 30: „Spielpuppe“ (SDS V 73, Ausschnitt SO-AG-LU)

Während im Falle von „Quetschflecken“ klar ist, dass »Moon(d)« die Rückzugsform ist, die dabei ist, von der weiter verbreiteten Form »Mose« verdrängt zu werden, ist die Situation bei „Spielpuppe“ aus dem Raumbild der Symbolkarte im SDS weniger deutlich erkennbar. An vielen Orten wird nach den Angaben in der Legende »Titti« als „älter“ oder „veraltet“ bezeichnet und somit »Bääbi« implizit als »jünger eingestuft, auch dort (in AG und LU), wo »Bääbi« nur in zerstreuten Einzelvorkommen erscheint. Hinter solchen zerstreuten Belegen können sich somit im Hintergrund zusammenhängende Diffusionszonen verbergen, die in der Sprache der befragten Gewährsleute (noch) nicht explizit zum Vorschein kommen. In den SDS-Karten erscheinen Diffusionsräume somit als Varianzräume. Das hat verschiedene Implikationen. Unter der Annahme, dass Diffusion als Sprachwandel nicht ohne Varianz vor sich geht, ist erstens daraus zu schließen, dass die Vorstellung eine unzulässige Idealisierung ist, wonach Diffusion nur zwischen direkt benachbarten Orten stattfinde. Diffusion präsentiert sich nicht als allmähliches Vorrücken von klaren Isoglossen. Entweder diffundiert eine Innovation schon dann weiter, wenn sie an einem Ort noch nicht als Konvention vollständig etabliert ist, oder, was wahrscheinlicher erscheint, Innovationen diffundieren gleichzeitig in größerräumigen Kommunikationsgemeinschaften. 83 Daraus ist zweitens zu schließen, dass scharfe Isoglossen das Ende einer Diffusionsbewegung zeigen. In bestimmten Regionen weigern sich Sprechergemeinschaften aus irgendwelchen Gründen, eine benachbarte Innovation zu übernehmen, oder es besteht kein Kommunikationskontakt zwischen zwei Regionen. Neben den beschriebenen relativ einfachen Diffusionsbildern mit klaren Diffusionsrichtungen gibt es komplexere Situationen. Eine typische Varianzzone mit komplexen Verteilungen von Varianten stellt das Grenzgebiet zwischen ZH, TG und SG dar. Im Kartenausschnitt aus der Karte SDS VIII 155 „Reisigbün83

Zur Konstitution von themenzentrierten Kommunikationsgemeinschaften s. S. 260.

172

Bezeichnungswandel und areale Diversität

del“ (Karte 31) fällt, ähnlich wie im angeführten Beispiel zu »Titti«–»Bääbi«, auf, dass innerhalb einer Zone mit gleichen Symbolen gestreut andere Symbole vorkommen:

Buurdi Bǜǜrdeli Wälle Buschle Buscheli Ggsatz. Buschle „groß“ – Büscheli „klein, fein“ Heizi Stuude

Karte 31: „Reisigbündel“ (SDS VIII 155, Ausschnitt ZH-TG)

Das Nebeneinander von »Wälle« und »Buurdi« im östlichen Teil von ZH mit der verstreuten Verteilung der Symbole deutet auf den ersten Blick darauf hin, dass in ZH «Wälle» eine Reliktform ist, die durch »Buurdi« verdrängt wird.84 Das ergibt sich auch aus der großräumigen Verteilung: »Wälle« gilt in einem nordwestlichen Gebiet von BS, SO und AG sowie in SH, zu dem ursprünglich auch die verstreuten Vorkommen in ZH gerechnet werden können. »Wälle« scheint demzufolge später in ZH durch »Buurdi« verdrängt und von den nordwestlichen Geltungsbereichen durch »Stuude« abgetrennt worden zu sein. Die differenzierten Antworten, die in der Legende angegeben werden, zeigen jedoch kompliziertere Verhältnisse: ZH 3: ZH 11: ZH 13: ZH 15: ZH 16: ZH 22: ZH 28: ZH 38: ZH 43: 84

Wälle, korr. Buurdi Stuude, präzisierend: ä Buurdi Stuud e Buurdi Stuude, Wäle „neuer“ Wälle „grösser“, Büürdeli „kleiner“ Buurdene (Pl.), präzisierend: ä Buurdi Stuude Buschle „grösser“; Büürdeli „kleiner“ Wäle, korr. Buurdi Büürdeli „kleiner“, Häitziwäle „gröber, grösser“ Buurdi, sp. Wäle

Das Nebeneinander von »Stuude«, »Wälle« und und »Buurdi« im Westen wirft ähnliche Fragen auf, bleibt aber hier ausgeklammert. Zu SDS VIII 155 „Reisigbündel“ insgesamt s. Abschnitt 3.6, S. 154.

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

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ZH 49: Wälle, korr. Stude ZH 54: Häitzi „leichter, für den Hausgebrauch“, Häitziwäle „schwerer, für den Verkauf“. ZH 62: Wäle „gröber“, Büürdeli „feiner“ ZH 64: Buurdi „feiner“, Wäle „gröber“ Einerseits hat sich offenbar aus der Varianz »Wälle«/»Buurdi« eine Bedeutungsdifferenzierung entwickelt: »Wälle« bezeichnet ein größeres, aus groberen Ästen gebundenes Reisigbündel als »Buurdi« bzw.»Büürdeli«. Der Grund ist nicht unmittelbar klar; aus der Angabe in ZH 54 lässt sich vermuten, dass »Wälle« eher überregional im Handel gebraucht wurde, »Buurdi« für die selbst hergestellten Reisigbündel. Die Angaben in ZH 13, 28 und 43 zeigen aber zugleich, dass »Wälle« gegenüber »Buurdi« tendenziell zum geläufigeren Ausdruck wird. Das muss der Annahme nicht widersprechen, dass älteres »Wälle« zunächst durch »Buurdi« verdrängt worden ist. Die Daten zeigen aber, dass diese Verdrängung offenbar nie endgültig stattgefunden hat und heute wieder in die andere Richtung umkippt. Komplexität der arealen Varianz ist ein Symptom für eine Komplexität der Diffusionsprozesse. Noch unbestimmter in Bezug auf allfällige Diffusions- bzw. Rückzugstendenzen ist die Verteilung der Varianten bei „zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170) (Karte 32). Überwiegend wird in der Region von ZH, wo »blööd« und »ööd« nebeneinander gebraucht werden, »ööd« als der „ältere“ oder „seltenere“ Ausdruck bezeichnet, so in ZH 16, 20, 44, 55, 64. Daraus lässt sich schließen, dass in dieser Gegend ein ursprüngliches »ööd« durch »blööd« ersetzt wird. Dem entspricht auch das größere Raumbild, in dem »ööd« über einen größeren Raum erscheint, der jedoch an verschiedenen Stellen durch andere Heteronyme durchbrochen wird, insbesondere in einem von Zürich und dem Zürichsee ausstrahlenden Gebiet.85 Jedoch wird in ZH 31 und 47 »ööd« gegenüber »blööd« als „jünger“ bzw. „neu“ bewertet, ebenso wird es in ZH 33 und 47 gegenüber »liis« als Neuerung bezeichnet. In einer östlichen Randregion scheint also »ööd« als die vordringende Form empfunden zu werden. Was die tatsächlichen damaligen Tendenzen waren, ist in dieser kleinräumigen Verteilung kaum auszumachen. Denkbar wäre auch, dass die beiden Wörter effektiv synonym geworden sind und nebeneinander existieren können. Darauf deuten spätere Entwicklungen hin.86 85

Seinerseits scheint »ööd« ursprünglich weiter östlich gegolten zu haben, später aber durch ein aus dem Nordosten eingedrungenes »liis« verdrängt worden zu sein. S. auch KÖNIG / RENN (2007, 229–231). Eine Internet-Umfrage des Deutschen Seminars der Universität Zürich von 2008 ergab, dass sowohl »blööd« wie »ööd« sich im Zentrum des Kantons Zürich gut festgesetzt haben, weniger im Osten; dabei scheint »blööd« etwas weiter verbreitet zu sein als »ööd«. Entgegen möglichen Tendenzen, die aus dem SDS V 170 extrapoliert werden könnten, ist »ööd« also weiterhin ein gut bekanntes Wort. Den kleinräumigen Befunden im SDS und in der InternetUmfrage können allerdings aufgrund der heutigen Mobilität nicht allzu große geografische Relevanz zugemessen werden. Ganz allgemein ist heute »faad« das dominierende Heteronym. S. dazu (2.7.2016).

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

blööd ööd liis (gsalze) lees(s) leis(s) tòòchtloos

Karte 32: „zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170, Ausschnitt ZH-TG-SG)

Ein vergleichbares, aber noch komplexeres Beispiel von Varianz im Raum stellt „Schnupfen“ (SDS IV 63) im westlichen Mittelland dar, u. a. auch deswegen, weil dabei mehrere Heteronyme gleichzeitig beteiligt sind (Karte 33). Angesichts der großräumigen Verteilung ist davon ausgehen, dass ursprünglich im östlichen und mittleren Schweizerdeutsch das Muster »Pfnüsel« gegolten hat. Dieses ist in SO und BE-Seeland zu »Pflüsel« umgeformt und in einem mittleren Streifen zwischen AG-Fricktal, LU und BE-Haslital mit UW, UR und SZ durch die Abwandlung »Chnüsel« ersetzt worden. In BE haben demgegenüber ursprünglich (?) allgemein Ableitungen zum Worttyp »Schnuder« wie »Schnuderi«/»Schnüderi, »schnuderig«/»schnüderig« gegolten. 87 In einem enger begrenzten Gebiet zwischen BA und BE-Mittelland ist zusätzlich verstreut »flessig« (zu »fliesse«?) belegt, in einem noch enger begrenzten Gebiet in BE-Emmental und BE-Oberaargau »Flussfieber« (zu »Fluss« als Abstraktum zu ›fließen‹, nicht als Gewässerbezeichnung).

87

Vgl. mhd. snuderen ‘schnaufen, schnarchen’, snudel ‘Schnupfen’, ein Glossenbeleg snuderata lat. catarrhus aus dem 12. Jahrhundert (KÖBLER, Ahd.Wb.). Der genetische Zusammenhang mit Gschnuder aus der gleichen Wurzel in einem nördlichen angrenzenden Gebiet bleibt dabei unklar (vgl. KÖNIG 2011, 173, KÖNIG / RENN 2007, 174–175).

175

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

Schnuppe(r) Pfnüsel Chnüsel Pflüsel, Flüsel flessig (Adj.) Flussfieber Schnuderi ,

Schnüder, schnüderig Rüüm(m)e



Karte 33: „Schnupfen“ (SDS IV 63, Ausschnitt SO-BE)

Die geografische Verteilung deutet darauf hin, dass die Formen »flessig« und »Flussfieber« gegenüber anderen Formen spätere Innovationen sind. Typisch für das Gesamtberndeutsche ist schließlich die Entlehnung »Rüüm(m)e« aus franz. rhume, eine der vielen in der frühen Neuzeit zunächst von der bernischen Oberschicht aus dem Französischen übernommenen Lehnwörter und damit ebenso eine lexikalische Innovation An dieser Stelle soll der Fokus auf dem Nebeneinander von »Pfnüsel«, »Pflüsel«, »Schnuderi« u. ä., »flessig«, »Flussfieber« und »Rüüm(m)e« im Bereich zwischen SO und BE-Mittelland liegen. Einerseits fällt dabei auf, dass nicht selten an einem Ort wenige oder keine Unterschiede in der Geltung einzelner Varianten verzeichnet werden, am Nachbarort dagegen klare Differenzierungen. SO 18: SO 19: BE 7: BE 8: BE 9: BE 41: BE 42:

Schnuppi, Pflüüsu „früher“ Schnupper, Pflüsel flessig, sugg. Flussfieber, „vornehmer“: der Rüüme Rüüme, flessig, Pfnüsu „selten“ Rüüme, Pfnösu, Flussfieber „meist“ schnüderig, flessig, Flussfieber flessig, schnöderig „gröber“, Pflüsu, Rüümme

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Bezeichnungswandel und areale Diversität

Gleichzeitig wird an nebeneinanderliegenden Orten aus den in der Gegend vorkommenden und damit verfügbaren Heteronymen vielfach nur eine Teilauswahl angegeben, sodass die Verteilung der einzelnen Heteronyme sehr zersplittert erscheint: SO 26: BE 9: BE 21: BE 22: BE 23: BE 24: BE 26: BE 36:

Flussfieber, sugg. Schnoderi „häufig“, sugg. Pflüsu Rüüme, Pfnösu, Flussfieber “meist“ Schnüderi, schnüderig Flussfieber, Pfnüsu, flessig „veraltet“ Flussfieber, sugg. de Pflösu, schnüderig flessig, sugg. der Rüümme, sugg. Flussfieber, andere Gw. Pfnüsu Flussfieber „älter“, Pflüsu „seltener“, Schnüderi flessig, sugg. Rüüme „feiner“, sugg. Flussfieber

Auch ist meist nicht klar erkennbar, was es über die Geltung eines Heteronyms aussagt, wenn es nur als suggerierte Antwort erwähnt wird. In der Region zwischen SO 24 und BE 25 erscheint »Flussfieber« relativ häufig als saliente Variante (so SO 24, 26, BE 9, 10, 22, 23 25). In BE 7 oder BE 34, also innerhalb des gleichen Gebietes oder angrenzend daran, erscheint es nur als suggerierte Variante. Das könnte darauf deuten, dass es dort nicht als erste Antwort gegeben wird, weil es eine Neuerung ist, die noch nicht dominiert. Auch die Beurteilung als „älter“ oder „neuer“ kann sich an verschiedenen Orten widersprechen: BE 22: SO 10: SO 11: So 12: SO 17: SO 18: SO 19: SO 24:

Flussfieber, Pfnüsel, flessig „veraltet“ Schnuppe, flessig „älter“ Schnöderi, Flösel, „jünger“: Schnuppe Pfnüsel, Rüüme „schon häufig“ Pflüsel „alt“, flessig „heute häufiger“ Schnuppi, Pflüsel „früher“ Schnupper, Pflüsel Pflüsel, Flussfieber „neuer“

Es scheint wenig wahrscheinlich, dass eine solche Zersplitterung der Antworten jeweils klar abgegrenzte und unterschiedene Ortsdialekte repräsentiert. Zu erklären ist diese Varianz der Antworten eher damit, dass die einzelnen Gewährspersonen den Gesamtbestand der geläufigen Ausdrücke nur unvollkommen wiedergeben und die Auskünfte einen individuellen Ausschnitt aus diesem Gesamtbestand repräsentieren. Der bekannte Wortschatz übertrifft auch an Umfang den individuell verwendeten. Das könnte die Häufigkeit der nur suggerierten Antworten erklären. Die Varianz im Raum repräsentiert so gesehen noch stärker als in den bisher diskutierten Fällen eine Synonymie verschiedener Ausdrücke über einen größeren Raum. Gleichzeitig können auch in dieser Synonymie Stufungen und Schichtungen beobachtet werden. Vielfach werden mit den einzelnen Ausdrücken Wertungen verbunden. So gelten »Schnuderi» oder »schnuderig« als „grob“ oder „bäurisch“ (AG 47, SO 29, BE 5, 17, 42), dies aber immer an Orten, an denen auch andere Lexeme angegeben werden. Umgekehrt werden gegenüber anderen For-

Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel

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men, implizit vor allem gegenüber »Schnuderi«/»schnuderig« die Ausdrücke »flessig«, »Flussfieber« und vor allem »Rüüm(m)e« als „feiner“, „anständiger“ empfunden. Die komplexeren Raumbilder bei „Reisigbündel“, „zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ und „Schnupfen“ ergänzen die Erkenntnisse über Entstehung und Entwicklung lokaler und regionaler Varianz. Je mehr Varianten miteinander in Konkurrenz stehen, desto unklarer wird die Richtung, in der sich die regionalen Geltungsbereiche der einzelnen Quasi-Synonymien entwickeln. Die Situation wird offenbar zuweilen so komplex, dass die verschiedenen lokalen Sprechergemeinschaften nicht zu einheitlichen Entscheidungen kommen. Die Synonymie wird u. U. geduldet, teils mit stilistischer Differenzierung oder mit semantischer Differenzierung. Der Diffusionsprozess versickert sozusagen oder macht anderen Sprachwandelprozessen Platz.

4 VARIANTENMUSTER IN DER SYNCHRONIE 4.1 EINLEITUNG Bezeichnungswandel in geografischen Räumen resultiert synchron in areal verteilter Heteronymie. Unterschiedliche Arten des Bezeichnungswandels führen zu unterschiedlichen lexikalischen Erscheinungsformen der Heteronymie: Unterschiedliche lexikalische Innovationen schaffen unterschiedlich geformte Lexeme; daraus ergeben sich unterschiedliche lexikalische Beziehungen zwischen den Varianten. Im Konzept der Heteronymie ist mehr Substanz enthalten als die bloße Tatsache, dass synonyme Wörter per definitionem formunterschieden sind. Diese verschiedenen lexikalischen Erscheinungsformen der Heteronymie sind in ihrer jeweiligen Eigenart zu charakterisieren. 4.1.1 Heteromorphie: Ähnlichkeit und Heterogenität Heteronyme sind dadurch gekennzeichnet, dass der gleiche Inhalt durch ‚heteromorphe‘, d. h. formal unterschiedliche Ausdrücke bezeichnet wird. 1 Im Begriff der Heteronymie ist das Konzept der Heteromorphie definitorisch enthalten. Heteronyme weisen jedoch oft Ähnlichkeiten auf, die über die bloße Synonymie hinausgehen. Die Ähnlichkeit kann unterschiedliche semiotische Dimensionen betreffen.2 Auf der formalen Ebene können Heteronyme gleiche oder ähnliche Lautbilder oder Wortbildungsstrukturen aufweisen. Auf der Ebene der lexikalischen Motiviertheit können die Bildungen auf einer gemeinsamen oder vergleichbaren Benennungsmotivik basieren. Ähnlichkeit ist eine graduierbare Beziehung. Heteronyme können sich mehr oder weniger ähnlich sein. Sie sind völlig disparat bzw. heterogen, wenn zwei isolierte Grundlexeme als Heteronyme auftreten, und umgekehrt sehr ähnlich, wenn sie beispielweise identisch motiviert sind. 4.1.2 Variantenmuster Heteronyme in einem Onomem können nach Art und Grad der Ähnlichkeit und der Beziehungen zwischen den einzelnen Varianten gruppiert werden. Entspre1 2

Hier in einem anderen Sinn verwendet als bei KOCH (2006), der den Ausdruck parallel zu Heteronymie als „diatopische Variation im Bereich der Morphologie“ definiert. Nicht relevant sind in unserem Zusammenhang lautliche Verschiedenheiten bzw. Ähnlichkeiten, die nur durch unterschiedliche Veränderungen auf lautlicher Ebene bedingt sind.

Variantenmuster bei deskriptiver Motiviertheit

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chend den unterschiedlichen Ähnlichkeitsbeziehungen oder Art der Heterogenität können wir bei Onomemen unterschiedliche ‚Variantenmuster‘ antreffen. Die Frage nach lexikalischen Erscheinungsformen von Heteronymie konkretisiert sich in der Frage, welche Kombinationen von Ähnlichkeit und Heterogenität in Variantenmustern anzutreffen sind. 4.2 VARIANTENMUSTER BEI DESKRIPTIVER MOTIVIERTHEIT Ähnlichkeiten zwischen Heteronymen können darin bestehen, dass sie auf ähnlichen deskriptiven Benennungsmotiven basieren. 3 Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Benennungsmotiven können unterschiedlich geartet und unterschiedlich groß sein. Innerhalb einer Gruppe von Heteronymen können danach, wie Benennungsmotive gewählt und versprachlicht werden, Untergruppen gebildet werden. Es gibt also nicht nur einfache Ähnlichkeit zwischen Heteronymen, sondern auch Ähnlichkeitsmuster und damit Variantenmuster innerhalb von Onomemen. 4.2.1 Variationen der Heterogenität bei deskriptiv motivierten Variantenmustern Auch wenn Onomeme insgesamt aus deskriptiv motivierten Heteronymen zusammengesetzt sind, gibt es in Bezug auf die Heterogenität bzw. Ähnlichkeit der thematisierten Benennungsmotive und deren gegenseitige Beziehungen Unterschiede, je nach den Beziehungen zwischen den Beschreibungsdimensionen, auf die sich die einzelnen Benennungsmotive beziehen. Auch die Differenziertheit, wie die einzelnen Benennungsmotive variiert werden, kann unterschiedlich sein. In manchen Fällen basieren die Benennungsmotive auf einer einheitlichen Betrachtungsweise der Sache. •

„Buschbohne“ (SDS VI 197) (Karte 41, S. 235) Die Bezeichnungen der Buschbohne sind untereinander relativ ähnlich, indem durchgehend das niedrige Wachstum thematisiert wird. Unterschiede ergeben sich aus der unterschiedlichen Art, wie diese Eigenschaft veranschaulicht und sprachlich umgesetzt wird. Vereinzelt wird die Nähe zum Boden direkt benannt, so in den Komposita »Bodeboone« ›Bodenbohne‹ und »Stockboone« ›Stockbohnen‹, letzteres zu »Stock« in der Bedeutung ‘runder aufgeschichteter Haufen’ (s. Id. 10, 1675).

3

In gewisser Weise werden damit Fragestellungen der (diachronen) kognitiven Onomasiologie berührt (s. BLANK 2003, BLANK / KOCH 2003, KOCH 2001, KOCH 2005 jeweils mit weiteren Verweisen), die nach „Universalien des Bezeichnungswandels“ sucht, d. h. universellen Bezeichnungsverfahren für bestimmte Konzepte, die übereinzelsprachlich immer wieder verwendet werden. Im Folgenden geht es aber nicht um derartige Universalien, sondern um das konkrete Erscheinungsbild dialektaler Heteronymie, das sich komplexer und unübersichtlicher präsentiert und nicht auf die Verwendung bestimmter Benennungsmotive eingeschränkt werden kann. S. auch die Bemerkungen in Abschnitt 4.2.3.

180

Variantenmuster in der Synchronie

Überwiegend wird diese Eigenschaft metaphorisch dargestellt. Meist bestehen die Bezeichnungen von Buschbohnen aus Ableitungen von Verben mit der Bedeutung ‘kauern’; das niedrige Wachstum wird also über einen Vergleich mit einer menschlichen Körperposition dargestellt. Die Unterschiede in den Benennungen als »Gruuper«, »Gruupli« usw. und »Huuriboone« zu »huure« sind primär in der arealen Diversität der Heteronymie zu „kauern“ begründet (vgl. SDS IV 39 und Karte 38 „kauern“ S. 230 und SDS VI 197 und Karte 41 „Buschbohne“ S. 235). Semantisch nahe sind die Bezeichnungen »Hocker(li)«/»Höcker(li)« u. ä. zu »hocke« ›hocken‹ mit der speziellen Bedeutung ‘niedrig/auf dem Boden sitzen’. In einer weiteren Variante wird die Nähe zum Boden und die niedrige Form dynamisch als KRIECHEN konzeptualisiert, so in Bezeichnungen wie »Schnaagger(li)«, »Schnaaggi«, »Schnaagiboone« zu »schnaagge« ‘kriechen’ und »Rütscherli« zu »rutsche« (s. SDS V 7). •

„Kartoffeln häufeln“ (SDS VI 210) (Karte 48, S. 249, und Abschnitt 5.4.2) Die im Einzelnen vielfältigen Bezeichnungsvarianten für das Häufeln der Kartoffeln lassen sich auf einer abstrakten Ebene auf eine gemeinsame Motivik zurückführen: Thematisiert wird durchwegs das räumliche Resultat der Tätigkeit (wie auch in der standarddeutschen Bezeichnung häufeln). Dieses Benennungsmotiv wird jedoch auf unterschiedliche Weise umgesetzt. In einer kleineren Gruppe wird die Tätigkeit relativ unspezifisch als Bewegen der Erde mit einem bestimmten räumlichen Ziel beschrieben, meist als Hinaufbewegen oder Zuschließen einer Lücke: »uuf-/ii-/zuemache«, ›(hin)auf-/ein/zumachen‹, »uufzie« ›aufziehen‹, »zuehacke« ›zuhacken‹. Die Hauptgruppe der Bezeichnungen besteht aus Ableitungen zu Substantiven, welche die hergestellte Erdformation bezeichnen: »hüüffele« u. ä. ‘Häufchen machen’ zu »Huuffe« ›Haufen‹, »fürele« u. ä. ‘Furchen machen’ zu »Fure« ›Furche‹ (Id. 1, 935), »mä(ä)dle« ‘Mahden machen’ zu »M(a)ad(e)« ›Mahd‹ ‘Reihe gemähtes Gras’ (Id. 4, 74), »wälmle« u. ä. ‘Walme machen’ zu »Walm« ‘längliche Anhäufung (von Reisig, Gras, Erde)’ (Id. 15, 1572), »wägle« ‘Weg machen’, zu »Wääg« ›Weg‹. Die Variationen ergeben sich vor allem daraus, aus welcher Perspektive diese Formation gesehen wird. Beim Häufeln (vor allem mit dem Pflug) wird eine Furche gezogen und die auf die Seite bewegte Erde zu einer länglichen Erhöhung aufgeworfen. Dazwischen entsteht ein kleiner Weg oder, da dies mit dem Pflug geschieht, eine Furche. Die Erhöhung kann als Haufen gesehen werden oder mit Anhäufungen von Gras beim Grasen und Heuen, d. h. ›Mahden‹ oder ›Walmen‹ verglichen werden.

Nicht immer ist die Benennungsmotivik so einheitlich wie bei „Buschbohne“ und „Kartoffeln häufeln“. Oft werden Motive aus verschiedenen Sachdimensionen nebeneinander verwendet. Das ergibt auch eine größere Heterogenität zwischen den Heteronymen. •

„Quetschflecken auf der Haut“ (SDS IV 45/46) Die verschiedenen Bezeichnungen für Quetschflecken beziehen sich auf Sachaspekte auf unterschiedlichen Ebenen: die äußere Erscheinung, die ana-

Variantenmuster bei deskriptiver Motiviertheit

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tomische Natur der Sache und die Ursache des Flecks. Auf die äußere Erscheinung kann unterschiedlich Bezug genommen werden. In einer Gruppe werden Wörter mit der Bedeutung ‘(Schmutz-)fleck’ übernommen; das Benennungsmotiv ist somit ‘(unerwünschte) auffällige Stelle auf einer Oberfläche’. Dazu gehören »Fläcke« ›Fleck‹ und »Blätz« ‘Flicken’. »Mose« (mhd. mâse) ist direkter aus der Bedeutung ‘verletzte Stelle, Narbe auf der Haut’ hergeleitet, (eher als aus der übertragenen Bedeutung ‘Fleck’). Konkreter ist die Benennung aufgrund der blauen Farbe mit »Bläuwele« oder »Blääbele« zu »blaau/blaaw« ›blau‹. Bei »Moond« ›Mond‹ wird metaphorisch die runde Form thematisiert. In Bezeichnungen wie »underlauffes Bluet« u. ä. ›unterlaufenes Blut‹ wird weniger auf die äußere Erscheinung als auf den anatomischen Sachverhalt Bezug genommen. Wiederum auf einer anderen Ebene wird in »Tätsch« (‘klatschender Schlag’) die Ursache eines solchen Flecks thematisiert. •

„Ofenkrücke“ (SDS VII 110) (Karte 46, S. 246) Die zahlreichen Bezeichnungen für die Ofenkrücke, das Instrument, um Glut und Asche im Backofen zu verteilen oder zusammenzuscharren, gehen von zwei unterschiedlichen Motivtypen aus: In der einer Gruppe basieren die Bezeichnungen auf der äußeren Form des Instrumentes, in der anderen auf dessen Verwendung. Die Bezeichnungen, die von der Formbeschreibung ausgehen, charakterisieren die Sache mit Hilfe von Vergleichen mit ähnlich aussehenden Gegenständen: »Chrucke/Chrücke« u. ä. ›Krücke‹, »Haagge« ›Haken‹ oder »Räche« ›Rechen‹. Die Bezeichnungen haben keinen Bezug zur speziellen Verwendung, der Sachbezug wird allerdings in der Regel durch Bestimmungsglieder wie »Ofe-«, »Füür-« oder »Chol-« zusätzlich andeutet. Bei der zweiten Gruppe mit mehr Varianten bildet die konkrete Verwendung als Instrument des Zusammenscharrens die Grundlage der Bezeichnungsbildung. Dieses Motiv wird unterschiedlich verbalisiert. In Ausdrücken wie »Chraauer« zu »chraaue« ‘kratzen’, »Chratzer« zu »chratze« ‘kratzen’, »Schaber«, »Scharrer«, »Schorer« zu »schore« ‘scharren’ wird die konkrete Tätigkeit fokussiert, ohne dass der Zweck der Handlung thematisiert würde. Stärker auf den Zweck des Wegschiebens bezogen sind Ausdrücke wie »Schieber«, »Ziejer/Ziecher« ›Zieher‹. Zwischen der Thematisierung der Form und jener der Verwendung ist kein übergeordneter inhaltlicher Zusammenhang gegeben; die beiden Bezeichnungsverfahren sind also heterogener Art. Immerhin ergibt sich damit aus der Gesamtheit der Heteronyme eine Art Gesamtheit prototypischer Vorstellungen des Konzepts OFENKRÜCKE, das einerseits durch bestimmte Formähnlichkeiten, andererseits durch typische Verwendungsweisen charakterisiert ist.

Mehrdimensionalität bei den angewandten Benennungsmotiven kommt vor allem bei Handlungsbezeichnungen vor, bei denen unterschiedliche Aspekte und Organisationsebenen eines Handlungskonzepts fokussiert werden können.

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Variantenmuster in der Synchronie



„Blumen gießen“ (SDS VI 218, KSDS 136) (Karte 26, S. 153) Zur Bezeichnung des Blumengießens werden generell Benennungen für andersartige Handlungen übernommen. Die Benennungsstrategie besteht m.a.W. darin, dass das Blumengießen unter andere Handlungskonzepte eingeordnet wird. Die Heteronyme unterscheiden darin, welcher Teilaspekt der Handlung speziell thematisiert wird und welcher Ebene der Handlung diese Spezialisierung zuzuordnen ist (Objekt der Handlung, Handlungsart, Zweck der Handlung). Die eher ad hoc geprägte Bildung »Wasser gää« ›Wasser geben‹ und die entsprechende komprimierende Wortbildung »wässere« ›wässern‹ thematisieren lediglich das unmittelbare Objekt der Handlung. In spezifischeren Bezeichnungen wird zusätzlich die spezielle Handlungsorganisation und -intention mit einbezogen. Bei »(g)sprütze« ›spritzen‹ und »bschütte« ›beschütten‹ ‘begiessen’ wird die räumliche Richtungsorientierung konkretisiert, bei »netze« ›netzen‹ und »füechte« ›(be-)feuchten‹ das angestrebte Resultat. Mehrschichtig ist die Bezeichnung »tränke« ›tränken‹, die metaphorisch auf einem Vergleich mit dem Tränken von Vieh aufbaut und das mittelbare Ziel thematisiert, dass dadurch, dass das Wasser gegeben wird, die Pflanze das Wasser aufnimmt („trinkt“) und so vor dem Vertrocknen bewahrt wird.



„gären lassen (Hefeteig)“ (SDS VII 101) (Karte 47, S. 247) Die Bezeichnungen des Gärenlassens des Hefeteigs lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen, die wieder in sich differenziert sind. In einer Reihe von Dialekten gehen die Ausdrücke davon aus, dass der Teig nicht weiter bearbeitet und liegen gelassen wird. Das ist die Perspektive der Person, die den Teig herstellt. In sehr allgemeiner Form wird dieses Motiv in Formulierungen wie »(la) sii« ›sein (lassen)‹ oder räumlich konkreter mit »(la) staa« ›stehen (lassen)‹ oder »(la) ligge« ›liegen (lassen)‹ ausformuliert. Spezieller wird in einer weiteren konkreteren Variante das ruhige Liegen als ‚ausruhen’ bezeichnet. Die Variation ergibt sich in diesem Fall aus der dialektalen Heteronymie der Bezeichnungen für das Ausruhen (vgl. „ausruhen“ SDS IV 113, Karte 19, S. 140 und Abschnitt 3.6, S. 140). Entsprechend wird der Vorgang je nach Region als »(la) rueje«, »la hirme« oder »la lüje« (mit den entsprechenden formalen Varianten) bezeichnet. Daneben gibt es auch Bezeichnungen, welche das Gären des Teigs als dynamischen Prozess darstellen: »(la) gaa« ›gehen (lassen)‹, »(la) choo« ›kommen lassen‹. In einer weiteren Variante wird dieser Aspekt spezieller benannt mit spezifischen Bezeichnungen für die Wirkung der Hefe im Teig: »(la) habe« zu »habe« ‘gären unter Einfluss der Hefe’ (zu »Hab« ‘künstlicher Sauerteig, Treibmittel für Brot’) (s. Id. 2, 864) und »la triibe« ›treiben lassen‹ mit der Vorstellung, dass die Hefe den Teig bewegt („treibt“).

Variantenmuster bei deskriptiver Motiviertheit

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„(Kartoffeln) stecken“ (SDS VI 204) (Karte 8, S. 104) Für die Bezeichnungen für das Stecken der Kartoffeln finden wir zwei dominierende Motivtypen.4 Beim ersten Typ mit den Heteronymen »sääje« ›säen‹, »setze« ›setzen‹, »(aa-)pflanze« ›(an-)pflanzen‹ wird eine ursprünglich allgemeinere Bezeichnung für das Anpflanzen von Pflanzen spezialisiert auf Kartoffeln angewendet, nach Angaben des SDS oft mit Weglassen des Objekts „Kartoffeln“. Dabei wird das Stecken von Saatkartoffeln zwei unterschiedlichen Arten des Produzierens von neuen Pflanzen zugeordnet: dem Säen von Saatgut oder dem Einsetzen von Setzlingen. Die Variation ist insofern nachvollziehbar, als das Einsetzen von Saatkartoffeln mit keiner dieser prototypischen Handlungen des Vermehrens von Pflanzen konkret übereinstimmt. Bei einem zweiten allgemeinen Motivtyp steht die konkrete Handlung mit dem räumlichen Resultat im Fokus. Es werden Handlungsbezeichnungen mit einer Richtungsangabe verwendet, in allgemeinerer Form bei »underetue« ›runtertun‹, »in Bode tue« ›in den Boden tun‹, konkreter bei »stecke« ›stecken‹, »stupfe« ›(hinein)stupfen‹, (seltener, verstreut) »legge« ›legen‹. Eine dritte Bezeichnungsvariante besteht in der Ableitung »härdöpfle« von »Härdöpfel« ‘Kartoffel’. Hier wird die Tätigkeit unspezifisch als Handlung bezeichnet, die etwas mit dem Objekt Kartoffel zu tun hat; nicht die Handlung, sondern das Objekt der Handlung steht im Vordergrund. Die Charakterisierungen über ein verwandtes Handlungskonzept oder über die konkrete Handlungsweise sind auf konzeptueller Ebene relativ heterogen. Immerhin beziehen sich sich die Teilmotive auf miteinander zusammenhängende Aspekte des übergeordneten komplexen Handlungskonzepts.



„(rohe Kartoffeln) schälen“ (SDS V 201) In der Heteronymie zu „(rohe Kartoffeln) schälen“ werden Handlungselemente auf unterschiedlichen Handlungsebenen thematisiert. Die erste Gruppe von Bezeichnungen besteht aus allgemeinen Ausdrücken mit der Bedeutung ‘die Schale entfernen’, so »schelle« ›schälen‹ oder »schinte« (urspr. zu mhd. schinden ‘die Haut abziehen’). In andern Fällen, bei »bschniide« ›beschneiden‹ und »schääre« ›scheren‹ (mit der ursprünglichen Bedeutung ‘(mit dem Messer) schneiden’) wird das konkrete Verfahren, die Benutzung eines speziellen Instruments, um die Schale zu entfernen, zur Grundlage der Bezeichnung gemacht. In »schöön(n)e« ›schönen‹ ‘schön machen’ wird das angestrebte Resultat, in »rüschte« ›rüsten‹ schließlich der Zweck der Handlung in einem übergeordneten Handlungszusammenhang fokussiert. (Das Heteronym »schabe« ›schaben‹ bezieht sich dagegen auf eine andere Methode, die Haut roher Kartoffeln zu entfernen, und ist deshalb wohl nicht synonym mit den anderen.)

4

S. auch Abschnitt 3.2.4.

184

Variantenmuster in der Synchronie

Tendenziell lässt sich sagen, dass die Heteronymie von Sachbezeichnungen umso heterogener ist, je naturwüchsiger die Sache ist. Die gilt etwa für wildwachsende Pflanzen.5 •

„Löwenzahn“ (SDS VI 123, KSDS 140) (Karte 34) Exemplarisch für die Schichtungen und Gruppen von Benennungsmotiven und die daraus resultierende relativ große Heterogenität der Motivik vor allem bei wildwachsenden Blumen ist die Heteronymie beim Löwenzahn. Thematisiert werden v. a. die Bewertung, das Aussehen und die Verwendung in Kinderspielen. Die Mehrzahl der Ausdrücke sind Komposita mit Basisausdrücken wie »-blueme« ›Blume‹, ‘blütentragende Pflanze’, »-meie« (in alpinen Dialekten ebenfalls Bezeichnung für ‘Blume’), »-stock«» und »-stuude« ›Stock‹, ›Staude‹ ‘mehrjährige krautige Pflanze mit tiefwachsender Wurzel’ sowie »-pösche« ‘Büschel’, ‘Pflanze mit dichtem Blätterbewuchs’. Darin manifestieren sich differierende Möglichkeiten zur Kategorisierung der Pflanze. Unterschiedlich sind auch die heterogenen Bennenungsmotive, die sich in den Bestimmungsgliedern manifestieren. Zu einer Hauptgruppe gehören Bildungen mit Tierbezeichnungen als Bestimmungsglieder, vor allem Bezeichnungen des Schweins: »Söi-« ›Sau-‹, »Schwii(n)-« ›Schweine-‹, »Moore-« ‘Mutterschwein’, daneben »Chrotte-« ›Kröten-‹ und »Häli-« ‘junges Schaf’. Der Variation zwischen »Söi-« ›Sau-‹ und »Schwii(n)-« ›Schwein-‹ liegt die zugrundeliegende dialektale Variation zwischen den Bezeichnungen für das Schwein zugrunde (vgl. SDS VIII 77). Die Tierbezeichnungen verweisen nicht direkt auf deskriptive Benennungsmotive, denn die Pflanze wird von diesen Tieren nicht gefressen, sondern auf Motivierungen narrativer Art oder sehr lockerer metonymischer Art: Es wird auf eher niedrig eingeschätzte Tiere angespielt und die Pflanze damit als minderwertiges Kraut charakterisiert. Auf einer abstrakten Ebene der Benennungsmotivik steht die Bewertung im Vordergrund. Eine weitere Gruppe von Benennungen bezieht sich auf unterschiedliche Aspekte der Erscheinung. Mit der Bezeichnung »Weijefäck(t)e« ‘Weihenflügel’ (›Weihe‹ = bestimmte Greifvögel wie Rotmilan) wird auf die gezackte Form der Blätter angespielt.6 Dazu gehört auch der Ausdruck »Rämschfädere«, dessen erstes Glied allerdings undurchsichtig ist. Viele Ausdrücke benennen die Pflanze aufgrund der Blüte, so »Sunnewirbel« ›Sonnenwirbel‹ mit einer metaphorischen Beschreibung der Korbblüte. Die gelbe Farbe gibt den Anlass zu Benennungen wie »Ankeblueme« oder »Schmalzblueme« (»Anke« und »Schmalz« ‘Butter’ oder ‘Fett’). Andere Bezeichnungen beziehen sich auf den Milchsaft, der beim Brechen des Stengels austritt, so in der Bezeichnung »Milchblueme« ›Milchblume‹ oder »Roomblueme« ›Rahmblume‹.

5 6

S. dazu Abschnitt 6.2.3. In einer assoziativen Abwandlung wird daraus »Bijifäckte« ›Bienenflügel‹ gebildet, sachlich offensichtlich eine sinnlose Bildung.

Variantenmuster bei deskriptiver Motiviertheit

185

In einem weiteren Bezeichnungstyp wird die Blume über Kinderspiele charakterisiert. Die Form »Chette(le/ne)blueme« ›Kettenblume‹ bezieht sich darauf, dass aus dem Löwenzahn Blumenketten zusammengefügt werden. Die Bezeichnung »Griggele« bedeutet an sich ‘Gabel(ung)’; sie leitet sich nach Id. 2, 726 von einem Spiel ab, bei dem der Stängel der Pflanze gespalten und ins Wasser gelegt wird, so dass die Teile sich spreizen. Manche Bezeichnungen sind letztlich nur als Übernahmen von anderen Blumenbezeichnungen erklärbar, vor allem »Tischtelblueme« ›Distelblume‹, (von der Acker-Gänsedistel?) und »Buggele« (Namen für mehrere Blumen, so v. a. die Wegwarte und den Beifuß, zu ahd. buggila). Falls dahinter Verwechslungen aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit stehen, wären diese Bezeichnungen zum Motivierungstyp des Aussehens zu rechnen.7

Karte 34: „Löwenzahn“ (SDS VI 123)

7



Übernahmen von Benennungen anderer Blumen ist auch in Fällen denkbar, die an sich sachlich motiviert erscheinen. So wird »Ankeblueme« auch für andere gelbblühende Pflanzen Blumen verwendet. Auch »Sunnewirbel« ist in verschiedenen Dialekten eine Bezeichnung für andere Blumen mit ähnlicher Blütenform, so für die Sonnenblume (Heliotropum, Helianthus), den Doldigen Milchstern (Ornithogalum umbellatum), die Ringelblume (Calendula officinalis) oder die Wegwarte (Cychorium intybus) (Id. 16, 1160). S. auch MARZELL 1, 629; 1, 990; 2, 790; 2, 772; 3, 459.

186

Variantenmuster in der Synchronie

4.2.2 Semantische Strukturen in Heteronymien Zusammenhänge bei den Benennungsmotiven von Heteronymen lassen sich in einer Grafik schematisch darstellen. Entsprechungen in räumlichen Zusammenhängen sind damit nicht impliziert; ähnliche Benennungsverfahren können grundsätzlich unabhängig voneinander an getrennten Orten entstehen. Wenn semantische Nähe zwischen Benennungsmotiven mit räumlicher Nähe korrespondiert, wirft dies zusätzliche Fragen auf.8 Im Folgenden wird eine Auswahl der im vorangehenden Abschnitt behandelten Heteronymien zusammengefasst.9 „Buschbohne“ [Erscheinungsform] ‟Bodennähe” (direkte Benen- wie ‟menschliches Verhalten nahe am Boden” nung) wie ‟kauern” wie ‟auf dem wie ‟auf dem Bodeboone Boden sitzen” Boden krieStockboone chen” Gruuper/Gruppli Hockerli Schnaaggerli, Groppli Schnaaggiboone Huuriboone Rütscherli Abb. 4.1: Variantenmuster von „Buschbohne“

„Quetschflecken auf der Haut“ [Äußere Erscheinung] ‟(unerwünschte) auffällige Stelle” Fläck Blätz Mose

‟Farbe”

‟Form”

Bläuele

Moond

[anatomischer Sachverhalt] underlauffes Bluet

[Ursache] Tätsch

Abb. 4.2: Variantenmuster von „Quetschflecken auf der Haut“

8 9

Zusammenhänge zwischen Variantenmustern und Distributionsmustern werden in Abschnitt 5.4 diskutiert. Auszeichnungen: Mit [eckigen Klammern] werden die Dimensionen markiert, in die ein Benennungsmotiv einzureihen ist, mit ‟doppelten hochgestellten Anführungszeichen” das allgemeine Benennungsmotiv selbst.

187

Variantenmuster bei deskriptiver Motiviertheit

„Kartoffeln stecken“ [übergeordnetes Handlungskonzept] [Teilkonzept im allgemeine Handlungskonzept PFLANZENBAU] entspr. ‟Saatgut entspr. ‟Setzsäen” linge einsetzen” sääje setze aapflanze

[konkrete Handlungsebene] ‟Manuelle Handlung im Raum” stecke stupfe legge

[Handlungsobjekt]

härdöpfle

Abb. 4.3: Variantenmuster von „(Kartoffen) stecken“

„Löwenzahn“ [Bewertung] ‟Minderwertigkeit” → ‟Bezug zu minderwertigem Tier” Schwein SchwiiSauMoore-

‟junges Schaf” Häli-

[Aussehen] [Form der Blätter] Weijefäckte Rämschfädere

[Blüte] [Farbe] ‟gelb wie Butter” Anke-/ Schmalzblueme

[Aussehen wie andere Blume] Tischtelblueme

[Umgang] ‟Kinderspiel” Chetteleblueme Griggele

Abb. 4.4: Variantenmuster von „Löwenzahn“

4.2.3 Deskriptive Heteronymie als kollektive Sachbeschreibung Die in Abschnitt 2.2.2 postulierte konzeptuelle Variabilität der Benennungsmöglichkeiten einer Sache resultiert bei deskriptiven Variantenmustern in mehr oder weniger heterogenen Heteronymien. Es gibt unterschiedliche Bezeichnungsstrategien und -motive und diese können sprachlich unterschiedlich umgesetzt werden. Die konkreten dialektalen Heteronymien zeigen, dass theoretisch alle denkbaren kognitiven Zugänge zu einer Sache als Basis einer Benennungsmotivik verwendet werden können. Einheitliche, homogene Benennungsmotive, wie sie bei „Universalien des Bezeichnungswandels“ gesucht werden (s. Fn. 3 in Kap. 4), dürften eher die Ausnahme sein. Zu vermuten ist immerhin, dass es je nach Sachtyp typische Paletten von Motivtypen gibt, aus denen zur Bezeichnung einer Sache ausgewählt werden kann. Beispielsweise scheinen Werkzeuge hauptsächlich nach ihrer Handhabung und nach ihrem Zweck benannt zu werden. Derartige Fragen bedürfen jedoch einer umfassenderen Untersuchung, für die hier nicht der Platz ist. Immerhin kann man eher auf den Einzelfall bezogen die Gesamtheit aller Benennungsmotive in einer Heteronymie als eine Art kollektive Beschreibung einer be-

188

Variantenmuster in der Synchronie

stimmten Sache verstehen. Zwar wird am einzelnen Ort jeweils nur ein Aspekt zur Grundlage einer Benennung gemacht, in der ganzen Heteronymie einer größeren Sprachgemeinschaft kommt aber insgesamt zum Vorschein, welche Aspekte einer Sache für deren Benennung besonders salient und/oder nützlich sind. Diese Aspekte lassen sich zu einer Art Sachbeschreibung zusammenfassen, welche die für eine größere Kommunikationsgemeinschaft relevanten Eigenschaften der Sache umfasst. Das ergibt bei den oben beschriebenen Heteronymien etwa folgende Charakterisierungen: BUSCHBOHNE: Bohnenart, die nahe am Boden wächst KARTOFFELN HÄUFELN: die Erde zu länglichen Haufen wie Furchen oder Mahden aufschichten QUETSCHFLECKEN AUF DER HAUT: Bluterguss, der durch einen Schlag verursacht ist und als auffällige Stelle auf der Haut sichtbar wird OFENKRÜCKE: Gegenstand in der Form einer Krücke oder eines Hakens, mit der Kohle im Ofen herumgeschoben, herumgezogen oder weggekratzt wird BLUMEN GIESSEN: Wasser über Blumen gießen, um die Erde zu befeuchten, damit die Blumen Wasser aufnehmen („trinken“) GÄREN LASSEN DES HEFETEIGS: den Hefeteig ruhen lassen, damit er unter Einwirkung der Hefe aufgehen kann (KARTOFFELN) STECKEN: Kartoffeln in den Boden stecken, als Arbeitsgang des Anpflanzens im Zusammenhang mit dem Kultivieren von Kartoffeln (ROHE KARTOFFELN) SCHÄLEN: die störende Schale von Kartoffeln mit einem scharfen Gegenstand bzw. Messer entfernen, um sie bereit zu machen für das Weiterverarbeiten LÖWENZAHN: minderwertige Blume, die nur für Tiere wie Schweine oder Kröten interessant ist, mit Blättern wie Greifvogelflügel und gelben, wirbelartigen Blüten, und die von Kindern für bestimmte Spiele gebraucht wird Diese Beschreibungen, die aus den einzelnen Heteronymien abgeleitet sind, erscheinen nicht spektakulär oder absonderlich. Sie entsprechen weitgehend dem, was auch für eine intuitive Sachbeschreibung naheliegen würde, auch wenn teilweise eher sekundäre Merkmale einer Sache zum Benennungsmotiv gemacht werden. Aber auch das kann zeigen, welche Merkmale einer Sache für das kognitive Erfassen eines Konzepts im Alltag relevant sind. Alltagsbenennungen übernehmen Alltagserfahrungen und Alltagswahrnehmungen. 4.3 HETEROGENITÄT AUFGRUND VON DEMOTIVIERUNG DURCH SPRACHWANDEL Sprachwandel zerstört tendenziell die Motiviertheit. Aus einem Wort, das aufgrund seiner lexikalische Beziehungen oder Polysemie motiviert war, wird dadurch oft ein isoliertes Grundwort.10 Damit geht auch die Vergleichbarkeit mit 10

Bei BLANK (1997, 425–427) als „reduktiver Bedeutungswandel“ bezeichnet.

Heterogenität aufgrund von Demotivierung durch Sprachwandel

189

anderen Heteronymen nach ihrer Motiviertheit verloren und es entsteht synchron absolute Heterogenität zu anderen Heteronymen. Es gibt unterschiedliche sprachliche Entwicklungen, die zur Demotivierung und Isolierung von Lexemen führen können: Veränderungen auf Lautebene, die lexikalische Zusammenhänge verdunkeln, semantische Veränderungen von Grundwörtern, Verlust von Basislexemen. Motiviertheit wird dann zu einem allenfalls historisch relevanten Faktor. Die Demotivierung kann Onomeme und deren Heteronymien ganz oder teilweise erfassen. •

„Hauswiese“ (SDS VI 90, KSDS 184) Durch lautliche Entwicklungen sind teilweise die Bezeichnungen für die Hauswiese isoliert worden. Die Hauswiese, also das Stück Land um das Hauptgebäude eines Bauernhofs, das eine besondere Ausnützung hat, oft eingezäunt ist und mit Obstbäumen bestanden ist, wird mit Ausdrücken wie »Huusmatte« ›Hausmatte‹ (»Matte« ‘Wiese’), »Huuswise« ›Hauswiese‹, »Huusblätz« (»Blätz« ‘kleines Landstück’), »Bungert«, »Bummert«, »Hoschtet« (u. a. m.) bezeichnet. Die Komposita mit »Huus-« ›Haus‹ sind durchsichtige Bildungen, deren Benennungsmotiv auch synchron verständlich ist. Demgegenüber sind »Bungert«, »Bummert« und »Hoschtet« synchron isolierte Wörter, auch wenn sie etymologisch auf klar motivierte Bildungen zurückgehen (»Bungert«, »Bummert« < ›Baumgarten‹, »Hoschtet« < ›Hofstatt‹). Lautliche Prozesse wie Assimilation und Elision haben die Lautgestalt so verändert, dass der Ursprung nicht mehr erkennbar ist.



„Holzsplitter in der Haut“ (SDS V 29, KSDS 88) Die heutigen Bezeichnungen des Holzsplitters in der Haut sind aus Spezialisierungen aus älteren allgemeinen Bezeichnungen für längliche, spitze Stücke von Holz entwickelt worden: »Sp(r)iisse« (mhd. sprîze ‘Splitter’ zu mhd. sprîzen ‘splittern’), »Spiss« (mhd. spiz ‘Holzspiess, spitzes Stück Holz, Splitter’), »Schine« (mhd. schin(e) ‘längliches Stück Holz/Metall/Knochen’). 11 Die Ausgangswörter sind heute in der alten Bedeutung meist verschwunden. Die neuen Verwendungen sind im Wortschatz wegen dem Verschwinden der ursprünglichen Bedeutungen der Wörter isoliert. Zwischen den einzelnen Heteronymen ist keinerlei motivische Ähnlichkeit mehr erkennbar und die Heteronymie ist vollständig heterogen geworden.



„Stalljauche“ (SDS VII 230, KSDS 182) (Karte 44, S. 244) Die heutigen Bezeichnungen für die Stalljauche bilden in synchroner Sicht eine heterogene Lexemgruppe aus teils motivierten, teils isolierten Bezeichnungen. Motiviert sind »Bschütti« als transparente Ableitung zu »bschütte« ›beschütten‹ ‘begießen’ und Ausdrücke wie »(Mischt-)Brüe« ›(Mist-)brühe‹, »(Mischt-)Lache« ›(Mist-)lache‹, »Mischtwasser« und »Güdel«, soweit an den betreffenden Orten das jeweilige Grundwort auch als Bezeichnung für andere Sachen wie trübe Flüssigkeit oder Pfütze gebräuchlich ist (s. SDS VI 40 „Pfütze“, KSDS 188, Karte 23, S. 148). Isoliert ist an den meisten Orten

11

Zur Etymologie im Einzelnen s. Abschnitt 3.2.3, S. 98.

190

Variantenmuster in der Synchronie

dagegen der weiträumig verbreitete Ausdruck »Gülle«. Das Wort »Gülle« ist zwar historisch ebenfalls eine motivierte Bildung. Es hatte ursprünglich (mhd.) und hat regional noch heute ebenfalls die Bedeutung ‘Pfütze’, mit der Nebenbedeutung ‘Ansammlung von Schmutzwasser’. Die Stalljauche wurde zunächst primär mit dem Kompositum »Mischtgülle« bezeichnet.12 Der heutige Ausdruck »Gülle« ist das Ergebnis einer Kürzung um das Bestimmungswort »Mischt« (s. Abschnitt 2.2.1.2 Bst. d). Das Lexem »Gülle« ist heute an den meisten Orten aus zwei Gründen isoliert, einmal, weil durch die Kürzung um »Mischt« der Zusammenhang mit der Sache nicht mehr erkennbar ist, und zweitens, weil die alte Bedeutung ‘Pfütze, Schmutzwasser’ von »Gülle« fast überall verloren gegangen ist. Ein ähnliches Schicksal wie »Gülle« hat nach den Daten des SDS auch »Butzle« erlitten, das resthaft in WS-Mattertal erhalten ist. Der Ausdruck leitet sich ebenfalls von einem Wort mit der Bedeutung ‘Pfütze’ ab, das jedoch an den betreffenden Orten in dieser Verwendung offenbar nicht mehr erhalten ist (wohl aber in anderen Walser Dialekten in WS und GR, s. SDS VI 40, Karte 23, S. 148). Eine isolierte Bezeichnung, jedoch aus anderen Gründen, ist schließlich »Lutze« in WS, eine Entlehnung aus lombardisch lozza ‘Mist’. •

„Brotrinde“ (SDS V 173, KSDS 98) Die Brotrinde wird hauptsächlich als »Rinde«, »Ranft«/»Rauft«, inneralpin auch als »Gruschte« und an einzelnen Orten in BE-Oberland-West als »Schwaarte« bezeichnet. Während »Gruschte« eine Entlehnung aus benachbarten romanischen Sprachen und somit ein isoliertes Lexem ist, basieren »Ranft«/»Rauft«, »Rinde« und »Schwaarte« ursprünglich auf ähnlichen deskriptiven Benennungsmotiven: Die Brotkruste wird als Äußeres eines Gegenstands konzeptualisiert und entsprechend mit ähnlichen derartigen Erscheinungen aus verschiedenen Bereichen verglichen, bei »Rinde« mit dem rauen Äußeren von Bäumen, bei »Schwaarte« mit der dicken, behaarten Haut von Schweinen. In »Ranft«/»Rauft«, mhd. ranft ‘äußere Umfassung eines Gegenstandes’ wird eine Bezeichnung für eine allgemeinere Erscheinung spezialisiert (Id. 6, 1049). 13 Bei »Ranft«/»Rauft« blieb von den verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten nur die abgeleitete Bedeutung ‘Brotrinde’ (sowie ‘Käserinde’) übrig; die ursprünglichere allgemeine Bedeutung ist verloren gegangen. Das Wort verlor damit seine motivische Beziehung zu den anderen Bezeichnungen und wurde zu einem isolierten Lexem. Das ursprünglich motivisch ziemlich homogene Onomem wurde dadurch teilweise heterogen.

12 13

S. Id. 2, 222–228. Die Lautform »Rauft« ist Resultat des Staubschen Gesetzes (s. Fn. 41 in Kap. 2).

Heterogenität aufgrund von Demotivierung durch Sprachwandel

191



„Gänsehaut (haben)“ (SDS IV 57) Die Gänsehaut wird im Allgemeinen nach einem einfachen Muster benannt, nämlich nach dem Aussehen der Haut von Tieren, vor allem von Geflügel nach dem Rupfen. Grundlage der Benennung ist also ein Vergleich (‘Haut wie die eines Tieres, z. B. eines Vogels nach dem Rupfen’). Am verbreitetsten ist der Vergleich mit dem gerupften Huhn; je nach der regionalen Bezeichnung für das Huhn lautet die Bezeichnung »Hüenerhuut« ›Hühnerhaut‹ oder »Hennehuut« ›Hennenhaut‹ (vgl. die Heteronymie »Huen« – »Henne« in SDS VIII 93). 14 Sporadisch erscheint auch die Bezeichnung »Gänsehuut« (wohl eine Entlehnung aus dem Standarddeutschen, die aber parallel zur dialektalen Motiviertheit bleibt). Diese einheitliche Benennungsmotivik wird durch mehrstufigen Sprachwandel verdunkelt. Die lautliche Entwicklung /Gänse/ > /Gäise/ aufgrund des Staubschen Gesetzes15 führte zu intransparenten Wortformen, die durch assoziative Abwandlungen wie »Geissehuut« u. ä. volksetymologisch repariert werden. Allerdings geht dabei der Sinn des Vergleichs verloren. In ZH ist ferner eine Form »Froschtblaatere« ›Frost-blatter‹ (‘-blase’) verbreitet, ein semantisch transparent interpretierbarer Ausdruck, der aber sachlich nur schwer motivierbar ist, allenfalls über einen Zusammenhang der Erscheinung mit Kälteeinwirkung. Plausibler wird der Ausdruck, wenn er als assoziative Abwandlung (möglicherweise aufgrund lautlicher Intransparenz) zu »Froschblaatere« ›Froschblatter‹ ‘warzenförmige Gestalt der Froschhaut’ interpretiert wird. Diese Bezeichnung fügte sich ursprünglich in das allgemeine Motivmuster ein. Mit dem Eindringen der Ausdrücke »Gäissehuut« und »Froschtblaatere« geht die Einheitlichkeit der Benennungsmotivik verloren. Unter den Heteronymen kommen Lexeme vor, die nicht als sachlich motiviert verstanden werden können und formal zwar ähnlich gebaut sind, aber keinerlei inhaltliche Ähnlichkeit mit den ursprünglich motivierten Ausdrücken aufweisen.



„zu wenig gesalzen (von der Suppe)“ (SDS V 170, KSDS 110) (Karte 7, S. 102) Bei mehreren Bezeichnungen des Konzepts ZU WENIG GESALZEN (VON DER SUPPE) werden metaphorisch Ausdrücke verwendet, die in verschiedenen Dimensionen ursprünglich das Element ‘schwach’ implizieren (s. Abschnitt 3.2.3, S. 101). Synchron möglicherweise noch heute erkennbar ist dieses Benennungsmotiv bei |söuft| ›sanft‹ (FR), »liis/less« ›leise‹ mit der älteren Bedeutung ‘langsam, sanft’ und »lääi« mit der eigentlichen Bedeutung ‘lau’. Nur aus älteren Verwendungen rekonstruierbar ist das Element bei »blööd« zu mhd. bloede mit der Nebenbedeutung ‘(körperlich) schwach, kraftlos’ (heute verwendet mit anderen konkreten Bedeutungen wie ‘durchgewetzt, von Textilien’, ‘unpässlich’, ‘sinnlos’, ‘unglücklich’, ‘dumm’ oder als Beschimpfung),

14

In WS erscheint als Grundwort »-liich« ›Leiche‹ statt »-huut« (schon mhd. kann līch auch ‘Haut’ bedeuten). Zum Staubschen Gesetz s. Fn. 41 in Kap. 2.

15

192

Variantenmuster in der Synchronie

»luem« zu mhd. lüeme ‘matt, schwach’ und »mätt«, vermutlich zu ›matt‹. Diese nur noch diachron als motiviert rekonstruierbaren Ausdrücke sind heute isolierte Bezeichnungen. Die ganze Heteronymie ist damit synchron ziemlich heterogen geworden. 4.4 VARIANTENMUSTER BEI SACHWANDEL UND SACHINNOVATION Bei Bezeichnungen von Sachinnovationen überlagern sich vielfach mehrere Arten von Benennungsmotiven, da dabei oft Übernahmen von alten Bezeichnungen mit den ursprünglichen Benennungsmotiven neben neuen Bezeichnungsmustern stehen. Die Motivik der ursprünglichen Benennungen ist oft nicht mehr sinnvoll oder durchsichtig. Die Bezeichnungen erscheinen synchron damit als isolierte Wörter. Aus diesen älteren Benennungen und den neuen besser motivierten Benennungen ergeben sich deshalb zuweilen relativ heterogene Muster. •

„Schublade“ (SDS VII 189, KSDS 126) Für die Schublade werden einerseits ältere Bezeichnungen für (kleinere) Behältnisse allgemeiner Art übernommen, so in »Trucke« (sonst meist Bezeichnung für kleinere viereckige Behältnisse, meist mit Deckel), »Schriine« ›Schrein‹ (mhd. schrîn ‘Kasten, Truhe, Behälter für Kostbarkeiten’), »Lade« (mhd. lade ‘Behälter, Truhe’), »Chaschte« ›Kasten‹ (s. Abschnitt 3.2.4, S. 103). Zum Teil sind die entsprechenden Wörter damit polysem geworden, wobei die einzelnen Teilbedeutungen ziemlich weit entfernt voneinander sind, so dass eine gemeinsame Verbindung oder eine übergeordnete gemeinsame Grundbedeutung nur schwer zu rekonstruieren ist und die Verwendung als Bezeichnung für die Schublade praktisch ein isoliertes Wort darstellt. Lexikalischer Wandel hat hier Heterogenität zur Folge. Die übrigen Bezeichnungen »Züche(r)« ›Ziehe‹ und »Schieber« oder »Schöübe« ›Schiebe‹ andererseits sind sachlich motiviert; sie thematisieren anschaulich die Handhabung. Praktisch ein isoliertes Lexem ist innerhalb des Schweizerdeutschen die Bezeichnung »Schublade« (obwohl etymologisch eine motivierte Kombination: »Lade« = ‘Behältnis zum Schieben’), eine Übernahme aus dem nördlichen Deutschen und später aus der Standardsprache, die im Schweizerdeutschen nicht durch lexikalische Bezüge gestützt ist. Die verschiedenen Entwicklungen führen insgesamt zu großer Heterogenität im Onomem, allerdings mit Untergruppen, die aus ähnlich motivierten Bezeichnungen zusammengesetzt sind.



„Kartoffelraffel“ (SDS VII 198) (Karte 11, S. 112) Die Kartoffelraffel in der heutigen industriell hergestellten Form ist eine Sachinnovation, der aber selbst hergestellte Vorgängerinstrumente mit ähnlicher Funktion vorangehen. Es gibt zwei Gruppen von Bezeichnungen (s. Abschnitt 3.2.4, S. 111): In einer ersten Gruppe wird der Gegenstand deskriptiv mit Bezeichnungen benannt, welche auf die typische Handhabung oder das Resultat davon Bezug nehmen: »Riiber/Riibi« zu »riibe« ›reiben‹, »Raff-

Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen

193

ler/Raffle/Raffli/Rafele« u. ä. zu ›raffeln‹, »Rapser/Rapse/ Rapsi« zu ›rapsen‹, »Raschper/Raschpe/Raschpler/Raschpel« u. ä. zu ›raspe(l)n‹ und »Riibiise« ›Reibeisen‹. Bei »Schiibler ›Scheibler‹ zu »schiible« ‘in Scheiben schneiden’ »Blättler« zu ›blätteln ‘zu flachen, blattartigen Scheiben schneiden’), und »Rädler« zu ›rädeln‹ ‘zu Rädlein schneiden’ wird zusätzlich in der zugrundeliegenden Handlungsbenennung das Resultat morphologisch inkorporiert. Bei diesen Bezeichnungen, die sehr nahe an der Sache bleiben und jederzeit neu gebildet werden können, handelt es sich um transparente Bildungen, die auch wegen der motivischen Ähnlichkeit auch untereinander ähnlich sind. Eine zweite Gruppe besteht aus Bezeichnungen, die von Vorgängerinstrumenten übernommen wurden, so »Hächler/Hächle/Hächli/Hächel« ›Hechel‹, »Rätsche«, alles ursprüngliche Bezeichnungen von kammartigen Werkzeugen zur Bearbeitung von Hanf oder Flachs, oder »Drucker/Drücker«, ursprünglich ein Drahtgeflecht, durch das die Kartoffeln zum Verkleinern hindurchgedrückt wurden. Durch die sachlichen Veränderungen des Instruments wurden diese Bezeichnungen demotiviert. Zwischen den deskriptiv motivierten, sachlich durchsichtigen Bezeichnungen und den durch den Sachwandel demotivierten Bezeichnungen besteht motivisch wenig Ähnlichkeit und die beiden Gruppen sind lexikalisch heterogen. 4.5 VARIANTENMUSTER BEI IKONISCHEN BEZEICHNUNGSTYPEN Wenn Bezeichnungen eines Konzepts mit den Mitteln der Onomatopoesie gebildet werden, ergeben sich Ähnlichkeitsmuster aufgrund ähnlicher Lautbilder vor dem Hintergrund der gleichen ikonischen Beziehung zwischen einem Konzept und der Ausdrucksform seiner Bezeichnung. Wie in Abschnitt 2.2.1.3 festgestellt, besteht bei der onomatopoetischen Bezeichnung eines bestimmten Schalls wegen der Unmöglichkeit einer identischen Nachahmung eines Schalls durch Sprachlaute von vornherein eine mehr oder weniger große Variabilität. Die konkreten Umsetzungen fallen deshalb in der Regel unterschiedlich aus. Auch in diesem Bereich finden wir Abstufungen der Ähnlichkeit und Gruppierungsmöglichkeiten von Heteronymen mit mehr oder weniger großer Ähnlichkeit. Wie heterogen onomatopoetische Heteronyme untereinander sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab, der Nachahmbarkeit von Schällen und Geräuschen, der Konzeptualisierung eines Schallereignisses und historischen Vorbildern. Am einfachsten ist Onomatopoesie bei Schällen, die menschlichen Sprachlauten nahe sind. Ein prototypisches Beispiel dafür ist das Miauen der Katze. Die onomatopoetisch motivierten Bezeichnungen dafür sind sich lautlich ziemlich ähnlich: •

„miauen“ (SDS VIII 126) Als Bezeichnungen für das Miauen der Katze finden sich unterschiedliche Ausdrücke, die alle onomatopoetischer Natur sind:

194

Variantenmuster in der Synchronie

miaaue, miaau(e)le maaue, maau(el)e raawe, raaue jääw(l)e Konstantes Element ist ein langer Mittelzungenvokal oder meist Diphthong, in der Regel [aːu], dem als salientes Element des Lauteindrucks ein langer mittelfrequentiger Laut entspricht. Variabel ist vor allem der Anlaut, dem kein artikulatorisches Äquivalent in der Lautäußerung der Katze entspricht. Anlautendes [m], das auch in den meisten anderen Sprachen erscheint, dürfte eine weich artikulierte Öffnung des Mundes im Beginn der Lautartikulation durch die Katze wiedergeben. Eine andere Wahrnehmung des Artikulationsbeginns spiegelt sich in »raawe/ raaue« und »jääw(l)e«. Bemerkenswert ist dabei, dass ein (halb-)konsonantischer Anlaut für eine lexematische Umsetzung der Lautbezeichnung generell praktisch notwendig erscheint. Die Heteronyme lassen sich somit gruppieren nach der Qualität des Stammvokals (/aau/ – /aa/ää/) und dem Anlaut (/m/ – /r-/j-/). Alle Heteronyme sind sich wie erwähnt übergreifend ähnlich in Bezug auf die Länge des Stammvokals und der Natur des Anlauts. Sind die Schallqualitäten eines Lautes nicht so eindeutig gegeben wie bei MIAUEN, variieren die verschiedenen Bezeichnungen meist stärker. Differenzen können darin bestehen, wie der Schall als Schalltyp konzeptualisiert wird, welches Schallmerkmale als relevant und herausstechend gesehen und entsprechend in der Sprache umgesetzt werden. •

„Pfeife aus Löwenzahnstängel“ (SDS V 93)16 Die Benennungen der Pfeife aus Löwenzahnstängel haben in der Regel die Form von deverbalen Instrumentalableitungen, meist mit der Ableitungssilbe »-e« (f.)17, daneben »-ere« (f.) und »-er« (m.). Primär onomatopoetisch motiviert sind die (zuweilen nur theoretisch) zugrundeliegenden Verben: Eine »Tüüte« ist ein Instrument, um zu »tüüte«, also den Laut /tüü(t)/ zu produzieren (vgl. Id. 13, 2081). Dieses Verfahren ist musterhaft für die Bildung von Bezeichnungen von Instrumenten zur Schallerzeugung. 18 Die Mehrzahl der Bezeichnungen der Pfeife aus Löwenzahnstängel basiert auf derartigen onomatopoetischen Verfahren: Huupe, Hüüpe Phuupe Pheepe

16

17 18

Einige Bezeichnungen sind auch Übertragungen von Bezeichnungen ohne onomatopoetische Qualität für andere Gegenstände, so bei »Flööte« und »Trumpeete« von Blasinstrumenten oder bei »Hippe« von einem röhrenförmigen Waffelgebäck. Diese werden hier ausgeklammert. Entsprechend standarddeutsch Leuchte, Liege. Die Instrumentalableitung mit »-e« (f.) scheint im Schweizerdeutschen produktiver als im Standarddeutschen. Vgl. z. B. die „Karfreitagsknarre“ (SDS V 66) (»Rääre«, »Rätsche«, »Rafele« usw.) oder die „Karfreitagsklapper“ (SDS V 67) (»Chlappere)«.

Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen

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Guuge Güügge Tuudle, Tuudi, Tuudere Tüüte, Tüütere Die lexikalischen Variationen betreffen unterschiedliche Bestandteile des Wortstamms und damit unterschiedliche Schalleigenschaften. Die Vokale variieren zwischen den hinteren und vorderen Hochzungenvokalen [u], [ü] und [e] und dem maximal geöffneten [ä]. Die Variabilität der Vokale widerspiegelt den Umstand, dass das Geräusch in Bezug auf die Frequenz nicht genau lokalisierbar ist und in diesem Punkt unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Dass weder ein [oː], noch ein [aː] oder [iː] vorkommt, deutet aber doch auf einen Grundeindruck von der Qualität des erzeugten Schalls, der als eher grell empfunden wird. In den meisten Fällen handelt es sich ferner um einen langen Vokal, was die potenziell beliebige Dehnbarkeit des Schallerzeugnisses wiedergibt. Auch in der Konsonanz kann man gewisse Grundmuster erkennen: Dominant ist ein Schema /KVːK/, bei dem der zentrale Langvokal durch zwei Verschlussfortes begrenzt wird. Die Begrenzung durch Verschlussvokale dürfte den klar begrenzten Einsatz und Abschluss der erzeugten Geräusche symbolisieren. Einige andere Bezeichnungen sind in weitere Kontexte einzubetten, so »Räägge«, »Huupe«, »Pfu(u)re«.19 Es handelt sich um Ausdrücke, die aus bestehenden Bezeichnungen für andere Sachen übernommen worden sind. Das Verb »räägge« bezeichnet u. a. auch lautes Schreien oder Weinen (SDS IV 98) oder das Schreien des Schweins (VIII 90). Das Nomen »Huupe« gehört indirekt ebenfalls in diese Gruppe, indem das Verb »huupe« zunächst ein ebenfalls onomatopoetischer Ausdruck u. a. für das Blasen mit einem Horn ist.20 Insgesamt werden aber auch diese Ausdrücke zur Bezeichnung der Löwenzahnpfeife primär aus onomatopoetischen Gründen übernommen. Sowohl »Räägge« wie »Huupe« besitzen saliente lautliche Eigenschaften zur Wiedergabe des Schalls, der mit der Löwenzahnpfeife erzeugt wird. Die beiden speziellen Varianten »Pfure« und »Fuurze/Fuurzer« thematisieren mit /Pf-/ und /r-/ eher die Geräuschhaftigkeit des erzeugten Lauts. Es ist also nicht nur eine Bedeutungsübertragung, sondern auch lautmalerisch motiviert, wenn das Instrument mit »Fuurze« bezeichnet wird. Zur Variation in der Konzeptualisierung und Versprachlichung trägt bei, dass auch innerhalb eines einmal etablierten Musters oft Weiterentwicklungen durch Abwandlung erfolgen. Bei den meisten Onomemen, die auf ikonischen und spezi19

20

Eine weitere Bezeichnung, nämlich »Fu(u)rze«, bezieht sich ebenfalls auf eine Lauterscheinung; die Lautform des Wortes hat aber in seiner langen Geschichte und mit vielen etymologischen Zwischenstufen eine allfällige onomatopoetische Motiviertheit verloren. Vgl. KLUGE / SEEBOLD (2011, 278 u. 325) s. v. farzen, Furz Vgl. Id. 2, 1486. Die Dialektausdrücke existieren unabhängig von den standarddeutschen Lexemen hupen und Hupe für das Signalinstrument des Autos. Die letzteren sind umgekehrt ihrerseits aus bereits existierenden onomatopoetischen Ausdrücken übernommen worden.

196

Variantenmuster in der Synchronie

ell onomatopoetischen Bezeichnungsverfahren basieren, findet sich ein Ineinander von Tradierung bestehender Lexeme, historischer Weiterentwicklung und synchroner Onomatopoesie. Alte onomatopoetische Ausdrücke werden mit der gleichen Motiviertheit weitertradiert, nach den gleichen Verfahren werden neue gebildet, bestehende umgebildet, immer innerhalb der gegebenen möglichen Lautkonzepte mit der ebenfalls gegebenen Variabilität. Wortbildung und Sprachwandel lässt zuweilen die onomatopoetische Komponente in den Hintergrund treten und die Bildungen als arbiträr erscheinen lassen. Aber auch in diesen Fällen spielt die Onomatopoesie parallel zu den sprachgeschichtlichen Entwicklungen mit. •

„grunzen (beim Schwein)“ (SDS VIII 89) Die Bezeichnungen des Grunzens der Schweine zeigen, wie über längere Zeiten immer wieder ähnliche ikonische Darstellungsverfahren auch die Tradierung alter Etyma beeinflussen. rochle, röch(e)le, röchsle grochse chrochle charchle schnarchle mure rure sure chure chnure21 runze roffle, ruffle ruusse ruugge Räumlich dominierend bei den Bezeichnungen des Grunzens von Schweinen sind »rochle«/»röchle« mit zusätzlichen Ableitungen »röchsle«, »grochse/grochze«. Diese Formen sind auf ahd./mhd. rohen/röchelen (mit der Hauptbedeutung ‘grunzen’, nhd. röcheln) zurückzuführen. Die onomatopoetische Motiviertheit, die seit dem Althochdeutschen unzweifelhaft in der Kombination der Laute /r-/ und /-ch-/ gegeben ist, besteht bis in die Gegenwart auch in den morphologischen Weiterentwicklungen. Die Laute /r/ und /ch/ geben die grob intermittierende Schallerzeugung beim Grunzen wieder.

21

In der Legende zu SDS VIII 89 wird bei »chnure« in Klammer „hd.?“ beigefügt, also vermutet, dass das Wort eigentlich eine Übernahme aus dem Standarddeutschen ist. Anlass dazu dürfte sein, dass das Wort im Id. nur mit einem historischen Einzelbeleg aufgeführt ist. Die weite, wenn auch zerstreute Verbreitung und die Bedeutungsentfernung zwischen standarddeutsch knurren und dialektalem »chnure« spricht aber eher dafür, dass der Dialektausdruck eine eigenständige Entwicklung ist, umso mehr, als er gut in die übrigen onomatopoetischen Bildungsmuster passt.

Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen

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Weitgehend dieselben lautlichen Darstellungsmittel /-r-/ und /-ch-/, meist mit dem Stammvokal /-u-/, kommen auch in anderen Varianten vor, v. a. in »mure« ›murren‹, »chnure« ›knurren‹, und »schnarchle«. Allerdings werden diese auch für andere, ähnliche Laute wie das Knurren von Hunden oder das Schnarchen verwendet. Das Grunzen wird also hier anscheinend über eine Assoziation mit anderen Geräuschen konzeptualisiert. Auch »ruugge« gehört dazu, das auch als Bezeichnung für andere (dumpfe, anhaltende) Geräusche wie das Knarren von Türen oder Tierlaute wie das Gurren von Tauben verwendet wird (s. Id. 6, 775). Eher als kreative Einzelbildungen müssen andere, verstreut genannte Ausdrücke wie »charchle«, »chorchle«, »horchle«, »chure«, »rure« gelten. Auch diese Bildungen greifen aber in unterschiedlichen Lautkombinationen auf das Lautinventar zurück, das offenbar prototypisch als Wiedergabe des intermittierenden Geräuschs des Grunzens ist. Vor allem kommen auch hier die Laute /r/ und /ch/ mit ihrer eher rauhen Intermittenz in jeweils unterschiedlichen Kombinationen vor. Diese Laute werden auch in offensichtlichen Spontanbildungen als Wiedergaben des Grunzens verwendet. Bei den bisher erwähnten Varianten beruht die Ähnlichkeit somit auf der gemeinsamen Verwendung von /r/ und /ch/ als prototypische Nachahmungsformen des Grunzschalles. Davon heben sich »ruusse«, »roffle« und »runze« ab. Alle drei Wörter sind auf alte Etyma zurückzuführen; »ruusse« gehört zu ahd. rūzan, mhd. rûzen, as. hrūtan ‘schnarchen’, »roffle« zu *roff-, (vgl. mhd. ropfen, roffezen ‘rülpsen’), »runze« ist eine Nebenform zu grunzen aus mhd. grunnen ‘grunzen, brummen schnarchen’ (s. DWB 9, 958). Bei diesen Wörtern mit ihrer langen Geschichte erscheint die onomatopoetische Qualität synchron nicht (mehr) unmittelbar gegeben. Darüber hinaus wird bei diesen Wörtern in älteren Sprachepochen überwiegend eine andere Bedeutung angegeben als ‘Grunzen des Schweins’; entsprechende Angaben sind allerdings meist eher vage. Semiotisch und etymologisch gesehen müssen sie also grundsätzlich als Übertragungen von arbiträren Zeichen aufgrund von konzeptuellen Ähnlichkeiten gelten. Jedoch fällt auf, dass alle diese Ausdrücke einen Anlaut /ru-/oder /ro-/ haben, der eine starke lautliche Ähnlichkeit mit anderen, klar onomatopoetischen Ausdrücken zeigt. Neben der konzeptuellen Ähnlichkeit dürfte auch die onomatopoetische Qualität ein Grund für die Übernahme dieser Lexeme als Bezeichnungen für das Grunzen des Schweins sein. Lautliche Ikonizität ist eine Wortqualität, die unabhängig von historisch kontingenten Lautentwicklungen wahrgenommen wird. Sie kann direkt bei der Übertragung von bestehenden Wörtern auf neue Konzepte ausgenützt werden. Dadurch ergeben sich unabhängig von der diachronen Entwicklung eines Wortes übergreifende Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den verschiedenen Bezeichnungen eines bestimmten Schallkonzepts. Die historischen Entwicklungen führen aber zu unterschiedlichen Gruppen mit größerer oder kleinerer lautlicher Ähnlichkeit. Die Konzeptualisierungen von Lauterscheinungen werden dadurch beeinflusst, dass ähnliche Lautbezeichnungen für ähnliche Geräusche und Schälle bereits be-

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Variantenmuster in der Synchronie

stehen und konventionell verwendet werden. Damit ist ein Teil der Variation beim „Quatschen von durchnässten Schuhen“ (SDS VI 41) zu erklären. •

„Quatschen von durchnässten Schuhen“ (SDS VI 41) (Karte 50, S. 251) Die große Variabilität bei den Bezeichnungen für das Geräusch, das durchnässte Schuhe beim Gehen erzeugen, war nach den Angaben des SDS kartografisch nur mit Vereinfachungen zu bewältigen. Die folgende Typisierung nach Lautstrukturmustern basiert auf zusätzlichen Vereinfachungen. Die Varianten lassen sich nach ihrer Lautgestalt in vier Gruppen mit jeweils ähnlicher Lautstruktur zusammenfassen. Eine erste Formgruppe lässt sich auf der Basis eines Formkerns »wätsche«/»watsche« konstituieren: (g)wätsch(g)e, (g)watsch(g)e kwatsche, kwätsch(g)e, zwätschge chnätsche, nätsche, chätsche, chnätte gätsche Die Grundform »wätsche«/»watsche« tritt einerseits mit Erweiterungen wie »gwätsch(g)e«/»gwatsch(g)e«, »kwätsch(g)e« auf. Aufgrund der räumlichen Nähe kann wohl auch eine Form wie »chnätsche« als assoziative Abwandlung dazu verstanden werden; deren Anlaut /chn-/ dürfte auch durch die Wortgruppe »chnätte« ›kneten‹ und der damit verbundenen Lautsymbolik von /chn-/ ≈ ‘zusammendrücken’ inspiriert sein, mit der Assoziation, dass das Quatschen von durchnässten Schuhen durch das Zusammendrücken beim Gehen verursacht ist. Sekundäre assoziative Abwandlungen daraus sind »chätsche«, »nätsche« und »zwätschge«. Zu diesem Formmuster passt auch »gätsche«. Der Anlaut bei diesen Varianten scheint generell abiträr und eher sprachspielerisch motiviert zu sein. Das primäre onomatopoetische Element besteht im Stammauslaut /-tsch-/. Zu einer zweiten Gruppe lassen sich die Variante »glu(n)tsche« mit weiteren, verstreuten Bildungen zusammenfassen: glutsche gluntsche gudere gutsche glutsche gluxe Auch diese Bildungen fügen sich in ein allgemeineres lautsymbolisches Muster. Die Lautfolge /glu-/ vermittelt verbreitet übereinzelsprachlich ikonische Assoziationen zum Laut des dumpf Plätscherns oder Glucksen von Flüssigkeiten (dt. glucksen, lat. glucire, franz. glouglouter). Hier wird somit zunächst von einer anderen Lautvorstellung ausgegangen, nicht jener des Quetschens, sondern derjenigen des Glucksens. Die Auslaute mit /-tsch/ bringen jedoch auch das Quetschen in die Lautsymbolik ein. Dieses Element fehlt der Form »gudere«, die aber ebenfalls auf der Lautsymbolik mit »gu-« basiert. Gewöhnlich bezeichnet »gudere« allerdings ein einfacheres Geräusch des Plät-

Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen

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scherns und Glucksens (Id. 2, 123); die Verwendung im Zusammenhang mit dem Quatschen von nassen Schuhen stellt eine Ad-hoc-Verwendung eines geläufigen Lexems für ein an sich unbenanntes, verwandtes Geräusch dar. Eine dritte Formgruppe basiert auf einem Formmuster mit Anlaut /(p)fl-/ und Stammauslaut /-tsch/: (p)flotsche (p)flätsche Das Muster stimmt im Auslaut /-tsch/ mit dem vorangehenden Muster überein; /-tsch/ kann als gemeinsame onomatopoetische Wiedergabe des Quatschlautes beim Gehen mit nassen Schuhen gelten. Onomatopoetisch motiviert sind bei dieser zweiten Gruppe zusätzlich die Anlaute /(p)fl-/. Variabler ist jedoch der Stammvokal, je nachdem /-o-/ oder /-ä-/, ohne dass dies tiefer begründet erscheint. Eine vierte Gruppe von Bezeichnungen bilden die Formen »chnoo(r)z(g)e«, »chnoo(r)tsch(g)e«. Mit dem Anlaut /chn-/ gehört das Wort zur gleichen Lautsymbolik-Gruppe wie »chnätsche«. Dazu kommt noch eine lautliche Ähnlichkeit zu »chnoorze«, das unter anderem ‘zusammendrücken’ bedeutet (Id. 3, 760). Jedoch lässt dieser Zusammenhang eher auf eine nachträgliche Abwandlung einer Ausgangsform »chnooze/chnootsche« schließen, welche eher dem sonstigen onomatopoetischen Lautbild entsprechen würde. In dieser Bildung wird die Lautsymbolik von /chn-/ ‘Zusammendrücken mit der Onomatopoesie /-tsch/, /tz-/ ‘Quatschen’ kombiniert. Neben solchen klar onomatopoetischen Bildungen finden allerdings auch Ausdrücke, deren Lautgestalt im Ursprung keinen lautmalerischen Hintergrund haben. Im Ursprung haben sie sich aus Bezeichnungen des Tropfens, Plätscherns oder Sickerns entwickelt, namentlich bei »soode« (Id. 7, 320) , »sünngge« (Id. 7, 1208) , »söögge« (Id. 7, 685) mit einer Nebenform »söörgge« (Id. 7, 1323) und »sürpfle« (Id. 7, 1332, ‘schlürfen’). Aus den Ausgangsformen sind weitere Formen abgeleitet worden, so aus »sögge« über die Erweiterung »sööggezen/sooggezen« die Formen »soorzge«, »sootzge«, »söötsch(g)e«, aus »soode über »*soodeze« »sotzle«. Das führt zu einer reichen Formenvielfalt: süngge söö(r)gge soode gsodele sotzle sotzge söötsch(g)e sürpfle Bemerkenswert bei diesen Formen ist, dass die Entwicklungen von Ableitungen aus Verben ohne onomatopoetischen Gehalt wieder in Formen mit den onomatopoetischen Inlauten /-tz-/ oder /-tsch-/ münden. Onomatopoetizität

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Variantenmuster in der Synchronie

wird bei zunächst arbiträren Lexemen nachträglich durch lautliche Abwandlung hergestellt. Insgesamt sind innerhalb der einzelnen Gruppen die verschiedenen Heteronyme untereinander relativ ähnlich, zwischen den verschiedenen Gruppen bestehen aber starke Differenzen. Zur Bezeichnung des Geräusches wird auf ein relativ klar identifizierbares Inventar von Lautsymbolik zurückgegriffen. Dieses wird teilweise auch für andere, wenn auch verwandte Geräusche verwendet, und das Resultat der Bildungen wird zusätzlich variiert. Darin zeigt sich die Schwierigkeit, eine ikonisch präzise Annäherung an den Laut zu finden, und das Verfahren, Geräusche oft über Identifikation mit einem anderen, besser definierten Geräusch zu konzeptualisieren. Durch verschiedenartige Sprachentwicklungen kann die onomatopoetische Qualität von Geräuschbezeichnungen verloren gehen und wiederhergestellt werden. Dadurch entstehen Variantenmuster mit Heterogenität und Ähnlichkeiten in unterschiedlichen Lautelementen. •

„knarren (von der Tür)“ (SDS V 136) Hinter der synchronen Heteronymie zu „knarren (von der Tür)“ liegen mehrschichtige diachrone Entwicklungen. Die folgende Gruppierung versucht, die Zusammenhänge entsprechend zu erfassen:

gi(i)re gare chääre chire gi(i)gge [*gaage] [*giipe]

gaaxe gi(ip)se, gi(i)psche

räägge (g)ri(i)gge ruugge wi(i)gge (chroose)



rixe

girpse, gi(ir)psche (chire x giipsche) chi(i)rpsche (chire x giipsche) rätze (g)ritzge, ritschge

(g)wi(i)xe

Abb 4.5: „knarren von der Tür“ (SDS V 136) – Onomatopoetische Bezeichnungen

Einige Ausdrücke sind auf chronologisch weit zurückliegende Lexeme zurückführbar (und auch nicht auf das Schweizerdeutsche beschränkt), so vor al-

Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen

201

lem »giire« (mhd. girren) und »chääre« (mhd. kërren). 22 Schon im historischen Ursprung sind »giire« und »chääre« lautmalerischen Ursprungs und sie haben ihre lautmalerische Qualität über den Wandel behalten. Als Varianten dazu erscheinen »gare« und »chiire«. Die onomatopoetische Qualität liegt hier primär im /-r-/, das die Intermittenz des Lautes wiedergibt, und im Stammvokal, der meist gedehnt ist. Die Variation zwischen /ii/, /ää/ und /aa/ ist wohl mit unterschiedlichen Lautvorstellungen zu erklären: Welche Lautqualität (Gewichtung der Hochfrequenzanteile im Geräusch) ist für das Knarren der Tür charakteristisch? Hervor sticht vor allem der Hochzungenvokal /i/ als ikonische Wiedergabe des hohen Frequenzbereichs, mit dem das Knarren der Tür offenbar überwiegend prototypisch assoziiert wird. Das kann auch die lautgeschichtlich nicht zu erklärende Variation von »chääre« und »chire» erklären. Die Dehnung von »chääre« aus mhd. kërren ist eigentlich lautgeschichtlich erklärbar;23 gleichzeitig fügt sie sich aber in allgemeine onomatopoetische Muster. Anders strukturierte onomatopoetische Bildungen ohne historisch belegte direkte Vorgänger sind »gare« »gi(i)gge« »räägge« »ruugge« »wi(i)gge«, obwohl auch zu diesen Lexemen Parallelen in anderen Sprachstufen und Regionen anzutreffen sind.24 Einige komplexere Varianten sind aus ähnlichen, wenn auch nicht belegten einfacheren Bildungen *gaagge und *giipe mit der gleichen Grundstruktur herzuleiten. Die Grundstruktur dieser Bildungen besteht aus Konsonant + Langvokal + gedehnte Fortis. Wie bei den Bezeichnungen der Löwenzahnpfeife (s. S. 194) ist die Länge des Vokals als Symbolisierung der typischen Gedehntheit des Knarrens zu interpretieren. In »räägge« »ruugge« kommt als onomatopoetisches Element der Anfangskonsonant /r-/ hinzu, der auch hier als Andeutung der intermittierenden Geräuschentwicklung des Knarrens verstanden werden kann. Die Konsonantendehnung im Stammsilbenauslaut ist ferner möglicherweise ein Fall eines allgemein zu beobachtenden symbolischen Verfahrens der Intensivbildung durch Konsonantenverstärkung bzw. Dehnung, vor allem mit /-gg-/.25 Onomatopoetisch begründbar als unterschiedliche Lautkonzeptualisierung ist auch die Variation im Vokal. Bei »gi(i)gge«, »wi(i)gge«, *gaagge und *giipe bleibt als onomatopoetisches Element nur der Langvokal übrig. Diese Wörter (bzw. deren Ableitungen) werden allerdings und vielleicht ursprünglich auch zur Bezeichnung anderer Laute verwendet, so lautes Schreien oder Quietschen.26

22 23 24

25 26

S. DWB 7, 7549 s. v. girren. DWB 5, 2606 führt zusätzlich geiren als eigenen Eintrag, mit Belegen vor allem aus dem Alemannischen (dort ursprünglich »giire«). S. SDS II 67–70. DWB 7, 7549 (sv. girren) spricht in diesem Zusammenhang angesichts der Parallelen von gerren, kerren, gurren, gürren, kurren, kürren, garren, karren von „Elementarverwandtschaft“ zwischen „Urschöpfungen“. S. Id. Grammatisches Register Ziff. 4.1.4.4.3. Z. B. »gigg(s)e« für das Schreien des Schweins (SDS VIII 90), »gi(i)gg(s)e«, »giipse« ‘kreischen’ (SDS IV 95 „kreischen“).

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Variantenmuster in der Synchronie

Eine Reihe von Varianten sind als Ableitungen aus einfachen Basisformen mit nachträglichen lautlichen Weiterentwicklungen zu deuten. Bei »räxe«, »rixe« und »gwixe« ist von einer Intensivbildung mit dem Morphem mhd. -ezen auszugehen, also von Formen wie *giipeze, *rääggeze, *riiggeze, *wi(i)ggeze. Aus der Form »rixe« entwickelte sich durch Metathese »ritzge« und »ritschge«.27 Die Ausdrücke »giipse/gipsche« können als ursprüngliche Onomatopoetika nach dem Muster von piepsen oder von einer (im Id. nicht belegten) Ausgangsform *giipe hergeleitet werden. 28 Die Formen »girpse« und »chirpsche« sind ferner offenkundig Hybridbildungen aus »giipse« und »chire«. Mit den Veränderungen durch Wortbildung und damit einhergehenden Umschichtungen in der Konsonantenstruktur treten in manchen der genannten Fälle die ursprünglichen onomatopoetischen Motive in den Hintergrund. In den Hybridbildungen »girpse« und »chirpse« mit /-r-/ und /-ch-/ werden jedoch nachträglich wieder lautsymbolische Elemente hinzugefügt. Zusammen ergeben diese Heteronyme ein variantenreiches Bild von mehr oder weniger lautnahen onomatopoetischen Bildungen, deren Ikonizität durch Wortbildung zum Teil reduziert, zum Teil in andere Richtungen verschoben ist. Im Hintergrund stehen Lautbilder, die allgemein als onomatopoetische Formen musterhaft zur Verfügung stehen. Das Lexikon stellt Formmuster zur Verfügung, die für spezielle Zwecke angepasst und verwendet werden können. Schwierig zu integrieren in das Gesamtbild ist »chroose«, das allgemein ‘knirschen’ bedeutet und nicht auf das Knarren der Tür beschränkt ist. In Id. 3, 857 werden Beziehungen zu got. kriustan ‘knirschen’ erwogen, wobei die lautlichen Zusammenhänge allerdings nicht leicht zu erklären sind. Unabhängig von irgendeiner etymologischen Herleitung fällt jedoch auch hier in der Lautgestalt der Anlaut mit /ch/ und /r/ auf, beides Laute, die typische Mittel zur onomatopoetischen Wiedergabe des Knirschens sind. Neben Onomatopoetizität sind Anwendungen von ‚Lautbedeutsamkeit‘, d. h. gestischer Ähnlichkeit zwischen Form und Denotat, im SDS seltener dokumentiert. Einen Musterfall stellen viele Bezeichnungen des Schnullers dar: •

„Lutscher“ (SDS V 5/6) Der Schnuller wird meist als Instrument zum Saugen benannt.29 Das Konzept SAUGEN seinerseits wird überwiegend über Lautformen charakterisiert, welche die Bewegung des Saugens artikulatorisch nachahmen, also dem Typ der

27

Vgl. die Entwicklung von »Hixi« zu »Hitzgi« (‘Schluckauf’, s. KSDS 78), »Bäxi« zu »Bätzgi« (‘Apfelbutzen’, s. KSDS 150) oder »blixe« zu »blitzge« (‘blitzen’, s. KSDS 186). DWB 5, 2606 (s. v. geipsen) gibt einen Beleg mit gipen für das Piepsen jünger Küken an. Im SDS sind zwei Stufen der Sachentwicklung abgebildet, die Bezeichnungen des ehemaligen Saugbeutels mit Einlage aus Brot, Zucker u. ä. (SDS V 6) und jene des heute einzig noch verwendeten Gummischnullers (SDS V 5). Die ältere Heteronymie ist dabei sehr viel reichhaltiger als die moderne, letztere leitet sich aber weitgehend von der älteren ab. Dazu lassen sich auch die Bezeichnungen für den Saugzapfen zum Säugen der Kälber vergleichen (SDS VII 10), die weitgehend den Bezeichnungstypen für den Schnuller folgen, soweit sie ikonisch motiviert sind.

28 29

Variantenmuster bei ikonischen Bezeichnungstypen

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Lautgebärde entsprechen. Auch dieses Prinzip führt nicht zu einheitlichen Lösungen und entsprechend zu verschiedenen Variantentypen. Am verbreitetsten ist der Typ »Nugg-« mit Varianten wie »Nuggi«, »Nüggel«, »Nöggel« u. ä., teilweise auch in Komposita mit »Zapfe-« ›Zapfen‹ (»Nuggizapfe«), bei dem die Bewegung des Saugens von der Zungenspitze zum Gaumen imitiert wird. Dieser Typ ist heute das Standardmuster. Relativ häufig anzutreffen wenigstens in der älteren Sprachstufe ist auch der Typ »Lull-« mit Varianten wie »Lülli«, »Luller« u. ä. Früher weit verbreitet, heute praktisch verschwunden ist der Typ »Lutsch-«, zu dem sehr viele Varianten existieren: »Lutsch(i)«, »Lütschi«, »Lu(u)rtschi«, »Lultsch(i/er)«, »Latschi«, »Lätschi«. Die Form »Lutscher« scheint dabei zwar teilweise eine Entlehnung aus dem Standarddeutschen zu sein, die sonstigen Varianten deuten jedoch auch auf eigenständige Bildungen. In diesen Formen wird offensichtlich das Saugen als repetitives Drücken der Zunge an den Zahndamm interpretiert. Aus dem Rahmen fallen zwei weitere Varianten, die Typen »Zülli« und »Puppel/Püppel«. Während »Zülli« von der Artikulationsstruktur her noch in der Nähe von »Lulli« liegt und sich von diesem vor allem durch den harten Anlaut unterscheidet, fällt bei »Puppel« die Verdopplung der bilabialen Fortis /-p-/ im An- und Stammauslaut auf. Wenn die Bildung als Lautgebärde interpretiert werden kann, dann würde sie sich wohl auf das Festhalten und Zusammendrücken des Schnullers mit den Lippen oder im Mund beziehen. Als gestische Nachahmungen sind auch viele Bezeichnungen für Fangen spielen zu interpretieren: •

„Fangen spielen“ (SDS V 86) Im Westschweizerdeutschen werden die Bezeichnungen für das Fangen spielen aus Wurzeln ikonischen Ursprungs verschiedener Gestalt gebildet.30 Meist handelt es sich um nominale Ableitungen auf »-i« (Diminutiv) oder »-is« (< -ens, formal Genitiv des Infinitivs) aus hypothetischen Verben, die mit einem Verb wie »mache« ›machen‹ verbunden werden. Die Lautstrukturen variieren, haben aber untereinander Ähnlichkeiten. Die Variation besteht einerseits in der Konsonantenstruktur des Stamms. Im Anlaut kann /s-/, /ts-/ oder /tsch-/ erscheinen, im Auslaut /-gg/ oder /-pp/. Dazu können die Formen /tschigg-/ oder /tsigg-/ intern durch einen Nasal zu »Tschinggis« und »Zinggis« erweitert werden. Die Einfügung von -n- nach -i- ist auch in anderen Fällen zu beobachten, vor allem bei expressiven Wörtern.31 Neben den Variationen in der Konsonantenstrutur variieren auch die inlautenden Vokale zwischen /i/, /ü/, /ä/ und /a/:

30

Im Ostschweizerdeutschen östlich einer Linie Reuß/Sihl sind stattdessen Ableitungen von ›fangen‹/»faa/foo« ‘fangen’ gebräuchlich (v. a. »Fangis«, »Faais« ›Fangens (machen)‹). Vgl. etwa schiegge – schiengge (Id. 8, 429 mit weiteren Hinweisen, wo allerdings artikulatorische Faktoren geltend gemacht werden), sowie Id. Grammatisches Register Ziff. 1.2.7.10.1.

31

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Variantenmuster in der Synchronie

Ziggi(-s) Züggi Siggi Tschiggi(-s)

Zinggi(-s)

Tschinggi(-s) tschinggele

Tschüggi tschäggene Tschippis Tschappis Tschäppis Tschüppi(s) tschüppe(ne) Abb. 4.6: „Fangen spielen“ (SDS V 86) – Onomatopoetische Bezeichnungen

Das genetische Verhältnis der Formen zueinander ist nicht eindeutig. Als Ursprung kann man grundsätzlich mhd. zic ‘leichte Berührung’ bzw. das davon abgeleitete Verb zicken ansetzen, selbst ikonisch motivierte Ausdrücke (BMZ 4, 873b). Die Formen, die auf /-gg/ auslauten, können über assoziative Abwandlung aus dieser Grundform abgeleitet werden; variabel wären dabei der Anlautkonsonant und der Vokalismus. Für alle Ausgangsformen ist aber auch denkbar, dass sie spontan und unabhängig voneinander als Lautgebärden entstanden sind. Ein Argument dafür kann die Gruppe mit dem Stammauslaut /-pp/ sein (»Tschippis«, »Tschappis«, »Tschäppis«, »Tschüppi(s)«), zu der keine mittelhochdeutsche Entsprechung und keine Ausgangsform mit Anlaut /z-/ existiert, außer, es werde angenommen, dass diese Gruppe ebenfalls aus einer assoziativen Abwandlung von »Tschigg-« usw. entstanden ist. In jedem Fall besitzen diese Formen unabhängig von ihrer Entstehung ikonische Qualität als gestische Nachahmung einer schnellen leichten Berührung. Die Ausgangsformen »tschagg-«, »tschigg-«, »zigg-« und »tschapp-« können allgemein als artikulatorisch-gestische Nachahmungen eines leichten Schlags mit der Hand interpretiert werden.32 Das Benennungsmotiv bezieht sich auf das Anzeigen des erfolgreichen Fangens im Spiel mit einer derartigen Berührung. Die Bezeichnungen sind also letztlich deskriptiv und metonymisch motiviert: Das Spiel wird über eine einzelne Handlung im Spiel bezeichnet. Diese Handlung wird in den fraglichen Lexemen in der typischen Form von Lautgebärden dargestellt, also in der Nachahmung einer Körperbewegung durch eine artikulatorische Bewegung. Die diskutierten Beispiele von ikonischen Variantenmustern zeigen insgesamt ein Nebeneinander von Universalität und Historizität. In diachronen Veränderungen kann die Ikonizität verändert werden oder verloren gehen. Gleichzeitig spielt sie aber auch bei allen Weiterentwicklungen eine Rolle und wirkt auch bei Innovatio32

Vgl. Id. 14, 1710; 14, 1712; 14, 1750; 14, 1756.

Variantenmuster bei assoziativen Abwandlungen

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nen mit. Onomatopoesie hat dabei einen Einfluss als zeitloses, immer mitwirkendes Gestaltungsprinzip. Mehrfache Innovationen führen zu Variation, das Prinzip der Ikonizität bleibt aber erhalten. Entsprechend bilden sich immer wieder Gruppierungen ähnlicher Ausdrücke. 4.6 VARIANTENMUSTER BEI ASSOZIATIVEN ABWANDLUNGEN Zwischen Heteronymen, die durch assoziative Abwandlung entstanden sind, bestehen aufgrund der Entstehung in der Regel im Ursprung rein formale Ähnlichkeitsbeziehungen. Im Übrigen handelt es sich aber innerhalb des Wortschatzsystems sowohl bei der Quelle wie beim Resultat der Abwandlung grundsätzlich um isolierte Bildungen, denn andernfalls würde ein wesentliches Motiv für die assoziative Abwandlung entfallen; deskriptive Motiviertheit würde umgekehrt eine assoziative Abwandlung verhindern, weil dies die erkennbare Motiviertheit zerstören würde, wozu kein Anlass besteht. Auch wenn bei der assoziativen Abwandlung gezielt oder zufällig Anklänge an lexikalische Beziehungen eine Rolle spielen, bleibt auch so in diesen Fällen die formale Ähnlichkeit das einzige relevante Kriterium, welche die Basis einer Vergleichbarkeit der Heteronyme und die Charakteristik der entsprechenden Variantenmuster ausmacht. Im Übrigen sind assoziative Abwandlungen definitionsgemäß zufällig und nicht von Regeln bestimmt. Vom Wesen der assoziativen Abwandlung her kann das Resultat in starker Heterogenität bestehen, bei der nach mehrfachen Abwandlungen zwischen den einzelnen Formen keine Ähnlichkeit mehr zu erkennen ist. Oft behalten die Varianten aber trotz der teilweise tiefgreifenden Unterschiede gewisse Gemeinsamkeiten in der Formstruktur. •

»Pfnüsel« ‘Schnupfen’ (SDS IV 63 „Schnupfen“) (Karte 33, S. 175) Aufgrund der formalen Zusammenhänge und der regionalen Verteilung lassen sich folgende Zusammenhänge mit ihren Entwicklungspfaden rekonstruieren: → →

Pschnüsel (x schnuppe) Pflüsel



Chnüsel



Pnüsel, Fnüsel

Pfnüsel

→ Gflüsel → Chnürsel Schnüsel → (x Schnuppe)

Abb. 4.7: Assoziative Abwandlungen von »Pfnüsel« (SDS IV 63 „Schnupfen“)

Die verschiedenen Formen behalten auch in Abwandlungen in der Wortstruktur Ähnlichkeiten mit dem Ausgangswort. In den meisten Fällen bleibt ein ‚Lautkern‘ mit »-nüsel« erhalten. Varianten entstehen vor allem durch rein lautliche Abwandlung der Anfangskonsonanz. Offenbar ist es die artikulatorisch komplexe Anfangskonsonaz /pfn-/, die zu Abwandlungen inspiriert.

206

Variantenmuster in der Synchronie

Durch Kreuzung mit areal benachbartem »Schnu(u)pe(r)« entstehen in Einzelfällen zusätzliche Varianten. Die Heteromorphie entsteht durch die Abwandlung des anlautenden Konsonantenclusters, die Ähnlichkeit in der Heteromorphie ergibt sich durch die mehr oder weniger unveränderte Struktur, auch in morphologischer Sicht, des Wortrestes. •

„Vorhängeschloss“ (SDS VII 169) Das Vorhängeschloss wird formal mit Komposita auf »-schloss« oder »-schlössli« mit einem vorangehenden Bestimmungselement bezeichnet, das sehr unterschiedlich aussehen kann, aber in allen Varianten isoliert ist und keine Assoziation zu einem konkreten Lexem enthält. In Abb. 4.8 sind die Grundmuster dieser Kompositionsglieder zusammengestellt. Vereinfacht angegeben sind die verschiedenen zusätzlichen Auslautvarianten mit /-e/, /-er/, /-el/, /-et/. So existieren beispielsweise nebeneinander die Formen »Mal-«, »Male-«, »Maler-« und «Malet-Schloss». Mal(e-l/r/t)-

Schmal (e-l/r/t)Malt(e)Malze(-r)

mhd. malhen-, > marhen(sloz)

March(e-l/r/t)-

Schmalz (e-l/r)-

ManzeMadeManeManetMageMar(-e/t)Marb(-e/l/t)Marg(-e/l/t)MarderMarf(-e/l/r/t)Marmer/-t, Marmel/-t, MarteMarze-, Morze

Abb. 4.8: Assoziative Abwandlungen von »Mal(ch)eschloss« (SDS VII 169 „Vorhängeschloss“)

Etymologischer Ursprung ist mhd. malhensloz (zu mhd. malhe ‘Ledertasche, Reisetasche’). Schon im Mittelhochdeutschen ist eine irreguläre Abwandlung marhensloz belegt, die regional noch direkt in »March(-e)« erhalten ist.33 Aus mhd. malhen- und marhen- sind »Mal(e)(-schloss)« »Mar(e)(-schloss)« über 33

S. DWB 12, 1510 s. v. Malschloss, LEXER 1, 1216.

Variantenmuster bei assoziativen Abwandlungen

207

reguläre Lautentwicklungen direkt abzuleiten.34 Die verschiedenen Erweiterungen mit »-el«, »-er« oder »-et« sind allerdings etymologisch nicht erklärbar. Die verschiedenen weiteren Veränderungen setzen voraus, dass das Lexem mal(h)e ‘Reisetasche’ unbekannt geworden ist. Die Veränderungen der Inlautkonsonanz bzw. die Einsetzung eines zusätzlichen Inlautkonsonanten bei den Formen »Malte-«, »Malz-e«, »Marte-«, »Marze-«, »Marge-« oder »Marfe-« sind weder durch reguläre Lautentwicklungen noch durch konkrete inhaltliche oder semantische Motivationen begründbar. Die geografische Verteilung legt jedoch nahe, dass die Parallelität von Formen wie »Malte-/Malze-« und »Marte-/Marze-« durch gegenseitige Beeinflussung bzw. Hybridbildung zu erklären ist. Unklar ist auch die Erweiterung von »Male-« mit anlautend /Sch-/ zu »Schmale-«. Die Herkunft könnte allenfalls in einer weiteren assoziativen Abwandlung von »Malze-« zu »Schmalze-« zu suchen sein, mit einer unmotivierten Assoziation zu »Schmalz-« ‘Schmalz’. In diesem Falle wäre »Schmale-« eine Hybridbildung aus »Male-« und »Schmalze-«. Wie bei »Schmalze« ist im Einzelfall Anpassung an ähnlich lautende Lexeme denkbar (allerdings ohne inhaltlichen Zusammenhang). Bei »Marfel-« und »Marbel-« könnte so die lautgleiche Bezeichnung für ‘Marmor’ den Anknüpfungspunkt gegeben haben. Nicht klar bestimmbar sind die Ursprungsformen bei Bildungen wie »Mane-« oder »Made-«, die lautlich sowohl mit »Mare-« wie mit »Male-« assoziert werden können, die beide geografisch benachbart vorkommen. Es handelt sich in beiden Formen wohl aber ebenfalls um Anknüpfungen an bestehende Lexeme, bei »Mane-« an ›Männer‹, bei »Made-« an ›Made‹, auch wenn diese Anknüpfungen keinen inhaltlichen Sinn ergeben. Ebenso ist »Manet-« wohl in Anlehnung an »Manet« ›Monat‹ aus »Malet-« (das östlich angrenzend verwendet wird) gebildet worden. In das gleiche lautliche Umfeld gehört die Bildung »Marder-« mit einer inhaltslosen Assoziation zu ›Marder‹. Die geografische Verteilung lässt hier zusätzlich vermuten, dass »Marder-« eine sekundäre Weiterentwicklung aus »Maler-« ist. Die meisten dieser Bildungen mit Anknüpfung an ein bestimmtes Lexem sind regional relativ gut eingrenzbare lokale Innovationen, was dafür spricht, dass tatsächlich diese lexikalische Stützung den Auslöser der Innovation spielte. Die heterogenen Bildungen mit sehr unterschiedlichen Abwandlungen werden im Wesentlichen durch einige wenige lautlich-formale Gemeinsamkeiten zusammengehalten. Die meisten enthalten die Lautkombination /ma-/, innerhalb einzelner Untergruppen kommen aber auch zusätzliche Teilähnlichkeiten wie die Nachfolgelaute /-lt/, /-lz/, /-rch/, /-rg, /-rf/ u. ä. vor. Die Entwicklungen erfolgen also allgemein über rein lautliche Assoziationen. Beibehalten wird grundsätzlich das initiale bzw. zentrale Element /ma-/, variabel sind der konsonantische Silbenauslaut und die angefügten Pseudomorpheme /-el/, /-er/ oder /-et/. Stärker abgewichen von den Ausgangsmustern wird bei

34

Vgl. die Lautkarten SDS II 109 „melken“ und SDS II 110 „Kirche“.

208

Variantenmuster in der Synchronie

Assoziationen an bestehende lautähnliche Lexeme, deren fix vorgegebenes Wortbild lautliche Ähnlichkeit überdecken kann. •

„Nagelfrost“ (SDS IV 59) Mehrstufige Reihenentwicklungen zeigt „Nagelfrost“. Als Ausganspunkt ist wohl »unigle« oder »Unagel« zu iglen ‘stechend schmerzen’ bzw. Agel ‘stechender Schmerz’ mit einer Verstärkung »u(n)-« (?).35 Dabei schwanken die Lexeme zwischen verbalen und nominalen Bildungen mit unterschiedlichem Vokalismus im Element »-nigle/-negle/-nagle«. Auch hier lassen sich die Formen entsprechend einem Ablauf der Abwandlungen gruppieren:36

unigle, Unigel Unagel, unagle



negle, nagle



hurnigle



durnigle hornigle

Chuenagel, chuenigle/ -negle



Schuenegle





gurnigle, burnägle

Abb. 4.9: Assoziative Abwandlungen von »Unigel« (SDS IV 59 „Nagelfrost“)

Bei den Abwandlungen bleibt als Gemeinsamkeit in den meisten Fällen als zweites Glied »-nigle/-negle/nägle/-nagle« bestehen, ein Element, das mehr oder weniger direkt mit »nagle« ›nageln‹ assoziiert werden kann. Dem entspricht auch die häufige Vereinfachung zu »nagle« oder »negle« ›nageln‹ nach morphologischer Uminterpretation. Diese Assoziation zu ›Nagel‹ kann auch in den mehrsilbigen Stämmen mit einem gewissen metaphorischen Sinn verbunden werden. Die morphologische Uminterpretation führt also zu morphologisch transparenteren und semantisch besser motivierten Formen. Das kann auch die Konstanz dieses Elements bei allen assoziativen Abwandlungen erklären. Disparat sind die Abwandlungen des ersten Teils des Wortes. In einer ersten Gruppe werden lautliche Erweiterungen vorgenommen, welche die lautliche Substanz verstärken, ohne dass ein zusätzlicher lexikalischer Gewinn damit verbunden ist. In einer zweiten Gruppe erfolgt ein Anschluss an konkrete lexikalische Elemente mit identifizierbarem semantischem Gehalt, der allerdings im konkreten Zusammenhang inhaltlich keinen deskriptiven Mehrwert erbringen. Die inhaltlich an sich am ehesten einleuchtende Abwandlung, »fingernegle« ›fingernageln‹, ist nur ein einziges Mal belegt. Gemeinsam ist diesen Ersatzlexemen nur ein einzelnes lautliches Merkmal, der Stammvokal /-u-/. In den Ähnlichkeiten und Konstanten der Veränderungen zeigen sich die Eigenschaften, welche Teile vor Veränderungen bewahren, in den Abwand35 Zu den nicht völlig klaren etymologischen Details s. Abschnitt 2.2.5, S. 54. 36 Die Variationen mit »nigle/-negle/-nagle« werden in der folgenden Darstellung vernachlässigt.

209

Variantenmuster bei assoziativen Abwandlungen

lungen die problematischen Elemente des Ausgangswortes, welche die Anlässe der Veränderungen abgeben. •

›Waldhengst‹ (SDS VI 232 „Waldameise“) Im Ausdruck »Waldhängscht« als Bezeichnung für die Waldameise wurde nach dem Staubschen Gesetz »Hängscht« lautgesetzlich zu »Häischt«.37 Im Simplex mit der Bedeutung ‘Hengst’ wurde diese Entwicklung allerdings praktisch überall wieder rückgängig gemacht (vgl. SDS II 136). Die Form »Waldhäischt« wurde trotzdem vielerorts beibehalten. Dadurch wurde der Ausdruck isoliert und intransparent. Zweitens wurde »Wald-« zu »Waald-« gedehnt und dann zu »Waal-« vereinfacht.38 Ferner wurde langes /a:/ im Norden zu /ͻ:/ verdumpft, teilweise mit Extremverdumpfung zu /o:/. Die verschiedenen Veränderungen erfolgten unabhängig voneinander bzw. überkreuzen sich räumlich.

Waldhängscht ›Waldhengst‹

→ Waldhäischt

→ Waldgäischt (›Waldgeist‹) → Waldräischt → Waldmäischter (›Waldmeister‹) → → → Wa(a)lhäischt →

Walgäischt Wo(o)lhäischt Wa(a)l– äischt → Wahäischt

→ Wa(a)lhängscht

→ Wo(o)lhängscht

→ Wohäischt → Maläischte → Waläise (x Amäise) → Wo(o)hängscht → Wulhängscht → Wolhäntsche

→ Wald-häntsch(g)e (›Waldhandschuh‹) Abb. 4.10: Assoziative Abwandlungen von ›Waldhengst‹ (SDS VI 232 „(grosse) Waldameise“)

Am Ende der Entwicklungen stehen einzelne formal reguläre Kompositabildungen, die allerdings, wie im Falle von „Nagelfrost“, nur bedingt als semantisch sinnvolle Bezeichnungen gelten können. Bemerkenswert ist, dass die Abwandlungen »Wolhäntsche« (SO 15) und »Waldhäntsch(g)e« (UR) ebenso wie »Waldgäischt« (ZH 10) und »Walgäischt« (ZH 60) unabhängig voneinander an räumlich weit voneinander entfernten Orten gebildet worden sind. Die assoziativen Abwandlungen folgen auch hier oberflächlich rekonstruierbaren morphologischen Mustern, wobei das Wort einem prototypischen Kompositum angenähert wird. Dadurch ergibt sich generell eine übergreifen37 38

Zum Staubschen Gesetz s. Fn. 41 in Kap. 2. Zur Dehnung von a vor l+Konsonant s. SDS II 66.

210

Variantenmuster in der Synchronie

de Ähnlichkeit zwischen den Heteronymen in Bezug auf die formale Wortstruktur, meist als Kompositum. Bemerkenswert ist die Konstanz, mit welcher der Anlaut /W-/ und im Inlaut Kombinationen von /-sch-/ und /-t-/ beibehalten werden, auch wenn unterschiedliche Assoziationen an andere Lexeme hergestellt werden. In manchen Fällen verlaufen lautliche und assoziative Abwandlungen in mehreren Stufen. Dabei entwickeln sich die einzelnen Formen in unterschiedlichen Richtungen. Das resultiert in heterogenen Gruppierungen, bei denen Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Varianten nur noch innerhalb der einzelnen Gruppen von Abwandlungen erkennbar sind •

„Ameise“ (SDS VI 229, KSDS 164) (Karte 51, S. 253) Bei „Ameise“ hat sich, wie in anderen Dialekten, aus einer Ursprungsform ahd. āmeize eine große Vielfalt an Varianten entwickelt.39 Abb. 4.11 zeigt in starker Vereinfachung die Varianten in ihrem genetischen Zusammenhang. Ausgangspunkt für die Veränderungen ist ahd. āmeize als Wortbildung mit der Vorsilbe ā ‘fort/weg’ und dem Verbstamm meizan ‘schneiden’. Beide Morpheme sind nach der ahd. Zeit unproduktiv geworden, wodurch das Wort zum isolierten Lexem wurde. Die Ausgangsform erfuhr zunächst lokal reguläre Lautveränderungen, vor allem Verdumpfung etwa zu »Oomeisse«, »Oomisse«, »Oumeisse«, die in Gegenden mit Extremverdumpfung vielfach zu einem Anlaut /u-/ weitergeführt wurde. Dazu kommt regional in Formen »Oomisse« wie Kürzung von /-ei-/ zu /-i-/. An anderen Orten wurde der Anlaut /A-/, ebenfalls regulär, umgelautet und u. U. gekürzt: »Emees«, »Ämes«. Diese Formen wurden durch irreguläre Veränderungen abgewandelt. Zum einen wurde /-m-/ im Inlaut durch /-w-/ oder /-b- /ersetzt: »Aaweissi«, »Ooweissi«, »Aabeissi«, »Oobäisse«. An anderen Orten wird ein /-b-/ nicht als Ersatz des /-m-/, sondern zusätzlich nach /-m-/ eingefügt: »Ambeissi/Ampeissi«, »Umpeisse«, lokal zusätzlich mit regulärem Wandel von /-ei-/ zu /-ää-/, /-aa-/ oder /-oa-/: »Ambääsle«, »Umpaasse«, »Umpoase«. Die Motivation für den Ersatz von /m/ durch /b/ könnte in einer vagen Assoziation zu »biisse« ›beißen‹ gelegen haben; der Vokalismus /-ei-/ des zweiten Bestandteils stimmt aber nur annähernd mit dem Stammvokal /-ii-/ des Verbs »biisse« überein, sodass auch hier nicht von einer Volksetymologie im genaueren Sinn gesprochen werden kann. Zusätzlich wurde in gewissen Regionen der Anlaut von »Ampeissi« durch /H-/ zu »Hampeissi« erweitert, vielleicht in Anklang an ›Hand-‹, was dem ganzen Wort einen Anklang an »Handbeisserin« gibt. Mehrere dieser Formen wurden ferner im Auslaut erweitert, zunächst durch /-g-/, von da aus wurde die Lautfolge /-ssg-/zusätzlich zu /tzg/ oder /ggs-/ verändert: »Hambeissgi/Umbeissgi«, »Ambitzgi«, »Hambitzgi«, »Ambiggsli«. In den letzteren Fällen ist ein Anklang an »Hitzgi/Higgsi« ‘Schluckauf’ oder »Bitzgi/Biggsi« ‘Apfelbutzen’ nicht zu überhören, der jedoch semantisch keinen Sinn macht.

39

Vgl. ROSENKRANZ (1942), SCHUMACHER (1968).

211

Variantenmuster bei assoziativen Abwandlungen

In vielen Formen sind Überlappungen von an sich getrennten Entwicklungen und Abwandlungen erkennbar, so, wenn neben den Formen »Ampeissi«, »Hampeissi« und »Hampeissgi« auch Formen wie »Umpeisse« und »Humpeissgi« anzutreffen sind. Diese Überlappungen sind am ehesten als Resultat von Hybridbildungen von regional benachbarten Formen zu erklären. In einzelnen Fällen kommen auch Wortveränderungen mit zusätzlichen lexikalisch motivierten Umdeutungen vor. So wurde regional die verdumpfte Vorsilbe /Oom-/, /Uum-/ durch »Wurm-« ersetzt: »Wurmeise«, »Wurmessli«, »Wurmöisli«, »Wurmba(a)sle«. Der extremste Fall liegt beim Baselbieter »Bääramsle« vor. Der Wortbestandteil »-amsle«, an den Vogelnamen ›Amsel‹ erinnernd, kann als Verkürzung der Wortform »Oomeisele« gedeutet werden, die Voranstellung von »Bäär-« ›Bär‹ ist jedoch weder lautlich noch semantisch sinnvoll deutbar, und das ganze Wort »Bääramsle« ›Bärenamsel‹ wirkt eher absurd als Bezeichnung der Ameise. Amas(s)le Oomäis(s)e(le)

A(a)meis(se)

Èmèès Ämess Aabäissi Aaweis(s)i A(a)mbeiss(el)e, Ambeissi A(a)mpeisse(le), A(a)mpeissig

Ummoosse Oomisse

Wurmeise Wurmöisli Wurmöisle Wurmessli Wurmaasle Bääramsle

Äbes Oobäisse

Ambääs(le)

Umbeis(s)e Umpeis(s)e (< Oomäisse x Ampeisse) Hambeissi/ Hampeissi

Umpaase Umbeissgi

Hambitzgi Ambitzgi Ambiggsli

Abb. 4.11: Assoziative Abwandlungen von »Aameise« (SDS VI 229 „Ameise“)

Wurmba(a)sle

212

Variantenmuster in der Synchronie

Wenn wir die verschiedenen zusätzlichen Varianten von Ableitungsmorphemen wie /-ele/ (≈ feminine Ableitung), /-i/ (≈ Diminutiv) oder /-gi/ ausklammern, gleichen sich die Varianten insgesamt darin, dass sie zweisilbig sind. Erhalten bleibt /-s(s)-/ als stammauslautender Konsonanz. In verschiedenen Entwicklungssträngen entwickelt sich zusätzlich der Inlaut /-mb-/ bzw. /-mp-/ als konstant bewahrtes Element. Die lautliche und silbische Grundstruktur wird nur graduell verändert; meist wird die einzelne Silbe gewichtiger gemacht, sodass die Silbenstruktur deutlicher wird. Ein Ziel, volksetymologisch lexikalisch sinnvoller motivierte Strukturen zu erreichen, ist kaum zu erkennen. •

„Mumps“ (SDS IV 55, KSDS 84) Eine Gruppe von Bezeichnungen für den Mumps, die Viruserkrankung der Speicheldrüsen, umfasst Zusammensetzungen von »Oore-« ›Ohren‹ mit Elementen unklarer Etymologie: »Ooremüggeli, »Ooremügg(e)ler«, »Ooreniggeli«, »Ooreniggel(er)«, »Oorenüggeler« oder »Oorenigel«, »Oorechnüttel«. Eine semantisch sinnvolle Ursprungsform dieser Varianten lässt sich nicht rekonstruieren. In KSDS 84 wird auf die Ähnlichkeit mit manchen Bezeichnungen für den Ohrwurm wie »Ooremüggel(er)« oder »Ooreniggel(er)« (SDS VI 221, KSDS 162) verwiesen, was allerdings für eine etymologische Erklärung insofern nicht viel weiter hilft, als auch für diese Bezeichnungen keine überzeugende etymologische Herleitung existiert. Gemeinsam ist den Bildungen eine Grundstruktur Nasal + ü + gg. Eine Erweiterung findet sich in »Oorechnüttel«, das rhythmisch und morphologisch mit den übrigen Formen übereinstimmt; die Abwandlung entspricht dem Lexem »Chnüttel« ‘Knoten’ (Id. 3, 767) und macht in diesem Zusammenhang Sinn.

Auch bei assoziativer Abwandlung zeigen sich somit immer wieder typische Variantenmuster mit einer charakteristischen Kombination von Heteromorphie und Ähnlichkeit. Die Veränderungen folgen im Allgemeinen gewissen Grundmustern und funktionalen Kriterien auf unterschiedlichen Ebenen. Welche Bereiche der Variation unterworfen sind und welche Elemente erhalten bleiben, hängt im Einzelnen von der jeweiligen Wortstruktur der Ausgangsform ab. Elemente, die gewissen prototypischen lautlichen oder morphologischen Mustern entsprechen und insofern auch wenig auffällig erscheinen, bleiben eher unverändert als Elemente, die von derartigen Mustern abweichen oder als sinnstörend empfunden werden können. Damit sind hinter den Variantenmustern bzw. den Prozessen, die zu deren Ausbildung führen, grundlegende Wahrnehmungsmuster erkennbar. 4.7 ÜBERGÄNGE ZWISCHEN ASSOZIATIVITÄT, IKONIZITÄT UND SEMANTISCHER VERSCHIEBUNG Zuweilen zeigen Heteronyme Ähnlichkeiten auf Ausdrucksebene, die nicht eindeutig einer bestimmten Kategorie der Motiviertheit oder Entstehungsart zuzuordnen sind. Die Heteronyme können sowohl über assoziative Abwandlung oder

Übergänge zwischen Assoziativität, Ikonizität und semantischer Verschiebung

213

als Neubildung einer ikonischen Form erklärt werden, oder eine Wortform hat zwar eine formale Ähnlichkeit mit einer Ausgangsform, entspricht aber gleichzeitig einem etymologisch anders herleitbaren Lexem. Historisch können sich durch Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren Variantenmuster mit relativ großer Formähnlichkeit entwickeln. Solche Ähnlichkeitsmuster lassen an eine Art ‚Konspiration‘ denken, bei der die verschiedenen Entwicklungen auf ein gemeinsames Ziel hinsteuern.40 Im Hintergrund kann auch das Phänomen des konventionalisierten Lautsymbolismus (Clustering) stehen, des Phänomens, dass Lexeme innerhalb des Wortschatzes lautlich-semantische Gruppen bilden, ohne dass notwendigerweise damit eine direkte ikonische Motiviertheit verbunden wäre.41 Inhärent ist diese Problematik unmittelbar bei ikonischen Bildungen und Inhalten, die von der Sache her eine onomatopoetische Bezeichnungsweise nahelegen. •

„(Ostereier) zusammenstoßen“ (SDS V 65) In SDS V 65 werden die Bezeichnungen für „(Ostereier) zusammenstoßen“ dargestellt. Das Thema bezieht sich auf einen verbreiteten Brauch an Ostern, Ostereier im Spiel oder vor dem Essen gegeneinander zu stoßen; wessen Ei zum Schluss teilweise oder ganz unbeschädigt bleibt, der ist Sieger. Die Verben, die dazu angegeben werden, bezeichnen meist das allgemein (leichte) Zusammenstoßen zweier kleinerer Gegenstände oder Anstoßens an einen Gegenstand bzw. sind aus solchen allgemeineren Bezeichnungen übernommen. Sie können insofern auch annähernd als Onomem zum Konzept LEICHTES ZUSAMMENSTOSSEN gelten: (Eier) tupfe, tüpfe tümpfe tutsche, tütsche tätsche putsche, pütsche poppere, pöpperle tötterle Diese Ausdrücke folgen einem allgemeinen Lautmuster: Der Stamm wird aus einer labialen oder dentalen Fortis als Anlaut und Auslaut, im Auslaut u. U. mit einer Affrikate gebildet. Die Laute bilden artikulatorisch eine Bewegung des Zusammenstoßens ab. Eine Ausnahme davon macht »tümpfe« mit dem eingeschobenen Nasal. Historisch und lexikalisch stehen die einzelnen Verben in unterschiedlichen Zusammenhängen. Die Ausdrücke »tutsche«, »tütsche« »tätsche« »put-

40

41

Vergleichbar mit der „(phonological) conspiracy“, wonach verschiedene phonologische Regeln zusammenwirken im Hinblick auf eine davon unabhängige phonologische Struktur (in der ursprünglichen Form formuliert in KISSEBERTH 1970). S. ROTT (2015). Zu dieser Art von Lautsymbolik s. auch MARCHAND (1969, 397–428) mit Beispielen aus dem Englischen. Beispiele aus dem Schweizerdeutschen sind etwa die Muster /st-V-gg/ bei Wörtern mit der Bedeutung ’stocken’, ‘stolpern’ (so bei „stottern“, s. S. 213) oder /K-V-ngg/ (»fungge«, »pungge«, »wingge« ‘mit dem Fuß treten’) (s. Kap. 6.3, S. 313).

214

Variantenmuster in der Synchronie

sche«, »pütsche«, »poppere«, »pöpperle«, »tötterle« sind übernommen aus generellen ikonischen Bezeichnungen des (geräuschvollen) Zusammenstoßens; die Affrikate /-tsch-/ erklärt sich aus der ursprünglichen Verwendung als Bezeichnungen des Klatschens beim Zusammenstoßen oder Herunterfallen. Das Verb »tupfe« seinerseits steht in komplizierten Verbindungen zu anderen Verwendungen und Lexemen, u. a. zu einer Verwendung als ‘eintauchen’, aus denen dann gemäss den Wörterbüchern unter Beeinflussung durch Tupf und stupfen mit verschiedenen Zwischenstufen sich die Bedeutung ‘leicht anstoßen’ entwickelt hat (DWB 22, 1823). Eine Nebenform zu Tupf dürfte Tumpf ‘kleine Vertiefung’ sein, aus dessen spezieller Bedeutung ‘leichte durch einen Schlag verursachte Einbuchtung, Beule’ das Verb »tümpfe« abzuleiten ist (Id. 12, 1923). Die Affrikate /-pf-/ ist das Resultat der zweiten Lautverschiebung. Die daraus rekonstruierbare Ausgangsform *dup- entspricht wiederum dem Urmuster der lautsymbolischen Nachahmung des Zusammenstoßens. Die etymologischen Hintergründe der einzelnen Lexeme sind sehr unterschiedlich oder unklar. Das synchrone Resultat zeigt so oder so auffällige gleichartige ikonische Eigenschaften bei allen Bezeichnungen. Zur Bezeichnung des entsprechenden Phänomens werden Wörter geschaffen, gewählt oder umfunktioniert, die das Bezeichnete auch in ähnlicher Weise ikonisch repräsentieren. Das lautliche Ziel bestimmt die Wahl. •

„stottern“ (SDS IV 69) Die Heteronymie von „stottern“ zeigt unterschiedliche Formenmuster: gagge, gagg(e)le, gaggse, gatzge (mhd. gagezen) stagg(e)le, stagle statzge stigg(e)le, stigle (stammle) Von der Konsonantenstruktur her können wir zwei Haupttypen unterscheiden: /g-V-gg/ und /st-V-gg/. Beiden ist der Stammauslaut /-gg-/ gemeinsam. Aus der Form »gagg-« sind »gaggele« als Erweiterung durch /-el(e)/ sowie »gaxe« als Ableitung mit »gaggeze« und »gatzge« als Weiterentwicklung durch Methathese erklärbar.42 Das Muster /gagg-/ hat Parallelen in ahd. gakkezzen und mhd. gagezen u. ä. ‘gackern’ (von Hühnern). Die schweizerdeutschen Formen lassen sich grundsätzlich als Bedeutungsübertragungen aus den historisch belegten Lexemen mit der Bedeutung ‘gackern’ interpretieren. Jedoch haben die Formen auch Merkmale von Lautgebärden: In der Lautgestalt wird die Artikulationshemmung des Stotterns nachgebildet. Bei den Varianten »stagg(e)le«, »stagle«, »stigg(e)le« und »stigle« fällt die lautliche Verwandtschaft mit einer Wortgruppe /st-V-g(g)/ auf, die u. a. Wörter mit der Bedeutung ‘stolpern’, ‘stocken’ u. ä. enthält. Wie auch immer die historischen Hintergründe zur Entstehung einer solchen Wortgruppe zu

42

Vgl. »Hitzgi« aus »Higgsi« (‘Schluckauf’) (KSDS 78), »ritzge« aus »riggse« (< »riiggeze«) (s. Abschnitt 4.5 zu „knarren“), »blitzge« aus »bliggse« (KSDS 62).

Übergänge zwischen Assoziativität, Ikonizität und semantischer Verschiebung

215

beschreiben sind, offenkundig handelt es sich im Resultat um eine sekundär entstandene Lautsymbolik, die im Anlaut keine direkten ikonischen Ähnlichkeiten aufweist, allerdings immerhin im Auslaut /-g(g)/.43 Die gestische Verwandtschaft zwischen stocken, stolpern und stottern ist offensichtlich. Damit ist auch eine eher inhaltlich begründete assoziative Verwendung eines vorgegebenen symbolischen Grundmusters zur Bildung eines speziellen Ausdrucks denkbar. Eine Beeinflussung durch das ähnliche Lautmuster bei »gagg-« ist dabei ebenfalls denkbar. Theoretisch ist die Form »statzge« nach dem Muster von »gatzge« > »gaggeze« als Ableitung von »staggeze« erklärbar.44 Jedoch ist sie auch als Hybridbildung aus »staggele« und »gatzge« interpretierbar, was umso wahrscheinlicher ist, als eine Ausgangsform mhd. *staggezen historisch nicht belegt ist. Insgesamt sind die beiden Variantentypen etymologisch aus verschiedenen lexikalischen Quellen herzuleiten. Die Entwicklungen zeitigen jedoch ein Variantenmuster, in dem die verschiedenen Heteronyme untereinander viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Teilweise ist auch von gegenseitiger Beeinflussung auszugehen. Ikonizität, Lautsymbolik und assoziative Abwandlung wirken ineinander. Die Wahl der lexikalischen Mittel und die verschiedenen Arten von Innovationen münden trotz den unterschiedlichen Quellen in eine Heteronymie mit vielen Ähnlichkeiten unter den einzelnen Heteronymen und einer allgemeinen Tendenz zur Ikonizität. •

„Heuschrecke“ (SDS VI 222, KSDS 168) (Karte 35) Ein typisches Beispiel für die Ambiguität der Entwicklung bzw. der historischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen ähnlich lautenden Heteronymen bietet eine größere Gruppe von Varianten bei „Heuschrecke“ mit den Formen »Heustaffel«, »Heustäffel«, »Heustoffel«, »Heustöffel« »Heustüffel«, »Heustuffel«, »Heustraffel«, »Heuströffel«, »Heustruffel«. Nach Ausweis der historischen Quellen repräsentiert »Heustaffel« die Ursprungsform. In alemannischen Quellen des Ahd. (Notker, Notkerglossator) sind Formen wie hewi/houwi-staphol, -staffol belegt (zu ahd. staphôn ‘einherschreiten’). Im Mittelhochdeutschen setzt sich dies zumindest für das schweizerische Alemannisch fort, wo in alemannischen Handschriften des 15. Jahrhunderts weiterhin ›Heustaffel‹ belegt ist.45 Nach den Belegen in Id. 10, 1411 sind weder staffen noch Staffel außerhalb des Ahd. als selbständige Lexeme in der ursprünglichen Bedeutung nachgewiesen. Der Wortstamm scheint also verloren

43

Zu dieser Art von Lautsymbolik s. auch MARCHAND (1969, 397–428) mit Beispielen aus dem Englischen. Vgl. DWB 17, 1068. S. KUNZE (1985, K. 4), KLAUSMANN / KUNZE / SCHRAMBKE (1997, K. 13). Die alte regionale Geltung zeigt sich im Althochdeutschen darin, dass in fränkischen Texten (Otfrid, Tatian) stattdessen Zusammensetzungen von hewi ‘Heu’ mit -skrekk- zu skrekken ‘springen, hüpfen’ verwendet werden: hewiskrekko , hewiskrekkil u. ä. Nach KUNZE bildet in Handschriften des 15. Jahrhundert der Rhein eine Grenze zwischen südlich Heustaffel und nördlich Mattschreck, Heuschrickel, Heuschrecke.

44 45

216

Variantenmuster in der Synchronie

gegangen zu sein. Die Frage ist, wie die Varianten zu erklären sind. »Heustäffel« kann allenfalls als umgelautete Form interpretiert werden, »Heustöffel« als Rundung dazu, was allerdings keine reguläre Entwicklung wäre. Für die anderen Formen stehen noch weniger lautgeschichtliche Erklärungen zur Verfügung. Stattdessen gibt es eine Reihe von Verben mit Bedeutungen im Bereich ‘langbeinig gehen’, ‘unsicher gehen’, so »stoffle« ‘langbeinig einherschreiten’. Dazu gehört »Stoffel« ‘langbeinig, ungeschickt einherschreitender Mensch’ mit weiteren Bedeutungsentwicklungen wie ‘ungeschickter Mensch’ (Id. 10, 1475). Bei »-Stuffel« und »-Stüffel« kommt als Anknüpfungspunkt der Ausdruck »Stuffel« ‘Knirps’ hinzu, das an sich mit »Stuffel« ‘kurzer Halm, Stoppel u. ä.’ zusammenhängt, aber ebenfalls mit »stoffle« im Sinne von ‚unsicher gehen’ vermischt worden ist. Vergleichbar ist in »»Heustraffel« ein möglicher Bezug zu »Straffel« ‘magerer, dünner Mensch’, abgeleitet von der Bedeutung ‘(dürrer) abgebrochener Aststock’ oder »straffle«, eine Variante zu »strable« ‘strampeln’. »Stoffel« und »Stöffel« können aber auch mit den Kurzformen »Stoffel/Stöffel« zum Namen Christoffel (Christoph) assoziiert werden. Alle diese lexikalischen Assoziationen machen aber inhaltlich in Bezug auf eine Charakterisierung der Heuschrecke wenig Sinn. Erst recht gilt dies für »Stäfz(g)e«: »Stäfz(g)« bedeutet eigentlich ‘kurzer Nagel, Stift’.

Karte 35: „Heuschrecke“ (SDS VI 222)

Als Konsequenz erscheint nur die Erklärung möglich, dass das ursprüngliche ›Heustaffel‹ in Assoziation zu tatsächlich bestehenden Lexemen mit

Komplexe Formen der Heteromorphie und Überschichtungen von Variantenmustern

217

meist assoziativ nahen Bedeutungen wie Arten des (unbeholfenen) Gehens oder in Assoziation zum Eigennamen (Chri-)stoffel abgewandelt wurde. In diesem Fall erfolgt die Abwandlung gesteuert von tatsächlich existierenden lautlich und semantisch verwandten Lexemen. Die Abwandlung kann zwar formal in den meisten Fällen als Wortersatz eines unverständlichen Lexems durch ein verständliches Lexem erscheinen. Sie folgt aber auch den Mustern einer assoziativen Abwandlung und die Heteronymie hat eine entsprechende lautlich assoziative Struktur.46 4.8 INHÄRENTE HETEROGENITÄT Die in den vorangehenden Abschnitten beschriebenen Variantenmuster basieren auf semantischer oder formaler Ähnlichkeit, allenfalls gestört durch diachrone Entwicklungen. Daneben finden sich aber auch viele Fälle von absoluter Heterogenität, einem Nebeneinander von isolierten Grundwörtern, die nicht als nachträglich gestörte oder zerstörte Ähnlichkeitsmuster beschrieben werden kann. Schon früher erwähnte Beispiele sind die Heteronymie aus »Zuun« und »Haag« bei „Zaun“ (SDS VIII 207), »Biiji/Beiji« und »Imbi« bei „Biene“ (SDS VIII 105) oder »Choorb«, »Zäine«, »Schinner«, »Chratte«, »Chucher« bei „Korb“ (SDS VIII 105). Diese Art von Heterogenität ist in ihrer Entstehung angelegt. Eine Hauptquelle ist die Monosemierung von quasi-synonym gewordenen Grundwörtern. Grundwörter sind definitionsgemäß formal heterogen. Eine zweite Quelle von Isoliertheit und damit Heterogenität ist die Übernahme von Entlehnungen, wie sie beispielweise im Fall des Nebeneinanders von »Kanapee« und »Soffa« bei „Sofa“ (SDS VII 181) (s. S. 108) vorkommt. 4.9 KOMPLEXE FORMEN DER HETEROMORPHIE UND ÜBERSCHICHTUNGEN VON VARIANTENMUSTERN Variantenmuster bauen oft nicht auf einheitlichen Ähnlichkeitsmustern auf, sondern sind komplexe Kombinationen von derartigen Mustern. Im Hintergrund derartiger Kombinationen stehen normalerweise komplexe Schichten von Bezeichnungswandel, wie sie in Kapitel 3 beschrieben werden, und unterschiedliche lexikalische Veränderungen der verschiedenen Heteronyme. Prägend sind in diesem Zusammenhang schon früher erwähnte Voraussetzungen und Entwicklungsmuster im Bezeichnungswandel: –

Lexikalische Innovationen sind im Moment ihrer Entstehung/Bildung motiviert, außer Entlehnungen.

46

S. auch Id. 10, 411.

218 –



Variantenmuster in der Synchronie

Durch sekundäre Prozesse, namentlich durch Monosemierung zwischen quasi-synonymen Wörtern und durch assoziative Abwandlung, entsteht Heterogenität. Durch Verlust der Motiviertheit entsteht Isoliertheit und dadurch ebenfalls Heterogenität.

In den unterschiedlichen Kombinationen von Ähnlichkeiten und Heteromorphien lassen sich oft gewisse lexikalische Grundmuster von Heteronymie erkennen. Ein erstes derartiges Grundmuster besteht darin, dass neben einem isolierten Heteronym eine Gruppe von ähnlich motivierten deskriptiven Heteronymen vorkommt. Das Muster entsteht beim Ersatz eines ursprünglichen, isolierten Grundwortes durch motivierte Innovationen: •

„Viehweglein“ (SDS VI 73) (Karte 22, S. 146) Die Heteronymie von „Viehweglein“ besteht aus einem isolierten Typ ›Treije‹, einer Entlehnung aus einer vorrömischen Sprachschicht, und einer Reihe von ähnlich motivierten deskriptiven Bildungen des Typs ›Kuhweg‹ u. ä. 47



„bellen“ (SDS VIII 119) Neben dem ursprünglichen, heute isolierten Typ ›bellen‹ wird das Bellen des Hundes mit onomatopoetischen Ausdrücken wie »woule«, »boule«, »bäägge«, »wuffe«, »guuwe« bezeichnet.

Eine komplexere Variante dieses Grundmusters besteht darin, dass einer Gruppe von motivierten Heteronymen mehrere isolierte Heteronyme gegenüberstehen, eine Folge davon, dass das Onomem eine längere Geschichte hinter sich hat, bei dem mehrere ältere Bezeichnungen im Lauf der Geschichte ihre Motivation verloren haben. •

„Glockenschwengel“ (SDS V 43) (Karte 15, S. 120) Wie in Abschnitt 3.4 beschrieben setzt sich die Heteronymie zu „Glockenschwengel“ aus zwei Gruppen von Bezeichnungen zusammen. Heute isoliert sind die Heteronymie »Challe«, »Haller«, »Chängel« und »Chlängel«. Dazu kommen die deskriptiv motivierten Bezeichnungen »Schwängel«, »Schwingel«, »Schlänggel«, »Pambel/Bämbel«, »Plämpel« »Plamper«, »Cholbe«, »Pändel«, »Bängel« und »Chlöppel«. Die Gruppierungen können aus einer mehrstufigen Entwicklung des Onomems erklärt werden. Die isolierten Bezeichnungen können etymologisch als (ursprünglich motivierte) Ableitungen erklärt werden, die alle durch Sprachwandel ihre Motiviertheit verloren haben.



„pflügen“ (SDS VIII 184) Zur Bezeichnung des Pflügens stehen zwei heute isolierten Grundwörtern mehrere Ableitungen gegenüber, die zwar unterschiedlich motiviert, aber innerhalb des synchronen Wortschatzes mit deskriptiven Inhalten verbunden sind. Regional wird das Pflügen mit dem isolierten Grundwort »eere« (ahd.

47

Zu den Einzelheiten s. S. 144.

Komplexe Formen der Heteromorphie und Überschichtungen von Variantenmustern

219

erren) (mit einer Nebenform »aare« zu einem nicht belegten mhd. *arn st.V.) sowie mit »buue« ›bauen‹ bezeichnet, das heute wohl ebenfalls als isoliertes Wort einzuordnen ist, da es wegen der Bedeutungsdifferenz allenfalls als Homonym zu »buue« ›bauen‹ ‘Gebäude errichten’ gelten kann. Auch »buue« ist eine ältere Verwendungsweise eines selbst sehr alten Wortes mit verschiedenen Bedeutungen. Neben diesen isolierten Ausdrücken werden eine Reihe von deskriptiv motivierte Bildungen aus »Acher« verwendet: »achere«, »z Acher faare/gaa«, sowie mit »pflüege« ›pflügen‹ eine Ableitung zu »Pflueg« ›Pflug‹. Eine weitere Form des Nebeneinanders von älteren, isolierten Bildungen und deskriptiv motivierten Innovationen besteht darin, dass die ältere Bildung ihrerseits infolge assoziativen Abwandlungen in mehreren Varianten vertreten ist. •

„Schmetterling“ (SDS VI 237/238-238, KSDS 170) (Karte 2, S. 91) Einem isolierten Typ ›Fifalter‹ stehen die deskriptiven Bildungen »Summervogel« ›Sommervogel‹, »Sunnevogel« ›Sonnenvogel‹ »Müllervogel«, »Meelvogel« ›Mehlvogel‹ sowie »Toggeli« ‘Puppe’ gegenüber. Der Typ ›Fifalter‹ erscheint zusätzlich in verschiedenen Abwandlungen: »Fifolter(e), »Pipolter«, »Pfipfolter(e)«, »Pfifoltere«, »Flüüg-/Fliggholtere«, »Zwifalter(e)«.48

Auch komplexere Überschichtungen sind möglich: •

„Gänseblümchen“ (SDS VI 125, KSDS 144) Die heterogene Heteronymie in „Gänseblümchen“ setzt sich zusammen aus assoziativen Abwandlungen der urspünglich klar motivierten Bezeichnung »Gänseblüemli«, aus anderen (unklar) motivierten Bezeichnungen und der Entlehnung »Margriitli«, also aus Heteronymen ganz unterschiedlicher Herkunft. Die wohl ursprünglichste Bezeichnung »Gänseblüemli« bezieht sich auf das Vorkommen in Wiesen, die zur Gänseweide dienten. Dieser Ausdruck wurde aufgrund des Staubschen Gesetzes (Nasalschwund vor Frikativ)49 regional zu Formen wie »Gäiseblüemli« und mit Monophthongierung »Gaaseblüemli«. Aus dieser nicht mehr transparenten Form wurden assoziativ unterschiedliche volksetymologische Umwandlungen gebildet. Die häufigste Form ist »Gäisseblüemli« ›Geissenblümchen‹ (mit regelhaften regionalen Vokalvarianten), dazu kommen in kleineren Regionen inhaltlich nicht motivierbare Formen wie »Chääsblüemli« ›Käseblümchen‹, »Graasblüemli« ›Grasblümchen‹, »Geissegis(m)eli«. Das Tiermotiv »Geiss« wird über assoziative Abwandlung an einzelnen Orten durch »Schaaf-« und sogar »Chatze-« ersetzt. Daneben kommen deskriptiv motivierte Bezeichnungen vor wie »Wasebürschteli« ›Wasenbürstchen‹ (›Wasen‹ ‘feuchte Wiese’), »Steiächerli« ›Steinäckerlein‹ (‘Blume, die an einem steinigen Acker wächst’, wohl eine

48 49

Zu den Einzelheiten s. Abschnitt 3.2.1, S. 91. S. Fn. 41 in Kap. 2.

220

Variantenmuster in der Synchronie

Namensvertauschung), »Müllerblüemli« ›Müllerblume›, »Müliblüemli« ›Mühlenblümchen‹ (beide mit unklarer Motivik), »Johannesblüemli« (Blume, die am Johannistag blüht, aber wohl von der großen Margerite übernommen). Im Westen dominieren schließlich Formen von »Margriitli« zu »Margriite« aus franz. marguerite (Chrysanthemum leuc.), also einer Entlehnung. •

„Schnupfen“ (SDS IV 63) Bei „Schnupfen“ finden sich nebeneinander Typen, die historisch motiviert sind, heute aber als isoliert erscheinen, synchron motivierte Typen, assoziative Abwandlungen und isolierte Bezeichnungen, die auf Entlehnung zurückgehen.50 Auf der einen Seite stehen in der Gegenwartssprache motivierte Bildungen wie »Flussfieber« und die aus »Schnuder« ‘Nasenschleim’ abgeleiteten Bezeichnungen »Schnuderi« oder »Schnuderfieber«. Eine Reihe von anderen Formen lässt sich zwar auf gut belegte Wurzeln mit verschiedenen Entwicklungen in anderen Ausprägungen und Dialekten zurückführen, ohne dass aber diese Zusammenhänge synchron im Schweizerdeutschen noch wirksam wären. Dazu gehört »Schnu(u)ppe(r)«, ein Worttyp, etymologisch wohl zugehörig zu einem Stamm *snûf- /*snûb- (mhd. snûfen). 51 Diese Variante ist lautlich im Schweizerdeutschen heute isoliert. Ein zweiter Typ basiert auf einem Stamm *(p)fnûs- (mhd. pfnûsen ‘niesen, schnauben’). Auch dieser Hintergrund ist synchron nicht mehr als semantisch fixierte Basis präsent. Ausgangsform ist »Pfnüsel«; diese Form erfuhr zusätzlich verschiedene assoziative Abwandlungen wie »Pflüsel«, »Chnüsel«, »Chnürsel«, »Gflüsel«, die erst recht isolierte Formen darstellen (s. Abschnitt 4.6, S. 205). Zu einer etymologisch verbreiteten Wortfamilie mit Stamm »nuusch-/nüüsch-« (‘durch die Nase sprechen’, ‘mit verstopfter Nase sprechen’, vgl. nuscheln) gehören auch »Näusche«, »nüüschig«; aber auch diese Bildungen müssen heute als isoliert gelten. Etymologisch völlig isoliert ist der im Südosten verbreitete Typ »Struuche«, der aus dem Bairischen diffundiert sein dürfte.52

50

Allgemein zur Heteronymie von „Schnupfen“ in deutschen Dialekten s. WEIMANN (1955). Vgl. auch die Abschnitte 3.7.3, S. 176, und 4.6, S. 207. Nach Id. 9, 1248 ist »Schnuuppe« aus dem „Nhd.“ entlehnt. Die unterbliebene Lautverschiebung wird auf Herkunft aus dem Niederdeutschen zurückgeführt (s. KLUGE / SEEBOLD 2011, 822 s. v. Schnupfen). Der früheste Beleg nach Id. 9, 1248 stammt von 1563, so dass eine Diffusion schon in frühnhd. Zeit (also vor „Nhd.“) stattgefunden haben müsste. Dass ein niederdeutsches Wort so früh so weit in den Süden diffundiert hat, ist ungewöhnlich. Die Hypothese, dass »Schnuuppe(r)« aus dem (schriftlichen) Neuhochdeutschen entlehnt sei, hat auch das Problem, dass in der Standardsprache bzw. Literatursprache die oberdeutsche Form Schnupfen maßgebend ist. Es stellt sich die Frage, ob nicht eine Herleitung aus germ. *snūbb- (mit expressiver Gemination) sinnvoller wäre. WEIMANN (1955, 170); nach DWB 19, 976 wahrscheinlich aus dem Slavischen entlehnt.

51

52

Komplexe Formen der Heteromorphie und Überschichtungen von Variantenmustern

221

Als Entlehnungen auch diachron lexikalisch isoliert sind schließlich die Ausdrücke »Rüümme« (franz. rhume ‘Schnupfen’) und »Niiffe« (frankoprov. nifia, nefa ‘Erkältung’). Diese Kombination von überwiegend isolierten und nicht motivierten Formen mit assoziativen Abwandlungen ergibt eine sehr heterogene Heteronymie. Manche Heteronymien entziehen sich überhaupt jeder synchronen Systematisierbarkeit. Je älter ein Onomem ist, je mehr die einzelnen Heteronyme infolge Sprachwandel ihre Motiviertheit verloren haben, je unterschiedlicher die Herkunft der Heteronyme ist, je komplexer die Überschichtungen sind, desto weniger sind synchron Verknüpfungen und Gruppierungen zwischen den einzelnen Heteronymen erkennbar. •

„ausruhen“ (SDS IV 113, KSDS 68) (Karte 19, S. 140) Die vier im Schweizerdeutschen verbreiteten Benennungstypen für ‘ausruhen’, nämlich »rue«, »(g)rueje«, »(g)ruebe«, »raschte«/»reschte«,»(g)hirme« und »lüeje/lüewe« sind entweder völlig isolierte Lexeme oder sind zwar als Grundwörter in weiteren Ableitungen im Wortschatz vernetzt, selbst aber nicht weiter ableitbar. Allfällige etymologische Zusammenhänge können zwar für »rueje/ruebe« und »raschte/reschte« hergestellt werden, reichen aber in vorahd. Epochen zurück und sind für die Gegenwartssprache nicht mehr relevant.53



„Rückentraggefäß für den Milchtransport (aus Metall)“ (SDS VII 44) Die Heteronyme zu „Rückentraggefäß für den Milchtransport“ sind so unterschiedlicher Herkunft und heterogener Natur, dass sie sich auch diachron schwerlich unter gemeinsamen Gesichtspunkten gruppieren lassen. Die eine Form »Taus(s)e« mit Varianten wie »Taase«, »Tusse« wird etymologisch mit der Ursprungsform ›Tanse‹ als Ableitung zu ahd. dinsan ‘mühsam schleppen’ interpretiert. Das Verb dinsen ist jedoch im Schweizerdeutschen nur historisch belegt (Id. 13, 738) und heute verschwunden; synchron wäre der Zusammenhang zu »Tause«, »Taase« oder »Tusse« kaum mehr erkennbar. Isoliert sind auch »Bränte«/»Brängge«, wohl Entlehnungen aus der Lombardei, und das relikthaft belegte »Tuutel« (mit unklarer Etymologie).54 Eine motivierte Bezeichnung ist dagegen »Chüpli«, ein Diminutiv zu »Chübel« ›Kübel‹.55 Auch das sporadisch belegte »Channe« ›Kanne‹ ist als Spezialisierung eines Wortes mit allgemeinerer Bedeutung als motiviert einzustufen.

53 54

S. auch die Bemerkungen in Abschnitt 3.6, S. 138. Der in Id. 13, 2083 erwogene Zusammenhang mit »Tuute« ‘Rohr’, ‘Blasinstrument’ erscheint angesichts der Beleglage eher unwahrscheinlich (die Belege für Tutel ’Rückentraggefäß’ sind weitaus reichlicher und zeitlich weiter zurückliegend als jene für »Tuute« ‘Rohr’, ‘Blasinstrument’). S. die Bemerkung zur Etymologie in SDS VII 44 Legende I. Dass »Chübel« ein frühes Lehnwort ist, ist hier nicht relevant.

55

222

Variantenmuster in der Synchronie

4.10 BEZEICHNUNGSSTILE Die unterschiedlichen Arten und Weisen, ein bestimmtes Konzept mit einem Ausdruck zu bezeichnen, können als Stilarten verstanden werden insofern, als damit eine Wahl zwischen verschiedenen Formulierungsmöglichkeiten impliziert ist.56 Bezeichnungsstile als Eigenschaften von konventionellen, unabhängig von Texten im Wortschatz fixierten Zeichen können zwar nicht direkt mit Handlungsaspekten von Texten in Bezug gebracht werden, wie das in den Stildefinitionen der heutigen Stiltheorie geschieht. Dennoch kann die Art und Weise, wie ein Konzept sprachlich bezeichnet wird, unabhängig von bestimmten Verwendungen in Texten als Ausdruck von bestimmten Einstellungen interpretiert werden und mit bestimmten Wirkungen verknüpft sein. Die verschiedenen Verfahren und Stilwirkungen können wir unter der Kategorie der Expressivität zusammenfassen und gliedern. Damit soll die Eigenschaft eines Wortes bezeichnet werden, inwiefern es als Bezeichnung einer Sache innerhalb des Sprachsystems auffällig ist.57 Grundlage von derartigen Ausdruckswirkungen sind Motiviertheit, Sprachform und implizite Bewertungen. Auf dem Nullpol von Expressivität in diesem Sinne liegen vollkommen arbiträre Zeichen in prototypischer, unauffälliger Sprachform und ohne bewertende Konnotationen. Ein hoher Grad an Expressivität besteht, wenn ein Wort mehr an Informationen, Assoziationen und Einstellungen übermittelt, als zur bloßen Identifizierung einer Sache erforderlich ist oder wenn es formal von prototypischen oder erwarteten Formstrukturen abweicht. Nach KOCH / OESTERREICHER (1996, 73) lässt sich inhaltliche Auffälligkeit als Resultat eines Widerspruchs zu den GRICE’schen Konversationsmaximen verstehen. Die Art und Weise von Motiviertheit korreliert mit Anschaulichkeit. Anschaulichkeit können wir definieren als relativ direkte Herstellung einer unmittelbaren mentalen Präsenz einer sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit in der Sprachrezeption.58 Anschaulich in diesem Sinne sind beispielsweise Ausdrücke mit einem Benennungsmotiv, das unmittelbar ein visuell und körperlich konkret erlebbares Konzept evoziert. Das prototypische Verfahren dafür sind Metaphern. Anschaulich in diesem Sinn sind etwa die Bezeichnung von Buschbohnen als »Hockerli« (SDS VI 197), oder der Schneidebank zur Bearbeitung von Holz als »Esel« (SDS VIII 158). Anschaulich sind ferner naturgemäß Onomatopoetika, deren Lautform unmittelbar die Sache selbst evoziert. Anschaulichkeit geht oft einher mit einem Überschuss an Evokations- und Assoziationsgehalt über das sachlich Notwendige 56 57

58

Entsprechend der Stildefinition bei SANDIG (2006, 9): „Mit Stil wird die sozial relevante (bedeutsame) Art der Handlungsdurchführung in die Perspektive genommen.“ Allgemein zu Expressivität s. PUSTKA (2015). PUSTKA behandelt Expressivität vor allem als konkrete Eigenschaft von sprachlichen Handlungen und nicht als übergeordnete semiotische Kategorie, unter die dann auch Unauffälligkeit fallen würde. Dazu fokussiert sie die Funktionen von Expressivität und bezieht auch Aspekte der Performanz ein. In unserem Zusammenhang sind vor allem lexikalische Eigenschaften relevant; Funktionen der Expressivität werden vor allem im Zusammenhang mit der Motivation von Innovation und deren formalen Eigenschaften wichtig. S. auch PUSTKA (2015, 170–180) („Inhaltliche Konkretisierung“).

Bezeichnungsstile

223

hinaus und damit mit Expressivität. Ein Benennungsmotiv, das eine konkrete Handlung mit vielen sinnlich unmittelbar wahrnehmbaren Aspekten evoziert, ist anschaulicher und expressiver als eines, das auf eine Handlung mit Bezug auf einen allgemeinen Zweck verweist. In diesem Sinne ist die Bezeichnung der Ofenkrücke als »Chratzer« anschaulicher und expressiver als die Bezeichnung »Zieche« (zu ›ziehen‹) (SDS VII 110). Als Faktoren der Expressivität können auch Konnotationen mit Bewertungen gelten. Diese werden in der Regel über den Verweis auf eine entsprechend bewertete Sache in der Bezeichnung hergestellt. Musterbeispiele sind »Söiblueme« (›Saublume‹, SDS VI 123), wo die Charakterisierung als Pflanze für die Sau diese implizit als mindertwertig charakterisiert, oder die Bezeichnung des Taschentuchs als »Schnuderfätze« (SDS V 139), wo sowohl mit dem Bestandteil »Schnuder« als direkte Benennung des an sich unappetitlichen Nasenschleims wie mit »Fätze« ›Fetzen‹ (‘ungestaltes abgerissenes Stück Stoff’) Assoziationen zu negativ bewerteten Sachen verbunden sind. Unabhängig von Motiviertheit kann Expressivität auch auf rein formaler Ebene durch die willkürliche Abweichung einer Wortform von der prototypischen Wortgestalt gegeben sein. Dies ist nicht selten in Zusammenhang mit assoziativer Abwandlung der Fall, etwa bei der Bezeichnung der Ameise als »Umbeissgi« (SDS VI 229), des Veilchens als »Gufihööndli« (SDS VI 119) oder des Verspottens mit einer Gebärde als »Giixgägi (mache)« (SDS V 108). Häufig sind derartige Wortformen zusätzlich mit unklaren inhaltlichen, aber sachlich irrelevanten Assoziationen verbunden, so wenn die Ameise als »Bäramsle« (SDS VI 229) oder der Nagelfrost als »Chuenagel« (SDS IV 59) bezeichnet wird (s. dazu auch Abschnitt 2.2.1.5). Expressivität bekundet bestimmte Einstellungen zur Sache. Wer eine Sache mit einem Ausdruck bezeichnet, der mehr Assoziationen weckt und Inhalte übermittelt, als zur Bezeichnung der Sache erforderlich ist, zeigt eine besonders nahe, meist affektiv geprägte Einstellung zur Sache. Insbesondere basiert Anschaulichkeit auf einer besonders konkreten Erfahrung der Sache. In der Regel sind damit auch bestimmte Bewertungen verbunden. Expressivität korreliert mit der Dimension von „Nähe – Distanz“ (KOCH / OESTERREICHER 1996). Bezeichnungsstil ist zunächst eine Kategorie des Sprachgebrauchs in der individuellen Kommunikationssituation und nicht des Lexikons. Stilinhalte und Stilwirkungen von individuellen, innovativen Sprachverwendungen bleiben aber in der Regel auch erhalten, wenn diese Innovationen konventionalisiert werden, solange die Konnotationen aufgrund der Motiviertheit und der Sprachform erhalten bleiben.59 Wenn sie in mehreren Heteronymen eines Onomems parallel auftreten, werden sie zu einem Merkmal von ganzen Variantenmustern. In Variantenmustern können expressive Ausdrucksweisen mehr oder weniger stark vertreten sein, können sich Tendenzen zu mehr oder weniger Expressivität manifestieren. Variantenmuster können sich in unterschiedlichen Graden der Expressivität der vor59

Zum Zusammenhang von Expressivität und Sprachwandel s. auch KOCH / OESTERREICHER (1996) und PUSTKA (2015, 70–85).

224

Variantenmuster in der Synchronie

kommenden Heteronyme unterscheiden. Darin zeigen sich allgemeinere Einstellungen von Sprechergruppen zu bestimmten Sachen. Männliche Kleidung wird beispielsweise ausschließlich mit sachlichen, nicht-expressiven Ausdrücken bezeichnet, im Unterschied zum Esslätzchen oder zum Taschentuch, oder der Marienkäfer wird häufiger mit expressiven Ausdrücken benannt als der Maikäfer.60 4.11 SCHLUSSFOLGERUNGEN In den vielfältigen synchronen Erscheinungsformen von Heteronymie zeigen sich die möglichen Benennungsstrategien für bestimmte Konzepte, die Veränderungen von Benennungen in der Zeit, und schließlich, welche lexikalischen Schichtungen sich daraus entwickeln können. Ähnlichkeiten zwischen Benennungen eines Konzepts können in bestimmten deskriptiven Verfahren liegen, sie können sich aber auch aus rein formalen Entwicklungen ergeben. Die Bedeutung der Motiviertheit in einem Wortschatz wird durch diese Entwicklungen relativiert, zumindest in synchroner Sicht. Daraus ist aber nicht zu schließen, dass Heteronymien prinzipiell aus völlig chaotischen Variantenmustern bestünden, (wenn man da noch von ‚Mustern‘ sprechen kann). Auch in heterogenen Heteronymien mit großer Heteromorphie lassen sich in der Regel Muster erkennen, die als solche identifizierbar und beschreibbar sind. Es sind Resultate von typischen diachronen Entwicklungen, die nicht selten auch gewisse Benennungstraditionen und allgemeine Formbildungsstrategien erkennen lassen. Auch die Heterogenität der Heteromorphie lässt sich vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen typisieren.

60

S. auch die Abschnitte 6.2.5 und 6.5.2.

5 AREALE DISTRIBUTIONSMUSTER 5.1 MERKMALE AREALER DISTRIBUTIONSMUSTER Heteronyme können im Raum auf unterschiedliche Art verteilt sein, unterschiedliche ‚areale Distributionsmuster‘ bilden. Unter einem arealen Distributionsmuster wird hier die besondere Art und Weise verstanden, wie die Heteronyme eines Onomems im Raum verteilt sind. Als individuelle lexikalische Erscheinungen sind areale Distributionsmuster nicht gleichzusetzen mit dialektgeografischen Raumstrukturen (‚Dialektareale‘, ‚Sprachlandschaften‘). Letztere beschreiben die räumliche Ausdehnung von Varietäten, d. h. von Kombinationen von korrelierten kookkurrenten Varianten (BERRUTO 2010, 229) in verschiedenen Dimensionen des Sprachsystems (Lautsystem, Morphologie, Lexik). Die areale Distribution von lexikalischen Varianten im Raum betrifft dagegen nur einzelne onomasiologische Einheiten. Eine Beschreibung der wesentlichen Merkmale der räumlichen Verteilung von Heteronymen kann sich nicht auf die räumliche Geltung einzelner Heteronyme bzw. die Grenzen dazwischen (die Isoglossen) an sich beschränken; sie muss weitere lexikalische und areale Merkmale dieser Verteilung mit einbeziehen:1 A lexikalische Diversität geringe – hohe Zahl von Heteronymen Onomeme können aus unterschiedlich vielen Heteronymen bestehen. Je größer die Zahl der Heteronyme, desto höher ist die lexikalische Diversität. Als Maß der Diversität wird im Folgenden die Zahl der vorkommenden Heteronyme angegeben. Als Variante werden hier im Rahmen der onomasiologischen Fragestellung nur Varianten in Bezug auf lexikalische Unterschiede gerechnet. Rein lautliche oder phonologische Varianten oder Varianten der Wortbildung (beispielsweise 1

Vgl. dazu auch PICKL (2013, 104–109). PICKL unterscheidet: – Komplexität (Grad der Zergliederung in kontingente Teilgebiete – wie zersplittert ist ein Gebiet?), – Kompaktheit (mittleres Auftretensgewicht einer Variante in einem Auftretensgebiet – wie dominant ist eine Variante gegenüber anderen Varianten?), – Homogenität (Durchmischung von verschiedenen Varianten in einem Gebiet – wie viele verschiedene Varianten treten in einem Gebiet gleichzeitig auf?). PICKLS Kategorien decken sich nicht ganz mit den hier aufgeführten. PICKL entwickelt die Kategorien, um sie statistisch zur Berechnung entsprechender Zahlenwerte verwenden zu können. Dies wird hier nicht versucht; damit entfällt die Möglichkeit eines direkten numerischen Vergleichs einzelner Karten. Andererseits werden in statistischen Berechnungen die einzelnen Ausgangsdaten, vor allem lexikalische Differenzen und Ähnlichkeiten naturgemäß nivelliert. Der Zweck bei PICKL ist, räumliche Strukturen aufgrund von lokalen Dialektunterschieden zu berechnen, was hier nicht im Fokus steht.

226

Areale Distributionsmuster

unterschiedliche Wortbildungsmorpheme oder zusätzliche Diminutivbildungen) werden hier als onomasiologisch sekundär ausgeklammert und zusammen als eine Variante gerechnet. Abgrenzungen zwischen rein lautlicher oder morphologischer Entwicklung und lexikalischer Eigenständigkeit sind allerdings oft schwierig. B Ausgewogenheit der räumlichen Verteilung – Gewichtsdifferenzen gleichmäßige – ungleichmäßige Aufteilung der Räume für die einzelnen Heteronyme Die Räume, welche die einzelnen Heteronyme einnehmen, können unterschiedlich groß sein. Die verschiedenen Heteronyme können im Vergleich einigermaßen gleichmäßig große Räume einnehmen, bezogen auf den ganzen Raum das gleiche Gewicht haben, oder ein einzelnes Heteronym kann räumlich dominieren und die übrigen Heteronyme sind auf kleinere Teilräume beschränkt. Hohe Diversität kann sich auch auf einen kleineren Teilraum beschränken. Je ähnlicher der Raumumfang ist, den die verschiedenen Heteronyme im gesamten Raum jeweils einnehmen, desto desto geringer sind die Gewichtsdifferenzen. C (großräumige) Durchmischung klare Grenzen – große Varianzräume zwischen Heteronymen Die Abgrenzung der Geltungsbereiche von Varianten kann mehr oder weniger unscharf sein. Oft kommen in einzelnen (größeren) Regionen mehrere Varianten gleichzeitig vor, es besteht regionale Varianz (s. Abschnitt 3.7.3). Je größer die Zahl von Orten ist, für die mehrere Varianten angegeben werden, desto höher ist die Durchmischung. Dieses Maß kann theoretisch zusätzlich nach unterschiedlichen Variantenkombinationen differenziert werden (d. h. als Durchmischung in Bezug auf Variantenmengen x1 – x2 bzw. x2 – x3). Die Werte der einzelnen Dimensionen sind grundsätzlich voneinander unabhängig, abgesehen davon, dass eine geringe lexikalische Diversität automatisch mit geringen Werten in den anderen Dimensionen einhergeht. Die Mehrdimensionalität und die graduellen Abstufungen führen dazu, dass eine Klassifizierung in scharf abgrenzbare Typen oder eine eindimensionale Skala der Komplexität nicht möglich ist. Intuitiv erscheint ein Distributionsmuster, das in allen Dimensionen hohe Werte zeigt, als sehr komplex, auf der anderen Seite ein Distributionsmuster, das nur minimale Werte aufweist, als sehr einfach. Dazwischen gibt es aber sehr unterschiedliche Verteilungen von Werten in den einzelnen Dimensionen mit ungleich verteilten Teilkomplexitäten. Weitere Komplexitätsmerkmale zur Charakterisierung von Verteilungsmustern sind denkbar. Zur Differenzierung der Charakteristiken der Verteilung könnte man ein zusätzliches Merkmal ‚Ballung von Diversitäten‘ einführen: Ist Diversität in einzelnen Teilräumen höher als in anderen? Das Merkmal erscheint in der nachfolgenden Typisierung implizit in der Form von Zusatzkriterien. Es wird nicht als gesonderte Kategorie aufgeführt, um die Darstellung nicht zu überfrachten. Als weiteres Raummerkmal könnte ferner die Kohärenz der Verteilung einzelner Heteronyme einbezogen werden: Ein Heteronym kann u. U. in mehreren, räumlich voneinander getrennten Bereichen vorkommen. Dieses Phänomen

Typen arealer Distributionsmuster

227

kommt nicht selten als Resultat von Diffusionsprozessen zustande, bei denen ein ursprünglich zusammenhängender Raum nachträglich durch die Diffusion eines weiteren Heteronyms zerteilt wird. Dieses Phänomen ist ein sekundäres Resultat von Diffusionsprozessen und wird im Folgenden ausgeklammert.2 Jede Typisierung ist eine Reduktion der Komplexitätsmerkmale auf eine Auswahl. 5.2 TYPEN AREALER DISTRIBUTIONSMUSTER Auf der Grundlage der kombinierten Werte der einzelnen Komplexitätsdimensionen lassen sich theoretisch gewisse Komplexitätstypen bei Distributionsmustern definieren. Eine scharfe Abgrenzung zwischen derartigen Typen ist allerdings nicht möglich, da die Werte fließend sind. Im Folgenden werden einige typische Kombinationen von Komplexitäten, wie sie im SDS vorkommen, exemplarisch angeführt, ohne dass damit eine erschöpfende Systematik von Distributionsmustern beabsichtigt ist. –

Distributionsmuster a: Einheitlichkeit – minimale Komplexität lexikalische Diversität

Gewichtsdifferenzen

Minimal (1 Heteronym)



großräumige Durchmischung –

An dem einen Ende einer Komplexitätsbewertung finden sich die Onomeme von einer minimalen Komplexität, mit einer einheitlichen gleichen Bezeichnung für eine Sache im ganzen Dialektgebiet. Derartige areal einheitliche Bezeichnungen sind naturgemäß in onomasiologischen Wortschatzdarstellungen aufgrund des sprachgeografischen Erkenntnisinteresses nur ausnahmsweise vertreten, und wenn, dann aus speziellen Gründen, so etwa, um lautgeografische oder morphologische Probleme darzustellen. Wortgeografisch gesehen sind derartige Fälle uninteressant, auch wenn sie im Wortschatz des Schweizerdeutschen zahlenmäßig sicherlich überwiegen. Die Auswahl an wortgeografischen Karten und Fragestellungen in den entsprechenden Bänden der Sprachatlanten zeigen also nicht unbedingt den Normalfall der dialektalen Verhältnisse, sondern die markierten Fälle von Diversität. Den minimalen Fall der onomasiologischen Komplexität findet man dafür in Lautkarten repräsentiert, etwa zu „Abend“ (SDS I 61), „Bett“ (SDS I 15), „Schnee“ (SDS I 95) oder „Fliege“ (SDS I 136) (immer unter der Voraussetzung, dass die Wortformen in der ganzen Region die gleiche Bedeutung haben).

2

S. jedoch die Bemerkungen dazu in Abschnitt 5.4.

228 –

Areale Distributionsmuster

Distributionsmuster b: Stabile Großräumigkeit mit niedriger Diversität lexikalische Diversität niedrig (2–3 Heteronyme)

Gewichtsdifferenzen niedrig

großräumige Durchmischung minimal

Typisch für die Strukturierung des Schweizerdeutschen als Ganzes sind bestimmte einfache Muster mit wenigen Heteronymen, die zudem gleichmäßig und mit relativ klarer Abgrenzung verteilt sind. Diese Muster zeigen sich am häufigsten in der klassischen West-Ost-Teilung des Schweizerdeutschen mit zwei Varianten. Das Standardbeispiel ist „Küchenzwiebel“, jedoch findet sich das Muster in zahlreichen anderen Omonemen: •

„Küchenzwiebel“ (SDS VI 179, KSDS 154) (Karte 36) Einfache West-Ost-Teilung in »Zibele« im Westen und »Böle« im Osten.

Karte 36: „Küchenzwiebel“ (SDS VI 179)



„annähen (Knopf)“ (SDS VII 77) (Karte 1, S. 89) Einfache West-Ost-Teilung mit »(aa-)nääije« im Westen und »büeze« im Osten.

Typen arealer Distributionsmuster

229



„mit Aschenlauge waschen“ (SDS VII 88, KSDS 202) Zwei- bzw. Dreiteilung mit »buuche« im Westen und Südosten und »seechte« in der Mitte. Die räumliche Komplexität ist im Vergleich zu „Zwiebel“ insofern größer, als das Gebiet von »buuche« inkohärent und unzusammenhängend auf zwei getrennte Regionen verteilt ist.



„Butter“ (SDS V 179, KSDS 100) »Anke« im Westen (im WS »Aichu« u. ä.) und »Schmalz« im Osten, wobei »Schmalz« von einem eindringenden »Butter« überlagert wird. (An vereinzelten Orten kommen zusätzliche Formen vor, in BE-Simmental »Schmutz«, in GR-Obersaxen »Brütschi«, was aber das Gesamtbild nicht verändert).

Neben Mustern, die typischen sprachgeografischen Strukturen entsprechen, gibt es bei diesem Typ auch andere räumliche Aufteilungen. •

„Fasnachtslarve“ (SDS V 63, Karte 37) Die Bezeichnungen der Fasnachtslarve setzen sich aus drei Bezeichnungstypen zusammen, die geografisch relativ klar voneinander getrennt sind und ungefähr gleichgroße Gebiete umfassen: Norden, Osten, WS »Laarfe« ›Larve‹; BE »Laarfegsicht« ›Larvengesicht‹; Zentralschweiz (LU, UW, UR, Teile von SZ) »Maschgere« (GR »Maschgele«) zu ›Maske‹.

Karte 37: „Fasnachtslarve“ (SDS V 63)

230 –

Areale Distributionsmuster

Distributionsmuster c: Labile Großräumigkeit mit geringer Diversität lexikalische Diversität

Gewichtsdifferenzen

niedrig (2–3 Heteronyme)

niedrig

großräumige Durchmischung hoch

Die großräumige Verteilung von einigen wenigen Varianten kann mit starker Durchmischung der Varianten in den Berührungszonen einhergehen. Dieses Distributionsmuster der labilen Großräumigkeit deckt sich ebenfalls mit dem typischen Strukturmuster des Schweizerdeutschen in der Form einer Nord-SüdStaffelung. •

„kauern“ (SDS IV 39, KSDS 64) (Karte 38) Die Heteronymie von „kauern“ besteht aus drei Worttypen, teilweise mit kleineren Varianten. Im Norden wird kauern als »huure« bezeichnet, im Westen, in der Innerschweiz und in GL und SG-Ost als »gruupe« (mit Nebenformen wie »groppe«), im Nordosten entlang des Bodensees und in GR als »hocke«. In den Regionen, in denen diese Bezeichnungen aufeinandertreffen, besteht im Gebrauch oft Variabilität.

Karte 38: „kauern“ (SDS IV 39)

231

Typen arealer Distributionsmuster



„Hahn“ (SDS VIII 94, KSDS 176) (Karte 21, S. 145) Für den Hahn gibt es relativ wenige Ausdrücke, im Norden »Güggel«, im Nordosten »Gugel«, in SZ »Guli«, im Süden »Han(e)«. In weiten Gebieten von »Han(e)« und »Guli« ist aber auch »Güggel« vertreten, d. h. „Hahn“ ist in diesen Regionen durch hohe Durchmischung gekennzeichnet.



„(ein-/aus-)gießen“ (SDS V 218) Die Heteronymie für „(ein-/aus-)gießen“ besteht aus den drei Varianten »lääre«, »schütte« und »lööse«. Die einzelnen Formen sind aber sehr diffus gestreut. Außer in der östlichen Mitte und im Nordosten sind am einzelnen Ort fast überall alle drei Varianten vertreten. Allerdings kann man im Einzelnen gewisse Ungleichmäßigkeiten feststellen: »Lääre« ist praktisch im ganzen Bereich vertreten, »schütte« ebenfalls, mit Ausnahme des Nordostens, in WS gilt nur »lööse«, das im Übrigen in einem größeren südwestlichen, alpinen und voralpinen Bereich verbreitet ist.



Distributionsmuster d: Großräumigkeit mit kleinen lexikalischen Inseln lexikalische Diversität

Gewichtsdifferenzen

niedrig bis mittel

sehr hoch

großräumige Durchmischung niedrig

Ein typisches Distributionsmuster besteht darin, dass einerseits eine dominierende Variante in einem größeren Raum gilt, in kleineren Teilregionen aber einzelne andere Varianten vorkommen. Dieses Muster kann mit unterschiedlichen Formen der Großräume kombiniert sein. Außerdem können die Teilgebiete unterschiedlich umfangreich sein. •

„Holzsplitter in der Haut“ (SDS IV 29, KSDS 88) Die Heteronymie für den Holzsplitter in der Haut wird im Norden durch die Formen »Spriiss(el)e« und »Spiiss(e)« dominiert, dazu kommt in WS »Schine«. Im äußersten Westen in FR findet sich kleinräumig eine Bezeichnung »Schipfe«.



„kochen (Fleisch)“ (SDS V 205) In der Mitte, im Osten und in WS gilt »siede« ›sieden‹. Iin einem kleineren Gebiet im Westen und Nordwesten gilt überwiegend »choche« ›kochen‹, darin findet sich wiederum in einem Teilgebiet davon gestreut »(g)schwelle«.



„Zöpfe“ (SDS IV 7, KSDS 8) (Karte 39) Die Haartracht der Zöpfe wird hauptsächlich als »Zöpf« oder »Züpfe« bezeichnet. (Der Unterschied zwischen den beiden Varianten geht auf alte morphologische Unterschiede aus germanischer Zeit zurück, so dass unklar ist, ob die beiden Formen als eine oder zwei Varianten gelten sollen.) Daneben sind im Südwesten zwei regional weniger weit verbreitete Varianten gebräuchlich: Die Entlehnung »Trütsche« oder »Tretsche« (zu ital. treccia) und »Flächti« ›Flechte‹ ‘Geflecht’.

232

Areale Distributionsmuster

Karte 39: „Zöpfe“ (SDS IV 7) Das dominante Gebiet kann auch selbst in zwei oder drei Großräume aufgeteilt sein. •

„holen“ (SDS V 215) Im Westen gilt für ‘holen’ allgemein »reichen«, im Osten »holen«; in der Grenzzone werden nebeneinander beide Formen erwähnt, wobei »reiche« im Allgemeinen als die ältere Form bezeichnet wird. In einem relativ kleinen Teilgebiet im Südosten (GR) besteht große Variabilität: Teils wird zwischen *holen* und *bringen* konzeptuell und sprachlich kein Unterschied gemacht, teils werden für *holen* Formulierungen wie ›um ... gehen‹ verwendet, da »hole« die Bedeutung ‘bringen’ hat.



„Brotrinde“ (SDS V 173, KSDS 98) Das Dialektgebiet ist in drei Großregionen aufgeteilt: Im Norden stehen sich westlich »Rauft« (< ›Ranft‹) und östlich »Rinde« gegenüber, in WS und GR gilt «Gruschte«. In einem relativ kleinen Gebiet im Südwesten von BE (BESimmental) wird die Brotrinde stattdessen als »Schwarte« bezeichnet.

233

Typen arealer Distributionsmuster –

Distributionsmuster e: Großräumigkeit mit unterschiedlich stark diversifizierten Teilgebieten lexikalische Diversität mittel, in großen Teilgebieten hoch

Gewichtsdifferenzen hoch

großräumige Durchmischung niedrig

Nicht selten steht einem oder zwei großen einheitlichen Gebieten ein ähnlich großes Gebiet gegenüber, das in sich mit vielen Varianten stark diversifiziert ist. Die Ähnlichkeit bzw. Heterogenität der Heteronyme ist unterschiedlich je nach Onomem. •

„werfen (Steine)“ (SDS V 104, KSDS 70) Die Mitte und der Osten sind relativ einheitliche Regionen: In der Mitte gilt »rüere«, im Osten »wärffe« (mit einzelnen verstreuten Einzelheteronymen). Der Westen ist sehr viel differenzierter strukturiert. Regional unterschiedlich verteilt und stark durchmischt gelten nebeneinander »bängle«, »schiesse«, »schlaa/schloo«, »schmeize«, »wärffe«.



„Viehweglein“ (SDS VI 73) (Karte 22, S. 146) In einem alpinen Bereich gelten unterschiedliche Formen des Typs ›Treue/ Treie‹. Nördlich davon und in UR dominieren Bildungen mit ›Weg‹, z. B. »Chüewääg(li)« ›Kuhweglein‹, »Wäidwäääg(li)« ›Weidweglein‹, »Fuesswääg(li)« ›Fußweglein‹, daneben solche mit ›Tramp‹, ›Tritt‹ und ›Stufe‹.



„Veilchen “ (SDS VI 119) Die Heteronymie zum „Veilchen“ ist zweigeteilt: Im Westen gelten einheitlich Varianten mit der Ausgangsform »Viieli/Veieli« (je nachdem, ob Diphthongierung in Hiatusstellung erfolgt ist oder nicht).3 In der östlichen Hälfte findet sich eine reiche Heteronymie, die durch assoziative Abwandlungen aus einer Ausgangsform »Fioole«/»Fiööli« entwickelt worden ist. Die lexikalische Differenz ist letztlich in einer unterschiedlichen Akzentuierung der mhd. Ausgangsform vîol begründet: Im Westen wurde der erste Vokal akzentuiert, was zu einer Abschwächung des zweiten Vokals führte. Die östlichen Formen gehen auf eine Akzentuierung auf dem zweiten Vokal /-oo-/ zurück.4



Distributionsmuster f: Großräumigkeit mit kleineren Gebieten mit hoher Diversität

3 4

lexikalische Diversität

Gewichtsdifferenzen

gering bis mittel, in kleinen Teilgebieten hoch

hoch

großräumige Durchmischung mittel

Zur Diphthongierung in Hiatusstellung bei mhd. î s. SDS I 148 „schneien“. Zum Einzelnen s. Abschnitt 6.2.4, S. 300.

234

Areale Distributionsmuster

Eine Kombination der Distributionsmuster d und e stellt die Situation dar, wo einer großen einheitlichen Gegend eine zweite, kleinere Region mit sehr hoher Diversität gegenübersteht. •

„niesen“ (SDS IV 67) (Karte 49, S. 250) Geografisch dominierend sind unterschiedliche Wortbildungen mit dem Stamm ›niesen‹. In einem mittleren Streifen zwischen Thunersee und AG finden sich stattdessen alternative Varianten: »pfipfe«, »pfluggse«, »pfnuchse«, »häpsche« (z. T. mit zusätzlichen Abwandlungen). Weitere inselartige Vorkommen von sonstigen Formen finden sich in UW mit »pfäggse« und ganz im Osten in SG entlang des Rheins mit »pfnitze« und »pfnüsle«.



„Sommersprossen“ (SDS IV 43–44) (Karte 40) Für ‘Sommersprossen’ gilt in einem großen westlichen Gebiet die Bezeichnung »Laubfläcke« ›Laubflecken‹. Im einem kleineren Gebiet im Nordosten konzentriert finden sich demgegenüber eine große Varianz von Abwandlungen zu einem Muster »Merzefläcke« ›Märzflecken‹ mit »Merzedräck«, »Merzespriggele«, »Merzeblueme«, »Merzeschiss« u. a. m.

Karte 40: „Sommersprossen“ (SDS IV 43–44)

235

Typen arealer Distributionsmuster –

Distributionsmuster g: Mittlere Diversität mit gleichmäßiger und klarer regionaler Abgrenzung lexikalische Diversität

Gewichtsdifferenzen

mittel

niedrig

großräumige Durchmischung niedrig

Mittlere Diversität kann sich in gleichmäßig großen, relativ klarer abgegrenzten Teilräumen realisieren. •

„Buschbohne“ (SDS VI 197) (Karte 41) Die Buschbohne wird in einer Gruppe von Heteronymen mit Lexemen benannt, die von Bezeichnungen des Kauerns abgeleitet sind (»Gruuper«, »Gruupli« usw. zu »gruupe«, »Groppli« zu »groppe«, »Huuriboone« zu »huure«). Ein sehr ähnliches Motiv liegt einer zweiten Gruppe von Benennungen zugrunde, die auf dem Benennungsmotiv KRIECHEN basieren (»Schnaagger[li]«, »Schnaaggi«, »Schnaagiboone« zu »schnaagge« und »Rütscherli« zu »rutsche«).5

Karte 41: „Buschbohne“ (SDS VI 197)

5

S. auch Abschnitt 4.2.1, S. 185.

236 –

Areale Distributionsmuster

Distributionsmuster h: Mittlere Diversität mit gleichmäßiger Verteilung im Raum und starker Durchmischung lexikalische Diversität mittel (5–10 Heteronyme)

Gewichtsdifferenzen niedrig

großräumige Durchmischung hoch

Mittlere Diversität, die gleichmäßig große Teilräume belegt, kann einhergehen mit starker Mischung von Varianten. •

„Oberteil des männlichen Anzugs“ (SDS V 123, KSDS 204) (Karte 42) Für das Oberteil der männlichen Kleidung (Sakko) gibt es in der Hauptsache fünf Bezeichnungstypen, die relativ gleichmäßig verteilt sind: »(T)schooppe«, »Chittel«, »Chutte«, »Rock«, »Mutze« und (in einem kleineren Gebiet in BEHaslital) »Schlufi«. Vor allem im westlichen Norden sind die Vorkommen »Chittel«, »Mutze« und »Rock« so stark gemischt und gestreut, dass eine regionale Abgrenzung der jeweiligen Geltungsgebiete kaum möglich ist.

Karte 42: „Oberteil des männlichen Anzugs“ (SDS V 123)

237

Typen arealer Distributionsmuster



„Spielpuppe“ (SDS V 73) Für die Spielpuppe existieren eine überschaubare Zahl von Heteronymen, in der Hauptsache die Typen »Baabe«/»Bääbi«, »Titti« (mit Diminutiven), »Poppe/Poppi«, »Puppe« (meist auch als Diminutive), ferner in kleineren Regionen »Toche«, »Togge«, »Tolgg«, und »Määge«. In den Grenzregionen existieren aber sowohl Überlagerungen mehrerer Formen wie Mischungen aus zwei Formen. – Distributionsmuster i: Hohe Diversität mit gleichmäßiger Verteilung im Raum und klarer regionaler Abgrenzung lexikalische Diversität

Gewichtsdifferenzen

hoch (mehr als 10 Heteronyme)

niedrig

großräumige Durchmischung niedrig

Dass große Diversität in klar abgegrenzte Teilgebiete gegliedert ist, kommt selten vor. Auch wo klare Isoglossen überwiegen, finden sich bei großer Diversität immer auch Teilgebiete mit starker Durchmischung. Am nächsten kommen diesem Muster von großer Diversität bei geringer Durchmischung „Bonbon“ (SDS V 212) und „Schnabel des Milchkrugs“ (SDS VII 197). •

„Bonbon“ (SDS V 212, KSDS 104) (Karte 43)

Karte 43: „Bonbon“ (SDS V 212)

238

Areale Distributionsmuster

Für das Bonbon finden sich im Schweizerdeutschen etwa siebzehn Varianten (je nachdem, wie weit man man die verschiedenen Variationen zu ›Bonbon‹ als eigene Lexeme zählt.). Die Varianten sind überwiegend in klar abgegrenzten Gebieten ohne Durchmischung der Varianten vertreten. Innerhalb des ganzen Gebiets mit insgesamt großer Heterogenität der Formen findet sich im Osten zwischen GL, SG und GR eine Region, in der ähnliche Zusammensetzungen und Ableitungen mit ›Zucker-‹ dominieren: »Zuckerstei«, »Zuckerboone«, »Zuckerbolle«, »Zuckermöckli«, »Zückerli« (s. auch Abschnitt 5.4.2, S. 250). –

Distributionsmuster k: Sehr hohe Diversität mit hoher Durchmischung lexikalische Diversität sehr hoch (mehr als 20 Heteronyme)

Gewichtsdifferenzen niedrig bis mittel

großräumige Durchmischung sehr hoch

Maximale Komplexität von Distributionsmustern besteht darin, dass in der Diversität und der Durchmischung hohe Werte erreicht werden. Da in solchen Fällen bei der Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Varianten keine großen Unterschiede bestehen und alle ähnlich beschränkt vorkommen, sind die Gewichtsdifferenzen gering. Bei hoher Diversität, kombiniert mit starker Durchmischung ist eine realistische Darstellung der räumlichen Verteilung der Varianten in einer Flächenkarte kaum mehr möglich. 6 Die hohe Diversität und Durchmischung geht meist einher mit großer Streuung von Einzelformen, die nur an einem einzelnen Ort angegeben werden. Einfachere Beispiele mit einer Zahl von ca. zwanzig Varianten sind „Pfütze“ (SDS VI 40, KSDS 188) (Karte 23, S. 148) und „stürmisch schneien“ (SDS VI 47). Mehr als dreißig Varianten finden sich beispielsweise in „Anfangsstück des Brotes“ (SDS V 171) (Karte 14, S. 118), „quatschen (von durchnässten Schuhen)“ (SDS VI 41) (Karte 50, S. 251), „Huckepack tragen“ (SDS V 77), „Spinnwebe“ (SDS VI 240). Extreme Fälle einer hohen Diversität finden sich vor allem in Bezeichnungen von Kinderspielen, beispielsweise „Fangen spielen“ (SDS V 86, KSDS 138) oder „Purzelbaum machen“ (SDS V 80, KSDS 142) mit jeweils mehr als 150 Heteronymen.

6

Eine Flächenkarte wie jene zu „Pfütze“ in KSDS 188 ist eine starke Vereinfachung, die für eine Interpretation zu dialektologischen Zwecke durch den direkten Blick in die Symbolkarte in SDS VI 40 zu ergänzen ist.

Dynamische Hintergründe von arealen Distributionsmustern

239

5.3 DYNAMISCHE HINTERGRÜNDE VON AREALEN DISTRIBUTIONSMUSTERN 5.3.1 Innovation und Diffusion als Einflussfaktoren Die Unterschiede zwischen arealen Distributionsmustern stehen in Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Zusammenwirken von Innovation und Diffusion über die Zeit. Diese beiden Prozesse beeinflussen die Entwicklung der arealen Distribution auf komplexe Art. Einerseits haben sie gegensätzliche Auswirkungen: (a) Lokale Innovation erzeugt Diversität. –› Je häufiger Innovation stattfindet, desto größer ist die Diversität. (b) Diffusion reduziert Diversität. –› Je länger Diffusion ohne Innovation anhält, desto geringer ist die Diversität. Daraus ergeben sich folgende Korrelationen: –

Wenn die lokale Innovationsintensität höher ist als die Diffusionsintensität, ist das Resultat relativ hohe areale Diversität. –› Hohe Diversität ist ein Indiz für sprachliche Diskontinuität und Labilität.



Wenn die lokale Innovationsintensität geringer ist als die Diffusionsintensität, ist das Resultat relativ geringe areale Diversität. –› Geringe Diversität ist ein Indiz für sprachliche Kontinuität und Stabilität.

Innovation und Diffusion interagieren zweitens in der Zeit. Wenn die lokale Innovation frequenter ist als die Geschwindigkeit und Reichweite der Diffusion, dann resultiert daraus größere Diversität. Wenn die Diffusion schneller und expansiver ist als die Frequenz der Innovation und im Vergleich länger anhält, können durch die Diffusion Innovationen fortlaufend wieder überdeckt werden. Dadurch relativiert sich die Zuverlässigkeit von Diversität als Indiz für längerfristige Kontinuität bzw. Diskontinuität. Allgemein lässt sich aus diesen Korrelationen erkennen, dass die Diversität unter anderem auch abhängig ist von den zeitlichen Verläufen, in denen sich Onomemwandel abgespielt hat. Auch ist vorstellbar, dass Innovationsund Diffusionsaffinitäten sich im Verlauf längerer Zeitperioden verändern. Wenn wir die zeitliche Dimension mit berücksichtigen, ergeben sich somit weitere Korrelationen: – –

Geringe Diversität ist ein Indiz für eine Dominanz von Diffusion über Innovation über einen längeren Zeitraum. Hohe Diversität ist ein Indiz für eine Dominanz der Innovation über Diffusion in einem jüngeren Zeitraum.

Großräumigkeit und Kleinräumigkeit von Distributionsmustern können so als Reflexe unterschiedlich dynamischer Entwicklungen in Bezug auf Innovation und Diffusion verstanden werden. Großräumigkeit deutet im Allgemeinen auf alte, stabile Verhältnisse. Entweder ist ältere Heteronymie schon vor langer Zeit durch

240

Areale Distributionsmuster

Diffusion einzelner Formen reduziert worden, oder ein ursprünglich einheitlicher Sprachgebrauch ist zwar durch einzelne Innovationen differenziert worden, die sich aber durch eine längere Periode durch Diffusion durchsetzen und andere Varianten verdrängen konnten. Kleinräumigkeit zeigt entsprechend, dass im Bereich dieses Onomems starke Tendenzen zu lokalen Innovationen bestehen, die sich aber nur schwach durch Diffusion zuungunsten anderer Varianten ausbreiten können. Unterschiedliche Verläufe der Diffusion zeigen sich auch in den Unterschieden in der Durchmischung von Varianten. Voraussetzung ist das bereits mehrfach erörterte Faktum, dass aktueller Sprachwandel mit Varianz verbunden ist. In Bezug auf Diffusion heißt das: (c)

Diffusion erzeugt anfänglich lokale Varianz.

Daraus ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: – –

Größere Zonen von Durchmischung von Varianten sind ein Indiz für eine aktuell stattfindende Diffusion. Abwesenheit von Durchmischung, d. h. klar abgegrenzte Geltungsbereiche von Varianten sind ein Indiz dafür, dass aktuell keine Diffusion stattfindet.

Je differenzierter die Heteronymie ist, desto jünger sind die Innovationen oder desto geringer ist die Tendenz, dass einzelne Heteronyme sich gegenüber anderen Heteronymen durchsetzen. 5.3.2 Detailanalysen In den verschiedenen Distributionsmustern widerspiegeln sich bestimmte historische Entwicklungen einer Heteronymie. Mit manchen Distributionsmustern, wie sie oben angeführt worden sind, lassen sich auch typische Entwicklungsverläufe korrelieren. Je einfacher ein Distributionsmuster ist, desto eher deckt es sich auch mit allgemeinen dialektgeografischen Raumstrukturen. Die Korrelationen zwischen Distributionstypen und Entwicklungsmustern sind allerdings nicht immer eindeutig. –

Distributionsmuster a: Einheitlichkeit – minimale Komplexität

Einheitlichkeit des Wortgebrauchs in einem Dialektgebiet ist mehrdeutig: Sie kann auf Abwesenheit von Innovation innerhalb der historisch greifbaren Zeit zurückgeführt werden. Ob vor diesem historisch greifbaren Zustand Diversität bestand, die durch Diffusion beseitigt wurde, lässt sich in der Regel nicht feststellen. Unter den konkreten historischen Bedingungen der Ausbreitung der alemannischen Sprache in der Schweiz kann sich die Einheitlichkeit aber auch dadurch ergeben haben, dass der ursprüngliche einheitliche Wortgebrauch der Sprachgemeinschaft sich mit der Ausbreitung der Sprachgemeinschaft im Raum selbst geografisch ausbreitete; dabei fand gar keine interdialektale Diffusion statt. Dialektale

Dynamische Hintergründe von arealen Distributionsmustern

241

Einheitlichkeit kann schließlich aber auch durch vertikale Diffusion entstehen, durch gemeinsame direkte Übernahme eines Wortes aus einer alle Dialekte gleicherweise überdachenden Standard- oder Fachsprache. –

Distributionsmuster b: Stabile Großräumigkeit mit niedriger Diversität

Stabile Großräumigkeit mit klaren Grenzen in der arealen Verteilung der Varianten ist ein Indiz, dass seit längerem keine lexikalische Innovation und keine Diffusion mehr stattgefunden hat. –

Distributionsmuster c: Labile Großräumigkeit mit geringer Diversität

Labile dialektale Großräumigkeit ist zu interpretieren als Situation, bei der zwar seit längerem keine lexikalische Innovation stattgefunden hat, aber gegenwärtig intensive Diffusionsprozesse stattfinden. Bei sehr großflächiger lokaler Varianz wie bei „(ein-/aus-)gießen“ (SDS V 217) mit einem häufigen Nebeneinander von »(uus-/ii-)lääre« ›(aus-/ein-)leeren‹ und »(uus-/ii-)schütte« ›(aus-/ein-)schütten‹, ist allerdings auch möglich, dass das Nebeneinander von Varianten auch semantische Differenzierungen beinhaltet, die in der Fragestellung nicht präzis genug erfasst wurden. –

Distributionsmuster d: Großräumigkeit mit kleinen lexikalischen Inseln

Die Situation, dass innerhalb eines dominanten größeren Raumes eine oder mehrere kleinere Inseln mit abweichenden Heteronymen anzutreffen sind, ist historisch zweideutig. Entweder kann durch Diffusion eine Innovation sich auf Kosten älterer Varianten ausgebreitet und letztere zurückgedrängt haben, oder in einem kleinen Gebiet ist eine Innovation eingeführt worden, die aber nur beschränkt diffundiert wird. In den meisten Fällen stellen diese lexikalischen Inseln Randregionen dar, die eine geringe sprachliche Strahlkraft haben. Beide denkbaren Entwicklungen sind mit dieser Situation korrelierbar. Eine Entscheidung, welche Interpretation zutreffend ist, ergibt sich gegebenenfalls aus der lexikalischen Struktur der Varianten. Innovationen sind im Prinzip motivierte Lexeme. Wenn im Falle von „Zöpfe“ (SDS IV 7) (Karte 39, S. 232) in der lexikalischen Insel in BE-OberlandOst die motivierte Variante »Flächti« ›Flechte‹ gilt, im Gegensatz zu den lexikalisch isolierten, unmotivierten Varianten »Trütsche« und »Züpfe«, dann ist dies als lokale Innovation zu interpretieren. –

Distributionsmuster e und f: Großräumigkeit mit einzelnen größeren oder kleineren stark diversifizierten Teilgebieten

Großräumigkeit zeigt einerseits an, dass eine bestimmte Bezeichnung seit längerer Zeit gut etabliert ist. Wenn in Teilgebieten eine stark differenzierte Heteronymie vorhanden ist, ist dies auf spezielle Innovationsprozesse in diesen (mehr oder weniger großen) Teilgebieten zurückzuführen. Die Anlässe, die zu diesen zusätzli-

242

Areale Distributionsmuster

chen differenzierenden Innovationen führen, sind unterschiedlicher Natur. Häufig handelt es sich um sich wiederholende assoziative Abwandlungen. Es gibt jedoch offenbar auch andere Arten von ‚Ansteckungen‘ für besondere Innovationstendenzen, etwa, wenn bei „niesen“ (SDS IV 67) (Karte 49, S. 250) in einem bestimmten Gebiet bevorzugt onomatopoetische Ausdrucksformen eingeführt werden. –

Distributionsmuster g und i: Mittlere oder hohe Diversität mit gleichmäßiger und klar abgegrenzter regionaler Verteilung

Mittlere oder hohe Diversität zeigt eine relativ hohe oder ziemlich hohe Intensität von Innovation im Verhältnis zur Diffusion. Je diversifizierter die Variationen sind, desto weniger sind die einzelnen Innovationen diffundiert worden bzw. desto weniger wurden einzelne Innovationen durch diffundierende verdrängt und desto mehr ist die Verwendung einer einzelnen Variante auf kleinere Regionen und Kommunikationsgemeinschaften begrenzt. Eine gleichmäßige Verteilung der Varianten und eine klare Abgrenzung zwischen ihren Geltungsarealen ist ein Indiz dafür, dass die Innovationen primär am einzelnen Ort ihren Ausgang nehmen und kein starkes Bedürfnis nach Übernahme von Varianten anderer Gegenden besteht. –

Distributionsmuster h: Mittlere Diversität mit gleichmäßiger Verteilung im Raum und starker Durchmischung

Wie bei den Distributionsmustern g und i kann der Grad der Diversität mit einer entsprechenden Tendenz zur Innovation in Verbindung gebracht werden. Die hohe Durchmischung, welche das Distributionsmuster h im Unterschied zu den Typen g und i charakterisiert, ist als Indiz dafür anzusehen, dass diese Innovationen die Tendenz haben, zu diffundieren. Sie kann allerdings auch zeigen, dass der Ausgangspunkt möglicher Innovationen unbestimmt ist und an einem Ort gleichzeitig mehrere Varianten parallel entstehen und dabei die Diffusionsvorgänge sich überlagern können. Je stärker die Durchmischung ist, desto intensiver sind solche Diffusionsprozesse. –

Distributionsmuster k: Sehr hohe Diversität mit hoher Durchmischung

Eine hohe Komplexität der Distribution in allen ihren Dimensionen ist das Ergebnis einer extrem hohen Innovationsrate mit einer extrem niedrigen Diffusionsintensität. Konkret deutet ein solches Distributionsbild darauf, dass die Benennungen primär polygenetisch gebildet werden und ihre Geltung auf kleinere Verwendungsgruppen beschränkt bleibt und nicht von anderen Gruppen übernommen wird. Bei den Korrelierungen von einzelnen Distributionsmustern mit besonderen Ausprägungen des Verhältnisses von Innovation und Diffusion bleibt die Frage nach den Ursachen für die Unterschiede in der Distribution zwischen den einzelnen Onomemen unbeantwortet. Ein wichtiges zusätzliches Merkmal von Diversi-

Distributionsmuster und Variantenmuster

243

tät, die lexikalische Struktur der Onomeme (Ähnlichkeit oder Heterogenität der Heteronyme, Typen von Variantenmustern), bleibt ebenfalls weitgehend ausgeklammert. Diesen Fragen wird in Abschnitt 5.4 und in Kapitel 6 im Detail nachgegangen. 5.4 DISTRIBUTIONSMUSTER UND VARIANTENMUSTER 5.4.1 Kohärente – inkohärente Distribution von Heteronymen Lexikalische Variantenmuster konkretisieren sich im Raum. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen lexikalischen Variantenmustern und Distributionsmustern. Inwiefern stimmt die Distribution im Raum mit allfälligen lexikalischen Zusammenhängen zwischen Heteronymen überein? Übereinstimmung zwischen lexikalischen und räumlichen Zusammenhängen zwischen Heteronymen impliziert räumliche Kohärenz: Zusammengehörige Varianten gelten in solchen Fällen in zusammenhängenden Räumen.7 Bezogen auf das einzelne Heteronym bedeutet räumliche Kohärenz, dass ein solches Heteronym in einer areal klar umrissenen geschlossenen Region gebräuchlich ist, auch wenn die Grenzen in Berührungs- oder Mischzonen mit anderen Heteronymen aufgrund lexikalischer Varianz unbestimmt sein können. Dass ein Lexem in nicht zusammenhängenden Teilregionen unabhängig mehrmals auftritt, also eine räumlich inkohärente Distribution zeigt, ist in manchen Fällen aus den normalen Bedingungen von Innovation und horizontaler Diffusion erklärbar. Ein bekanntes Phänomen der Raumbildung ist, dass durch Diffusion von Innovationen alte zusammenhängende Geltungsgebiete für ein Heteronym in unzusammenhängende Teilbereiche aufgeteilt werden. •

„Stalljauche“ (SDS VII 230, KSDS 182) (Karte 43) Bei „Stalljauche“ werden zwei einzelne Gebiete mit »Bschütti« im Westen und im Nordosten in der Mitte durch einen breiten Streifen von Nordwesten nach Südosten durch eine Region mit »Gülle« getrennt. Unzweifelhaft war »Bschütti« früher auch im heutigen »Gülle«-Gebiet geläufig. Darauf deuten Streubelege in SDS VII 230 sowie Angaben in Id. 8, 1573. Eine alte Großregion »Bschütti« wurde also durch die Diffusion von »Gülle« in zwei getrennte Teilregionen aufgeteilt.

7

Diese Voraussetzung wird explizit oder implizit bei den meisten Diskussionen über Raumstrukturen und deren Interpretation gemacht (vgl. LÖFFLER 2003, 132–135, GLUTH / LOMPA / SMOLKA 1982, 487–494). Vor allem das Konzept der Isoglosse setzt räumliche Kohärenz voraus.

244

Areale Distributionsmuster

Karte 44: „Stalljauche“ (SDS VII 230) Extremere Fälle derartiger Auswirkungen der Diffusion von Innovationen sind Relikte in Randregionen. Ein Beispiel dafür ist das gestreute Vorkommen von »Buffet« (mit [u] !) für ‘Küchenschrank’ in Randregionen in FR, WS, UW, GL und GR (SDS VII 191 „Küchenschrank“). Es handelt sich um eine Entlehnung aus ital. buffeto, die in der älteren Sprache für alle Regionen des Schweizerdeutschen gut bezeugt ist (Id. 4, 1047). Der Ausdruck wurde durch Neubildungen und deren Diffusion an den meisten Orten verdrängt und hielt sich nur in einzelnen, zerstreuten Regionen. Räumliche Inkohärenz ist in solchen Fällen sekundäre Folge von nachträglichen Innovations- und Diffusionsprozessen und von Überschichtungen von mehreren Innovationsprozessen, wie sie in Kapitel 3 dargestellt wurden. Das Prinzip der Übereinstimmung von Heteronymie und Verteilung im Raum wird damit nicht prinzipiell in Frage gestellt. In vielen Fällen ist inkohärente Verteilung von Heteronymen im Raum aber nicht durch das einfache Ineinanderwirken von lokaler Innovation und Diffusion erklärbar. Ein derartiger anders gelagter Fall liegt bei vertikaler Diffusion vor. Diese ist nicht an die Verbreitung innerhalb kohärenter Räume gebunden. Bei „Schublade“ (SDS VII 189, KSDS 126) taucht beispielsweise unzusammenhängend gestreut zwischen den Ausdrücken »Trucke« und »Züche« mehrmals isoliert auch »Schublaade« auf. Das ist auf vertikale Diffusion aus dem Standarddeutschen zurückzuführen. In Diglossiesituationen steht jeder einzelne Ort in direktem

Distributionsmuster und Variantenmuster

245

Bezug zur überdachenden Standardsprache und kann direkt und unabhängig von anderen Orten durch die Standardsprache beeinflusst werden. Ein Zusammenhang zwischen lexikalischer Identität und räumlicher Zusammengehörigkeit kann allerdings auch bei lokaler Innovation ohne vertikale Diffusion fehlen. Bei polygenetischer Entstehung von Heteronymie können sich Ähnlichkeiten oder sogar Gleichheit zwischen Heteronymen ergeben, weil bei einem bestimmten Sachtyp bestimmte Benennungsmotive aus kognitiven Gründen besonders effizient erscheinen oder naheliegend sind. An getrennten Orten gelangen Sprechergemeinschaften in solchen Fällen unabhängig voneinander zu ähnlichen Lösungen. In solchen Fällen widerspiegelt sich die lexikalische Identität von Heteronymen nicht in einer räumlich kohärenten Verteilung. •

„Mistplatz“ (SDS VII 229) (Karte 45) Verschiedene Heteronyme in „Mistplatz“ (‘Ort, an dem beim Viehstall der Mist gelagert wird’) kommen in weit voneinander getrennten Regionen mehrmals vor, so »Mischtplatz«, »Mischtbett(i)«, »Mischthoof«, »Mischtlegi«, »Mischtlaager«, »Mischtlääger«.

Karte 45: „Mistplatz“ (SDS VII 229) Bei den verschiedenen Heteronymen handelt es sich durchwegs um ähnlich motivierte Bezeichnungen; alle sind neueren Datums. Auch die Sache selbst ist relativ neuen Ursprungs, sie hängt zusammen mit der Umstellung der Viehhaltung auf Stallhaltung im 18. Jahrhundert und dem neuen systemati-

246

Areale Distributionsmuster

schen Sammeln von Mist als Düngemittel. Die Benennungen des entsprechenden Platzes erfolgten an verschiedenen Orten offensichtlich unabhängig voneinander. Es handelt sich um einen typischen Fall von Polygenese. Dass örtlich getrennt unabhängig voneinander gleichartige Bezeichnungen gebildet werden, ist dadurch begründet, dass die passenden Benennungsmotive und Benennungsstrategien unmittelbar naheliegend sind. Die Frage der räumlichen Kohärenz stellt sich nicht nur bei Heteronymgruppen mit ähnlicher Motiviertheit, sondern auch in Bezug auf allgemeinere Motivgruppen und -typen, wie sie in Abschnitt 4.2 beschrieben werden. Benennungen mit ähnlichen Arten von Motiviertheit können in getrennten Gebieten oder in zerstreuten Einzelorten vorkommen. Auch diese Art von räumlich inkohärentem Vorkommen von Variantengruppen ist auf polygenetische Innovationen mit gleichen oder vergleichbaren Benennungsstrategien zurückzuführen. •

„Ofenkrücke“ (SDS VII 110) (Karte 46) Ein Musterbeispiel für inkohärente Verbreitung von Bezeichnungstypen ist das Onomem „Ofenkrücke“. Es können zwei Gruppen von Bezeichnungen unterschieden werden: Bezeichnungen, die von der Sachform ausgehen, wie »Chrucke/Chrücke« u. ä. ›Krücke‹, »Haagge« ›Haken‹ oder »Räche« ›Rechen‹, und Bezeichnungen, die von der Funktion bzw. Verwendungsweise ausgehen, wie »Chraauer« zu »chraaue« ‘kratzen’, »Chratzer« zu »chratze« ›kratzen‹, »Schaber«, »Scharrer«, »Schorer«, »Schieber«, »Ziejer«/ »Ziecher« ›Zieher‹ (s. Abschnitt 4.2.1, S. 181).

Karte 46: „Ofenkrücke“ (SDS VII 110)

Distributionsmuster und Variantenmuster

247

In beiden Fällen ist die Verbreitung von Bezeichnungen mit motivischer Ähnlichkeit räumlich inkohärent. Im Norden am weitesten verbreitet ist »Chrucke«, die Bezeichnung »Räche« ist auf WS konzentriert. »Haagge« kommt nur zerstreut an einzelnen Orten vor. Auch für die Bezeichnungen, welche die Funktion thematisieren, gibt es keine areal kohärente Verbreitung. Die Benennungen, bei denen das Kratzen und Scharren im Vordergrund steht, »Chraauer«, »Scharrer«, »Schorer« kommen im Westen und Osten getrennt vor, »Chratzer« an einzelnen zerstreuten Orten. Einzig bei »Zieli«/»Zieche« und »Schieber« stimmt die motivische Ähnlichkeit mit der räumlichen Nachbarschaft überein. •

„gären lassen (Hefeteig)“ (VII 101) (Karte 47) Bei den Bezeichnungen des Gärenlassens des Hefeteigs lassen sich zwei Typen unterscheiden. 8 Die einen benennen den Sachverhalt als statischen Zustand: – »(laa) sii« ›sein (lassen)‹, »(laa) staa« ›stehen (lassen)‹, »(laa) ligge« ›liegen (lassen)‹, »(la) rueje«, »(la) hirme«, »(la) lüje« ‘ruhen lassen’. Die anderen benennen den Sachverhalt als dynamischen Vorgang: »(la) gaa« ›gehen (lassen)‹, »(la) choo« ›kommen lassen‹, »(la) triibe« ›treiben lassen‹, »(la) habe« ‘gären lassen’. Im Allgemeinen ist keine kohärente Verbreitung von dynamischen und statischen Varianten festzustellen.

Karte 47: „gären lassen (Hefeteig)“ (SDS VII 101)

8

Vgl. Abschnitt 4.2.1, S. 181.

248

Areale Distributionsmuster

Ausnahmen sind kleinere Regionen, in denen man bei starker Streuung in einzelnen Fällen motivische Verwandtschaft in räumlicher Nachbarschaft beobachten kann. So kommen in BE-Oberland nebeneinander »(la) staa«, »(la) sii«, »(la) »lüje«, »(la) hirme« vor. Verstreute Verwendungen von »(la) lauffe« oder »(la) triibe« in Gebieten mit vorherrschend »(la) rue« oder umgekehrt von »(la) staa« in Gebieten mit vorherrschend »(la) gaa« oder »(la) habe« ergeben aber umgekehrt inkohärente räumliche Verteilungen.9 Diese isolierten, getrennten Vorkommen gleicher Ausdrücke sind als eigenständige Innovationen zu interpretieren, entweder als konzeptuelle Innovationen oder als Reflex von spontanem Wortersatz. •

„Blumen gießen“ (SDS VI 218, KSDS 136) (Karte 26, S. 153). Interpretationsbedürftig ist der Zusammenhang zwischen lexikalischer Ähnlichkeit und räumlicher Verteilung bei „Blumen gießen“. Den größten Raum nehmen die beiden motivisch nahe verwandten Varianten »sprütze« ›spritzen‹ und »bschütte« ›beschütten‹ ein, die vom Westen bis Nordosten verbreitet sind. Im Norden gilt daneben auch »Wasser gää« ›Wasser geben‹, möglicherweise durch Diffusion verbreitet. Ebenfalls in relativ weiter Verbreitung, aber nicht in einem kohärenten Gebiet, sondern zerstreut in LU und SH, TG, SG und GR findet sich »tränke« mit einem anderen motivischen Ausgangspunkt. Dass die Trennung in zwei Gebiete durch Diffusion von alternativen Lexemen verursacht ist, erscheint in diesem Fall eher unwahrscheinlich. Ganz ohne räumlichen Zusammenhang gestreut finden sich die beiden marginalen Varianten »netze« ›netzen‹ und »füechte« ›feuchten‹. Neben einer großen Region mit deskriptiv ähnlichen Bezeichnungen finden sich also andere, gleichartige oder ähnliche Bezeichnungen ohne räumliche Kohärenz. Neben Polygenese kann man in diesem Fall die Inkohärenz auch auf labile Bezeichnungsweisen ohne klar fixierte Konventionen zurückführen

Kohärenz und Inkohärenz der Verteilung von Heteronymen im Raum liefern zusätzliche Kriterien, um die Entstehung von bestimmten Distributionsmustern zu erklären und begründen. 5.4.2 Areale Kohärenz und lexikalische Ähnlichkeit Nicht selten kommen motivisch verwandte Varianten in zusammenhängenden Gebieten in geografischer Nachbarschaft vor. Dies ist vor allem dann auffällig, wenn in den übrigen Gebieten andere, motivisch heterogene oder andersartige Heteronyme gelten. •

„Kartoffeln häufeln“ (SDS VI 210) (Karte 48) Gegenüber einem größeren Gebiet im Norden, in dem für ‘(Kartoffeln) häufeln’ die Variante »hüüffele« gilt, findet sich in einem Bereich zwischen FR,

9

Entsprechend kann die Karte 47 nur einen ungefähren Eindruck von der äußerst komplizierten Streuung der Varianten geben.

Distributionsmuster und Variantenmuster

249

BE, LU und ZG ein Gebiet, in dem zwar unterschiedliche Varianten verbreitet sind, die aber alle zu einer Gruppe mit dem gemeinsamen Benennungsmotiv ‟längliche Vertiefung/Erhöhung im Boden machen” gehören: »fürele« u. ä. ‘Furchen machen’; »mä(ä)dle« ‘Mahden machen’ zu »M(a)ad(e)« ›Mahd‹ ‘Reihe gemähtes Gras’ (s. Id. 4, 74); »wälmle« u. ä. ‘Walme machen’ zu »Walm« ‘längliche Anhäufung (von Reisig, Gras, Erde)’ (s. Id. 15, 1572); »wägle« ‘Weg machen’, zu »Wääg« ›Weg‹. Andere Typen mit dem Motiv ‟auf-/zu-(machen)” wie »uufzie«, »uufnää«, »uufmache«, »zuehacke« sind demgegenüber zerstreut und in keinem kohärenten Raum vertreten.

Karte 48: „Kartoffeln häufeln“ (SDS VI 210)



„Sommersprossen“ – ›Märzen-‹ (SDS IV 43/44) (Karte 40, S. 234) Als Bezeichnung für Sommersprossen gilt in einem großen westlichen Gebiet die Bezeichnung »Laubfläcke« ›Laubflecken‹. Im einem kleineren Gebiet im Nordosten konzentriert finden sich demgegenüber eine große Zahl von Varianten wie »Merzefläcke« ›Märzenflecken‹, »Merzedräck« ›Märzendreck‹, »Merzeblueme« ›Märzenblume‹, »Merzetupfe« ›Märzentupfen‹, »Merzeschiss« ›Märzenschiss‹, »Merzepletter« (»Pletter« ‘Spritzer von Kuhfladen’), »Merzespriggele« (»Spriggel« ‘Sprenkel’). 10 Alle diese Bezeichnungen mit

10

Der West-Ost-Gegensatz ›Laubflecken‹ – ›Märzen-‹ setzt sich nördlich des Rheins/Bodensees fort (s. SSA IV/1.04).

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Areale Distributionsmuster

einer sehr ähnlichen Bildungsweise bilden auch geografisch ein zusammenhängendes Gebiet. •

„Bonbon“ – ›Zucker-‹ (SDS V 212, KSDS 104) (Karte 43, S. 237) Die Heteronymie für „Bonbon“ ist insgesamt eher heterogen: Weiterentwicklungen aus sehr unterschiedlichen Lexemen werden zur Benennung dieser Innovation verwendet, oft übernommen aus älteren Bezeichnungen von kleinen Süßigkeiten wie »Täfeli«, »Zältli«, »Chröömli« oder »Bombo« (ursprünglich mit derselben Ausgangsbedeutung aus dem Französischen entlehnt) oder mit der Entlehnung »Trops/Tröpsli« aus dem Englischen (engl. drops). In einem ausgedehnten zusammenhängenden Gebiet zwischen UW, UR, SZ, SG, TG und GR sind dagegen Komposita oder Ableitungen mit »Zucker-« verbreitet: »Zuckerstei«, »Zuckerboone«, »Zuckerbolle«, »Zuckermöckli«, also alles Bildungen nach dem gleichen formalen und inhaltlichen Prinzip.



„niesen“ – »pfipfe« (SDS IV 67) (Karte 49) Zwischen einem geografisch ausgedehnten Gebiet, in dem unterschiedliche Wortbildungen zum Stamm ›niesen‹ gelten, finden in einem einigermaßen zusammenhängenden mittleren Streifen zwischen Thunersee und AG alternative Varianten, die unter sich formal relativ heterogen sind, alle aber auf onomatopoetischer Grundlage gebildet sind (im Unterschied zu ›niesen‹, dessen onomatopoetische Motiviertheit heute nicht mehr erkennbar ist): »pfipfe«, »pfluggse«, »pfäggse«, »pfnuchse«, »häpsche«.

Karte 49: „niesen“ (SDS IV 67)

Distributionsmuster und Variantenmuster

251



„Veilchen“ – »Fiöönli« (SDS VI 119) Gegenüber einem einheitlichen Westen mit »Fiieli/Feieli« für ‘Veilchen’ finden sich in einem geschlossenen Gebiet in der östlichen Hälfte eine reiche Heteronymie, die letztlich durch assoziative Abwandlungen aus einer Ausgangsform »Fioole«/Fiöö(n)li« entstanden sind (s. Abschnitt 6.2.4, S. 299).



„Löwenzahn“ – ›Butterblume‹ (SDS VI 123, KSDS 140) (Karte 34, S. 185) In einer einzelnen Teilregion der Ostschweiz erscheinen statt der verbreiteten Form »Söiblueme« ›Saublume‹ für ‘Löwenzahn’ die motivisch untereinander nahe verwandten Varianten »Milchblueme« ›Milchblume‹, »Milchere«, »Roomblueme« ›Rahmblume‹, »Schmalzblueme« ›Schmalzblume‹ (»Schmalz-« ‘Butter’) und »Ankeblueme« ›Ankenblume‹ (»Anke« ‘Butter’).11 Die gleiche Art des Motivs, die Bezeichnung mit einem Milchprodukt, wird mit konzeptuell ähnlichen Ausdrücken in einer geografisch relativ gut definierten Region der Ostschweiz realisiert.



„Quatschen (von durchnässten Schuhen)“ (SDS VI 41) (Karte 50) Im Vergleich zu den bisher beschriebenen Mustern ist die Verteilung bei „Quatschen von durchnässten Schuhen“ komplexer mit weniger deutlich abgrenzbaren Regionen. Aber auch hier entsprechen sich Gruppierungen in ähnliche Heteronyme mit der räumlichen Verteilung.

Karte 50: „quatschen (von durchnässten Schuhen)“ (SDS VI 41) 11

Das Nebeneinander von »Ankeblueme« und »Schmalzblueme« ist auf eine Heteronymie für ‘Butter’ zurückzuführen, s. SDS VI 179.

252

Areale Distributionsmuster

Wie in Abschnitt 4.5 (S. 198) beschrieben, gibt es für die Bezeichnung des Quatschens von durchnässten Schuhen beim Gehen sehr unterschiedliche Variantentypen. Die größte Verbreitung vor allem im Westschweizerdeutschen, mit Ausläufern nach SZ, haben die verschiedenen Varianten mit einem Grundmuster /K-ätsch-/ bzw. /K-atsch/: »(g)wätsch(g)e«, »(g)watsch(g)e«, »kwatsche«, »kwätsch(g)e«, »zwätschge«, »chnätsche«, »nätsche«, »chätsche«. Die meisten der anderen Typen sind in östlichen Regionen verbreitet, so v. a. in ZH »flotsche«, zwischen ZH und Bodensee »chnootsche«, »chnoortsche«, »chnootschge«, »chnoorze«, »chnoozge«, in GL, SG, AP und GR die Varianten »söö(r)gge«, »sotzle«, »sotzge, »söötsch(g)e«. Dass ähnliche, aber nicht identische Varianten in geschlossenen Regionen gelten, wirft spezielle Fragen auf. Inkohärenz bei der Verbreitung von ähnlichen Heteronymen bietet aus genetischer Sicht sogar weniger Erklärungsprobleme als areale Kohärenz. Es ist weniger überraschend, dass beispielsweise bei unabhängigen, polygenetischen Benennungsinnovationen für eine Sache an verschiedenen Orten ähnliche Benennungsmotive angewendet werden, als dass inselartig in einer geschlossenen Region ähnliche, aber lexikalisch unterschiedliche Benennungsmotive vorkommen. Am einfachsten ist eine derartige areale Kohärenz bei Heteronymen zu erklären, die gemeinsam aus assoziativer Abwandlung oder als Hybridbildungen entstanden sind. Assoziative Abwandlung und Hybridbildung ist Wortersatz, der nur auf der Grundlage konkreter Wortformen und im Geltungsgebiet oder in der Nachbarschaft der ursprünglichen Wortformen stattfinden kann. Die ursprünglichen Wortformen müssen auch nach Diffusion in räumlicher Nachbarschaft zu der neuen assoziativen Abwandlung bleiben. Diese Interpretation ist auch in den Fällen anwendbar, da aus assoziativen Abwandlungen wiederum neue Abwandlungen gebildet werden. Auch sekundäre Entwicklungen erfolgen innerhalb des ursprünglichen Geltungsbereichs der Ausgangsformen und bleiben so in der Nachbarschaft dieser Formen. Dies ist der Hintergrund der Verteilung der Heteronymietypen bei „quatschen (von durchnässten Schuhen)“. Die Entwicklungszusammenhänge spiegeln sich so in der Regel mehr oder weniger klar in der arealen Verteilung, falls die Einzelformen sich überhaupt in ein kohärentes Raumbild bringen lassen und nicht zerstreute rein lokale Sonderentwicklungen darstellen, wie das etwa bei vielen assoziativen Weiterbildungen bei „Waldhengst“ oder „Veilchen“ der Fall ist. Eine besondere Art von Ähnlichkeit bieten Hybridbildungen, Kombinationen von einzelnen Formeigenschaften aus benachbarten Formen. Diese Art der Innovation wurde in Abschnitt 2.2.1.5 als Diffusion von lexikalischen Teileigenschaften interpretiert. Die diffusionsartige Übernahme von einzelnen lexikalischen Merkmalen kann auch als Erklärungsmuster in anderen Fällen dafür dienen, wie es zur Konzentration lexikalisch ähnlicher Heteronyme in einem kohärenten Raum kommen kann. Es ist eher unwahrscheinlich, dass derartige Konstellationen durch ein zufälliges Zusammentreffen aufgrund von Polygenese entstehen, wenn dieses Gebiet einen abgeschlossenen Teilraum in einem größeren Gebiet darstellt,

Distributionsmuster und Variantenmuster

253

in dem ansonsten heterogene Varianten gelten. Die Ähnlichkeit muss eher durch horizontale Beeinflussung bei der Entwicklung einer Innovation verursacht sein. Ein typisches Beispiel für die Entsprechung der räumlichen Verteilung der einzelnen Varianten mit einer mehrschichtigen stufenartigen Entwicklung von assoziativer Abwandlung mit Hybridbildungen ist „Ameise“. •

„Ameise“ (SDS VI 229, KSDS 164) (Karte 51) Die in Abschnitt 4.6, S. 210 dargestellten assoziativen Abwandlungen sind räumlich klar zu situieren. Im Westen finden sich die Formen mit einer internen Erweiterung durch /-p-/ von »Ameisse« zu »Ampeisse/Ambeisse«, östlich daran anschließend in einem mittleren Raum die Formen mit einer zusätzlichen Erweiterung im Anlaut mit /h-/ zu »Hampeissi«. Am östlichen Rand der ursprünglichen »Ambeissi«-Zone wurde diese Form zu »Ambeissig« erweitert. Als Hybridbildung entstand aus »Hampeissi« und »Ambeissig« regional »Hampeissgi«. Diese Form wurde weiter regional zu »Hambitzgi« umgeformt. Wo ursprünglich »Ambeissig« galt, entstand teilweise in Anlehnung an »Hambitzgi« die Form »Ambitzgi«. In allen diesen Fällen entspricht der formalen Nähe und der mutmaßlichen Entstehungsabfolge auch eine räumliche Nachbarschaft. Formal und genetisch näher verwandte Bildungen sind einander auch räumlich näher.

Karte 51: „Ameise“ (SDS VI 229)



254

Areale Distributionsmuster

In manchen Fällen besteht die Ähnlichkeit sozusagen in einer mehr oder weniger wörtlichen ‚Übersetzung‘ einer regionalen Variante in eine andere. Es wird also nicht eine Wortform, sondern ein Bedeutungselement übernommen, oft auch die Art der Wortbildung. Es findet eine Art ‚Bedeutungsdiffusion‘ statt, vergleichbar einem Übersetzungsvorgang bei Lehnübersetzung: Die lexikalische Bedeutung, oft auch die formal-grammatische Bildungsweise, wird von einer Region in die andere übernommen; in Kenntnis der arealen lexikalischen Unterschiede bei der Übernahme wird die Basis des Ausgangswortes durch die lokal gültige Variante ersetzt. Diese Vorstellung erscheint insofern nicht unrealistisch, als bei der Übernahme von einzelnen Lexemen in der Diffusion das diffundierte Lexem auch auf rein formaler Ebene normalerweise den lokalen phonologischen und morphologischen Gegebenheiten und Regeln angepasst wird. Die lexikalische Veränderung ist die Umsetzung solcher lokaler Anpassungen bei der Diffusion auf lexikalischer Ebene. Derartige Parallelen sind nicht selten. Auf diese Weise ist das Nebeneinander von »Hüenerhuut« ›Hühnerhaut‹ und »Hennehuut« ›Hennenhaut‹ bei „Gänsehaut (haben)“ (SDS IV 57) zu beschreiben. Der regionale Unterschied in den Bezeichnungen entspricht der Verteilung der regionalen Differenzen in den Grundwörtern »Huen« und »Henne« (SDS VIII 93). In welcher Richtung auch immer die Bedeutungsdiffusion stattgefunden haben mag, bei der Lexikalisierung einer Bezeichnung für die Gänsehaut wurde das Benennungsmotiv ‟Hühnerhaut” direkt übernommen und lexikalisch statt dem Vorbild die entsprechende lokale Bezeichnung für das Huhn eingesetzt. Ebenso stimmt die Verbreitung der Bezeichnungen für den Quetschflecken auf der Haut (SDS IV 45) durch Heteronyme mit der ursprünglichen Bedeutung ‘Schmutzfleck’ (»Fläcke« ›Fleck‹, »Mose«, »Moond« ›Mond‹) einigermaßen mit der Verteilung der Heteronyme in ihrer Ausgangsbedeutung überein (SDS VI 146). Mehrfach widerspiegeln sich areale Heteronymien bei den Basiselementen von Komposita im Nebeneinander von »Söiblueme« ›Saublume‹, »Schwii(n)blueme« ›Schweineblume‹, »Schwiimeie« (»Meie« ‘Blume’) (SDS VI 123 Löwenzahn“) (Karte 34, S. 185). Auf einer etwas abstrakteren Ebene hat diese ‚Bedeutungsdiffusion‘ bei „Buschbohne“ (SDS VI 197) (Karte 41, S. 235) stattgefunden. In einer größeren Region wird die Pflanze nach ihrer Form mit Wörtern benannt, die von Bezeichnungen des Kauerns abgeleitet sind, mit unterschiedlichen Wortbildungen, die aber alle von dem regional üblichen Verb mit der Bedeutung ‘kauern’ abgeleitet sind: »Gruuper«, »Gruupli« usw. zu »gruupe«, »Groppli« zu »groppe«, »Huuriboone« zu »huure«. In einer kleineren, aber ebenfalls in sich zusammenhängenden Region wird stattdessen lexikalisch unterschiedlich das Benennungsmotiv ‟kriechen” zugrundegelegt: »Schnaagger(li), »Schnaaggi«, »Schnaagiboone« zu »schnaagge« und »Rütscherli« zu »rutsche«. Dafür, dass eine Form von semantischen Diffusionsvorgängen hinter diesen Ähnlichkeiten liegt, spricht der Umstand, dass die verschiedenen entsprechenden Varianten alle räumlich benachbart sind. Die Ähnlichkeiten in areal konzentrierten Variantengruppen können auch lockerer sein. In diesen Fällen muss nicht unbedingt von Diffusionsprozessen in Bezug auf abstrakte lexikalische Eigenschaften ausgegangen werden. Denkbar ist auch, dass eine lokale Innovation nach einem vorgegebenen in einem Gebiet ver-

Distributionsmuster und Variantenmuster

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breiteten Muster durchgeführt wird. Ein Beispiel für diese Situation ist das Nebeneinander von »Merzefläcke« ›Märzenflecken‹, »Merzedräck« ›Märzendreck‹, »Merzeblueme« ›Märzenblume‹, »Merzetupfe« ›Märzentupfen‹, »Merzeschiss« ›Märzenschiss‹, »Merzepletter« (»Pletter« ‘Spritzer von Kuhfladen’), »Merzespriggele« (»Spriggel« ‘Sprenkel’) für ‘Sommersprossen’ in einem relativ begrenzten Teilgebiet im Nordosten, in Kontrast zum sonst dominierenden Ausdruck »Laubfläcke« (Karte 40, S. 234). Alle diese Ausdrücke sind nach dem gleichen Prinzip gebaut. Das gemeinsame Bestimmungsglied »Märze-« bezieht sich darauf, dass Sommersprossen sich beim stärkeren Sonnenschein im März vermehrt zeigen (vergleichbar mit dem standarddeutschen Ausdruck Sommersprossen). Die Grundwörter benennen die Sache überwiegend als ‘Fleck’, ‘Tupfen’, mit Konkretisierungen wie ‘Spritzer’; auch »-Dräck« und »-Schiss« kann man im weitesten Sinn darunter rechnen, wenn man sie als verkürzte Bezeichnung von Phänomenen wie Fliegendreck oder Dreckspritzer auffasst. Einzig die Bildung »Märzeblueme« fällt aus diesem Rahmen. In der Nachbarschaft von »Märzedräck« und »Märzepletter« ist dies wohl als euphemistischer Ersatz für einen Ausdruck wie »Märzedreck« zu interpretieren. Insgesamt sind alle Bildungen aber auf irgendeine Weise auf der Basis des gleichen Grundmusters auseinanderentwickelt worden. Dass eine Innovation nach einem vorbildhaften sprachlichen Muster erfolgt, ist an sich nicht erstaunlich. Die Frage ist, warum in solchen Fällen überhaupt eine Innovation notwendig oder sinnvoll erscheint. Im vorliegenden Fall ist denkbar, dass die Erscheinung der Sommersprossen selbst zu mehr oder weniger despektierlichen Sprachspielen mit Wendungen wie »Märzeschiss« oder »Märzepletter« verleitete und dass im Gegenzug als Ersatz weniger abfällige Formulierungen eingeführt wurden. Das könnte erklären, warum bei der Alternative »Laubfläcke« keiner derartigen zusätzlichen Innovationen stattgefunden haben. Die Auslöser für Variantenbildungen nach einem vorgegebenen Muster sind aber für jeden Fall einzeln zu prüfen. Im Falle der räumlich kohärent verteilten Variationen bei »Milchblueme« ›Milchblume‹, »Milchere«, »Roomblueme« ›Rahmblume‹, »Schmalzblueme« ›Schmalzblume‹ (»Schmalz« ‘Butter’) und »Ankeblueme« (»Anke« ‘Butter’) für ‘Löwenzahn’ spielt eine Rolle, dass diese Bezeichnungen im Allgemeinen bereits geläufige Bezeichnungen für andere (gelbe) Blumen sind, die so als Inspiration für die Übernahme eines bestimmten Benennungsmotivs wirkten. Dazu muss aber auch eine bestimmte Unsicherheit in der Identifikation und Benennung der Pflanze kommen. Die räumlich kohärente Verteilung von ähnlich motivierten Lexemen in zusammenhängenden Räumen zeigt, dass die Motivik von lexikalischen Innovationen nicht nur unmittelbar von kognitiven Benennungsstrategien gesteuert wird, sondern auch von lexikalischen Mustern in der geografischen Nachbarschaft beeinflusst werden kann. Diffusion kann nicht nur bei einzelnen Lexemen, sondern auch bei Bezeichnungsmotiven und inhaltlichen Bildungsmustern stattfinden.

6 VARIATIONEN IN DIVERSITÄTSMUSTERN 6.1 EINLEITUNG Wortschatzkarten zeigen sehr unterschiedliche Varianten- und Distributionsmuster. Woher rühren derartige Unterschiede? Wie sind sie zu erklären? Warum zeigen beispielsweise manche Onomeme eine viel komplexere Diversität als andere? Das Thema ist in der Dialektologie schon früher gelegentlich angesprochen worden. Ausgehend von eher impressionistischen Beobachtungen werden vor allem außersprachliche und emotionale Faktoren für den unterschiedlichen „Wortreichtum“ namhaft gemacht. Die opinio communis formuliert etwa ADOLF BACH: Wortarmut und damit Großräumigkeit gilt dort, wo lebenswichtige, alltägliche, vielgebrauchte, oft beachtete Dinge und Vorstellungen gemeint sind. Namen für das Allgemeine, Umfassende sind weiter verbreitet als die für das Einzelne, die der Gattungsbegriffe weiter als die der Artbegriffe. Wortreichtum und damit Kleinräumigkeit kennzeichnen die Namen von Dingen, mit denen sich die Volksphantasie stark beschäftigt, zu denen der Mensch ein gefühlsbetontes Verhältnis hat, die aber für die Allgemeinheit und den allgemeinen Verkehr von untergeordneter Bedeutung bleiben. (BACH 1950, 170)

BACH (1950, 170–174) gibt auch Beispiele für besonderen Wortreichtum aus Bereichen wie Tiere, Spiele, Speisen und Getränke. In anderem Zusammenhang begründet er diesen Wortreichtum mit der „Gefühlsbetontheit“ und der „mangelnden Abstraktionswilligkeit oder -fähigkeit der Mda-Sprecher“ (BACH 1950, 293, 295). Mit Bezug auf Nutztiere in der Landwirtschaft und deren Bezeichnung in westschweizerischen frankoprovenzalischen Dialekten, schreibt ferner ERNST TAPPOLET: Die Reichhaltigkeit des Wortschatzes hängt ab von der Häufigkeit, in der das Tier auftritt, sie hängt ab von der sozialen Wertschätzung, die das Tier genießt, und sie hängt ab vom Gefühlsverhältnis, in dem der Viehhalter zum Tiere steht. (TAPPOLET 1913, 119)

Aus der Sicht der kognitiven Linguistik postulieren GEERAERTS / SPEELMAN (2010), dass Diversität („onomasiological heterogeneity“) mit fehlender kognitiver Salienz (Unscheinbarkeit des Phänomens, „lack of familiarity“), Vagheit und negativer Bewertung eines Konzepts zusammenhängen. PICKL (2013, 137–138) stellt allerdings fest, dass derartige allgemeine Feststellungen bei größeren Themengruppen nicht generell zutreffen. Sie sind auch nie an einem größeren Material systematisch überprüft worden, wenn wir von TAPPOLET (1913) absehen. In der Regel werden auch lediglich Korrelationen zwischen besonderen Eigenschaften einer Sache und der Diversität bei deren Benennungen festgestellt. Die Frage, warum diese Korrelationen in den konkreten Fällen zu unterschiedlicher Diversität führen, wird kaum gestellt.

Einleitung

257

6.1.1 Diversitätsmuster „Wortreichtum“ oder „Wortarmut“ reichen als Charakteristiken nicht aus, um Diversitätsunterschiede von Onomemen zu beschreiben. Eine Erklärung muss auch die historischen Hintergründe größerer oder kleinerer Diversität einbeziehen. Diversität ist ein mehrdimensionaler Eigenschaftenkomplex eines Onomems. In einen Vergleich von Onomemen sind mindestens die Dimensionen einzubeziehen, die in den vorangehenden Kapiteln diskutiert wurden: – –



Struktur der arealen Distribution (areales Distributionsmuster): Wie viele Heteronyme enthält das Onomem? Wie sind sie im Raum verteilt? Struktur der lexikalischen Varianz (lexikalisches Variantenmuster): Wie sind die einzelnen Varianten gebildet? Welches Verhältnis haben sie zueinander (Wortbildung, assoziative Abwandlung usw.)? Wie heterogen sind die Variantenmuster? Welcher Bezeichnungsstil dominiert? Diachronie (Art des Bezeichnungswandels): Wie alt sind die einzelnen Heteronyme? Wie kontinuierlich sind sie in ihrer Bedeutung erhalten? In welcher Weise hat sich die Heteronymie lexikalisch verändert?

Diversität manifestiert sich in ‚Diversitätsmustern‘. Ein Diversitätsmuster lässt sich charakterisieren durch eine Kombination von Eigenschaften in den genannten Dimensionen: als Realisierung eines spezifischen lexikalischen Variantenmusters in einem spezifischen arealen Distributionsmuster als Ergebnis von spezifischen diachronen Entwicklungsmustern. Diversitätsmuster lassen sich theoretisch nach den allgemeinen Kriterien der Typisierung von arealen Distributionsmustern, lexikalischen Variantenmustern und Arten des Bezeichnungswandels zu allgemeineren Typen gruppieren. Allerdings ist jede dieser Dimensionen selbst wieder eine mehrdimensionale Größe. Die Variationsmöglichkeiten bei der arealen Verteilung, der lexikalischen Varianz und deren historischen Hintergründen sind deshalb so vielfältig, dass praktisch jedes Diversitätsmuster eines Onomems einen individuellen Fall darstellt und Gruppierungen nur eine Annäherung an eine Typendefinition darstellen können. Diese Vielfalt kommt in den nachfolgenden Analysen direkt zum Vorschein. Für jeden Sachbereich sind zudem entsprechend den historischen Rahmenbedingungen der Existenz, der Konzeptualisierung und der Benennung von Sachgruppen unterschiedliche Typisierungen sinnvoll. Im Folgenden wird anhand von exemplarischen Fallstudien zu einzelnen Sachbereichen versucht, die Diversitätsmuster von Onomemen und deren Unterschiede innerhalb von sachlich zusammenhängenden Konzeptfeldern zu beschreiben und die Eigenart und die Gründe dieser Unterschiede zu charakterisieren. Ausgewählt werden Sachbereiche, die unterschiedlichen historischen Bedingungen der sozialen und kognitiven Bewältigung unterliegen und eine unterschiedliche Rolle im Alltag spielen. Die Absicht dabei ist, allfällige Unterschiede in der Diversität erfassen zu können, wie sie sich aus den unterschiedlichen historischen Bedingungen der Versprachlichung eines Sachbereichs ergeben. Die Vergleichsmöglichkeiten sind potenziell unbegrenzt, eine Auswahl unumgänglich. Die Fra-

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Variationen in Diversitätsmustern

gestellung eröffnet einen thematisch offenen, erweiterbaren Untersuchungsgegenstand, der im gegebenen Rahmen nicht ausgeschöpft werden kann. 6.1.2 Innovationsaffinität – Diffusionsaffinität In diachroner Perspektive lassen sich Unterschiede der Diversität und vor allem der Art der Distribution, wie in den Abschnitten 5.1 und 5.2 diskutiert, vor allem durch Unterschiede in der Dynamik der Innovation und der Diffusion erklären. Eine Tendenz zu intensiver Innovation können wir als Innovationsaffinität, eine Tendenz zu intensiver Diffusion als Diffusionsaffinität bezeichnen.1 Relativ große Diversität lässt sich auf eine größere Innovationsaffinität und eine kleinere Diffusionsaffinität bei einem Onomem zurückführen, geringe Diversität auf geringe Innovationsaffinität und/oder größere Diffusionsaffinität. In sprachtheoretischer Sicht läuft die Fragestellung also auf die Frage hinaus, welche Faktoren innovations- bzw. diffusionsfördernd sein können. Aus onomasiologischer Perspektive liegt nahe, diese Faktoren in bestimmten Eigenschaften von Wörtern, Onomemen oder Konzepten zu suchen. Welche Eigenschaften für größere oder kleinere Diversität verantwortlich sind, ist eine empirische Frage, die nicht a priori zu beantworten ist. Innovationsaffinität und Diffusionsaffinität hängen mit den Gründen zusammen, warum überhaupt Innovation und Diffusion stattfinden. Es geht letztlich um die Anlässe und Motivationen von lexikalischem Wandel. Diese können auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Eigentlich sollte Sprache sich ja nicht verändern, wenn sie als System von Konventionen funktionieren soll, da Konventionen Erwartungen steuern und ein Wechsel von Konventionen die Erfüllung von Erwartungen erschwert oder verunmöglicht.2 Anders gesagt: Sprechergemeinschaften verändern ihre sprachlichen Konventionen nur, wenn ein Anlass und eine Motivation dazu bestehen. Die Anlässe und Motivationen zu Innovationen liegen je nach Art der Innovation auf unterschiedlichen Ebenen. Bei Innovation aufgrund von Sachwandel ist die Sachlage einfach: Sprache dient u. a. dem gesellschaftlichen Umgang mit der sozialen Umwelt. Wenn sich die Umwelt ändert, muss sich entsprechend die

1

2

Ich übernehme diese Termini von PICKL (2013, 136). – PICKL (2013, 207–223) konkretisiert die Begriffe Innovationsaffinität und Diversitätsaffinität in statistischen Modellen: Innovationsaffinität als Innovationsrate, d. h. Zahl der Innovationen, die in einem bestimmten Zeitraum in einem Raum hinzukommt, Diffusionsaffinität als die Fähigkeit einer Variante, innerhalb einer bestimmten Zeit Distanz im Raum zu überbrücken. Dies sind Abstraktionen, die im Rahmen der konkreten historischen Entwicklungen eines Onomems selten direkt abgebildet werden bzw. mangels klarer Informationen über den konkreten zeitlichen Verlauf von Veränderungen auch kaum je direkt überprüft werden können. Gemäss dem generellen soziologischen Prinzip, wonach Verhaltensroutinen die Sicherheit im sozialen Umgang gewährleisten und selbstverstärkend sind: „Routines ... lead to system preservation. ... Strongly routinized interaction among intimates is likely do lead to language maintenance.“ (BRITAIN 2011, 78).

Einleitung

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Sprache ändern. Der Anlass für die Veränderung liegt außerhalb der Sprache. Die Innovationsaffinität ist vom Sachwandel bestimmt. Wodurch wird bei Wortersatz die Innovationsaffinität bestimmt? Warum wird die Benennung einer Sache oder eines Konzepts geändert, wenn schon eine solche besteht? Mögliche Antworten leiten sich von den Bedingungen von Bezeichnungswandel ab, wie sie in Abschnitt 2.1 skizziert worden sind: In der situativen Sprechtätigkeit wird eine neue Formulierung gebildet und usualisiert, die dann als Quasi-Synonym neben der bestehenden konventionellen Benennung verwendet wird. Über Monosemierung wird dann die ursprüngliche Benennung ausgeschieden. Die Frage der Innovation verschiebt sich damit auf die Motivation, warum in der Sprechtätigkeit die entsprechende Neuformulierung eingeführt, usualisiert und bei der Monosemierung bevorzugt wird. Die Motivation zu einer Innovtion muss in einem wie auch immer gearteten Mehrwert der Neuformulierung gegenüber der alten Benennung liegen. Worin ein solcher Mehrwert bestehen könnte, ob er überhaupt gefunden werden kann, kann allenfalls aus einem Vergleich der konkurrierenden Ausdrucksweisen abgeleitet werden. Denkbar sind beispielsweise die bessere Motiviertheit oder die höhere Transparenz der Innovation oder ein rhetorischer Mehrwert wie Originalität oder Anschaulichkeit. Schon diese sehr allgemeinen Überlegungen zeigen, dass Innovationsaffinität im Falle von Wortersatz auf sehr verschiedenen Ebenen angesiedelt sein kann. Große Innovationsaffinität kann in rein ausdrucksseitigen Bedingungen begründet sein, aber auch in der Rolle, die eine Sache in einer Sprechergemeinschaft spielt, und in den emotionalen Beziehungen der Sprecher zur Sache. Je direkter eine Sache beispielsweise Emotionen weckt, desto kreativer sind erfahrungsgemäß Sprecher bei der Bildung neuer Benennungen. Schwieriger ist die Antwort schließlich bei konzeptueller Innovation: Warum wird etwas neu benannt, das schon immer vorhanden war, ohne dass eine konventionelle Benennung bisher als notwendig erschien? Hier müssen wir Veränderungen im sozialen Umgang mit einer Sache vermuten, also ebenfalls in außersprachlichen Gründen, die aber nicht in einer beobachtbaren Umwelt liegen, sondern in der sozialen Konstitution der konzeptuellen Strukturierung der Umwelt. Da dieser Bereich innerhalb der Sprache nicht sichtbar wird, entziehen sich derartige Anlässe in der Regel der Beobachtung anhand von Sprachquellen. Innovationsaffinität muss in diesem Fall im Grad der Veränderlichkeit der sozialen Wahrnehmung in einem bestimmten Sachbereich gesucht werden. Schwierigkeiten zeigen sich dabei auch in der Anschlussfrage, was in diesem Falle überhaupt Objekt der Innovationsaffinität sein kann. Es kann nicht ein bestimmtes gegebenes Konzept und seine Bezeichnung oder ein Onomem sein, denn diese werden mit der konzeptuellen Innovation ja erst geschaffen. In theoretischer Sicht muss es die Sache vor und unabhängig von ihrer Konzeptualisierung sein. Innovationsaffin sind Sachen, für die eine Tendenz besteht, dass für sie zu einem bestimmten Moment ein neues Konzept und die dazu passende Benennung geschaffen werden. Warum wurde diese Sache aber früher nicht konzeptualisiert? Sachen, für die keine Affinität zu einer konzeptuellen Innovation besteht, kom-

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Variationen in Diversitätsmustern

men im Übrigen sprachlich gar nie zum Vorschein, da definitionsgemäß gar nie ein Bedürfnis nach deren Benennung entsteht. Ein allgemeineres, kommunikationstheoretisches Erklärungsmuster für Innovationsaffinität formulieren KOCH / OESTERREICHER (1996): Innovationsfreudigkeit geht einher mit expressivem Sprachgebrauch, und expressiver Sprachgebrauch ist typisch für bestimmte Themenzentren im Zusammenhang mit „fundamentalen lebensweltlichen Relevanzstrukturen“ (KOCH / OESTERREICHER 1996, 73) wie Essen, Trinken, Tod, Krankheit, Wetter, Arbeit, Kampf, Gefühle und Orientierungskategorien wie auffällige Quantitäten, Modalitäten, räumliche und zeitliche Deixis. Mittelbar gelangen wir mit diesen Kategorien zu intrinsischen Eigenschaften der benannten Konzepte und ihrer Rolle in der Kommunikation, welche Innovation begünstigen. Warum findet Diffusion statt?3 Und was könnte größere oder geringere Diffusionsaffinität bewirken? Unter den Bedingungen der ländlichen Räumlichkeit mit relativ geringer Mobilität, wie sie hier vorausgesetzt werden, entsteht Diffusion durch sozialen Kontakt zwischen räumlich benachbarten Sprechern und Sprechergemeinschaften. Triebkraft von Diffusion von Sprachgebräuchen ist analog zum lokalen Sprachwandel zunächst Akkommodation, die gegenseitige Anpassung von Sprechern in der Kommunikation, bei Diffusion nicht innerhalb einer geschlossenen Sprechergemeinschaft, sondern zwischen Mitgliedern verschiedener Sprechergemeinschaften.4 Auch hier sind bei einem detaillierteren Beschreibungsversuch die unterschiedlichen Voraussetzungen des Wandels zu berücksichtigen. Bei Innovationen aufgrund von Sachwandel oder konzeptueller Innovation geht die Diffusionsbewegung naturgemäß vom Ort aus, wo diese Sachinnovation oder die konzeptuelle Innovation zuerst sprachlich benannt worden ist. Die empfangende Region hat ja der sprachlichen Innovation nichts Eigenes entgegenzusetzen. Wenn bei divergierenden Sprachformen durch Wortersatz in der Diffusion die eine Form zugunsten einer anderen verdrängt wird, stellt sich dagegen die Frage, warum diese Form gerade die siegreiche Form ist und die unterliegende verdrängt. 3

4

In der dialektologischen und sprachhistorischen Diskussion (etwa HAAS 1998, 844–845, BRITAIN 2010, 2012) wird das Warum von Diffusion kaum oder eher am Rande angesprochen; das Schwergewicht liegt auf dem Wie der Diffusion. Zudem wird Diffusion fast nur im Zusammenhang mit Lautwandel diskutiert, kaum je im Zusammenhang mit Wortschatzwandel. Es ist jedoch anzunehmen, dass je nach Sprachebene unterschiedliche Faktoren mitspielen. Zu diesen Faktoren gehören auch konkrete soziologische und kulturelle Bedingungen der sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft. Die Bedingungen von Diffusion durch Akkomodation, wie sie z. B. in TRUDGILL (1986) für England beschrieben werden, lassen sich beispielsweise nicht direkt auf das Schweizerdeutsche übertragen. Vgl. auch das Konzept der Synchronisierung bei SCHMIDT / HERRGEN (2011, 28–34), bei dem der Aspekt der Räumlichkeit allerdings nicht speziell thematisiert wird. Nach AUER / HINSKENS (2005) spielt in diesem Zusammenhang weniger die konkrete Sprechweise von Individuen eine Rolle als die stereotypen Bilder, die man sich von Sprechergemeinschaften macht. Das entspricht der Annahme, dass vor allem das Prestige von Sprechergemeinschaften eine Rolle bei der Diffusion von anderen Sprechweisen spielt. Wodurch das Prestige einer bestimmten Sprechweise bestimmt wird, ist wieder durch spezifische historische Bedingungen bestimmt.

Einleitung

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Die Entscheidung ist aus dem Bedürfnis nach Akkommodation allein nicht erklärbar. Auch in diesem Falle muss die siegreiche Form gegenüber der unterliegenden einen Mehrwert haben. Er kann grundsätzlich in den gleichen lexikalischen Eigenschaften begründet sein, die den Wortersatz als lokalen Wandel begünstigten. Jedoch können auch soziologische Bedingungen eine Rolle spielen, beispielsweise das soziale Prestige der Sprechergruppe, welche die Innovation aufgebracht hat. Die Rolle, welche dieses Kriterium spielt, spiegelt sich im SDS etwa in der abwertenden Bewertung von Antworten als „ländlich“, „bäurisch“ (s. Abschnitt 3.7.1.4). Auch die Verwendung durch die Jugend kann ein Prestigefaktor sein, welche eine Form als „moderner“ und demzufolge als bevorzugenswert erscheinen lässt. Umgekehrt kann aber die Verbindung von lokaler Identität mit sprachlicher Identität die Diffusion verhindern, indem eine Form als „auswärtig, unpassend“ erscheint.5 Dies erklärt allerdings unterschiedliche Grade der Diffusionsaffinität bei unterschiedlichen Konzepten bzw. Onomemen nicht. Ein wichtiges Kriterium ist, wieweit eine Sache überhaupt im ortsübergreifenden Kontakt thematisiert wird. JABERG spricht in diesem Zusammenhang vom „Verkehrswert“ einer Sache: Je kleiner der Verkehrswert eines Gegenstandes, eines Lebewesens oder einer Tätigkeit ist, desto mehr entzieht sich sein Name der nivellierenden Wirkung großer sozialer Zusammenhänge, desto mehr gehört die Benennung der Dorf- oder gar der Familiensprache an. (JABERG 1930, 68)

Anders gesagt: Diffusionsaffinität hängt von der Konstitution und Größe einer Kommunikationsgemeinschaft ab, in der eine Sache überhaupt gemeinschaftsspezifisch zum Thema der Kommunikation gemacht wird. Wir können von themenspezifischen Kommunikationsräumen sprechen. 6 Die räumliche Reichweite themenspezifischer Kommunikationsräume bestimmt sich durch die räumliche Ausdehnung einer Kommunikationsgemeinschaft, in der eine bestimmte Sache relevantes Thema ist. Diese differiert je nach Bedürfnis und Zuständigkeit. Schematisiert gesprochen ist beispielsweise der Haushalt der Familie der Ort zur Befriedigung der unmittelbaren körperlichen und seelischen Lebensbedürfnisse, der Wohnort der Ort der Beschaffung der dafür nötigen Ressourcen und der weiteren sozialen, kulturellen und religiösen Kontakte, die Region der Ort für die Lösung komplexerer Aufgaben wie Handel und Produktion von Waren, die politische Einheit der Ort für die Diskussion politischer Themen. Lokaler Sprachwandel erfolgt 5 6

S. zusammenfassend SIEBENHAAR (2010, 250–252). Der Begriff des themenspezifischen Kommunikationsraums ist vergleichbar mit dem Konzept der community of practice als „aggregate of people who come together around mutual engagement in an endeavour“ (ECKERT / MCCONNELL-GINET 1992, 464). Allerdings liegt beim Konzept der community of practice die soziale Identität im Vordergrund, während hier beim Begriff des themenspezifischen Kommunikationsraums mehr die sachliche Kooperation, die Notwendigkeit der Akkommodation bei der Kommunikation über einen gemeinsamen Handlungskomplex relevant ist. Vgl. auch MEYERHOFF / STRYCHARZ (2013) und die Erläuterungen zum Begriff der Mesosynchronisierung bei SCHMIDT / HERRGEN (2011, 30–32). S. auch die „Begriffs- und Wortsoziologie“ bei KRANZMAYER (1956, IX) mit der Unterscheidung von „verkehrsgebundenen“, „verkehrsnahen“, „verkehrsfernen“ und „verkehrsfremden“ Wörtern.

262

Variationen in Diversitätsmustern

primär innerhalb des entsprechenden themenspezifischen Kommunikationsraums. Sprachliche Akkommodation erfolgt in den Berührungszonen der engeren und der weiteren Kommunikationsräume. Sie bewirkt, dass unter den entsprechenden Bedingungen Innovationen aus dem engeren Kommunikationsraum sich in den nächstweiteren Kommunikationsraum ausbreiten. Das ist jedoch ein Prozess, der sich in der zeitlichen Dimension fortsetzen kann. Wenn eine Innovation sich aus einem engen Kommunikationsraum in einen weiteren Raum ausgebreitet hat, kann in einem nächsten Schritt diese Diffusion sich in einen noch weiteren Raum ausbreiten. Auch ursprünglich eng begrenzte Innovationen können sich damit in weite Räume ausbreiten, soweit die weite Geltung nicht wieder durch Innovationen im kleinen Raum relativiert wird. Diffusionsaffinität wird in dieser Sicht primär von der sachlichen Relevanz einer Sache für eine Kommunikationsgemeinschaft beeinflusst. Weiträumige themenspezifische Kommunikationsräume bewirken relativ große Diffusionsaffinität. Große Diffusionsaffinität kann aber durch einen besonderen sprachlichen Mehrwert zustanden kommen, selbst wenn eine Sache thematisch nur in kleinen Kommunikationsräumen von Relevanz ist. 6.1.3 Zeit – Diachronie – Geschichtlichkeit Die Gestalt von Diversitätsmustern wird durch ihre Geschichtlichkeit geformt. Innovation und Diffusion sind Prozesse in der Zeit. Nicht nur sind es Ereignisse in der Zeit, der Erfolg von Innovation und Diffusion braucht auch Zeit. Das Maß der Diversität hängt so von den Abläufen von Innovation und Diffusion in der Zeit und von deren Zeitdauer ab. Mit der Zeitdimension hängt auch die Formgestalt von Variantenmustern zusammen, speziell ihre Heterogenität, wie in Abschnitt 4.3 erörtert wurde. Je älter ein Onomem ist, desto heterogener ist es potenziell, sofern die Diversität nicht durch Diffusion eingeebnet wurde. Innovation hängt ferner von der Wahrnehmung der Sachen in der jeweiligen historischen Situation ab. Wörter bezeichnen Konzepte und Konzepte beziehen sich auf Sachen in der Welt. Ob und wie lexikalische Innovationen sich ereignen, wird auch dadurch bestimmt, ob und wie die bezeichnete Welt und deren Wahrnehmung sich ändert. Diversität ist so auch durch die Geschichtlichkeit der bezeichneten Welt bestimmt. Wie jedes Wort, so hat deshalb auch jedes Onomem seine eigene Geschichte, je nachdem, welchen Bedingungen der Geschichtlichkeit das bezeichnete Konzept oder die bezeichnete Sache unterworfen ist. Wenn Onomeme in ihrer Diversität verglichen werden, müssen sie auch in Bezug auf die geschichtlichen Bedingungen der Konzeptualisierung der Sache vergleichbar sein. Geschichtlichkeit heißt auch, dass nicht a priori sprachtheoretisch vorhersagbar ist, welche Faktoren für die Entwicklung von Diversitätsmustern im Einzelnen relevant sind.

Diversität und Naturwahrnehmung

263

6.2 DIVERSITÄT UND NATURWAHRNEHMUNG Naturerscheinungen sind weitgehend unabhängig von menschlichen Eingriffen. Freilebende Tiere und wildwachsende Pflanzen treten in einer traditionellen, dörflichen, von der Landwirtschaft geprägten Kultur überall ähnlich in Erscheinung. Sachwandel kann keine Rolle spielen. Das Wetter ist sprichwörtlich unbeeinflussbar. Trotz ähnlicher Voraussetzungen manifestieren die unterschiedlichen Onomeme aber untereinander recht unterschiedliche Formen der Diversität. 6.2.1 Freilebende Insekten Dialektale Bezeichnungen für Insekten sind in beschränkter Zahl in Band VI des SDS dokumentiert; dazu kann man noch „Fliege“ aus Band I beiziehen. 7 Die Auswahl im SDS ist nicht willkürlich, sondern widerspiegelt selbst gewisse sprachliche Zugänge zur Welt der Kleintiere. Es werden vor allem Onomeme dokumentiert, die eine gewisse Varianz der Bezeichnungen erwarten lassen und für die überhaupt eine greifbare, areal umrissene Heteronymie besteht.8 Solche Kleintiere müssen im Alltag relativ häufig in Erscheinung treten und gut sichtbar und identifizierbar sein. Die Grenzen der Erfragbarkeit und Benennbarkeit zeigen sich konkret bei „Glühwürmchen“ (SDS VI 228): Im Kommentar wird vermerkt, dass das Insekt oft nur sporadisch vorkommt und nur selten zu sehen ist, entsprechend waren die Gewährspersonen oft unsicher. Viele andere Insekten sind den meisten Personen überhaupt unbekannt und haben in der Alltagssprache keine lexikalisierte Bezeichnung.9 6.2.1.1 Diversitätstypen Wie in der Einleitung zu diesem Kapitel beschrieben, lassen sich Diversitätsmuster aufgrund der diachronen Entwicklung, der arealen Distribution und der lexikkalischen Variantenmuster charakterisieren und typisieren. Auf der Basis dieser Merkmale lassen sich die Onomeme in folgende Diversitätstypen gruppieren.

7 8

9

Ein weiterer einschlägiger Fall ist die Biene (SDS VIII 105), die die allerdings im SDS nicht als freilebendes Insekt thematisiert worden ist, sondern im Zusammenhang mit der Imkerei. Das gilt auch für die Auswahl bei THURNHEER (1938). Die Auswahl im SDS überlappt sich mit derjenigen bei THURNHERR (1938), wo der Leuchtkäfer, der Siebenpunkt (Marienkäfer), der Ohrwurm, die Assel, der Klopfkäfer, der Hirschkäfer, die Beerenwanze, der Maikäfer, der Junikäfer und der Goldkäfer behandelt werden. Im Übrigen nennt THURNHERR zu den einzelnen Käfern generell sehr viel mehr Heteronyme als der SDS. Dadurch ist auch der Verzicht im SDS auf Angaben zum Junikäfer und zum Goldkäfer zu interpretieren, die sich als Benennungsgegenstand in THURNHERR (1938) als wenig ergiebig erwiesen, u. a. auch, weil sie nur schwer als eigenständige Käferarten identifizierbar sind.

264

Variationen in Diversitätsmustern



Diversitätstyp a: Kontinuität alter Bezeichnungen Eine Reihe von Insektenbezeichnungen leben seit dem Althochdeutschen oder Mittelhochdeutschen fast unverändert weiter, ohne dass sich eine starke Heteronymie entwickelt hätte:10 Onomem [„Fliege“] (SDS I 136) [„Käfer“] (SDS VI 223/224) „Wespe“ (SDS VI 231)

Varian- Varianten tenzahl 1 Flüüge/Fliege/Flöige 2

Chäfer, Gueg

1 (3 ?) Wäschpi, Wächsi/Wäggsi, Wäschgi

ahd./mhd. ahd. fliuga ahd. kefar, wibil ahd. wefsa, wepsa

„Bremse“ (SDS VI 233)

1

Brääme

ahd. brema

„Schwarmmücke“/„Mücke“(?) (SDS VI 235)

1

Mugge

ahd. mugga

Schabe, Miltum (WS)

mhd. schabe, ahd. mil(i)wa

„Kleidermotte“ (SDS VI 242)

2 (4)

Abb. 6.1: Insektenbezeichnungen – Diversitätsyp a

Anmerkungen: – Nicht zu allen angeführten Onomemen bietet der SDS direkte onomasiologische Angaben. Die Angaben zu „Käfer“, „Bremse“ und „Mücke“ müssen aus den jeweiligen Angaben im SDS indirekt erschlossen werden. – Bei den Karten VI 223/224 zu „Käfer“ handelt es sich um eine Lautkarte bzw. eine semasiologische Karte. Dass »Chäfer« und »Gueg« die Grundwörter zu einem alltagssprachlichen Konzept KÄFER sind (das nicht direkt mit einem zoologischen Konzept KOLEOPTERA zu identifizieren ist), wird durch die Tatsache erhärtet, dass bei den meisten Bezeichnungen für Käfer, die als Komposita mit »-Chäfer« oder »-gueg« gebildet sind, keine anderen Lexeme verwendet werden. – SDS VI 233 „Bremse“ ist eine Laut- und Formenkarte. Im Kommentar wird darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen der (großen) Rinderoder Viehbremse und der (kleinen) Regenbremse nicht immer gemacht wird.

10

Die Zahlenangaben in den folgenden Tabellen sind in der Regel nur Annäherungswerte. Gezählt werden grundsätzlich nur lexikalische Varianten; unterschiedliche Wortbildungsmuster zu einem lexikalischen Typ wie unterschiedliche Suffixe oder unterschiedliche Umlautformen werden als eine Variante gezählt, beispielsweise Varianten wie »Ooremüggel«, »Ooremüggeler«, »Ooremügger« zu „Ohrwurm“ (SDS VI, 221). Bei assoziativen Abwandlungen und ähnlichen Veränderungen werden Formen einzeln gezählt, die nicht als bloß lautliche Abwandlung erscheinen.

Diversität und Naturwahrnehmung



265

Der Ausdruck »Brääme« ist aber in Komposita generell die Grundform oder, wenn keine Komposita vorkommen, gilt »Brääme« als alleinige Bezeichnung. In SDS VI 235 wird die einheitliche Bezeichnung »Mugg(e)« zwar der speziellen Art der Schwarmmücke zugeordnet, es ist jedoch zu vermuten, dass der Ausdruck gleichzeitig (oder generell) die allgemeine Bezeichnung für alle Arten von Mücken darstellt, soweit es dafür einen Oberbegriff gibt oder einzelne Mückenarten nicht unterschieden werden. Wie bei »Chäfer/Gueg« lässt sich die Bedeutung von »Mugg(e)« als Oberbegriff aus dem Umstand erschließen, dass die Unterart „Stechmücke“ oft mit Komposita mit »-mugge« benannt wird.

Mit Ausnahmen von »Gueg« ‘Käfer’ sind alle Lexeme auf alte germanische Etyma zurückzuführen, die schon in älterer Sprache gut belegt sind. Zu den einheitlichen Bezeichnungen mit alter Geschichte dürfte im Übrigen auch die im SDS nicht verzeichnete „Hummel“ mit Benennungen wie »Hummele«, »Humble« u. ä. gehören.11 »Gueg« ist offenbar eine alemannische Neuerung, die in keinem anderen Dialekt eine Entsprechung findet und etymologisch nicht schlüssig erklärt werden kann (Id. 2, 161). Geografisch ist das Wort in allen voralpinen und alpinen Dialekten verbreitet, eingeschlossen die Bündner Walser Dialekte. In GL und SG und in der ganzen Nordschweiz fehlt es allerdings. Andererseits ist es im 16. Jahrhundert bei MAALER (1561, 198v als Synonym zu käfer) und nach Id. 2, 159 bei anderen Zürcher Autoren mit der Bedeutung ‘Käfer’ belegt. Das lässt vermuten, dass »Gueg« ursprünglich eine gesamtschweizerdeutsche Verbreitung hatte und von Norden her durch »Chäfer« verdrängt wurde. Wie bei anderen Wörtern für Kleintiere ist allerdings die Bedeutung zum Teil unbestimmt; so kann »Gueg« gelegentlich auch Würmer, Maden und ähnliche Lebewesen bezeichnen.12 Jedoch scheint heute mit den Bezeichnungen »Chäfer« und »Gueg« allgemein ein gefestigtes allgemeines Konzept CHÄFER verbunden zu sein. Dabei hat offenbar eine Vereinheitlichung bzw. Vereinfachung der Konzeptualisierung und Benennung stattgefunden, denn im älteren Deutschen ist neben kefer auch wibel speziell für ‘Kornkäfer’/‘Kornwurm’ bekannt.13 Wieweit mit den jeweiligen Lexemen eine kontinuierliche Bezeichnung eines bestimmten Insekts oder Insektentyps über Jahrhunderte oder eine Kontinuität der damit verbundenen Konzeptbildung verbunden ist, ist im Einzelfall nicht immer klar zu entscheiden. Aus den historischen Belegstellen lässt sich in vielen Fällen nicht präzis erschließen, welche Art von Insekt genau gemeint ist. Wir dürfen aber wohl annehmen, dass mit ›Käfer‹, ›Wespe‹, ›Mücke‹, ›Fliege‹ bzw. deren mund11 12 13

S. auch die Karte „Hummel“ im DWA V; überwiegend bauen die Heteronyme in dieser Karte auf dem Grundwort ›Hummel‹ auf. Id. 2, 160, SDS VI 222 „Regenwurm“, SDS VI 225 „Engerling“. Aufgrund der etymologischen Verwandtschaft von Käfer mit Kiefer ist davon auszugehen, dass Käfer damit ursprünglich als „(mit zupackendem Kiefer) Nagende, Fresser“ bezeichnet werden. Nach KLUGE / SEEBOLD (2011, 462 s. v. Käfer) bezeichnete ›Käfer‹ ursprünglich Heuschrecken.

266

Variationen in Diversitätsmustern

artlichen Varianten zwar nicht zoologisch klar identifizierte Familien, Gattungen oder Arten, sondern entsprechende prototypenhaft erkennbare Gruppen von Lebewesen mit ähnlicher Erscheinung bezeichnet werden, dass diese Prototypen aber über die Jahrhunderte stets etwa die gleiche Gestalt haben und dass die Lexeme auch mit einer konzeptuellen Kontinuität verbunden sind.14 Diese Annahme mag problematisch erscheinen angesichts der Vielfalt der Bezeichnungen für KÄFER, MÜCKE, FLIEGE oder BREMSE (bzw. ‘Käfer’, ‘Mücke’, ‘Fliege’ und ‘Bremse’) und deren Überlappungen und Vertauschungen in den deutschen Dialekten insgesamt sowie der semantischen Unbestimmtheit der entsprechenden mhd. Ausdrücke, wenn man auf die Wörterbuchangaben abstellt.15 Wenn man die Varianten in anderen deutschen Dialekten vergleicht, zeigt sich jedoch, dass die entsprechenden Bezeichnungen insgesamt die am weitesten verbreiteten Heteronyme sind, und dies mit der Bedeutungsverteilung wie im Schweizerdeutschen. Bezüglich des Gegensatzes Mücke ‘Mücke’ – Fliege ‘Fliege’ geht auch SCHUMACHER (1955, 18) davon aus, dass diese Verteilung den ältesten Zustand repräsentiert. Auch die zahlreichen Komposita zur Bezeichnung besonderer Arten mit den jeweiligen Wörtern als Nukleus deuten darauf hin, dass den Simplicia im Allgemeinen die entsprechende ältere, allgemeinere Bedeutung zugrunde liegt.16 Die anderslautenden Varianten für die Grundbedeutungen sind Innovationen, entweder ursprünglich deskriptive Neubildungen wie Knieper (‘Kneifer’) oder Verallgemeinerungen älterer spezieller Ausdrücke wie Wiebel (ursprünglich Kornkäfer oder Mistkäfer).17 Die Veränderungen der Bedeutungsverteilung zwischen Mücke und Fliege und die Neueinführung anderer Ausdrücke mit dieser Bedeutung in gewissen Regionen von deutschen Dialekten sind durch sekundäre Einflüsse ausgelöst worden, etwa durch das Eindringen eines romanischen Lehnwortes Mücke bzw. /Mugg/ (ostfranz. muc, moc, ALF Karte 876) mit der Bedeutung ‘Fliege’ oder den lautli14

15 16

17

Gewöhnlich wird in der Wortschatzforschung nicht beachtet, dass die genannten Prototypen (z. B. FLIEGE) meist in unterschiedlichen Gattungen und Arten und bei näherer Betrachtung in unterschiedlichen Erscheinungsweisen auftreten. Zur Heteronymie in den deutschen Dialekten s. DWA I 12 zu „Mücke“ und SCHUMACHER (1955). In der Darstellung in DWA I 12 und entsprechend bei SCHUMACHER (1955) ist nicht ersichtlich, ob hinter den differenzierenden Ausdrücken mit Komposita wie Roßmücke, Kuhmücke, scheele Mücke, Stallmücke u. ä. bzw. Stechschnock, Giftschnock oder hinter dem Nebeneinander von Mücke und Schnake nicht eine konzeptuell/semantische Differenzierung zwischen ‘Mücke’ als Oberbegriff und ‘Stechmücke’ als Unterart steht. – Konrad von Megenberg unterscheidet „snacken“ ‘Mücken’ und „mucken oder vlieg“ ‘Fliegen’ (s. KONRAD VON MEGENBERG 2003, Kap. III.F.7; III.F.8; III.F.17). Die zweimal verwendete Doppelform „mucken oder vlieg“ und die unterschiedliche Wortwahl in den verschiedenen Handschriften zeigt die Varianz, die in der spätmhd. Schreibsprache bestand und die wohl auf regionale Heteronymie zurückzuführen ist. S. DWB 29, 804, SCHUMACHER (1955, 51–52), auch in Id. 15, 174–175 für das 15./16. Jahrhundert belegt, in spezifischer Bedeutung als ‘Kornkäfer’ oder ‘Käfer, der Stoff zerfrisst’ (Kleidermotte). Soweit die Bedeutungsunterschiede zwischen ›Käfer‹ und ›Wiebel‹ fassbar sind, sind sie charakteristischerweise in praktischen Problemen im Alltag begründet: Bei ›Wiebel‹ scheint der Fokus auf seinem Auftreten als Schädling im Haushalt und in der Vorratshaltung zu liegen.

267

Diversität und Naturwahrnehmung

chen Zusammenfall von /Fliegen/ und /Flöhe/ in der Homonymie /Flee/, welche eine Neuordnung der semantischen Differenzierung durch Teilersatz der alten Ausdrücke veranlasste (SCHUMACHER 1955, 13–23). Eine andere Quelle des semantischen Wandels könnten unterschiedliche Formen der Monosemierung von Heteronymen sein, die durch Prozesse wie Teilellipse bei Komposita synonym geworden sind (SCHUMACHER 1955, 49–52). Aus all dem lässt sich schließen, dass erstens das Schweizerdeutsche weitgehend den ursprünglichen Zustand weiterführt, also konservativ ist, und, angesichts der dieser Verteilung entsprechenden stabilen und weiträumig geltenden Organisation des Wortfeldes, dass auch die Bedeutungsverteilung relativ direkt einem sehr alten Zustand entspricht. Dieser Ausgangszustand kann natürlich selbst das Ergebnis der Vereinheitlichung ursprünglicher Diversität oder Umschichtungen in einem Konzeptbereich mit Diffusion sein. Indiz dafür ist, wie bei ›Käfer‹, dass das Etymon ursprünglich wohl eine eingeschränktere Bedeutung hatte und dass die heutige Verwendung selbst das Resultat von Diffusion ist, oder dass die Etymologie selbst ungeklärt ist, wie bei ›Wespe‹ oder bei ›Wiebel‹. Die Kontinuität besteht darin, dass ein einmal erreichter einheitlicher Zustand bewahrt und nicht durch neue Innovationen wieder in Diversität aufgelöst wird. Diversitätstyp b: Heteronymie aus einem assoziativ weiterentwickelten alten Grundwort Die heutigen sehr unterschiedlichen Bezeichnungn bei „Ameise“ gehen alle letztlich auf die einheitliche althochdeutsche Bezeichnung āmeiza zurück. Im Unterschied zu den Onomemen des Diversitätsyps a hat sich durch assoziative Abwandlungen eine reiche Diversität entwickelt (s. dazu Abschnitt 4.6, S. 210).



Onomem „Ameise“ (SDS VI 229/230)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 50 Ameisse, Ambeisse, Emeess, Uuweisse, Umbeisse, Hambeissi, Hambeissgi, Hambitzgi, Umbeissgi, Wurmbaasle, Wurmöisli, Bääramsle

ahd./mhd. ahd. āmeiza

Abb. 6.2: Insektenbezeichnungen – Diversitätstyp b



Diversitätstyp c: Heteronymie aus alten Bildungen und zusätzlichen assoziativen Abwandlungen und lexikalischen Innovationen Bei einigen Onomemen geht die Varianz auf zwei Arten von Innovation zurück: Viele Varianten sind das Resultat von assoziativen Abwandlungen aus sicher oder wahrscheinlich relativ alten Bezeichnungen. Dazu kommen spätere, deskriptiv motivierte Innovationen, die ihrerseits ebenfalls wieder assoziativ abgewandelt werden können.

268

Variationen in Diversitätsmustern

Onomem

Varian- Varianten tenzahl (Auswahl)

ahd./mhd.

„Heuschrecke“ (SDS VI 222)

ca. 20 Höi-stöffel, -stüffel, -straffel, -struffel, -gümper/gumper, -jucker, -hötzger, Mattegumper

ahd. hewistafil (Notker)

„Schmetterling“ (SDS VI 237/238)

ca. 22 Fifolter, Pfifolter, Zwifolter(e), Pipolter, Pfipfolter, Pfifoltere, Pfifholter, Flüüg-/Fliggholtere, Toggeli, Summervogel, Sunnevogel, Müllervogel, Määlvogel ca. 11 Spinn, Spimmugg, Spilmugg, Spin(ne)mugge(le), Spinnhupp, Spinnuppe, Spinumpele

ahd. fifalter

„Spinne“ (SDS VI 239)

ahd./mhd. spinne (spinn-mugge, spinnwuppe)

Abb. 6.3: Insektenbezeichnungen – Diversitätstyp c

Bei „Heuschrecke“ dominieren Varianten des Musters »(Höi-)st(r)-ä/a/o/u-ff(el)«, wobei nicht immer klar entscheidbar ist, ob es sich um neugebildete Ableitungen von bestehenden Verben oder um bloße assoziative Abwandlungen einer ursprünglichen Form mhd. höustaffel handelt (s. Abschnitt 4.7, S. 215). Daneben kommen lexikalische Abwandlungen des Bedeutungselements ‘springen’ mit Varianten wie »jucke« und »gumpe« vor. Bei „Schmetterling“ stehen sich zwei Gruppen von Bezeichnungen gegenüber (s. Abschnitt 3.2.1, S. 90): assoziative Abwandlungen aus ahd. fifalter und einige wenige deskriptive Innovationen. Erfolgreich war vor allem »Summervogel«. Bei „Spinne“ (SDS VI 239) kommen neben der alten übernommenen Form »Spinn(e)« (m. oder f.) und Ableitungen davon wie »Spinnele« abweichende Varianten wie »Spin(ne)mugge« ›Spinnenmücke‹ »Spilmugge« vor. Ausgangspunkt könnte die präzisierende Bezeichnung »Spinnemugge« sein, die zu weiteren Verschleifungen und Abwandlungen geführt hat. Auffallend ist ferner das zerstreute Vorkommen von Bezeichnungen wie »Spinewuppe«, »Spinnehuppe«, »Spinnuppe«, »Spinnhu(m)pele« die sich in der Regel mit gleichlautenden Bezeichnungen für das Spinngewebe decken (s. SDS VI, 240). Ursprung dieser Ausdrücke dürfte die Bezeichnung »Spine-/Spinnwup(pe)« zu »Wuppe« ‘Weberin’ sein, aus der die übrigen Bezeichnungen als assoziative Abwandlungen abgeleitet worden sind.18

18

Zu Wuppe s. Id. 16, 787. Die angegebenen Formen und weitere Varianten werden in Id. 16, 787 als Varianten zu Spinn(e)wuppe aufgeführt.

269

Diversität und Naturwahrnehmung



Diversitätstyp d: Heteronymie aus Varianten auf der Basis alter narrativer Motive und zusätzlichen lexikalischen Innovationen Ein vierter Typ von Onomemen zeichnet sich dadurch aus, dass zwar die Heteronymie aus einer große Vielfalt von Varianten unterschiedlicher Art und mit unterschiedlicher lexikalischer Ausprägung besteht, diese Heteronyme aber primär durch eine gemeinsame narrative Motivik zusammengehörig erscheinen und diese narrative Motivik ihrerseits ein hohes Alter aufweist. Onomem „Ohrwurm“ (SDS VI 221)

„Marienkäfer“ (SDS VI 227)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 20 Oorele, Öörele, Döörele, Ooregrübler, -chlemmer, -schlüüffer, Ooremüggeler, -mützeler, -nüggeler, -nigel, -rüttel ca. 50 Muettergottes-, Marie-, Liebgott-, Himel(s)-, JesusHerrgotts-, Katriinechäferli/-güegeli Frauetriinli, Chäfertriinli, Anketriinli, Gold-/Brunnechäferli/-güegeli

ahd./mhd. (normalisiert) mhd. ōrgrübel

(mhd. sonnenkalp)

Abb. 6.4: Insektenbezeichnungen – Diversitätstyp d

Nach SEEBOLD (1980, 230–238) leiten sich die Benennungen des Ohrwurms aus der Vermischung von altem Volksglauben und medizinischen Praktiken der Spätantike ab: Das Pulver aus den getrockneten zerstoßenen Insekten helfe gegen Krankheiten, die durch „Ohrwürmer“ (im eigentlichen Sinn, also Würmer im Kopf) verursacht werden. Das Insekt selbst wurde aufgrund ambiger Bezeichnungen mit diesen Würmern verwechselt. Gemeinsam ist den meisten Bezeichnungen die Vorstellung, dass das Insekt etwas mit Ohren zu tun hat. Die einzelnen Ausdrücke wandeln aber das Motiv in unterschiedlicher Weise ab; sie gehen etwa von der Vorstellung aus, das Insekt schlüpfe in die Ohren (»Ooregrübel« ›Ohrgrübler‹ zu »grüble« ‘in einem Loch bohren’, »-schlüüffer« ›-schlüpfer‹) oder es zwicke mit den gabelartigen Fortsätzen in die Ohren (»Oorechlemmer« ›Ohrklemmer‹). Keine dieser Vorstellungen ist sachlich begründet. Für das Alter dieser Vorstellungen spricht, dass es Benennung mit Assoziationen zum Ohr auch in anderen Sprachen gibt (ae. earwicg [8. Jh.], frz. perce-oreille). Die heterogenen Variationen lassen vermuten, dass die verschiedenen Bezeichnungen nachträgliche narrative Abwandlungen eines nicht mehr verstandenen Motivs sind. Etymologisch nicht einzuordnen sind die Elemente »(Oore)-müggeler«, »-mützeler«, »-nüggeler«, »-nigel«, »-rüttel«, die ebenfalls die Motivik “Ohr” aufnehmen, ohne dass die Semantik des Grundworts erklärbar ist. Die Diversifikation ist nicht durch inhaltliche Benennungsprobleme veranlasst, sondern primär durch die Wortform;

270

Variationen in Diversitätsmustern

inhaltlich erbringen die Abwandlungen keinen Mehrwert. Wenn die Zurückführung der Benennungsmotive auf antike Praktiken und Vorstellungen zutrifft, ist der durchgehenden Assoziation des Insekts mit Ohren bei allen Variationen im Einzelnen aber eine alte, konsequent weitergeführte Kontinuität zuzuschreiben. Vergleichbar mit „Ohrwurm“ in Bezug auf die Variantenbildung ist „Marienkäfer“. In unterschiedlicher Weise wird der Marienkäfer mit Heiligen, mit Gott oder dem Himmel in Verbindung gebracht, und als »Himmels-« »Hergotts-«, »Liebgotts-, »Jesus-«, »Muetergottes-«, »Marije-,« »Katriine-« (»-chäfer/-gueg«) u. ä. bezeichnet. Alle diese Varianten können nicht isoliert entstanden sein, sondern müssen auseinanderentwickelt worden sein.19 Auch hier deutet die Tatsache, dass dieser Käfer in vielen Sprachen Europas ähnlich bezeichnet wird, darauf hin, dass die Benennung früh entstanden ist. Zusätzliche Varianten entstehen durch Verkürzung von »Katriinechäferli« zu »Katriinli« und durch assoziative Abwandlung der letzteren Form zu Formen wie »Anketriinli«, »Chäfertriinli« u. ä. Daneben gibt es für „Marienkäfer“ auch deskriptive Bezeichnungen, die vom Schema religiöser Motivik abweichen, etwa »Brunne-«, »Gold-« oder »Glückschäferli/güegli«. Derartige deskriptiven Benennungen sind wohl unabhängig von den assoziativen Abwandlungen aus älteren Bezeichnungen oder möglicherweise als Ersatz dafür eingeführt worden. Wie bei „Ameise“ gehen die Bezeichnungen auf alte Ursprünge zurück. Der Anlass und die Form dieser Abwandlungen liegen aber wie bei „Ohrwurm“ zunächst in Problemen der inhaltlichen Motiviertheit: Die narrative Motivik wird nicht mehr verstanden oder ist inhaltlich nicht akzeptabel und wird deshalb – primär auf inhaltlicher Ebene – abgewandelt. In zweiter Linie spielt assoziative Abwandlung mit. –

Diversitätstyp e: Heteronymie aus jüngeren, deskriptiv motivierten Innovationen Bei einem letzten Typ ist die Heteronymie auf jüngere oder jüngste Innovationen zurückzuführen. Reflexe von älterem Sprachgebrauch sind nicht zu erkennen und können auch nicht rekonstruiert werden. Wenn ältere Bezeichnungen belegt sind, werden sie in den Heteronymen der Gegenwartssprache nicht weitergeführt.

19

Die Variationen sind teilweise auch konfessionell bedingt. In katholischen Gegenden dominiert »Muettergotteschäferli/-güegeli« ›Muttergotteskäferchen‹, in reformierten Gegenden sind dagegen Ausdrücke wie »Herrgottschäfer« ›Herrgottskäfer‹, »Liebgottchäfer« ›LieberGott-Käfer‹, »Himmelsgüeg(l)i« u. ä. verbreitet. Die motivische Differenzierung zwischen ›Muttergottes-‹ (= katholisch) und ›Herrgotts-‹ (= reformiert) kann konfessionsgeschichtlich erklärt werden: Maria als herausragende Figur der Heiligenverehrunin erschien in der Reformation zur Bezeichnung eines Käfers nicht mehr angebracht und wurde durch Verweise auf Gott oder Jesus ersetzt. Die konfessionelle Begründung wird bestätigt durch dieselbe Differenzierung im Rätoromanischen (s. HOYER 1996, 9).

271

Diversität und Naturwahrnehmung

Onomem „Maikäfer“ (SDS VI 226)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 6

Mei(e)chäfer, Laubchäfer, Flüügchäfer, Faaru (WS)

ahd./mhd. ahd./mhd. inger, enger

„Glühwürmchen“ (SDS VI 228)

ca. 12 Glüe-, Schiin-, Lüücht-, Liecht-chäfer/gueg/ (-würmli)

„(große) Waldameise“ (SDS VI 232)

ca. 27 Waldhängscht, häischt, ? -häntsch(g)e; -gäischt, (ahd. āmeiza) -mäischter, Wa(a)lhängscht, -gäischt, Wo(o)hängscht , Wolhäntsche, Maläischte, (Wald-)chlammere, Chlämpe, Chluppe, grooss/root/schwarz Ameise, Waldameise

„kleine Bremse (Regenbremse)“ (SDS VI 234)

ca. 40 chlii Brääme, Stächbrääme, (ahd. brema) spitz Chäib, Äigschterli, Eschel(-bräme), Triesch/Zwilchchittel, Schwööbli, Wal(l)iser, Stadtbueb, Habermannli, Baselbeppi, Latterbacher

„Stechmücke“ (SDS VI 235)

ca. 19 Surimugge, Suri, Singmug- (ahd. mugge) ge, Singalees, höchbeinig Mugge, Spanisch Mugge, längbeinig/-beinet Mugge, Längscheichler, (Suri-) Schnaagge

„Beerenwanze“ (SDS VI 236)

ca. 11 Chriesistinker/-stänker, Stinkgueg, (Chriesi-) -Gaagg, -gwaagg, -Gauch, Mauch

?

„Weberknecht“ (SDS VI 241)

ca. 34 Wäberknecht, Zimmermaa, Gäisshirt, Schniider, Tüüfelsross, Hellgeiss, Guggersgeiss, Hoobeinler, Zeigerheini

?

Abb. 6.5 Insektenbezeichnungen – Diversitätstyp e

ahd. gleimo, glīmo

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Variationen in Diversitätsmustern

Anmerkungen: – Zu „Maikäfer“: »Faaru« (WS) ist aus den benachbarten frankoprovenzalischen Dialekten entlehnt (frankoprov. vara, vgl. FEW 17, 569). – Zu „(große) Waldameise“: Die große Variabilität bei „(große) Waldameise“ rührt primär von den zahlreichen Varianten, die mit assoziativer Abwandlung aus »Waldhängscht« > »Waldhäischt« gebildet worden sind. Der Typ ›Waldhengst‹ dürfte nicht allzu alt sein; die ältesten Belege in Id. 2, 1452 stammen vom Anfang des 17. Jahrhunderts. – Zu „Stechmücke“: Die Bezeichnung »Schnoogge« (›Schnake‹) für ‘Stechmücke’ in der Nordschweiz im Unterschied zu »Mugge« ‘Mücke’ allg. (nach SDS VI 235 ‘Schwarmmücke’) ist aus der nördlichen Nachbarschaft diffundiert. Das Wort scheint dort ursprünglich als Ersatz für mhd. mugge ‘Mücke’ eingedrungen zu sein, was durch den Zusammenfall der Entlehnung mugg ‘Fliege’ (aus ostfranz. muc, moc) mit altem mugge ‘Mücke’ zur Differenzierung notwendig wurde. Nach SDS VI 235 blieben beide Wörter im Nordstreifen des Schweizerdeutschen erhalten und wurde dieses Nebeneinander zur semantischen Differenzierung zwischen ‘Mücke’ als Oberbegriff und »Schnaagge« ‘Stechmücke’ ausgenützt.20 Dass allgemein die Stechmücke als Unterart der Mücke verstanden wird, zeigen die häufigen Spezifizierungen der Stechmücke mit Erweiterungen zum Grundwort »-mugge«. Nach SDS VI 235 wird allerdings nicht überall zwischen den verschiedenen Arten von Mücken unterschieden. Die Heteronyme der Onomeme in dieser Gruppe sind nach Bildung und Form neuere Innovationen. Diese Innovationen sind meist als konzeptuelle Innovationen zu interpretieren, d. h. als Neubenennungen von Insekten, für die keine kontinuierliche Tradition der Konzeptualisierung und Benennung feststellbar ist. Selbst wenn einige davon Wortersatz für einen anderen gegebenen Ausdruck sein können, wäre der hypothetische vorher gegebene Ausdruck wiederum auf konzeptuelle Innovation zurückzuführen. Das gilt auch für das Glühwürmchen, auch wenn dafür schon im Althochdeutschen Benennungen wie gleim(o), glīm(o) belegt sind, die auch im Mittelhochdeutschen weiterleben. Das Insekt war also durchaus als Konzept an sich schon früh sprachlich erfasst. Davon findet sich allerdings im Schweizerdeutschen keine Spur. Die belegten Bezeichnungen sind zudem alle auch innerhalb der Gegenwartssprache motiviert. Das heißt, sie wurden nicht aufgrund von traditionellen Bezeichnungen oder Kenntnissen benannt, sondern auf der Grundlage einer neu entwickelten Motivik benannt. Als Konzept ist das Insekt offenbar in Vergessenheit geraten oder es war an manchen Orten überhaupt nicht bekannt und wurde neu konzeptualisiert und benannt. Dazu passt, dass nach dem Kommentar in SDS VI 228 die Gewährsleute oft unsicher waren, weil das Tier nur selten zu sehen ist. Sie gaben oft mehrere Antworten und die geografische Verteilung ist unscharf; wenige Bezeichnungsarten sind über das ganze Gebiet verstreut, ohne dass sich diese auf klare Diffusionsprozesse zurückführen lassen. 20

S. SCHUMACHER (1955, 18).

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Zudem wurde in der nördlichen Hälfte häufig der aus der Standardsprache entlehnte Ausdruck »Glüewürmli« ›Glühwürmchen‹ angegeben. Anders dürfte die Sachlage bei „Maikäfer“ sein, einem Insekt, das aufgrund des regelmäßigen massenhaften Auftretens im kollektiven Wissen seit jeher kontinuierlich präsent gewesen sein dürfte und auch schon alte Benennungen besitzt. Jedoch hat sich die Bezeichnungsweise des Insekts in seinen beiden Erscheinungsformen als Larve (Engerling) und Imago (Käfer) geändert. Im Mittelhochdeutschen und im älteren Schweizerdeutschen wird im Allgemeinen das Insekt mit demselben Wort in seinen beiden Gestalten (Raupe bzw. Engerling und Käfer) als inger oder enger bezeichnet. 21 Im Schweizerdeutschen der Gegenwart wird fast immer zwischen den beiden Erscheinungsformen Engerling und Käfer lexikalisch differenziert.22 Dabei wurde das Lexem inger/enger in den meisten Regionen eingeengt auf die Erscheinungsform der Larve (vgl. SDS VI 225 „Engerling“). Für die Erscheinungsform des Käfers wurden neue Bezeichnungen eingeführt. Ob die Einengung von »Inger« auf ‘Engerling‘ oder eine grundsätzliche konzeptuelle und lexikalische Differenzierung Anlass zu dieser Umorganisation war, ist im Nachhinein kaum zu entscheiden. Die Bezeichnung ›Laubkäfer‹ ist für das frühe 16. Jahrhundert bei VADIAN bezeugt (Id. 3, 162), ebenso für die gleiche Zeit bei VADIAN und FRISIUS die engere Bedeutung ‘Engerling’ (Id. 1, 335). 6.2.1.2 Lexikalische und konzeptionelle Kontinuität Die verschiedenen Diversitätstypen zeigen unterschiedliche Kontinuitäten der Konzeptualisierung und der Benennungen im Zeitverlauf. Wenn eine Bezeichnung schon früh festgelegt ist und unverändert weiter tradiert wird, ist das ein Indiz dafür, dass die Sache, in unserem Zusammenhang das betreffende Insekt, seit der Zeit, da die Bezeichnung dokumentiert ist, als solches identifiziert ist und die Identität über alle die Jahrhunderte und den Wechsel der Generationen tradiert worden und erhalten geblieben ist. Das gilt bei unseren Beispielen für die Insekten der Diversitätstypen a und b.23 Lexikalische Diversität zeigt lexikalische Diskontinuität an, impliziert an sich allerdings nicht auch Diskontinuität der Konzeptualisierung. Sprachliche Innovation auf Ausdrucksebene kann mit der kontinuierlichen Bewahrung der Identität 21

22 23

Vgl. etwa in DIEBOLD SCHILLINGS Berner Chronik die Formulierungen „die würm oder kefer, die man nempt die enger“ (SCHILLING 1901, 180) und „Du unvernünftige und unvolkomne creatur mit namen enger, ... nuo hastu mit dinem anhang grossen schaden getan im ertrich und uf dem ertrich eins merglichen abbruchs zitlicher narung der menschen und unvernunftigen tieren“ (SCHILLING 1901, 182). Ebenso in ANSHELMS Berner Chronik: „Von einem wunderlichen, aberglöubigen rechtshandel, die inger, käfer und würm zu verbannen und zuo vertriben“ (ANSHELM 1884, 148). Nur in einzelnen Walser Dialekten von GR besteht resthaft die alte allgemeine Bedeutung weiter, indem mit »Inger« sowohl die Larve wie der Käfer bezeichnet wird. Natürlich gilt dies für Gattungen in der alltäglichen Wahrnehmung und mit dem alltäglichen beschränkten Differenzierungsbedürfnis, nicht im zoologischen Sinn.

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eines Konzepts einhergehen. Ein Indiz sind vor allem lexikalische und motivische Zusammenhänge zwischen den Heteronymen in diachroner oder synchroner Sicht. Das gilt für sprachlich motivierte assoziative Abwandlungen wie bei „Ameise“. Mit rein formalen Veränderungen der Wortform können keine konzeptuellen oder semantischen Veränderungen verbunden sein. Kontinuität der Bezeichnungsweise liegt auch bei den Varianten der Typen c und d vor, wo zwar oft den Innovationen mehr als rein formale Veränderungen einer Ausgangsform zugrunde liegen; die entsprechenden Veränderungen schließen sich aber motivisch an vorgegebene Muster an. Die meisten Varianten bei „Heuschrecke“ sind entweder assoziative Abwandlungen aus »Höistaffel« oder Anpassungen des Grundwortes an dialektal geläufigere Bezeichnungen des Konzepts HÜPFER. Das Benennungsmotiv bleibt jedenfalls immer dasselbe. Kontinuität der Identifikation eines Insekts ist auch anzunehmen, wenn der narrative Gehalt zwar variiert, aber nicht auf neuen Motiven aufgebaut wird, wie beim Marienkäfer. Damit muss auch in allen diesen Fällen von einer kontinuierlichen Bewahrung des Konzepts ausgegangen werden. Auch Wortersatz bedeutet schließlich ceteris paribus konzeptuelle Kontinuität. Wenn an die Stelle einer bestehenden Benennung einer konzeptuell identifizierten Sache eine neue Benennung tritt, heißt das automatisch, dass die Sache konzeptuell vorgegeben ist und nicht ein neues Konzept dafür entwickelt wird. Freilich muss dabei immer geklärt werden, ob nicht doch hinter der Innovation lokale konzeptuelle Innovation steckt. Im Falle von „Schmetterling“ mit der Innovation »Summervogel« ist die Kontinuität sachlich naheliegend. Der Ersatz des intransparenten Typs »Fifalter« durch die transparente Form »Summervogel« kann als lexikalische Optimierung begründet werden. Diese Annahme wird auch gestützt durch den Umstand, dass in den alpinen Dialekten mit den assoziativen Abwandlungen zu ›Fifalter‹ mit ihrer langen Geschichte unzweifelhaft konzeptuelle Kontinuität vorliegt. Sonderfälle sind allerdings Bezeichnungen wie »Müllervogel« und »Määlvogel« ›Mehlvogel‹, die vermutlich aus Bezeichnungen von speziellen Faltern verallgemeinert wurden. Dies könnte mit strukturellen Veränderungen des Konzeptfelds verbunden gewesen sein. Wo in der Heteronymie diachron keine lexikalischen und motivischen Kontinuitäten feststellbar sind, dürfte dagegen konzeptuelle Innovation der Grund für die Diversität sein. Diversität aufgrund von konzeptueller Innovation ist in den meisten Fällen des Typs e anzunehmen. Soweit feststellbar sind die Bezeichnungen der entsprechenden Insekten alle jüngeren oder sehr jungen Datums. Nur in Ausnahmefällen lassen sich Verbindungen zu früheren Benennungen feststellen. M. a. W., selbst wenn diese Insekten immer schon vorhanden waren und teilweise auch Benennungen dafür belegt sind, sind sie erst relativ spät sprachlich in dem Sinn als besondere Typen ausgesondert und identifiziert worden, in dem sie sich heute im Wortschatz manifestieren. Zu dieser Annahme passt, dass gemäß den Angaben in SDS VI 233/234 und VI 235 die Ausdifferenzierung zwischen ‘Mücke’ und ‘Stechmücke’ bzw. ‘Bremse’ und ‘Regenbremse’ nicht überall durchgeführt wird, entsprechend der Tatsache, dass konzeptuelle Innovationen nicht zwingend an allen Orten parallel durchgeführt werden müssen.

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6.2.1.3 Kontinuität, Wahrnehmbarkeit und Prototypizität Was sind die Gründe für das unterschiedliche Alter und die unterschiedlichen Kontinuitäten der Insektenbezeichnungen? Aus dem Wesen der Insekten selbst sind sie nur bedingt abzuleiten. Ein genauerer Blick zeigt, dass diejenigen Insekten, die dominant mit deskriptiven Innovationen bezeichnet werden und wenig Kontinuität in der Konzeptbildung und Benennung zeigen, meist als Unterarten zu übergeordneten Arten erscheinen, so die große Waldameise, die Regenbremse und die Stechmücke.24 Die Insekten mit lexikalischer und konzeptueller Kontinuität der Bezeichnungen erscheinen so als übergeordnete Arten. Auch der Sonderfall des Maikäfers kann darunter gerechnet werden. Beim Weberknecht lässt sich vermuten, dass er entweder in einer weniger differenzierten Betrachtungsweise unter das Konzept der Spinne subsumiert werden kann oder wegen seiner eigenartigen Gestalt aus der geläufigen Prototypenklassifikation herausfällt. Im Sinne der Prototypentheorie kann man all das so interpretieren, dass gewisse Insekten aufgrund der Wahrnehmbarkeit seit jeher als Basiskategorien von bestimmten Prototypen konzeptualisiert worden sind und diese einheitliche Wahrnehmung auch zu einer einheitlichen Benennung führt, wenn auch nicht notwendigerweise von Anfang an, so doch innerhalb einer Sprechergemeinschaft auf längere Frist.25 Wenn bei Unterarten mehr Varianz zu beobachten ist als bei den Benennungen übergeordneter Arten, bedeutet das, dass die Unterarten erst sekundär (oder u. U. gar nicht) als Unterarten der Basiskategorien differenziert werden und dass dies lokal jeweils unabhängig geschieht. Es ist beispielsweise zwar durchaus denkbar, dass die Schmeißfliegen, die auf Alpweiden massenhaft auf Kuhfladen auftreten, wenn sie dort ihre Eier ablegen, im bäuerlichen Umfeld ihre eigenen Bezeichnungen erhalten. Diese Insekten werden jedoch höchstwahrscheinlich primär der Kategorie FLIEGE zugeordnet; die speziellen Bezeichnungen erfolgen lokal beschränkt und werden nicht weiterverbreitet, da es sich um eine unwichtige und jahreszeitlich ephemere Erscheinung handelt. 6.2.1.4 Alltagssprachliche Taxonomien Aus den unterschiedlichen diachronen Entwicklungsformen der einzelnen Insektenbezeichnungen und deren lexikalischer Struktur lässt sich eine alltagssprachliche Taxonomie der Insekten ableiten. In der Prototypentheorie wird davon ausgegangen, dass Basiskategorien grundsätzlich mit einfachen, lexikalisch nicht abgeleiteten Lexemen bezeichnet werden. Untergeordnete Kategorien werden dagegen mit Ableitungen, vor allem mit Komposita bezeichnet, die Bezug auf die Basiska24

25

‚Arten‘ und ‚Unterarten‘ in einem alltagssprachlichen Sinn. Zoologisch handelt es sich je nachdem (in absteigender Reihenfolge) um Familien, Gattungen und Arten. S. die nachfolgenden Bemerkungen zur prototypenbasierten Taxonomie. Zur Rolle von Basiskategorien und der Differenzierung zwischen übergeordneten und untergeordneten Kategorien in der Prototypentheorie s. ROSCH (1978), TAYLOR (2003).

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tegorie nehmen.26 Dies trifft auch in unserem Bereich teilweise zu; allerdings wird die Gültigkeit der These durch die diachronen Entwicklungen und die dialektale Diversität eingeschränkt. Jede Bezeichnung einer Sache ist ursprünglich wohl motiviert (wenn sie nicht eine Entlehnung ist). Das gilt auch für Bezeichnungen wie ahd. āmeiza, fliuga, kefar, wefsa, brema. Durch Sprachwandel wird die Motiviertheit jedoch meist verdunkelt. Dass die verdunkelte Bezeichnung ihre Bedeutung beibehält, zeigt die Kontinuität der Konzeptualisierung. Diachrone Vorgänge können ferner lexikalische Erscheinungen zeitigen, die nicht unbedingt als einfache Wortformen erscheinen. Relevant ist die diachrone Kontinuität der Bedeutung und Konzeptualisierung, die mit den wechselnden Wortformen verbunden ist, und damit zusammenhängend das Fehlen von echten deskriptiven Innovationen bei den Bezeichnungen. Auch dies muss bei der Rekonstruktion einer Taxonomie einbezogen werden. Eingeschränkt wird die Grundthese auch dadurch, dass bei den Unterkategorien manche Bezeichnungen lexikalisch keinen Bezug auf die Basiskategorien nehmen, sondern andere Merkmale in den Vordergrund stellen. Die Unterordnung wird oft nur regional beschränkt lexikalisch erkennbar. Man darf aber annehmen, dass den heteronymen Bezeichnungen der gleichen Sache die gleiche Taxonomie zugrunde liegt. Unter diesen Voraussetzungen können wir aus der Gesamtheit der Bezeichnungsmöglichkeiten für die Gegenwart folgende Taxonomie rekonstruieren: Hauptkategorien Käfer

Beerenwanze Wespe Fliege Mücke Bremse Ameise (Waldameise) Heuschrecke Schmetterling Kleidermotte Ohrwurm Weberknecht

Unterkategorien Maikäfer Marienkäfer (Glühwürmchen) (Beerenwanze)

Stechmücke Regenbremse (Waldameise)

Abb. 6.6: Dialektale Taxonomie der Insekten aufgrund der lexikalischen Struktur

Was in dieser Taxonomie hauptsächlich auffällt, ist, dass die Taxonomie nicht nur zoologisch, sondern auch in Bezug auf die konkreten Erscheinungsformen sehr 26

S. z. B. TAYLOR (2003, 49–50), LÖBNER (2003, 172–174).

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inkonsequent ist. Es gibt ein allgemeines Konzept KÄFER (ungefähr dem zoologischen Begriff der Deckflügler entsprechend), unter das einzelne besondere Sorten als Unterarten eingeordnet werden. Die verschiedenen Arten von Hautflüglern werden dagegen einzeln und sehr differenziert als eigene Basiskategorien ausgeschieden und es gibt keine übergeordnete Kategorie dazu wie bei den Käfern. Auch diese Situation kann mit der Erscheinungsweise und Wahrnehmbarkeit der betreffenden Insekten in Zusammenhang gebracht werden. Hautflügler kommen auffällig in der Luft fliegend und summend daher, sie sind leicht wahrnehmbar und leicht unterscheidbar. Käfer leben eher im Verdeckten. Die einzelnen Unterarten werden selten deutlich sichtbar, ihr Verhalten ist nicht leicht deutbar. So drängt sich eine spezielle Benennung spezieller Käfer selten auf und es liegt nahe, dass sie alle pauschal mit einem allgemeinen Wort bezeichnet werden. Dabei wurden frühere Unterscheidungsmöglichkeiten wie jene zwischen ›Käfer‹ und ›Wiebel‹, mit denen das unterschiedliche schädliche Verhalten erfasst wurde, sogar eingeebnet. 6.2.1.5 Bezeichnungsstile Deskriptiv motivierte Heteronyme zeigen unterschiedliche Bezeichnungsstile zwischen sachorientierten und expressiven Bezeichnungsverfahren. Bei „Maikäfer“, „Glühwürmchen“ und „(große) Waldameise“ kommen ausschließlich relativ neutrale, sachbezogene Bezeichnungen vor. Andere Onomeme enthalten neben sachbezogenen auch expressivere Heteronyme in dem Sinne, dass die Bezeichnungen über Metaphern und narrative Hintergründe eine besondere Anschaulichkeit und einen besonderen Anspielungsreichtum erhalten, dass Wertungen mit einbezogen werden oder dass Anspielungen auf besondere Vorstellungen gemacht werden. Die narrativen Elemente bei den Bezeichnungen des Marienkäfers mit Anspielungen auf Gott, Jesus oder Maria konnotieren eine besondere Wertschätzung des Insekts. Wenn die Stechfliege als »Surimugge« ›Surrmücke‹, »Suri« ›Surrer‹, »Singmugge«, »Singalees« (scherzhaft zu ›singen‹) bezeichnet wird, dann wird darin umgekehrt eine besonders enervierende Eigenschaft thematisiert. Ähnlich expressive Ausdrücke finden sich bei „Regenbremse“ (SDS VI 234) mit Benennungen wie »Stächbrääme« ›Stechbremse‹, »spitz Chäib« (»Chäib«: allg. pejorative Personenbezeichnung), Anspielungen auf die grauen Farbe über anschauliche Metaphern wie »Eschel/Eschelbräme« ›Eselbremse‹ (wegen der grauen Farbe), »Trieschchittel«, »Zwilchchittel« (»Triesch»/»Zwilch« ‘grauer Baumwollstoff’) und scherzhafte Anspielungen auf Ortsnamen wie »Wal(li)ser«, »Schwööbli« ›Schwäblein‹, »Stadtbueb(li)« ›Stadtbube‹, »Latterbacher«, die wohl eine angebliche Herkunft aus diesen Gegenden andeuten sollen. Lediglich der Ausdruck »chlii Brääme« ›kleine Bremse‹ bleibt sachlich. Sprechende Bezeichnungen finden sich auch bei der „Beerenwanze“ mit »Chriesistinker/stänker» ›Kirschenstinker‹ oder »Stinkgueg« ‘Stinkkäfer’, wegen ihrer Eigenschaft, Kirschen auszusaugen und einen üblen Geruch zu hinterlassen. Daneben wird das Insekt mit weniger transparenten Bezeichnungen wie »(Chriesi-)Gaagg«, »-Gwaagg«, »-Gauch« (zu

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»Gauch« (‘Kuckuck’?) und »Mauch« bezeichnet.27 Es handelt sich um Lexeme mit unklarem etymologischen Hintergrund, die im Allgemeinen als abfällige Bezeichnungen dummer Menschen verwendet werden. Dass das Motiv des Stinkens überregional in verschiedenen Varianten aufgenommen wird, kann auf überregionale Diffusion dieses Motivs deuten, ebenso der stereotype Bezug auf die Kirsche. Bei „Weberknecht“ enthalten viele Bezeichnungen Vergleiche mit Handwerksberufen, die von anschaulicher Metaphorik geprägt sind, so die Benennungen »Wäberknecht« ›Weberknecht‹, »Zimmermaa«, ›Zimmermann‹ »Schniider« ›Schneider‹, Anspielungen (wie auch die standarddeutsche Bezeichnung Weberknecht), die gewöhnlich als Vergleiche mit einer typischen Handlung der genannten Berufe interpretiert werden. Dazu gehört auch der Ausdruck »Zeigerheini« ›Zeigerheinrich‹ (mit Weiterbildungen wie »Heinizeiger« und »Veezeiger«), welcher die Bewegungen der langen Beine mit dem Scheibenweiser im Schützenstand vergleicht, der eine lange Zeigerkelle hin und her schwenkt, um einen Fehlschuss anzuzeigen. Andere Bezeichnungen werden mit volkstümlichem Aberglauben in Beziehung gebracht. Als teilweise euphemistische Anspielungen auf den Teufel werden Benennungen wie »Tüüfelsross« ›Teufelsross‹, »Hellgeiss« ›Höllengeiß‹, »Guggersgeiss« (mit »Gugger« als euphemistische Umschreibung des Teufels) gedeutet (KSDS 175). Auch ›Schneider‹ ist eine euphemistische Bezeichnung des Teufels. Die Komposita mit Tierbezeichnungen fügen ein zusätzliches Element der Anschaulichkeit hinzu. Einer stringenten Deutung entzieht sich »Gäisshirt« ›Geißhirte‹, das aber auch so als Bildung mit einer gewissen suggestiven Anschaulichkeit sich in das Gesamtbild fügt. Expressive Elemente in Insektenbezeichnungen drücken besondere emotionale Einstellungen zur Sache aus. Der Marienkäfer ist ein besonders hübscher, farblich auffälliger Käfer, der z. B. für Kinder ein beliebtes Motiv für Spiele und Verse ist. Die Regenbremse und die Stechmücke sind im Sommer massenhaft auftretende Insekten, die bei der Landarbeit oder nachts durch Stiche konkret lästig werden können. Weberknechte und Ohrwürmer sind keine Schädlinge, sie sind aber lästig, weil sie unvermittelt oder an unerwünschten Orten auftreten und so negative Emotionen oder Ekel und Abwehrreaktionen wecken. Dem scheint entgegenzusprechen, dass auch andere Insekten emotionale Reaktionen auslösen können, ohne dass ihre Benennungen durch besondere Expressivität auffallen würden. Wespen können durch Stiche noch weit unangenehmer werden als Stechmücken, Maikäfer sind als oft verheerende Fressschädlinge sehr unbeliebt, umgekehrt könnten auch Schmetterlinge als ästhetisch ansprechende Insekten zu besonderen Benennungen Anlass geben. Neben dem Umstand, dass diese letztgenannten Insekten als Basiskategorien einheitliche Bezeichnungen erhalten haben, fällt aber auf, dass die Insekten, die besonders häufig expressive Bezeichnungen erhalten, einerseits relativ harmlos sind, aber gleichzeitig besonders direkt in die unmittelbare Nähe oder in Körperkontakt mit dem Menschen kommen. Bremsen und Mücken stechen den Menschen, um sich von deren Blut zu ernähren, während Wespen allenfalls aus Notwehr stechen. Ohrwürmer tauchen unvermittelt unter 27

Nach Id. 2, 105 deswegen, weil die Beerenwanze angeblich aus ‚Kuckucksspeichel‘ entsteht.

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Blumentöpfen oder in Salatköpfen auf, Weberknechte an Wänden und Decken in Innenräumen, alle an Orten, an denen der Mensch lieber keine Insekten antrifft. Im positiven Sinne können Kinder mit Marienkäfer auf der Hand spielen. Umgekehrt sind Schmetterlinge, obzwar ästhetisch attraktive Lebewesen, nicht wie Marienkäfer leicht ergreifbar und für Spiele geeignet. 6.2.1.6 Faktoren der Diversität Wie die vorangehenden Analysen zeigen, sind synchrone Unterschiede in der arealen Diversität von Insektenbezeichnungen mit diachronen Prozessen auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Anlässen und Motivationen zu erklären. Die einzelnen Faktoren wirken auf komplexe Weise zusammen und führen in jedem Einzelfall zu individuellen Diversitätsmustern. Salienz und konzeptuelle Kontinuität: Was leicht wahrnehmbar und unterscheidbar ist, wird unmittelbarer in ein Konzept gefasst und benannt, als was unauffällig ist oder erst bei näherer Betrachtung als besondere Art erkennbar ist. Auffällige und gut unterscheidbare Insekten werden früher konzeptualisiert und benannt als unauffällige. Je ursprünglicher die konzeptuelle und sprachliche Identifikation eines Insekts ist, desto kontinuierlicher wird das Konzept und seine Bezeichnung tradiert, denn für einen konzeptuellen oder sprachlichen Wandel gibt es in dieser Beziehung keinen Anlass. Entsprechend besteht hier Innovationsaversion. Entsprechend geringer ist ceteris paribus die Diversität, sei es, dass die Einheitlichkeit seit jeher galt und sich mit einer Sprechergemeinschaft ausbreitete, sei es, dass durch fortgesetzte Diffusion einer Hauptform eine mögliche Diversität abgebaut wurde. Wenig saliente Erscheinungen erhalten umgekehrt eine höhere Diversität, indem sie im Zuge einer späteren konzeptuellen Differenzierung lokal unterschiedlich konzeptualisiert und benannt werden. Bei wenig salienten Erscheinungen können zudem frühere Benennungen wieder verloren gehen, da das Konzept sozial schwach etabliert ist. Bei späterer konzeptueller Differenzierung muss entsprechend wieder eine neue Bezeichnung geschaffen werden. Prototyp und konzeptuelle taxonomische Differenzierung: Konzeptuelle Innovation ist vor allem im Falle der zusätzlichen Differenzierung von Unterarten zu beobachten. Differenzierung von Unterarten setzt konzeptuelle Innovation auf einer höheren Taxonomieebene voraus. Was keine saliente Erscheinung ist und erst auf den zweiten Blick als eigenes Phänomen identifiziert wird, wird einer übergeordneten Taxonomie zugeordnet. Es gibt entsprechend den Taxonomieebenen Schichten der konzeptuellen Innovation. Damit hängt auch das Maß der Diversität zusammen. Differenzierungen von Unterarten stellen spätere Innovationen dar. Diese sind bei polyzentrischer Entstehung lexikalisch und areal diversifiziert und sind, da sie in neuerer Zeit gebildet worden sind, im Vergleich auch synchron diversifizierter als frühere Innovationen.

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Prototypische – abweichende Wortgestalt: Abweichende Wortgestalt induziert auch bei stabilen, kontinuierlich tradierten Konzepten Innovationsaffinität, dies jedoch nur auf lexikalischer Ebene. Lexeme, die lautlich von der prototypischen Wortgestalt abweichen oder semantisch nicht ganz durchsichtig sind, erfahren regelmäßig lokal individuelle Abwandlungen aller Art.28 Dadurch wird die Diversität stark erhöht, auch in Fällen von konzeptueller Kontinuität. Die prototypische Wortgestalt besteht aus einem einsilbigen Stamm, ggf. mit einer Endung oder Ableitungsmorphem. Als abweichend von der prototypischen Wortgestalt erscheinen in den erwähnten Fällen zwei- oder dreisilbige Wörter, die nicht als Ableitungen oder Komposita verstehbar sind oder die den Eindruck erwecken, Komposita zu sein, ohne dass die einzelnen Elemente konkreten Lexemen im Wortschatz zugeordnet werden können. Innovationsaffinität ist auch bei narrativ motivierten Bezeichnungen gegeben, wenn ein narratives Element nicht als deskriptiv motiviert erkennbar ist. Innovationsaffinität ist in diesen Fällen durch sprachinterne Faktoren bedingt, durch formale oder inhaltliche Intransparenz, die zu Ersatz durch transparentere Formen motiviert. Affektive Beziehung zur Sache: Eine affektive Beziehung zur Sache weckt sprachliche Kreativität, die Lust zu neuen, kreativen Bildungen. Anders gesagt: Emotionalität in der Beziehung zur Sache bewirkt Innovationsaffinität. Dies gilt hier auch bei konzeptueller Kontinuität. Die Heteronymie ist deshalb umso reichhaltiger, je mehr expressive Bezeichnungen dominieren. Kognitive und emotionale Distanz zur Sache produziert demgegenüber eher sachlich orientierte Bezeichnungen und bewirkt eine geringere Innovationsaffinität. „Schmetterling“ scheint dieser Erklärung zu widersprechen. Schmetterlinge sind ebenfalls eine Gruppe von auffälligen und ästhetisch ansprechenden Erscheinungen wie etwa der Marienkäfer. Der Mensch kommt aber kaum je in körperliche Nähe wie zu Fliegen, Bremsen oder Mücken. Das Konzept SCHMETTERLING liegt zudem auf einer relativ abstrakten Ebene, vergleichbar mit dem Konzept KÄFER. Lokale – überregionale Relevanz: Insekten sind offensichtlich im Allgemeinen von geringer überregionaler Relevanz. Neu entstandene lexikalische Diversität aufgrund von Innovationen wird nur beschränkt durch Diffusion abgebaut, sie bleibt relativ hoch. Dieser Zusammenhang ist vor allem bei Innovationen aufgrund von assoziativen Abwandlungen und bei emotional begründeten expressiven Bezeichnungen sichtbar. Expressive Bezeichnungen sind, wie beschrieben, eine Reaktion auf Erfahrungen in körperlicher Nähe. Diese werden zudem vor allem bei wenig relevanten Insekten gemacht, für die keine überlieferte, alte Bezeichnung vorgegeben ist. Diese Benennungen entstammen eher familiären oder lokalen Kommunikationssituationen. Auch assoziative Abwandlungen entstammen eher spielerischen Veränderungen in kleinen Kommunikationsräumen. Charakteristisch für den Zusammenhang zwischen emotional distanzierter Einstellung zur Sache, sachorientierter Benennung, überregionaler Bedeutung und 28

S. dazu auch LÖTSCHER (2006).

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einheitlicher Benennung ist „Maikäfer“. Die Sachlichkeit bei den Benennungen des Maikäfers mag an sich erstaunen, da er ja mit seinem zeitweise massenhaften Auftreten und seiner Fressgier ebenfalls ein auffälliger Käfer ist, der bei Bauern oft Ärger hervorruft. In anderen deutschen Dialekten zeigt „Maikäfer“ entsprechend eine expressive Heteronymie, der Maikäfer erscheint zudem auch in der Volkspoesie in Versen.29 Andererseits kommt er den Menschen in seinem Verhalten körperlich nicht direkt nahe. Darin, dass er zeitweise massenhaft als Schädling auftritt, liegt ferner eine zusätzliche wirtschaftliche Bedeutung. Schon im Mittelalter wurde der Maikäfer, u. a. mit Inquisitionsprozessen, bekämpft.30 Auch dass er regional großräumig in regelmäßigen Abständen auftritt, begünstigt eine überregionale Kommunikation darüber. Damit ist automatisch eine intensive Diffusion gegeben. Die geografische Verteilung der Varianten, vor allem die Verwendung der Form »Meiechäfer» in Gegenden des Westschweizerdeutschen, in denen sonst Käfer als »Gueg« bezeichnet werden, zeugt ebenfalls davon. Das Beispiel der Insektenbezeichnungen zeigt, dass Wortreichtum im konkreten Fall nicht unbesehen auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden kann. Der „Verkehrswert“, der bei BACH (1950, 170) als maßgeblicher Faktor angeführt wird, kann bei freilebenden Insekten ohnehin keine Rolle spielen, außer sie seien Schädlinge. Eher noch spielen emotionale Faktoren eine Rolle. Diversität an sich sagt ferner noch nichts über die (In-)Stabilität eines Konzepts aus. Die lexikalische Erscheinungsweise von Heteronymen spielt für Innovationsaffinität ebenfalls eine Rolle. Wortschatzwandel wird sowohl von der Wahrnehmung eines Insekts wie von der Bezeichnungsform, also von Faktoren auf sehr verschiedenen kognitiven Ebenen bestimmt. Ohne zusätzliche Einflussfaktoren wird aber eine einmal bestehende Bezeichnung nicht verändert. 6.2.2 Wildlebende Säugetiere Wildlebende Säugetiere wie Hirsche, Rehe, Füchse, Dachse und Hasen sind naturwüchsige Erscheinungen wie Insekten. In dieser Hinsicht kann auch deren Heteronymie mit jener der freilebenden Insekten verglichen werden. Keines dieser Tiere ist jedoch im SDS onomasiologisch erfragt und dokumentiert worden. Der Grund ist, dass die Benennungen dieser Tiere im gesamten Schweizerdeutschen einheitlich und deshalb sprachgeografisch uninteressant sind. Die einzelnen Benennungen lassen sich kontinuierlich auf althochdeutsche Ausdrücke zurückführen: ahd./mhd. hirz, rêch, fuhs, dahs, hase. Die heutigen dialektalen Lautungen »Hirsch« und »Ree« sind allerdings durch das Standarddeutsche beeinflusst. Dies und die einheitlichen und seit den Anfängen praktisch unveränderten Benennungen dieser Tiere zeigen, dass diese Tiere schon immer eindeutig identifizierbare Erscheinungen waren, ihre konzeptuelle Identität und ihre Benennung 29 30

S. z. B. LuxWb 2, 350a, s. v. Kiewerlek. S. die Hinweise bei SCHUMACHER (1955, 25, Anm. 4), die Belegstelle in Id. 3, 162 sowie SCHILLING (1901, 180) und ANSHELM (1884, 148). S. auch Fn. 21 in diesem Kapitel.

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schon früh bekommen und diese über lange Perioden unverändert bewahrt haben. Diese Identität wird auch dadurch gestützt, dass es relativ große und jedenfalls auffällige Tiere sind, die zudem schon von alters her gejagt werden und als Wild wirtschaftlich bedeutsam sind. All dies macht sie zu überregional relevanten Sachen. Die Kontinuität der Bezeichnungen zeigt auch hier, dass eine Benennung nicht geändert wird, wo dazu kein besonderer Anlass besteht. Die Präsenz dieser Tiere im Bewusstsein der Sprechergemeinschaften widerspiegelt sich auch in der vielfältigen literarischen Verarbeitung. Die standardsprachliche Beeinflussung der Benennungen zeigt zudem, dass Kenntnisse über diese Tiere stark durch schriftliche Quellen vermittelt und tradiert werden. 6.2.3 Wildwachsende Bäume und Sträucher Bäume und Sträucher sind im SDS nur sehr selektiv dokumentiert. Der Hauptgrund liegt darin, dass sie im Allgemeinen wenig Varianten zeigen und deshalb für eine Darstellung in Wortschatzkarten wenig ergiebig sind.31 Wie die Untersuchung von BOSSHARD (1978) zeigt, sind allerdings auch in diesem Sachbereich relevante Beobachtungen zur Variabilität der Diversität möglich. Dieses Werk wird im Folgenden als ergänzende Informationsquelle verwendet. Dass es auf einem weniger dichten und von Fall zu Fall unterschiedlichen Belegnetz basiert, schränkt seinen Informationswert für die hier relevante Fragestellung der lexikalischen Diversität nicht grundsätzlich ein.32

31

32

Benennungen von Bäumen oder Sträuchern werden wegen ihrer einheitlichen Lexik im SDS deshalb allenfalls zur Grundlage von Laut- und Morphologieproblemen genommen oder kommen sekundär in Karten zur anderen Themen vor. So wird ›Tanne‹ als Beispielwort für ein Lautproblem und für die Pluralbildung (SDS I 12, II 165, 186, III 183/6), und ›Esche‹ als Beispielwort für ein Lautproblem (SDS II 56) verwendet. Auch die Karte „Ahorn“ (SDS VI 138), wiewohl in einem Band zur Wortgeografie enthalten, zeigt lediglich ein Lautproblem, wenn auch mit stärkeren Differenzen. Die Angaben von BOSSHARD (1978) basieren auf einer Umfrage unter Fachleuten von Forstdiensten. Die Anlage der Umfrage und die Antworten sind deshalb sachlich differenzierter, als sie für Laien wären. Dagegen ist die Schreibung nicht immer konsequent und einheitlich; oft kommen Vermischungen von dialektaler und standarddeutscher Lautung vor. Im Folgenden wird die Schreibung bei BOSSHARD der hier verwendeten normalisierten Dialektschreibung angepasst. Bei praktisch allen Bäumen und Sträuchern gibt BOSSHARD (1978) an vielen Orten als Antworten der Gewährspersonen anstelle der angestammten dialektalen Bezeichnungen die standarddeutschen Entsprechungen an: »Birke« statt »Birche«, »Kaschtaanie« statt »Cheschtene«, »Eibe« statt »Iibe«, »Iije«, »Eije« u. ä., »Ulme« statt »Elme« oder »Ilme«, »Eföi« statt »Äbhöi«, »Ephech« u. ä., »Liguschter« statt eines der lokalen Heteronyme. Dies sind jedoch Übernahmen neueren oder neuesten Datums aus dem Standarddeutschen. Sie bleiben im Folgenden ausgeklammert.

283

Diversität und Naturwahrnehmung

6.2.3.1 Diversitätstypen Die Bezeichnungen für Bäume und Sträucher lassen sich in unterschiedliche Diversitätstypen gruppieren:33 Diversitätstyp a: Kontinuität alter Bezeichnungen Eine Reihe von Holzgewächsen trägt alte Bezeichnungen, die sich bis zum Althochdeutschen zurückverfolgen lassen und die für das ganze Gebiet des Schweizerdeutschen gelten. Die meisten sind überdies auch im Althochdeutschen isolierte Grundformen, hatten also schon damals ein hohes Alter. In der Regel gehören sie zum (festland-)germanischen Grundwortschatz. Gelegentlich finden sich Entlehnungen, die aber ebenfalls hohen Alters sein müssen, und Bezeichnungen mit ungeklärter Etymologie, die einer vorgermanischen und vorromanischen Sprachschicht entstammen dürften. Zu diesen Gehölzen mit traditionellen, einheitlichen Bezeichnungen gehören namentlich große Bäume.



Onomem „Birke“ (BOSSHARD 1978, 184–186)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 1 Birche

ahd./mhd. ahd. birka

„Buche“ (BOSSHARD 1978, 77, 229)

1

Bueche

ahd. buohha

„Eiche“ (BOSSHARD 1978, 78, 291– 296)

1

Eiche

ahd. eicha

„Esche“ (BOSSHARD 1978, 32, 46, 232–235)

1

Esch(e)/Ösch(e)

ahd. ask(a), mhd. esche

„Espe (Zitterpappel)“ (BOSSHARD 1978, 87, 276– 280)

1

Aschpe

ahd. aspa

„(Ross-/Edel-)Kastanie“ (BOSSHARD 1978, 84, 85, 165–169 195–197)

1

Cheschtene-, Chischtene-/Cheschtele-(baum) u. ä.

ahd. kestina-(boum) (lat. castanea)

„Lärche“ (BOSSHARD 1978, 27, 37, 127–130)

3

Lärche, (AP: »Loortanne«) ahd. lerihha, lerihboum, mhd. lerche

33 Die Charakterisierung der Diversitätstypen folgt dem oben angewandten Schema für Insekten.

284 Onomem „Linde“ (BOSSHARD 1978, 31, 80, 340–345)

Variationen in Diversitätsmustern

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 1 Linde

ahd./mhd. ahd. linta

„(Wal-)Nussbaum“ (BOSSHARD 1978, 30, 44, 246–248)

1

Nussbaum

ahd. nuzboum

„Tanne/Fichte“ (BOSSHARD 1978, 26, 35, 117–120, 131– 135)

1

Tanne

ahd. tanna

Abb. 6.7: Bezeichnungen von Bäumen und Sträuchern – Diversitätstyp a, Großbäume

Anmerkungen: – Zu „Tanne/Fichte“: Tannen (spez. Weißtannen, abies alba) und Fichten (picea abies) werden in der Bezeichnung »Tanne« unter einer gemeinsamen Basiskategorie zusammengefasst. Die sprachliche Unterscheidung erfolgt in den Komposita »Roottanne« ›Rottanne‹ (Fichten) und »Wiisstanne« ›Weißtanne‹ (Tannen). Die Zusammenfassung der beiden Arten unter ›Tanne‹ scheint nach DWB 3, 1612 alt zu sein. – Zu „Lärche“: Ahd. leriha ist Entlehnung aus lat. larix, letzteres ist seinerseits wohl eine Entlehnung aus einer vorromanischen Alpensprache (MAGLIONE 1997). Zum gleichen Diversitätstyp gehören ferner die Bezeichnungen von vielen Kleinbäumen und Sträuchern. Varianten mit unterschiedlichen praktisch synonymen Zusammensetzungen wie mit »-stuude« ›Staude‹ und »-struuch« ›Strauch‹ werden hier nicht einzeln gezählt. Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Arve (Zirbelkiefer)“ (BOSSHARD 1978, 86, 136–138, Id. 4, 829)

1

Arfe



„(Schwarz-/Grau-) Erle“ (BOSSHARD 1978, 77, 173–175)

1

Erle

ahd. erila

„Alpenerle“ (BOSSHARD 1978, 77, 176–177; SDS VI 139 Legende)

1

Troos(le)



285

Diversität und Naturwahrnehmung

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Hainbuche“ (BOSSHARD 1978, 77, 191–194)

2

Hag(e)bueche, Hagelbueche u. ä.

mhd. hagenbuoche

„Holunder“ (BOSSHARD 1978, 79, 318–332; SDS VI 150 „Holunder(beere)“)

1

Holder(ne), Holler(e)

mhd. holder, holler

„Haselstrauch“ (BOSSHARD 1978, 77, 210–204)

1

Hasle, Haselstuude, Hasel- ahd. hasal(a) struuch

[„Weide“ (BOSSHARD 1978, 100– 101, 308–317)

1

Wiide34

ahd. wīda]

Abb. 6.8: Bezeichnungen von Bäumen und Sträuchern – Diversitätstyp a, Kleinbäume und Sträucher

Anmerkung: – Entlehnungen aus einer vorromanischen Alpensprache sind »Troos(le)« ‘Alpenerle’ und »Arfe« ‘Zirbelkiefer’. Beide Bezeichnungen sind typisch für Pflanzen, die nur in den Alpen wachsen. Die Etyma kommen außerhalb alpiner Gegenden im Deutschen nicht vor, haben aber Parallelen in benachbarten romanischen Dialekten. 35 In der Schweiz sind beide schon für das Mittelhochdeutsche belegt. –

Diversitätstyp b: Heternonymie aus assoziativ weiterentwickelten alten Grundwörtern Die Benennungen einer zweiten Pflanzengruppe lassen sich wie bei Diversitätstyp a lückenlos auf alte Etyma zurückführen, zusätzlich jedoch besteht größere Heteronymie aufgrund von assoziativen Abwandlungen.

34 35

Das Lexem »Wiide« ist nicht als Simplex belegt, aber als gemeinsames Grundwort bei allen Komposita, welche die verschiedenen Arten von Weiden bezeichnen. Zu »Arfe« s. Id. 1, 421, VALTS Kommentar IV, 348–349, zum vorlateinischen Ursprung s. auch GPSR 1, 627; zu »Troos(le)« s. Id. 14, 1317 und VALTS Kommentar IV, 610–161.

286 Onomem

Variationen in Diversitätsmustern

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Efeu“ (BOSSHARD 1978, 94, 236–239)

5

Äbhöi, Abhöi, Räbheu Äbuech, u. ä.,

„Wachholder“ (BOSSHARD 1978, 95, 121–126; s. a. SDS VI 149 „Wachholderbeere“)

5

Räck(h)older/-holter, Drä- ahd. reckaltar, mhd. ckholter, Räukholter, reckholter sefinboSefi(baum) um, (zu lat. juniperus sabina)

„Waldrebe“ (BOSSHARD 1978, 91, 198–202, Id. 2, 1153; 4, 715; 12, 1649)

9

Niele, Liene, Diele, Miele, ahd. iola ‘Ranke’, ‘Waldrebe’ Iele,

mhd. eb(e)höü, ephech

Abb. 6.9: Bezeichnungen von Bäumen und Sträuchern– Diversitätstyp b

Diversitätstyp c: Heteronymie aus alten Grundwörtern und einzelnen Entlehnungen oder Neubildungen In einigen Fällen kommen zu alten Bezeichnungen einzelne neue Bezeichnungen unterschiedlicher Herkunft hinzu:



Onomem „Föhre“ (BOSSHARD 1978, 27, 37, 127– 130, SDS VI 128)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 2 Fo(o)re, Forche u. ä., Tääle

ahd./mhd. ahd. for(a)ha

„Eibe“ (BOSSHARD 1978, 43, 136–138)

2

Eije/Iije, Iib(l)e u. ä., Schnuderbeeri

ahd. îwa

„Buchsbaum“ (BOSSHARD 1978, 77, 189)

2

Buchs, Buggs(baum), Gäälholz

ahd. buhs (lat. buxus)

Abb. 6.10: Bezeichnungen von Bäumen und Sträuchern– Diversitätstyp c

Anmerkungen: – Zu „Föhre“: »Tääle«: Entlehnung aus frankoprov. daille (Id. 13,1396). – Zu „Eibe“: »Schnuderbeeri«: zu »Schnuder« ‘Nasenschleim’. Die Heteronymie ist jeweils unterschiedlich bedingt. Bei „Föhre“ tritt zum altgermanisches »Fo(o)r(ch)e« die Entlehnung »Tääle«. Der Unterschied dieser Heteronymie zu monolexikalischen Fällen wie »Arfe« ‘Zirbelkiefer’ und »Troosle« ‘Alpenerle’ ohne althochdeutsche Heteronyme liegt darin, dass letztere nur in den Alpen vorkommen, die alemannischen Einwanderer diese Pflanze nicht kannten und entsprechend das Lehnwort allein gebräuchlich wurde. Die Föhre dagegen, konkret die Waldkiefer (Pinus sylvestris), ist ein weit verbreiteter Baum, der auch außerhalb der Schweiz bekannt ist, und dessen Namen die Alemannen aus dem

287

Diversität und Naturwahrnehmung

Norden mitgebracht haben. Warum sie im westlichen Gebiet die frankoprovenzalische Bezeichnung übernahmen, ist damit allerdings nicht erklärt. Bei „Eibe“ und „Buchsbaum“ sind demgegenüber die alten Bezeichnungen regional durch neuere, deskriptiv motivierte Bezeichnungen ersetzt worden. Der Grund könnte darin liegen, dass diese Bäume weniger häufige Gehölze mit atypischen Eigenschaften sind. Das könnte heißen, dass die alten Bezeichnungen regional nicht bekannt waren oder wieder vergessen gingen und die Sache über konzeptuelle Innovation wieder neu benannt wurde. Grundsätzlich sind die dominierenden Bezeichnungen jedoch sehr großräumig verteilt und besteht nur eine geringe Diversität. Innovationen sind regional begrenzt. Es besteht weitgehend Kontinuität in der Benennung. –

Diversitätstyp d: Heteronymie aus alten Grundwörtern und deskriptiven Innovationen, teilweise mit divergierenden taxonomischen Einteilungen

In einer Reihe von Fällen entsteht Heteronymie durch zusätzliche Differenzierungen von Unterarten. Einerseits werden diese Unterarten unterschiedlich bezeichnet, andererseits besteht gleichzeitig in einzelnen Regionen keine derartige Differenzierung, woraus eine konzeptuelle Diversität entsteht. Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd. (normalisiert)

„Ahorn“ (Oberbegriff?) (BOSSARD 1978, 83, 84, 158–164, SDS VI 138)

1

Ahorn

ahd. ahorn

„Spitzahorn“ (BOSSHARD 1978, 100, 158–160)

6

Wiiss-Aahorn, Rote Aahorn, Liinbaum, Liinahorn, Rägestil

ahd. līnboum (mit verschiedenen Bedeutungen)

Pappele, Albere

ahd. papela (spätlat. papulus), ahd. albāri ‘Weißpappel’ (?)

„Pappel (Oberbegriff)“

2 (?)

„Silberpappel“ (BOSSHARD 1978, 86, 270–271)

2

(Silber-)Pappele, Albere

„Schwarzpappel“ (BOSSHARD 1978, 86, 273–276)

5

Saarbaum (BE), Saarbolle (LU), Saarbache (AG, ZH), Albere

(ahd. albāri ‘Weißpappel’ (?))

„Winter-Linde“ (BOSSHARD 1978, 31, 45, 340– 342)

8

chliiblettrigi Linde, Schmaallinde, Steilinde, Birelinde, Rosslinde, Spitzlinde

(ahd. linta)

„Sommer-Linde“ (Bosshard 1978, 80, 343–345)

3

grossblettrigi Linde, Breitlinde, Bast(holz)

288

Variationen in Diversitätsmustern

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd. (normalisiert)

„Bergföhre“ (BOSSHARD 1978, 80, 139–141)

12

Chrummholz, Laatsche, Ar(e)le; »Dähle«-Region: Schnaaggi-Dääle, Däälpiische, Bärgdääle, Schwarzdääle; »Fore«-Region: Legfööre, Chriisfööre

„Salweide“ (BOSSHARD 1978, 100, 311–314)

9

Saale, Pfiiffeholz/-ruete/stude, Maiepfiiffe, Chätzlibaum, Gäisslaub

ahd./mdh. sal(he) wīda/-wīde

„Weiße Weide“ (BOSSHARD 1978, 100, 308–310)

9

Chopfwiide, Goldwiide, Lederwide, Wysswide, Fälbe, Piiffeholz

(ahd. wīda)

„Korbweide“ (BOSSHARD 1978, 101, 315–317)

12

Chorbwiide, gääli Wiide, Bindwiide, Bandhääg, Kopfwiide, Bruchwiide, Hamfwiide

Abb. 6.11: Bezeichnungen von Bäumen und Sträuchern – Diversitätstyp d

Anmerkungen: – Zu „Spitzahorn“: »Rägestil« (mit zusätzlichen Abwandlungen) gehört zu »räget« ›ragend‹ ‘steil aufstehend’ (vom aufstehenden Blütenstand, s. Id. 11,244). – Zu „Pappel“, „Schwarzpappel“, „Weisspappel“: Nach Id. 4, 1174 s. v. Sarbele sind »Saarbaum« und »Saarbolle« Bildungen mit »Saar« ‘Flussgeschiebe, Geröll am Fluss’. Der Bestandteil »Bolle« gehört zu ›Bolde‹ ‘Pappel’ (Id. 7, 1278, DWB 2, 230). »Saarbache« ist nach Id. 4, 954 eine Vereinfachung aus »Saarbachbaum« oder metonymisch direkt vom typischen Standort abgeleitet. Ob »Pappele« die ursprüngliche schweizerdeutsche Bezeichnung für die verschiedenen Pappelarten ist, erscheint fraglich. FRISIUS / MAALER nennen als deutsche Bezeichnungen für populus Sarbachbaum, Alberbaum, Pappelbaum, Bellen, Beltzbaum (Id. 1, 185 s. v. Albere). GESSNER (1542, 92v/93r) gibt für populus als einzige deutsche Bezeichnung sarbachbaum an. – Zu „Bergföhre“: Die angegebene regionale Aussprache /Däälpiische/ entspricht normalisiert dem Lexem »Däälbüüsche«, zu »Büüsche« ‘junger Nadelholzbaum’ (Id. 4, 1768). – Ausdrücke wie »Pfiffeholz/-ruete/-stude« ›Pfeifenholz/-rute/-staude‹ beziehen sich darauf, dass aus den Ästen Pfeifen hergestellt werden können (s. SDS VI 92). – Zu „Salweide“: Der Ausdruck »Chätzlibaum« ›Kätzchenbaum‹ ist von der Blüte abgeleitet, die »Chätzli« ›Kätzchen‹ genannt wird (vgl. SDS VI 124).

Diversität und Naturwahrnehmung

289

Die Taxonomien bei der Unterscheidung von Arten und Unterarten erfolgt regional unterschiedlich. In einer Reihe von Onomemen werden die betreffenden Arten neu als Unterarten von allgemeineren Arten bezeichnet wurden. Solche Differenzierungen sind nachträgliche Innovationen, die in einzelnen Regionen jeweils unterschiedlich erfolgen. Die Bezeichnungen bestehen hauptsächlich aus Komposita oder attributiven Formulierungen, in der Regel ausgehend von einem Grundwort, das eine allgemeinere Baumart bezeichnet, so z. B. »Steilinde« ›Steinlinde‹, »Birelinde« ›Birnlinde‹, »Rosslinde«, »Spitzlinde«). Diversität entsteht ferner durch divergierende taxonomische Einteilungen.36 Zuweilen gibt es überhaupt keine spezielle Bezeichnung für eine Unterart. Oft auch gibt es für eine Art, die an einem Ort als Unterart bezeichnet wird, an anderen Orten einen eigenen Bezeichnungstyp, der die Art als eigenständiges Taxon erscheinen lässt. Verschiedenartige Taxonomien resultieren für die einzelne Baumart in lexikalischer Variation. An vielen Orten wird beispielsweise die Silberpappel mit der Bezeichnung »Silberpappele« oder (der ursprünglichem Bezeichnung) »Albere« von der Schwarzpappel mit »Saarbaum/Saarbolle« unterschieden; an anderen Orten findet sich für beide nur der Ausdruck »Pappele«, an anderen nur »Alber(e)«.37 Für die Bergföhre gibt es eine reiche Heteronymie, in der der Baum bald als eigenes Taxon erscheint, so bei der Bezeichnung als »Chrummholz«, »Laatsche« oder »Ar(e)le«, bald als Unterart zu Föhre, so bei Ableitungen wie »Schnaaggi-Dääle« ‘Kriech-Föhre’, »Däälbüüsche« ‘kleiner Föhrenbaum’, »Bärgdääle«, »Schwarzdääle« (in der »Dääle«-Region), »Legfööre«, »Chriisfööre« ‘Reisigföhre’ (in der »Fo(o)r(ch)e«-Region). Ähnliches gilt für die Heteronymien bei den verschiedenen Weidenarten. Beim Ahorn wird aus den verfügbaren Angaben die begriffliche Einteilung nicht ganz klar. Der Bergahorn wird einheitlich als »(Bärg-)ahorn« bezeichnet, der Spitzahorn seinerseits regional ebenso als »Ahorn«, so dass vielerorts offenbar für die beiden Arten nur eine einzige Benennung existiert. An anderen Orten gibt es dagegen für den Spitzahorn spezielle Benennungen.38 Welche Baumart in der Lautkarte SDS VI 138 mit ›Ahorn‹ sachlich gemeint ist, wird nicht präzisiert. –

Diversitätstyp e: Starke Heteronymie unterschiedlicher Genese mit unklaren Taxonomien Eine relativ große Gruppe von Onomemen zeigt eine reiche Heteronymie unterschiedlichen Ursprungs und mit unterschiedlichen lexikalischer Strukturen. Damit verbunden sind viele Unklarheiten in der taxonomischen Organisation. 36

37 38

In den Problembereich der Benennung von Unterarten gehört in einzelnen Regionen auch die Ulme. Im Norden der Kantone Aargau und Zürich wird sie als »Steilinde« ›Steinlinde‹ bezeichnet, womit sie offenbar als Unterart der Linde klassifiziert wird. S. auch unten die Bemerkungen zur Vogelbeere. Auch bei KONRAD VON MEGENBERG (2003, 370) wird als Oberbegriff für beide Pappelarten neben „popel“ auch „alber pavm“ genannt. Der Feldahorn wird dagegen generell gesondert benannt, gehört also für die Alltagssprache nicht zur Gattung Ahorn. S. dazu Abb. 6.12.

290

Variationen in Diversitätsmustern

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

„Berberitze/ Sauerdorn“ (BOSSHARD 1978, 90, 179–183)

ca. 26

ahd./mhd.

Äärbsele, Üürbsele, Iibse- ahd. erbisib le(-beeri), Öbsele, Suurbeeri, (Räche-)Zaaholz, Rächezinggeholz, Spitzbeeri, Spiisstörn, Bättlerchruut, Hasechruut, Fässlichruut, Wiiss-spitzbeeri(-dörn), Iispitz, Gäälholz, Gäälhagel

„Eberesche (Vogelbeerbaum)“ (BOSSHARD 1978, 335–336; SDS VI 138 Zusatzmaterial)

13

Vogelbeeri, Stinkesche, Wüelesche, Moosesche, Schwiiesche, Lischme, Gürmsch, Giretsch, Gürgetsch, Güretsch

(ahd. spirboum)

„Feldahorn“ (BOSSHARD 1978, 83, 152–156)

6

Maassholder, Nassholder ahd. mazzoltar (BS), Warmholz, Masshulftere (SH), Bättlerstude, Warmholz (ZH, TG), Chüestude (SGObertoggenburg)

„Rotes Geißblatt, rote Heckenkirsche“ (BOSSHARD 1978, 91, 97–98)

23

Gäissblatt, Gitziriis, Bäseriis, Rächebögliholz, Beiwiide, Steiwiidli, Wissgerte, Wissholz, Chergerte, Chelgerte Chrottebeeri, Heckechriesi, Hüenerholz, Fuulholder, Springbeeri

„Hartriegel“ (BOSSHARD 1978, 91, 205–209)

29

(Rooti) Chreegeerte, Chär- (ahd. hartrugil) gete, (Root-) Chellgeerte, (Root-) Chillge(e)rt, Chiengeerte, Chindgeerte, Stäiwidli, Hornstruuch, Chrottebeeri, (rooti) Hulftere, Bluetruete

291

Diversität und Naturwahrnehmung

Onomem „Liguster“ (BOSSHARD 1978, 96, 249–253)

„Kornelkirsche“ (BOSSHARD 1978, 91, 203–204)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 23

ca. 4

ahd./mhd.

Geissbeeri, Geisswiide, Geisshulftere, Tintebeeri, Bäsechrut, Rächebögli, (Wiissi) Chingerte, (Wiissi) Chillgerte, Chollgerte, Wiss-Chollgerte/ Chellgerte/ Chegeete, Grüeni Chärgete Tierlibaum, Fluewiidli, Judechriesi

ahd. *tirn, tirnboum

„Faulbaum, Pulverholz“ (BOSSHARD 1978, 91, 99)

19

Fuulbaum, Fuulbeeri, Pulverholz, Zapfeholz, Pfiiffeholz, Stinkwiide, Schwarzwiide, Schwarzhasel, Schwarzi Chingerte, Cholgerte, Schwarzi Chregeeete, Chergeete, Chrotteholz, Hulftere, Wolfbeeri

„Seidelbast“ (BOSSHARD 1978, 91, 203–204)

16

Ziiland, Ziilang, Siland ahd. ziulind(a)/ mhd. Zîland Ziileholz, Ziil(e)-/Zille/Ziilete-/Sille/Sidelbluescht, Sillebascht

„Wolliger Schneeball“ (BOSSHARD 1978, 83, 84, 161, 158)

24

(Maass-)Hulftere/-Hülftere, Schwilche, Fäderwiide, Juchwiide, Läderwiide, buuchbaumi(gi) Wiide, Ruuchbaum, Huugbaum, Schiffwiide, Chrottebeeri Schlingestruuch, Wilde Holder

„gewöhnlicher Schneeball“ (BOSSHARD 1978, 83, 84,161, 102)

12

(Wiiss-)Hulftere, (Wiiss-)Schwilche, Chrottebeeri, Schläckerbeeri, Schlangebeeri, Springbeeri, (Maass-)Holder, (buuchbaumig) Wiide, (Schneeballe)

292

Variationen in Diversitätsmustern

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

„Spindelbaum, Pfaffenhütchen“ (BOSSHARD 1978, 76, 223–227)

17

ahd./mhd.

Pfaffechäppli, Pfaffedächli, ahd. spinnilboum Pfaffeholz, Herechäppli, Pfiiffeholz, Geggets Holz, Spindelholz, Chrallebeeri, Schuenigelholz, Muulschälle, Pfaffehödeli, Güggelhode, Chäppeliholz, Brätzeliholz, Chäferschlegeli, Pumpeschlegeli

Abb. 6.12: Bezeichnungen von Bäumen und Sträuchern – Diversitätstyp e

Anmerkungen: – Zu „Berberitze/Sauerdorn“: Bezeichnungen wie »Äärbsele«, »Ürbsele«, »Iibsele(beeri)«, »Öbsele« sind assoziative Abwandlungen zu ahd. erbisib aus lat. berberis. 39 Deskriptiv motivierte Bildungen wie »Rooti Tintebeeri« (vgl. »Tintebeeri« ‘Hartriegel’), »Gäälholz/-hagel« ›Gelbholz‹ beziehen sich auf die Farbe der Beeren bzw. des Holzes. »Räche(zaan)holz« ›Rechenzahnholz‹ und »Rächezinggeholz« ›Rechenzinkenholz‹ beziehen sich darauf, dass die Zweige als Befestigung für Rechenzähne verwendet wurden, »Bättlerchruut« ›Bettlerkraut‹ darauf, dass die Beeren Bettlern als Speise überlassen worden sein soll (s. Id. 3, 905). – Zu „Eberesche (Vogelbeerbaum)“: Die Formen »Güretsch/Giretsch« »Gürgetsch« und »Gürmsch« gehen auf Entlehnungen aus dem Frankoprovenzalischen zurück. Zugrundegelegt wird einerseits frankoprov. *coricinu, andererseits gall. *corma ‘eine Art Getränk’. 40 Eine Reihe von Benennungen bezeichnet (wie Eberesche) die Vogelbeere als eine Unterart der Esche (wohl aufgrund der ähnlichen Blattform). Das Determinativ »Wüel-« in »Wüelesche« wird mit germ. *hweh(w)ul- ‘Rad’ (ahd. wihilstein, mnd. wēl) in Beziehung gebracht, weil das Holz bei Wagnern beliebt war (Id. 11, 910). – Zu „Feldahorn“: Der Feldahorn wird seit dem Althochdeutschen nicht in die Taxonomie der Gattung Ahorn eingereiht, sondern als eigene Baumart benannt. Die Form »Maasshulftere« ist eine Hybridbildung mit Anlehnung an »Hulftere« ‘Schneeball’, mit dem aber der Feldahorn keine Ähnlichkeit aufweist. – Zu „Rotes Geißblatt“: Die Bezeichnungen »Bäseriis« ›Besenreis‹ und »Rächebögliholz« ›Rechenbögleinholz‹ beziehen sich auf die Verwendung der Ruten als Befestigung bei Besen und Rechen. 39

40

Die ahd. Form erbisib ist als assoziative Weiterentwicklungen zu lat. berberis zu interpretieren sind. Diese assoziative Weiterentwicklung deutet darauf hin, dass der lat. Name berberis schon früh entlehnt worden ist. JUD (1946, 363), VALTS Kommentar IV, 617. Vgl. auch franz. corme ‘Vogelbeere’.

Diversität und Naturwahrnehmung

– –





293

Zu „Kornelkirsche“: Der Bestandteil »Tierli-« in »Tierlibaum« ist wohl als assoziative Weiterbildung zu ahd. *tirn (ahd. tirnboum) ‘Kornelkirsche’ zu interpretieren, möglicherweise als Hybridbildung mit ›Dirlitz‹ (Id. 13, 1236). Zu „Wolliger Schneeball“ und „Gewöhnlicher Schneeball“: »Hulftere/ Hülftere« und »Schwelche« sind heute isolierte Lexeme, die aber auf alte Bildungsmuster zurückgeführt werden können. Nach Id. 2, 1199 ist »Hulftere« eine Zusammensetzung aus Hulf ‘Beere des Schneeballs’ (?) und dem Baumbezeichnungselement -tere.41 Die Bildung deutet jedenfalls auf ein hohes Alter hin. Für »Schwilche/Schwelche« ist die Etymologie unklar (s. Id. 9, 1847). In DWB 15, 2186 wird die Form als assoziative Abwandlung von Schwalbenbaum gedeutet. Auffallend ist allerdings daneben ahd. swelkboum ‘sorbarius’ (BJÖRKMAN 1902, 219). Auch ahd. swelkboum erscheint in seiner Isolation als alte Bildung. Ableitungen zu »Wiide« ›Weide‹ zeigen, dass die Sträucher vielfach als Unterart der Weide klassifiziert und benannt worden sind: »Fäderwiide« ›Federweide‹, »Juchwiide« ›Jochweide‹ (Verwendung der Zweige zur Befestigung von Jochen, vgl. DWB 10, 2332); »buuchbaumi(gi) Wiide« (wohl zu »buuche« ‘mit Aschenlauge waschen’). Zu „Spindelbaum, Pfaffenhütchen“: Bezeichnungen wie »Pfaffehödeli« ›Pfaffenhoden‹ (Dim.), »Güggelhode« ›Gockelhoden‹, »Chäppeliholz« ›Käppchenholz‹ oder »Brätzeliholz« ›Brezelholz‹ beziehen sich auf die Form der Früchte. Zu »Chergeerte«, »Chreegeerte«, »Chärgete«, »Chellgeerte«, »(Chillge(e)rte«, »Chiengeerte«, »Chindgeerte« bei „Rotes Geißblatt“, „Liguster“ und „Hartriegel“: Die Formen sind assoziative Abwandlungen. Als möglicher Ausgangspunkt dieser Wortformen wird in Id. 2, 441 eine Form kerngerte angenommen, die sich von mhd. keren(d)gerte ableitet (zu mhd. kerren ‘quietschen, knarren’). Alternativ wird die Möglichkeit erwogen, dass dahinter eine Abwandlung zu einer Entlehnung von lat. cornus steht, wofür weitere Varianten wie »Chollgerte« sprechen können.

Die Heteronymie beim Diversitätstyp e ist bei den einzelnen Onomemen jeweils ähnlich strukturiert, jedoch nicht immer gleich zu begründen. Meist sind mehrere Arten von lexikalischen Entwicklungen an der Entstehung der Heteronymie beteiligt. In vielen Fällen finden sich einzelne Belege für alte Bildungen, meist mit germanischen Wurzeln, bei „Berberitze“ eine Entlehnung. Wie bei „Berberitze“ ist auch bei anderen Pflanzen die Heteronymie zum Teil durch assoziative Abwandlung entstanden. In den meisten Fällen kommen aber zu den alten Ausdrücken deskriptive Innovationen dazu. Eine häufige Benennungsstrategie besteht ferner darin, einen Kleinbusch als Unterart einer anderen, häufigeren oder größeren Art zu bezeichnen. Die Vogelbeere wird (aufgrund der ähnlichen Blattform) oft als besondere Art der Esche bezeichnet. Auffallend ist im Übrigen, wie häufig die Sträucher als besondere Formen der Weide bezeichnet werden. Die Weide erscheint im Sprachgebrauch als ein prototypischer Kleinbaum. 41

Zum Element -tere s. KLUGE / SEEBOLD (2011, 431) s. v. Holunder.

294

Variationen in Diversitätsmustern

Areale Diversität entsteht ferner zusätzlich dadurch, dass dieselben Benennungen an verschiedenen Orten für unterschiedliche Sträucher verwendet werden. Das rote Geißblatt, der Hartriegel, der Liguster und der Faulbaum werden häufig als besondere Arten einer »Chergeerte« u. ä. bezeichnet.42 Ebenso erscheint auch der Bestandteil »Hulftere« regelmäßig, namentlich beim Feldahorn, Hartriegel, Liguster, Faulbaum und beim Schneeball. Die Innovation bzw. Neubenennung ist offenbar oft nicht eigentlich eine Neubenennung eines bestehenden Konzepts, sondern es stehen entweder konzeptuelle Unklarheiten und Verwechslungen oder konzeptuelle Neueinordnungen dahinter. In jedem Fall ist in diesem Bereich eine gewisse Unbestimmtheit der Taxonomien zu erkennen. Bei aller Vielfalt der Entwicklungen im Einzelnen gibt es einen gemeinsamen Grund für die relativ große Diversität bei den Onomemen dieses Typs, nämlich eine Unsicherheit in Bezug auf die konzeptuelle Identität der jeweiligen Pflanzen. Einerseits werden alte Bezeichnungen durch Innovationen ersetzt, in der Regel wohl, weil die alte Bezeichnung verloren gegangen war, d. h. keine Kontinuität in der Identität des Konzepts bestand. Andererseits bestehen Unsicherheiten in der taxonomischen Einteilung, auch hier ein Zeichen für Unsicherheiten in der Konzeptbildung. 6.2.3.2 Faktoren der Diversität Die Gründe und Anlässe von Bezeichnungsdiversität bei den Bäumen und Sträuchern sind teilweise dieselben wie bei den Insekten. Daneben zeigen sich aber auch gewisse charakteristische Unterschiede. Salienz und konzeptuelle Kontinuität: Für Bäume gilt wie bei Insekten: Was leicht wahrnehmbar und unterscheidbar ist, wird unmittelbarer in ein Konzept gefasst und benannt, als was unauffällig ist oder erst bei näherer Betrachtung als besondere Art unterscheidbar ist. Der Grund für die Salienz ist jedoch bei Bäumen ganz anders gelagert als bei Insekten. Bäume und große Sträucher sind räumlich und optisch stabile, dauerhafte Erscheinung. Die sprachliche Vermittlung eines einmal geformten Konzepts über mehrere Generationen ist damit unmittelbar möglich. Auch wenn die einheitliche Benennung auf ursprüngliche Diffusion und damit Reduktion einer früheren Heteronymie zurückgehen sollte, kann eine solche Vereinheitlichung nur über großräumige Geltung einer einheitlichen, stabilen kognitiven Identität zustande kommen. Stabile konzeptuelle Fixierungen erübrigen Innovationen. Salienz fördert auch hier Innovationsaversion.

42

Die Bezeichnung kerngert scheint im Schweizerdeutschen eine alte Bezeichnung des Ligusters gewesen zu sein (MAALER 1561, 242d: kerngert ligustrum). Umgekehrt nennt allerdings GESSNER (1542, 52r/53v) als deutsche Bezeichnungen für liguster neben kerngert auch beynhöltzlin, mundholz, hartrigel, also ebenfalls Ausdrücke, die auch für andere Sträucher gelten. Derartige Überlappungen sind auch in andern Gegenden zu beobachten: Hartriegel gilt neben Rainweide überregional auch als Bezeichnung des Ligusters (DWB 10, 518; 14, 74).

Diversität und Naturwahrnehmung

295

Prototyp und konzeptuelle Differenzierung: Wenn Baumarten als Unterarten bezeichnet werden, setzt dies voraus, dass sie als spezielle Erscheinung eines allgemeineren Prototyps wahrgenommen werden. Das Bedürfnis nach einer derartigen Unterscheidung entsteht offenbar auch bei Bäumen nachträglich und wird an unterschiedlichen Orten individuell realisiert. Die Unterscheidung ist nicht überall so wichtig, dass eine einzelne Benennung überregional diffundiert und vereinheitlicht würde. Konzeptuelle Differenzierung ist der Fixierung übergeordneter Konzepte nachgeordnet und begünstigt Innovationsaffinität. Konzeptuelle Unschärfe: Das Gegenstück zur Bezeichnungskontinuität bei den Bäumen sind Unsicherheiten bei den Benennungen von vielen Kleinbäumen und Sträuchern. Sogar wenn ältere Bezeichnungen bestehen, wie beim Feldahorn oder beim Seidelbast, werden daneben neue Bezeichnungen geschaffen. Dabei kommen noch verschiedentlich Symptome von Kategorisierungsproblemen zum Vorschein. Unterschiedliche Gattungen von Sträuchern werden mit gleichen Benennungen benannt oder botanisch nicht verwandte Pflanzen werden als Unterarten einer gemeinsamen Art bezeichnet, die es botanisch als solche nicht gibt. Ob diese Zusammenfassung und Differenzierung eine primäre Kategorisierung aufgrund des ähnlichen Aussehens und Vorkommens darstellt, also eine Verwechslung zugrunde liegt, oder ob sie erst nachträglich zur ‚Reparatur‘ einer Verwechslung erfolgte, ist schwer zu sagen. Offensichtlich ist aber, dass die Kategorisierungen im Bereiche der kleineren und selteneren Bäume und Sträucher nicht zum vorneherein gesichert sind, sondern sich ändern und lokal unterschiedlich ausgestaltet werden können. Unterschiedliche taxonomische Gliederungen mit Verwechslungen der Arten führen zu wiederholten lokalen Neubenennungen und damit zu arealer Diversität. Im Unterschied zu den Benennungen von Insekten erhalten auch weniger auffällige und leicht verwechselbare Sträucher und Kleinbäume immer wieder eine Benennung; der Vorgang der konzeptuellen Innovation wiederholt sich immer wieder, mit Störungen wie Verwechslungen und Vertauschungen von Benennungen. Der Grund für diese Unterschiede zu Insekten, deren unscheinbarere Formen meist überhaupt keine Benennung finden, ist auch hier in der Ortsfestigkeit begründet. Auch schlecht identifizierbare Pflanzen werden immer wieder neu benannt. Zudem können auch wenig auffällige Pflanzen verschiedenartig genutzt werden. Auch dies schafft Anlässe zu konzeptuellen Innovationen und induziert Innovationsaffinität. Prototypische – abweichende Wortgestalt: Wie bei Insektenbezeichnungen ist auch bei Bäumen und Sträuchern zuweilen die mehrfache assoziative Abwandlung von formal abweichenden Lexemen Grund für Diversität. Abweichende Wortgestalt induziert Innovationsaffinität. Dadurch wird die Diversität stark erhöht, sowohl bei Pflanzen mit klarer, kontinuierlich geltender Identität wie dem Efeu oder dem Wachholder als auch bei Sträuchern mit unsicherer Identität wie dem Seidelbast. Im Unterschied zu Insekten finden sich aber bei Bäumen und Sträuchern keine narrativen Bezeichnungsmotive; Bäume und Sträucher wecken offenbar nicht die erzählerische und affektive Phantasie wie manche Insekten.

296

Variationen in Diversitätsmustern

Lokale – überregionale Relevanz: Der unterschiedliche Grad an Diversität kann auch mit der regionalen oder überregionalen Relevanz einer Pflanze in Verbindung gebracht werden. Bei den alten, einheitlichen Bezeichnungen von großen Bäumen ist dies zwar nicht direkt demonstrierbar, da die geringe Diversität auch direkt auf das Alter und die Irrelevanz einer Neubezeichnung oder eines Wortersatzes zurückgeführt werden kann. Dass Bäume als Holzlieferanten seit jeher eine wichtige wirtschaftliche Rolle in größeren Räume spielten, ist jedoch evident. Als Gegenstück dazu ist die hohe areale Diversität bei den Benennungen kleinerer Bäume und von Sträuchern Symptom dafür, dass die entsprechenden Pflanzen wenig Aufmerksamkeit über die engeren regionalen Räume finden, dies auch dann, wenn viele Benennungen solcher Sträucher konkrete Nutzung ihrer Teile zeigen. Auch die Instabilität der Konzeptbildung und die vielen regional unterschiedlichen Verwechslungen zeigen, dass kein Austausch der konzeptuellen und sprachlichen Erfassung der entsprechenden Sachen über größere Regionen erfolgt. All dies zeigt anders gesagt, dass die betreffende Pflanze keinen überregionalen Verkehrswert hat. Einen Sonderfall stellt in dieser Beziehung die Stechpalme dar, die bei BOSSHARD praktisch einheitlich als »Stächpalme« bezeichnet wird, mit einzelnen Varianten wie »Stächlaub« und »Palmedorn« (BOSSHARD 1978, 95, 242–245). Die Bezeichnungen müssen als jüngere Innovationen gelten.43 Das Element »Palme« ist aus der Verwendung von Stechpalmenzweigen am Palmsonntag zu erklären. Die Einheitlichkeit der Benennung, aber auch das Element »-palme« sticht heraus bei einer Pflanze, die im Wald vor allem als immergrüner Einzelstrauch auffällt, aber sonst wenig Nutzwert besitzt und hauptsächlich im Brauchtum von Bedeutung ist, (was eigentlich der lexikalischen Diversität förderlich wäre.) Die einheitliche Benennung ist durch die Verwendung im allgemein verbreiteten religiösen Brauchtum zu erklären. 6.2.4 Wildwachsende Blumen Blumen sind im SDS nur sehr selektiv dokumentiert.44 Neben dem Zwang zur Auswahl in einem derart reichhaltigen Sachbereich liegt der Grund darin, dass das 43

44

Im Id. finden sich zusätzlich Ausdrücke wie „Stächlaub“ (Id. 3, 355) oder „Stächstuude“ (Id. 10, 1359). Im Schweizerdeutschen ist der Ausdruck ›Stechpalme‹ schon im 16. Jahrhundert bekannt, zumindest in der Form stechend palme (Id. 4, 1218). GESSNER (1542, 44r/45v) merkt zu ilex aquifolia an: „Etlich meynend die stächende palmen syend ein geschlecht davon“. Für das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche sind ansonsten nur unsichere Belege überliefert. Im Althochdeutschen wird ilex mit īseih und fereheih glossiert. Nach BJÖRKMAN (1902a, 212) bezeichnet auch hulisboum gelegentlich die Stechpalme (ilex aquifolium), obwohl mit dem Ausdruck in der Regel lat. ruscus (Mäusedorn) glossiert wird Das Wort lebt immerhin bis heute als Hulst(baum) ‘ilex aquifolium’ weiter (DWB 10, 1902). KONRAD VON MEGENBERG (2003, 355) nennt den ilex eylpaum (îlboum). Die Beschreibung, die er gibt, passt aber nicht zur Stechpalme. Neben der Vielfalt bestanden nach HOTZENKÖCHERLE (1962, 26) auch praktische Probleme: Die Aufnahmen für den SDS mussten vor allem im Winterhalbjahr durchgeführt werden, so

Diversität und Naturwahrnehmung

297

Alltagswissen über die große Vielfalt wildwachsender Blumen im Allgemeinen sehr beschränkt ist, so dass es zu vielen Blumen überhaupt keine alltagssprachlichen Benennungen gibt.45 Anders als bei den Gehölzen scheint es auch wenige wildwachsende Blumen und Kräuter zu geben, für die in der dialektalen Alltagssprache ein traditioneller einheitlicher Name mit einer länger zurückreichenden Geschichte gebräuchlich ist. Ausnahmen sind einzelne größere Pflanzen mit eindeutig identifizierbaren Merkmalen wie die Brennnessel »(Bränn-)Nessle«, ahd. nezzila (Id. 4, 805), oder der Farn, schwzdt. »Farre«, ahd. farn (Id. 1, 1017), der auch als Streue verwendet wurde. Sonderfälle sind auch Pflanzen, die als Heilkräuter in der Medizin und Volksheilkunde oder als Küchenkräuter verwendet wurden. Bei diesen besteht fast immer eine kontinuierlich überlieferte Benennung seit dem Althochdeutschen, oft mit Entlehnungen. Über die fachliche Kommunikation und auch die Übermittlung in Arzneibüchern und Kräuterbücher seit althochdeutscher Zeit wurden die entsprechenden Pflanzennamen schon früh überregional verbreitet und sie blieben meist auch über längere Zeiträume einheitlich. Es handelt sich überwiegend aber nicht um wildwachsende Blumen im eigentlichen Sinn. Im Folgenden wird die Diskussion auf eine Auswahl der im SDS dokumentierten wildwachsenden Blumen beschränkt.46

45

46

dass eine Abfrage anhand realer Objekte in der Regel nicht möglich war. Über Blumen lässt sich aber ohne Bezug auf das physisch vorhandene konkrete Objekt nur schlecht sprechen. Nach EGLI (1930, 145–147) gibt es für etwa zwei Drittel aller Pflanzen der in der Schweiz bekannten Flora keine dialektalen Bezeichnungen. Viele der in EGLI (1930) erwähnten Pflanzennamen dürften außerdem schon seit jeher nur wenigen Menschen bekannt gewesen sein, etwa solchen, die sich besonders für Heilkräuter interessierten. Es fällt auf, dass auch relativ häufige Blumen vielfach sprachlich vernachlässigt bleiben, vor allem die unscheinbaren, wie der Ackerthymian, die Gundelrebe oder der kriechende Günsel, eigenartigerweise allerdings auch so häufige und gut sichtbare Pflanzen wie der Ackerhahnenfuß oder das Habichtskraut. Von im SDS aufgeführten Pflanzen weggelassen werden im Folgenden die Trollblume (SDS VI 117), die im Mittelland teilweise nicht vorkommt und oft auch mit der Sumpfdotterblume verwechselt wird, (obwohl die Unterschiede unübersehbar sind), die Alpenrose (VI 120), die nur im alpinen Bereich wächst, und die wohlriechende Schlüsselblume (Waldschlüsselblume, primula elatior) (SDS VI 121), die zum Teil die gleichen Bezeichnungen hat wie die hochstänglige Schlüsselblume (Wiesenschlüsselblume, primula veris) und oft auch mit dieser verwechselt wird. – Bei den im SDS genannten Pflanzennamen ist nicht immer klar, welche Pflanze genau gemeint wird, da es von den meisten Pflanzen zahlreiche Unterarten gibt. Das Veilchen ist nahe verwandt mit dem Stiefmütterchen, dazu gibt es viele verschiedene Unterarten des Veilchens. Bezeichnenderweise benennt die Lehnübersetzung Löwenzahn aus leontodon (schon im Althochdeutschen belegt, s. BJÖRKMAN 1902a, 209) botanisch nicht den Rauhen Löwenzahn leontodon hispidus, wie es rein lexikalisch korrekt wäre, sondern den Gemeinen Löwenzahn taraxacum officinalis, sofern die beiden Pflanzen überhaupt unterschieden werden.

298

Variationen in Diversitätsmustern

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Sumpfdotterblume“ (SDS VI 118)

ca. 44

Wasserblueme, Wasserchruut, Bachblueme, Bachbumbele, -bungele, -gumele, Moosblueme, -meie, -glungge, -rolle, Anke-/Butter-/Totterblueme, Eierblueme, Chrotteblueme, Guggerblueme, (Gugger-) Schmirb(l)e, Bettseicher, Seickmeie, Bettbrunzerli

„Veilchen“ (SDS VI 119)

ca. 19

Feieli, Fioole, Fiöö(nd)li Fihööli, Falööli, Jufehööli, Gufihööndli, Fingenöönli, Offenööli, Hofelööli, Visihööli, Filatte

„hochstänglige Schlüsselblume“ (SDS VI 122)

ca. 36

Schlüsselblüemli, Schlüsseli, ahd. himelssluzzel Händscheli, Chalbermüüli, Eierblueme, Schmalzblüemli, Truubechnöpfli, Badäneli, Badängeli, Madäneli, Madämeli, Magedäneli, Mattäneli, Mattetäneli, Muggetäneli, (Schnuder-) Häneli, (Schnuder-) Hängeli, (Schnuder-) Chängele

„Löwenzahn“ (SDS VI 123)

ca. 46

(ahd. lewenzan) Söi-/Süü-/Schwii(ne)Blueme/Meie, MooreBlueme, Chrotte-Blueme, Chrottepösche, Häli-Blueme, Söitätsch, Anke-/ SchmaalzBlueme, Milch-Blueme, Milchere, Sunnewirbel, Room-Blueme, Mei(e)fäck(t)e, Biijifäckte, Rämschfädere, Rämschmeie, Wäägluege, Chettene-Stock, Chette(le)-Blueme, Ringelblueme, Söiringel, Grigg(e)le, Buggele

ahd. fiola

299

Diversität und Naturwahrnehmung

Onomem „Gänseblümchen“ (SDS VI 125)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 2747

ahd./mhd.

Margriitli, Gäns(e)-Blüemli, Geiss(e)blüemli, Geiss(e)meieli, Graasblüemli, Geissegiseli, Gisigeisseli, Gänsegismeli, Waseblüemli, Wasebüürscht(e)li, Matteblüemli, Me(e)rzeblüemli/meije, Monetsblüemli, Maanetblüemli, Johan(n)esmeije, Schaafblüemli/-meije, Chatzeblüemli, Chääsblüemli, Maasblüemli, Baaderli

Abb. 6.13: Heteronymie bei wildwachsenden Blumen

Bei allen aufgeführten Blumen besteht eine große Vielfalt an Bezeichnungsvarianten. Die Heteronymien zeigen aber unterschiedliche Diversitätsmuster in Bezug auf die lexikalischen Strukturen (die Variantenmuster). Die Heteronymie bei „Veilchen“ hat einen einheitlichen und alten Ursprung; die lexikalische Varianz ist ausschließlich durch assoziative Abwandlung entstanden. Dies entspricht dem Diversitätstyp b ‚assoziativ weiterentwickelte alte Grundwörter‘ bei Insekten und Bäumen. Sämtliche Formen leiten sich mehr oder weniger direkt aus dem lateinischen viola ab, das zur althochdeutschen Zeit als Entlehnung ins Deutsche übernommen wurde.48 Die Übernahme der fremdsprachigen Bezeichnung ist dadurch begründet, dass das Veilchen seit dem Altertum als Heilpflanze galt. Außerdem wird es oft auch in Gärten als Zierpflanze angepflanzt. Die Pflanze als gewöhnliche Wiesen- und Waldblume einzuordnen, ist deshalb möglicherweise teilweise irreführend. Die ahd. Form fīol erlebte verschiedene reguläre und irreguläre Lautveränderungen, die wiederum unterschiedliche assoziative Abwandlungen provozierten. Entscheidend für die verschiedenen Variationen ist offenbar im Ursprung die regional unterschiedliche Betonung. Wo der erste Vokal betont wurde, entstand ein Formmuster »Fiieli« im Diminutiv, mit Diphthongierung in Hiatusstellung »Feijeli«. Diese Form gilt im westlichen Schweizerdeutsch und blieb unverändert. In der Ostschweiz wurde dagegen der zweite Vokal betont: »Fioole«. Häufig wurde daraus ein Diminutiv gebildet: »Fiööl(el)i«. In solchen Formen wurde vor dem Diminutivsuffix »-li« meist eine Stützkonsonanz eingefügt, was zu Formen wie »Fiöön(d)li« führte. Diese Formen 47 48

Die regional bedingten Varianten mit »-blüemli« vs. »-meije« als Grundwörter werden nicht als doppelte Varianten gezählt. Der Anlaut /f-/ seit dem Ahd. zeigt, dass das Wort zu einer Zeit übernommen wurde, da auch im Vulgärlateinischen alter Anlaut /v-/ durch /f-/ ersetzt worden war. Nach GRAF (2009, 28) ist der späteste terminus ante quem das 11. Jahrhundert

300

Variationen in Diversitätsmustern

bilden den Ausgangspunkt zu vielfältigen assoziativen Abwandlungen bis zur Unkenntlichkeit. Bemerkenswert ist, dass einerseits offensichtlich lokal sehr beschränkt geltende formale Abwandlungen geschaffen werden, dass es also keine überregionale Vereinheitlichung des Pflanzennamens gab, andererseits aber auch keine deskriptiven Bezeichnungen eingeführt wurden. Die Blume ist offenbar so klar identifizierbar, dass sie stets im kollektiven Bewusstsein präsent bleibt, stets klar benannt werden kann und keine Überlieferungslücken entstehen. Auch die Bezeichnungen der Schlüsselblume können teilweise auf alte Benennungen zurückgeführt werden. Die Heteronymie entspricht damit annähernd dem Diversitätstyp c ‚Varianten auf der Basis alter (narrativer) Motive mit zusätzlichen lexikalischen Innovationen‘ bei Insekten und Bäumen. Botanisch sind die wohlriechende Schlüsselblume primula veris und die hochstänglige Schlüsselblume primula elatior zu differenzieren. Die wohlriechende Schlüsselblume ist eine alte Heilpflanze. Nur dadurch ist zu erklären, dass zwei so ähnliche Pflanzen oft sprachlich deutlich unterschieden werden. Im Schweizerdeutschen gilt, wie SDS VI 121/122 zeigt, diese Unterscheidung allerdings häufig nicht (mehr?). Einige Bezeichnungen haben dabei durchaus eine alte Geschichte. Dies gilt vor allem für die Typen, die das lexikalische Element ›Schlüssel‹ enthalten, also »Schlüsselblueme/-meije«, verkürzt »Schlüsseli«. Schon im Althochdeutschen ist die Bezeichnung himelsluzzel ›Himmelsschlüssel‹ belegt. 49 Die im Schweizerdeutschen vertretene Variante ›Schlüsselblume‹ scheint nach DWB 15, 860 eine spätere Abwandlung zu sein. Sie kommt aber schon bei GESSNER (1542, 135v/136r) vor. Der althochdeutsche Beleg deutet auf alte Ursprünge des Bezeichnungstyps hin. Auch wenn die Form der Blüte (vergleichbar einem Schlüsselbund) das Benennungsmotiv gegeben haben mag, dürften auch die (ursprünglichen oder nachträglich entstandenen) Volkserzählungen zu ihrer Verbreitung beigetragen haben, etwa jene, wonach die Blume entstanden sei, als der Apostel Petrus bzw. ein Engel in seinen Diensten seinen goldenen Schlüssel vom Himmel auf die Erde fallen ließ und dieser in viele Stücke zersprang.50 Im östlichen Schweizerdeutsch sind ferner viele Formen auf ahd./mhd. batanje u. ä. zurückzuführen, an sich der Name der alten Heilpflanze betonica serrulata oder officinalis (Ziest) und eine Entlehnung aus dem Lateinischen (EWAhd 1, 571). Die Verwendung dieses Ausdrucks für Schlüsselblumen kann nur aus einer Verwechslung dieser zwei Heilpflanzen entstanden sein. Die direkte dialekte Fortsetzung der alten Wortform lautet »Badäneli«. Diese Wortform erlebte vielfältige assoziative Abwandlungen, teilweise völlig undurchsichtige wie »Badängeli«, »Badänetli«, »Mattäneli«, teilweise solche mit Anklängen an andere Lexeme wie »Madämeli, »Mattetäneli«, die aber ebenfalls sachlich nicht motivierbar sind. Neben dieser 49

50

Bei KONRAD VON MEGENBERG (2003, 447) wird für eine Pflanze mit der lateinischen Bezeichnung oculus porci ebenfalls angegeben, dass sie bei den „gawläut“ als himlslüzzel bezeichnet werde. Die Beschreibung passt allerdings nur teilweise zu primula veris. Nach FISCHER-BENZON (1894, 123) bezeichnet Albertus Magnus mit oculi porci den rotblühenden Bocksbart. Wie KONRAD VON MEGENBERG hebt er die Wurzel als essbar hervor. MEGENBERGs Verweis dürfte also auf einer Verwechslung beruhen. HDA VII, 1228.

Diversität und Naturwahrnehmung

301

älteren Innovation finden sich aber sowohl für die wohlriechende wie für die hochstänglige Schlüsselblume deskriptive Bezeichnungen jüngeren Ursprungs. Sie beziehen sich meist auf die Erscheinungsform. Im äußersten Westen findet sich der Ausdruck »(Schnuder-)Hängeli« zu »Schnuder« ‘Nasenschleim’, der sich mit einer Anspielung auf eine triefende Nase auf die herunterhängenden Blüten bezieht. Auf die mehrfachen Blüten beziehen sich auch die Ausdrücke »Händscheli« (Diminitiv zu ›Handschuh‹) und »Truubechnöpfli« ›Traubenknöpfchen‹ (mit Varianten) in der Ostschweiz. Eine spezielle Motivation, eine der etablierten Bezeichnungen durch eine neue zu ersetzen, ist nicht erkennbar, was eher auf Lücken in den Benennungstraditionen deutet. Es ist zu vermuten, dass derartige Neubildungen auf konzeptionelle Innovationen zurückgehen, dass also im Ursprung die andernorts etablierten Bezeichnungen lokal unbekannt waren und stattdessen neue geschaffen wurden. Ein Nebeneinander von Abwandlungen traditioneller und wohl älterer Bezeichnungen und späteren Innovationen findet sich auch bei „Gänseblümchen“. Die deskriptive Vielfalt lässt sich auf einige wenige Motive zurückführen.51 Viele Varianten gehen auf den Typ ›Gänseblümchen‹ zurück, ein Ausdruck, der aus Benennungen der großen Margerite abgeleitet ist und womit die Gänseblume als kleine Form der Wiesenmargerite Leucanthemum vulgare klassifiziert wird. Der Typ ›Gänseblume‹ bzw. ›Gänseblümchen‹ ist in den Dialekten des Deutschen weit verbreitet und lässt sich in das Mittelhochdeutsche zurückverfolgen, obwohl nicht immer klar ist, welche Pflanze damit bezeichnet wird.52 Schon bei MAALER (1561, 169a) findet man immerhin Genßblůmen – Bellis major, bei Gessner (1542, 11r/12v) geyßbluomen, Gänßbluomen (neben Sant Johanns bluom, Kalbsaugen.)53 Das deutet auf ein gewisses Alter und eine gewisse Kontinuität dieser Benennungen im Schweizerdeutschen. Die ursprüngliche schweizerdeutsche Form »Gänseblüemli« ist regional durch Lautwandel („Staubsches Gesetz“) zu Formen wie »Gaisblüemli», »Gausblüemli« verändert worden, die dadurch intransparent geworden sind.54 Diese intransparenten Formen sind über assoziative Abwandlung weiterentwickelt worden zu Ausdrücken wie »Gäisseblüemli« ›Geissenblümchen‹, »Graasblüemli«, ›Grasblümchen‹, »Chääsblüemli« ›Käseblümchen‹, »Chatzeblüemli« ›Katzenblümchen‹. Möglicherweise über Ersatz von »Geisse-« durch »Schaaf-« lässt sich auch »Schaafblüemli« in diese Reihe einfügen. Weit verbreitet ist daneben im Westen die Entlehnung »Margriitli«. Neben diesen weit verbreiteten Typen finden sich einzelne deskriptive Bildungen wie »Waseblüemli« ›Wasenblümchen‹, »Wasebüürschteli« ›Wasenbürstlein‹ (›Wasen‹ ‘(feuchte, ebene) Wiese, Rasen’, »Matteblüemli« ›Mattenblümchen‹, »Johannismeieli« ‘Jo51 52

53 54

S. auch KSDS 144. Für gensbluome wird in BMZ I 261b die Bedeutung ‘ligustrum’ verzeichnet. Immerhin findet sich im Jüngeren Titurel des ALEXANDER VON SCHARFENBERG V. 499,4 die Formulierung: „waz solten mir bi rosen gensebluomen?“, die auf eine im Vergleich zu Rosen minderwertige Wiesenpflanze (eher als auf Liguster) deutet. Für bellis ‘Gänseblümchen’ werden von GESSNER (1542, 11v/12r) allerdings die Bezeichnungen Mülinblüemlin, maßlieben, massüsselen, zeitlößlen angegeben. Zum Staubschen Gesetz s. Fn. 41 in Kap. 2.

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Variationen in Diversitätsmustern

hannisblümchen’ (nach der Blütezeit), »Monetsblümli« (‘monatlich blühende Pflanze’), »Müllerblüemli« ›Müllerblümchen‹ (nach der weißen Farbe der Blütenblätter oder nach dem Vorkommen in der Nähe von Mühlen?). Auch in diesem Falle stellt sich die Frage, ob es sich bei den speziellen Varianten um lokalen Wortersatz oder um lokale konzeptuelle Innovation handelt. Verwechslung mit anderen Pflanzen oder Übernahme von Bezeichnungen anderer Pflanzen, vor allem der großen Margerite, ist in diesen Fällen immer möglich. Bei der Sumpfdotterblume und beim Löwenzahn fehlen Reflexe älterer Bezeichnungen fast völlig, auch wenn man vermuten kann, dass solche existiert haben. Id. 5, 84 zitiert aus GESSNER (1542) die Ausdrücke mossbluomen und dotterbluomen. Falls weitere Bezeichnungen verwendet wurden, sind diese spurlos verschwunden. Die beiden Pflanzen unterscheiden sich in der Motivik ihrer Benennungen. Bei den Bezeichnungen der Sumpfdotterblume werden fast ausschließlich in der Sache motivierte Aspekte thematisiert, vor allem der Standort an feuchten Orten und die kugelförmige, gelbe Blüte: »Wasserblueme« ›Wasserblume‹, »Wasserchruut« ›Wasserkraut‹, »Bachblueme« ›Bachblume‹, »Moosmeie« ‘Moosblume’ (»Meie« ‘Blume’), »Bachbumbele« (»-Bumbele« ‘runder Gegenstand’), »Moosrolle, »Anke-/Butter-/Totterblueme«, »Eierblueme«. Auch »Chrotteblueme« ›Krötenblume‹, könnte sich auf den Standort beziehen. Die Benennungen »Ooschterblueme« ›Osterblume‹ und »Guggerblueme« „Kuckucksblume“ deuten auf die Blütezeit (EGLI 1930, 39). Eine Reihe von Bezeichnungen bezieht die Verben »seiche« oder »brunze« ‘Harn lassen’ ein (»Bettseicher, »Seickmeie«, »Bettbrunzerli«); solche Bezeichnungen leiten sich normalerweise von der harntreibenden Wirkung von entsprechenden Kräutertees ab. Davon wird allerdings bei diesen Pflanzen nicht berichtet, so dass es sich eher um eine Verwechslung oder Übertragung von einer anderen Pflanze handelt.55 Einige Benennungen sind als assoziative Abwandlungen zu interpretieren, so wie »Bachbungele/-gumele«, »Moosblueme/-glungge/-rolle«. Die schwer motivierbare Bezeichnung »Moschtblueme« dürfte als Hybridbildung aus »Moosblueme« und »Ooschterblueme« entstanden sein. Schwer interpretierbar ist auch die Bezeichnung »(Gugger-)Schmirb(l)e« (zu mhd. smirwe ›Schmiere‹) ‘Kuckucksschmiere’, ein Ausdruck, der auf eine fettige oder schmierige Eigenschaft hinweist, nach EGLI (1930, 43) am ehesten auf die glänzenden Blätter; die Bezeichnung wird in anderen Dialekten auch für andere Pflanzen mit fettigen oder schmierigen Blättern oder Blüten verwendet.56 Alle diese Bezeichnungen sind ihrer Bildung nach jüngeren Alters. Die Motivik der Bezeichnungen des Löwenzahns ist komplexer. Nicht nur kommen Benennungen vor, die auf sachliche Eigenschaften wie Form und Farbe der Blüte oder Form der Blätter hindeuten (»Ankeblueme«, »Schmaalzblueme«, 55 56

Das Benennungsmotiv findet sich im Übrigen auch bei anderen Pflanzen, so beim Buschwindröschen (EGLI 1930, 30) und beim Wiesenschaumkraut (EGLI 1930, 46). S. DWB 15, 1033 s. v. Schmerbel. BJÖRKMAN (1902b, 276–277) hält zu ahd. smergela ‘Scharbockskraut, Ranunculus ficaria’ mit ähnlicher Motiviertheit auch die Bedeutung ‘Sumpfdotterblume Caltha palustri’ für möglich.

Diversität und Naturwahrnehmung

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beides ‘Butterblume’, »Roomblueme« ›Rahmblume‹, »Sunnewirbel« ›Sonnenwirbel‹, »Wei(e)fäck(t)e« ‘Weihenflügel’, »Rämschfädere« ›Ramschfeder‹ (›Ramsch-‹ nach Id. 1,678 ‘Kerbel’). Ebenso häufig sind bewertende Umschreibungen mit Tierbezeichnungen »Söi-/Süü-/Schwii-Blueme/-Meie«, »Moore-Blueme«, ‘Schweineblume’, »Söitätsch« ‘Sautatsch’, »Chrotte-Blueme« ‘Krötenblume’, »Chrottepösche« ‘Krötenbüschel’, »Häliblueme« ‘Lammblume’ und Verweise auf das Kinderspiel (»Chette(le)-Blueme« ›Kettenblume‹). 57 Die mehrschichtige Motivik dieser Heteronymie zeigt ein konkreteres, vielschichtigeres Verhältnis zu dieser Pflanze als bei der Sumpfdotterblume. Vor allem lassen die Thematisierung von Kinderspielen und wertende Bezeichnungen eine unmittelbarere affektive Auseinandersetzung mit der Pflanze erkennen. Das unterschiedliche Vorkommen der beiden Pflanzen mag dabei ebenfalls eine Rolle spielen. Die Sumpfdotterblume kommt an speziellen Orten eher verstreut vor, währenddem der Löwenzahn vor allem während der Blütezeit ein ubiquitäres Phänomen ist, das unmittelbar wahrgenommen werden kann. Die Diversität und die Zahl der Heteronyme ist bei allen genannten Blumen relativ hoch. Das zeigt das vor allem lokal beschränkte Interesse an diesen Pflanzen, die Spontaneität der Innovationen in verschiedenartigen Ausprägungen der Heteronymie und die beschränkten Diffusionstendenzen. Auch bei ähnlich großer Diversität weisen die verschiedenen Onomeme unterschiedliche lexikalische Variantenmuster auf. Diese sind primär auf unterschiedliche historische Bedingungen der Wahrnehmung der Pflanzen und deren Verwendung zurückzuführen. Bei „Veilchen“ und „Schlüsselblume“ zeigen die Varianten, dass die Benennungen und die Konzeptbildung ein relativ hohes Alter haben. Auch die weite Verbreitung von ›Gänseblume‹ und ›Margerite‹ beim Gänseblümchen lässt auf ein gewisses Alter der entsprechenden Bezeichnungen schließen, falls die entsprechenden Lexeme in älteren Sprachepochen dieselbe Pflanze bezeichneten. Ein hohes Alter der Benennungstraditionen deutet auf ein frühes und kontinuierliches Interesse an der Pflanze. Beim Veilchen und bei der Schlüsselblume lässt sich die teilweise Kontinuität damit begründen, dass sie als Heilpflanzen eine fachliche Bedeutung hatten. Beim Gänseblümchen und implizit auch bei der namengebenden größeren Margerite spielt offenbar eher eine besondere Wertschätzung eine Rolle. Jüngeren Datums sind dagegen die konkreten Heteronyme für die Sumpfdotterblume und den Löwenzahn, Blumen, die weniger geschätzt werden. In derartigen Fällen dürfte die Kontinuität der Konzeptbildung immer wieder unterbrochen sein. Es besteht offenkundig kein kontinuierliches Interesse an diesen Blumen als besondere Pflanzen. Allerdings zeigen die lexikalischen Verwechslungen und Innovationen bei allen Blumen außer beim Veilchen, dass auch mit älteren Bezeichnungen eine kontinuierliche Tradition des Konzepts oft nicht gewahrt bleibt und lokal immer wieder konzeptuelle Innovationen stattfinden. In der Diversität bei wildwachsenden Blumen wirken unterschiedliche Kombinationen von Innovationsmotiven zusammen, was bei den einzelnen Pflanzen zu 57

Zu den Einzelheiten vgl. Abschnitt 4.2.1, S. 183.

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Variationen in Diversitätsmustern

unterschiedlichen Diversitätsmustern bei zahlenmäßig ähnlich hoher Diversität führt. Beim Veilchen ist die Innovationsaffinität in der speziellen Lautform begründet, teilweise auch bei der Schlüsselblume und, aufgrund sinnzerstörender Lautveränderungen, beim Gänseblümchen. Zusätzlich spielen in den letzteren beiden Fällen aber auch konzeptuelle Unschärfen mit. In vielen Fällen treffen wir auch konzeptuelle Innovationen und affektiv bedingten Wortersatz an. Insgesamt besteht ein hoher Grad an Innovationsaffinität, verbunden mit einem geringen Grad an Diffusionsaffinität. Wildwachsende Blumen haben wenig Relevanz im überregionalen Austausch. 6.2.5 Wetterphänomene Im SDS sind einige Wetterphänomene dokumentiert, zum Teil allerdings weniger wegen ihrer Lexik als aus lautlichen Gründen. Die letzteren werden hier ebenfalls zum Vergleich mit den Onomemen mit reicherer Diversität aufgeführt. 6.2.5.1 Diversitätstypen Die Bandbreite der Diversität bei den Wetterbezeichnungen ist groß. Da die Zahl der dokumentierten Onomeme klein ist, lassen sich zwar Typen unterscheiden, die aber jeweils nur von wenigen oder nur einem einzigen Onomem repräsentiert werden. Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„regnen“ (SDS VI 36)

1

rägne

ahd. reganōn

„donnern“ (SDS VI 37)

5

tonnere, rumple, rummele, ahd. donarōn schiesse

„blitzen“ (SDS VI 38)

ca. 7

„Schnee“ (SDS I 95)

1

Schnee

ahd. snē(o)

„Wolke“ (SDS VI 42)

1

Wolke/Wolche/Wulche

ahd. wolkan

„Nebel“ (SDS VI 43)

4

Näbel, Biise, (Biise-) Bränte (GR, SG), Geifetsch (WS)

ahd. nebul, (bīsa ‘starker Wind’)

blickene, blitz(g)e, wätter- (ahd. blicken, bleklei(ch)(n)e, glitzme, füüre, kezzen), mhd. blizünde, schiesse cken, bliczen, wetterleichen, glitzen, schīnen, fiuren, zünden, (‘leuchten, glänzen’ u. ä.)

305

Diversität und Naturwahrnehmung

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Raureif“ (SDS VI 45)

ca. 20

Riiffe, Duft, Bi(e)ch(t), Bhick(t), Ghick, (G)-Jäch, Chis (GR), Gniff (WS), Riis

ahd. hrīfo, duft, (kës ? lat. gelu), (ihilla ? ‘Eiszapfen’), mhd. rîsen st. V. ‘herunterfallen/-tropfen’

„graupeln“ (SDS VI 46)

ca. 13

ris(l)e, räsle (BEOberland), chrisle, grischle, (schnee-) bollele/ -boldere, zi-bolle/-böllele/ -boldere, (schnee-) böön(d)ele (LU), guggere (FR), hagle (WS)

mhd. risel m. ‘Tröpfeln, leichter Regen’

„stürmisch schneien“ (SDS VI 47)

ca. 25

chuute, pfuuse, pfuufe, paustere/puustere, hüüze, junsene, jure, hudle, sudle, budle, ruble, staube, stüübe, stöbere, stäube, strüübere, strubuusse, hornere, hornuusse, guggse, guggsche, guusche

„Wind“ (SDS VI 55)

2

Wind, Luft

ahd. wind, luft

Abb. 6.14: Heteronymie bei Wetterphänomenen

Bei den Onomemen „Wind“, „Regen“, „Schnee“ und „Wolken“ werden alte, überregional verbreitete Bezeichnungen weitergeführt, Bezeichnungen, die im Deutschen nicht mehr motivierte, isolierte Lexeme darstellen. Diese Gruppe entspricht also mehr oder weniger dem Diversitätstyp a bei anderen Naturerscheinungen. Die entsprechenden Onomeme sind Bezeichnungen sehr allgemeiner Konzepte, die sich auf markante Merkmale von Witterung beziehen, aber insgesamt sehr vielfältige Formen von einzelnen Erscheinungen zusammenfassen. Fast immer gibt es nur ein einziges Heteronym für ein Konzept. Die Bezeichnungen für Regen, Schnee und Wolken haben sich dabei im Laufe der Jahrhunderte lexikalisch nicht verändert. Nur für den Wind (‘starke Bewegung der Atmosphäre’) ist neben der alten Bezeichnung »Wind« regional das Wort »Luft« hinzugekommen. Die Verwendung von »Luft« für ‘starke Bewegung der Atmosphäre’ ist eine neuere Entwicklung. Seit jeher bezeichnet ›Luft‹ im Allgemeinen einerseits die Atmosphäre an sich („klare, saubere Luft“), und das ist auch die primäre Bedeutung im Mittelhochdeutschen. Die Entwicklung zu ‘Luftzug, Wind’ ist nach der Beleglage sekundär. Sie ist als konzeptuelle Unschärfe bei der Wortverwendung einzustufen: Der semantische Unterschied ‘± bewegte (Luft)’ wird vernachlässigt,

306

Variationen in Diversitätsmustern

was zu Quasi-Synonymie führt.58 Der Ersatz von »Wind« durch »Luft« in einigen Dialekten ist das Ergebnis von Monosemierung. Bei „Raureif“ kommen wie bei „Wind“, „Regen“, „Schnee“ und „Wolken“ fast durchwegs Bezeichnungen vor, die entweder bereits in älterer Sprache isolierte Elemente darstellen und offenbar ein hohes Alter haben oder für die überhaupt keine klare Etymologie besteht. Jedoch zeigt „Raureif“ eine größere Vielfalt der Bezeichnungen. Der Formenreichtum mit »Bi(e)ch(t), »Birch(t)«, »Bhick(t)«, »Ghick« ist dabei etymologisch undurchsichtig. Er ist am ehesten als Resultat von unsystematischen lautlichen Veränderungen oder assoziativen Abwandlungen zu verstehen.59 Die Vielzahl derartiger Formen deutet auf Heteronymie relativ hohen Alters; m. a. W., es scheint nie eine einheitliche Bezeichnung gegeben zu haben. Dazu kommen Bezeichnungen neueren Datums, so die Bildung »Riis« zu mhd. rīsen ‘heruntertropfen’ und im Wallis die Entlehnung »Gniff« zu lombard. nivol oder frankoprov. nible‘ Wolke’ (?) (JUD 1946, 60). Anders ist die Diversität bei „Nebel“ zu erklären. Einerseits wird mit »Näbel« im Allgemeinen ein altes Etymon weitertradiert. Daneben fällt »Biise« auf, eigentlich in der Schweiz ein Wort für starken (kalten) Nordostwind. Die Übertragung auf NEBEL erklärt sich, dass diese Wetterlage regelmäßig mit hartnäckigem Hochnebel einhergeht. Ferner werden mit »Geifetsch« (WS) und »Bränte« (GR, GL) für ‘Nebel’ Entlehnungen aus dem Frankoprovenzalischen bzw. Rätoromanischen verwendet. Zu erklären ist die Variation damit, dass Nebel in unterschiedlichen Formen auftreten kann und für spezielle lokale Varianten die entsprechenden anderssprachigen Bezeichnungen übernommen werden. In den Präzisierungen zur Karte SDS VI 43 „Nebel“ werden im Übrigen zahlreiche zusätzliche lexikalische Differenzierungen zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Nebels gemacht, die zeigen, dass die Karte SDS VI 43 für manche Gegenden ein zu einfaches Bild der onomasiologischen Vielfalt wiedergibt. Im Unterschied zu den genannten Onomemen kommen bei „Blitz“, „Donner“, „graupeln“ und „stürmisch schneien“ mehrheitlich Benennungen vor, die transparente, deskriptiv motivierte Bildungen sind. Dazu überwiegen Innovationen neueren Datums. Der Donner wird durchgehend mit Lexemen aus dem Sinnbereich ‘dumpf rumpeln’ bezeichnet, der Blitz mit Ausdrücken mit der Bedeutung ‘hell scheinen’ oder ‘sich schnell bewegen’ (s. Abschnitt 2.2.2.2, S. 62). Auch der Vorgang des Graupelns wird mittels anschaulicher Charakterisierungen benannt. In einer Gruppe mit »ris(l)e« wird er als leichtes Tröpfeln beschrieben, mit verschiedenen, z. T. sekundär abgewandelten Varianten wie »räsle«, »chrisle«, »grischle«, oder als Fallen von kleinen runden Gegenständen: »bollele«, »böllele«, »boldere« zu mhd. bolle ‘runder Gegenstand’ bzw. dessen Diminutiv »Bölleli« und »böön(d)ele« zu »Böön(d)li« ‘kleine Bohne’. Die Formen »zi58

59

Zu Luft s. BMZ 1, 1050, LEXER 1, 1977, DWB 12, 237, zu Wind s. BMZ 3, 913, LEXER 4, 714b, DWB 30, 230. Die Stellen, die nach BMZ und DWB die Bedeutung ‘Luftzug’ belegen sollen, sind überwiegend zweideutig und können auch einfach ‘frische Luft’ bedeuten. Von daher ist die Entwicklung zu ‘angenehmer leichter Luftzug’ naheliegend. S. die ausführlichen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen in Id. 2, 212 s. v. Gicht IV.

Diversität und Naturwahrnehmung

307

bolle/-böllele« sind wohl spielerische Assoziationen zu »Zibölle« (mhd. zibolle) ‘Zwiebel’ (Id. 4, 1114). Der Ausdruck »guggere« wird in Id. 2, 189 mit »Gugger« ‘weisse Klümpchen, die beim Gerinnen der Milch (beim Käsen) entstehen’ in Zusammenhang gebracht. Am vielfältigsten ist die Heteronymie bei „stürmisch schneien“. Auch die Identifizierung der Sache selbst bietet gemäß den Erläuterungen in SDS VI 47 onomasiologisch gewisse Probleme, indem darin potenziell mehrere Aspekte gleichzeitig oder unterschiedlich dominant vorhanden und in der Benennung thematisiert sein können – Schneegestöber, heftiger Wind und Heulen des Windes. Die Exploratoren fragten nicht einheitlich, sodass nicht immer eindeutig bestimmbar ist, ob eine bestimmte Komponente wie z. B. der heftige Wind im Vordergrund steht. Auf diese Unklarheiten, die auch mit Unklarheiten in der konzeptuellen Erfassung des Phänomens selbst zusammenhängen, kann die hohe Zersplitterung der Variantendistribution zurückzuführen sein. Einzelne allgemeine Antworten wie »stürme«, »wääije« ›wehen‹ oder »wirble« ›wirbeln‹ lassen auch örtliche Bezeichnungslücken vermuten. In den Varianten werden die verschiedenen Inhaltselemente in unterschiedlicher Weise thematisiert. In einer Reihe von Fällen steht das starke Wehen im Vordergrund. Eine onomatopoetisch begründete Bezeichnung mit der ursprünglichen Bedeutung ‘laut tosen, brausen’ dürfte »chuute« sein. 60 Lautmalerisch ist möglicherweise auch »jure«. 61 Auf das Blasen des Windes nehmen spezifisch »pfuuse« und »pfuufe« Bezug. Zu dieser Gruppe gehört ferner »pauschtere/puuschtere« (in SDS VI 46 als |pouschtere| notiert) ‘stark blasen’.62 Nach den Belegen der Wortgruppe in Id. 4, 1786 hat das Wort allerdings die Bedeutung ‘herumjagen’, ‘herumzerren’ entwickelt. Damit fügt es sich in einen weiteren Motivkreis, bei dem STÜRMISCH SCHNEIEN als wildes, ungeordnetes Handeln charakterisiert wird. Dazu gehören »hüüze«, das wohl zu mhd. hiuzen ‘hetzen’, ‘lärmen’ (dann zu ‘eifrig streben’ abgeschwächt) stellen ist (vgl. BMZ Bd. 1, 694a), und »junsene«, jedenfalls, wenn man verwandte Ausdrücke wie »jangse« in der Bedeutung ‘gehetzt arbeiten’ mit einbezieht.63 In vielen Ausdrücken wird metaphorisch auf wildes, ungeordnetes menschliches Verhalten verwiesen, so bei »hudle« mit dessen unmittelbarer Ausgangsbedeutung ‘wild herumschütteln’, »gusle« aus ‘unordentlich herumrühren’ und »sudle« ‘mit Gegenständen, besonders Flüssigkeiten unsorgfältig umgehen’. 64 Auch »budle« und »ruble« dürften zu dieser Gruppe gehören, mit nicht sehr klaren Beziehungen zu »budle« ‘herumschütteln’, ‘unordentlich herumwühlen’ bzw. »rub« ‘wirr, kraus’.65 In einer weiteren Gruppe mit »staube«, »stüübe«, »stöbere«, »stäube« steht das Aufwirbeln des Schnees im 60 61 62 63 64 65

So die ältesten Belege in Id. 3, 570 aus dem 16. Jahrhundert. Id. gibt keine Etymologie an. Vgl. die Bemerkung in Id. 2, 69 zu jurmen. Zu einem Etymon idg. *phu- ‘mit dicken Wangen aufblasen’ mit vielen verzweigten Weiterentwicklungen. Zum weiteren Umfeld s. KLUGE / SEEBOLD (2011, 98) s. v. Bausch. S. ASCHWANDEN (2013, 465), Id. 3, 53 s. v. janxe. JUD (1946, 58) führt allerdings »gusle« auf die letztlich gleichen Wurzeln wie »gusche« zurück (zu »gusche« s. unten). Zu »ruble« s. Id. 4, 74, zu »budle« s. Id. 4, 1034.

308

Variationen in Diversitätsmustern

Vordergrund. Wohl eine Hybridbildung aus »stüübere« und »struub« ‘rau, wild’ ist »strüübere«. Eine letzte inhaltlich motivierte Variante stellt »hornere« ‘stürmisch schneien wie im Hornung = Februar’ dar. Dieser Ausdruck führte zu einigen assoziativen Abwandlungen, so zu »hornuusse« (zu »hornuusse« einem bernischen Feldspiel) und zu »hurnigle« (aus »Hurnigel« ‘Nagelfrost’, s. dazu Abschnitt 2.2.1.5, S. 52). Aus »strüübere« und »hornuusse« wurde weiter als Hybridbildung »strubuusse« gebildet. Eine Sonderstellung innerhalb dieser Varianten haben die Formen »guggse«/»guggsche« und »guusche«. Es handelt sich um Entlehnungen, bei »guxe/guggsche« aus dem Keltoromanischen, bei »gusche« aus dem Rätoromanischen.66 Diese Entlehnungen fügen sich in die Reihe der sonstigen Entlehnungen für Wetterphänomene und Pflanzen, bei denen Ausdrücke aus der Sprache der ursprünglichen Bewohner der Gegend für Erscheinungen übernommen werden, die typisch oder besonders sind für diese Gegend. Offenbar waren auch besondere alpine Wetterlagen mit stürmischem Schneefall für die einwandernden Alemannen so eigenartig oder bislang unvertraut, dass die Übernahme der einheimischen fremdsprachigen Bezeichnung nahelag. Insgesamt zeichnet sich die Heteronymie bei „stürmisch schneien“ durch ein hohes Maß an Expressivität aus. Expressiv sind viele Bezeichnungen insofern, als sie als Metaphern besonders anschaulich sind und dabei häufig auf auffällige, heftige, oft auch negativ bewertete Verhaltensweisen aus dem Alltag Bezug genommen wird. Expressiv motiviert sind nicht zuletzt auch die Hybridbildungen und die assoziativen Abwandlungen. Sie sind nicht durch intransparente Wortbilder der Ausgangsformen motiviert, sondern dadurch, bestehende an sich transparente Wortbilder komplexer und lautlich vielfältiger zu machen. 6.2.5.2 Faktoren der Diversität Die Diversität bei den Benennungen von Wetterphänomenen ist weitgehend durch das Erleben des Wetters bestimmt, dadurch, wie umfassend, häufig und dynamisch ein Wetterereignis ist, wie sehr es als besondere Abweichung von einem normalen Wetterverlauf erfahren wird und Emotionen weckt. Bezeichnenderweise gibt es keine besondere Bezeichnung für SCHÖNES WETTER, das offenbar als merkmalloser Zustand wahrgenommen wird. Wetterphänomene werden benannt, wenn sie als Abweichungen von diesem Normalzustand erscheinen. Grundlegende Wetterphänomene, die als wenig dynamische, wenig einschneidende, aber typische Abweichung vom schönen Wetter erlebt werden, werden seit jeher weitgehend mit denselben, allgemein geltenden Bezeichnungen benannt, die kaum verändert werden. Das trifft vor allem auf Regen, Wolken und Wind zu. Diese Konzepte fassen gewöhnlich auch eine Menge von ähnlichen, aber im Einzelnen an sich unterscheidbaren Phänomenen in ein relativ allgemeines Konzept zusammen.

66

S. JUD (1946, 58), VALTS Kommentarband IV 572.

Elementares Körperverhalten

309

Je spezieller eine derartige Abweichung ist, desto mehr tendiert die Heteronymie zu deskriptiven Innovationen und Expressivität. Nebel und Reif sind zwar in ihrer Erscheinung klar identifizierbare und abgrenzbare Ereignisse wie Regen und Wolken. Entsprechend sind auch deren Bezeichnungen tendenziell ebenfalls schon relativ alt. Die bestehenden Heteronymien sind unterschiedlich zu begründen. Bei „Raureif“ ist zu vermuten, dass eine schon alte Heteronymie nie vereinheitlicht wurde. Der Raureif wird als bloß lokal bedeutsames Phänomen erfahren, das überregional wenig thematisiert wird und bei dem die Diffusion von Bezeichnungen beschränkt bleibt. Bei der Heteronymie von „Nebel“ scheint von Bedeutung zu sein, dass Nebel in unterschiedlichen Gegenden in unterschiedlichen Wetterlagen auftritt. Das lässt das Bedürfnis entstehen, entsprechend differenzierte Bezeichnungen einzuführen, was wiederum zu regionalen Unterschieden führt. Das Graupeln und das stürmische Schneien sind dynamische und dazu eher seltene Ereignisse. Das Bedürfnis, das Graupeln als harmlose Sonderform des Schneiens vom prototypischen Schneien zu unterscheiden, ruft nach besonderen Bezeichnungen. Diese werden entsprechend der Harmlosigkeit der Erscheinung mit eher sachlichen, oft diminutivischen, verniedlichenden Formulierungen benannt. Im Gegensatz dazu ist das stürmische Schneien ein markantes Wetterphänomen, das sowohl intensiv wahrgenommen wird wie Emotionen weckt. Dies inspiriert zu expressiven Ausdrücken, die das Erlebnis in anschauliche Bilder fasst. Die areale Zersplitterung von unterschiedlich motivierten Ausdrücken zeigt, dass das Phänomen selbst relativ schwierig in ein klares Konzept zu fassen ist und dass die Ausdrücke lokal und wohl immer wieder neu gebildet und nur schwach durch Distribution regional verallgemeinert werden. Fazit: Diversitätsfaktoren sind vor allem im kollektiven Erleben von Wetterphänomenen begründet. Häufige Zustände und Ereignisse wie Regen, Wolken, Wind, die nicht über ein gewohntes Maß an Intensität hinausgehen, werden früh in allgemeine Konzepte gefasst und als solche benannt. Einmal eingeführte Bezeichnungen werden nicht verändert, die Innovationsaffinität ist gering. Innovationen kommen einerseits für zusätzliche Differenzierungen für bestimmte Ereignisse vor. Sie sind andererseits umso häufiger und expressiver, je intensiver ein Ereignis erlebt wird. Mit Expressivität sind tendenziell auch assoziative Abwandlungen verbunden. Für derartige Phänomene, ist auch die Diffusionsaffinität geringer. Auch wenn alte heteronyme Bezeichnungen tradiert werden wie bei REIF, werden sie relativ wenig diffundiert und bleiben sie lokal begrenzt. 6.3 ELEMENTARES KÖRPERVERHALTEN Elementare körperliche Handlungen, die dem Menschen als Mensch eigentümlich sind, sind zeitunabhängig gegeben, auch wenn sie gewöhnlich zusätzlich durch kulturelle Normen und Gewohnheiten bestimmt und gesteuert werden. In diesem Abschnitt wird eine Auswahl derartiger Handlungen thematisiert; nicht einbezogen werden reflexhaftes oder unkontrolliertes Verhalten wie Schnarchen, Niesen, Rülpsen, Geifern, sowie Kinderspiele wie Purzelbaum. Grundlage sind auch hier

310

Variationen in Diversitätsmustern

die Karten im SDS. Zum Vergleich werden einzelne Onomeme mit berücksichtigt, die im SDS nicht in Wortkarten dokumentiert sind, weil sie wortgeografisch uninteressant sind. 6.3.1 Diversitätstypen Als unmittelbare körperliche, gleichzeitig aber auch sozial relevante Erfahrungen kennen viele der angeführten Konzepte schon in den ältesten Sprachstufen entsprechende Benennungen. Anzunehmen ist, dass auch bei fehlenden Belegen schon früher Benennungsmöglichkeiten dafür existierten. Unabhängig davon gibt es auch in diesem Bereich unterschiedlich komplexe Diversitätsmuster. –

Diversitätstyp a: großräumige Einheitlichkeit, teilweise mit kleinräumigen Nebenvarianten

Onomeme

Variantenzahl

Varianten (Auswahl)

ahd./mhd.

[„(zu Fuß) gehen“

1

lauffe

ahd. loufan)]

[„sitzen“

2

sitze, hocke

ahd. sitzen, frühnhd. hocken]

(um-)ghiije/gheije, (falle, (um-)stürze, troole, boorze/bürzle, gäigle)

ahd. fallen]

[„stürzen“ (SDS VII 171 III)]

1 (5)

„knien“ (SDS IV, 37)

1

chnöie/chnüüe, chnöile/chnüüle

mhd. kniewen, knielen

„(Wagen) ziehen“ (SDS VIII 174)

2

zie, schrecke

ahd. ziohan

„(Wagen) schieben“ (SDS VIII 175)

3

stoosse, drucke, schürge

ahd. stōzen, drukken, scurgen

Abb. 6.15: Bezeichnungen von elementarem Körperverhalten – Diversitätstyp a

Anmerkungen: – Zu „(zu Fuß) gehen“: Gemeint ist hier die Bezeichnung der konkreten Handlung ZU FUSS GEHEN. Das Onomem ist im SDS nicht dokumentiert, doch die Bezeichnung »laufen« gilt unzweifelhaft gesamtschweizerdeutsch. 67 Das ebenfalls gesamtschweizerische (und gesamtdeutsche) »gaa« ›gehen‹ hat insgesamt eine abstraktere Bedeutung und ist höchstens teilsynonym. – Zu „sitzen“: Im SDS nicht dokumentiert. Neben der althergebrachten Bezeichnung »sitze« ist regional auch »hocke« als neutrale Bezeichnung verbrei67

S. z. B. GALLMANN (2015, 301), GASSER / HÄCKI BUHOFER / HOFER (2010, 210), VON GREYERZ / BIETENHARD (2008, 200), MUSTER / BÜRKI FLAIG (2001, 184), SCHMUTZ / HAAS (2004, 308).

311

Elementares Körperverhalten





tet. In vielen (vor allem ländlichen) Gegenden ist mit dem Gegensatz »sitze« – »hocke« eine stilistische Unterscheidung verbunden (neutral – derb);68 »hocke«: Intensivbildung zu mdh. hūchen ‘kauern’, spätmhd./frühnhd. u. a. mit der Bedeutung ‘gebückt sitzen/kauern/gehen’. Zu „stürzen“: In SDS VII 171 III findet sich eine selektive Zusammenstellung von verschiedenen Varianten mit Ortsangaben. Dabei scheint es sich jedoch teilweise eher um stilistisch markierte Sonderausdrücke zu handeln. Allgemein verbreitet ist »ghiije/gheije«, das auf sehr verschlungenen Wegen aus mhd. gehījen u. a. ‘Geschlechtsverkehr haben’ entstanden ist (s. DWB 5, 2340). Nach den Angaben in den Wörterbüchern ist »gheije/ghiieje« allgemein der neutrale Ausdruck für ‘fallen’. 69 Die Angaben im SDS sind also wohl entsprechend mit Vorbehalt zu interpretieren, es handelt sich evtl. um expressive Varianten; »troole«: eigentlich ‘wälzen, drehen’; »geigle«: Ableitung aus einer Variante zu »giig-« ‘sich hin und her bewegen’ (Id. 2, 147). Zu „ziehen“: Die Form »schrecke« ist nach Id. 9, 1601 eine lautliche Nebenform zu ›strecken‹; die Bedeutung ‘ziehen’ ergibt sich über eine metonymische Verschiebung aus der Verwendung als Bezeichnung der Tätigkeit (DURCH ZIEHEN) LÄNGER MACHEN.

Bei den Onomemen „(zu Fuß) gehen“, „sitzen“, „knien“, „(Wagen) ziehen“ dominiert räumlich ein lexikalischer Typ, auch wenn dieser, vor allem bei „knien“ in unterschiedlichen morphologischen Varianten realisiert ist. Allfällige Nebenvarianten kommen nur in Randregionen vor. Die Variante »schrecke« bei „ziehen“ beispielsweise ist nur im Wallis belegt. Großräumigkeit der Geltung eines einzelnen Heteronyms bedeutet allerdings nicht notwendigerweise Kontinuität der Bezeichnung an sich: »laufe« hat sich von einer Bezeichnung des schnellen Gehens zu einer allgemeineren Bezeichnung des Gehens zu Fuß an sich entwickelt. –

Diversitätstyp b: Mittlere Diversität als Fortsetzung älterer Heteronymie

Onomeme „kauern“ (SDS IV, 39, KSDS 64)

68 69

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 6

gruupe, groppe, bucke/bücke, huure, hocke/höckle, hugere

ahd./mhd. mhd. hūren, hocken

S. die Bemerkungen in Abschnitt 3.7.2, S. 159. S. z. B. ASCHWANDEN (2013, 324), GALLMANN (2015, 218), GASSER / HÄCKI BUHOFER / HOFER (2010, 139), VON GREYERZ / BIETENHARD (2008, 134, „Ld; St. eher derb“), SCHMUTZ / HAAS (2004, 292 s. v. kye).

312

Variationen in Diversitätsmustern

Onomeme „kneifen“ (SDS IV 92, KSDS 62)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 8

ahd./mhd.

chlemme, chlimme, chlimse, chlempe, chlüübe, chnüüble, zwäärge zwiirg(g)e, zwängge, pitzge, pfätze

mhd. klemmen, klimmen/ klimben, zwergen, zwengen, klieben, klūben, (pfetzen) ahd. springen mhd. gumpen

„(von einem Stuhl hinunter-)springen“ (SDS V 83)

3

gumpe, jucke, springe

„aufheben“ (SDS V 217)

3

(g)lupfe/(g)lüpfe, (g)lüfte, büre mhd. lupfen, lüften, bürn

„sich bücken“ (SDS VII 172)

ca. 6

sich bucke/bücke, sich tucke/tücke, sich chrümme/chrümpe, sich buggele, de Chopf abehaa/niderhaa

mhd. bucken, tucken, krümmen

Abb. 6.16: Bezeichnungen von elementarem Körperverhalten – Diversitätstyp b

Anmerkungen: – Zu „kauern“: Die zahlreichen zusätzlichen morphologischen Abwandlungen zu »gruppe« oder »groppe« wurden nicht als eigene Varianten mitgezählt; »gruppe«, »groppe«: unklare Etymologie, zu altfranzösisch cro(u)pir? 70 ; »hugere«: wohl zu mhd. hoger ‘Buckel’. – Zu „kneifen“: »chlüübe« wird gewöhnlich in Zusammenhang gebracht mit mhd. klieben ‘spalten’, wobei die Bedeutungsentwicklung nicht ganz klar ist (Id. 3, 616, DWB 11, 1160). Schon im Mittelhochdeutschen kommen Vermischungen mit klūben ‘klauben‘ vor; »chnüüble«: Metathese aus »chlüüble«; »pitzge« (belegt in GR): Entlehnung aus bündnerrom. pitzgar; »pfätze« (BS): im älteren Schweizerdeutsch ebenfalls belegt, später aber weitgehend verschwunden (Id. 5, 1206). Die heutige Verwendung in BS ist eingewandert aus dem benachbarten Norden. – Zu „(von einem Stuhl hinunter)-springen“: »jucke«: Intensivform zu mhd. jouchen/jöuchen ‘jagen, hetzen’ (germ. *jeuk, Id. 3, 38)? In DWB 10, 2347 wird dagegen ein Zusammenhang mit ›jucken‹ ‘Empfindung einer Hautrei-

70

Dieser Ansatz setzt eine relativ späte Übernahme im Westen voraus; afr. croupir ist Ableitung aus der Entlehnung croupe ‘Kreuz der Tiere’ aus altfränkisch *kruppa- (TOBLER / LOMMATZSCH 2, 1094–1096). Gegen eine späte Übernahme aus dem westlichen Frankoprovenzalischen vom Westen her spricht dagegen die weite Verbreitung bis nach GL und SG-Rheintal. Eine alternative Erklärung im Zusammenhang mit germ. *kreup- ‘sich bücken’ (ae. creopan, niederl. kruipen), wie sie in Id. 7, 790 erwogen wird, ist wiederum aus lautlichen Gründen schwer zu begründen.

313

Elementares Körperverhalten

zung’ postuliert. Schließlich könnte das Wort auch lautsymbolisch erklärt werden. Die Heteronymien zu den Onomemen dieses Typs können schon für die ältere Sprache vorausgesetzt werden. Dabei ist im Einzelfall nicht immer entscheidbar, inwieweit die einzelnen Lexeme sich in ihrer Bedeutung oder regionalen Verbreitung unterscheiden. Vielfach lassen sich die einzelnen Varianten als Ableitungen oder Weiterentwicklungen aus einfacheren Etyma erklären. Die einzelnen Heteronyme zu „kauern“ etwa sind etymologisch weitgehend aus Wurzeln mit der Bedeutung ‘(sich) biegen’, ‘(sich) bücken’ herzuleiten. Bei „springen“ ist die Form »gumpe« eine Variante aus einer offenbar lautsymbolischen Gruppe mit ›gampen‹ als Bezeichnungen von auffälligen Bewegungen (intensiv, auf und ab oder hin und her). –

Diversitätstyp c: Fortsetzung von älterer Heteronymie und Weiterentwicklung mit zusätzlichen teils expressiven Innovationen mit großer Diversität

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„(mit dem Finger) stupfen“ (SDS IV 83–85, KSDS 60)

ca. 9

tupfe/tüpfe, stupfe/ ahd. stōzen, mhd. stüpf(l)e, müpfe, putstupfen, schupfen, frühnhd. tupfen sche/pütsche, schupfe, tusle, püngge/pungge, müüke, puffe/püffe, stoosse, schguffe

„(mit der Hand/Faust) wegstoßen “ (SDS IV 86)

ca. 15

stupfe/stüpfe, schupahd. stōzen, mhd. fe/schüpfe, stoosse, mup- stupfen, schupfen, fe/müpfe, puffe/püffe, müt- frühnhd. tupfen sche, putsche/pütsche, pungge/püngge, müüke, schiesse, schutze, (boxe),

„einen Fußtritt versetzen“ (SDS IV 87)

ca. 21

gingge, ginggse, wingge, winggse, fungge/füngge, schlingge, stopfe, stupfe, stüpfe, stiirze, speerze, speiche, schupfe, schluurgge, tschaaggne, schuene, fuesse, mit de Schuene stäche, en (Fuess-)Tritt gää

„(Steine) werfen“ (SDS V 104, KSDS 70)

ca. 11

rüere, wärffe, schiesse, triibe, bäng(g)le, schmiisse/schmiize, schlaa, bole, gheie, sälle, guffre

ahd. ruoren, werfan, skiozan, slān, mhd. smeizen, boln, trīben

314

Variationen in Diversitätsmustern

Onomem

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„herumkriechen (von Kindern)“ (SDS V 7)

ca. 13

schnaagge, rutsche, chrüü- ahd. kriohhan, che, grople, muuch(l)e, kresan, mhd. rutschen bääre, chräsme/chräsle, chrosle, chroope, toope, boorz(l)e, hootsche

„stolpern“ (SDS VII 171)

ca. 12

stolpere, stürchle, stülpere, ahd. strūhhōn, stulstörple, tschülpere, (sich) len stogle, stoggele, stügele, stüch(e)le, stofle, stürfle, ver-/b-stürze, stüle

Abb. 6.17: Bezeichnungen von elementarem Körperverhalten – Diversitätstyp c

Anmerkungen: – Zu „stupfen“ und „wegstoßen“: »müüke«: Etymologie unklar; »puffe«, »pungge« »mütsche» wohl lautmalerisch; »müpfe« assoziative Abwandlung zu »stupfe«/»tupfe«. – Zu „einen Fußtritt versetzen“: In vielen Fällen kommen neben verbalen auch nominale Ausdrucksweisen vor, z. B. neben »gingge« »en Gingg gää«, wie in SDS IV 87 nicht einzeln gezählt; »gingge«, »wingge«, »fungge«: wohl lautsymbolisch, im Allgemeinen auch Bezeichnungen für ‘(wilde) unkontrollierte Bewegung mit den Beinen’, konkret z. B. ‘Beine schlenkern’, ‘schwankend gehen’ u. ä. (Id. 2, 366; 16, 158 ); »stopfe« und »stupfe«: semantische Weiterentwicklungen von Bezeichnungen des Stechens (‘stechend eindringen’); »stirze«, »speerze«: Weiterentwicklungen zu Wortstämmen mit der Bedeutung ‘steif herausstrecken’, ‘sich stemmen’ (DWB 16, 2193 s. v. sperzen; 18, 2538 s. v. sterzen, ; »speiche«: entwickelt aus ‘in die Speichen greifen (um einen Wagen fortzubewegen’), wohl über die pragmatische Assoziation ‘dabei mit den Füssen stark dagegen stemmen’ (Id. 10, 27); »schluurgge«, wohl zu «Schluurgg«, pejiorative Bezeichnung von Schuhen (Id. 9, 648); »tschaaggne«: zu »Tschaagg«, derbe Bezeichnung von Füßen (Id . 14, 1703). – Zu „Steine werfen“: »guffre«: zu »Gufer« ‘Geröll, Kies’, »bängle«: zu »Bängel« ‘Knüppel, längliches Holztück’; »sälle«: Etymologie unbekannt. – Zu „herumkriechen (von Kindern)“: »schnaagge«: im grammatischen Wechsel mit expressiver Reduplikation zu ahd. snahhan ‘kriechen’; »muuchle«: aus der ursprünglichen Bedeutung ‘in einem Hinterhalt sich verstecken’ (ahd. mūhhōn) mit der pragmatischen Assoziation, dass man sich dabei am Boden duckt; »toope«: zu »Taape»/»Toope« mhd. tāpe ‘Pfote’; »boorz(l)e«: im Ablautverhältnis zu mdh. barzen ‘hervordrängen’ mit Weiterentwicklung zu ‘sich mit Kraftaufwand und mühsam bewegen’; »hootsche«: lautmalerisch? (Id. 2, 1798 s. v. Hātsch, DWB 10, 559 s. v. hatschen).

Elementares Körperverhalten



315

Zu „stolpern“: Die morphologischen Teilvarianten mit Präfixen wie »g-« und »b-« sowie Reflexivverwendungen wurden nicht einzeln gezählt. Bei Einberechnung dieser Variationen kommt man auf 28 Varianten. Zu den Formenabwandlungen im Einzelnen s. Abschnitt 3.3, S. 115.

Die Heteronymien des Typs c haben mit jenen des Typs b die Gemeinsamkeit, dass eine gewisse Varianz bereits für die ältere Sprache angesetzt werden kann. Auch bei Typ c ist oft nicht klar bestimmbar, inwieweit die älteren Ausdrücke schon ursprünglich synonym waren und die heutigen Verwendungen direkte Fortsetzungen der früheren Verwendungen darstellen. Vom Typ b unterscheiden sich die Onomeme des Typs c darin, dass die Varianten zusätzlich durch verschiedene Arten der Innovation erweitert werden, etwa durch assoziative Abwandlungen und durch zusätzliche lexikalische Neubildungen. Diese Erweiterung der Heteronymie geht einher mit zusätzlicher, größerer arealer Diversität. Die zusätzlichen Innovationen gehören unterschiedlichen Innovationstypen an. Bei „stolpern“ bestehen die Innovationen aus einer Kombination von assoziativer Weiterentwicklung mit Hybridbildungen; sie überlappen sich mit lautsymbolisch motivierten lexikalischen Innovationen. Die einzelnen Formen lassen sich auf relativ wenige lexikalische Ausgangselemente zurückführen. Bei „(mit der Hand) wegstoßen“ kommen zu den älteren Bezeichnungen wie »stupfe«, »schupfe« und »stoosse« Lexeme hinzu, die überwiegend eigenständige, primär lautsymbolisch motivierte Innovationen sind. Bei „(Steine) werfen“ und „herumkriechen“ bestehen die zusätzlichen Innovationen demgegenüber vor allem in deskriptiv motivierten Bildungen metonymischer Art, beim Werfen in Instrumentalableitungen, bei denen die Art des geworfenen Gegenstands (Steine, Holzprügel) thematisiert wird. Auch bei den Bezeichnungen für das Treten mit dem Fuß kommen derartige Bildungen vor: »Schluurgge«, »tschaagne« und »fuessne« sind Ableitungen aus (teilweise pejorativen) Bezeichnungen von Schuhen, also dem Instrument, mit dem die Handlung vollzogen wird. Daneben handelt es sich bei den neuen Ausdrücken in diesem Bereich vor allem um Spezialisierungen allgemeinerer Bezeichnungen verwandter Handlungen. »Gingge«, »wingge« »schlingge« haben zunächst Bedeutungen wie ‘(wilde, unkontrollierte) Bewegung mit den Beinen’; »stopfe« und »stupfe« leiten sich von Bezeichnungen des Stechens (‘stechend eindringen’) ab (so direkt auch »stäche«); eine weitere Gruppe bewegt sich um die Motivik ‘steif herausstrecken’, ‘sich stemmen’, so »stirze«, »speerze«, »speiche«. 6.3.2 Faktoren der Diversität Obwohl, wie erwähnt, davon auszugehen ist, dass für elementares körperliches Verhalten seit jeher Bezeichnungsmöglichkeiten existiert haben, gibt es kaum Onomeme, bei denen derartige alte Bezeichnungen unverändert bis in die Gegenwartsdialekte tradiert werden. Ausnahmen davon sind vor allem „knien“, „ziehen“ und, mit Einschränkungen, „stoßen“. Sogar für elementare Verhaltensweisen

316

Variationen in Diversitätsmustern

wie „zu Fuß gehen“ und „sitzen“ hat sich Variation entwickelt. Der Wortschatzwandel und die Heterogenität sind mit unterschiedlichen Entwicklungen in Beziehung zu bringen: Abstraktheit – Konkretheit der Konzepte: Auffallend ist, dass es in den meisten Fällen schon im älteren Sprachgebrauch für eine bestimmte Handlung mehrere Bezeichnungsmöglichkeiten gibt. Im Ursprung kann dahinter eine semantische oder areale Differenz liegen, die aber historisch nicht mehr erkennbar ist. Die aktuelle Heteronymie wäre in solchen Fällen also auf ältere Heteronymie oder Quasi-Synonymie zurückzuführen. Dies gilt etwa für das Nebeneinander von »chrüüche« ahd. kriohhan und die Gruppe »chräsle« und »chräsme«, die aus ahd. kresan abgeleitet sind. Die Herleitung neuerer Heteronymie aus älterer Heteronymie oder QuasiSynonymie verschiebt die Frage nur und ist selbst erklärungsbedürftig. Wenn man den Bedeutungserläuterungen in den Wörterbüchern folgt, erscheinen die ursprünglichen Lexeme im konkreten Gebrauch in aller Regel als polyseme Wörter. Zu mdh. klemmen gibt LEXER beispielsweise die Bedeutungen ‘mit den Klauen packen’, ‘ein-, zusammenzwängen, kneipen’ an (LEXER 1, 1619). Für mhd. tucken werden u. a. Bedeutungen wie ‘eine schnelle Bewegung nach unten machen’, ‘sich beugen, neigen’, ‘gebückt gehen’ angeführt (LEXER 2, 1557). Derartige Interpretamente im Wörterbuch sind zunächst eher als kontextbezogene Deutungen der jeweiligen Äußerungsbedeutungen zu verstehen und nicht als Definition einer fixierten konventionellen Grundbedeutung. Eine solche wäre eher aus diesen verschiedenen Einzelangaben zu rekonstruieren und zusammenzufassen. Die Polysemie in den Wörterbüchern kann einerseits als Indiz dafür interpretiert werden, dass die systematische Bedeutung an sich allgemeiner ist, als im Kontext zum Vorschein kommt. Eine derartige Polysemie bedeutet im Hinblick auf die hier relevanten Bedeutungen, dass für die entsprechenden Konzepte ursprünglich keine unmittelbare eindeutige Bezeichnung existierte, sondern eine solche als kontextuelle Konkretisierung hergestellt werden muss. Die sich historisch entwickelnden Polysemien zeigen, wie solche konkreten Anwendungen sich in konventionalisierten Bedeutungselementen verfestigen. Die Polysemien semantisch benachbarter Wörter können ferner zu Überlappungen in den jeweiligen Teilbedeutungen führen: Semantisch unterschiedliche Wörter können zur Bezeichnung ein und desselben Konzeptes konkretisiert werden. Die Heteronymie der Gegenwartsdialekte lässt sich vor diesem Hintergrund erklären als Resultat des Umstands, dass ein relativ konkretes Konzept mit Hilfe von Konkretisierungen der Bedeutungsmöglichkeiten unterschiedlicher Wörter mit allgemeinerer Bedeutung zu bezeichnen versucht wurde. Die areale Diversität ergibt sich dadurch, dass diese Spezialisierungen regional unterschiedlich erfolgten und allenfalls auch jeweils auf unterschiedliche Weise ein Ausgleich zwischen quasi-synonymen Verwendungen stattfand. Einige der Unterschiede im Grad der Diversität erklären sich unter diesen Annahmen durch die unterschiedliche Abstraktheit bzw. Konkretheit von Konzepten bzw. Wortbedeutungen, einerseits in der älteren Sprache, andererseits möglicher-

Elementares Körperverhalten

317

weise auch in den Gegenwartsdialekten. Die Konzepte und Bedeutungen, wie sie bei „sitzen“, „knien“, „ziehen“, „schieben“ und „stoßen“ versprachlicht werden, sind auch als Konzepte auf einer abstrakteren Ebene anzusiedeln als etwa bei „(mit dem Finger) stupfen“, „(mit der Hand/Faust) wegstoßen“, „einen Fußtritt versetzen“, „kneifen“, „(Steine) werfen“, „herumkriechen (von Kindern)“. Für die abstrakteren Konzepte gab es immer schon Bezeichnungen, während für die konkreteren Konzepte sich sekundär präzisere Benennungen entwickelten. Das Benennungsverfahren bei konkreteren Konzepten besteht darin, die Handlung als Manifestation einer konzeptuell übergeordneten Handlung zu bezeichnen (vertikale taxonomische Übertragung im Sinne von Abschnitt 2.2.2.3). Diese Übertragung wird zu einer festen Bedeutung oder Bedeutungsvariante der betreffenden Wortform konventionalisiert. Wir können die Hypothese aufstellen, dass es sich bei Konzepten wie ZU FUSS GEHEN, KNIEN, ZIEHEN oder SCHIEBEN mit geringer oder keiner Diversität um Basiskategorien im Sinne der Prototypentheorie handelt. Die entsprechenden Konzepte bilden Basiskategorien, weil sie sozial relevante, mehr oder weniger standardisierte und neutral bewertete Handlungstypen erfassen. Basiskategorien werden, wie bereits in Abschnitt 6.2.1.4 postuliert, ursprünglicher in Sprache gefasst als untergeordnete Konzepte. Die konkreteren Konzepte wie MIT DEM FINGER STUPFEN oder MIT DER FAUST WEGSTOSSEN sind auf einer tieferen Ebene als Basiskategorien anzusiedeln, auch wenn es schwierig sein kann, dazu eine direkt übergeordnete Basiskategorie zu finden. Sie erfassen auch Handlungen, die nicht als soziale Musterhandlungen standardisiert sind. Wenn für solche Handlungen konventionelle Bezeichnungen fixiert werden, müssen wir allerdings voraussetzen, dass auch für die in den entsprechenden Fragen evozierten Handlungen tatsächlich sozial fixierte, konventionalisierte Konzepte existieren, die mit den entsprechenden Wörtern bezeichnet werden, dass also nicht einfach Wörter mit einer allgemeineren Bedeutung angegeben werden. Die Schwierigkeiten, die etwa in SDS IV 84 „(mit der Hand/Faust) wegstoßen“ bezüglich der Identifikation eines entsprechenden Denotats oder Konzepts erwähnt werden, können darauf hinweisen, dass eine derartige allgemein gültige Konzeptualisierung der Sache nicht an allen Orten vorhanden ist. Auch dies wäre ein Hinweis darauf, dass ein solches Konzept nicht als primäres Basiskonzept vorhanden ist. Konzeptuelle Unschärfe: In Fällen wie „sitzen“ und „werfen“ sind die einzelnen Varianten nicht als Konkretisierungen abstrakterer Bedeutungen zu interpretieren, sondern als unscharfe konzeptuelle oder semantische Trennungen ursprünglich klar unterschiedener Inhalte auf der gleichen taxonomischen Ebene. Die Bedeutung von spätmdh. hocken ist im Abstraktionsgrad auf der gleichen Ebene wie sitzen anzusetzen und zu unterschiedlich von sitzen, als dass sich die Bedeutung ‘sitzen’ über kontextuelle Konkretisierung ableiten ließe. Ebenso haben in der älteren Sprache ruoren/rüeren, schiezen und werfen im Ursprung grundlegend unterschiedliche Bedeutungen, von denen nicht eine einer anderen untergeordnet werden könnte. Ahd./mhd. ruoren/rüeren bezieht sich auf die Handlung, einen Gegenstand an Ort zu bewegen oder in Bewegung zu bringen, ohne ihn wegzu-

318

Variationen in Diversitätsmustern

bewegen. Dagegen bezeichnet schiezen und die ganze dazugehörige Wortfamilie das kraftvolle Werfen bzw. Bewegen eines Wurfgegenstandes, speziell eines Geschosses wie Pfeil oder Speer, weg vom Betrachter in den Raum. Das mhd. Lexem werfen meint demgegenüber ursprünglich das Wegwerfen eines Gegenstandes, u. U. auch einfach das Fallenlassen ohne Kraftaufwand z. B. auf den Boden.71 Dass schwzdt. »hocken« auch ‘sitzen’ oder »rüere« ‘werfen’ bedeuten kann, muss als Auswirkung von konzeptuellen Unschärfen gedeutet werden. Das Wort »rüere« kann die Bedeutung ‘werfen’ im Sinne von ‘mit Kraft weg von der handelnden Person bewegen’ bekommen, wenn das ursprüngliche unterscheidende Kriterium ‘an Ort und Stelle bewegen’ nicht mehr präsent ist. Manche Heteronyme, die das geworfene Objekt thematisieren, sind als Ersatzlösungen für derartige Unklarheiten interpretierbar. Bei der Entwicklung von »hocke« von der Bedeutung ‘in gebeugter Stellung sein’ hin zu ‘sitzen’ können bestimmte Sitzgewohnheiten die Ursache solcher Verwischungen sein. Wenn nur niedrige Hocker als Sitzgelegenheiten verwendet werden oder wenn häufig auf dem Boden gesessen wird, überlappen sich in der Funktion unterschiedliche Sitzstellungen und die Abgrenzungen werden unscharf. Derartige Entwicklungen erfolgen offenbar regional unterschiedlich und führen dadurch zu arealer Diversität. Mit konzeptuellen bzw. semantischen Unschärfen hängen teilweise auch die Probleme beim Erfragen der Bezeichnungen für „(mit der Hand/Faust) wegstoßen“ (SDS IV 84) und die entsprechende Varianz zusammen. Es gibt sehr unterschiedliche Arten, jemanden grob wegzustoßen, mit der Hand oder mit der Faust, langsamer oder schneller, plötzlich oder mehr schiebend. Als Phänomene kann man diese Arten unterscheiden, obwohl die Abgrenzungen fließend sind; ob aber in einer Sprechergemeinschaft auch konventionell geltende konzeptuelle und damit verbundene semantische und lexikalische Differenzierungen einhergehen, ist unklar. Soziale Auffälligkeit des Verhaltens: In manchen Fällen wird, wie oben erwähnt, die Diversität dadurch vergrößert, dass zu den Varianten aus älteren Lexemen lexikalische Innovationen mit expressiven Bedeutungselementen hinzukommen. Dazu gehören vor allem lautsymbolische Ausdrücke, so bei „stupfen“, „stoßen“ und „einen Fußtritt versetzen“. Bei „herumkriechen“ sind es metaphorische 71

Vgl etwa: nu sach er einen vanen sweben, ein lützel ruorte den der wint. (Biterolf und Dietleib, Zeile 9902–9903) dô werte sich der Persen her mit vîentlîchen dingen, mit bogen und mit slingen schuzzen sie und wurfen dar werlîch ûf der Mâzen schar. (RUDOLF VON EMS: Alexander, Z. 13642–13636) Nyem gros kreps und nyem die schallan also ganz davon; nyem das ynder daruss und wierf das bös davon. (Alemannisches Büchlein von guter Speise, Kap. 8, BIRLINGER 1865)

Elementares Körperverhalten

319

Vergleiche mit dem Verhalten von Tieren oder andere Bildungen, die eine zusätzliche Anschaulichkeit evozieren, etwa die Anspielung auf besonderen Kraftaufwand. Auf einer lautlich-lautsymbolischen Ebene liegen die Abwandlungen und Hybridbildungen bei „stolpern“. Auch die Bezeichnungen von ‘gehen’ als »lauffe« und ‘stürzen’ als »gheije« sind im Ursprung auf ein Bedürfnis nach Expressivität zurückführen. Expressive Bildungen entstehen aus spontaner Kreativität in der Alltagssprache, was wiederum tendenziell Polygenese und damit areale Diversität impliziert. Durch Expressivität verursachte Diversität tritt augenscheinlich vor allem bei irgendwie auffälligen oder störenden Verhaltensweisen auf, die gleichzeitig auch relativ konkrete Konzepte beinhalten. Jemanden mit dem Finger stupfen oder mit der Hand/Faust wegstoßen oder jemandem einen Fußtritt versetzen sind soziale Verhaltensweisen, die nicht in einen normalen Handlungsablauf eingebettet sind und das Gleichgewicht von Beziehungen stören. Das Herumkriechen von kleinen Kindern weicht von den Fortbewegungsarten von Erwachsenen auffällig ab und weckt zugleich bei diesen Affekten. Stolpern ist ein Misslingen des normalen Gehens. Freilich ist auch Kneifen, dessen Bezeichnungen keine Expressivität zeigen, eine störende soziale Verhaltensweise. Der Grund für diese Ausnahme liegt wohl in den möglichen sprachlichen Verfahren von Expressivität. Stupfen, Stoßen und einen Fußtritt versetzen sind schnelle, dynamische Handlungen, die sprachlich direkt in lautsymbolischen Nachahmungen nachgebildet werden können. Für wenig dynamische Handlungen wie Kneifen oder sich Bücken existieren keine unmittelbar naheliegenden lautsymbolischen Verfahren. Auf einer vergleichbaren Ebene liegt die Heteronymie bei „stolpern“, auch wenn sie hauptsächlich auf Hybridbildungen und assoziative Abwandlungen zurückzuführen ist. Die entstandenen Formen entsprechen aber praktisch immer lautsymbolischen Mustern, die Motive wie ‘unsicher gehen’, ‘hängen bleiben’ u. ä. assoziieren. Auf einer deskriptiven Ebene liegt dagegen die Expressivität bei „herumkriechen (von Kindern)“. Die Affektivität drückt sich vor allem in der bildhaften Anschaulichkeit aus, in den zusätzlichen Vorstellungen, die mit der entsprechenden Ausdrucksweise vermittelt werden. Strategien der Expressivität bei der Benennung auffälligen Verhaltens führen unabhängig von arealer Variabilität zu vielschichtigen stilistischen und semantischen Bezeichnungsvariationen im Wortschatz. Der Ursprung dieser Bezeichnungsweisen liegt in einem allgemeinen Bedürfnis nach Expressivität in der Umgangssprache. Diese Variationen können in einer Wortkarte kaum erfasst werden, die den stilistisch neutralen Ausdruck erfassen will. Die Variationsbreite wird allenfalls in den standarddeutschen Registern der Dialektwörterbücher erkennbar, in denen zu allgemeinen Konzepten wie GEHEN oder STÜRZEN eine Vielzahl von expressiven Ausdrücken zu speziellen auffälligen Arten des Gehens oder Stürzens vermerkt werden. Einzelne dieser Ausdrücke können andererseits wieder als stilistisch markierte allgemeine Bezeichnungen für die entsprechenden Verhaltensweisen verwendet werden. Schließlich wird u. U. eine expressive Bezeichnung einer bestimmten auffälligen Art des Gehens oder Stürzens zuletzt zur allgemeinen Bezeichnung des Basiskonzepts. Dies ist geschehen bei den prototypischen, verhält-

320

Variationen in Diversitätsmustern

nismäßig abstrakten Konzepten GEHEN und STÜRZEN. Dabei haben sich zusätzlich ursprünglich expressive Bezeichungen wie »lauffe« und »gheije« durch Diffusion über größere Räume verbreitet, so dass eine Diversität auf der Ebene der neutralen Bezeichnungsweise verschwunden ist, die anfänglich bestanden haben mag. Die unterschiedlichen Grade an Diversität bei den Bezeichnungen für elementares Körperverhalten sind somit insgesamt durch verschiedenartige Faktoren bestimmt: 1. Geringe Diversität und Fortsetzung von alten Ausdrücken ist gegeben bei prototypischen Konzepten, die als Basiskonzepte seit alters eine direkte Benennung erhalten haben. Zu prototypischen Konzepten entwickeln sich Konzepte, die grundlegende, sozial standardisierte und neutral bewertete Formen des Körperverhalten erfassen. In diesen Fällen besteht tendenziell geringe Innovationstendenz und eine starke Diffusionstendenz. 2. Größere Diversität entsteht bei Konzepten, die konkreter sind als die Basiskonzepte, und zwar dadurch, dass nachträglich aus unterschiedlichen lexikalischen Elementen mit allgemeinerer Bedeutung spezielle Bezeichnungen entwickelt werden. 3. Diversität entsteht ferner aus zusätzlichen expressiven Bezeichnungsweisen. Diese treten vor allem bei schnellen, mit Kraft ausgeübten Bewegungen auf, bei auffälligem, abweichendem Verhalten, ferner aus emotionalen Gründen bei kindlichem Verhalten. Expressivität hat jedoch auch die Tendenz, auszustrahlen auf die Bezeichnung von Basiskonzepten. 4. Bei relativ konkreten Konzepten ist die Diffusionsaffinität niedrig. Je abstrakter ein Konzept ist, desto eher wird durch Diffusion auch eine möglicherweise expressive Bezeichnungsweise verallgemeinert. Diffusion wird dadurch begünstigt, dass abstrakte Verhaltenskonzepte gleichzeitig auch sozial allgemein gültige Verhaltensmuster sind. Fazit: Elementares körperliches Verhalten gehört zwar zu den unmittelbaren menschlichen Erfahrungen. Die einzelnen Verhaltensweisen sind aber sozial unterschiedlich markiert. Die Diversität hängt hauptsächlich davon ab, welche soziale Bewertung und welchen konventionellen Stellenwert ein Handlungstyp in der Gemeinschaft besitzt. 6.4 ZUCHT- UND HAUSTIERE AUF DEM BAUERNHOF Zucht- und Haustiere sind Naturerscheinungen wie freilebende Tiere, sie sind aber gleichzeitig Bestandteil von menschlicher Kultur und Mitspieler in menschlichen Handlungsräumen. Sie werden planmäßig gezüchtet und zu bestimmten Zwecken gehalten. Viehwirtschaft und Tierhaltung unterliegen so, wie jede Kultur, historischem Wandel. Viehwirtschaft und Tierhaltung gehen freilich auf jahrtausendealte Traditionen zurück. Auch wenn sich die Zucht- und Haltungsformen von Vieh und die Landwirtschaft in den letzten zweihundert Jahren fundamental geändert haben, spielen immer noch die gleichen Tiere eine Rolle, wie sie schon im Frühmittelalter gehalten wurden. Entsprechend baut der Sprachgebrauch in die-

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

321

sem Bereich auf einer alten und in ihren Grundzügen ungebrochenen sprachlichen Tradition auf.72 Wenn Tiere gezüchtet und zweckorientiert gehalten werden, führt das dazu, dass haltungsabhängig spezifische Differenzierungen gemacht werden. Konzeptionell bzw. begrifflich wird etwa zwischen der Gattung und einzelnen Erscheinungsformen unterschieden, bei letzteren namentlich zwischen männlichen und weiblichen Tieren, zwischen unterschiedlichen Altersstufen und ggf. zwischen kastrierten und nichtkastrierten männlichen Tieren. Gattung und einzelne Erscheinungsformen liegen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Dazu können einzelne Differenzierungsmerkmale, etwa Alter und Geschlecht, im einzelnen Lexem semantisch kombiniert werden. Differenzierungen können ferner abstrakt und gattungsübergreifend (analytisch) oder gattungsspezifisch (synthetisch) formuliert werden. Dies gilt vor allem für Geschlechtsunterscheidungen. Die Ausdrücke Männchen und Weibchen beispielsweise sind gattungsübergreifende, abstrahierende Bezeichnungen für das männliche oder weibliche Exemplar beliebiger Gattungen, bei Rüde ‘männlicher Hund’ oder Hündin ‘weiblicher Hund’ werden semantisch die Gattung und die Geschlechtszugehörigkeit synthetisch kombiniert. Das methodische Problem in der Onomasiologie besteht darin, dass die gleiche Sache als Denotat gleichzeitig unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden kann und dass in einer Frageweise mit einem direkten referenziellen Zugang zur Sachwelt nicht unbedingt entscheidbar ist, welche Kategorisierung in der Antwort gemeint ist. Ein einzelner erwachsener männlicher Hund ist nicht nur eine Instanziierung eines RÜDEN, sondern auch der Gattung des Hundes an sich oder ein erwachsenes Exemplar der Gattung HUND. Das onomasiologische Problem besteht darin, dass lexikalisch die jeweiligen Konzepte und die Kombinationen von Unterscheidungsmerkmalen je nach Region und prototypischer Erscheinungsweise der Gattungsexemplare sprachlich unterschiedlich umgesetzt werden können. Auch werden manche Unterscheidungen nicht überall in der gleichen Weise gemacht oder sie fehlen regional. Die einzelnen Lexeme nehmen in der Wortschatzstruktur dementsprechend je nach Region einen unterschiedlichen Platz ein und bezeichnen ein unterschiedliches Konzept. Die von der konkreten Sache ausgehende Frageweise in der Exploration und die daraus abgeleitete kartografische Darstellung der Antworten im SDS erfassen deshalb manche Strukturunterschiede im Wortschatz oft nur unzureichend, so etwa, wenn das männliche Exemplar einer bestimmten Gattung, z. B. MÄNNLICHES EXEMPLAR DER GATTUNG HUND, in unterschiedlicher Weise entweder synthetisch und gattungsspezifisch (etwa als »Rüüd«) oder abstrakt gattungsübergreifend (etwa als »Männli«) bezeichnet wird (SDS VIII 117) oder wenn für bestimmte Konzepte nebeneinander sowohl sachliche wie eher emotionale Bezeichnungen angegeben werden. In der folgenden

72

Stärker gewandelt haben sich Gebäude und Gerätschaften im Zusammenhang mit dem Wandel der Produktionsformen („Agrarrevolution“). Auf die auch regional sehr komplexen Verhältnisse bei der Architektur des Bauernhauses und der Wirtschaftsgebäude und deren Benennung, die in Band VII des SDS dargestellt werden, kann hier nicht eingegangen werden.

322

Variationen in Diversitätsmustern

Diskussion wird versucht, nur inhaltlich vergleichbare Benennungen zusammenzunehmen. 6.4.1 Rind Onomeme „Zuchtstier“ (SDS VIII 3)

„kastrierter Stier“ (SDS VIII 4)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 8

ahd./mhd.

ahd. farro, stior (Zucht-/Muni-/Hagi-/ Pfarr-)Stier, Muni/Münel, Hage/Hägi, Muchel, Pfarr, Murrli, Böckel, Bautschi, (Manndli)

3, div. Ochs, Urner, Stier, gheilAblei- te/putzte/gschnitte Stier, tungen Zuug-/Bruuch-/Heil-Stier

ahd. ohso

ahd. kalb, rind, kuo

„Altersstufen des (weiblichen) Rindes“ (SDS VIII 14) „ganz junges (frischgeborenes) weibliches Kalb“ (SDS VIII 16)

ca. 8

Chalb/Chälbli, Chue-/ Mueter-/Chüeli-Chalb/ -Chälbli, Chüeli, Hüdi, Rindli, Chuebus(e)li, Chüetsche f./Chüetschi n.

erste Altersstufe (Geburt bis einjährig)

1

Chalb (oft mit Diminutiv)

zweite (–dritte) Altersstufe (ein- bis zweijährig)

ca. 7

Rind(er)li, Guschti/ Guschteli, Bus(e)li, Mänsi, Jäärlig, Galt(i)/Galtlig, Fardel

dritte (–vierte) Altersstufe (ausgewachsen, zur Zucht reif, zwei- bis dreijährig, vor dem ersten Kalben)

ca. 9

Rind(-li), Guschti, Mänsi, Mänsrind, Ziitrind/-chalb/-chue, Galtlig

erwachsenes weibliches Rind (nach dem ersten Kalben)

1

Chue

Abb. 6.18: Heteronymien bei den Erscheinungsformen des Rindes

323

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

Anmerkungen: – Zu „Zuchtstier“: s. Abschnitt 3.2.1, S. 92. – Zu „kastrierter Stier“: »Urner«: „ein nach urnerischer Art behandelter Stier“ (Id. 1,464); viele Benennungen sind Ableitungen, in der Regel Komposita oder attributive Bildungen mit einem Partizipialadjektiv aus einem Verb mit der Bedeutung ‘kastrieren’. Die Zählung der Varianten hängt davon ab, ob man derartige Bezeichnungen als einheitlichen Typ zählt oder nicht; die Varianz bei der attribuierenden Charakterisierung hängt von der Heteronymie für „kastrieren“ (SDS VIII 5) ab. Bildungen mit partizipialen Attributen sind im Grunde keine eigenständigen Ausdrücke für den kastrierten Stier, sondern umschreibende Präzisierungen. – Zu „frischgeborenes (weibliches) Kalb“: »Hüdi« und »Bus(e)li« als Bezeichnungen des frischgeborenen Kalbes gehen einerseits auf Lockrufe für junge Tiere zurück, »Bus(e)li« zusätzlich mit Anklang auf eine onomatopoetische Bezeichnung »buus« für etwas Weiches, Wolliges. »Bus(e)li« ist auch eine allgemeine Bezeichnung für die Katze (s. SDS VIII,123, Id. 2, 1006; 4, 1739). – Zu „Altersstufen des weiblichen Rindes“: Die Bezeichnungen »Galtlig«, »Guschti« u. ä. sind Ableitungen zu den Adjektiven »guscht« und »galt« ‘nicht milchgebend, unfruchtbar’.73 Bei ›Mänse‹ (mit großer lautlicher Varianz, s. SDS VIII 17) handelt es sich nach KLAUSMANN / KREFELD (1986, 132) um eine Entlehnung eines vorrömischen Wortes über romanische Vermittlung. »Fardel« ist eine Entlehnung aus dem Frankoprovenzalischen; seiner regionalen Geltung nach (WS-Goms und GR) ist es ein Walser Wort. Abb. 6.18 gibt einen sehr vereinfachten Überblick über die Grundzüge der Einteilung in Altersstufen und die damit verbundene Heteronymie. Regional gibt es unterschiedliche Einteilungen der Altersstufen und entsprechend unterschiedliche Bedeutungen der einzelnen Lexeme innerhalb der jeweiligen Konzeptfelder. Hinter Mehrfachvertretungen der einzelnen Bezeichnungen verbergen sich z. T. terminologisch unterschiedliche Abgrenzungen. Die Variationsmöglichkeiten zeigen etwa die folgenden Beispiele: Vierstufiges System Region

erste Altersstufe

zweite Altersstufe

dritte Altersstufe

erwachsenes Tier

BS, AG, ZH Chalb SH, TG

Rindli

Rind

Chue

AP

Buseli

Galtlig

Chue

BE Seeland, Chalb Oberaargau

Chälbli

Guschti

Rind

Chue

BE Kandertal

Mänse

Ziitchue

Chu

Chalb

Abb. 6.19: Heteronymien bei den Altersstufen des Rindes: Vierstufiges System 73

S. Id. 2, 236; 2, 493 sowie DWB 5, 3059 s. v. gelt; 9, 120 s. v. güst. Zur geografischen Verbreitung s. SDS VIII 12–13.

324

Variationen in Diversitätsmustern

Fünfstufiges System Region

BE Simmental FR UW, UR

erste Altersstufe Chalb

zweite Altersstufe Rinderli

dritte Altersstufe Mänse

vierte Altersstufe Ziitchue

erwachsenes Tier

Chalb

Mänse/ Mänsi Jäärlig

Guschti

Rind

Chue

Mänsrind

Ziitrind

Chue

Chalb

Chue

Abb. 6.20: Heteronymien bei den Altersstufen des Rindes: fünfstufiges System

Manche Ausdrücke, vor allem so zentrale wie »Rind«, »Chalb«, »Chue«, »Stier«, »Ochs«, sind seit dem Althochdeutschen belegt und germanischen Ursprungs. Im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen (wie noch in der Standardsprache) gilt eine relativ klare und einfache Organisation des Bezeichnungsfelds.74 Als rind wird ein Tier im Hinblick auf seine Gattungszugehörigkeit bezeichnet, das Junge geschlechtsneutral als kalb, das erwachsene weibliche Exemplar als kuo. Etwas komplizierter sind die Verhältnisse beim erwachsenen männliche Exemplar. Ursprünglich bezeichnete farro den erwachsenen Zuchtstier, stior das junge, geschlechtsreife männliche Exemplar. Dazu kommt ahd. ohso/mdh. ohse, dessen Bedeutung meist als ‘kastrierter Stier’ angegeben wird. Die Belegstellen im Althochdeutschen sind allerdings nicht immer eindeutig oder deuten sogar auf eine allgemeinere Bedeutung ‘erwachsenes männliches Rind’. Inwiefern hier Bedeutungswandel mitspielt, ist schwer zu sagen. Die semasiologischen Verhältnisse sind jedenfalls komplex, wie auch die Verhältnisse im heutigen Schweizerdeutsch zeigen (s. u.).75 74

75

Das bezieht sich nur auf die lexikalische Struktur der Alltagssprache. Wie die differenzierten Regelungen etwa schon in der Lex Salica zeigen, ist das Sachfeld unter juristischen Gesichtspunkten konzeptuell sehr viel differenzierter organisiert. Im Allgemeinen entspricht dem allerdings nicht die lexikalische Struktur des Wortfelds. Zusätzliche Differenzierungen erfolgen durch Umschreibungen und Zusätze. S. DWB 13, 1129. Auch im Althochdeutschen wird mit ohso beispielsweise auch lat. bos und taurus (KÖBLER Ahd.WB s. v. ohso) glossiert. Vgl. auch Auerochse und engl. ox, wo ›Ochse‹ als Gattungsbezeichnung erscheint. Eine statistische Auswertung in MHDBD ergibt für ochse 149 Belege, für stier 56, davon die meisten in Reimstellung, was ochse als den neutralen Ausdruck erscheinen lässt. Auch in vielen Dialekten sind für ›Ochse‹ beide Bedeutungen ‘Zuchtstier’ und ‘kastrierter Stier’ belegt (s. PfWB 5, 212, RhWB 6, 326, SHW 4, 1054). – In der Lex Salica (Malbergische Glossen) wird bos mit ohseno glossiert, der Zuchstier als Leitstier mit chario-chēto (ahd. heriheizo*) und als Gemeindebulle mit chāma mitho (ahd. haimo*) (SEEBOLD 2015). Dies ist auch die Reihenfolge für die Regelungen der jeweiligen Tatbestände des Diebstahls. Nach der gewöhnlichen Systematik wird der Diebstahl von Tieren in der Lex Salica primär nach dem Alter der Tiere und sekundär nach Allgemeinfall – Sonderfall organisiert. Bei den Schweinen werden beispielsweise die Zuchteber vor den beschnittenen Ebern behandelt. Das würde darauf hindeuten, das ohseno das allgemeine Wort für ‘Bulle = männliches erwachsenes Rind’ (oder allenfalls der junge Bulle) ist (so auch SEEBOLD 2015,

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

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Die Bedeutungen der überkommenen Ausdrücke haben sich im Schweizerdeutschen in unterschiedlicher Weise gewandelt und das hat auch areale Diversität zur Folge. Heteronymien haben sich vor allem in Zusammenhang mit der Differenzierung der Altersstufen zwischen Kalb und Kuh entwickelt. Besondere Ausdrücke für einzelne Altersstufen zwischen dem Jungen (›Kalb‹) und dem erwachsenen weiblichen Rind (›Kuh‹) existierten in der älteren (Alltags-)Sprache offenbar nicht direkt. Eine solche Differenzierung erfolgte einmal mit der Einengung des Ausdrucks »Rind« von einer Gattungsbezeichnung auf die Bezeichnung einer Altersstufe zwischen KALB und KUH. In den Belegen von Id. 6, 1026 ist diese Entwicklung seit dem 15. Jahrhundert zu verfolgen. Ein weiterer Ausdruck für diese Altersstufe ist die frühmittelalterliche Entlehnung ›Mänse‹. Im heutigen Schweizerdeutsch werden diese Altersstufen noch stärker differenziert. Die zusätzlichen sprachlichen Innovationen in diesem Zusammenhang sind fast durchwegs deskriptiver Natur, d. h. als Benennungsmotive werden bestimmte Eigenschaften der betreffenden Altersstufe genommen. Heteronymie entstand dadurch, dass lokal jeweils unterschiedlich differenzierte Unterscheidungen gemacht werden und die Zwischenstufen unterschiedlich bezeichnet werden. Allerdings erwecken die sprachlichen Überlappungen und unterschiedlichen Kombinationen der vorhandenen Ausdrücke den Eindruck, dass die Differenzierung von Altersstufen teilweise auch sekundär aus dem Wortschatz im Zuge von Homonymenflucht erfolgt ist. – Einen Sonderfall stellt in diesem Rahmen die Heteronymie zu „ganz junges (frischgeborenes) weibliches Kalb“, das mehrheitlich mit affektiven Bezeichnungen, v. a. Diminutiven zu ›Kuh‹ oder ›Kalb‹ bezeichnet wird, wenn es nicht einfach deskriptiv als „weibliches Kalb“ benannt wird. Unverändert bleiben dabei die Eckpunkte KALB – KUH bei den Altersstufen. Das heißt, die alte generelle Kategorienbildung bleibt bei Eckpunkten, mit allen Differenzierungen bei den Zwischenstufen, auch sprachlich im Grundsatz erhalten. Mit der Einengung der Bedeutung von »Rind« auf eine bestimmte Altersstufe steht das Wort im Übrigen nicht mehr als Gattungsbezeichnung zur Verfügung. Im SDS wurde die Frage nach der Gattungsbezeichnung nicht gestellt. Die Karte SDS VIII 1 „Rindvieh“ stellt die Heteronymie für das Kollektivkonzept RINDVIEH = GESAMTHEIT DER TIERE IM STALL dar, ein Konzept, das sich nicht mit einem Gattungsbegriff deckt. Denkbar ist, dass für die Bezeichnung der Gattung ggf. der Plural »Chüe« ›Kühe‹ eintritt, da in der Viehwirtschaft die Kuhherde die prototypische Erscheinung der Gattung ist. Anders geartete Veränderungen haben die Bezeichnungen für das erwachsene männliche Rind erfahren (s. dazu Karte 4, S. 93). Eine erste Stufe der Heteronymie dürfte durch den semantischen Zusammenfall der ursprünglich bedeutungsverschiedenen Lexemen farr ‘Stier’ und stior ‘Jungstier, Stierkalb’ bedingt sein. Nach dem Bedeutungswandel von stior zu ‘Zuchtstier’ verdrängte dieses Wort in vielen Regionen das alte farr, was einen ersten Schritt zu arealer Diversität dar374). Dagegen spricht allerdings wiederum, dass in diesem Falle keine Regelung für den Diebstahl von beschnittenen Stieren aufgeführt wäre.

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Variationen in Diversitätsmustern

stellte. Noch häufiger wurden jedoch für den Zuchtstier regional unterschiedliche neue deskriptive Bezeichnungen eingeführt. Auffallend ist, dass ein großer Teil der neu eingeführten Ausdrücke expressive Konnotationen haben. Sie charakterisieren das Tier aufgrund äußerer, spezieller Verhaltensweisen wie brummen, murren oder geduckte Haltung, alles Verhaltensweisen, die negativ konnotiert sind und versteckte Aggressivität erkennen lassen. Die sprachlichen Innovationen sind als Euphemismen zu deuten bzw. als Ausdruck des Respekts, den die Bauern vor diesem Tier hatten. Die Heteronymie zu „kastrierter Stier“ ihrerseits steht im Zusammenhang mit den lexikalischen Innovationen bei „Zuchtstier“. Wo für den Zuchtstier statt »Stier« alternative Bezeichnungen wie „Muni“ eingeführt wurden, ist der Ausdruck »Stier« auf die Bezeichnung für den kastrierten Stier eingeengt worden, so vor allem zwischen FR und TG nördlich der inneren Alpentäler. Inneralpin, wo »Stier« im Allgemeinen weiterhin den Zuchtstier bezeichnet, ist stattdessen als Bezeichnung für den kastrierten Stier »Ochs« üblich. Da diese Region generell als konservativ gelten kann, lässt sich dies als Fortsetzung einer älteren terminologischen Differenzierung deuten. Im westlichen Berner Oberland gilt als lokale Innovation »Urner«. (Die ortsbezogene Motivik erinnert an die ähnliche Motivik der Bezeichnung von kastrierten Hengsten als ›Wallach‹.) Die Umschreibung mittels Kompositumbildungen oder Partizipialattributen nach dem Muster ›kastrierter Stier‹ (mit entsprechenden regionalen Varianten zu ‘Zuchtstier’ und ‘kastrieren’, s. SDS VIII 3 und SDS VIII 5) findet sich in den Grenzzonen, wo sich die beiden Bedeutungen von »Stier« ‘Zuchtstier’ und ‘kastrierter Stier’ berühren; dort drängt sich aufgrund der unklaren Bedeutung von »Stier« eine zusätzliche Präzisierung auf. Als Voraussetzung der Großverteilung ist ein generelles Schwanken bei den Bezeichnungen des erwachsenen männlichen Rindes als »Stier« oder als »Ochs« anzunehmen. Dies führt potenziell zu Quasi-Synonymie. Diese wird im Schweizerdeutschen regional, (möglicherweise unter Einfluss aus dem Norden) zur semantischen Differenzierung der Bezeichnungen zwischen nichtkastrierten (»Stier«) und kastrierten Tieren (»Ochs«) ausgenützt. Wo neue Bezeichnungen für den Zuchtstier eingeführt wurden, wird stattdessen das allgemeine Wort für ‘erwachsenes männliches Rind’ auf das kastrierte Tier eingeengt. Die verschiedenen Entwicklungen zeigen allgemein ein Bedürfnis nach klarer Differenzierung der beiden Erscheinungsformen. Die Heteronymie bei den verschiedenen Erscheinungsformen des Rindes ist also durch unterschiedliche Faktoren bedingt: Bei den weiblichen Tieren sind Veränderungen im konzeptuellen Bereich, konkret Differenzierungen der Altersstufen zwischen Geburt und Geschlechtsreife, und damit neue Benennungsbedürfnisse die Ursache. Die alten Bezeichnungen für die Eckpunkte werden unverändert weitertradiert, wenn keine äußere Motivation für eine lexikalische Veränderung besteht. Beim Zuchtstier liegt dagegen, neben altem Zusammenfall von lexikalischen Differenzierungen, der Ausgangspunkt in lexikalischen Innovationen expressiver Art aus affektiven Gründen. Als Folge dieser Innovationen erfolgt ein lexikalischer Umbau der Bezeichnungen beim kastrierten männlichen Rind

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Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

auf der Grundlage quasi-synonymer Ausdrücke. Regionale lexikalische Innovationen führen zu weiteren Innovationen, um konzeptuelle Differenzierungen lexikalisch beibehalten zu können. 6.4.2 Schwein Onomeme

Variantenzahl

Varianten (Auswahl)

ahd./mhd.

„Schwein“ (Gattung) (SDS VIII 77)

ca. 4

Suu/Sou, Schwii, Fäärli, Gusi/Gusle

ahd./mhd. sū, swīn

„Ferkel“ (jüngste Altersstufe direkt nach der Geburt) (SDS VIII 78)

ca. 6

Fäärli, Fäägg, Fäätsch(el)i, Füschi, Süüli, Schwiinli, Suggeli, Ferkeli, jungi Sau, jungs Schwiili u. ä.

mhd. varh/varc

„(ausgewachsener) (Zucht-)Eber“ (SDS VIII 79)

ca. 4

Äber/Näber, Beer, Beez, Barg/Bart

ahd. bēr, ëber

ca. 8, dazu 6 Ableitungen (mit Attribution u. ä.)

Bick(li), Leuer(li)/ Leucher, Mutz(li)/Motz(li), Beez(li), Beerz, Hess, Jager, gschnittene/verschnittene/pputzte Baarg/ Baart/Äber

ahd. barug

„Mutterschwein“ (SDS VIII 81)

ca. 11

(Fäärli-/Söi-)Moore, (Fäärli-)Loos(e), Fäärlisuu/-sou-muetter, Muettersou, Muetterschwii

mhd. lōse, mōre

„junge Sau“ (SDS VIII 82)

ca. 2

Möörli/(Moore), Löösli/ (Loos)

5

Jager, Läuffer, Springer, Frässer, Fasel(-sou, -schwii)

„(junger) kastrierter Eber“ (SDS VIII 80)

„Jungschwein“ (SDS VIII 83–86) (Weitere Differenzierungen nach Altersstufen sind nicht berücksichtigt.)

Abb. 6.21: Heteronymien bei den Erscheinungsformen des Schweins

ahd. fasel ‘Nachkomme’

328

Variationen in Diversitätsmustern

Anmerkungen: – Zu „Schwein (Gattung)“: »Gusi«/»Gusle«: aus dem Lockruf »guus!« für Schweine (Id. 2, 472); »Fäärli«: s. „Ferkel“. – Zu „Ferkel (jüngste Altersstufe)“: Die Formen »Fäärli«, »Fäägg«, »Fäätsch(el)i« sind als Verkürzungen und Diminutive aus mhd. varh bzw. varc abzuleiten. Die Variante ›Fark‹ ist nach KLUGE / SEEBOLD (2011, 287 s. v. Ferkel) eine „unregelmäßige Entwicklung“ im Silbenauslaut (s. auch Fack in DWB 3, 1227); »Suggeli«: zu »suggele« ‘saugen’. – Zu „(Zucht-)Eber: »Beez«: Koseform zu »Beer«.76 – Zu „(junger) kastrierter Eber“: »Bick«: wohl zu »bicke« mit der Bedeutung ‘einschneiden’ (Id. 4, 1118). »Leu(ch)er«: vielleicht zu mhd. leichen ‘springen’, was eine ursprüngliche allgemeine Bedeutung ‘Jungschwein’ voraussetzt (vgl. »Springer« ‘Jungschwein’ und Id. 3, 1013); »Mutz«/ »Motz«: zu »mutz« ‘kurz, gestutzt’ (Id. 4, 615); »Hess«: nach Id. 2, 1682 aus dem Lockruf »hess« für Schweine abgeleitet (vgl. auch SDS VIII 87, wo die Vermutung des Id. bestätigt wird). Varianten mit attribuiertem Partizip aus einem Verb mit der Bedeutung ‘kastrieren’ sind im Grunde, wie beim kastrierten Stier, nicht als eigenständige synthetische Ausdrücke, sondern als behelfsmäßige Präzisierungen zu interpretieren. – Zu „Mutterschwein“ und „junge Sau“: Die Bestimmung der Variantenzahl ist Ermessenssache, da viele der Bezeichnungen effektiv Ableitungen sind. Die Heteronymien bei den Bezeichnungen der verschiedenen Erscheinungsformen des Schweins sind durch zwei Tendenzen charakterisiert: Erstens besteht generell bereits im älteren Deutsch eine Tendenz zu einem Nebeneinander von QuasiSynonymen oder Heteronymie (soweit diese aus den schriftlichen Quellen rekonstruierbar ist). Synchron gelten diese Varianten regional unterschiedlich, was areale Diversität impliziert. Zweitens werden die Bezeichnungen für die einzelnen Erscheinungsformen oft vermischt und für andere Erscheinungsformen verwendet, was zusätzlich zu Diversität führt. Die Gattungsbezeichnung schwankt althochdeutsch und mittelhochdeutsch zwischen sū und swīn. Die Variante swīn ist etymologisch eine Ableitung zu sū mit der ursprünglichen Bedeutung ‘Angehöriges der Schweinegattung’ oder ‘Junges der Sau’. In den allgemein konservativen inneralpinen Dialekten ist »Schwii« die Gattungsbezeichnung und »Suu« die Bezeichnung des erwachsenen weiblichen Schweins. Dies lässt den Schluss zu, dass »Suu/Sou« als Gattungsbezeichnung eine spätere Bedeutungsverallgemeinerung der Bezeichnung des weiblichen Schweins ist. Sie hat sich regional über Monosemierung gegenüber »Schwii« durchgesetzt. Darüber hinaus haben regionale Bedeutungserweiterungen der Bezeichnungen »Fäärli« und »Gusi« von ‘junges Schwein’ zur Gattungsbezeichnung zu zusätzlicher Heteronymie geführt. Dass die Bezeichnung des Jungen einer Gat76

Eine Verknüpfung von Betz mit ›Bär‹, mhd. bër, wie sie in KÖNIG / RENN (2007, 374) gemacht wird, ist aus lautlichen Gründen für das Schweizerdeutsche »Beez« nicht möglich.

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

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tung zur Gattungsbezeichnung wird, kann als Ausdruck von Affektivität interpretiert werden.77 Heteronymie in der älteren Sprache ist auch ein Ausgangspunkt bei den heutigen Bezeichnungen für das erwachsene weibliche Schwein bzw. das Mutterschwein und das junge weibliche Schwein. Aus den Karten des SDS ist die konzeptuelle Struktur hinter dem Wortschatz nicht deutlich erkennbar, da viele Differenzierungen durch Ableitungen von Wörtern mit offenbar allgemeinerer Bedeutung erfolgen. Den Varianten sowohl zu „Mutterschwein“ wie „junge Sau“ liegen letztlich die beiden Grundwörter »Moor(e)« und »Loos(e)« zugrunde, aus denen die differenzierenden Bezeichnungen durch Komposita bzw. Diminutive abgeleitet werden. Daraus lässt sich eine einfache zweiteilige (west-östliche) Heteronymie »Moor(e)« – »Loos(e)« für ein allgemeines Konzept WEIBLICHES SCHWEIN extrapolieren.78 Dazu kommt inneralpin das Lexem »Suu/Sou«. Alle Lexeme sind bereits für das Mittelhochdeutsche belegt, ohne dass die Bedeutungsunterschiede und die Etymologie klar identifizierbar wären. Die Unterscheidung zwischen der neutralen Bezeichnung des weiblichen Schweins allgemein und jener des Mutterschweins im Sinne von ‘weibliches Schwein, das kürzlich Junge geworfen hat’ wird unterschiedlich lexikalisiert. In konservativen Dialekten erfolgt dies teilweise direkt im Gegensatz »Suu« – »Moore«, häufiger ist jedoch die Präzisierung über Komposita mit »Mueter-« oder »Fäärli-«. Bemerkenswert ist, dass das Konzept MUTTERSCHWEIN derart prominent lexikalisch fixierte spezialisierte Bezeichnungen gefunden hat. In andern Regionen werden auch »Suu/Sou« und »Schwii« als Bezeichnungen des weiblichen Schweins verwendet; m. a. W., zwischen der Gattung und dem weiblichen Schwein wird im Alltag nicht konsequent unterschieden. Kognitiv lässt sich dies so interpretieren, dass die weibliche Sau die prototypische Erscheinungsform des Schweins ist. Alte Varianz und Vermischungen von spezifischen Bezeichnungen liegen auch bei den Bezeichnungen des Zuchtebers und des kastrierten Ebers vor. Die regionale Diversität baut auf einer alten Synonymie oder Quasi-Synonymie von ›Eber‹ und ›Beer‹ als Bezeichnung des Zuchtebers auf; als zusätzliche Variante kommt noch regional in Formen wie »Barg« oder »Bart« eine Bedeutungserweiterung von ahd. barug ‘kastrierter Eber’ zu ‘Eber’ allgemein hinzu. Die alte spezielle Bezeichnung »Barg« für den kastrierten Eber ist an den meisten Orten nicht mehr erhalten. Damit entfällt in diesen Gegenden auch die lexikalische Differenzierung »Eber«/»Beer« – »Barg«.79 Dadurch wurden neue unterscheidende 77 78 79

Nach SEEBOLD (2016, 214) ist es eine wiederkehrende Erscheinung, dass für das Muttertier und das Neugeborene die gleiche Bezeichnung gilt. Diese West-Ost-Zweiteilung ›Moor(e)‹ – ›Loos(e)‹ setzt sich in Südwestdeutschland fort (s. SSA IV/5.45 und IV/5.46). Id. 4, 1548 gibt Belege für Barg ‘kastrierter Eber’ nur aus dem Mittelhochdeutschen. Möglicherweise verschwand »Barg« infolge der Bedeutungsentwicklung von ‘kastrierter Eber’ zu ‘Eber (allg.)’ und die Beseitigung der daraus folgenden Quasi-Synonymie mit Ausdrücken wie »Beer« durch Elimination von »Barg«. Vgl. dazu auch die Feststellung bei RENN / KÖNIG (2006, 213), dass für das verschnittene junge männliche Rind tendenziell die Bezeichnung des unverschnittenen Tieres beibehalten wird.

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Variationen in Diversitätsmustern

Bezeichnungen notwendig. Sie bestehen einerseits in metonymischen Bezeichnungen wie »Bick«, »Mutz/Motz« mit Anspielungen auf die Kastration. Vielfach gibt es aber lediglich Präzisierungen zum Begriff ‘Eber’ mittels Partizipialadjektiven aus den entsprechenden (regional unterschiedlichen) Verben für ‘kastrieren’, vergleichbar mit der Formenbildung beim „kastrierten Stier“. Das impliziert, dass es an diesen Orten keine eigenständige Bezeichnung für den kastrierten Eber gibt. Eine weitere Variante in ZH-Nordost, SH und TG-Nordwest besteht darin, dass die Quasi-Synonymie »Eber« – »Beez« durch Bedeutungsdifferenzierung aufgelöst wird und »Beez« neu zur speziellen Bezeichnung des kastrierten Ebers verwendet wird. Das gleiche kann für die Einengung von »Hess« auf den kastrierten Eber angenommen werden. Eine weitere Lösung des Bezeichnungsproblems besteht in der Ausweitung der Bedeutung von »Leuer« von ‘junger (kastrierter) Eber’ zu ‘kastrierter Eber’ allgemein. Die speziellen, areal diversifizierten Bezeichnungen für den kastrierten Eber zeigen, dass diese Erscheinungsform spezielle Beachtung findet, dafür aber keine überkommene Bezeichnung existiert, die übernommen werden könnte. In den meisten Fällen ist der Mangel an gegebenen präzisen Benennungen aber die Folge von vorangehenden Bedeutungsvermischungen, deren Hintergrund konzeptuelle Unschärfen sind. Auch die Heteronymie bei „Jungschwein“ besteht durchwegs aus Innovationen. Hier bestand aber offensichtlich niemals eine spezielle alte Bezeichnung. Die Differenzierung ist nachträglich eingeführt worden. Dieses Ononem bildet einen Sonderfall unter den Onomemen bei der Schweingattung, indem auf typische besondere Verhaltensweisen angespielt wird. (Die Bezeichnung »Läuffer« dürfte dabei eine Entlehnung als dem Standarddeutschen sein.) Für das junge Schwein schließlich steht diachron an sich die alte Bezeichnung mhd. varh/varc zur Verfügung. Dieses Etymon lebt in einem komplexen Nebenund Übereinander von unterschiedlichen Formenentwicklungen und Diminutivbildungen dazu weiter. Andererseits ging offenbar regional die alte Bezeichnung ›Varch‹ verloren; sie wurde durch Diminutivbildungen zu »Suu/Sou«/ »Schwii« ersetzt. Bei allen Variationen der Lexik wird die Struktur des Konzeptfeldes beim Schwein nur punktuell verändert. Bei lexikalischem Wandel wird sie auch regelmäßig wiederhergestellt. Das Konzeptfeld ist also über die ganze Zeit gesehen stabil, die Lexik erleidet aber in einzelnen Fällen immer wieder semantische Vermischungen. Schon die häufige Varianz in der älteren Sprache ist auf Vermischung oder Verallgemeinerung der Bedeutungen von Lexemen und die Rekonstruktion der semantischen Differenzierungen durch Innovationen zurückzuführen. Die alten Quasi-Synonymien, der Verlust von alten Differenzierungen und die Wiederholung von strukturell begründeten Innovationen lässt die Paradoxie erkennen, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Erscheinungsformen der Tiere im Allgemeinen relativ wenig prägnant erscheinen, die Bezeichnungen verändert werden, ohne dass ein Anlass erkennbar ist, und gleichzeitig das Bedürfnis nach differenzierten Bezeichnungen bestehen bleibt. Diversität entsteht vor allem aus der regionalen Auflösung von lexikalischer Varianz durch Monosemierung, durch die unterschiedlichen semantischen Verschiebungen und die unterschiedli-

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Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

chen Formen der Rekonstruktion alter semantischer Differenzierungen durch Innovationen. In Bezug auf die Bezeichnungsstile sind diese Innovationen inhaltlich und affektiv insgesamt wenig prägnant. 6.4.3 Ziege Onomeme „Ziege“ (SDS VIII 50) „Ziegenbock“ (SDS VIII 51) „kastrierter Ziegenbock“ (SDS VIII 51)

„Zicklein“ (SDS VIII 52) „weibliches Zicklein“ (SDS VIII 53)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 5 1 ca. 4, 5 adjektivische Bildungen 4 ca. 13

ahd./mhd.

Gäiss, Hattle/Hättele, Gi(i)be

ahd./mhd. geiz, mhd. hatele

Bock

ahd. bok

kaschtrierte, gschnittene, verschnittene, pputzte, gheilte Bock, Heilbock, Schiinbock, Ziitbock, Stack Gäiss(li), Gitzi/Chitzi, Giibi, Hätteli

ahd. kizzīn, mhd. kiz

Gäiss[li], Gitzi, Gib(el)i, Muettergäiss/-gitzi, Hattle/Hattli, Stirgel, Stärle/ Stärli, Neg(el)i

„junge Ziege“ (fortpflanzungsfähig, aber noch nie trächtig) (SDS VIII 54)

25

(Geiss), Ziitgeiss, Übergeiss, übergänd Geiss, Übergitzi, Ziitgitzi, Nooss/Nöössli, Ziit-/Galtnooss, Guschti, Galtlig, Geissgaltlig, Galtetsch, Jaartier

Abb. 6.22: Heteronymien bei den Erscheinungsformen der Ziege

Anmerkungen: – Zu „Ziege“: Ob eine Unterscheidung zwischen der Gattungsbezeichnung und ‘erwachsene weibliche Ziege’ gemacht wird, ist aus den Angaben in SDS VIII 50 nicht ersichtlich; »Gi(i)be«: möglicherweise zum Lockruf »giib!« für Ziegen (s. SDS VIII 57). – Zu „kastrierter Ziegenbock“: »Stack«: nach Id. 10, 1560 zu einer Wurzel stack ‘steif, unbeweglich’.

332 – –

Variationen in Diversitätsmustern

Zu „weibliches Zicklein“: »Stär(li)«, »Stirgel«: zu ahd. stëro, mhd. stër ‘Widder’, nach DWB 8, 2389 ursprünglich ’junger Ziegenbock’; »Neg(el)i«: zu »Nägeli« ‘Nelke’ (?) (Id. 4, 686, 693). Zu „junge Ziege“: »Nooss«: zu ahd./mhd. nōz ‘(ein Stück) Nutzvieh’; s. auch SDS VIII 54 und die Erläuterungen zu „Altersstufen des Rindes“ in Abschnitt 6.4.1, S. 323.

Ausgangspunkt für die einzelnen Bezeichnungen bei der Gattung Ziege sind die altüberlieferten Grundwörter aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen: geiz und hatele für die Gattung und das weibliche Tier, bock für das männliche erwachsene Tier, kitz für das Junge (geschlechtsneutral). Diese alten Bezeichnungen werden überwiegend kontinuierlich weitergeführt. An einzelnen Orten werden statt der alten Gattungsbezeichnung und dem allgemeinen Ausdruck für das Jungtier, ähnlich wie bei „Schwein (Gattung)“, Kosewörter verwendet. Das Jungtier wird ebenfalls teilweise nicht mit der alten Benennung bezeichnet, sondern über eine Diminutivform der Gattungsbezeichnung. Heteronymien entwickeln sich hauptsächlich bei zusätzlichen konzeptuellen Differenzierungen, namentlich für den kastrierten Ziegenbock und für die junge, weibliche Ziege in ihren verschiedenen Altersstufen, für die es offenbar keine ursprüngliche Bezeichnung gibt. Die Kastration spielt beim Ziegenbock offenbar aber eine kleinere Rolle als beim Eber. Der Ziegenbock wird nach SDS VIII 51 auch heute nicht überall kastriert. Wie beim kastrierten Stier und kastrierten Eber überwiegen analytische Präzisierungen zum Grundwort »Bock«. Die einzige synthetische Bezeichnung ist »Stack«. Die Motivation für die gesonderte Benennung weiblicher Jungtiere liegt im besonderen wirtschaftlichen Interesse an weiblichen Tieren. Die relativ stark ausgeprägte Diversität deutet auf polygenetische Entstehung und schwache Diffusionstendenzen. Dass gleichzeitig diese Erscheinungsform überall eine Bezeichnung erhalten hat, zeigt deren Bedeutung in der Haltung. Die Bezeichnungen für die fortpflanzungsfähige Ziege vor der ersten Trächtigkeit zeigen Ähnlichkeiten mit den entsprechenden Bezeichnungen bei der jungen Kuh vor der ersten Trächtigkeit. Entweder wird auf die zeitliche Abstufung des Alters oder auf die noch nicht erfolgte Milchproduktion verwiesen. Dies zeigt entsprechend die Bedeutung der Ziege für die Milchproduktion in der traditionellen Landwirtschaft.80 Die Diversität ist somit vor allem durch zusätzliche polygenetisch geschaffene konzeptuelle Differenzierungen entstanden; teilweise ist sie bereits in der älteren Sprache angelegt, ohne dass der Ursprung der einzelnen Bezeichnungen klar wäre.

80

Id. 11, 1209 zitiert mehrere Stellen, in denen die größere Wertschätzung für junge weibliche Zicklein gegenüber männlichen ausgedrückt wird.

333

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

6.4.4 Pferd Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Pferd“ (Gattungsbezeichnung) (SDS VIII 107)

1

Ross, Guul/(Gaul)

ahd./mhd. ros, gūl

[„Hengst“ (SDS VIII 109)

1

Hängscht

ahd. hengist ‘kastriertes Pferd’, mhd. heng(e)st ‘Pferd’]

„kastrierter Hengst“ (SDS VIII 109)

4

Walach, Münch, Hobi, gschnittne Hängscht,

mhd. münih ‘Mönch’, ‘kastriertes Pferd’

„Stute“ (SDS VIII 110)

3

Stuete, Määre, Gure (GR)

mhd. stuot, merhe, gurre ‘schlechte Stute’

Füli

mhd. vülīn

„Füllen“ (SDS VIII 116 Zusatzlegende)

Abb. 6.23: Heteronymien bei den Erscheinungsformen des Pferdes

Anmerkungen: – Zu „Pferd“: Die Karte SDS VIII 107 gibt primär Vorkommen, Lautung und Bedeutung von ›Gaul‹ an und vermerkt, dass allgemein die Bezeichnung »Ross« gilt.81 Mhd. gūl ‘Pferd’ in einem neutralen Sinn lebt noch in kleinen Regionen (Teile von BE-Oberland, GR), sonst meist aber nur mit abschätziger Konnotation. Letzteres gilt allgemein für »Gaul«, so dass von einer stilistischen Differenzierung auszugehen ist, wenn »Ross« und »Gaul« nebeneinander vorkommen. Der Diphthong in »Gaul« erweist diese Wortform zusätzlich als neuere Entlehnung aus dem Gemeindeutschen. – Zu „Hengst“: Im SDS gibt es keine Karte zu „Hengst“. Im Kommentar zu SDS VIII 109 „kastrierter Hengst“ wird jedoch kurz vermerkt, dass das männliche Pferd durchwegs als »Hängscht« bezeichnet wird. – Zu „kastrierter Hengst“: »Walach« dürfte neuerer Import aus dem Gemeindeutschen sein (Entlehnung aus dem Slawischen im 16. Jahrhundert). »Hobi« ist Entlehnung aus dem Bündnerromanischen (s. DRG 8, 58) Im Unterschied zu „Rind“, „Schwein“ oder „Ziege“ ist die Terminologie für das Pferd sowohl stabil wie relativ einheitlich. Wo Heteronymie vorkommt, ist sie entweder schon alt oder durch Entlehnung entstanden. Unter anderem ist diese 81

Unter Pferdebesitzern und -fachleuten gilt allerdings »Pferd« als die korrekte Bezeichnung und »Ross« als unfachmännisch.

334

Variationen in Diversitätsmustern

Stabilität auch dadurch bedingt, dass, soweit ersichtlich, keine Umstrukturierungen oder Differenzierungen des Konzeptfeldes erfolgten. Dazu werden weniger als bei „Schwein“ und „Ziege“ zusätzliche neue Bezeichnungen geschaffen. Sie sind allenfalls als negativ konnotierte Varianten anzutreffen. Die Innovationsaversität lässt sich damit in Zusammenhang bringen, dass Pferde in der traditionellen bäuerlichen Agrarwirtschaft und -kultur wegen der aufwendigen Haltung und dem hohen Wert weniger regelmäßig gehalten wurden, ein hohes Prestige besaßen und eher Reittiere für gehobene Kreise und militärische Zwecke waren. Bei Tieren mit hohem Prestige- und Marktwert gibt es kaum Anlässe für spontane lexikalische Innovationen mit regional beschränkter Geltung. 6.4.5 Haushuhn Onomeme „Huhn“ (SDS VIII 92/93)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 2 Hue(n), Henne, Piti

„Hahn“ (SDS VIII 94)

ca. 5

Güggel(er), Gugel/Gügel, Gügeler, Guli/Güli, Han(e)

„Küken“ (SDS VIII 95)

ca. 12

Hüe(n)li/Hüentschi, Hüenk(elt)i, Henn(el)i, Bib(el)i/Bipp(el)i, Bideli, Weiseli, Fückli, Püt(el)i, Pull(el)i, Lüf(el)i, Ziepeli

ahd./mhd. ahd. huon, henna

ahd. huoni(n)klīn

Abb. 6.24: Heteronymien bei den Erscheinungsformen des Haushuhns

Anmerkungen: – Zu „Huhn“: »Piti«: zu frankoprov. biti ›bête‹? (Id. 4, 1855). – Zu „Hahn“: s. Abschnitt 3.6, S 143. Manche Formen sind eher morphologische Varianten und werden hier in Gruppen zusammengefasst. – Zu „Küken“: »Bib(el)i«, »Bipp(el)i«, »Bideli«, »Ziepeli«: lautnachahmende Bildungen; »Weiseli«: zu ›winsen‹ ‘hohen, durchdringenden Laut geben, piepen’ (Id. 16, 698, 704); »Fückli«: nach Id 1, 733 wahrscheinlich zu ›fucken‹ ‘schlüpfen, behende sein’ (DWB 4, 362); »Püteli«: zu »Piti« ‘Huhn’ (s.o.); »Pull(el)i«: nach Id. 4, 1185 Entlehnung aus lat.-rom. (frankoprov.?) pulla ‘(junges) Huhn’; »Lüf(el)i«: Etymologie unklar. Von den meisten Formen gibt es einfache Ableitungen auf »-i« und zusätzlich erweiterte Diminutivformen mit »-eli«. Dazu kommt Varianz aufgrund regional unterschiedlicher Diminutivbildungen (»-li«, »-tschi« und »-elti«, s. SDS III 149–158) und regionaler Unterschiede bei den Bezeichnungen für das Huhn. Die Zählung der Formen als eigene Heteronyme ist deshalb Ermessenssache. Hier wurden Varianten der gleichen morphologischen Bil-

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

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dungsart grundsätzlich in ein Heteronym zusammengefasst, sofern sie nicht am betreffenden Ort isolierte Bildungen sind wie etwa »Hüenk(elt)i«. Die Heteronymien bei den einzelnen Erscheinungsformen sind unterschiedlich motiviert. Bei der Heteronymie von „Huhn“ ist aufgrund der Daten in SDS VIII 92/93 nicht überall erkennbar, ob damit die Gattungsbezeichnung oder die Bezeichnung der weiblichen Erscheinungsform (Legehenne) angegeben wird. Für den größten Teil der Regionen gilt allerdings offenbar, dass mit »Huen« im Westen und »Henne« im Osten undifferenziert sowohl die Gattung wie die Legehenne bezeichnet werden. Nur in Teilen von BE-Oberland hat sich nach SDS VIII 93 die alte Differenzierung von ›Huhn‹ als Gattungsbegriff und ›Henne‹ als Bezeichnung des weiblichen Huhns erhalten. Die synchrone Heteronymie ist in den übrigen Gebieten in unterschiedlichen Entwicklungen des Zusammenfalls von Gattungsbezeichnung und Bezeichnung des weiblichen Huhns begründet. Im ›Henne‹-Gebiet ist die Bezeichnung der weiblichen Erscheinungsform auch zur Gattungsbezeichnung entwickelt worden, im ›Huhn‹-Gebiet die Gattungsbezeichnung zur Bezeichnung des weiblichen Huhns. Beide Entwicklungen sind damit erklärbar, dass das prototypische Exemplar der Gattung Haushuhn auf dem Bauernhof die Legehenne ist. Die West-Ost-Teilung in der Schweiz ist Teil einer großräumigen West-Ost-Aufteilung im gesamten deutschen Dialektgebiet.82 Anders gelagert ist die Heteronymie bei „Hahn“ und „Küken“. Für den Hahn gibt es einerseits die sehr alte Bezeichnung »Han(e)«, die schon zu althochdeutscher Zeit undurchsichtig war. Alle anderen Bezeichnungen, wie unklar die Etymologie sein mag, sind demgegenüber Innovationen. Wie bei „Zuchtstier“ dürfte auch hier ein besonderes emotionales Verhältnis zum Tier das Motiv zu derartigen Neubenennungen gegeben haben. Die Benennungsmotivik geht aber bei „Hahn“ von harmlosen, eher nebensächlichen Auffälligkeiten aus. Bei „Küken“ ist im Althochdeutschen eine nur halb reguläre Diminutivbildung huoni(n)klīn belegt, die aber nur noch resthaft in inneren Alpentälern von BE und WS erhalten ist. Ein großer Teil der Varianten geht auf Diminutivbildungen aus der lokalen einfachen Bezeichnung des Huhns zurück. Dazu kommen deskriptiv motivierte Neubildungen (mit teilweise unklarer Etymologie) und Entlehnungen, auch diese oft als Diminutive. Als durchsichtiges Benennungsmotiv von lexikalischen Innovationen dient das Piepen. Die Varianten, ob deskriptiv motivierte Neubildungen oder einfache Diminutivbildungen, haben alle den Charakter von Kosewörtern. Dazu ist die Verteilung relativ stark zersplittert. Dies alles ist symptomatisch einerseits für die stark affektiv geprägte Bezeichnungsbildung und andererseits für den familiären Charakter des Wortgebrauchs. Kleine Hühner sind keine Handelsware, für die sich auf Märkten ein einheitlicher Wortgebrauch aufdrängt und einbürgert. Bei „Hahn“ und noch mehr bei „Küken“ fällt gegenüber anderen Arten von Haustieren die Neigung zu Innovationen als Ersatz für bestehende Ausdrücke auf, ein Indiz für eine besondere affektive Einstellung, die zu Innovationsaffinität führt. 82

S. SSA IV/5.47, DRENDA (2008, 143), DWA 15.

336

Variationen in Diversitätsmustern

6.4.6 Hund und Katze Die Angaben im SDS zu ‘männlicher/weiblicher Hund’ und ‘Kater/weibliche Katze’ liegen semantisch auf unterschiedlichen Ebenen. Teils werden gattungsübergreifende Ausdrücke für die männliche Erscheinungsform an sich angegeben (‘männliche/weibliche Erscheinungsform einer Gattung’, analytischer Typ Männchen/Weibchen), teils werden synthetische Bezeichnungen für ‘männlicher Hund’/‘Kater’ angegeben. Welcher Ebene die Antworten im Einzelnen angehören, ist aus einer einzelnen Karte nicht direkt ersichtlich, lässt sich aber über den Vergleich der verschiedenen Karten erschließen: Wenn bei Hund und Katze für das männliche oder das weibliche Exemplar dasselbe Wort angegeben wird, handelt es sich wahrscheinlich um eine analytische Bezeichnungsweise. Anhaltspunkte liefern dabei auch die knappen Angaben in SDS VIII 122 „Kaninchen“ zu „männliches/weibliches Kaninchen“, die ebenfalls entsprechende analytische Bezeichnungen haben. Dabei zeigt sich, dass die dazugehörige Terminologie regional unterschiedlich ist. Nicht in allen Gegenden sind synthetische Ausdrücke verfügbar. Es bestehen also strukturelle Unterschiede zwischen den Regionen. Gleichzeitig dürfte die analytische Bezeichnung auch dort eine mögliche Benennung sein, wo nur die synthetische angegeben wird. Wenn nur analytische Bezeichnungen erscheinen, ist dies ein Indiz dafür, dass keine synthetischen Ausdrücke existieren. Die folgende Übersicht ist eine vereinfachte Zusammenfassung der im einzelnen komplexen arealen Unterschiede. (Wenn bei der analytischen und der synthetischen Bezeichnung dasselbe Wort angegeben wird, liegen areal unterschiedliche Verwendungen dieses Lexems vor.) Onomeme „Männchen“ (analytische Bezeichnung) (SDS VIII 117, 122, 125)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 3 Männli, Rüüd, Brock, Bock

„Weibchen“ (analytische Bezeichnung) (SDS VIII 118, 122, 124)

ahd./mhd.

Wiibli, Bringe(re), Jüngle(r)e, Güsche, Zööle

„Hund (Gattung)“ (SDS 117 II)

1

Hund

ahd. hund

„männlicher Hund (Rüde)“ (synthetische Bezeichnung) (SDS VIII 117)

4

Brack/Bräck(-li/-el), Brock(e), Rüüd, Bock/ Böckel

ahd. bracko ‘Jagd-/ Spürhund’, ahd. rud(i)o, mhd. rüde ‘große Art von Hund’, (ahd. bok ‘Ziegenbock’)

337

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

Onomeme „Hündin“ (synthetische Bezeichnung) (SDS VIII 118) „Katze (Gattung)“ (SDS VIII 123)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl 11 (Hündin), Hünte, Mätz, Föitsch, Güsch, Göi, Göitsch, Löitsch, Zööle 2 (3)

Chatz, Büüssi/Büsi, (Zisi)

„Kater (synthetische Bezeichnung)“ (SDS VIII 125)

6

Rolli, Rälli, Rööjel/ Rääbel, Maudi/Mäuder, Chäuder, Burr(e/i)

„weibliche Katze (synthetische Bezeichnung“ (SDS VIII 124)

1

(Chatz)

ahd./mhd.

ahd. kazza f.

Abb. 6.25: Heteronymien bei den Erscheinungsformen von Hund und Katze

Anmerkungen: – Zu „Weibchen“: »Bring(er)e«: zu ›bringen‹ ‘(Junges) zur Welt bringen’ (Id. 5, 704); »Jüngler(e)«: zu »jüngle« ‘(Junges) zur Welt bringen’ (Id. 3, 48); »Güsch«, »Zööle«: s. „Hündin“ (synthetische Bezeichnung). – Zu „Hündin“ (synthetische Bezeichnung): »Mätz«: mhd. metze ‘(liederliche) Frau’, ‘Prostituierte‘; »Föitsch«, »Göi«, »Löitsch«: alle haben auch die Bedeutung ‘Prostituierte’, jedoch sind die Etymologien unklar, auch ist unklar, welches die primäre Bedeutung ist; »Göitsch«: Hybridbildung aus »Güsch« und »Löitsch«; »Zööle«: zu ahd. zōhe ‘Hündin’ oder frnhd. zölen ‘sich begatten’ (DWB 32, 31). – Zu „Katze“ (Gattung): »Büüssi/Bü(ü)si«: aus Koseruf »buss(buss)«. Meist gleichbedeutend neben »Chatz«, oft aber auch eher als Kosebezeichnung; »Zisi«: aus Kurzform zu ›Franziska‹? Wohl aus Kosewort gebildet. – Zu „Kater“: »Rolli«, »Rälli«: zu ›rollen‹, ›rallen‹ ‘sich wild, ungestüm benehmen’, dann auch ‘brünstig sein’, ‘sich begatten’; »Röiel«/Rääbel« u. ä.: »raawe/raaue/rääble« u. ä. (mhd. rāwen) ‘Schreien des Katers während der Brunstzeit’; »Maudi/Mauder/Mäuder« und »Chöider« wohl zu Verben wie »muudere/maudere« und »chuudere« (Id. 4, 84; 3, 148), ‘leise (zärtlich) sprechen’, ‘murren’, ‘halblaut klagen’, ‘sein Missvergnügen äußern’; »Burr(e/i)«: zu »burre«, Schallwort mit verschiedenen Bedeutungen wie ‘brummen’, ‘zanken’. – Analytische Bezeichnungen statt synthetischer Bezeichnungen werden bei „Hündin“ und „weibliche Katze“ nur an wenigen Orten angegeben, bei „Kater“ in BE-Oberland und westlichem WS, bei „männlicher Hund“ dagegen mehrheitlich, außer in BE und Nordosten. Für analytische Bezeichnungen werden an den betreffenden Orten häufig Ausdrücke verwendet, die an anderen Orten spezifische synthetische Bezeichnungen für eine einzelne Art sind, deshalb die Doppelerwähnungen.

338

Variationen in Diversitätsmustern

Die Diversitätsmuster der verschiedenen Erscheinungsformen von Hund und Katze sind unterschiedlich strukturiert. Auffällig ist einmal, dass das Kosewort »Bü(ü)s(s)i« sehr oft zu einer gleichwertigen neutralen Bezeichnung der Katze als Gattung geworden ist; zu verstehen ist dies daraus, dass die Katze mehr affektive Emotionen weckt als der Hund, bei dem diese Variation nicht auftritt. Gegensätzlich sind vor allem die Heteronymien bei den verschiedenen besonderen Erscheinungsformen des Hundes und der Katze ausgestaltet. Die Unterschiede hängen mit dem Genus der Gattungsbezeichnung zusammen. Je nach grammatischem Genus kann die Gattungsbezeichnung auch für das entsprechende natürliche Geschlecht der Erscheinungsform verwendet werden: Die schon althochdeutsche Gattungsbezeichnung »Hund« ist ein maskulines Nomen; sie kann direkt auch zur Bezeichnung des männlichen Exemplars verwendet werden. Umgekehrt kann das Femininum »Chatz« sowohl als Gattungsbezeichnung wie als Bezeichnung des weiblichen Tiers verwendet werden. 83 Die unterschiedlichen Verhältnisse haben Auswirkungen auf die Heteronymie bei den einzelnen Erscheinungsformen. Analytische Bezeichnungstypen weisen eine höhere Heteronymie auf, wenn das entsprechende Geschlecht aufgrund des grammatischen Genus mit dem Wort für die Gattungsbezeichnung benannt werden kann. An sich könnte es überflüssig erscheinen, analytische Bezeichnungsformen der geschlechtsspezifischen Erscheinungsform zu bilden, wenn die Gattungsbezeichnung selbst bereits dafür zur Verfügung steht. Gerade diese Ambiguität macht es aber zuweilen nötig, Zweideutigkeiten im Kontext beseitigen zu können. Analytische Bezeichnungsformen dienen dazu, das Geschlecht zu präzisieren, wenn die Gattung im Kontext schon thematisiert ist und das Geschlecht aus der Situation nicht klar ist. Wenn keine derartigen Zweifel bestehen, reicht die Nennung des einfachen Wortes als synthetische Bezeichnung der Erscheinungsform. Diese speziellen Verwendungsbedingungen motivieren spezielle Innovationen, die regional auf unterschiedliche Möglichkeiten zurückgreifen. Beim Männchen werden analytische Bezeichnungen teilweise aus synthetischen Bezeichnungen der jeweiligen Exemplare einer speziellen Erscheinungsform oder Nutzform durch Verallgemeinerung entwickelt. Beim weiblichen Exemplar wird dagegen häufig die Gebärfähigkeit als Merkmal thematisiert. Bei ‘weiblicher Hund/Hündin’ und ‘männliche Katze/Kater’ gibt es diachron gesehen den einfachen Weg nicht, die geschlechtsspezifische Erscheinungsform synthetisch mit der Benennungform der Gattung zu bezeichnen. Auch ›Kater‹ ist dem Schweizerdeutschen ein vollkommen fremdes Wort.84 Synthetische Bezeichnungsformen mussten als Innovationen geschaffen werden. Das führt zu arealer Diversität. Auffällig ist, dass bei den neu geschaffenen Bezeichnungen für HÜNDIN und KATER ganz ähnliche Benennungsmotive dominieren, nämlich das auffäl83

84

Warum ›Katze‹ im Deutschen anders als in den anderen germanischen Sprachen feminines Genus hat, muss hier offen bleiben Vgl. ae. cat m., an. kǫtr m. Auch in außergermanischen Parallelen ist das Etymon maskulin, s. KLUGE / SEEBOLD (2011, 548) s. v. Katze. Die ebenfalls belegte ahd. Form kazzo kommt nur in einzelnen Belegen vor und ist möglicherweise eine individuelle Ad-hoc-Bildung. In Id. ist Kater nicht einmal als Lemma aufgeführt.

Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof

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lige sexuelle Verhalten, dies im Unterschied zu den analytischen Formen, die eher sachliche Merkmale thematisieren. Die Diversität bei den Bezeichnungen für die verschiedenen Erscheinungsformen von Hund und Katze wird insgesamt durch Faktoren auf verschiedenen Sprachebenen beeinflusst. Wo eine alte Bezeichnung existiert, wird diese gewöhnlich ohne weitere Veränderung weiter tradiert. Emotionale Einstellungen, Wertungen und auffällige Verhaltensweisen begünstigen immerhin auch in diesen Fällen Innovationen. Innovationen kommen vor allem vor, wo zusätzliche Differenzierungen geschaffen werden sollen, für die der überlieferte Wortschatz keine Basis geschaffen hat. Die Notwendigkeit von derartigen differenzierenden Bezeichnungsweisen ist nicht nur von der Sache bestimmt, sondern hängt auch von Implikaturen im Zusammenhang mit der Morphologie der Gattungsbezeichnung (grammatisches – natürliches Geschlecht) ab. Auch in diesen Fällen thematisieren die Innovationen vor allem auffällige Verhaltensweisen. 6.4.7 Zusammenfassung Die Analysen zur Variation der Diversität bei den Bezeichnungen von Zucht- und Haustieren können ein Licht auf die anfangs erwähnte These von TAPPOLET werfen, wonach der „Wortreichtum“ in diesem Sachbereich „von der Häufigkeit, mit der ein Tier auftritt, ... von der sozialen Wertschätzung, die es genießt, und ... vom Gefühlsverhältnis, in dem der Viehhalter zum Tier steht“ abhängt (TAPPOLET 1913, 119). Als Illustration für diese These dienen TAPPOLET die Heteronymien beim Zuchtstier und beim kastrierten Stier (TAPPOLET 1913, 97–102). Der Zuchtstier hat in den westschweizerischen frankoprovenzalischen Dialekten eine stark differenzierte Heteronymie. Der Wortreichtum ist nach TAPPOLET darin begründet, dass der Zuchtstier einerseits ein häufig gehaltenes Tier ist, gleichzeitig aber auch wegen seiner physischen Kraft, seinem unberechenbaren Wesen und seiner Zeugungsfähigkeit besondere Gefühle weckt Der Ochse dagegen ist statistisch seltener und zeigt in den Dialekten der französischen Schweiz auch eine weit geringere Heteronymie. Der Grund für die Entfaltung von Wortreichtum sieht TAPPOLET darin, dass die bestehenden Ausdrücke sich abnutzen, ihre Anschaulichkeit verlieren. Bei affektiv imponierenden, häufig vorkommenden Tiere bestehe das Bedürfnis, derartige abgenutzte Bezeichnungen durch neue, lebendigere Ausdrücke zu ersetzen (TAPPOLET 1913, 98–102). Grundsätzliche Kritik an diesen Thesen hat JABERG (1917, 108–121) formuliert: Für die gleiche Sache (bzw. das gleiche Konzept) hat sich je nach Region eine unterschiedlich vielfältige Heteronymie entwickelt, obwohl man nicht davon ausgehen kann, dass das Verhältnis der Menschen zu den jeweiligen Sachen unterschiedlich ist. Auch sind die Varianten meist nicht von der größeren Anschaulichkeit, die einen Ersatz eines alten Ausdrucks rechtfertigen würde. JABERG sieht die Gründe für den Wortreichtum in innersprachlichen Entwicklungen. Lautwandel, Bedeutungswandel und ähnliche lexikalische Verschiebungen können Bezeichnungsprobleme schaffen und damit Anlass zu lexikalischen Innovationen geben.

340

Variationen in Diversitätsmustern

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun aus dem hier für das Schweizerdeutsche ausgebreiteten Material? Allgemein ergibt sich: Das tendenziell monokausale Erklärungsmuster von TAPPOLET findet im Schweizerdeutschen höchstens partiell eine Bestätigung. Diversität ist auf unterschiedliche Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen zurückzuführen. Überwiegend gilt für Zucht- und Haustiere, was für Pflanzen beobachtet wurde: Wo ein ursprünglicher Ausdruck gegeben ist, bleibt er über die Jahrhunderte in seiner Verwendung erhalten, wenn die konzeptuelle Strukturierung des Sachgebiets präsent und erhalten bleibt. Dies ist relativ häufig der Fall, da die Zucht- und Haustierhaltung in der schweizerischen Landwirtschaft auf Traditionen des frühen Mittelalters zurückgeht und für die Hauptkonzepte generell schon alte Bezeichnungen gegeben sind. Diversität wird vor allem durch folgende Faktoren verursacht: – Konzeptuelle Differenzierung: Diversität entsteht vor allem dort, wo innerhalb der lexikalisch vorgegebenen Konzeptstruktur zusätzliche Differenzierungen erfolgen. Diese differenzierenden Bezeichnungen werden regional unterschiedlich, d. h. polygenetisch gebildet. Diese Differenzierungen sind teils pragmatisch bedingt. Sie zeigen unterschiedliche praktische Bedürfnisse von Unterscheidungen, vor allem unter dem Aspekt der Nutzung und der Methoden der Aufzucht und der Tierhaltung. Vor allem bei Hund und Katze ergibt sich ein Bedarf nach zusätzlichen Differenzierungen aus innersprachlichen Faktoren, aus den unterschiedlich gegebenen genusgesteuerten Möglichkeiten, mit einem Ausdruck sowohl die Gattung wie eine spezifische geschlechtliche Erscheinungsform zu bezeichnen. – Affektivität: In einzelnen Fällen ist die Diversität auf offensichtlich affektiv motivierte lexikalische Innovationen zurückzuführen, die als Ersatz neben bestehenden Bezeichnungen eingeführt worden sind. Beim Schwein, der Ziege oder der Katze treten eher liebevoll-zärtlich gefärbte Bezeichnungen als Gattungsbezeichnungen neben der alten Gattungsbezeichnung auf, ein Symptom für entsprechende Beziehungen der Menschen zu diesen Tieren. Vor allem bei den Jungtieren einer Gattung liegen affektiv gefärbte Innovationen nahe. Die zusätzlichen Bezeichnungen bei „Zuchtstier“ und „Hahn“ sind dagegen auf andere affektive Komponenten zurückzuführen, beim Stier auf Respekt, beim Hahn wohl eher auf eine mehr ironische Bewertung seines Auftretens im Hühnerhof. – Ausgleich von Quasi-Synonymie aufgrund von Bedeutungswandel: In manchen Fällen sind geografische Differenzen auf den regional unterschiedlichen Ausgleich von Quasi-Synonymie zurückzuführen. Diese Quasi-Synonymie ist in der Regel wiederum auf Bedeutungswandel zurückzuführen, auf Verallgemeinerungen speziellerer Ausdrücke oder Verschiebungen innerhalb einer Taxonomie aufgrund von konzeptueller Unschärfe. Vielfach sind allerdings bei vorgegebener Quasi-Synomie in älterer Zeit die genauen Vorgänge wegen ihres Alters nicht klar rekonstruierbar. Auch die Gründe von derartigen semantischen Verschiebungen sind meist nicht eindeutig rekonstruierbar. Dass sie relativ häufig auftreten, wirft dennoch zusätzliche Fragen auf, auf die hier aber nicht eingegangen werden kann. Bedeutungswandel, der zu Quasi-

Gegenstände des Alltagslebens

341

Synonymie führt, führt automatisch auch zu einem Verlust von Differenzierungen. Diese werden oft durch Innovationen wiederhergestellt. Regional unterschiedliche Rekonstruktionen von semantischen Differenzierungen führen oft ebenfalls zu arealer Diversität. Das Maß der Diversität ist im Allgemeinen nicht besonders hoch. Das heißt, selbst wenn im Einzelnen Polygenese oder lokaler Ausgleich von Quasi-Synonymie der Ursprung von Diversität war, ist durch Diffusion die Variation meist in größeren Räumen wieder ausgeglichen worden. Die konkrete Diversität ist oft auf sekundäre Faktoren zurückzuführen, etwa, dass die sprachlichen Verfahren der Differenzierung auf Mittel zurückgreifen, die ihrerseits areal diversifiziert sind, so bei Diminutiv- oder Kompositabildungen oder bei präzisierender Attribuierung. Viehzucht ist eine wirtschaftliche Tätigkeit, bei der größerräumige Kontakte normal sind. Die größte Diversität findet sich bei Jungtieren wie dem Ferkel oder dem Küken, Altersstufen, die wirtschaftlich von kleinerer Bedeutung sind, deren Tiere aber Emotionen hervorrufen. 6.5 GEGENSTÄNDE DES ALLTAGSLEBENS Von Menschen gefertigte Gegenstände entstehen unter bestimmten historischen Bedingungen und ihre Formen und Zwecke verändern sich in der Zeit. Darin unterscheiden sie sich sachlich von Naturerscheinungen und auch Zuchttieren. Viele Gegenstände des Alltags wie Möbel oder Kleider haben jedoch in der Regel gleichwohl eine lange Geschichte, im Unterschied zu technischen Geräten der Neuzeit. Während neuere technische Geräte im Zuge ihrer technologisch geprägten Einführung und der Massenproduktion von vornherein in großen Sprachräumen einheitliche Bezeichnungen erhalten, spielte sich der traditionelle Alltag in begrenzten kommunikativen Räumen ab. Im SDS sind ausgewählte Gruppen von Gegenständen des Alltagslebens dokumentiert. Gegenstände, die eine überregional einheitliche Bezeichnung tragen, sind naturgemäß im SDS nicht dargestellt. Zum Vergleich werden sie im Folgenden von Fall zu Fall zusätzlich mit einbezogen. Neben Möbeln und Kleidern werden auch Erzeugnisse aus dem Bereich der Nahrung betrachtet, die in denselben Bereich von kulturhistorisch veränderlichen, aber für den Alltag elementaren Gegenständen gehören.

342

Variationen in Diversitätsmustern

6.5.1 Möbel 6.5.1.1 Diversitätstypen Diversitätstyp a: Einheitlichkeit und Kontinuität alter Bezeichnungen Eine erste Gruppe von Möbelbezeichnungen umfasst alte Bezeichnungen die überregional einheitlich mit keiner oder nur geringer Diversität verwendet werden. Sie erfasst Möbel wie Tisch, Bett, Stuhl und Bank, die schon seit langer Zeit zum Grundbestand der Ausstattung eines Hauses gehören. –

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

[„Tisch“

1

Tisch

ahd./mhd. Tisch]

„Bett“ (SDS VII 201)

1

Bett

ahd./mhd. bette

„Stuhl“ (SDS VII 178)

2

Stuel, Sässel

ahd./mhd. stuol, sezzel

[„Sessel, gepolstertes Sitzmöbel mit Lehne“ (SDS VII 179 III)]

1

Sässel

mhd. sezzel ]

„Bank (bewegliches Sitzmöbel für mehrere Personen“ (SDS VII 183)

4

Bank, Vorstuel, lange Stu- (mhd. banc ‘Brett’) el

Abb. 6.26: Bezeichnungen von Möbeln – Diversitätstyp a

Anmerkungen: – Zu „Tisch“ enthält der SDS keine onomasiologische Karte. SDS II 54 ist eine Lautkarte für ›Tisch‹, mit welcher der allgemeine Gebrauch implizit bestätigt wird. Das Möbel wird seit dem Mittelalter als ›Tisch‹ bezeichnet. – Zu „Sessel“: die Angaben in SDS VII 179 sind lückenhaft und nicht kartografiert; s. auch Abschnitt 2.3.5.1, S. 80. Die kontinuierliche Tradierung alter Bezeichnungen widerspiegelt die Kontinuität der Funktion dieser Möbel in der Wohnkultur. Freilich verbirgt sich hinter diesen alten Bezeichnungen mehr historische Variabilität, als sichtbar ist. Schon die Möbel selbst und ihre Verwendung im Alltag sind heute in vielem nicht mehr zu vergleichen mit jenen im Mittelalter oder der frühen Neuzeit. Sachen, Konzepte und damit zusammenhängende Wortbedeutungen haben mancherlei Umstrukturierungen erlebt. Mit der lexikalisch dem Augenschein nach seit dem Germanischen unveränderten Bezeichnung ›Bett‹ wird konzeptuell und semantisch heute auf eine andere prototypische Vorstellung eines Bettes Bezug genommen als etwa im Althochdeutschen oder erst recht im gotischen badi. Unverändert geblieben ist der

Gegenstände des Alltagslebens

343

funktionale Bedeutungskern ‘Liegemöbel zum Schlafen in der Nacht’. 85 Ähnliches gilt auch für das Konzept TISCH, bei dem allerdings die Terminologie im Mittelhochdeutschen differenzierter war. Mhd. tisch bezeichnet generell den Esstisch. Bekanntlich war der Esstisch im Mittelalter lange ein mobiles Gestell, das nach dem Essen weggeräumt („aufgehoben“) wurde. Andere Arten von Tischen, die etwa zur Verrichtung von Arbeiten verwendet werden (z. B. zur Verarbeitung von Fleisch, als Verkaufstisch usw.) werden im Mittelhochdeutschen banc genannt, abgeleitet von mhd. banc in der Bedeutung ‘Brett’. Die einheitliche Geltung von ›Tisch‹ im Standarddeutschen und im Dialekt für alle Arten von Möbeln mit einer Arbeitsfläche zeigt eine konzeptuelle und lexikalische Vereinheitlichung einer früheren Differenzierung und geht letztlich wohl auch auf eine Standardisierung der Formen zurück. Die Sachgeschichte manifestiert sich deutlich in den lexikalisch komplizierten Verhältnissen bei den Sitzmöbeln. Das Mittelhochdeutsche kennt für das Konzept SITZMÖBEL FÜR EINE PERSON mindestens die Ausdrücke stuol, sezzel, sedel/sidel. Es bestehen sicherlich sachliche und stilistische Unterschiede, die allerdings schwierig präzis zu bestimmen sind. Der Ausdruck stuol bezeichnet den Allgemeinbegriff SITZMÖBEL FÜR EINE PERSON, unabhängig von der Form und Funktion, darunter auch vornehme Sitzgelegenheiten wie der Thron für einen Herrscher oder der Richterstuhl. Davon lassen sich sedel/sidel in den Verwendungskontexten kaum unterscheiden. Die Belege für sezzel lassen dagegen auf vornehmere Arten von Sitzgelegenheiten schließen, eine Differenzierung, wie sie auch heute noch in der Standardsprache gilt. In der Gegenwart leben die mittelhochdeutschen Ausdrücke in unterschiedlicher Form weiter. Auch im Schweizerdeutschen gilt regional die allgemeine Unterscheidung zwischen ›Stuhl‹ als Bezeichnung des gewöhnlichen Sitzmöbels und ›Sessel‹ für das komfortablere Sitzmöbel. In einigen schweizerdeutschen Dialekten ist aber (wie in Österreich) ›Sessel‹ zur Bezeichnung des gewöhnlichen Sitzmöbels für eine Person geworden.86 Dieser Zustand ist wohl so zu erklären, dass verbreitet ›Stuhl‹ und ›Sessel‹ zunächst quasisynonym geworden sind und ›Stuhl‹ in einzelnen Regionen anschließend ausgeschieden ist. Die Bedeutungen sind an diesen Orten also konkretisiert und eingeengt worden. Das Gleiche gilt für ›Bank‹, das, wie erwähnt, im Mittelhochdeutschen die Bedeutung ‘Brett’ hatte. Als Bezeichnung für eine Sitzgelegenheit wurde damit ursprünglich eine einfache Vorrichtung bezeichnet, mit einem langen Brett eine Sitzgelegenheit für mehrere Personen herzustellen. Die heutige allgemein geltende Verwendung als Bezeichnung eines gewöhnlichen Sitzmöbels für mehrere Personen ist in BE-Oberland nicht durchgedrungen. Die alternativen Bezeichnungen »Vorstuel« und »lange Stuel« für die bewegliche Bank stellt stattdessen eine Ausdehnung der Bedeutung von »Stuel« dar: Damit ist implizit jedes

85

86

Wenn Bett als ‘Möbel zum Schlafen in der Nacht’ bezeichnet wird, wird damit gleichzeitig auf eine bestimmte Schlafkultur Bezug genommen, die selbstverständlich erscheinen mag, aber ebenfalls eine historisch geprägte Sitte darstellt. S. Variantenwörterbuch 672 s. v. Sessel.

344

Variationen in Diversitätsmustern

Sitzmöbel, unabhängig von der Sitzzahl, gemeint. 87 Dass beide Bezeichnungen der Bank spätere Weiterentwicklungen – semantische Umfunktionierungen – sind, zeigt, dass Bänke im Vergleich zum Stuhl erst später zu eigenen Möbeltypen wurden. Hinter den Entwicklungen im Einzelnen stehen funktionale Abstrahierungen der Konzepte für die Sitzmöbel, die mit regionaler Vereinheitlichung der Bezeichnungen einhergehen. –

Diversitätstyp b: Heteronymie aufgrund von lexikalischen Innovationen, v. a. Entlehnungen, mit geringer Diversität

Onomeme „Stabelle (Stuhl mit Brettlehne)“ (SDS VII 179)

Varian- Varianten tenzahl 3

„Hocker (hölzerner Stuhl ohne Lehne)“ (SDS VII 179 III) „Sofa (langes gepolstertes Sitzmöbel mit fester Lehne)“ (SDS VII 181)

4

ahd./mhd.

Schabälle, Stabälle, Sidele, Sässel



Tab(u)rett(li), Hocker(li), Stuel



Kanapee, Kanebett, Ruebett, Soffa, (Divan)



Abb. 6.27: Bezeichnungen von Möbeln – Diversitätstyp b

Anmerkungen: – Zu „Stabelle“: Als Stabelle wird in der Schweiz eine besondere, heute altertümliche Form von Stuhl bezeichnet, mit direkt in die massivhölzerne Sitzfläche eingezäpften Beinen und einer Brettlehne, normalerweise mit einem Griffloch in Herzform o. ä. Die regionale Form »Schabälle« entspricht der ursprünglichen Lautung; das Wort ist eine Entlehnung aus ital. scabello, ursprünglich die Bezeichnung des entsprechenden Sitzmöbels, allerdings in prunkvollerer Form, die in der Renaissancezeit in Italien Mode wurde. – Zu „Hocker“: Im SDS nur lückenhaft erfragt und nicht kartografiert; »Tab(u)rett(li)«: Entlehnung aus franz. tabouret ‘Hocker’. – Zu „Sofa“: s. Abschnitt 3.2.4, S. 108. Stabelle, Hocker und Sofa sind neuere Möbeltypen, die in der Neuzeit aus dem Ausland importiert wurden. Sie stellen funktionale Differenzierungen von Sitzmöbeln dar, die in besonderer Weise von den traditionellen Sitzmöbeln abweichen und zu besonderen Formen der Wohnkultur gehören. Mit der Sache wurde in der Regel auch die fremdsprachige Bezeichnung übernommen. Nur ausnahmsweise 87

Die Bezeichnung »Vorstuel« bezieht sich nach Id. 11, 299 darauf, dass damit die bewegliche Bank bezeichnet wird, die vor dem Tisch auf der Innenseite des Raums steht, im Gegensatz zum »Wandstuel«, »Fänschterstuel« u. ä., der fest an der Wand befestigten Bank.

345

Gegenstände des Alltagslebens

werden auch angestammte Bezeichnungen von ähnlichen Möbeln als Bezeichnungen verwendet. So hat sich bei „Stabelle“ neben der Entlehnung »Schabälle«/»Stabälle« regional das alte Quasi-Synonym »Sedel« für ‘Stuhl’ durchgesetzt, ein Fall von semantischer Differenzierung von ursprünglichen Quasi-Synonymen. Für das Sofa wurde regional die alte Bezeichnung »Ruebett« (‘Liegebett im Wohnraum zum Ausruhen während des Tages’, „Lotterbett“) übernommen. Nicht überall gibt es eigene Bezeichnungen für diese neuen Möbel. In einigen Regionen, in denen »Sässel« die allgemeine Bedeutung ‘Stuhl’ hat, wird als Bezeichnung der Stabelle ebenfalls »Sässel« angegeben. Auch bei „Hocker“ deuten lückenhafte Angaben und die Angabe »Stuel« darauf hin, dass dieses Möbel nicht überall eine eigene Bezeichnung gefunden hat. Die geringe Diversität bei diesen Möbeln ist darauf zurückzuführen, dass die Einfuhr der neuen Möbel ein überregionales Phänomen war bzw. über überregionale Kontakte stattfand. –

Diversitätstyp c: Stärker diversifizierte Heteronymie mit Innovationen aus unterschiedlicher Genese

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Kommode“ (SDS VII 188)

7

Komoode/Gomoode, Kantrum/Gantrum, Schublaadestock, Büro, Sekretär, Pult, (Wäschtisch)

„Kleiderschrank“ (SDS VII 190)

6

Chaschte, Schaft, Gänterli Schifenier, Buffet, Schrank, Schgaffe

„Küchenschrank“ (SDS VII 191)

9

(Chuchi-)Chaschte, (Chuchi-)Gänterli, Chuchi-)Chänschterli, (Chuchi-)Schaft, Almääri/Almääli, Schaf(e)reiti, Buffet, (Chuchi-)Schgaffe, (Chuchi-)Schrank

„Truhe“ (SDS VII 192)

7

Troog, True, (liggede) (ahd. trog, ‘Trog, Chaschte, Trucke, Goffere Mulde‘, ahd. truha, mhd. trucke ‘Holzgefäß’, kaste ‘Kiste’)

„(Tisch-)Schublade“ (SDS VII 189)

8

Schublaade, (Tisch-) Trucke/Trücke, Züche(r) u. ä., Schieber, Schriine, Chaschte, Troog

mhd. kaste, kensterlīn, (schaf ‘Holzgefäß, Kiste’), almer(ie), schafreite, (schranc ‘Begrenzung, eingeschlossener Raum’)

346

Variationen in Diversitätsmustern

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

ahd./mhd.

„Truhe“ (SDS VII 192)

7

Troog, True, (liggede) (ahd. trog, ‘Trog, Chaschte, Trucke, Goffere Mulde‘, ahd. truha, mhd. trucke ‘Holzgefäß’, kaste ‘Kiste’)

„Ablagebrett“ (SDS VII 177)

12

Gschtell, Stelle, Lade, Schaft, G(a)raune, Brätt, Bank/Bauch, Sims/Sinz, Etascheer, Tablaar/ Tablaat, Obertüür, Stürzel, Stuuche

Abb. 6.28: Bezeichnungen von Möbeln – Diversitätstyp c

Anmerkungen – Zu „Kleiderschrank“ und „Küchenschrank“: »Kantrum«, »Ganter«, »Gänterli«, zu nordital. (mailändisch) cantará ‘Kommode’ (JUD 1946, 78) oder altfrz. gantier ‘Gestell’ (Nebenform zu chantier, s. TOBLER / LOMMATZSCH 2, 232);88 »Chänschterli«: zu ital. canestro ‘Korb’; »Schaft«: wohl eine Weiterentwicklung zu mhd. schaf ‘Holzgefäß’; »Almääri/Almääli«: zu mlat. almarium (< armarium) ‘Speise-/Gewandschrank’; »Schifenier« m./n.: Entlehnung aus franz. chiffonière ‘Kleiderschrank’; »Schgaffe«: Entlehnung aus rätorom. scaffa; »Buffet« (mit /u/!): Entlehnung, aufgrund des Vokals /u/ eher aus dem Italienischen buffetto als aus dem Standardfranzösischen buffet /büffee/. – Zu „Schublade“: s. Abschnitt 3.2.4, S. 103. – Zu „Truhe“: »Goffere« Entlehnung von frz. coffre ‘(Reise-)Kiste, Buffet’. – Zu „Ablagebrett“: »G(a)raune«: Entlehnung aus dem Rätoromanischen; »Bauch«: lautgesetzliche Weiterentwicklung aus Bank aufgrund des Staubschen Gesetzes (s. Fn. 41 in Kap. 2); »Etascheer«: Entlehnung aus franz. etagère ‘Ablagebrett’; »Tablar«: Entlehnung aus franz. regional (frankoprov.) tablar(d) ‘Ablagebrett’; »Obertüür« ›Obertür‹: ‘Gestell, das über der Tür angebracht ist’; »Stürzel«: zu Sturz ‘Querholz über Türpfosten’ (Id. 11, 1569); »Stuuche«: zu »stuuche« ‘zusammendrücken’ (Id. 10, 1321) (> ‘eng verstauen’)? Onomeme mit relativ großer Diversität stellen die Bezeichnungen von Aufbewahrungsmöbeln dar. Die lexikalischen Muster zeigen, dass größere, sachlich differenzierter ausgestaltete Aufbewahrungsmöbel generell neuere Innovationen sind: Praktisch alle Bezeichnungen sind aus Ausdrücken mit anderer Bedeutung herge88

Der Verweis in Id. 2, 381 auf lat. canterius ‘Sparrwerk, Jochgeländer’ führt insofern in die Irre, als das schweizerdeutsche Wort keine direkte Entlehnung aus dem Lateinischen ist, sondern die entsprechenden auch semantisch veränderten Formen mit ihrer Bedeutung in den neueren romanischen Sprachen übernommen wurden.

Gegenstände des Alltagslebens

347

leitet, umfunktioniert und/oder in neuerer Zeit entlehnt, also lexikalische Neuerungen im Spätmittelalter oder in der frühen Neuzeit. Sehr alte, kontinuierlich in ihrer ursprünglichen Bedeutung verwendete Ausdrücke kommen nicht vor. Eine allgemeine lexikalische Entwicklungslinie besteht darin, dass derartige Möbel mit Lexemen bezeichnet werden, die ursprünglich kleinere Gefäße wie Kisten, Mulden, kleine Kästchen (mhd. kaste, schaf, truhe, trog) benannten. Das gilt auch für die spätmittelalterlichen Entlehnungen »Almääli/Almääri« und »Chänschterli«, die auf mittellateinische Lexeme oder deren romanische Entsprechungen zurückgehen. Lexikalische Umfunktionierungen alter einheimischer Wörter sind auf autochthone sachliche Veränderungen (Vergrößerung) alter Behältnisformen zurückzuführen. Entlehnungen aus benachbarten Fremdsprachen wie »Gantrum«, »Komoode», »Büro», »Goffere«, »Etascheer«, konkret aus dem Italienischen oder Französischen, sind demgegenüber auf ausländische Einflüsse, meist auf Import von sachlichen Neuerungen in der gehobenen Wohnkultur dieser Länder, zurückzuführen. Darin spiegeln sich auch Kulturbeziehungen zu diesen Ländern. Anders strukturiert ist die Heteronymie bei den Bezeichnungen von Ablagebrettern. Sie werden meist direkt aus bestehenden Lexemen entwickelt, entsprechend ihrer Form oder ihrer Verwendung. Dass bei den Aufbewahrungsmöbeln im Unterschied zu den Liegemöbeln all diese Einflüsse nicht zu einheitlichem Wortgebrauch, sondern zu relativ großer Diversität geführt haben, ist ein Reflex eines mehrfachen sachlichen und sprachlichen Wandels seit dem Spätmittelalter über längere Zeit, der jeweils lokal erfolgte. Die Neuerungen breiteten sich in diesen Epochen offenbar nicht gleichzeitig und flächendeckend in großen Regionen aus wie etwa das Sofa, das als modisches neues Liegemöbel im 18. Jahrhundert überregional eingeführt wurde. 6.5.1.2 Faktoren der Diversität Einheitlichkeit bzw. Diversität der Benennungen von Möbeln hängen von der Zeit ab, in der allfällige Sachinnovationen stattgefunden haben, von den historischen Hintergründen, in der ein Sachtyp sich entwickelt hat, und schließlich davon, in welcher Weise sich eine Sachinnovation räumlich ausgebreitet hat. Für Möbel mit einer alten Geschichte hat im Zug der Entwicklung von Handwerk und Möbelkultur eine Vereinheitlichung und konzeptuelle Abstrahierung von der konkreten Form stattgefunden. Dies führte gleichzeitig zur Diffusion einer einzelnen, allgemein gültigen lexikalischen Form. Im Zentrum dieser lexikalischen und arealen Vereinheitlichung steht die Funktion eines Möbels. Liegen, Sitzen und an einem dafür bestimmten Möbel Essen sind aus dieser Perspektive in der hiesigen Kultur die ältesten Zwecke von Möbeln. Die Einheitlichkeit der Bezeichnungen für diese Möbel zeigt, dass diese Zwecke und Verwendungsgewohnheiten Teil einer überregionalen Kultur sind. Späterer Sachwandel hat zu unterschiedlichen Arten von Diversität geführt, je nachdem auf welche Art dieser Sachwandel erfolgte. Im Vergleich zu Bett, Stuhl und Tisch ist das Aufbewahren von Gegenständen in eigens dafür hergestellten

348

Variationen in Diversitätsmustern

Möbeln im Lichte der Wortgeschichte eine spätere Entwicklung. Die verschiedenen Formen von Aufbewahrungsmöbeln entwickelten sich offenbar seit dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit nicht als großräumige Importe, sondern als regional diffundierte Sachinnovationen. Die Benennungen dafür wurden ebenfalls regional unterschiedlich geschaffen, was zu einer höheren Diversität führte. Besonders stark lokal gefärbt sind die Bezeichnungen von Ablagebrettern, die auch von ihrer Größe her kaum überregional und oft ad hoc hergestellt werden. Eine andere Art von Innovation stellen modische Importe von spezielleren Möbeltypen aus dem Ausland, dar. Mit dem Möbel wurde in der Regel auch der entsprechende Ausdruck überregional übernommen. Je später ein solches Möbel mit seiner Bezeichnung übernommen wurde und je mehr dies im Rahmen einer gehobenen Wohnkultur geschah, desto eher erfolgte die Übernahme über überregionale Kanäle, über direkten Kulturkontakt, und desto eher gilt einheitlich dieselbe Bezeichnung. Die unterschiedlich geartete Diversität bei Innovationen im Wohnmobiliar spiegelt unterschiedliche Prozesse des Sachwandels in den verschiedenen historischen Epochen. 6.5.2 Kleidung Kleidung ist seit jeher starkem Wandel unterworfen, und die einzelnen Formen von Kleidungsstücken können je nach Epoche stark differenziert werden. Im SDS wird eine beschränkte Auswahl von Kleiderbenennungen dargestellt. Sie geht von Kleidungsgewohnheiten um die Mitte des 20. Jahrhunderts aus, die ihrerseits unterdessen bereits wieder historisch geworden sind, und thematisiert gewisse typische Kleidungsstücke des bürgerlichen Alltags, allerdings nicht Arbeits- und Festkleidung. Es fehlen vor allem auch Angaben über Kleider für Frauen. Angesichts der nicht erwähnten vielfältigen sonstigen Differenzierungsmöglichkeiten von Kleidern können die Angaben nur einen groben Raster für bestimmte typische Kleidungsstücke in den eher ländlich geprägten Milieus der damaligen Schweiz abgeben. Es handelt sich allerdings auch hier um bürgerliche Kleidungsgewohnheiten aus dem späten 19. Jahrhundert. Die bäuerlichen Kleiderformen des 18. Jahrhunderts, deren festliche Varianten (Trachten) etwa auf vielen zeitgenössischen Stichen dargestellt sind und in der Gegenwart bruchstückweise in der Folklore weiterleben, sind im Alltag im Laufe des 19. Jahrhunderts völlig verschwunden. Die Bezeichnungen für die männliche Kleidung beziehen sich auf den traditionellen besseren Anzug des Mannes, der aus der Hose, einer ärmellosen Weste und der darüber getragenen Jacke, alle aus dem gleichen Stoff, besteht.89 89

Die Kleidung entspricht der Männerkleidung des gehobenen Bürgertums für das Alltagsgeschäft seit 1880 in der Schweiz, wie sie etwa in Abbildungen in KOCH-MERTENS (2000, 446) erscheint. Vgl. auch die Abbildungen zur Entwicklung der Männermode in BRÄNDLI (1998, 144–145) und die Kleidervorschriften für den Herrn um 1912 in BRÄNDLI (1998, 254–255). Besondere Kleiderformen, etwa die auch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts modischen Knickerbocker, fallen aus dem Raster.

349

Gegenstände des Alltagslebens

6.5.2.1 Diversitätstypen Diversitätstyp a: Einheitlichkeit und Kontinuität alter Bezeichnungen Für manche Kleidungsstücke, nämlich Hose, Hemd und Strümpfe, gibt es jeweils nur eine einzige einheitliche Bezeichnung, die wiederum auf einem sehr alten Lexem basiert. Die Bezeichnungen werden im SDS entweder in Laut-Formenkarten (›Hemd‹) oder selektiv im Kommentarteil angegeben. –

Onomeme

Varian- Varianten tenzahl

ahd./mhd.

„Hemd“ (SDS V 127)

1

Hemmli/Hömmli/ Hämp u. ä.

mhd. hemede

„Hose“ (SDS I 43, V 154u)

1

Hose

(mhd. Hose ‘Strumpf’)

„Strümpfe“ (SDS V 154u)90

1

Strümpf

(mhd. Strumpf ‘Rumpf, Strunk’)

Abb. 6.29: Bezeichnungen von Kleidern – Diversitätstyp a

Die Einheitlichkeit der Benennungen in den Onomemem des Diversitätstyps a lässt nicht erkennen, dass dahinter komplexe Veränderungen der Bekleidung stehen, vor allem bei den Beinkleidern. Die Hose in der heutigen Form hat sich als Kleidungsstück seit dem 15. Jahrhundert entwickelt, die einfache, lange Hose, die über die Strümpfe fällt und die Unterschenkel verdeckt, wurde erst nach 1830 zur allgemein gültigen bürgerlichen Form der Beinkleidung. 91 Die Lexeme »Hose« und »Strumpf« haben seit dem Mittelalter im Zusammenhang mit den sachlichen Veränderungen starke Bedeutungsveränderungen erfahren. Die heutigen Bedeutungen sind Ergebnisse der semantischen Veränderungen im Zuge des Sachwandels seit der frühen Neuzeit und dem Anfang des 19. Jahrhundert.92 Die entsprechenden Wörter sind heute als Oberbegriffe für unterschiedliche spezielle Formen dieser Kleidungsstücke zu interpretieren. Die heutige Einheitlichkeit ist das Ergebnis alter, längerer sachlicher und lexikalischer Vereinheitlichungs- und Diffusionprozesse. Dass die Allgemeingültigkeit der Bezeichnung »Hose« auch durch 90 91 92

Gemeint sind die beinlangen gewirkten oder gestrickten Beinkleider. S. KOCH-MERTENS 2000, 352, 391 u. a. Auf den Sachwandel im Einzelnen, die sozialen Differenzierungen in der Mode und die damit zusammenhängenden Veränderungen der Wortbedeutungen kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Ursprünglich bezeichnete mhd. hose ein strumpfartiges Beinkleid, u. U. auch ohne Fußbedeckung, zur Ritterzeit speziell die eiserne Panzerung der Oberschenkel (vgl. z. B. DWB 10, 1837 und Id. 2, 1688 mit den Komposita, vgl. auch Halbhose ‘Gamasche’); der Unterleib wurde mit dem bruoch (kurze Hose) bedeckt. Nachdem bruoch und hose zu einem einzigen Kleidungsstück vereinigt worden waren und dieses weiterhin als hose bezeichnet wurde, trat im 16. Jahrhundert strumpf als Bezeichnung der einfachen Bekleidung des Unterschenkels ein (s. Id. 11, 2265, DWB 20, 116).

350

Variationen in Diversitätsmustern

Vereinheitlichung und überregionale Standardisierung der Sache und der Mode bedingt ist, zeigt sich an der Vielfalt der Bezeichnungen für besondere Hosenformen in älteren Epochen, etwa der Pluderhose, d. h. die weite bauschige Hose mit einem Bund unter den Knien, die nach den Belegen des Id. noch bis anfangs des 19. Jahrhunderts getragen wurde und für die das Id. regionale Bezeichnungen wie Aagendshose, Huperhose, Flauderhose, Chlotterhose, Pumphose, Bloderhose, Plumphose, Plötzlihose, Säulihose oder Schlotterhose verzeichnet (Id. 2, 1693– 1697). –

Diversitätstyp b: Mittlere Diversität, hauptsächlich mit Fortführung älterer Bezeichnungen von Vorgängerobjekten

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

„Oberteil des männlichen Anzugs (Jackett)“ (SDS V 123)

ca. 8

(T)schoope, Chittel, Chutte, Mutze, Rock, Schlufi, Balto, (GL: Frack)

„Weste (ärmellose Weste unter dem Rock)“ (SDS V 124)

6

Weste, Schilee, Bruschttuech, Länder, Liibli, Liibtschoope, Liibrock

Abb. 6.30: Bezeichnungen von Kleidern – Diversitätstyp b

Anmerkungen: – Zu „Oberteil des männlichen Anzugs“: »Mutze«: Ableitung zu »mutz« ‘kurz, gekürzt, abgeschnitten’, ursprünglich Bezeichnung eines kurzen Kittels im Gegensatz zum langen Bauernkittel (Id. 4, 617); »Schlufi«: ‘lose sitzender Kittel’, zu »schlufe« ‘lose herunterhängen’; »Balto«: aus franz. paletot ‘langer, taillierter Rock’ (modisch um die Mitte des 19. Jhs.). – Zu „Weste“: »Länder«: Ableitung zu ›Lende‹, also ‘(Rock), der nur bis zu den Lenden reicht’ (im Unterschied zum Überrock). Die Bezeichnungen für die männlichen Oberbekleidungen des Oberkörpers sind variabler als jene für Hemd, Hose und Strümpfe. Für die Jacke („Rock der männlichen Kleidung“) werden überwiegend allgemeine Bezeichnungen aus älterer Zeit für Oberteile mit ähnlicher oder gleicher Funktion übernommen, meist Kleidungsstücke der älteren Bauernbekleidung. Hinter der Variation dieser älteren Bezeichnungen stehen offenbar teilweise dialektale Unterschiede, so zwischen »Chittel« und »Chutte«, beide nach Id. 3, 568 bzw. 3, 573 ursprünglich Bezeichnungen für den langen Rock des Bauernanzugs, die sich jedoch in unterschiedlichen Gegenden für die allgemeine, seit dem Mittelhochdeutschen geläufige alte Bezeichnung »(T)schoope« für den vorne geknöpften Rock durchgesetzt haben. Teilweise ergibt sich die Variation aber auch dadurch, dass Benennungen sachlich unterschiedlicher Vorgängerkleidungsstücke übernommen wurden bzw. regional unterschiedliche Kleidermoden vorausgingen. Im Gegensatz zu den genannten Bezeichnungen für den langen Rock war beispielweise in AG als Oberkleid teilweise ein kurzer Rock üblich (Id. 4, 617; 8, 1008 Mitte); dessen Bezeichnung

Gegenstände des Alltagslebens

351

»Mutz« wurde für die Jacke des Anzugs übernommen. Auf eine sachliche Unterscheidung lässt auch die Bezeichnung »Schlufi« in BE-Oberland schließen: Der Rock war im Vergleich zur traditionellen festlichen Jacke ein bequemeres Kleidungsstück. Die Bezeichnungen »Balto« und »Frack« wiederum sind Reflex ausländischer (französischer) Modeeinflüsse. Auch die Bezeichnungen der ärmellosen Weste unter dem Rock sind überwiegend von den Bezeichnungen älterer leichter Überkleider übernommen, die allein oder unter längeren Oberkleidern getragen wurden und deren Hauptmerkmal darin bestand, dass sie nur den Oberkörper bedeckten, so »Liibli« ›Leiblein‹, »Liibtschoope« ›Leibjoppe‹ (‘»Tschoope«, der am Oberkörper getragen wird’), »Länder« (‘Kleidungsstück, das nur bis zur Lende reicht’) und »Bruschttuech« ›Brusttuch‹ als eines Kleidungsstückes für die Brust.93 Im Zuge des Modewandels veränderten sich diese Kleidungsstücke sachlich zu der heutigen Form, oder deren Bezeichnungen wurde auf das neuere Kleidungsstück übertragen. Daneben sind »Weste« und »Schilee« Importe aus der französischen Mode, »Schilee« relativ spät wohl direkt im Zusammenhang mit der Einführung der heutigen Kleidermode. Der Unterschied zwischen der Einheitlichkeit bei „Hose“, „Hemd“ und „Strümpfen“ und der Diversität bei „Jacke“ und „Weste“ zeigt Unterschiede in der Wahrnehmung der funktionalen Bedeutung dieser Kleidungsstücke. Zwar gibt es, wie erwähnt, auch bei den Hosen modische Abwandlungen. Die entsprechenden Varianten werden mit Komposita mit dem Grundwort »Hose« benannt, d. h. die speziellen Formen werden als Varianten eines einzigen Kleidungstyps verstanden. Die größere diachrone und lexikalische Variationsbreite bei der Oberbekleidung kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die verschiedenen Vorgängerformen als unterschiedliche Kleiderformen interpretiert wurden. Innovationen über regionale Moden und Import von Mode wurden so nicht unter einen Oberbegriff subsumiert, sondern gesondert benannt. Die Oberbekleidung war offenbar in der Schweiz ein augenfälligerer Bestandteil der Bekleidung als Hose und Hemd. Die Gestaltung und der Wandel der entsprechenden Kleidungsstücke der Oberbekleidung erfolgten außerdem regional beschränkt; damit entwickelten sich auch die Bezeichnungen regional beschränkt. Der Rückgriff auf ältere lexikalische Bezeichnungen und Entlehnungen zeigt insgesamt aber auch, dass die im SDS dokumentierte Diversität nicht auf vollständigen Innovationen, sondern auf Sachwandel innerhalb bestehender Moden beruht.

93

Nach den historischen Belegen ist denkbar, dass ›Brusttuch‹ ursprünglich ein nur die Brust bedeckendes Kleidungsstück bezeichnete (MAALER 1561, 80v.: „Brusttuoch / Der brustlatz oder teil vor der brust. Das vorder teil deß hembds“). In der Schweiz wurde damit spätestens seit dem 18. Jahrhundert auch die ärmellose, kurze Jacke der festlichen Bauernbekleidung bezeichnet, wie sie noch heute in der Appenzeller und Toggenburger Bauerntracht üblich ist und hier heute noch als ›Brusttuch‹ bezeichnet wird. Daneben ist das Brusttuch auch ein Teil der Frauentracht (s. Id. 12, 313).

352 –

Variationen in Diversitätsmustern

Diversitätstyp c: Mittlere Diversität, hauptsächlich mit sachlich-deskriptiven Wortableitungen und Entlehnungen

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl

„Hosenträger“ (SDS V 125)

ca. 6

Hoseträäger, Hoseträädlig, (Hose-) Chrääze, Hosegalge, Hoseschlinge, Hosesile

„Pulswärmer“ (SDS V 135)

ca. 6

Amediisli, Mi(i)tli, Eermeli, Handeli, Schlipfer, (Aarm-)Stöössli, Aastööss

„Schürze (der Frau)“ (SDS V 142)

ca. 9

Schooss, Vorschooss, Forscher, Schuurz, Fürtuech, Fürtech, (Für-) Schüübe/Schöibe

Abb. 6.31: Bezeichnungen von Kleidern – Diversitätstyp c

Anmerkungen: Zu „Hosenträger“: Die Angaben auf der Karte sind lückenhaft, da nur teilweise erfragt. »Hosesile«: »Sile« ‘Zugseil’, ‘Zugvorrichtung aus Seilen für Pferde und Ochsen’ (Id. 7, 763); »Chrääze«: ‘Traggestell’ (Id. 3, 924). – Zu „Pulswärmer“: »Amediisli«: Entlehnung aus franz. amadis ‘Pulswärmer’; »Mi(i)tli«: Entlehnung aus franz. mitaine ‘Handschuh ohne Finger, Pulswärmer’. – Zu „Schürze“: s. Abschnitt 3.3, S. 113.



Die Kleidungsstücke dieses Diversitätstyps zeigen eine ähnliche mittlere Diversität wie die männlichen Kleidungsstücke für den Oberkörper. Die einzelnen Lexeme entstammen unterschiedlichen Epochen. Gemeinsam ist ihnen, dass lexikalische Innovationen dominieren; beim Pulswärmer kommen auch Entlehnungen hinzu. Rückgriffe auf Bezeichnungen älterer Kleidungsstücke wie bei „Jacke“ und „Weste“ kommen nicht vor. Zu erklären ist dies daraus, dass es keine funktionalen Vorgängerobjekte zu diesen Kleidungsstücken gab, dass es sich also um Sachinnovationen in einem engeren Sinne handelt. –

Diversitätstyp d: Große Diversität mit expressiven Bildungen

Onomeme „Esslätzchen“ (SDS V 137)

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 30

Ässmantel, Äss-/Fräss-/Geifer-Latz, Äss-/ Geifer-Lätsch, Äss-/Geifer-/SpuderBlätz/-Ladi, Ässludi, Äss-Hängel, Trieli/Trueli, Mues-/Geiferueli, ÄssPatsch, Schaber, (T)Schäber(t), Ässrabat

Gegenstände des Alltagslebens

Onomeme „Taschentuch“ (SDS V 139)

353

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 13

Naastuech, Naselumpe, Schnuderlumpe, Schnuderfätze, Schnuderhudel, Sacklumpe, Schnupftuech, Schnuuztuech, Schnuuzlumpe, Schnuuz-Fatzeneetli

Abb. 6.32: Bezeichnungen von Kleidern – Diversitätstyp d

Anmerkungen: – Zu „Esslätzchen“: »(Mues-/Äss-)Ueli/-Ludi«: Bildungen mit den Eigennamen »Ueli« (Ulrich) und »Ludi« (Ludwig), die auch sonst als Kompositionselemente bei pejorativen Bezeichnungen verwendet werden; »Schaber«, »Schabet«, »(T)Schäber(t)«: urspr. ‘der oberste Teil einer Schürze’ (Weiterentwicklung aus mhd. schaperūn, frühnhd. Schappert ‘Kapuzenmantel’) (Id. 8, 104); »Ässrabat«: zu Rabat (in älterer Bekleidung für feierliche Anlässe) ‘großer weißer Kragen’ (Entlehnung aus dem Französischen) (Id. 6, 11). – Zu „Taschentuch“: »Fatzeneetli«: aus ital. fazzoletto, frühnhd. übernommen als ‘Hand-/Schweiß-/Taschentuch‘. Die Heteronymie bei „Esslätzchen“ und „Taschentuch“ zeichnet sich gegenüber derjenigen der anderen Kleidungsstücke durch mehrere Besonderheiten aus: Erstens werden sie fast durchwegs als Ableitungen und Komposita gebildet; die Sachen werden damit als eine Unterart von bestimmten Sachen mit besonderem Verwendungszweck beschrieben. Sie erscheinen so als eher marginale Gegenstände. Zweitens enthalten die Benennungen oft negative oder abfällige Konnotationen mit besonderer Expressivität, im Gegensatz zu den Benennungen der anderen Kleidungsstücke, die durchwegs mit sachlich motivierten, bewertungsneutralen Ausdrücken bezeichnet werden. Das Taschentuch wird mit »Lumpe«, »Fätze« oder »Hudel« als minderwertiges Stück Stoff bezeichnet. Das Bestimmungswort »Schnuder-« übernimmt eine expressive Bezeichnung für den Nasenschleim. Die Benennung als »Fatzeneetli« mit einer Entlehnung ist als Gegenstück dagegen eine Verhüllung dieser unappetitlichen Konnotation, zeigt aber auch damit das Benennungsproblem. Ähnlich werden für die Form des Esslätzchens bevorzugt Lexeme gewählt, die lose oder unordentlich herunterhängende Stoffstücke bezeichnen (»Latz«, »Lätsch«, »Patsch«, »Blätz«). Als präzisierende Bestimmungen wird zusätzlich vielfach auf das unappetitliche Gebaren von Kleinkindern beim Essen wie Geifern und unsauber Schmieren (»triele«,»truele«) verwiesen. Nur selten werden Bezeichnungen anderer Bekleidungsstücke, vor allem des Mantels, übernommen (in diesem Falle handelt es sich wohl ursprünglich um Esslätzchen mit Ärmeln). Auffällig ist bei »Ässrabat« und »Schäber(t)« die Übernahme von Bezeichnungen für eher feierliche Kleidungsstücke. Es handelt sich möglicherweise um eine eher ironische Übertragung dieser Ausdrücke; allerdings werden diese Ausdrücke teilweise auch für Oberteile der Bäuerinnentrachten verwendet. Die Expressivität der Bezeichnungen im Kontrast zur Sachlichkeit der Benennun-

354

Variationen in Diversitätsmustern

gen bei den anderen Kleidungsstücken demonstriert das besondere emotionale Verhältnis zu den Sachen bzw. ihrer Verwendung. Es sind Gegenstände, die vor allem in Zusammenhang mit sozial niedrig eingestuften Handlungen verwendet werden. In der relativ großen Diversität besonders beim Esslätzchen manifestiert sich schließlich ein situatives Ausdrucksbedürfnis im intimeren Rahmen des Familienlebens, das zu kreativen Spontanbildungen Anlass gibt. Diese Wörter werden auch vorwiegend im privaten, familiären Situationen verwendet und haben damit relativ wenig Diffusionsaffinität. 6.5.2.2 Faktoren der Diversität Die Diversität bei den Benennungen von Kleidern ist einerseits ein Reflex der Veränderungen von Kleiderformen und deren Funktion in Abhängigkeit von Moden, gleichzeitig aber auch der Wahrnehmung dieser Funktionen und Veränderungen. Kleider, die wenig von Modeentwicklungen abhängig erscheinen und längere Zeit unverändert bleiben oder deren Wandel und Funktion nicht als modeabhängig erlebt wird, werden stets gleich benannt oder ihre Bezeichnungen werden über die Zeit vereinheitlicht. Entsprechend der Kontinuität der Funktion wird die Bezeichnung auch bei einem Wandel der konkreten Form auf eine nachfolgende Mode übertragen. In der Einheitlichkeit der Benennung, sei sie ursprünglich oder durch Diffusion zustande gekommen, spiegelt sich auch eine großräumige kulturelle Einheitlichkeit. Kleidungsstücke, die in Form und vor allem Funktion stärkerem Wandel unterworfen sind und als modetypisch auffallen, zeigen demgegenüber regional eine größere Diversität. Im Allgemeinen ist die lexikalische Diversität darauf zurückzuführen, dass die Bezeichnungen von Vorgängersachen übernommen werden oder Entlehnungen aus anderen Sprachen verwendet werden. Dass schon der Vorgängerwortschatz regional diversifiziert war, zeigt, dass hinter der Diversität auch regional unterschiedliche Kleidungsgewohnheiten und unterschiedliche kulturelle Beeinflussungen und Modeentwicklungen liegen. Schließlich spielt bei den Benennungen und ihrer Variation die Relevanz eines Kleidungsstücks für das öffentliche Auftreten eine Rolle. Bei Bestandteilen der Kleidung, die wegen ihrer Funktion einem vor allem persönlichen oder familiären Bereich angehören, besteht eine Neigung zu lokal begrenzten Innovationen mit expressivem Potenzial. Die Verwendung vor allem in familiären Situationen bedingt auch eine geringe Diffusionaffinität. Salienz und Affektivität wirken sich gegensätzlich als Diversitätsfaktoren aus. 6.5.3 Nahrung Nahrung teilt mit den andern Sachgruppen aus dem Bereich des Alltagslebens das Merkmal, einerseits von grundlegenden Bedürfnissen des Alltagslebens bestimmt, andererseits mancherlei historischem Wandel unterworfen zu sein. In diesem Ab-

355

Gegenstände des Alltagslebens

schnitt werden einige ausgewählte Nahrungsmittel und deren Nebenprodukte verglichen, die im SDS dokumentiert sind. Ausgeklammert bleiben Früchte und Gemüse als Pflanzen. 6.5.3.1 Diversitätstypen –

Diversitätstyp a: Kontinuität alter Bezeichnungen mit geringer Diversität

Onomeme

Varian- Varianten tenzahl

[„Milch“ „Rahmschicht auf roher Milch“ (SDS V 161)

1 ca. 3

[„Brot“ (SDS I 99)

1

[„Käse“ SDS V 198

1 (2)

„Butter“ (SDS V 179)

4

Milch]

ahd.mhd. ahd. miluh]

ahd. roum Niidel (m.)/Niidle (f.), Ruum/Ruun, Room/Raam Broot

ahd. brōt]

Chääs, Spiis]

ahd. kāsi]

Anke, Schmalz, Schmutz, ahd. butira, smalz Butter

Abb. 6.33: Nahung – Diversitätstyp a

Anmerkungen: – Zu „Brot“ und „Milch“ enthält der SDS keine onomasiologischen Karten, nur zu ›Brot‹ eine Lautkarte (SDS I 99). Daran, dass zu beiden Bedeutungen keine Varianz besteht und gesamtschweizerdeutsch dasselbe Wort verwendet wird, ist aber nicht zu zweifeln. – Zu „Rahmschicht auf roher Milch“: »Ruum« und »Raum« wurden einzeln gezählt, nicht aber lautlich bedingte Varianten davon, vor allem »Ro(o)m« und »Raam«; auch die Varianten von »Nidel« (m. und f.) wurden einfach gezählt; »Room« geht wohl auf eine Vermischung von »Room« (< mhd. roum) und standarddt. Rahm zurück. »Ruum« und »Raum« (mhd. roum) stehen im Ablautverhältnis zueinander; »Niidel/Niidle«: nur schweizerdeutsch belegtes Wort, Entlehnung aus der vorromanisch geprägten alpinen Sennensprache der keltoromanischen Zeit (JUD 1924, 201–203). S. auch Abschnitt 3.5.3.1. – Zu „Käse“: Im SDS sind onomasiologische Informationen nur indirekt enthalten. Die allgemeine Geltung der Bezeichnung »Chääs« lässt sich aus den Lautkarten SDS II, 74, II 94, 144, 174 und aus der Karte „Käserinde“ SDS V 174 erschließen. Die Bezeichnung »Spiis« ›Speise‹ war nach SDS V 198 früher die Bezeichnung für Käse in BE-Oberland.94 Unter den Diversitätstyp a fallen sehr alte Produkte mit eigenständiger Erscheinung und traditionsbestimmter Herstellungsweise und Verwendung. Dazu gehö94

S. auch Id. 10, 529 s. v. Spīs 1.f.β.

356

Variationen in Diversitätsmustern

ren Milch, Brot, Butter, Käse und Rahm, auch wenn manche heute einheitlichen Bezeichnungen auf teilweise sehr alte Innovationen zurückgehen und zudem die Produktionsmethoden und Behandlungsformen vor allem in den letzten 150 Jahren sich grundlegend geändert haben.95 Bei den Bezeichnungen dieser Produkte herrscht ein starkes Beharrungsvermögen. Eine gewisse, allerdings großräumige Heteronymie ist bei „Butter“ und „Rahm“ zu beobachten. Sie geht auf sehr frühe polygenetische Entwicklungen, teils im Zusammenhang mit Sachinnovationen, im gesamtgermanischen Rahmen zurück.96 Ferner wurde zwischen Butter aus Milch und tierischem Fett oft nicht klar unterschieden; entsprechende spätere Unterscheidungen an einzelnen Orten führten mit den damit einhergehenden terminologischen Veränderungen zu unterschiedlichen Resultaten. Hinzu kommt mit ›Butter‹ eine lexikalische Innovation aufgrund von technologischen Innovationen in antiker Zeit. Im Schweizerdeutschen ist »Butter« allerdings kein angestammtes Wort, sondern eine Übernahme aus den nördlich angrenzenden Nachbargebieten. Bei „Rahmschicht auf der rohen Milch“ deuten die Ablautformen »Raum« und »Ruum« ebenfalls auf ursprünglich alte regional differenzierte Innovationen. Zu Diversität führt schließlich die Entlehnung »Niidel/Niidle«, Resultat des frühmittelalterlichen Kontakts zwischen einwandernden Alemannen und alteingesessener keltoromanischer Bevölkerung im Alpenraum. –

Diversitätstyp b: Mittlere bis hohe Diversität mit deskriptiv motivierten Ausdrücken oder semantischer Umfunktionierung alter Grundwörter

Onomeme

Varian- Varianten (normalisiert, Auswahl) tenzahl

„Brotrinde“ (SDS V 173, KSDS 98)

ca. 6

Ranft/Rauft u. ä., Rinde, Gruschte, Chruschte, Schwaarte

„Butterbrot“ (SDS V 178)

ca. 11

Anke-/Schmalz-/Butter-schnitte, -broot, Ankebock, Anke-/Schmalzbruut, Brüütschi, Anke/Schmalz und Broot, Anke-/Schmalztünkli, Ankeraaft (= ›-ranft‹)

„Flachkuchen mit Belag“ (SDS V 187, KSDS 102)

ca. 5

Wääje/Wää(e), Tünne, Chueche, Flade, Zelte, Taatere, Turte

95

96

So ist ›Brot‹ eine lexikalische Innovation statt germ. *hlaiba-, die vermutlich auf eine sachliche Innovation zurückgeht (Herstellung aus Sauerteig) (s. KLUGE / SEEBOLD 2011, 153–154 u. 556 s. v. Brot und Laib, HOOPS III, 545–552). Schweizerdeutsch »Chääs« bezeichnet ebenfalls eine Sachinnovation, den Labhartkäse, der im alemannischen Gebiet erst im Mittelalter wieder üblich wurde, nachdem zuvor Sauermilchkäse (Weichkäse oder Zigerkäse) das normale Produkt war (s. Art. „Käse“ in HLS 7, 111–115). Nordgermanisch und Nordwestgermanisch *smerw-, Südosten *smalt mit etymologischer Beziehung zu *smelt- ›schmelzen‹, Südwesten *ank- mit etymologischer Beziehung zu idg. *ongṷ- ‘salben‘. ›Butter‹ ist eine Entlehnung aus lat. butyra, die offenbar im Zusammenhang mit sachlichen Neuerungen in der Herstellung übernommen wurde (HOOPS IV, 285–290).

Gegenstände des Alltagslebens

Onomeme

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Varian- Varianten (normalisiert, Auswahl) tenzahl

„Konfitüre“ (SDS V 191)

ca. 12

Komfi(tüüre), Hungg, Iigmachts, Iigchochets, Mues, Saft, Sirup, Latwääri, Saasse, Gschlaargg

„Griessbrei“ (SDS V 193)

ca. 6

Gries/Grütz-Bappe/-Mues/-Brii/Brei/ -Zonne/-Choch, Simmelchoch, Simmel

„Kirschenmus“ (SDS V 196)

ca. 9

Chriesi-Bappe/-Mues/-Brii/-Pfäffer/ -Suppe/-Sturm/-Zunne/-Zonne, gchocheti Chriesi

„Rösti (gebratene geriebene oder in Scheiben geschnittene Kartoffeln“ (SDS V 197, KSDS 106)

ca. 7

Rööschti, Härdöpfel-Brägel/-Bräusi/ -Choch, praate/prägleti/gchocheti Härdöpfel

„Kartoffelbrei“ (SDS V 198)

ca. 9

(Härdöpfel-)Stock/-Tampf/-Sturm/ -Pappe/-mues/-Stungg(is)/-Tampis/ -Püree

„Abfall beim Schälen roher Kartoffeln“ (SDS V 203)

ca. 13

Schelete, Schäärete, Bschniidi, Schnitzle(te), Schnittele, Schinte, Schelfere, Rüschti, Schööni, Rinde, Rintsche, Hüüt, Abzüüg

„Bonbon“ (SDS V 212, KSDS 104)

ca. 14

Täfeli, Zältli, Guuz(l)i/Guezi/Güezi, Bombo(ng), Bonggi, Zückerli, ZuckerStei/ -Bolle/-Boone/-Möckli/-Chügeli, Chröömli

Abb. 6.34: Nahrung – Diversitätstyp b

Anmerkungen: – Zu „Butterbrot“: Als Varianten gezählt werden nur die unterschiedlichen Grundwörter, ohne die Variationen mit Diminutiv und unter Vernachlässigung der Variation bei den Determinativen, welche in der Regel der Variation bei „Butter“ entsprechen (mit allen Variationsmöglichkeiten gibt der SDS in Symbolen 32 Varianten an); »(Anke-)Bruut«: gehört nach Id. 4, 1000 zu »Bruut« ›Braut‹ (und nicht zu »Broot«), auch wenn das Benennungsmotiv schwer zu deuten ist. – Zu „Flachkuchen mit Belag“: »Wääje/Wää(e)«: zu »wääije« ‘wehen’ oder mhd. wæhe ‘hübsch, zierlich’;97 »Tünne«: zu »tünn« ›dünn‹ (‘dünner = fla97

Id. 15, 1092 stellt es zu »wääije« mit Verweis auf GÖTZE (1910, 214). Danach besteht das Benennungsmotiv darin, dass Wähen vor dem Brotbacken, nach dem Verwischen der Glut mit einem Quast – in der badischen Mundart »verwääje« – in den Backofen geschoben werden.

358



– – – –



Variationen in Diversitätsmustern

cher Kuchen’); »Zelte«: zu mhd. zelte ‘flacher Kuchen’; »Taatere«: Entlehnung aus frz. tarte ‘Kuchen’. Zu „Grießbrei“: »Simmel«: elliptische Verkürzung aus »Simmel« ‘feiner Grieß’ (mhd. simel ‘feines Weißmehl’); »Zonne«: Etymologie ungeklärt (vorgermanisch aus der alpinen Sennensprache? s. SCHMID 2011, 201–202). Zu „Konfitüre“: s. Abschnitt 3.2.4, S. 109. Zu „Rösti“: »Brägel«, »Bräusi«: zu »brägle«, »brause«/»bräuse« (< *bransen) ‘braten’. Zu „Kartoffelbrei“: »-Tampf«, »-Tampis«, »-Stunggis«: Ableitungen zu Bezeichnungen des Zusammendrückens. Zu „Abfall beim Schälen roher Kartoffeln“: Die Variation ist zum Teil auf die Variation bei „Schälen roher Kartoffeln“ (SDS V 201) zurückzuführen (s. Abschnitte 2.2.3, S. 70, 4.2.1, S. 183); viele Bezeichnungen sind Ableitungen vom entsprechenden Verb. Variationen bei den Ableitungsmorphemen sind nicht mitgezählt. Andere Bezeichnungen sind lediglich Varianten der Bezeichnungen der Haut von Kartoffeln und es fragt sich, ob es sich dabei überhaupt um spezifische Bezeichnungen des erfragten Konzepts handelt. Zu „Bonbon“: »Täfeli« (zu ›Tafel‹) und »Zeltli« (zu »Zelte«, mhd. zelte ‘flacher Kuchen’): ursprünglich (schon im 16. Jahrhundert) ‘kleines, flaches Stück Süßigkeit’; »Trops/Tröpsli«: Entlehnung (engl. drops), entweder direkt aus dem Englischen oder über Vermittlung über das Standarddeutsche, wohl über den Handel; »Chröömli«: zu »Chroom« ›Kram‹, ursprünglich ‘kleines Mitbringsel von Marktbesuch’. Die zahlreichen Varianten von »Guetsli« (zu »guet« ›gut‹) und »Bonbon« (Entlehnung aus dem Französischen) wurden nur soweit einzeln gezählt, als der Zusammenhang mit »guet« stark verdunkelt ist.

Die Bezeichnungen von Nahrungszubereitungen des Typs b sind in der Regel sachlich neutrale, deskriptiv motivierte Bildungen. Für die Diversität selbst scheint es keine Rolle zu spielen, ob eine derartige Speise eine alte, traditionelle Zubereitung oder eine Neuerung aus jüngerer Zeit ist. Obwohl der Grießbrei, das Kirschenmus, das Butterbrot, die Brotrinde überregional wohl seit langem in der gleichen Weise bekannt gewesen sind, werden auch sie nicht weniger räumlich unterschiedlich bezeichnet als neuere Sachinnovationen wie der Flachkuchen mit Belag, die Konfitüre, das Fruchtbonbon oder Speiseherstellungen aus der neu importierten Kartoffel wie die Rösti oder der Kartoffelbrei oder der dabei anfallende Abfall beim Schälen roher Kartoffeln. Jedoch unterscheiden sich die einzelnen Onomemgeschichten und tendenziell die Benennungsverfahren. Im Falle des Nebeneinanders von »Brii/Brei« und »Mues« bei allen breiartigen Früchte- und Getreidezubereitungen wurde in Abschnitt 3.2.2 (S. 95) argumentiert, dass die Differenzen auf einen unterschiedlichen Ausgleich von Quasi-Synonymie zurückzuführen sind. Die beiden Ausdrücke sind auch im Wortschatz isolierte Grundwörter. Daneben kommen aber auch alternative Bezeichnungen vor, die innovativen Charakter haben. Sie sind nicht durch eine Sachinnovation motiviert. Es sind deskriptiv motivierte, eher situativ

Gegenstände des Alltagslebens

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entstandene Bezeichnungen. Neben althergebrachten Bezeichnungen wurden also offenbar auch aus der Situation heraus alternative Bezeichnungen eingeführt. Neuere Arten von Speisen sind der Flachkuchen mit Belag, die Konfitüre, die Rösti, der Kartoffelbrei und das Fruchtbonbon.98 Typischerweise werden derartige Sachinnovationen entweder mit deskriptiven neuen Wortbildungen oder mit Hilfe von vorbestehenden Bezeichnungen ähnlicher Sachen benannt. Speziell beim Flachkuchen mit Belag zeigt RHINER (1958) das komplexe Ineinander von Wandel in der Volkskultur mit Diffusion von Sachen und Gebräuchen und Innovation und Diffusion der dazugehörigen Bezeichnungen. Die mit dem Backen von Flachkuchen verbundenen Bräuche (z. B. Anlass zur Herstellung) entwickelten sich regional unterschiedlich, sie diffundierten, die entsprechenden Bezeichnungen wurden mit übernommen, oder es wurden je nach Kontext andere Bezeichnungen dafür als Innovation eingeführt. Diese unterschiedlichen Entwicklungen bei ›Brei/Mus‹ und beim Flachkuchen können auch als Muster für die Entwicklungen bei anderen Innovationen angenommen werden. Ein gemeinsames Merkmal bei den Onomemen des Diversitätstyps b besteht darin, dass es sich wenigstens in traditionellen Haushalten bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts um selbst hergestellte Speisen handelt. Aus dem Rahmen fällt hierbei lediglich „Fruchtbonbon“.99 Fruchtbonbons sind eine Neuentwicklung des 19. Jahrhunderts, und sie werden von spezialisierten Betrieben hergestellt oder importiert. Hier würde man eine großräumige Ausbreitung einer einheitlichen Bezeichnung erwarten, analog etwa zur Einheitlichkeit der Bezeichnung von Kaffee (s. SDS V 168). Die hohe Diversität und die lexikalischen Erscheinungsformen zeigen aber, dass bei „Fruchtbonbon“ andere Voraussetzungen der Einführung der Sache vorliegen müssen als bei Kaffee. Kaffee ist ein Naturprodukt wie Obst; es ist als Sache „vertikal“ verbreitet worden, als einheitliches Handelsprodukt aus der Übersee, das sich über überregionale Handelskanäle und als Genussmittel von Städten in ländliche Gebiete ausbreitete. Fruchtbonbons sind demgegenüber verarbeitete Produkte, die von verschiedenen Firmen in verschiedenartiger Form diversifiziert produziert und auf den Markt gebracht werden. Wie die verschiedenen Bezeichnungen zeigen, wurden sie als Sache auch nicht als völlig neue Erscheinung identifiziert. Es gibt Vorgängerprodukte, die von Zuckerbäckern hergestellt wurden und deren Bezeichnungen für das Fruchtbonbon übernommen wurden. Die alte Diversität bei den Vorgängerprodukten und die lokale Einführung in den Markt bewirken zusammen eine relativ hohe Diversität.

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Zur Sach- und Wortgeschichte von „Flachkuchen mit Belag“ s. RHINER (1958). Die Sache selbst dürfte nach den – allerdings nicht immer eindeutig zu interpretierenden – Belegen von ›Wähe‹ (Id. 15, 1092) seit dem 16. Jahrhundert bekannt gewesen zu sein; sie ist allerdings in manchen Gegenden erst im 19. Jahrhundert gebräuchlich geworden. Die ähnlich hohe Diversität bei „Abfall beim Schälen roher Kartoffeln“ ist anders gelagert; sie ist oft sekundär bedingt durch die Heteronymien bei „rohe Kartoffeln schälen“ und bei „Haut der Kartoffel“.

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Variationen in Diversitätsmustern

Diversitätstyp c: Hohe Diversität mit Tendenz zu expressiver Variantenbildung und regionaler Durchmischung

Onomeme

Varian- Varianten (Auswahl) tenzahl ca. 11

Niidel/Niidle, Ruum, Room/Raam, Raum, Pelz, Niidlepelz, Huut, Chüejer, Fäum, Schlämpe, Lämpe, Schlängge, Plämpel, Poppel

„Anfangsstück des Brotes“ (SDS V 171)

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Aaschnitt, Aahau(er), Aahäulig, Obenab/Obenääbli, Deckel, Gupf, Änggel, Murgg/Müürggel(i), Mutsch(el/-i), Bode/Bödeli, Chappe, Chäppli, Mütsch(li), Gruschte, Chropf, Zipfel, Zopf, Schäärbe, Muger(li), Götsch, Gutsch, Fuggs

„Überrest des Apfels “ (SDS VI 154, KSDS 150)

ca. 20

Üürbsi, Güürbsi, Güegi, Gröib(b)schi, Gigetschi, Gäggi, Grüüzi, Bäck, Bäxi, Bätz(g)i, Bätschgi, Biggsi, Bitzgi, Bitschgi, Bütschgi, Butschgi, Buschgi, Spuele, Murmutz

„Schicht auf gekochter Milch“ (SDS V 162)

Abb. 6.35: Nahrung – Diversitätstyp c

Anmerkungen: Zu „Schicht auf gekochter Milch“: »Chüejer«: zu »Chue« ›Kuh‹, ‘Kuhhirte’; »Fäum«: zu mhd. feim ‘obenauf befindliche Schaumschicht’; »Schlämpe«, »Lämpe«, »Schlängge«, »Plämpel«: Bezeichnungen für lose hängende Stoffstücke; «Poppel«: urspr. ‘nach Aufkochen auf der Sirte sich bildende Haut’. – Zur regional unterschiedlichen Differenzierung zwischen der Rahmschicht auf roher Milch und jener auf gekochter Milch s. auch Abschnitt 3.5.3.1, S. 123. – Zu „Anfangsstück des Brotes“: s. Abschnitt 3.4, S. 117. – Zu „Überrest des Apfels“: »Güürbsi«, »Üürbsi«, »Gröi(b)schi«. »Gröitschi«: Abwandlungen zu ahd. *griubiz (mhd. grubiz u. ä.) ‘Kerngehäuse’ (s. DWB 9, 254 s. v. Griebs); »Güegi«: zu »Gueg« ‘Käfer’ (ursprünglich wohl Bezeichnung der Blütennarbe des Apfels); »Gigetschi«: wohl Hybridbildung aus »Güetschi« und »Güegi«; »Bäck«, »Bäggsi«, »Bätz(g)i«, »Bätschgi«, »Biggsi«, »Bitzgi«, »Bitschgi«: nominale Ableitungen und lautliche sowie assoziative Abwandlungen davon zu mdh. bëck(ez)en/bick(ez)en ‘(mit spitzem Gegenstand) abschneiden’; »Bütschgi«, »Butschgi«, »Buschgi«: Hypridbildung bzw. assoziative Ableitungen dazu aus »Bitschgi« und »Butz« ‘Blütennarbe des Apfels’ > ‘Überrest des Apfels’; »Murmutz«: evtl. zu »Mutz« ‘kurzes Abgeschnittenes’.



Gegenstände des Alltagslebens

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Die Onomeme des Typs c zeichnen sich gegenüber jenen des Typs b durch große Diversität mit starker regionaler Durchmischung der Varianten und zahlreichen Spontanbildungen, wertenden Bezeichnungen, metaphorische Bezeichnungen und assoziativen Abwandlungen aus. Es handelt sich um Sachen, die in irgendeiner Weise aus dem Rahmen gewöhnlicher Nahrungsmittel oder ihrer Zubereitung fallen: Die Schicht auf gekochter Milch ist eine Erscheinung, die keinen Nährwert hat und bei vielen Menschen Widerwillen erweckt. Das Anfangsstück des Brotes weicht von seiner Form her von der üblichen Brotscheibe ab, wird nicht von allen gleich gern gegessen und ist deswegen auch oft Thema am Familientisch. Der Überrest des Apfels ist ein unbrauchbarer Rest nach dem Essen der Frucht. Kurz: Es handelt sich um Sachen, die zwar völlig unbedeutend sind, aber trotzdem im familiären Kontext außerhalb der Küche häufig zum Gesprächsthema werden. 6.5.3.2 Faktoren der Diversität In der Diversität der Benennungen von Nahrungsmitteln widerspiegelt sich der Stellenwert einer Speise oder eines Nebenprodukts in der lokalen Esskultur im Laufe der Geschichte. Je elementarer und zentraler und je älter in der Grundstruktur der Ernährung verankert eine Sache ist, je mehr sie eine Handelsware ist, desto geringer ist die Diversität. Inwiefern ein bestimmtes Produkt in einer Kultur ein zentrales Nahrungsmittel darstellt, ist historisch bedingt. Brot, Milch, Butter, Käse und in gewissem Maße auch Rahm sind seit jeher elementare Produkte der gemeinsamen Agrar- und Ernährungskultur der Alemannen in der Schweiz. Typischerweise ist die Wendung „Chääs und Broot“ in zahlreichen Redewendungen und Sprichwörtern eine feste Verbindung zur Bezeichnung von Grundnahrungsmitteln (Id. 3, 503–504). Die Benennungen dieser Nahrungsmittel sind von Anfang an der großen Sprechergemeinschaft gemeinsam und sie werden – mit einzelnen terminologischen Komplikationen – unverändert weitergeführt, auch bei Veränderungen der Herstellungsweise und Gestalt. Es sind auch Produkte, die eine große wirtschaftliche Bedeutung haben, als Ware gehandelt werden und in spezialisierten Betrieben von Personen mit speziellen Berufen hergestellt werden. Bei spezielleren Zubereitungen von Speisen ist innerhalb der traditionellen Kultur die Diversität größer. Derartige speziellere Nahrungsmittel sind zwar wichtige Bestandteile einer Esskultur, die Herstellung und der Genuss variiert jedoch nach Region, Jahreszeit, Wochentag und Verfügbarkeit der Ausgangsprodukte. Die entsprechenden Speisen werden speziell für die jeweilige Mahlzeit im Haushalt hergestellt. Die Ursachen und Anlässe der Heteronymie sind zwar je nach Geschichte eines Nahrungsmittels verschieden. So ist die Heteronymie bei „Brei“ teilweise daraus zu erklären, dass der Getreidebrei eine Art Grundnahrungsmittel war und das mittelhochdeutsche Wort muos ‘Speise’ die Bedeutung ‘Brei’ erhielt, weil die Alltagsspeise der Getreidebrei war, was zu QuasiSynonymie führte. Andererseits zeigen andere Heteronyme wie »Bappe« (so schon bei MAALER 1561, 315r) oder »Choch«, dass sogar bei dieser alten Alltagsspeise lexikalische Innovationen als Wortersatz vorkommen. Größer ist die Diver-

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Variationen in Diversitätsmustern

sität bei spezielleren Musspeisen aus bestimmten Früchten. Apfelmus und kompottartige Zubereitungen aus Kirschen oder Heidelbeeren haben auch unterschiedliche Konsistenz. Darin zeigt sich indirekt der Hauptgrund dafür, dass ein gewisses Maß an Diversität durchgehend besteht bzw. bestehen bleibt: Kochen und Essen sind lokal gebundene Tätigkeiten, die Herstellung von alltäglichen Speisen wird in der traditionellen Gesellschaft nicht großräumig vermittelt, sondern im kleinräumigen Kontakt zwischen Generationen und Bekannten. Dies gibt auch vermehrt Gelegenheit zu innovativen Neubenennungen. Auch die Diffusionsaffinität ist deshalb relativ gering. Immerhin gehören mancher Arten von Speisen als regional typisch zum Identitätsbewusstsein einer Region. Speisen und ihre Zubereitung sind einem regionalen Kommunikationsraum zuzuordnen. Einen Zwischenstatus nimmt innerhalb dieser Nahrungsmittelarten die Konfitüre ein: Zwar ist sie ein verhältnismäßig neues Produkt, die Zubereitung und der Gebrauch setzt aber ältere Produkte zurück, deren Bezeichnungen stark regional gefärbt waren, und diese Regionalität setzt sich auch bei der Neuerung fort, jedenfalls solange das Produkt im eigenen Haushalt hergestellt und nicht als Massenprodukt eingekauft wird. Je marginaler eine Sache in der Esskultur ist, desto höher ist die Diversität. Marginal sind Resten, Abfälle oder unbeliebte oder eigenartige Erscheinungen bei Nahrungsmitteln. Eine negative Bewertung, dass eine Sache als eigenartig empfunden wird oder dass sie Benennungsprobleme schafft, weil sie nicht unmittelbar einem gegebenen prototypischen Konzept zugeordnet werden kann, provoziert auch innovative situative Neubenennungen. Diese Umstände implizieren anders gesagt Innovationsaffinität. Diese marginalen Erscheinungen wie das Anfangsstück des Brotes oder der Überrest eines Apfels sind wegen ihrer geringen Relevanz nicht Sachen, die in größeren Gemeinschaften erörtert werden. Sie sind Thema im kleinen Kreis beispielsweise der Familie. Sie sind insofern auch diffusionsavers. Beides zusammen begründet die relativ hohe Diversität. Diversität hängt auch bei der Nahrung generell von der Relevanz einer Sache für bestimmte Kommunikationsräume ab. Diese Relevanz hängt wiederum von spezifischen kulturellen Bedingungen der Herstellungsformen, der Distribution und der Bewertung ab.

7 DIVERSITÄT UND ANLÄSSE VON WORTSCHATZWANDEL – VERSUCH EINER SYNTHESE Erklärungen für areale Diversität führen letztlich immer wieder zur Frage nach den Anlässen und Motivationen für Wortschatzwandel. Umgekehrt liefern Diversitätsmuster und deren Unterschiede zusätzliche Erkenntnisse über Wortschatzwandel. Die Ergebnisse der verschiedenen Analysen lassen sich wie folgt zusammenfassen: – In der lexikalischen Variation zeigen sich die möglichen Motivationen für Innovationen. – Für das Verstehen von Anlässen und Motivationen von Wandel ist nicht nur der Wandel selbst relevant, sondern auch die Abwesenheit von Wandel. – Nicht nur lokale Innovation, sondern auch Diffusion muss durch Anlässe und Motivationen begründet sein, denn auch Prozesse der Diffusion sind Formen des Wortschatzwandels. – Anlässe von Wortschatzwandel gibt es auf unterschiedlichen kognitiven und sprachlichen Ebenen: Wahrnehmung der Welt, kognitive Strukturierung der Welt in Konzepten, emotionale Beziehung zu Sachen, semantische Organisation von Konzepten im Wortschatz, formale Strukturen der Lexeme. – Anlässe zu einem Wortschatzwandel erwachsen aus konkreten Situationen. Potenziell ist jeder Wortschatzwandel ein individuelles Ereignis. Anlässe und Motivationen von Wortschatzwandel können immerhin nach Situationstypen typisiert werden. Solche Typisierungen müssen in mehreren Dimensionen erfolgen. Der Sachbereich bestimmt mit, welche Faktoren Anlässe zum Wortschatzwandel schaffen können. Der Grad und die Gestalt der Diversität hängt ferner von der Stellung der Sache im Ganzen eines Sachbereichs und von den Einstellungen der Sprechergemeinschaft zu dieser Sache ab. – Dass eine individuelle Innovation zur sprachlichen Konvention wird, bedarf ebenfalls der Begründung durch eine Motivation. Dieser Übergang vom individuellen Sprachgebrauch zur Konvention ist eine Folge sozialer Ereignisse. Ohne soziale Motivation zur einer Innovation würde die Konventionalisierung nicht stattfinden. Die Bevorzugung einer bestimmten Ausdrucksform unter mehreren Alternativen bedarf ebenfalls einer Motivation. Sie ist in der sozialen Stellung der Person oder Personengruppe zu suchen, die eine Ausdrucksform bevorzugt benutzt. – Aus der Diachronie eines Onomems lassen sich zusätzliche Informationen zur Frage der Anlässe und der Motivationen von Wortschatzwandel erschließen. Die diachronen Schichtungen von Heteronymen erweitern das Bild der möglichen Motivationen von Innovationen in einem Sachbereich.

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Diversität und Anlässe von Wortschatzwandel – Versuch einer Synthese

Allgemeine Schlussfolgerungen und Typisierungen müssen die Bedingungen des jeweiligen Sachbereichs berücksichtigen. In Kapitel 6 wurde eine beschränkte Anzahl von derartigen Sachbereichen untersucht. Schlussfolgerungen können sich entsprechend auch nur auf diese Ausschnitte beziehen. Immerhin betreffen die Sachbereiche relativ unterschiedliche Realitätsbereiche. Von Bedeutung ist zunächst, wieweit ein Sachbereich naturgegeben oder kulturbestimmt ist. Bei Naturerscheinungen, die außerhalb von direkter Beeinflussung durch den Menschen gegeben sind und als solche über lange Zeit immer gleichbleiben, kann Wortschatzwandel nicht aus Sachwandel begründet werden. Eine Motivation zu Wortschatzwandel kann hier nur darin bestehen, dass Benennungsbedürfnisse sich ändern. Derartige Veränderungen müssen in einer Veränderung der Wahrnehmung oder Bewertung begründet sein. Voraussetzung für eine Benennung ist allerdings, dass eine Naturerscheinung von der Sprechergemeinschaft überhaupt als identifizierbares Phänomen wahrgenommen wird. Eine derartige soziale Wahrnehmung ist je nach Sache unterschiedlich stabil und kontinuierlich. Was in der sozialen Wahrnehmung salient ist, dauerhaft als das Gleiche wiedererkannt wird, von wirtschaftlicher Bedeutung ist und nicht emotional bewertet wird, erhält ein für allemal eine einheitliche Benennung, die überregionale Geltung bekommt und nicht mehr verändert wird. Was wenig beachtet wird oder nicht klar von andern Sachen unterschieden wird, dessen Benennung geht vergessen und muss immer wieder neu gebildet werden, oder sie wird verwechselt und vertauscht. Die Kontinuität oder Diskontinuität der Benennung widerspiegelt die Kontinuität bzw. Diskontinuität der sozialen Wahrnehmung einer Sache über Generationen. Einheitliche Benennungen von prominenten Naturerscheinungen gehen im Schweizerdeutschen fast immer auf vorhistorische Prägungen zurück. Die Einheitlichkeit ist in diesen Fällen entweder auf vorhistorische Diffusion der einzelnen Ausdrücke oder auf die geografische Diffusion der Sprechergemeinschaften an sich zurückzuführen: Mit der Ausbreitung der alemannischen Bevölkerung in der heutigen Deutschschweiz durch Einwanderung und Kolonialisierung unbebauter Gegenden breitete sich auch die Benennung einer Sache aus. Die Einheitlichkeit etwa von Baumbezeichnungen, die auf vorhistorische Wurzeln zurückgehen, ist somit zum Teil von konkreten außersprachlichen historischen Bedingungen bestimmt. Diversität in manchen Sachbereichen entwickelte sich dabei dadurch, dass die Einwanderer im Kontakt mit der ansässigen Bevölkerung Benennungen von Sachen übernahmen, die sie erst in ihrem neuen Wohngebiet kennenlernten. Diversität andererseits entsteht zudem daraus, dass für bestimmte, unscheinbare oder unwichtige Sachen im Kontext des Ganzen keine kontinuierliche oder sichere soziale Wahrnehmung gegeben ist. Deren Konzeptualisierung ist oft zufällig und vergänglich oder es unterlaufen Verwechslungen zwischen ähnlichen Sachen. Anlässe zu Wortschatzwandel bestehen potenziell in diesen Fällen darin, dass eine derartige Sache immer wieder neu benannt wird. Verwandt mit dieser Situation, aber auf der Ebene der Sprachform, sind Probleme bei der unmittelbaren Sprachwahrnehmung, die Anlässe zu lexikalischem Wandel in der Form von assoziativen Weiterbildungen geben. Weitere Anstöße zu Bezeichnungswandel bei Naturphänomenen sind das Bedürfnis, innerhalb eines Sachbereichs nach-

Diversität und Anlässe von Wortschatzwandel – Versuch einer Synthese

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träglich zusätzlich besondere Unterscheidungen zu treffen, und ein Ausdrucksbedürfnis, das Bedürfnis, ein besonders beeindruckendes Phänomen neu mit besonders expressiven Sprachmitteln zu bezeichnen. Je stärker ein Sachbereich von historisch kontingenten Bedingungen bestimmt ist, desto eher spielt Sachwandel eine Rolle und desto eher wird durch Sachwandel Wortschatzwandel bewirkt. Nicht jeder Sachbereich ist in der Geschichte der letzten Jahrhunderte gleich stark von Sachwandel berührt. Die Tiere in der Landwirtschaft haben sich in der Schweiz weniger geändert als Kleider, Möbel und Nahrungsproduktion. Innovationen und areale Diversität bei der Benennung von Haus- und Nutztieren sind entsprechend am ehesten aus besonderen Ausdrucksbedürfnissen zu erklären, nur selten durch Wandel in der Tierhaltung. Am stärksten von den konkreten historischen Bedingungen beeinflusst sind vom Menschen hergestellte Gegenstände wie Möbel, Kleidung oder Werkzeuge. Sachwandel führt allerdings auch hier nicht notwendigerweise zu lexikalischen Innovationen. Sachliche Veränderungen werden oft als Fortführung alter Konzept- und Handlungsmuster interpretiert. Die konzeptuelle Kontinuität widerspiegelt sich entsprechend in lexikalischer Kontinuität. Ob lexikalische Innovationen zur Benennung neu eingeführter oder weiterentwickelter Gegenstände zu Diversität führen oder nicht, ist ebenfalls von den konkreten historischen Rahmenbedingungen abhängig. Sachinnovationen können lokal selbständig entwickelt werden, sie erhalten dann lokal unterschiedliche Bezeichnungen, was wiederum in arealer Diversität resultiert. Dies gilt vor allem für Sachen, die ad hoc in einem engeren Kommunikationsbereich hergestellt und nicht als Handelsware über weitere geografische Räume verbreitet werden. Sachinnovationen können auch aus einer einheitlichen Quelle importiert werden; mit der Sache wird dann auch die Benennung importiert, was zu sprachlicher Homogenität im ganzen Gebiet führt, in dem der Besitz und der Gebrauch der Sache eingeführt worden ist. Die sprachliche Homogenität ist in diesem Fall nicht auf lexikalische Diffusion, sondern auf Diffusion der Sache zurückzuführen. Da viele Gebrauchsgegenstände auch Handelsware sind, ist aber auch der Austausch der Sache selbst an sich ein Faktor, der zur Diffusion und damit zur Einheitlichkeit von Bezeichnungen führen kann. Ein besonderer Sachbereich zwischen naturgegebenen und kulturbestimmten Phänomenen ist elementares Körperverhalten. Die Körperlichkeit ist dem Menschen an sich unmittelbar gegeben, vergleichbar mit Naturerscheinungen. Elementare körperliche Verhaltensweisen des Alltags wie Stehen, Liegen, Sitzen, starke oder schwache Arten des Berührens oder das Werfen von Gegenständen werden kaum je neu erfunden oder geändert. Es müsste deshalb theoretisch auch keinen Anlass geben, einmal eingeführte Benennungen zu ändern. Körperverhalten ist jedoch von kulturellen Erwartungen und Normen bestimmt. Von Bedeutung für die Versprachlichung einer Handlung sind vor allem die soziale Geltung einer Handlung und die emotionale Einstellung dazu. Für Standardhandlungen, die sozialen Regeln folgen und übliche, unauffällige Verhaltensweisen in bestimmten Situationen sind, entwickeln sich grundsätzlich Standardbezeichnungen, die auch nicht mehr geändert werden. Kontinuität der Bezeichnungen widerspiegelt aber auch hier Kontinuität der Konzepte, in diesem Falle auf der Ebene des sozialen

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Diversität und Anlässe von Wortschatzwandel – Versuch einer Synthese

Verhaltens. Anlässe zu Wortschatzwandel ergeben sich einmal aus dem Problem, das bestimmte Handlungen so variabel sind, dass sie nur schwer als bestimmte Handlungen voneinander abzugrenzen und zu konzeptualisieren sind. Diese Unbestimmtheit hängt auch damit zusammen, dass diese Handlungen in der Regel nicht sozial geregelt und standardisiert sind. Benennungen für derartige Handlungen entwickeln sich aus unterschiedlichen behelfsmäßigen Umschreibungen. Andere Motivationen zur sprachlichen Innovation bestehen im Bedürfnis, für markante körperbetonte oder eine vom Standard abweichende Handlungen, vor allem für missglückende oder belästigende Handlungen, eine expressive Benennung zu schaffen. Dieses Bedürfnis schafft sich Raum in kreativen Innovationen. Die konkrete Form dieser Innovationen ist nicht vorhersehbar und lokal unterschiedlich und führt somit in diesen Fällen zu größerer arealer Diversität. Diversität zeigt die spezifische Wahrnehmung und Regelung von Verhalten in der Gesellschaft. Insgesamt dominieren von den denkbaren Motivationen zu lexikalischen Innovationen in den Bereichen des Alltagslebens, die hier untersucht wurden, vor allem Neubenennungen von neuentwickelten Konzepten und von Sachinnovationen. Einen Teilbereich von konzeptuellen Innovationen bilden konzeptuelle Differenzierungen innerhalb bestehender Sachbereiche. Direkter Wortersatz kommt seltener vor. Er ist am ehesten durch das Bedürfnis bestimmt, expressive Sachbenennungen zum Ausdruck von besonderen affektiven Einstellungen zu einer Sache zu kreieren. Nicht zu unterschätzen ist im Schweizerdeutschen daneben Wortersatz in der Form der assoziativen Abwandlung aufgrund von Wahrnehmungund Konzeptualisierungsproblemen auf der rein formalen Ebene des Sprachausdrucks. Jedoch konzentriert sich assoziative Abwandlung auf bestimmte Wortschatzbereiche, solche, die weniger wichtige Sachen betreffen und die nur in kleinen Kommunikationsräumen thematisiert werden. Wortersatz ist ansonsten hauptsächlich über Zwischenstufen das Ergebnis von Bedeutungswandel, z. B. infolge konzeptueller Unschärfe und Entwicklungen, der damit verbundenen Entstehung von Quasi-Synonymie und deren Beseitigung durch Monosemierung. Soziale und wirtschaftliche Relevanz impliziert aber generell konzeptuelle Standardisierung, was den Wortgebrauch stabilisiert und bringt Kontinuität des Sprachgebrauchs mit sich bringt. Diversität und Einheitlichkeit des Wortschatzes sind je nach Sachbereich, Sachtyp und historischen Voraussetzungen unterschiedlich zu erklären. Im Einzelfall wirken verschiedene Faktoren zusammen. Die gängigen Erklärungen, die den Fokus auf bestimmte Eigenschaften von Sachen legen, treffen zwar wichtige Aspekte, greifen aber meist zu kurz, da sie eine statischen Betrachtungsweise zugrundelegen, die Entstehungsgründe für Heteronymie oder Einheitlichkeit und die Motivationen für sprachliche Innovationen ausblenden und die Unterschiede zwischen den möglichen Erscheinungsformen von Diversität nicht beachten. Die areale Diversität des Wortschatzes konkretisiert sich in sehr unterschiedlichen Diversitätsmustern. Darin zeigt sich die Vielschichtigkeit des sprachlichen Umgangs mit der vielschichtigen Realität und seine Veränderlichkeit in der Zeit. Areale Diversität macht die historischen Entfaltungsmöglichkeiten sprachlicher Kreativität im Raum sichtbar.

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WILDHABER, ROBERT (1973): Bäuerliche Bremsvorrichtungen an Wagen und Schlitten. In: FENTON, ALEXANDER / JÁN PODOLÁK / HOLGER RASMUSSEN / BÉLA GUNDA (eds.): Land transport in Europe. Copenhagen: Nationalmuseet, 488–512.

REGISTER DER BEHANDELTEN SDS-KARTEN (ein-/aus-)gießen (SDS V 218) 231 Abend (SDS I 61) 227 Abfall beim Schälen roher Kartoffeln (SDS V 203) 63, 70, 357 Ablagebrett (SDS VII 177) 346 Ahorn (SDS VI 138) 287 Alpenerle (SDS VI 139) 284 Altersstufen des (weiblichen) Rindes (SDS VIII 14) 322 Ameise (SDS VI 229) 210, 223, 253, 267 Anfangsstück des Brotes (SDS V 171) 48, 117, 155, 167, 238, 360 annähen (Knopf) (SDS VII 77) 48, 89, 228 Anzug des Mannes (SDS V 121) 65 aufheben (SDS V 217) 312 ausruhen (SDS IV 113) 140, 155, 221 Bank (SDS VII 183) 342 Beerenwanze (SDS VI 236) 271, 277 bellen (SDS VIII 119) 218 Bett (SDS I 15) 227 Bett (SDS VII 201) 342 Biene (SDS VIII 105) 95, 217 Blättermagen (SDS VIII 26) 52 blitzen (SDS VI 38) 62, 304 Blumen gießen (SDS VI 218) 153, 155, 248 Bonbon (SDS V 212) 66, 237, 250, 357 Brei/Mus (SDS V 193/194) 95, 357 Bremse (SDS VI 233) 264 Brot (SDS I 99) 355 Brotgestell (SDS VII 112) 69 Brotrinde (SDS V 173) 58, 190, 232, 356 bücken, sich (SDS VII 172) 48, 312 Buschbohne (SDS VI 197) 61, 179, 222, 235, 254 Butter (SDS V 179) 229, 355 Butterbrot (SDS V 178) 356 donnern (SDS VI 37) 304 Eber, (junger) kastrierter (SDS VIII 80) 327 Esslätzchen (SDS V 137) 353 Fangen spielen (SDS V 86) 203 Fasnachtslarve (SDS V 63) 229 Fensterladen (SDS VII 174/175) 77 Ferkel (SDS VIII 78) 327 Flachkuchen mit Belag (SDS V 187) 356 flicken (SDS VII 76) 66

Fliege (SDS I 136) 227, 264 Föhre (SDS VI 128) 57 Füllen (SDS VIII 116 Zusatzlegende) 333 Fußtritt versetzen (SDS IV 87) 313 Gänseblümchen (SDS VI 125) 219, 299 Gänsehaut (haben) (SDS IV 57) 254 gären lassen (Hefeteig) (VII 101) 182, 247 Gerstenkorn am Lid (SDS IV 53) 54, 57 Getreide (SDS VIII 192) 81, 87, 151 Glockenschwengel (SDS V 43) 86, 118, 218 Glühwürmchen (SDS VI 228) 271, 277 graupeln (SDS VI 46) 305 grunzen (vom Schwein) (SDS VIII 89) 71, 196 Hahn (SDS VIII 94) 143, 169, 231, 334 Hauswiese (SDS VI 90) 70 Hecke (SDS 208) 122 Hemd (SDS V 127) 349 Hengst, kastrierter (SDS VIII 109) 333 herumkriechen (von Kindern) (SDS V 7) 314 Heuergerät (SDS VIII 183) 48, 66 Heuschrecke (SDS VI 222) 49, 215, 268 Hocker (SDS VII 179 III) 344 holen (SDS V 215) 232 Holunder(beere) (SDS VI 150) 285 Holzsplitter in der Haut (SDS IV 29) 99, 231 Hose (SDS I 43, V 154u) 349 Hosenträger (SDS V 125) 352 Huhn (SDS VIII 92/93) 334 Hund (Gattung) (SDS 117 II) 336 Hündin (synthetische Bezeichnung (SDS VIII 118) 337 Jungschwein (SDS VIII 83–86) 327 Käfer (SDS VI 223/224) 264 Kalb, ganz junges (frischgeborenes) weibliches (SDS VIII 16) 322 Karfreitagsklapper (SDS V 67) 51 Kartoffel (SDS VI 202) 88, 106 Kartoffelbrei (SDS V 198) 357 Kartoffeln häufeln (SDS VI 210) 180, 248 Kartoffeln stecken (SDS VI 204) 183 Kartoffelraffel (SDS VII 198) 48, 63, 111 Käse (SDS V 198) 355

Register der behandelten SDS-Karten Kater (synthetische Bezeichnung) (SDS VIII 125) 337 Katze (Gattung) (SDS VIII 123) 337 Katze, weibliche (synthetische Bezeichnung) (SDS VIII 124) 337 kauern (SDS IV 39) 230, 311 Kehrichthäufchen (SDS VII 94) 48, 76 Keuchhusten (SDS IV 116) 57 Kinn (SDS IV 23) 47 Kirschenmus (SDS V 196) 357 Kleidermotte (SDS VI 242) 264 Kleiderschrank (SDS VII 190) 345 klemmen/kneifen (SDS IV 91/92) 88, 121, 312 Klemmflecken am Finger (SDS IV 47/48) 99, 154, 155, 156 knarren (von der Tür) (SDS V 136) 51 knien (SDS IV, 37) 310 kochen (Fleisch) (SDS V 205) 231 kochen (Wäsche) (SDS VII 87) 96 Kommode (SDS VII 188) 345 Konfitüre (SDS V 191) 87, 109, 357 Kopfkissen, kleines (SDS VII 186) 57, 122 Korb (SDS VIII 105) 217 KÖRBE (Konzeptfeld) (SDS VII 62–68) 125 Küchenschrank (SDS VII 191) 345 Küchenzwiebel (SDS VI 179) 228 Küken (SDS VIII 95) 334 Kuss (SDS V 21) 73 Lehm (SDS VI 74) 95, 121 Löwenzahn (SDS VI 123) 48, 67, 251, 254, 298 Mähne (SDS VIII 113) 156 Maikäfer (SDS VI 226) 271, 277 Männchen (analytische Bezeichnung) (SDS VIII 117, 122, 125) 336 Marienkäfer (SDS VI 227) 67, 269 Mistplatz (SDS VII 229) 63, 243, 245 Mumps (SDS IV 55) 54, 212 Mutterschwein (SDS VIII 81) 327 Nagelfrost (SDS IV 59) 52, 208 Nebel (SDS VI 43) 304 niesen (SDS IV 67) 234, 250 Oberteil des männlichen Anzugs, Jackett (SDS V 123) 65, 236, 350 Ofenkrücke (SDS VII 110) 181, 223 Ohrwurm (SDS VI 221) 269 Papiersack (SDS V 211) 58 Pfeife aus Löwenzahnstängel (SDS V 93) 51, 101 Pferd (Gattungsbezeichnung) (SDS VIII 107) 333

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pflügen (SDS VIII 184) 218 Pfütze (SDS VI 40) 55, 57, 87, 238 Pulswärmer (SDS V 135) 352 quatschen (von durchnässten Schuhen) (SDS VI 41) 238, 251 Quetschflecken auf der Haut (SDS IV 45/46) 157, 170, 180 Rahmschicht auf roher Milch (SDS V 161) 355 Raureif (SDS VI 45) 305 Regenbremse (kleine Bremse) (SDS VI 234) 67, 69, 271, 277 Regenschirm (SDS V 153) 105 Regenwurm (SDS VI 220) 141 regnen (SDS VI 36) 304 rein, unvermischt (SDS VI 167) 156 Reisigbündel (SDS VIII 155) 58, 121, 149, 172 Rösti (gebratene geriebene Kartoffeln (SDS V 197) 357 Rückentraggefäß für den Milchtransport (SDS VII 44) 221 Rückentragkörbe (SDS VII 66) 125 Rüde (synthetische Bezeichnung) (SDS VIII 117) 336 Sau, junge (SDS VIII 82) 327 Schale des Apfels (SDS VII 153) 47 schälen (rohe Kartoffeln) (SDS V 201) 183 scharren (der Hühner beim Futtersuchen) (SDS VIII 98) 155, 156 schaukeln (auf der Balkenschaukel) (SDS V 85, 51 scheuern (des Bodens) (SDS VII 97) 64 Schicht auf gekochter Milch (SDS V 162) 360 SCHICHT AUF MILCH (Konzeptfeld) (SDS V 161–163) 81, 123 schimmlig riechen/aussehen (von Wäsche) (SDS 147/148) 49 Schlittschuh laufen (SDS V 102) 49 Schluckauf (SDS IV 71) 51, 91 Schlüsselblume, hochstänglige (SDS VI 122) 298 Schmetterling (SDS VI 237/238) 53, 73, 90, 219, 268, 274 schnarchen (SDS IV 77/78) 155, 156, 160, 168 Schnee (SDS I 95) 227, 304 Schneidbank zur Bearbeitung von Holz (SDS VIII 158) 61, 222 schneiden (SDS VII 84) 73 Schnuller (SDS V 5, 6) 51

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Register der behandelten SDS-Karten

Schnupfen (SDS IV 63) 52, 57, 174, 220 Schublade (SDS VII 189) 103, 192, 244, 345 Schürze (SDS V 142) 50, 113, 155, 156, 352 Schwarmmücke (SDS VI 235) 264 Schwein (Gattung) (SDS VIII 77) 327 Sessel (SDS VII 179 III) 80, 342 Sitzstange für Hühner SDS VIII 101, 55 Sofa (SDS VII 181) 53, 108, 344 Sommersprossen (SDS IV 43/44) 155, 156, 234, 249 spielen mit Marmeln (SDS V 90) 49, 63 spielen mit Spielzeug (SDS V 74) 64 Spielpuppe (SDS V 73) 171, 237 Spinne (SDS VI 239) 268 springen (von einem Stuhl hinunter) (SDS V 83) 312 Stabelle (Stuhl mit Brettlehne) (SDS VII 179) 344 Stalljauche (SDS VII 230) 49, 189, 243 Stangenbohne (SDS VI 198) 48 Stechmücke (SDS VI 235) 271 Stier, kastrierter (SDS VIII 4) 322 stolpern (SDS VII 171) 115, 314 stottern (SDS IV 69) 214 Strümpfe (SDS V 154u) 349 Stuhl (SDS VII 178) 80, 342 stupfen (mit dem Finger) (SDS IV 83/85) 155, 156, 313 stürmisch schneien (SDS VI 47) 238, 305 stürzen (SDS VII 171 III) 310 Stute (SDS VIII 110) 333 Sumpfdotterblume (SDS VI 118) 298 Taschentuch (SDS V 139) 66, 353 Tasse (SDS VII 194) 108 Teigrest (SDS VII 106) 63 Traggriff des Melkeimers (SDS VII 20) 69 Truhe (SDS VII 192) 345, 346 Überbleibsel (vom Futter) in der Futterkrippe (SDS VIII 31) 63

Überrest des Apfels (SDS VI 154) 360 Veilchen (SDS VI 119) 223, 233, 251, 298 Viehweglein (SDS VI 73) 57, 145, 218, 233 Vogelbeere (SDS VI 138) 290 Vorteig (SDS VII 102) 49, 69 Wacholderbeere (SDS VI 149) 286 Wagenbremse (SDS VIII 166) 105 Waldameise (SDS VI 232) 53, 209, 271, 277 waschen (mit Aschenlauge) (SDS VII 88) 229 Weberknecht (SDS VI 241) 49, 271, 278 wegstoßen (mit der Hand/Faust) (SDS IV 84) 313 Weibchen (analytische Bezeichnung) (SDS VIII 118, 122, 124) 336 WEINEN (Konzeptfeld) (SDS IV 97–110) 133 werfen (Steine) (SDS V 104) 233, 313 Wespe (SDS VI 231) 264 Weste (SDS V 124) 350 Wiese (SDS VI 93) 97 Wind (SDS VI 55) 305 Wolke ( (SDS VI 42) 304 Zaun (SDS VIII 207) 78, 94, 122, 217 Zicklein (VIII 52) 331 Zicklein, weibliches (SDS VIII 53) 331 Ziege (SDS VIII 50) 331 Ziege, junge (SDS VIII 54) 331 Ziegenbock (SDS VIII 51) 331 Ziegenbock, kastrierter (SDS VIII 51) 331 ziehen (Wagen) (SDS VIII 174) 310 Zöpfe (SDS IV 7) 57, 231 zu wenig gesalzen (von der Suppe) (SDS V 170) 69, 101, 156, 173, 191 Zuchteber (SDS VIII 79) 327 Zuchtstier (SDS VIII 3) 92, 322 zusammenstoßen (Ostereier) (SDS V 65) 51, 213

Lars Bülow

Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell

Zeitschrift für Dialektologie unD linguistik – Beiheft 166 Angesichts der Fülle von existierenden Sprachwandeltheorien entwickelt Lars Bülow in diesem Band ein allgemeines und integratives Sprachwandelmodell auf der Grundlage der Evolutionstheorie. Bülow versteht sowohl den Idiolekt als auch die abstrakten Varietäten als dynamische und komplexe adaptive Systeme: Auf dieser Grundlage kann er zeigen, dass sich die zentralen Konzepte der Evolution – Replikation, Variation und Selektion – als hilfreich erweisen, um Sprachwandel im Spannungsfeld zwischen Sprachgebrauch, Sprachstruktur, kognitiver Sprachverarbeitung und -politik adäquat zu erklären. Was es für die Analyse von Sprachwandel bedeutet, komplexe adaptive Systeme als evolutionäre Systeme zu verstehen, wird anhand zweier Fallstudien verdeutlicht: Zum einen am Beispiel der Exaptation des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch und zum anderen anhand der Herausbildung multiethnolektal geprägter Sprechweisen. Hier zeigt sich, dass das konkrete Sprachhandeln der Individuen zu nicht intendierten Strukturen auf der abstrakten Varietätenebene führen kann.

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Alexandra N. Lenz / Ludwig Maximilian Breuer / Tim Kallenborn / Peter Ernst / Manfred Michael Glauninger / Franz Patocka (Hg.)

Bayerisch-österreichische Varietäten zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Dynamik, Struktur, Funktion 12. Bayerisch-Österreichische Dialektologentagung

Zeitschrift für Dialektologie unD linguistik – beiheft 167 Bayerisch-österreichische Varietäten und ihre Dynamik, Struktur und Funktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts bilden mehr denn je einen ebenso herausfordernden wie lohnenden linguistischen Gegenstandsbereich. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes präsentieren in ihren Beiträgen die zentralen Ergebnisse der 12. „Bayerisch-Österreichischen Dialektologentagung“: von grammatischen und typologischen Problemstellungen über Formen des urbanen Sprachgebrauchs und Aspekte der Standardvarietät(en) bis hin zu Sprachwandel und Sprachkontakt. Dabei werden auch einschlägige Phänomene außerhalb des bayerisch-österreichischen Raumes fokussiert. In diesem breiten Spektrum an inhaltlichen Ausrichtungen und entsprechenden methodischen Ansätzen spiegeln sich einerseits dialektologische Konstanten wider. Andererseits manifestiert sich darin die Transformation der Dialektologie hin zur soziolinguistisch orientierten Regionalsprachenforschung. In diesem Zusammenhang kommt nicht zuletzt auch der Einbeziehung der attitudinal-perzeptiven Sprachdimension große Bedeutung zu.

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Sprachliche Unterschiede zwischen Dialekten gehen auf Sprachwandel zurück. Anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) untersucht Andreas Lötscher diesen Zusammenhang erstmals systematisch für den Wortschatz, nachdem sonst vor allem Laute und Formen im Fokus stehen. Er zeigt, wie unterschiedliche Prozesse des lexikalischen Wandels zu vielfältigen, historisch geschichteten Mustern von lexikalischen Differenzen im Raum führen und synchron unterschiedliche Typen von Heteronymie kreieren. Um die Vielfalt der Formen von lexikalischer Variation im Raum fass- und beschreib-

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bar zu machen, entwickelt Lötscher einen mehrdimensionalen Ansatz, der neben der räumlichen Verteilung der Varianten auch die historische Dimension (einschließlich Sachwandel und Sachgeschichte) und die lexikalischen Erscheinungsformen der Variation einbezieht. Die detaillierte Analyse des reichen Materials des SDS bringt empirisch fundierte Erkenntnisse auch von allgemeinerer theoretischer Relevanz zu Formen und Anlässen von lexikalischem Wandel, dem Wesen von Heteronymie, den kreativen Verfahren der Alltagssprache und der Historizität des Alltagswortschatzes.

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