Schweiz schreiben: Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur 9783484970526, 9783484108127

The volume examines how historically and culturally effective Swiss myths have been re-formed and continued, handed down

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Schweiz schreiben: Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur
 9783484970526, 9783484108127

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Wie die Schweizer Literatur in Dublin zu sich selbst kam
Einleitung: ›Mythos Schweiz‹
Was bleibt nach den Mythen?
Gefängnis Schweiz oder Bergnebel Seldwyla?
Der Kitt der Katastrophen
Hallers Die Alpen, mythenkritisch reflektiert in Brandstetters Almträume
Der Berg – das Hirn
Bergzauber
Nation aus dem Sumpf
Der Rote Pfeil oder Die bewegte Nation
Performing Swiss Heimat
Zur Entmythologisierung des Schweizer Selbstbildnisses
Europa wird entweder untergehen oder verschweizern
Par distance und aus der Enkelperspektive
Otto Marchi und die Vergangenheit
Mythos Kulturgraben
An den Kreuzungen der Sprachen
Milch – Migration – Mythos
Unschweizerische Schweizerliteratur?
Sprachgier und Sprachskepsis
Ein keltisch-helvetisches Netz

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Schweiz schreiben

Schweiz schreiben Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur Herausgegeben von Jürgen Barkhoff und Valerie Heffernan

De Gruyter

ISBN 978-3-484-10812-7 e-ISBN 978-3-484-97052-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Adolf Muschg Wie die Schweizer Literatur in Dublin zu sich selbst kam........................................................................................ 1 Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan Einleitung: ›Mythos Schweiz‹. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Schweizerischen in der Literatur................................ 7

Teil I – Mythos Schweizerliteratur Peter von Matt (Zürich) Was bleibt nach den Mythen? Plädoyer für einen neuen Blick auf das literarische Nachdenken über die Schweiz................................... 31 Michael Böhler (Zürich) Gefängnis Schweiz oder Bergnebel Seldwyla? Zur Frage von Raum- und Zeitbindung der Schweizer Literatur............. 45

Teil II – Mythos Alpen Peter Utz (Lausanne) Der Kitt der Katastrophen ......................................................................... 65 Hans-Jürgen Schrader (Genf) Hallers Die Alpen, mythenkritisch reflektiert in Brandstetters Almträume....................................................................... 77 Thomas Feitknecht (Bern) Der Berg – das Hirn. Wandel des Bergbildes in der Gegenwartsliteratur der deutschen Schweiz....................................... 95 Andrew Liston (Giessen) Bergzauber. Franz Bönis mythische Bergwelten.................................... 105

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Inhaltsverzeichnis

Teil III – Mythos Eidgenossenschaft Hans-Georg von Arburg (Lausanne) Nation aus dem Sumpf. Pfahlbauergeschichten oder literarische Konstruktionen eines anderen ›Mythos Schweiz‹ ............... 117 Reto Sorg (Lausanne/Fribourg) Der Rote Pfeil oder Die bewegte Nation. Vom literarischen Mehrwert der Eisenbahn bei Peter Bichsel und Peter Weber................. 139 Richard R. Ruppel (Wisconsin) Performing Swiss Heimat. Zu Geschichte und Funktion des traditionellen Bundesfeierspiels........................................ 159 Michael Butler † Zur Entmythologisierung des Schweizer Selbstbildnisses. Die ›Schweizer Stücke‹ von Herbert Meier............................................ 177

Teil IV – Mythos Sonderfall Jürgen Barkhoff (Dublin) Europa wird entweder untergehen oder verschweizern. Konjunkturen einer Diskursfigur ............................................................ 197 Charlotte Schallié (Victoria) Par distance und aus der Enkelperspektive. Thomas Hürlimanns entstellte Schweiz.................................................. 215 Malcolm Pender (Strathclyde) Otto Marchi und die Vergangenheit........................................................ 231

Teil V – Mythos Multikulturalität Sabine Haupt (Fribourg) Mythos Kulturgraben. Literaturpolitische Diskurse und Realitäten innerhalb und jenseits der Sprachgrenzen ...................... 243 Christa Baumberger (Bern) An den Kreuzungen der Sprachen. Texte von Yusuf Yeúilöz und Dragica Rajþiü ........................................ 255 Moray McGowan (Dublin) Milch – Migration – Mythos. Beat Sterchis Roman Blösch (1983) ....................................................... 269

Inhaltsverzeichnis

VII

Teil VI – Mythos literarischer Gegendiskurs Valerie Heffernan (Maynooth) Unschweizerische Schweizerliteratur? Ruth Schweikert, Peter Stamm, Zoë Jenny............................................. 283 Martin Zingg (Basel) Sprachgier und Sprachskepsis. Über Jürg Laederach............................. 297

Teil VII – Mythos Irland Siobhán Donovan (Dublin) Ein keltisch-helvetisches Netz. Mythen, Märchen und Magie in Gabrielle Alioths Kinderromanen .................................... 309

Adolf Muschg

Wie die Schweizer Literatur in Dublin zu sich selbst kam

Als meine Frau und ich, am Ende der Dienstzeit an der Akademie der Künste, unseren Aufenthalt in Berlin zu verlängern gedachten, sahen wir uns am Prenzlauer Berg einige Wohnungen an und hielten es noch für Zufall, daß sie sich, nach Auskunft der Agentur, durchweg in irischem Besitz befanden. Außerdem kamen uns die neuen Einheimischen um den Kollwitzplatz herum reichlich jung vor. Aber erst als wir auf unseren Streifzügen durch Dublin (in den paar Stunden, die wir von unserem Schweiz-Colloquium abkommen konnten) einem noch größeren Gedränge junger Leute begegneten, begann sich der Zusammenhang IrlandJugend als signifikant zu befestigen. Er verdichtete sich zu einem generellen Verdacht, als ich gleich danach, auf Recherche für einen Roman, im polnischen Zgorzelec unterwegs war: Europa grünt und wächst an seiner Peripherie, wie ein Baum unter seiner Rinde; neben dem physiologisch aktiven Splintholz kann das Stammholz alt aussehen, ein Kontrast, der sich mir in der geteilten Stadt an der Neiße besonders plastisch eingeprägt hat. Das deutsche Görlitz ist zu einer Bilderbuchstadt restauriert, der es an nichts fehlt als an Menschen; dagegen ist, was einst die Gartenstadt am Ostufer war, von der ›Platte‹ spektakulär häßlich zugebaut. Aber jenseits der Denkmalpflege gibt es Buchläden, in denen sich junge Leute drängen, um die Bücher, die sie nicht kaufen können, wenigstens zu lesen, und die Wachheit der Gesichter, die einem auf der Straße begegnen, kann nicht nur das Werk katholischer Disziplin sein. Schon Enzensberger hat sein Europa an den Rändern des Kontinents angesiedelt, jenen ›hereinbrechenden Rändern‹, in denen der Dichter Ludwig Hohl (der in seinem Genfer Keller selbst so randständig wie menschenmöglich hauste), den Erreger der Kultur festgestellt hat. Irland und die Schweiz: Was haben sie heute gemeinsam? Ins Unreine gesprochen: ihre Insularität, die in einem Fall geographisch, im andern politisch begründet ist; dort ein Schicksal, hier eine Sache mehr oder minder freier Wahl paradox genug erwachsen aus der Lage in der Mitte des Kontinents. An der faktischen Zugehörigkeit der Schweiz zu Europa kann kein Zweifel bestehen, aber gerade, weil sie mit Überwältigung drohte, verschrieb sich das Land einem Zustand ›bewaffneter Neutralität‹ und wurde so eins mit ihm, daß die Schweizer sogar vergessen haben, daß er ihnen eigentlich von den Großen verschrieben wurde, 1815 am Wiener Kongreß. Diese Neutralität war Teil und Ausdruck eines Gleichgewichtssystems, das die damaligen Großmächte ihrer eigenen Rivalität, ihrem Expansionsbedürfnis und Kriegszwang auferlegt hatten. Eine solche Friedensordnung konnte nur labil sein, aber die Schweiz machte sich ihren Anteil daran identitätsbildend zunutze. Die verlangte waffentragende Enthaltsamkeit versprach Frieden wenigstens für ihr eigenes Territorium. Diese Chance aber war wiederum an einen hohen Grad innerer Friedenspflicht gebunden. Der Belagerungs-

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Adolf Muschg

zustand, auf den man jederzeit gefaßt sein mußte, gebot den Belagerten, ihre Gegensätze klein zu halten, und schuf jene Kultur der Konkordanz und der Kompromißfähigkeit, die sich geradezu an die Stelle des Nationalgefühls gesetzt hat. Worauf hätte sich ein solches in einer in sich so widersprüchlichen Föderation kleiner und kleinster Staatswesen auch stützen sollen? Es ist aber besonders anspruchsvoll, sich auf seine sprachliche, konfessionelle, politische Vielfalt etwas zugute zu halten. Und die Schweiz des 19. Jahrhunderts hatte das Glück – daß sie es der Weimarer Klassik verdankte, war damals noch kein Makel, sondern eine Auszeichnung – an Wilhelm Tell einen Mythos zu besitzen, dessen Mehrsinnigkeit ebenso radikaldemokratische wie erzkonservative Hochgefühle zuließ und dem Kosmopoliten nicht weniger zu bieten hatte als dem urschweizerischen Lokalmatador. In Schillers Version war der Apfelschuß auch ein politischer Geniestreich. Und es ist fast keine Übertreibung, daß der Zusammenhalt der Schweiz, auf ein Stück große Literatur gegründet, darum keiner gefährlichen Fiktion (wie etwa das serbische Amselfeld) mehr bedurfte. Die Figur Tell begünstigte vielmehr die Integration der Verschiedenen und beheimatete die Eidgenossen in der Sprache von Schillers Rütlischwur bei sich selbst. Er war, in seinem Kern, ein erzkonservatives Manifest, das die Tatsache spiegelte, daß die moderne Schweiz das besterhaltene Stück strukturellen Mittelalters in Europa war und bis heute ist. Aber zugleich band er diese Herkunft an den großen und universalen Gedanken des in der Natur selbst begründeten, allzeit revolutionär virulenten Menschenrechts und der bürgerlichen Selbstbestimmung. Das ist – ideal gesprochen – die Idee der Schweiz; aber um zu wirken, unterliegt sie sozusagen der Schweigepflicht; denn sobald sich Ideen ideologisch aufrüsten, haben sie das Zeug, Bürger zu spalten und ihre zivilen Errungenschaften in Frage zu stellen. ›Hat die Schweiz, die heutige, eine Idee?‹ war die typische Frage eines großen Schweizer Schriftstellers, Max Frischs, in den Fünfzigerjahren, als er mit Markus Kutter und Lucius Burckhardt zusammen in achtung: die Schweiz seinem Land statt der geplanten Landesausstellung die Gründung einer neuen Stadt verschrieb. Natürlich war allen Beteiligten bewußt, daß das vorgeschlagene Projekt schon als solches denkbar ›unschweizerisch‹ gewesen wäre. Dennoch war, daß sie so fragten, enorm schweizerisch: denn es mahnte das Land daran, daß es – gerade die Schweiz – nie vom Brot allein gelebt hat, am wenigsten in ihrem inzwischen international beneideten Wohlstand, einem in zwei Weltkriegen durch das Blutvergießen anderer ermöglichten Neutralitätsgewinn. Daß die Schweiz ›ohne Idee‹ nicht leben könne, war eine intellektuelle Provokation: die Tatsachen haben es anders gewollt, und das kann man auch als Segen betrachten. Denn bewährte Gewohnheiten garantieren die Existenz eines Gemeinwesens zuverlässiger als kühne Phantasien. Und doch darf nie ganz vergessen werden, daß Ideen und Phantasien gerade an der Bewährung von Gewohnheiten, an der Bildung ziviler Gesellschaften wesentlich beteiligt sind. Im Begriff ›Eidgenossenschaft‹ selbst steckt die Referenz auf eine höhere Macht; und heute dürfte die Schweizer Verfassung – außerhalb des islamischen Raums – die einzige der Moderne sein, die mit der Berufung auf »Gott den Allmächtigen« beginnt.

Wie die Schweizer Literatur in Dublin zu sich selbst kam

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Als wir Teilnehmer der »Kommission zur Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung« um die Präambel unseres Entwurfs rangen, zerfielen wir in kuriose, aber typische Koalitionen. Katholiken und Gleichmütige votierten für Beibehaltung des Gottesnamens, überzeugte Reformierte, Freigeister und Atheisten dagegen, entweder, weil sie den Allmächtigen nicht für bloßes Menschenwerk in Anspruch nehmen wollten, oder weil sie in seiner Anrufung einen Verstoß gegen die in eben dieser Verfassung verbriefte Glaubens- und Gewissensfreiheit sahen. Ich gehörte zu dieser Partei, aber hatte hinzunehmen, daß die Konventionalisten am Ende das letzte Wort behielten, wahrscheinlich aus gutem empirischem Grund. Denn wir Anti-Rhetoriker hatten auf unsere Weise den ›Allmächtigen‹ zu ernst genommen – und auch nicht ernst genug. Warum sollte sich die List der obersten Vernunft nicht in ihre schweizerische Verkleidung schicken? Die Schwurfinger auf dem Rütli wurden davon, daß wir in einer modernen Verfassung lieber ohne sie ausgekommen wären, keine leere Geste. Sie hatten sich (nun ja) bewährt. Übrigens: der helvetische Kompromiß: Gott stehen zu lassen, ihn nur seines pompösen Attributs zu entkleiden, scheiterte schon an der Übersetzung ins Französische: »Nom de Dieu« ist ein Fluch. So wurde Ihm die »Allmacht« doch besser zurückerstattet. Es spricht für den Föderalismus, daß er ohne Humor nicht stattfindet – dieser sei freiwillig oder nicht. Damals – so hieß es – sei (neben dem frommen Spanien) Irland in Europa der letzte Staat gewesen, der, wie die Schweiz, Gott als obersten Eidgenossen für seine Verfassung in Anspruch nahm. Aber solche Übereinstimmungen trügen ja wohl, wie die gemeinsame Insel- oder Randlage, die auf Schweizer Seite nur eine Behauptung ist (in jedem Sinn des Wortes) – aber als solche überaus wirksam, auch wenn die Wirkung in beiden Ländern, was die europäische Integration betrifft, eine diametral entgegengesetzte ist. Immerhin hatten Irland und die Schweiz einige gleiche Karten in der Hand, obwohl sie verschieden damit spielten. Auch die alte Eidgenossenschaft war – bis auf einige Stadtrepubliken – ein armes Land; auch seine Randständigkeit war keine Metapher, nur daß das natürliche Alpenhindernis in der Mitte des Kontinents zwingend überwunden werden wollte und darum die fremden Mächte nur zu sehr anzog. Die hohe strategische Bedeutung des Nord-Süd-Transits erhob die Urschweizer zu Paßwächtern und verschaffte ihnen, zunächst als kaiserliches Privileg, jene Freiheiten, die sie später als Kern ihrer Identität betrachteten. Es blieb, auch nach der Erweiterung der Eidgenossenschaft, konstitutiv für ihr Selbstverständnis; zugleich verhinderte die politische Zersplitterung die Bildung einer eigenen kohärenten Machtpolitik. Aber auch ohne diese, oder eben deshalb, blieb die kriegerische Tüchtigkeit der Alpensöhne für Jahrhunderte der einträglichste Exportartikel der eidgenössischen Kleinstaaten, von dem ihre Herren nicht übel lebten. Erst im Gefolge der Reformation schuf der Rückgang des Söldnerwesens die Grundlagen für die beginnende Industrialisierung und eine verbesserte, sogar vorbildliche Landwirtschaft, die europäische Reisende in den vom Dreißigjährigen Krieg glücklich verschonten Ländern registrierten, bevor sie auch die Alpen als Denkmäler des Erhabenen und die Freiheit der Hirten als Modelle ursprünglicher Lebensart entdeckten. Die Invasion französischer Revo-

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Adolf Muschg

lutionsheere und die Mediation des Ersten Konsuls Bonaparte bescherte der alten Eidgenossenschaft mit der Abschaffung ihrer Privilegien erst die Voraussetzungen für eine gemeinsame Staatlichkeit, freilich im Zeichen der Fremdherrschaft, die vom Mythos der ›alten‹ Freiheiten wenigstens den Glanz bestehen ließ. Erst nach 1815 rang sich der Staatenbund im Wettbewerb der Kantone und Parteien, der in einen Bürgerkrieg mündete, zu einer bundesstaatlichen Verfassung durch, in der sich zentrale und föderalistische Elemente in einem für Europa vorbildlichen Gleichgewicht befanden. Es lieh auch der wirtschaftlichen Tätigkeit Flügel: das (bis auf den Wasserreichtum) rohstofflose Land qualifizierte sich zum Produzenten hochwertiger Sekundärprodukte und stieg – als stiller Gewinner zweier Weltkriege – in den letzten fünfzig Jahren zu einer Großmacht auf dem Finanzmarkt auf. So glücklich war Irland lange nicht. Nachdem es zur Hauskolonie im britischen Hinterhof geworden war, war das Schicksal seiner Armut und Unterdrückung für Jahrhunderte besiegelt und wurde noch verschärft durch die konfessionelle Differenz mit ihrer sozialen und später auch politischen Teilung des Landes. Die katholisch und republikanisch gesinnten Iren waren ein Fremdkörper im System des britischen Imperiums, und ihre einzige Option für ein lebenswertes Leben war die Auswanderung – oder ein hoffnungslos scheinender Kampf für eine relative und erst nach dem Ersten Weltkrieg auch erreichte politische Autonomie. Dieser Unabhängigkeitskampf aber war – viel ausgeprägter als in der Schweiz – kulturell definiert. Die Iren eroberten sich den Zugang zu den Segnungen der Moderne nicht, ohne zugleich die Quellen ihrer eigenen Geschichte zu verteidigen und zu verklären: Ihre Dichter und Barden waren zugleich rückwärts gewandte Propheten und, wie W.B. Yeats – und selbst James Joyce – Exponenten einer großen Tradition und einer experimentellen Avantgarde in einem. Die Musen Irlands haben als Partisaninnen kämpfen gelernt, und der mitbürgerliche Rang eines Poeten versteht sich, als Gegenstand der Ehrfurcht, von selbst, er braucht dafür nicht einmal einen irischen Paß. Es war nicht nur die Steuerfreiheit, die Autoren wie Böll, Enzensberger, Schrott, aber auch Schweizer wie Gerold Späth, Gabrielle Alioth oder Hansjörg Schertenleib nach Irland zogen. Hier läßt man Dichter nicht nur leben, hier dankt man ihnen für ihre Existenz. Wenn man – vergleichsweise – an die Liebesmüh denkt, die es die bedeutenden Schweizer Autoren, von Gottfried Keller und Max Frisch bis in die Gegenwart, gekostet hat, sich im eigenen Land einzubürgern! Je entschiedener einer Ire ist, desto zwangloser und selbstverständlicher, scheint es, wird er, was er immer zugleich gewesen ist: Europäer, und Kosmopolit. Er weiß, wie viel er Europa zu bringen hat; und was er sich in seiner Kultur erworben hat, ist er auch bereit, politisch anzulegen. Er, der Insulaner von Schicksals wegen, braucht in die Europäische Union seine eigene Grenze nicht zu überschreiten; er ist sich sicher, daß er damit vielmehr die Grenzen Europas erweitert. Iren (wie Polen) leisten sich sogar ein souveränes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Sie haben bewiesen, daß sie es dort zum Präsidenten bringen können. Sie haben auch keine Angst vor Europa nötig. Sie machen es furchtloser vor sich selbst.

Wie die Schweizer Literatur in Dublin zu sich selbst kam

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Es wäre vielleicht mehr als ein witziges Gesellschaftsspiel, die Kulturgeschichte zweier Inseln – Irland und der Schweiz – auf Gemeinsamkeiten und Trennungen abzuklopfen. Und so viel stünde von Anfang an fest: so trügerisch die Gemeinsamkeiten wären, so wenig definitiv wären die Differenzen. Der Kultur-Denker Karl Schmid, mein Vorgänger an der ETH Zürich, hat als Charakteristikum der politischen Schweiz ein in ihrem Gleichgewichtssinn begründeten Zug zur ›Gegenläufigkeit‹ ausgemacht. Er ließe sich wohl auch in der Physiognomie Irlands zeichnen, auch wenn für jeden Glücksfund, der dabei herausspränge, der Vorbehalt der ›Unvoreiligkeit‹ gelten müßte, den Ludwig Hohl allem versöhnlichen Dichten (und Trachten) zugemutet hat. Immerhin: auch schweizerischer Boden ist, nachdem die Völkerwanderung über ihn weggezogen war, von irischen Mönchen wie Columban, Gallus oder Meinrad (re-)christianisiert worden, und es gibt immer noch junge Schweizer, die auf ihre Namen getauft sind. So nahe konnte und kann der Schweiz die ferne Insel kommen; und als wir Schweizer Autoren und Philologen in und um Dublin zusammenkamen, um über die Lage der Schweiz in der Literatur, und die Lage der Literatur in der Schweiz zu reden, lag ein Hauch dieser entfernten Nähe in der Luft, schwang in der Akustik der nüchternen Seminarräume ein viel größeres Echo mit. War es das Werk des Zauberstabs, mit dessen Hilfe Jürgen Barkhoff, ein Basler Mundart sprechender Deutscher von der Ruhr, und seine irische Kollegin Valerie Heffernan unsere Runde für drei Tage festgebannt hatten? War es der Geist, der – trotz straffer Agenda – immer noch wehte, wie er wollte und dabei – wie man den folgenden Vorträgen entnehmen kann – jede und jeden die eigene Sprache so reden ließ, daß sie auch die andern verstanden, und im besten Fall: sich selbst dabei besser verstehen lernten? Für mich waren diese drei Tage jedenfalls ein kleines Pfingstwunder realer Präsenz. Und da ich weiß – als Schweizer, und mehr noch als Autor – daß es nichts Kleines gibt, darf meine Dankbarkeit dafür um so größer sein.

Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan

Einleitung: ›Mythos Schweiz‹ Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Schweizerischen in der Literatur

Um die Präsenz und Aktualität der Rede vom ›Mythos Schweiz‹ zu belegen, die Thema dieses Bandes ist, muss man nicht weit suchen; man wird im topographischen wie symbolischen Zentrum des Landes unmittelbar fündig. Im Jahre 2009 wurde die 1. August-Rede am zentralen Erinnerungsort der Schweiz, der Rütliwiese,1 zum ersten Mal nicht von einem Politiker gehalten. Keinem Berufeneren hätte diese Auszeichnung zuteilwerden können als dem Germanisten Peter von Matt.2 Nationalfeiertag und mythischen Ort nimmt er zum Anlass, die naheliegende, aber vereinfachende Entgegensetzung von Mythos und Realität zurückzuweisen: »Der Rütlischwur – Mythos oder Wahrheit?« Gegen die falsche Alternative dieser »fixen Formel« setzt von Matt die Einsicht in die narrative Konstruktion historischer Mythen, die Betonung ihrer wichtigen Rolle für die Stiftung von Erinnerungsgemeinschaften und den Hinweis auf ihre politische Relevanz: »Für jede Nation verdichtet sich ihre historische Herkunft in erregenden Geschichten, die man erzählt bekommt und weitererzählt. [...] Diese Geschichten haben eine eminente Funktion. Sie sind in ihrem Wesen politische Verhaltensanweisungen.«3 Daran anknüpfend kontrastiert von Matt die Naturschönheit des Rütli und des sie umgebenden Bergpanoramas mit der bedrohlichen Fortschrittsdynamik im Gotthard-Tunnel nebenan: »Hier hinter uns rast ganz Europa vorbei.« Die Bergwiese im Sonnenlicht und der dunkle Tunnel, das Sichtbare und das Unsichtbare, der rituell inszenierte Erinnerungsort und das Verdrängte im Berginneren, die im Bild stillgestellte Idylle und die Rastlosigkeit zerstörerischer Mobilität: sie sind zu lesen als »zwei zeichenhafte Wirklichkeiten der Schweiz«, die zusammen gehören, gleichberechtigt miteinander wahrgenommen werden sollten und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Gegen die naheliegenden Negativkonnotationen deutet er den Tunnel positiv als Sinnbild grenzüberschreitenden Verkehrs und europäischer Vernetzung und macht ihn damit zum alternativen Erinnerungsort für die historische Grunderfahrung der Schweizer von –––––––— 1

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Vgl. Georg Kreis: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes. Zürich: Orell Füssli 2004. Zur Theorie der Erinnerungsorte nach wie vor grundlegend: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. Aus der Vielzahl seiner prominenten Interventionen zur Rolle der Literatur in SchweizDiskursen sei stellvertretend erwähnt: Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München: Hanser 2001. Peter von Matt: Plädoyer für die Heldensage. 1.-August-Rede auf dem Rütli. In: NZZ am Sonntag, 2.8.2009, S. 16f, hier S. 16.

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Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan

»Auszug und Heimkehr«, die prägende Dynamik der Menschen-, Waren- und Geldströme, mit der die Schweizer sich über die Jahrhunderte als »Continental Players« aktiv in die Geschicke und die Geschichte Europas eingebracht haben.4 So hebt von Matt einerseits, dem Anlass gemäß, im Rekurs auf den Rütlischwur als Gründungsakt der Eidgenossenschaft die identitätsstiftende, politisch affirmative Bedeutung gerade von Gründungsmythen hervor; zugleich entwirft er gegen die immer drohende Erstarrung solcher Bestätigungsmythen einen veritablen Gegenmythos und führt damit auf dem Rütli das innovative, ja subversive Potenzial von Um- und Fortschreibungen des ›Mythos Schweiz‹ vor. Wie nötig gerade solche Provokation an festlichem Ort ist, können zwei weitere, geradezu wahllos herausgehobene Beschwörungen des ›Mythos Schweiz‹ aus gleichem Anlass zeigen, an denen dessen Trivialisierung, Verengung und Instrumentalisierung augenfällig wird: In der Ausgabe der Basler Zeitung zum Nationalfeiertag 2009 – demselben, an dem von Matt seine Rede hielt – beschwört der Präsident der Schweizerischen Volkspartei (SVP) wie jedes Jahr in einer ganzseitigen Anzeige unter der Überschrift »Wehrt Euch, Schweizerinnen und Schweizer« den Geist des »Bundesbrief[es] von 1291«, um seine euroskeptische und xenophobe Politik als urschweizerisch zu verkaufen.5 Und ein paar Seiten zuvor wirbt eine ebenfalls ganzseitige Anzeige der Schweizer Supermarktkette Coop für Bündner Bergkäse mit dem Slogan: »Die Sagen und Mythen der Bergwelt können sie lesen. Oder in unserem Käse geniessen.«6 Nichts gegen Bündner Bergkäse – Mythen sind unter anderem deshalb so langlebig und wirkungsmächtig, weil sie genossen werden können, weil sie identifikatorisch wirken und emotionale Tiefenschichten im Einzelnen und in Gemeinschaften erreichen.7 Doch gerade weil immer die Versuchung besteht, aus dem ›Mythos Schweiz‹ für Partikularinteressen politisches, ökonomisches oder kulturelles Kapital zu schlagen, ist gegen den unkritischen ›Genuss‹ des Mythos die reflexive »Arbeit am Mythos« zu setzen.8 Das führt von Matts Rede beispielhaft vor – und diesem Anliegen dient auch der vorliegende Band. –––––––— 4 5 6

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Ebd, S. 17. Wehrt Euch, Schweizerinnen und Schweizer! [Anzeige der SVP]. In: Basler Zeitung, 31.7.2009, S. 10. [Anzeige von Coop Pro Montagna]. In: Ebd., S. 4. Pro Montagna bietet Qualitätsprodukte aus den Schweizer Bergen an. Die Coop Warenhauskette nutzt hier das symbolische Kapital des Bergmythos zur Imagepflege, denn beim Verkauf dieses Käses »fliesst ein Beitrag an die Coop Patenschaft für Berggebiete. Diese unterstützt die Pflege Schweizer Kulturlandschaften [...]«. Vgl. hierzu z.B. die nicht nur in ihrem Titel einschlägige Einführung: Etienne François, Hagen Schulze: Das emotionale Fundament der Nationen. In: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. München, Berlin: Koehler & Amelang 1998, S. 17–32. Die monumentale Studie von Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M: Suhrkamp 1979 sei hier keinesfalls zufällig zitiert, leitete sie doch eine fundamentale Neubewertung des Mythos ein. Nach einer langen Phase, in der im Zeichen der Ideologiekritik das Verständnis des Mythos einseitig auf die von Matt zu Recht kritisierte simplifizierende Formel »Mythos oder Wahrheit« reduziert wurde, insistierte Blumenberg auf dem Komplexität reduzierenden und damit Orientierung stiftenden Potenzial mythischer Narrationen, das freilich durch interpretative Arbeit freizulegen und zu kontextualisieren sei. Siehe auch:

Einleitung: ›Mythos Schweiz‹

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I. Zum Mythosbegriff Wesentliche Elemente solcher Arbeit am Mythos benennt von Matt, indem er – dem Anlass und der Textsorte gemäß notwendig pointiert – auf dem Konstruktionscharakter, der narrativen Form und der Innovationsfähigkeit von Mythen besteht. Ein Blick auf die kulturwissenschaftliche Theoriebildung zu historischpolitischen Mythen kann diesen Befund bestätigen und weiter explizieren.9 Erstens sind Mythen »Großerzählungen«, aus denen nationale Identität, politische Legitimität und historische Kontinuität geschöpft werden.10 Vor allem in der Form von Gründungsmythen, für die Rütlischwur und Tellsage geradezu klassische Beispiele sind, enthalten sie, unabhängig von ihrem historischen Wirklichkeitsgehalt, »Sinnversprechen, durch welche die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden wird, und zwar so, daß die Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft verweist. So wird der politische Mythos, der ein vergangenes Ereignis beschwört, zum Garanten der Zukunft«.11 Sie sind Sonderformen des kulturellen Gedächtnisses kollektiver Erinnerungsgemeinschaften, mit deren Hilfe kollektive Identität durch retrospektive Interpretation von Geschichtsnarrationen gestiftet, durch einen Grundbestand an »Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten« gepflegt und vermittelt, in Erinnerungskonkurrenzen behauptet und variiert und zur politischen Handlungsorientierung instrumentalisiert wird.12 –––––––—

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Ders.: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Fink 1971 (= Poetik und Hermeneutik 4), S. 11–66. Es kann nicht Aufgabe dieser Einleitung sein, die aktuelle Diskussion um historischpolitische Mythen innerhalb der schier unübersehbaren Forschung zu Mythoskonzepten insgesamt zu positionieren und eine Verhältnisbestimmung etwa von klassischer Mythologie, Kunstmythologie, Kulturmythen und politischen Mythen zu leisten. Vgl. aber zur Orientierung: Aleida Assmann, Jan Assmann: Mythos. In: Hubert Cancik et. al. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. 5 Bde. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1988–2001. Bd. 4. 1998, S. 179–200; Reinhard Brandt: Mythos und Mythologie. In: R.B., Steffen Schmidt (Hg.): Mythos und Mythologie. Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 9–22; Robert A. Segal: Mythos. Eine kleine Einführung. Stuttgart: Reclam 2007. Das Folgende ist Herfried Münklers Darstellung des aktuellen Forschungsstandes in der Einleitung seiner grundlegenden Studie zu deutschen Mythen verpflichtet. Herfried Münkler: Einleitung. In: H.M.: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009, S. 9–30 und 493–496. Siehe auch: Ders.: Politische Mythen und nationale Identität. Vorüberlegungen zu einer Theorie politischer Mythen. In: Wolfgang Früchte, Harald Pätzold (Hg.): Mythen der Deutschen. Deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichten und Geschichte. Opladen: Leske & Budrich 1994, S. 21–27. Eine differenzierte und materialreiche Kontextualisierung dieses Ansatzes innerhalb der Mythosforschung unternimmt die Studie des Münkler-Schülers Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch politische Formen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, Kap. 1, S. 19–97. Ferner: Claudia Knabel, Dietmar Rieger, Stephanie Wodianka (Hg.): Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. Münkler: Politische Mythen und nationale Identität (Anm. 10), S. 21. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: J.A., Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988, S. 9–19, hier S. 15. Aus der mittlerweile unübersehbaren Fülle von einschlägigen Publikationen zum kulturellen Gedächtnis siehe: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische

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Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan

Zweitens sind Erfindung, Ausgestaltung und Durchsetzung von historischpolitischen Mythen eng mit Prozessen des nation building im 19. Jahrhundert verbunden. Bei der »Erfindung der Nation«, der Schaffung von »imagined communities« (Benedict Anderson) spielen solche »erfundene[n] Traditionen« (Eric Hobsbawm) eine herausragende Rolle.13 Auch hierfür ist die Schweiz ein besonders gutes Beispiel, weil sie sich als multilinguales und plurikulturelles Staatsgebilde anders als viele europäische Nationen nicht auf quasi-natürliche Zugehörigkeitsmerkmale wie gemeinsame Sprache oder Kultur berufen konnte und deshalb mit anderen narrativen Interpretationen der Geschichte eine staatstragende Erinnerungsgemeinschaft begründen musste. Der epochemachende, antiessenzialistische Gründungstext der modernen, kulturwissenschaftlichen Nationalismusforschung, Ernest Renans 1882 an der Sorbonne gehaltener Vortrag Qu’est-ce que c’est une nation? ist für das Selbstverständnis gerade der ›Willensnation‹ Schweiz hochrelevant. Seine inzwischen klassische Formulierung ist es wert, hier erinnert zu werden: Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip [der Nation] aus. Eins davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben.14

Präzise benennt Renan hier den Nexus zwischen gemeinschaftsstiftendem kulturellem Gedächtnis und aktueller politischer Handlungsorientierung, der sich sowohl in helvetischen Selbstbegründungen finden lässt wie auch in neueren kulturwissenschaftlichen Theorien zu Mythen als Formen des kulturellen Gedächtnisses. Drittens besteht ein spezifischer Beitrag von Mythen zur Stiftung und Erhaltung von »imagined communities« darin, das angeblich Besondere und Einmalige einer solchen Gemeinschaft zu formulieren. Noch einmal Münkler: »In diesem Sinne befriedigen politische Mythen ein kollektives Distinktionsbedürfnis, wobei sie es selten bei bloßer Abgrenzung belassen, sondern Überlegenheitsvorstellungen und Dominanzansprüche wecken.«15 Auch dieser Abgrenzungsgestus ist an der Mythisierung von Bundesbrief und Rütlischwur deutlich ablesbar, wobei sich der Erfolg der Schweiz als politische Einheit nicht zuletzt daraus erklärt, dass sie ihre identitätsstiftenden Überlegenheitsvorstellungen daraus bezog, anders als die aggressiven Nationalstaaten um sie herum eben gerade keine Dominanz–––––––—

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Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992; Aleida Assmann: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner, Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien: Wiener Universitäts Verlag 2002, S. 27–45; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 1983.Deutsch: B.A.: Die erfundene Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt/M.: Campus 1988; Eric J. Hobsbawm, Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. New York, Cambridge: Cambridge University Press 1983. Ernest Renan: Was ist eine Nation? In: Michael Jeismann, Henning Ritter (Hg.): Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus. Leipzig: Reclam 1993, S. 290–311, hier S. 308. Münkler: Einleitung (Anm. 10), S. 13.

Einleitung: ›Mythos Schweiz‹

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ansprüche gegenüber ihren Nachbarn zu erheben. So konnte sie dieses Superioritätsbewusstsein gegen die Dominanzansprüche vor allem des nördlichen Nachbarn mobilisieren, wie dies z.B. in der ›Geistigen Landesverteidigung‹ angesichts der faschistischen Bedrohung geschah.16 Denn gerade in Krisensituationen und Umbruchzeiten sind solch historisch-politische Mythen zur Stärkung des WirBewusstseins aktivierbar: »Mythen versichern dann, dass die zu meisternden Aufgaben bewältigt werden können, weil das damals auch gelungen ist. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht und sind damit kognitive wie emotionale Ressourcen der Politik.«17 Die Kulturpolitik der ›Geistigen Landesverteidigung‹, in der das Distinktionsbedürfnis der Eidgenossenschaft unter dem Druck der Bedrohung und zur Verdeckung einer opportunistisch-›geschmeidigen‹ Realpolitik zu einem stark polarisierten Wir/Sie-Mythos hinaufstilisert wurde, der die partielle gedankliche Nähe zwischen Aspekten des ›Wir‹ und ›Sie‹ unsichtbar machen musste, ist ein geradezu klassischer Beleg für diese Beobachtung. Eine Reihe von historischen und kulturhistorischen Studien haben den ›Mythos Schweiz‹ im Sinne der obigen Bestimmungen untersucht, indem sie Geschichte und Fiktion kritisch zueinander in Beziehung gesetzt haben und der identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Funktion spezifisch schweizerischer Mythen für die moderne Schweiz nachgegangen sind. Denis de Rougemonts 1965 erschienenes Buch Die Schweiz. Modell Europas konfrontiert im Einleitungskapitel »Die Macht des Mythos« »Sieben Klischees« zum Tell-Mythos und zum Gründungsdatum materialreich »mit der historischen Wirklichkeit«, und ist damit noch weitgehend jener falschen Alternative von »Mythos oder Realität« verhaftet, die die neuere kulturwissenschaftliche Mythenforschung überwunden hat.18 Diesen Paradigmenwechsel vollzog dann Ulrich Im Hofs Mythos Schweiz aus dem Jubiläumsjahr 1991, das den Mythos als »Integrationsideologie« im Spannungsfeld von Identität – Nation – Geschichte (so der Untertitel) rekonstruiert und analysiert.19 Als Schweizer Gebrauchsgeschichte bezeichnet Guy P. Marchal seine jüngst erschienene umfassende Studie über Geschichtsbildung, Mythenbildung und nationale Identität, in der er Gebrauchsgeschichte versteht als »jene Geschichte, die immer wieder zum Einsatz kommt, um eigene Positionen historisch zu legitimieren«.20 Wie schon Im Hof hat Marchal dabei die longue durée der über 700jährigen helvetischen Geschichtsnarrationen im Blick. –––––––— 16

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Zur Kulturpolitik der ›Geistigen Landesverteidigung‹ siehe den differenzierten Beitrag von Beatrice Sandberg: Geistige Landesverteidigung (1933–1945). In: Peter Rusterholz, Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 210–231. Münkler: Einleitung (Anm. 10), S. 11. Denis de Rougemont: Die Schweiz. Modell Europas. Der schweizerische Bund als Vorbild für eine europäische Föderation. Wien, München: Molden 1965, S. 15–83, hier S. 17. Das Buch ist die deutsche Übersetzung von D.d.R.: La Suisse. Ou L’histoire d’un peuple heureux. Paris: Hachette 1965. Ulrich Im Hof: Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte 1291–1991. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1991, S. 15. Siehe vor allem die theoretisch-methodisch angelegte Einleitung S. 11–16. Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel: Schwabe 2007, S. 13.

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Dagegen lenkt Georg Kreis’ materialreicher Beitrag für ein großes Ausstellungsprojekt des Deutschen Historischen Museums zu europäischen Nationalmythen die Aufmerksamkeit eher auf symbolische Repräsentationen und ikonische Verdichtungen des ›Mythos Schweiz‹. In »Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama« diskutiert er unter dem Stichwort »Nationalpädagogik in Wort und Bild« neben dem obligaten Gründungsmythos von Tell und Rütlischwur auch Winkelrieds Opfertod im Zeichen des ›Einer für Alle, Alle für Einen‹ bei der Schlacht von Sempach 1386; und auch das gemeinsame rituelle Mahl der Kappeler Milchsuppe, das inmitten der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts zu Toleranz und friedlicher Austragung der Gegensätze aufrief, findet Erwähnung.21 Diese Untersuchungen haben ein hochkomplexes und differenziertes Panorama schweizerischer Geschichtsmythen ausgefaltet; sie neigen allerdings, ebenso wie die bisher vorgestellten Theorien, dazu, die identitätsstiftende und -erhaltende Funktion von Mythen in den Vordergrund stellen und so tendenziell die Dynamik von Mythosnarrationen zu unterschätzen. Denn Mythen werden nicht nur tradiert und perpetuiert; um ihre Wirksamkeit zu erhalten und zu erneuern sind sie auf aktualisierende Um- und Fortschreibung angewiesen. Darüber hinaus konstituiert sich ihre Wirkungsgeschichte ganz wesentlich in Deutungskonkurrenzen. In Auseinandersetzungen um Interpretationshoheiten kommt es – gerade als Reaktion auf politische Krisen und historische Verwerfungen und als Gegenbewegung zu den oben beschriebenen Stabilisierungseffekten in Umbruchzeiten – zu Prozessen der Demythologisierung sowie zum Entwurf und zur Durchsetzung von Gegenmythen. Dafür bieten die Demythologisierungsversuche des ›Mythos Schweiz‹ seit 1945, wie sie dieser Band analysiert, vielfältiges Material. Die Konstruktion und Affirmation von Mythen, so eine Grundhypothese, ist konstitutiv mit ihrer Dekonstruktion und Revision verbunden. Insgesamt gilt für Mythologisierungen eine ähnliche Dynamik wie für die mit ihnen verbundenen Identitätsformatierungen: sie sind prozessual zu verstehen als offene, unabschließbare, vielfältigen Einflüssen ausgesetzte Verhandlungsvorgänge. Gerade Konstanz und Dauer beschwörende Gründungsmythen neigen dazu, diese Prozessualität zu unterschlagen oder sogar unsichtbar zu machen. Ebenso zielen Abgrenzungsmythen sozusagen per definitionem darauf ab, transkulturelle Wechselwirkungsprozesse unterzubewerten und die unhintergehbare Hybridität von Identitätsbildungen, ihre Angewiesenheit auf Wechselwirkungen und interkulturelle Austauschprozesse aus dem Blick zu nehmen. Eigenes und Fremdes klar markierende Identitätskonstruktionen sind immer und überall reduktiv; für die föderale, in sich heterogene Confoederatio helvetica, für den multilingualen und plurikulturellen Kulturraum, für das hochvernetzte Transitland im Herzen Europas, sind sie angesichts der konstitutiven Austauschbeziehungen mit den –––––––— 21

Georg Kreis: Schweiz. Nationalpädadgogik in Wort und Bild. In: Flacke (Hg.): Mythen der Nationen (Anm. 7), S. 446–475. Georg Kreis hat sich in zahlreichen einschlägigen Arbeiten mit Aspekten des ›Mythos Schweiz‹ auseinandergesetzt. Vgl. G.K.: Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze. 4. Bde. Basel: Schwabe 2003–2008. Dort z.B. in Bd. 1. 2003. Teil 1: »Die Schweiz als Kohäsionsfabrik«, S. 13–280.

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angrenzenden Sprachregionen und Kulturräumen eine Unmöglichkeit. Genau das markierte von Matt am 1. August 2009 mit seinem Gegenmythos der in Europa und mit der Welt verflochtenen Schweiz. Man kann die hohe diskursive Dichte der Schweizer Selbstverständigungsdebatten zum Teil aus diesem Paradoxon erklären. Gerade weil die Austauschund Ähnlichkeitsbeziehungen der Schweiz zu ihren angrenzenden Kulturräumen so prägend und so vielfältig sind, muss sie sich der Eigenart und Spezifik des Schweizerischen in der Wechselwirkung von Austausch und Abgrenzung, Ähnlichkeit und Differenz ständig versichern und diese in wechselnden historischen und politischen Konstellationen geradezu permanent diskursiv neu verhandeln. Darauf haben in jüngster Zeit mit Blick auf den Diskurs zur Nationalliteratur u.a. Corina Caduff, Michael Böhler und Gerhard Lauer aufmerksam gemacht.22 Auch die Intensität der Demythologisierungs- und Remythologisierungsprozesse rund um den ›Mythos Schweiz‹ seit dem Zweiten Weltkrieg wird von dieser Dynamik angetrieben.

II. Mythenrevisionen der letzten 20 Jahre Ben Vautiers kontroverser Satz »La Suisse n’existe pas«, das Motto des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla 1992, war Ausdruck eines akuten Krisengefühls. Das Selbstbild der Schweiz und der Schweizer wurde durch verschiedene Skandale der späten achtziger und frühen neunziger Jahre wie die Fichenaffäre 1989/90 oder den Kulturboykott zur 700-Jahr-Feier 1991 tief erschüttert. Vautiers Provokation brachte pointiert zum Ausdruck, was für nationale Selbstbilder allgemein gilt, ganz besonders aber für ein kulturell und sprachlich so heterogenes Gebilde wie die ›Willensnation‹ Schweiz: Identitäten sind letztlich immer Erfindungen, deren Konstruktcharakter gerade dann augenfällig wird, wenn in Belastungssituationen oder Umbruchprozessen ihre Risse sichtbar werden. Auch seither gab es vielfältigen Anlass, zentrale Schweiz-Mythologeme zu revidieren und den ›Sonderfall‹ Schweiz infrage zu stellen.23 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im Schweizer annus horribilis 2001, trug ein ganzes Bündel von –––––––— 22

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Vgl. Corina Caduff: Zum Diskurs ›Schweizer Literatur‹ in der Gegenwart. In: Michael Braun, Birgit Lermen (Hg.): Begegnung mit dem Nachbarn (IV.). Schweizer Gegenwartsliteratur. St. Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 2005, S. 65–96; Gerhard Lauer: Zeitheimat Schweiz. Über eine »kleine Literatur« in der Wissensgesellschaft Europas. In: Ebd., S. 97–112; Michael Böhler: Von der Karibik zu den Alpen. Das Kreolische an der Schweizer Literatur und die Alpenidylle des hölzernen Beins. In: Corina Caduff, Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink 2004, S. 57–74. Für unseren Themenhorizont sind viele Beiträge dieser wichtigen Bände von Belang. Zur Vorstellung des Sonderfalls siehe: Paul Widmer: Die Schweiz als Sonderfall. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007; Thomas Eberle, Kurt Imhof: Sonderfall Schweiz. Zürich: Seismo 2007; Walter Wittmann: Die Schweiz. Ende eines Mythos. München: Wirtschaftsverlag Langen Müller/Herbig 1998, vor allem S. 21–58.

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rasch aufeinanderfolgenden, hochtraumatischen Ereignissen, die inner- und außerhalb der Schweiz symbolisch gelesen wurden, zur Erodierung etablierter Mythen über die Schweiz bei. Der Mythos von Harmonie und Bürgernähe wurde durch den Amoklauf mit 14 Toten im Zuger Kantonsparlament im September zerstört, das Grounding der Swissair Anfang Oktober demolierte den Mythos der Schweizer Qualität und Zuverlässigkeit, den die nationale Fluggesellschaft in der ganzen Welt verkörperte, und der Brand im Gotthard-Tunnel Ende Oktober erschütterte den Mythos Sicherheit nachhaltig. Veränderungen im politischen Klima Europas haben ebenfalls Konsequenzen für das Selbstverständnis der Schweiz und der Schweizer; man denke etwa an das Erstarken euroskeptischer Kräfte angesichts einer sich erweiternden und vertiefenden EU oder die im Zeichen der Globalisierung zunehmende Diskrepanz zwischen politischem Isolationismus und weltweiter ökonomischer Vernetzung. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends kommt nun, vor allem aus Deutschland, das so energisch verteidigte Bankgeheimnis der Schweiz zunehmend unter Beschuss. Die Existenz der Schweiz stellten all diese Ereignisse und Entwicklungen wohl nicht infrage, ganz sicher aber die Relevanz und den Realitätsgehalt gängiger Schweizbilder. Vor allem die kontroversen Debatten um die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg, die in den späten 1990er Jahren sowohl innerhalb der Schweiz als auch im Ausland mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt wurden, stellten das bestehende Image einer neutralen Schweiz mit einer starken humanitären Tradition grundsätzlich infrage. Angesichts der Enthüllungen über Nazi-Gold und nachrichtenlose Vermögen, Rüstungsexport und Flüchtlingspolitik, mit denen die Schweizer Bevölkerung tagein tagaus konfrontiert wurde, konnte nun nicht mehr so einfach auf narrativ-mythische Überhöhungen von Aktivdienst und Réduit oder der Schweiz als »ein[em] demokratische[n] Staat […], der in seinen Bergen für seine Freiheit und Selbstverteidigung eingetreten ist«, wie Winston Churchill sie beschrieb, zurückgegriffen werden.24 Für viele Schweizer kamen diese Offenbarungen nicht unerwartet; die meisten Informationen waren seit der Publikation der Berichte Carl Ludwigs und Edgar de Bonjours und der Studien Alfred Häslers und Werner Rings schon lange offen zugänglich.25 Doch sahen sich viele Eidgenossen plötzlich mit einem Bild ihrer Heimat konfrontiert, das in die herrschenden Geschichtsvorstellungen nie Eingang gefunden hatte. 1997, mehr als dreißig Jahre nach der Publikation seiner ersten Veröffentlichung über die Schweizer Flüchtlingspolitik, äußerte sich Alfred –––––––— 24

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So Churchill in einem Brief an seinen Auslandsrat, 3.12.1944. In: Winston S. Churchill: The Second World War. Bd. XI. Triumph and Tragedy. Genf: Edito-Service 1967, S. 316. Deutsche Übersetzung dieses Zitats nach: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Zürich: Pendo 2002, S. 21. Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Bern: Herbert Lang 1957; Edgar de Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität. Bde. 3–6. Basel: Helbling und Lichtenhahn 1970; Alfred A. Häsler: Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–45. Zürich: Ex Libris 1967; Werner Rings: Raubgold aus Deutschland. Die »Golddrehscheibe« Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Zürich: Artemis 1985.

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Häsler zur mangelnden Auseinandersetzung seiner Landsleute mit den schwarzen Flecken der Vergangenheit: Geschichte heisst sich erinnern. Wer vergisst oder verdrängt, was geschehen ist, kann nichts aus der Geschichte lernen. Ausserdem: die Geschichte holt uns immer wieder ein. Archive bringen es an den Tag und kritische, wache Zeitzeugen verstummen nicht. Das erfahren wir Schweizer zurzeit in schmerzlicher Weise.26

Es ist kein Wunder, dass diese Jahre für viele Schweizer Bürger eine starke Verunsicherung und Desorientierung mit sich brachten. Die 1990er Jahre leiteten somit eine Phase der Selbstanalyse ein. Diese Infragestellung sicherer Gewissheiten fand zum Teil in politischen Untersuchungen statt, wie zum Beispiel in den gründlichen Forschungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, deren Aufgabe es war, das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zu untersuchen, und deren Schlussbericht im Jahre 2002 veröffentlicht wurde.27 Zum Teil fand diese Selbstanalyse ihren Ausdruck in öffentlichen Ausstellungen zu Geschichte und Kultur, wie etwa in der Wanderausstellung zum BergierBericht, die in der Öffentlichkeit auf breites Echo stieß, oder in einer Ausstellung zum Oral-History-Projekt der Forschungsgruppe Archimob »L’histoire, c’est moi. 555 versions de l’histoire suisse 1939–1945«, die von 2004 bis 2008 in 15 Städten in der Schweiz die erinnerte Geschichte des Zweiten Weltkriegs illustrierte. Dass diese Ausstellung von mehr als 100.000 Besuchern besucht wurde, bezeugt den Anklang, den sie unter den Schweizern fand, und die Offenheit, mit der diese neuen Einsichten rezipiert wurden.28 Georg Kreis’ Beitrag zur 2004 und 2005 stattgefundenen Ausstellung zu Mythen der Nationen 1945 – Arena der Erinnerungen in Berlin richtete den Fokus mythenkritischer Aufarbeitung auf die Mobilisierung für die ›Geistige Landesverteidigung‹ und auf die Karrieren zum Teil bis heute wirksamer und kontrovers diskutierter symbolischer Repräsentationen: der »wehrhaften« und der »barmherzigen« Schweiz, aber auch der im Blick auf ihre Flüchtlingspolitik »grausamen« und ihrem Umgang mit Nazigold und nachrichtenlosen Vermögen »hässlichen« Schweiz.29 –––––––— 26

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Alfred A. Häsler: Wahrheit verjährt nicht. Eine Orientierung in schwieriger Zeit. Frauenfeld: Huber 1997, S. 7. Vgl. zu diesen Aufarbeitungsprozessen den grundlegenden Band von Jakob Tanner, Sigrid Weigel (Hg.): Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs. Zürich: Vdf Hochschulverlag 2002. UEK Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg (Anm. 24). Informationen zur Archimob-Ausstellung und deren Besucherzahlen in: http://www.archimob. ch/d/tournee.html (Zugriff am 28.11.2009). Siehe zu diesem Thema auch: Christof Dejung, Thomas Gull, Tanja Wirz (Hg.): Landigeist und Judenstempel. Erinnerungen einer Generation 1930–1945. Zürich: Limmat 2002. Georg Kreis: Schweiz. Das Bild und die Bilder von der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. In: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. 2 Bde. Begleitbände zur Ausstellung 2. Oktober 2004 – 27. Februar 2005. Berlin: Deutsches Historisches Museum 2004. Bd. 2, S. 593–613, hier S. 594, 600, 601, 607.

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Auch die Figur Wilhelm Tells wurde in jüngeren Jahren zum Gegenstand der öffentlichen Mythenrevision. So feierte 2004 Schillers Tell sein 200. Jubiläum. Zu diesem Anlass ging eine Ausstellung in Schwyz der Frage nach, wie Tell zum Schweizer Helden wurde und was die Mythenfigur uns heute zu sagen hat;30 eine Berner Ausstellung stellte 2007-08 die Bedeutung Tells als Identifikationsfigur in Werbung und Propaganda dar.31

III. Schweiz schreiben Von den drei Grundformen symbolischer Repräsentation, in denen sich Mythen artikulieren, rituelle Inszenierung, ikonische Verdichtung und narrative Entfaltung, sind die narrativen Formen beweglicher und der Um- und Fortschreibung zugänglicher als ikonische und inszenatorische Stillstellungen. Im Medium der Literatur sind Mythen auch besonders gut der Kritik und Selbstreflexion zugänglich; dies erklärt, warum Schweizer Mythenvariationen und Schweizer Mythenkritik so vorrangig im Medium der Literatur und der Essayistik formuliert worden ist.32 Folgt man Peter von Matts Argument in der Einleitung zu Die tintenblauen Eidgenossen, so sind die Schriftsteller der Schweiz noch mehr in die Politik ihres Landes verwickelt als die Schriftsteller ihrer deutschsprachigen Nachbarländer. So repräsentiere beispielsweise Gotthelf den Geist der 1830er Revolution, Keller sei als 1848er und Meyer als 1871er wahrzunehmen, während Frisch und Dürrenmatt auf ewig mit dem Schlüsseljahr 1945 verbunden blieben.33 Für Klara Obermüller hängt dieser Hang zum politischen Eingreifen eng mit den besonderen politischen Entstehungsbedingungen der Schweiz zusammen: Da die Schweiz, im Gegensatz zu ihren Nachbarstaaten nie ein Nationalstaat mit einer Sprache und einer Kultur gewesen ist, sondern, so Frisch, »nichts anderes als eine Idee, die einmal realisiert worden ist« und deshalb immer wieder von neuem definiert werden muss, kommt der Frage, wer sie ist und was sie will, existentielle Bedeutung zu. Hinter dem Bekenntnis zu Föderalismus oder Zentralismus, zu Neutralität oder Bündnistreue, zu Integra-

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»Tell, bitte melden – Wandern durch Mythenwelt«. Ausstellung im Forum der Schweizer Geschichte Schwyz, 19.06.–13.11.2004. Ausstellungsbrochüre unter http://www.musee-suisse.ch /ci/03_schwyz/ 01_wechselausstellungen/archiv/tell_bitte_melden/d/folder.pdf. Mechthild Heuser, Irmgard M. Wirtz (Hg.): Tell im Visier. Katalog zur Ausstellung »Tell im Visier«. Plakate aus der Schweizerischen Nationalbibliothek. Zürich: Scheidegger & Spiess 2007. Allgemeine Überlegungen zur Rolle der Literatur als Speicher-, Reflexions- und Zirkulationsmedium des kollektiven Gedächtnisses können auch auf Mythennarrationen als Sonderformen des kollektiven Gedächtnisses Anwendung finden. Vgl. hierzu: Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Andreas Poltermann (Hg.): Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 232–244. Peter von Matt: Bilderkult und Bildersturm. Eine Zeitreise durch die literarische und politische Schweiz. In: von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen (Anm. 2), S. 9–78, hier S. 33, 35.

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tion oder Sonderfall stehen für die Idee Schweiz Entscheidungen, die weit über die Ebene politischer Strukturen hinaus gehen. Einer Stellungnahme zu diesen Fragen kann sich ein Schriftsteller, der sich als Staatsbürger versteht, nicht entziehen.34

Dass die Frage nach der Identität der Schweiz tatsächlich von »existentielle[r] Bedeutung« für die Schweizer Schriftsteller ist, zeigt sich an der Leidenschaft, mit der sie immer wieder über ihr Land reden und schreiben. Gerade Obermüllers 2003 veröffentlichte Sammlung kritischer Texte von Schweizer Schriftstellern über ihr Land, die 26 Interventionen, Reden, Kommentare und Essays aus den letzten 150 Jahren umfasst, unterstreicht die Regelmäßigkeit und die Heftigkeit, mit denen der ›Mythos Schweiz‹ in der Literatur hinterfragt wurde und wird. Besonders seit Ende des 2. Weltkriegs setzen sich Schweizer Schriftsteller und Intellektuelle – oft sehr kritisch – mit den herrschenden Verhältnissen in der Schweiz auseinander. Max Frisch, den von Matt als »Mythenbekämpfer«, »Mythenbeseitiger« und »Bilderzertrümmerer« bezeichnet,35 kratzte jahrzehntelang an dem herrschenden Bild seines Landes, sei es in seinen Tagebüchern, in den vor und nach Ende des Zweiten Weltkrieges aufgeführten Dramen, in öffentlichen Reden oder in seinen Prosaschriften. Obwohl sich andere vor ihm zu den Lebenslügen und Mythen ihres Landes geäußert hatten, hebt von Matt zu recht hervor, dass Frisch die Atmosphäre in der Schweiz fundamental verändert und »den Begriff des Schriftstellers in der Schweiz neu geprägt« habe.36 Neben Frisch war es in dieser ersten Schriftstellergeneration nach dem Krieg vor allem Friedrich Dürrenmatt, der sich zu historisch-politischen Kommentaren gedrängt fühlte. Genauso wie Frisch warf er in Rede und Schrift kritisches Licht auf Begriffe, die für viele seiner Landsleute als selbstverständlich galten: so etwa auf den ›Mythos Neutralität‹ oder den ›Mythos Demokratie‹. Dürrenmatts Laudatio auf Václav Havel anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises 1990, in der er die Schweiz als ein Gefängnis darstellte, in dem jeder Schweizer sein eigener Wärter ist, kann als brisantes Beispiel für seine Kritik an seinem Land gelten; die allzu deutliche Anspielung auf den Fichenskandal, der im Jahr zuvor ans Licht gekommen war, verleiht der Rede besonderen Nachdruck.37 Zur Zeit der Diskussionen um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurde oft erwähnt, dass die Schweizer Literatur die heiklen Themen von Flüchtlingspolitik, Judenstempel und kollektiver Schuld thematisiert hatte, lange bevor sie in der Öffentlichkeit diskutiert wurde,38 so »dass die Schweizer Literatur die –––––––— 34

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Klara Obermüller: Literatur der Zeitgenossenschaft. In: K.O. (Hg.): Wir sind eigenartig, ohne Zweifel. Die kritischen Texte von Schweizer Schriftstellern über ihr Land. München, Wien: Nagel & Kimche 2003, S. 7–23, hier S. 11 (Hervorhebung im Original). Siehe zur Dynamik dieses Diskurses insbesondere auch Böhler: Von der Karibik zu den Alpen (Anm. 22), und Caduff: Zum Diskurs ›Schweizer Literatur‹ in der Gegenwart (Anm. 22). Peter von Matt: Die Mythen des Mythenbekämpfers Max Frisch. In: von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen (Anm. 2), S. 225–240, hier S. 226f. Ebd., S. 228. Friedrich Dürrenmatt: Die Schweiz – ein Gefängnis. In: Obermüller (Hg.): Wir sind eigenartig, ohne Zweifel (Anm. 34), S. 176–188. Zu den kritischen Beiträgen der Schweizer Schriftsteller zur Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges siehe vor allem Charlotte Schallié: Heimdurchsuchungen. Deutsch-

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Aufarbeitung der jüngsten Schweizer Geschichte vorangetrieben habe«.39 Walter Matthias Diggelmann war der erste, der das öffentliche Geschichtsbewusstsein mit seinem schon 1965 veröffentlichten Roman Die Hinterlassenschaft infrage stellte.40 Dass Diggelmann nicht nur stark kritisiert, sondern auch von allen Seiten denunziert wurde, erhellt, dass das Schweizer Publikum 1965 noch nicht bereit war, den Vorwurf einer nationalen Schuld zu akzeptieren. Texte wie Heinrich Wiesners Chronik Schauplätze (1969), Thomas Hürlimanns Theaterstücke Großvater und Halbbruder (1981) und Der Gesandte (1991), Otto F. Walters Roman Zeit des Fasans (1988), Urs Faes’ Erzählung Sommerwende (1989) und Urs Widmers Drama Frölicher – Ein Fest (1992) sind ebenso wie die essayistischen Interventionen Adolf Muschgs wie Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz. Erinnerungen an mein Land vor 1991 (1991) oder O mein Heimatland! 150 Versuche mit dem berühmten Schweizer Echo (1998) als Beiträge zu einer wichtigen Debatte zu verstehen, die bis weit in die 1990er Jahre hinein fast ausschließlich in literarischen Kreisen geführt wurde – und auch dort nur sporadisch und zumeist gegen eine empörte und diesen Gegendiskurs marginalisierende öffentliche Meinung. Die Frage, ob die Auseinandersetzung mit der Heimat und der Kampf gegen deren Mythen auch in den Texten der jüngsten Schriftstellergeneration ausgetragen werden, ist weniger klar. Zum einen wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass jüngere Autoren sich oft dem expliziten Verweis auf die Schweiz in ihrer Literatur entziehen;41 Corina Caduff betont zum anderen die Regelmäßigkeit, mit der Autoren wie Peter Stamm, Ruth Schweikert und Urs Widmer in ihren Werken gerade diesen Widerwillen, sich zu ihrer Heimat zu bekennen, thematisieren: »Solche, wie verschieden auch immer begründete Äußerungen gegen eine nationalisierende Kontrollfunktion des Diskurses ›Schweizer Literatur‹ werden von diesem Diskurs, gemäß der hohen Bindungsqualität jedes geschlossenen Diskurses, integriert.«42

IV. Die Sektionen dieses Bandes Dieser Band versammelt die Erträge einer Tagung, die im Oktober 2006 zum Thema Mythos Schweiz. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Schweizerischen in der –––––––— 39 40

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schweizer Literatur, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur seit 1945. Zürich: Chronos 2008. R[oman] Bucheli: Blinder Spiegel? Weltkriegszeit in der Literatur. In: NZZ, 21.3.1997, S. 45. Zu den Folgen der Publikation von Diggelmanns Roman siehe vor allem Bernhard Wengers Nachwort in: Walter Matthias Diggelmann: Die Hinterlassenschaft. Zürich: Edition 8 2003, S. 269–287. Siehe z.B. Pia Reinacher: Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur. München, Wien: Nagel & Kimche 2003, vor allem die Einleitung: Entlaufen. Schweizer Schriftsteller auf Glücksfahrt, S. 7–65; Plinio Bachmann: Die Sprache der verlorenen Heimat. Vier Schweizer Autoren der jüngsten Generation. In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M: Suhrkamp 1995, S. 246–270. Caduff: Zum Diskurs ›Schweizer Literatur‹ in der Gegenwart (Anm. 22), S. 83.

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Gegenwart an den Germanistischen Abteilungen der National University of Ireland Maynooth und des Trinity College, University of Dublin stattgefunden hat.43 Die Tagung hatte es sich zum Ziel gesetzt, das in Schweizer Literaturdebatten oft beschworene, aber selten genauer untersuchte Konzept des Mythos in den Mittelpunkt zu stellen, um die Rolle der Literatur an der Entstehung, Entwicklung, Durchsetzung, Umschreibung und Kritik schweizerischer Mythen untersuchen. Insbesondere sollte dabei auch deren Funktion in schweizerischen Identitätsund Selbstverständigungsdebatten in den Blick genommen werden. Die thematischen Schwerpunkte der Tagung, denen die Gliederung dieses Bandes folgt, seien im Folgenden kurz vorgestellt.

Mythos Schweizerliteratur Das Konzept der Nationalliteratur ist im Zuge der Globalisierungs- und Hybridisierungsdebatten insgesamt infrage gestellt und als Element des nation building im 19. Jahrhundert erkannt worden; davon ist der Diskurs zur Schweizer Literatur in ganz besonderem Masse betroffen. Die Definition einer Schweizer Literatur wird auf der einen Seite dadurch verkompliziert, dass es ausdrücklich um vier Literaturen geht, die allzu oft mehr mit, nationalliterarisch gesprochen, ›fremden‹ Kulturen gemeinsam haben als miteinander.44 Es ist symptomatisch, dass Pro Helvetia, die sich das Ziel setzt, den Austausch unter den verschiedenen Regionen der Schweiz zu fördern und die Schweizer Kultur im Ausland zu unterstützen, ihrer Einführung in die Schweizer Literatur gerade den programmatischen Titel Die vier Literaturen der Schweiz gibt und im Klappentext behauptet: Untereinander haben die Literaturen der Schweiz wenig Kontakt: Widerstreit und Anpassung an die verschwisterten Sprach- und Kulturräume Deutschland, Frankreich und Italien war für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller vieler Jahrhunderte Problem und Schreibanlaß; ebenso wie die Zugehörigkeit zu diesem kleinen, auf seine Eigenständigkeit so bedachten Staatswesen.45

In Anbetracht dieser auffallenden Disparatheit muss die Frage aufgeworfen werden, ob man überhaupt von einer Schweizer Literatur reden kann. Was verbindet die –––––––— 43

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Der exakte Titel der Tagung wurde nicht für den Band übernommen, um Verwechslungen mit einem anderen Band aus dem Niemeyer-Verlag zu vermeiden, dessen Thematik allerdings sehr viel enger eingegrenzt ist: Uwe Hentschel: Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850. Tübingen: Niemeyer 2002 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 90). In ihrer Analyse des Begriffs ›Schweizer Literatur‹ zitiert Sabine Haupt François Jost, der sich zu diesem Problem äußert: »La pluralité des langues exclut donc toute littérature nationale.« S.H.: Vom Topos kultureller Selbstbehauptung zur Höflichkeitsformel. ›Schweizer Literatur‹ und ihre Diskursgeschichte. In: Caduff, Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? (Anm. 22), S. 191–217, hier S. 197. Iso Camartin, Roger Francillon, Doris Jakubec-Vodoz, Rudolf Käser, Giovanni Orelli, Beatrice Stocker: Die vier Literaturen der Schweiz. St. Gallen: Pro Helvetia 1998.

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Schriftsteller, die in diesem Land geboren wurden oder dort leben und schreiben? Auf der anderen Seite bedarf gerade eine ›Willensnation‹, deren Identität nicht aus quasi-natürlichen Gemeinsamkeiten wie Sprache oder Kultur abgeleitet werden kann, in ganz besonderem Maße der permanenten diskursiven Rückversicherung. Es ist geradezu ein distinktives Merkmal der Schweizer Literatur, dass sie diese Frage immer wieder aufgreift. So sehen es jedenfalls gewichtige neuere Beiträge zum Charakter der Schweizer Literatur, die die Selbstbezüglichkeit des Schweizer Literaturdiskurses, der sich immer wieder aus der Frage ›Gibt es sie, gibt es sie nicht?‹ regeneriert, betonen, und ein paradoxes »self-assertion in denial« als »Diskurskonstante seit Gottfried Keller bis in die Gegenwart« identifizieren (Böhler).46 Gerhard Lauer erklärt dies mit dem Hinweis darauf, dass die Deutschschweizer Literatur gegenüber der Literatur Deutschlands eine der »kleinen Literaturen« im Sinne Kafkas bilde, »die die Sprache einer Mehrheit nutzen, ohne mit ihr identisch zu sein oder sich zu fühlen«, und deshalb darauf angewiesen sei, ihr Verhältnis in Abgrenzung und Annäherung permanent neu zu verhandeln.47 Doch jenseits der Frage, wie sich die Literatur aus der Schweiz letztlich systematisch bestimmen ließe, zeigen die Beiträge dieses Bandes, dass sie in ganz entscheidendem Maße zu den Selbstdeutungs- und Selbstbestimmungsprozessen des Landes beiträgt und dabei mentalitätsgeschichtlich relevante Motive und Tendenzen darstellt und reflektiert (von Matt).

Mythos Alpen Geographisch wird die Schweiz von dem zentralen Alpenmassiv beherrscht, das fast zwei Drittel ihrer Fläche ausmacht. Ebenso ist die Topographie ihrer Imagination in vielfältiger Gestalt auf den Alpenraum in ihrer Mitte fixiert; als zivilisationskritischer Gegenbildspender, als Erholungs- und Bewährungsraum, als Bedrohungs- und Angstszenario, aber auch als politischer Raum dominiert die Alpenlandschaft den Diskurs und die literarische Gestaltung des Schweizerischen. Alpentransit und Alpentourismus, Bergwirtschaft und Landschaftspflege sind bedeutende Wirtschaftsfaktoren und zentrale Elemente von Alltagsleben und Gesellschaft in der Schweiz. Doch die Wahrnehmung des Naturraums ›Alpen‹ und seine konstitutive Bedeutung für das Selbstverständnis der Alpendemokratie und seiner Bewohner sind maßgeblich durch Bilder geprägt und durch Bilder vermittelt, seien es die der Literatur oder, in neuerer Zeit, die des Tourismusmarketing. Albrecht von Hallers wirkungsmächtige Alpendichtung deutete im 18. Jahrhundert –––––––— 46 47

Vgl. auch Böhler: Von der Karibik zu den Alpen (Anm. 22); Caduff: Zum Diskurs ›Schweizer Literatur‹ in der Gegenwart (Anm. 22). Gerhard Lauer: Zeitheimat Schweiz (Anm. 22), S. 100. Lauer bezieht sich hier auf Kafkas Definition einer »kleine[n] Literatur« in dessen Tagebucheintrag vom 25.12.1911: Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer 1990, S. 326.

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den zuvor als lebensfeindlich und bedrohlich wahrgenommenen Unort in eine kulturkritische Idylle um, in der die Stadtmenschen der beginnenden Moderne in unverdorbener Natur den Entfremdungen der Zivilisation entkommen und sich selbst begegnen konnten. Diesen Mythos einer zweckfreien, in sich ruhenden und, je nach Perspektive, idyllischen oder erhabenen Bergwelt, die zu Muße und Selbstbesinnung oder zu Bewährung und Selbstüberwindung auffordert, staffiert die Schweizer Literatur mit ihrem reichen Bilderreservoir in vielerlei Variationen aus. Auch die Imaginationsmaschinerie der Tourismusindustrie zehrt von ihr in affirmativen Klischees; und zwar um so mehr, je weniger die ökologisch bedrohte und zur Ressource vernutzte Natur des Alpenraums diesen entspricht. Die Gegenwartsliteratur hingegen zitiert die Topoi des Idyllischen und Erhabenen vor allem, um diese mythenkritisch zu unterlaufen und zu konterkarieren. So werden die Berge zwar vielfach als ein dem Alltag und der Zivilisation entrückter Rückzugs- und Reflexionsraum dargestellt, dabei aber keineswegs als Ort einer einladenden und unproblematischen Idylle, sondern als Ort einer oft unbequemen und desillusionierenden Selbstbegegnung, bei der der Weg auf den Berg zum bedrohten und bedrohlichen Weg in das eigene Innere wird (Feitknecht). Viele Autoren nutzen das literarische Medium zu einer Idyllenkorrektur. Unter den Bedingungen einer von Hochtechnisierung, Industrialisierung, ökonomischen Zwängen und städtischer Zivilisationswüste geprägten Lebenswirklichkeit beleuchten die Autoren eher die Krise der Idylle (Schrader) und die Nähe und innere Verwandtschaft von Alpen-Traum und Alptraum (Liston). Auch als politisches Gebilde stammt die Schweiz aus den Innerschweizer Bergen, und der Mythos vom freiheitsliebenden und eigenwilligen Bergvolk, der solidarisch zusammenstehenden Talgemeinschaften, die zäh und unnachgiebig ihre Unabhängigkeit verteidigen und ihren selbstbestimmten Lebensstil bewahren, hat in Schillers Wilhelm Tell (1804) seinen prägenden literarischen Ausdruck gefunden. In der Geschichte und den Geschichten der Schweiz bewährt und regeneriert sich dieser Mythos der Solidargemeinsamkeit besonders angesichts der übermächtigen und menschenfeindlichen Bedrohung durch die Bergwelt, wie sie sich in Naturkatastrophen gewaltig und gewalttätig manifestiert (Utz).

Mythos Eidgenossenschaft Der Gründungsmythos der Eidgenossenschaft wurde schon in der Explikation des diesem Bande zugrunde liegenden Mythosbegriffs ausführlich behandelt. Zu den Nachwirkungen des Tell-Mythos in Kultur und Literatur gibt es inzwischen eine Reihe von materialreichen Studien.48 Mythosnarrationen und –––––––— 48

Peter Utz: Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers »Wilhelm Tell«. Königstein: Athenäum 1984; Barbara Piatti: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell. Mit einem Weimarer Pausengespräch zwischen Katharina Mommsen und Peter von Matt. Basel: Schwabe 2004. Lilly Stunzi

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rituelle Inszenierung wirken geradezu idealtypisch zusammen in den – oft auf dem Rütli aufgeführten – Bundesfeierspielen zu den Jubiläen der Eidgenossenschaft. Diese erweisen sich zum einen als performative Affirmation, bieten aber auch Spielräume für die kritische Neuverhandlung nationaler Identität in Krisenund Umbruchzeiten (Ruppel). Insgesamt hat das Drama als performatives Genre eine wichtige Rolle bei der Revision staatstragender Mythen wie dem Roten Kreuz als Schweizer Institution oder dem Bau der Gotthardbahn (Butler). Gerade die Eisenbahn erweist sich im Land mit den weltweit meisten Schienenkilometern pro Person und Jahr als ein faszinierend ambivalenter Mythos. Sie symbolisiert die Bemeisterung des unzugänglichen Alpenraums im Zeichen technischen Fortschritts und die Einigung des Landes im Zeichen der Mobilität (Sorg). Als Sinnbild grenzüberschreitender Vernetzung verkörpert sie aber auch gegenläufig, in den Worten von Matts, »die ebenso starke Lust, über die Grenzen des Landes auszuschwärmen.«49 Der Blick auf die Karriere des Pfahlbauermythos als einer alternativen Gründungsgeschichte der Schweiz zeigt schließlich, wie schwer es ist, gegen den dominierenden Mythos des Ursprungs aus den Bergen ein Alternativangebot zu setzen (von Arburg).

Mythos Sonderfall Im Sonderfallbewusstsein verdichtet sich das Lebensgefühl, auf einer Insel der Seligen inmitten einer feindlichen Umwelt zu leben, auf einer Insel des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands weitgehend unberührt zu sein von den Wirren der europäischen Geschichte, den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, oder, in jüngerer Zeit, den Bedrohungen der Globalisierung. Dass dieses »Heile-Welt-Bild« der Schweiz seit Anfang der 1970er Jahre allmählich abbröckelte, wurde schon oben ausgeführt.50 Die wirtschaftliche Stagnation der späten 70er und frühen 80er Jahre, die Jugendkrawalle in den Großstädten zum gleichen Zeitpunkt, oder auch die Umweltkatastrophe beim Brand in Schweizerhalle, die den Rhein bei Basel 1986 kurzzeitig in einen blutroten Todesstrom verwandelte, stellten das Image der Schweiz »als ewiges Heidiland«, das von den Bedrohungen der Gegenwart auf wunderbare Weise verschont bleibt, grundsätzlich infrage.51 Sichtbares Zeichen des Wunsches, europäischer Sonderfall zu bleiben, war auch der Widerstand gegen die politische Öffnung nach außen und die Annäherung an Europa, der sich im Nein zum UNOBeitritt 1986 und zum EWR-Beitritt 1992 manifestierte. Mit der internationalen –––––––—

49 50 51

(Hg.): Tell. Werden und Wandern eines Mythos. Bern, Stuttgart: Hallweh 1973; Jean-François Bergier: Wilhelm Tell – Realität und Mythos. München: List 1990. Peter von Matt: Plädoyer für die Heldensage (Anm. 3), S. 17. Der Begriff stammt aus Andreas Breitenstein: Am Ende der Projektionen. Die Schweiz, von innen betrachtet – eine Umfrage. In: NZZ, 6./7.9.1997. Ebd.

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Kritik an ihrer ›Igelmentalität‹ in den Auseinandersetzungen um ihre Politik im Zweiten Weltkrieg drohte die Schweiz Ende der 90er Jahre vollends vom privilegierten und vorbildlichen Modell zum negativen Ausnahmefall und zum Paria der Völkergemeinschaft zu werden.52 Die Gründung der Solidaritätsstiftung, die bilateralen Verträge mit der EU, der UNO-Beitritt im Jahr 2002 und der Beitritt zum Schengen-Raum vollzogen zwar seither einen deutlichen Wandel hin zu einer vorsichtigen Öffnung, aber das Anwachsen der SVP zur stärksten politischen Kraft oder das weltweit Erstaunen hervorrufende MinarettVerbot im November 2009 gemahnen daran, wie stark das Abgrenzungsbedürfnis nach wie vor ist. Es waren, auch das wurde schon oben angeschnitten, wiederum ganz wesentlich die Schriftsteller, die Überlegenheitsgefühl und Isolationismus nachhaltig hinterfragten. Scharfe Kritik an Opportunismus und latentem Antisemitismus während des Zweiten Weltkriegs übten bereits Anfang der 80er Jahre die frühen Stücke Thomas Hürlimanns (Schallié). Die radikalste Revision des ›Mythos Sonderfall‹ stellte zweifellos Adolf Muschgs kontroverser Essay Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt dar, mit dem er 1997, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, unmissverständlich deutlich machte, wie sehr sich die Schweiz mit dem Sonderfalldenken letztlich zu ihrem eigenen Schaden aus der europäischen Geschichte herausdeutet und damit auch aus ihrer historisch-politischen Verantwortung davonstiehlt.53 Als eine europafreundliche Variante des ›Mythos Sonderfall‹ erweist sich hingegen die erstaunlich langlebige Diskursfigur vom Modellcharakter der föderalen und multikulturellen Schweiz als Europa-Utopie (Barkhoff). Auch die narrativen Revisionen etablierter Heldensagen und Geschichtsmythen in den historischen Werken und Romanen von Kurt Marti nehmen eine weiträumige Perspektive ein und setzen sich mit dem großen Bogern der Schweizer Geschichte von der Gründung bis zur Gegenwart auseinander (Pender).

Mythos Multikulturalität Im ›Mythos Multikulturalität‹ artikuliert sich der Stolz einer Nation, die nicht nur vier Landessprachen und die damit verbundenen Kulturen zusammengeführt hat, sondern auch durch die Arbeitsimmigration seit den 60er Jahren zahlreiche neue Kulturen aufgenommen hat. Das Ideal des harmonischen Zusammenlebens der Kulturgruppen basiert in hohem Maße auf dem Konzept der Mehrsprachigkeit, das – zumindest theoretisch – in einem engen Zusammenhang mit dem nationalen Selbstverständnis steht. So wird immer wieder infrage gestellt, –––––––— 52 53

Vgl. hierzu Walter Wittmann: Die Schweiz. Ende eines Mythos (Anm. 23), S. 54. Adolf Muschg: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. In: A.M.: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 7–18.

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inwiefern man von intensiver Kommunikation und wirklicher Verständigung unter den Sprachgruppen reden kann, wenn man die Diskrepanz zwischen der offiziellen Mehrsprachigkeit des Landes und der durch Studien belegten mangelnden Fremdsprachenkompetenz der Schweizer Bevölkerung und dem vielfach dokumentierten Desinteresse am kulturellen Leben der anderen Sprachgruppen berücksichtigt.54 Ferner scheint fraglich, ob die Literatur wirklich eine Brücke zwischen den Sprachgruppen darstellt und maßgeblich zum Gedankenaustausch über die Sprachgrenzen hinaus beiträgt, oder ob sie die vier verschiedenen Kulturen nicht eher durch die dominierende Orientierung auf den größeren Kulturraum der Einzelsprachen auseinanderzutreiben imstande ist. Zugleich drohen diese Fragekomplexe aber auch den »Mythos Kulturgraben« diskursiv zu vertiefen und zu perpetuieren, sodass kritisch nach der kulturpolitischen Funktion dieses Mythos gefragt werden muss (Haupt). Die Präsenz der verschiedenen Migrantenkulturen ist sicherlich die weit größere Herausforderung an den ›Mythos Multikulturalität‹ im Land mit dem höchsten Ausländeranteil Europas, das mit Integrationsproblemen und Überfremdungsängsten konfrontiert ist. Die Migranten sind sicher ein konstitutiver Bestandteil des komplexen plurikulturellen Gefüges der Schweiz; gleichzeitig besetzen sie aber strukturell die Position des Außenseiters, der nie ganz integriert ist. Ihre Situation spiegelt sich in einer vielgestaltigen Literatur von Autoren mit Migrationshintergrund, die das Leben und Schreiben zwischen den Sprachen und Kulturen thematisiert und den verfremdenden Blick des Fremden auf die Schweiz und ihre Mythen ermöglicht (Baumberger, McGowan).

Mythos literarischer Gegendiskurs Den Schweizer Schriftstellern wird, wie schon oben ausgeführt, häufig die Position des kritischen Beobachters zugeschrieben, und tatsächlich haben viele Schweizer Autoren zur Feder gegriffen, um sich dieser Aufgabe zu widmen – und sie tun es immer noch. Mythenzertrümmerer wie Frisch oder Dürrenmatt oder später Muschg, Bichsel und Hürlimann äußern sich laut und deutlich über die politischen und sozialen Probleme, die sie in ihrer Umgebung wahrnehmen. Doch birgt dieses Verständnis des Schriftstellers als ›Gewissen der Nation‹ eine gewisse Gefahr, die Elsbeth Pulver erklärt: Die Vorstellung einer »anderen, besseren Schweiz« mit den Intellektuellen als Herolden und Sachwaltern, sie löst die Beklemmung nicht; sie droht sie zu zementieren. Natürlich

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Siehe: Arbeitsgruppe des Eidgenössischen Departementes des Innern: Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz. Vorschläge und Empfehlungen. Bern: EDMZ 1989. Die Ergebnisse dieser Studie und deren Konsequenzen für das gegenseitige Verständnis der Sprachgruppen in der Schweiz werden erläutert in Lotti de Wolf-Pfändler: Vom (Deutsch-) Schweizer (Schriftsteller) und seiner Sprache. In: Jattie Enklar, Hans Ester (Hg.): Vivat Helvetia. Die Herausforderung einer nationalen Identität. Amsterdam: Rodopi 1998 (= Duitse Kroniek 48), S. 52–76, vor allem S. 56–60.

Einleitung: ›Mythos Schweiz‹

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erheben nicht alle Autoren den Anspruch, die moralische Instanz des Landes zu sein, glücklicherweise. Aber die Vorstellung ist da. Sie ist vielleicht Teil der neuen Mythen, die unweigerlich entstehen, wenn die alten zerstört werden – und die ihnen unversehens zu gleichen anfangen.55

Pulver suggeriert in diesen Zeilen, dass die Tendenz, die Schriftsteller als moralische Instanz zu installieren, sich als gesellschaftlicher Ausweich- und Kompensationsmechanismus enthüllt, womit diese Festlegung selbst mythische Züge annimmt. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass die Fixierung auf eine solche Rolle sich auch negativ auf die künstlerischen Spielräume und Artikulationsmöglichkeiten der Künstler auswirken kann. Weil sich die Schweizer Autoren der jüngsten Generation nicht explizit mit ihrer Heimat auseinandersetzen, behaupten manche Kritiker, dass sie sich in ihrer Literatur von der Schweiz distanzieren. Schaut man ihre Texte jedoch näher an, findet man oft einen indirekteren Umgang mit dem Thema Schweiz als in früheren Generationen (Heffernan). Andere Autoren verweigern sich dem direkten politischen Bezug, in dem sie den Schwerpunkt ihres Schreibens auf die Selbstreferentialität der Sprache verlegen. So thematisiert Jürg Laederach beispielsweise sehr wohl die Schweiz, doch formuliert sich dies vornehmlich als hochartistisches Sprachspiel, das die Bedingungen solch literarischer Bezüglichkeit autopoetologisch reflektiert (Zingg).

Mythos Irland Dass die Debatten um den ›Mythos Schweiz‹ 2006 gerade in Irland stattfanden, scheint besonders passend, wenn man die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen diesen zwei ›Inseln‹ berücksichtigt.56 Hinzu kommt auch, dass eine ganze Reihe von wichtigen Schweizer Gegenwartsautoren wie Gabrielle Alioth, Hansjörg Schertenleib und Rolf Lappert Irland zu ihrem Zuhause gemacht haben. Die Insel an der europäischen Peripherie scheint ihnen den Spielraum zu gewähren, dem »Diskurs in der Enge«, wie Paul Nizon das Schreiben über die Schweiz in der Schweiz in einem berühmt gewordenen Wort genannt hat,57 aus der Ferne eine weitere Perspektive hinzuzufügen. Darüber hinaus bieten, wie besonders Gabrielle Alioths Werk zeigt, die uralten Sagen Irlands und auch der –––––––— 55 56

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Elsbeth Pulver: Das große Reinemachen. In: NZZ, 6./7.9.1997. Zu irisch-schweizerischen literarischen Beziehungen siehe: Patrick Studer, Sabine Egger (Hg.): From the Margins to the Centre. Irish Perspectives on Swiss Culture and Literature. Bern: Peter Lang 2007 (= German Linguistic and Cultural Studies 18); Gisela Holfter, Marieke Krajenbrink, Edward Moxon-Browne (Hg.): Beziehungen und Identitäten: Österreich, Irland und die Schweiz. Bern: Peter Lang 2004 (= Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext 6). In Vorbereitung ist ein Band der Züricher Literaturzeitschrift figurationen zu schweizerisch-englischen und schweizerischirischen Kulturbeziehungen: Brittania / Helvetia. Figurationen: Gender – Literature – Culture 11/1. Hg. von Barbara Naumann, Lorena Silas-Ribas. Köln: Böhlau 2010. Paul Nizon: Diskurs in der Enge. Zürich, Köln: Benziger 1970.

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›Mythos Irland‹ in seiner zeitgenössischen Ausprägung reichhaltigen Stoff für eine literarische Darstellung des Kulturkontakts zwischen Irland und der Schweiz (Donovan). *** Bei der Realisierung unserer Tagung zum ›Mythos Schweiz‹ wie bei der Entstehung dieses Bandes haben wir von vielen Seiten entscheidenden Beistand erfahren. An erster Stelle gilt unser herzlicher Dank dem damaligen Schweizer Botschafter in Irland, Josef Doswald, und dem damaligen Botschaftsrat an der Schweizer Botschaft, Ernst Balzli, für ihr großes Interesse und ihre anhaltende Bereitschaft, unser Projekt in jeder Phase zu fördern. Insbesondere die Finanzierung unserer Konferenz wäre ohne ihre Unterstützung nicht möglich gewesen. Sehr herzlich danken wir insbesondere auch unseren Sponsoren, der Stiftung Pro Helvetia, der UBS, der SWISS, dem NUI Maynooth Research Enhancement Fund, dem Trinity College Research Incentive Scheme, dem NUI Maynooth German Department, der irischen Fremdenverkehrszentrale Fáilte Ireland und dem Irish Writers’ Centre. Auch bei der Planung und Organisation unserer Veranstaltung konnten wir auf vielfache Unterstützung zurückgreifen, insbesondere von unseren Institutsleitern Florian Krobb in Maynooth und Gilbert Carr am Trinity College Dublin. Danken möchten wir auch den Kolleginnen und Kollegen Fiona Cummins, Regina Standún, Astrid Haberleitner und Andrew Cusack, die bei der praktischen Organisation geholfen haben. Für Druckkostenzuschüsse zu diesem Band sind wir der National University of Ireland, dem NUI Maynooth Publication Scheme, dem Trinity College Research Incentive Scheme und dem NUI Maynooth German Department zu Dank verpflichtet. Für genaues Korrekturlesen möchten wir Sarah Coffee danken und für hohe Professionalität und Sorgfalt bei der Erstellung der Druckvorlage Martine Maguire-Weltecke. Vor allem aber sind wir Frau Birgitta Zeller-Ebert und Norbert Alvermann vom Niemeyer Verlag in Dankbarkeit verbunden für ihre Umsicht und Geduld bei der Betreuung des Bandes. Ein ganz besonderer Dank geht auch an die drei Schweizer Autorinnen und Autoren, die auf unserer Tagung aus ihren Werken gelesen und damit auf eine für alle Teilnehmer eindringliche und unmittelbare Weise unseren eigentlichen Gegenstand, die Literatur, haben gegenwärtig werden lassen: Gabrielle Alioth, Ruth Schweikert und Adolf Muschg. Schließlich gilt unser Dank vor allem den Autoren dieses Bandes: für ihren Enthusiasmus unserem Vorhaben gegenüber, für ihre gehaltvollen und gewichtigen Beiträge, für eine intensive, zugleich konzentrierte wie entspannte Atmosphäre während der gemeinsamen Tage in Maynooth und Dublin – und für ihre Geduld. *** Zwischen der Abgabe seines Manuskripts und der Drucklegung dieses Bandes verstarb 2007 im Alter von 72 Jahren unserer verehrter Kollege Michael Butler,

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Emeritus Professor of Modern German Literature an der University of Birmingham. Michael Butler hatte unsere Einladung zur Dubliner Tagung freudig angenommen, musste aber dann seine Teilnahme wegen Krankheit kurzfristig absagen. Später konnte er sein Manuskript zu den Schweizer Stücken von Herbert Meier noch fertigstellen, sodass es hier als seine letzte Publikation Eingang in diesen Band findet. Michael Butler war eine maßgebliche Stimme in der Germanistik Großbritanniens und Irlands und hat unser Verständnis für die Schweiz und ihre Literatur entscheidend vertieft. Insbesondere für diejenigen unter uns, die sich mit der Schweiz auseinandersetzen, war er ein großes Vorbild, ein Förderer und eine stete Quelle der Inspiration. Möge dieser Band auch dazu dienen, das Andenken an Michael Butler als einen großen Freund und Kenner der Schweizer Literatur und einen hoch geschätzten Kollegen wachzuhalten.

Teil I

Mythos Schweizerliteratur

Peter von Matt

Was bleibt nach den Mythen? Plädoyer für einen neuen Blick auf das literarische Nachdenken über die Schweiz

Der Mythos ist die vorwissenschaftliche Form der Welterklärung. Sein Medium sind Erzählungen, Bilder, Zeichen. Diese tragen ihre Beweiskraft in sich selbst. Ich kann die Erzählungen wiedererzählen, die Bilder an die Wände malen, die Zeichen öffentlich streuen, und immer, wenn ich ihnen begegne, entsteht in mir das, was ihr Sinn und Zweck ist: Gewissheit. Der Mythos produziert Wahrheit als erlebte Gewissheit. Das tut auch die Wissenschaft. In der Wissenschaft entspringt die Gewissheit aus der langsamen Beweisführung; im Mythos entspringt sie aus dem plötzlichen Erlebnis der Erzählungen, Bilder und Zeichen. Die Beweise der Wissenschaft, wenn sie lege artis durchgeführt wurden, brauchen nicht wiederholt zu werden. Die Beweiskraft der Mythen hingegen bedarf immer neu der Vergegenwärtigung. Steinerne Denkmäler sind der Versuch, die Wiederholung des mythischen Erlebens zu sichern. Sie liquidieren allerdings die vitale Erfahrung durch ihre andauernde Präsenz. Die Wahrheit der Erzählungen, Bilder und Zeichen kann nicht widerlegt werden, sie kann nur absterben; die Wahrheit der Wissenschaft kann nicht absterben, sie kann nur widerlegt werden. Sowohl als Einzelne wie auch als soziale oder politische Gemeinschaft leben wir mit beiden Wahrheiten, jenen der Wissenschaft und jenen des Mythos. Es ist also verkehrt, die Wissenschaft mit Wahrheit und den Mythos mit Falschheit gleichzusetzen. Das geschieht heute in der Zeitungssprache unentwegt: ›Wahrheit oder Mythos?‹, heißt es dann, oder: ›Als Mythos entlarvt!‹, oder: ›Das ist nichts als ein Mythos‹. Mythos als Welterklärung ist immer an eine Notlage gebunden. Nur solange mir die Frage auf den Nägeln brennt, auf welche die Erzählung, das Bild, das Zeichen eine Antwort gibt, lebt die mythische Energie. Ändert sich die Notlage, dann stirbt der mythische Diskurs ab und wird durch einen andern ersetzt, der mir die neue Notlage erklärt und mich selbst in ihr. Die Vorstellung, man könne ohne mythische Erzählungen, Bilder und Zeichen leben, ist eine Täuschung, sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Sie beruht auf einem seinerseits mythischen Begriff von Wissenschaft. Jeder Staat und jeder einzelne Mensch ist sich selbst gegenüber in einer prekären Situation. Dass ein Staat so ist, wie er ist, dafür gibt es nie einen wissenschaftlich zwingenden Grund. Ebenso wenig kann ich meine eigene Person wissenschaftlich absichern. Die Bestimmung meines Genoms durch die DNAAnalyse bleibt eine tote Formel. Sie hat keinen mythischen Einschlag. Nur über einen mythischen Einschlag könnte sie zu einem Element meiner Selbstver-

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gewisserung werden, so wie sich auch ein Staat seiner selbst nicht über das statistische Jahrbuch versichert, sondern über Zeichen und Bilder mit mythischem Einschlag. Um zu erfahren, wer ich bin, produziere ich meine privaten Zeichen und Bilder; um zu vermitteln, wer er ist, produziert der Staat seine öffentlichen Zeichen und Bilder – von der Briefmarke bis zum Arc de Triomphe. Solange die mythischen Erzählungen, Bilder und Zeichen ihre Wirkung tun, sind sie nicht als mythisch erkennbar. Erkennbar wird der Mythos erst, wenn seine Wahrheit abgestorben ist. Deshalb setzt man ihn fälschlicherweise mit Unwahrheit gleich und verschließt so die Augen vor einer zentralen Dynamik jeder Zivilisation. Im historischen Prozess können unterschiedliche Phasen der mythischen Erfahrung gleichzeitig vorkommen. Dann brechen Konflikte aus. Dann kämpfen die einen für den lebendigen, die andern gegen den toten Mythos. Dann muss ein König geköpft werden zum Beweis, dass er nicht heilig ist. Und schon wird die Guillotine selbst zu einem sakralen Signal. Oder es müssen zwei volle Generationen von Schweizer Schriftstellern Verulkungen der WilhelmTell-Erzählung schreiben, um sich ihrer neuen politischen Identität gegenüber dem patriotischen Bewusstsein der vorangegangenen Jahrzehnte zu versichern. Womit ich beim Thema angekommen wäre. Die Schweiz, deren Position zwischen den europäischen Großmächten immer prekär, deren Existenznotwendigkeit nie zu beweisen und deren Zusammenhalt wegen der konfessionellen, sprachlichen und ökonomischen Differenzen stets gefährdet war, bedurfte eines gewaltigen Outputs an mythischen Erzählungen, Bildern und Zeichen, um die gemeinsame Identität, die tiefe Gewissheit des Zusammengehörens trotz der partikularen Identitäten, zu sichern. Zur monumentalen Basis dieses Unternehmens gerieten die Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, literarisch-politische Ereignisse von Rang. Ihr Anfang liegt bei einem Autor, Hans Schriber, dem Verfasser des Weißen Buchs von Sarnen (um 1470).1 Er hat aus diversen Überlieferungen die erste Synthese geschaffen, hat sie durch kühne Erfindungen ergänzt und gezielt zu einem politischen Instrument gemacht. Modell dafür waren die antiken Heldengeschichten. Was Livius den Römern mit der Chronik Ab Urbe Condita geschenkt hatte, sollten nun auch die Schweizer in einer Chronik Ab Helvetia Condita besitzen. Ein Renaissanceprodukt also. Seither gibt es den Tell. Einen Schriftsteller von größerer Wirkung als diesen Hans Schriber, von dem heute kaum je die Rede ist, hat die Schweiz nie gehabt. Die Literatur eines Landes steht zu seiner politischen Identität immer in einer komplizierten Beziehung. Nicht die Literatur jedes einzelnen Autors oder jeder Autorin, sondern die literarische Produktion und Überlieferung insgesamt. Dass ein Dichter einem Staat die Gründungslegende schenkt wie Vergil dem klassischen Rom, ist selten, kommt aber doch von Zeit zu Zeit vor. Shakespeares Königsdramen oder Grillparzers Ottokar sind Belege. Schiller tat es für die Schweiz, indem er die Berichte aus den Chroniken in das gewaltige Spektakel seines Wilhelm Tell verwandelte. Die zahllosen Tell-Parodien in der Schweiz von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart hinein sind damit insofern verwandt, als –––––––— 1

Hans Schriber: Das Weiße Buch von Sarnen. Bearb. von Hans-Georg Wirz. Aarau: Sauerländer 1947.

Was bleibt nach den Mythen?

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sie das Land von dem inzwischen abgestorbenen Mythos befreien wollten. Es waren, genau besehen, lauter negative Gründungslegenden. Eine neue, auch für die Schweiz im neuen Europa taugliche politische Erzählung von mythischer Kraft vermochten sie dagegen nicht zu schaffen. Man kann diese Verknüpfung zwischen der Literatur eines Landes und seiner politischen Identität systematisieren mittels der Theorie vom dreifachen Verhältnis zur Geschichte, die Friedrich Nietzsche in der Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1873), der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen, vorgelegt hat. Demnach kann die Geschichte erstens ›monumentalisch‹ betrachtet werden, als Arsenal der ragenden Vorbilder und Stimulans der patriotischen Begeisterung. Die vaterländischen Helden und ihre Taten werden dabei zu verpflichtenden Modellen für das politische Denken und Handeln der Gegenwart. Diese monumentalische Betrachtung führt in der Regel auch zu tatsächlichen Monumenten aus Stein oder Bronze. Nach der existentiellen Krise der Schweiz im Bürgerkrieg von 1847, der lange nachwirkte und den neuen Bundesstaat von 1848 schleichend bedrohte, wurde das Land mit heroischen Denkmälern, denen alle Parteien Verehrung zollen konnten, förmlich überzogen – eine politische Selbsttherapie von hochtheatralischem Charakter. Zweitens kann die Geschichte ›antiquarisch‹ betrachtet werden, als das unabsehbare Feld von Dingen und Geschehnissen aus alter Zeit, in die man sich liebevoll versenkt. Noch das kurioseste Detail findet dabei Aufmerksamkeit und Pflege. Der ›Urväterhausrat‹, an dem Faust zu ersticken droht, spendet hier das Glück eines gefühlsbewegten Gedenkens. In den zahllosen Heimatmuseen, die im 20. Jahrhundert fast von Dorf zu Dorf eingerichtet wurden, drängte auch dieser Umgang mit der Historie in die handgreifliche Sichtbarkeit. Drittens schließlich kann die Geschichte, nach Nietzsches Theorie, ›kritisch‹ betrachtet werden. Dabei wird sie öffentlich angeklagt und als schlechte Vergangenheit vor das Gericht der Heutigen gezogen.2 Dass selbst diese Form des Umgangs mit der Historie ihre Denkmäler finden kann, Zeichen der Warnung, der Scham und des Schuldbekenntnisses, beweisen die Erinnerungsstätten an die Verfolgten und Ermordeten in Deutschland. In der Schweiz ist von dieser Art nichts bekannt, obwohl ein Gedenkstein auf einer Rheinbrücke zur Erinnerung an die in den frühen vierziger Jahren an der Schweizer Grenze Zurückgewiesenen sehr wohl seine Berechtigung hätte. Ein durchaus monumentaler Charakter kommt auf diesem Gebiet hingegen großen historischen Werken wie dem Bonjour-Bericht von 19703 und dem Bergier-Bericht von 2002 zu.4 –––––––— 2

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Vgl. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: F.N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München, Berlin: Deutscher Taschenbuch Verlag / de Gruyter 1980, S. 243–334. Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität. Bde. 3–6. Basel: Helbling und Lichtenhahn 1970. Unter dem Bonjour-Bericht versteht man in der Regel nur diese Bände des neunbändigen Werks. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Zürich: Pendo 2002.

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Jede dieser drei Formen des Umgangs mit der Geschichte hat die Literatur der Schweiz nachhaltig geprägt. Das Monumentalische war lange Zeit dominant. Seine Verknüpfung mit dem Antiquarischen blühte bei Gottfried Keller wunderbar auf. (Ich hege schon lange die Vermutung, dass sich in Nietzsches anrührender Beschreibung des »antiquarischen Menschen« ein Porträt Gottfried Kellers versteckt.)5 Das Kritische schließlich setzte auch schon bei Keller und Gotthelf ein. Es verschärfte sich bei Ramuz, der das Monumentalische nur noch im Regionalen finden konnte und seinen tragischen Tell, Farinet, im gleichnamigen Roman von 1932 aus dem gesamtschweizerischen Bezug heraushielt.6 Zum eigentlichen Epochenphänomen aber wurde Nietzsches Kategorie des kritischen Verhaltens zur eigenen Geschichte in der Schweizer Literatur nach dem 2. Weltkrieg, im »Kritischen Patriotismus«.7 Das setzte praktisch mit dem Kriegsende ein. Nach 1968 aber steigerte es sich in einem Maße, dass man eine Zeitlang der Meinung sein konnte, es gebe in der literarischen Schweiz nur noch schreibende Richter. So triumphalistisch erklang damals dieses landesweite Gericht, dass darüber die Warnung des gleichen Nietzsche vergessen ging: »Als Richter müsstet ihr höher stehen, als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid.«8 Dieses Gericht der Autoren war immer auch ein Gericht über jene Literatur, welche die Schweizer Geschichte monumentalisch betrachtete. Es führte zu einem Literaturbegriff, der überhaupt nur noch die kritische Dimension im Umgang mit der Geschichte akzeptierte. Das entsprach zwar von 1945 bis 1989 einer politischen Notwendigkeit, verstellte aber den Blick auf die Tatsache, dass von 1933 bis 1945 der monumentalische Umgang mit der Geschichte seinerseits eine politische Notwendigkeit gewesen war. Die Auseinandersetzung hat sich inzwischen totgelaufen. Wer heute noch gegen die monumentalischen Elemente der Landesausstellung von 1939 kämpft, ist ein Narr. Was einst Landesgeschichte als Thema der Literatur war, ist in jüngster Zeit zur Familiengeschichte geworden. Die erfolgreichsten Bücher von Thomas Hürlimann, Urs Widmer, Charles Lewinsky und Christian Haller gehören in dieses Feld. Sie sind – im Sinne Nietzsches – überwiegend antiquarisch, aber mit kritischen Seitenhieben zur politischen Geschichte versetzt. Als ihr Vorgänger, als eigentliches Übergangsereignis, kann Otto F. Walters Roman Zeit des Fasans (1988) gelten, ein Werk, das in seiner Komposition den genauen Spagat zwischen der Ästhetik des Kritischen Patriotismus und dem neuen Schweizer Familienroman darstellt. Auch für die Literaturwissenschaft wird die traditionelle politische Mythologie der Schweiz immer belangloser. Der Schlachtendiskurs,9 der im schweize–––––––— 5 6 7

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Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie (Anm. 2), S. 265. Vgl. Charles Ferdinand Ramuz: Farinet. Ou la fausse monnaie. Cosonnay: Plaisir de lire 1997. Vgl. dazu Peter von Matt: Kritischer Patriotismus. Die Auseinandersetzung der Schweizer Schriftsteller mit der guten und mit der bösen Schweiz. In: P.v.M.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München: Hanser 2001, S. 131–143. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie (Anm. 2), S. 293. Vgl. dazu Peter von Matt: Die Inszenierung des politischen Unbewussten in der Literatur. In: von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen (Anm. 7), S. 96–103.

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rischen Schreiben lange Zeit eine außerordentliche Rolle spielte, ist für die Germanistik nur mehr ein Kuriosum; er weckt höchstens angesichts so gespenstischer Texte wie Robert Walsers Schlacht bei Sempach (1905) noch einige Aufmerksamkeit.10 In den öffentlichen politischen Auseinandersetzungen spielen die alten mythologischen Elemente zwar bei den europafeindlichen Parteien weiterhin eine propagandistische Rolle, doch mehr im Sinne stereotyper Wiederholungen als vitaler Bilder. Die umfassende Politikferne der jüngsten Landesausstellung ›Expo.02‹, deren Verantwortliche sogar die Schweizerfahnen für unerwünscht erklärten,11 wurde durch das altertümliche Panorama der Schlacht von Murten im rostigen Kubus des Architekten Jean Nouvel mitten im Murtensee ironisch unterstrichen. Das Riesengemälde wirkte nicht als identifikatorisches Signal, nicht monumentalisch also, sondern wie ein postmodernes Zitat aus dem verschollenen Schlachtendiskurs in einem Umfeld von esoterisch angehauchten Installationen. So sehr die literarische Tradition der deutschen Schweiz seit ihren Anfängen von der politischen Mythologie und vom Schlachtendiskurs eingefärbt ist – ähnlich wie die Literatur der deutschen Klassik vom Mythos des wiederkehrenden Griechenland auf deutschem Boden –, so wenig darf sie doch als Ganzes von diesen Erzählungen, Bildern und Zeichen her gedeutet und beschrieben werden. Das wird schon dadurch belegt, dass der Untergang der politischen Mythologie die literarische Überlieferung des Landes weder gefährdet noch umgewertet hat. Zunehmend stärker sichtbar aber werden jetzt bestimmte Themen und Motive, die es zwar auch in andern Literaturen gibt, die aber in der Tradition des Schreibens in der Schweiz eine spezifische Aussagekraft gewinnen. Das zielt nicht auf jenes vieldiskutierte ›Wesen‹ der Schweizer Literatur, das wie das Monster von Loch Ness mit Sicherheit jedes Jahr einmal auftaucht und mit gleicher Sicherheit nicht existiert. Es zielt vielmehr auf mentalitätsgeschichtlich aufschlussreiche inhaltliche Tendenzen im schweizerischen Schreiben. Sie werden nur dann aussagekräftig, wenn man sie sachlich studiert, das heißt, ohne insgeheim doch wieder auf das nationalliterarische Loch-NessMonster zu schielen. Das gewissermaßen klassische Beispiel ist der Heimkehrer-Roman, das Heimkehrer-Stück, das Heimkehrer-Gedicht mit der jeweils charakteristischen Reflexion an der Grenze.12 Das Motiv entsteht nicht erst mit den berühmten Fällen von Gotthelfs Bauernspiegel (1837)13 und Kellers Grünem Heinrich (1853–55);14 es –––––––— 10 11 12 13

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Robert Walser: Schlacht bei Sempach [1908]. In: R.W.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Bd. 2. Geschichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 95–104. Nach Demarchen aus politischen Kreisen wurde schliesslich im Innern eines Turmes doch noch eine Installation aus verbrauchten, windzerfetzten Schweizerfahnen errichtet. Vgl. dazu Peter von Matt: Der Traum an der Grenze. Zur literarischen Phantasie in der Schweiz. In: von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen (Anm. 7), S. 113–122. Jeremias Gotthelf: Der Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf. Von ihm selbst beschrieben. In: J.G.: Sämtliche Werke in 24 Bänden. In Verbindung mit der Familie Bitzius hg. von Rudolf Hunziker und Hans Bloesch. Bd. 1. Erlenbach, Zürich: Eugen Rentsch 1921. Gottfried Keller: Der Grüne Heinrich. Zweite Fassung. In: G.K.: Sämtliche Werke in

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taucht schon beim Humanisten Glarean auf, der um 1514 eine große Dichtung über seine Heimkehr ins Vaterland schreibt.15 Auf diese hat Johann Gaudenz von Salis-Seewis 1785 ein Echo gegeben mit der in Paris geschriebenen Elegie an mein Vaterland, der grandiosen Vision eines Fluges aus der Großstadt in die Heimat.16 Gewiss, Heimkehrer-Literatur gibt es in aller Welt; niemand will da ein Monopol für die Schweiz in Anspruch nehmen. Aber es ist lohnt sich, das eigentümliche Nachdenken über die Schweiz zu studieren, das in den helvetischen Beispielen inszeniert wird und das sich von Epoche zu Epoche ändert. Bei Heinrich Leuthold etwa, in seinem Heimkehrer-Gedicht Der Zürichersee von 1872, ist die Pointe schon nicht mehr monumentalistisch begeistert, sondern kritisch bitter. Ein Künstler, heißt es zuletzt, habe in dieser Heimat nichts verloren: [...] setz’ weiter den Wanderstab! Den Sänger nährt der heimische Boden nicht… Zugvögel mögen dich geleiten Über die Berge nach fernen Zonen!17

Motive dieser Art sind nicht Mythen, auch wenn sie mythisches Material transportieren können. Es sind literarische Handlungsmuster, deren Anziehungskraft für die Autoren darauf beruht, dass sie eine dramatisch inszenierte Theoriebildung über die Schweiz ermöglichen. Ein Motiv von ähnlicher Bedeutung für die Schweizer Literatur wie der Heimkehrer ist das handelnde Kollektiv, genauer noch: das schuldhaft handelnde Kollektiv. Das ist schon deshalb interessant, weil die Literatur in der Regel den handelnden Einzelnen sucht, den Protagonisten, die Protagonistin. Der schuldige Held macht in seiner Einsamkeit die Mitte jeder Tragödie aus. Das schuldige Kollektiv, würde man denken, gibt es in der Literatur eigentlich gar nicht, höchstens als Hintergrund für profilierte Individuen. So, als zwielichtige Folie für ragende Einzelgestalten, erscheint etwa die Volksmenge in Shakespeares Coriolan und Julius Caesar, so erscheint die Masse der dummen Spießer in Wielands Abderiten (1774) und in Wilhelm Hauffs Der Affe als Mensch (1830). In der Literatur der Schweiz beginnt mit Gotthelf eine Tradition der unerbittlichen Analyse verfehlten Gemeinschaftshandelns. Man ist sich in einer Gemeinde zwar bewusst, dass man das Unglück von Armen, Verschupften, Ausgestoßenen bewirkt, aber weil die andern auch nichts dagegen tun, lässt man es geschehen oder hilft sogar nach. Das mächtigste Beispiel sind, wer wüsste es nicht, die Bauern von Sumiswald in Gotthelfs Erzählung Die schwarze Spinne (1842). Zwar gibt es da sehr wohl Protagonisten, eine Protagonistin insbesondere, –––––––—

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7 Bänden. Hg. von Thomas Böning et.al. Bd. 3. Hg. von Peter Villwock. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1996. Glarean: Das Epos vom Heldenkampf bei Näfels und andere bisher ungedruckte Gedichte. Hg. von Konrad Müller und Hans Keller. Glarus: Baeschlin 1949. Vgl. dazu den immer noch wegweisenden Aufsatz von Max Wehrli: Der Schweizer Humanismus und die Anfänge der Eidgenossenschaft. In: Schweizer Monatshefte 47 (1967), H. 2, S. 127–146. Johann Gaudenz von Salis-Seewis: Elegie an mein Vaterland. In: J.G.v.S.-S.: Gesammelte Gedichte. Hg. von Christian Erni. Chur: Calven 1964, S. 93–96. Heinrich Leuthold, Gedichte. Frauenfeld: Huber 1884, S. 179.

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die Lindauerin Christine, die den Pakt mit dem Teufel wagt. Aber so wie die Haupthandlung in der kollektiven Katastrophe gipfelt, dem Tod fast der ganzen Bevölkerung durch die in der Spinne verkörperte Pest, so ist auch die tiefste Ursache dieses Unheils nicht die Tat der einzelnen Frau, sondern die gemeinsame Verfehlung der Bauern. Sie wissen, was sie tun, aber sie wollen es nicht wahrhaben und finden Gründe, es gegen ihr Gewissen durchzuführen. Diese subtilen Mechanismen der Selbsttherapie gegenüber einem akuten Schuldgefühl machen die Erzählung zum sozialpsychologischen Ereignis. Die Story um Christine ist zwar reich an erzählerischen Knalleffekten, geht aber mit dem Klischee von der Frau als der Einfallspforte des Übels, dem Eva-Topos, zu krass um, als dass sie über die Effekte hinaus viel bewegte. Weit unheimlicher als die Fantasy-Elemente – Gotthelf ist der einzige genuine Fantasy-Autor der Schweiz, man hat es nur noch nicht gemerkt – sind die psychologischen Abläufe gemeinsamer Schuld-Verdrängung und Schuld-Verschiebung. Dazu gehört als erstes die reflexartige Delegation der sittlichen Verantwortung an die andern. Sie erscheint in dem lapidaren Satz: »[…] es tröstete ein jeder sich: fehle es, so trage der andere die Schuld.«18 Das ist ein einfacher Mechanismus, der jedem von uns aus seinem eigenen Seelenleben peinlich vertraut ist. Komplexer und politisch bedeutungsvoller ist das Verhalten des Kollektivs bei der gemeinsamen Beschlussfassung, einem zentralen demokratischen Vorgang also. Christine fordert von den Männern die verbindliche Entscheidung, dass das nächste Neugeborene ungetauft dem Teufel übergeben werde. Dazu heißt es: So erzählte Christine, und die Herzen der Männer bebten, und lange wollte keiner reden. Nach und nach kamen aus den angstgepressten Kehlen abgebrochene Laute hervor, und wenn man sie zusammensetzte, so meinten sie gerade, was Christine meinte, aber kein einzelner hatte seine Einwilligung gegeben in ihren Rat.19

Das ist eine außerordentliche Stelle. Hier werden der gemeinsame Wille zum Verbrechen und die gleichzeitige Selbstabsolution zu einem sprachlichen Ereignis. Der versammelte Rat debattiert, aber jeder gibt nur halbartikulierte Töne und Wortfetzen von sich. Diese deuten zwar alle in die gleiche Richtung und ergeben zusammen eine einzige Meinung, aber als einzelne Verlautungen sind sie so sinnlos, dass jeder Sprecher glaubt, man werde ihn darauf nicht behaften können. Soviel zur Beratung; es folgt die Beschlussfassung: »Und abgebrochen, wo keiner alles sagte, sondern jeder nur etwas, das wenig bedeuten sollte, kam man überein, das nächste Kind zu opfern, aber keiner wollte seine Hand bieten dazu, niemand das Kind an den Kilchstalden tragen.«20 Auch die offizielle Entscheidung setzt sich also aus lauter »abgebrochenen« Signalen zusammen. Ihre Summe ist eindeutig, und es heißt denn auch abschließend: »Verständigt mit und ohne Worte, ging man auseinander.«21 Der Trick –––––––— 18 19 20 21

Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne. In: J.G.: Sämtliche Werke in 24 Bänden. (Anm. 13). Bd. 17. 1936, S. 4–97, hier S. 46. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd.

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besteht wiederum darin, dass keiner den Beschluss wirklich formuliert, in der Überzeugung, sich notfalls auf sein unklares Stammeln berufen zu können. Der Erzähler lässt aber keinen Zweifel an der gemeinsamen Verantwortung. »Beschlossen im Rat der Menschen« nennt er den Verkauf des Kindes an den Teufel.22 Man muss diesen Vorgang mit dem monumentalischen Ereignis in Schillers Tell (1804) vergleichen, wo die politische Willensbildung zum dröhnenden Chor wird: »Wir wollen sein, ein einzig Volk von Brüdern.«23 In der Differenz zwischen Schillers sprachsicherem Chor und dem stockenden Gemurmel der versammelten Sumiswalder Bauern steckt die Differenz zwischen der idealistischen Verklärung der Demokratie und ihrer psychologisch abgründigen Analyse. Diesen Vorgängen vor dem Verbrechen entspricht in der Erzählung das, was nach dem Verbrechen kommt. Die Pest ist ausgebrochen, die Strafe für alle ist da. Wieder rückt uns Gotthelf das Kollektiv scharf beleuchtet vor Augen, und wieder wird daraus eine Studie über das Verhalten in der gemeinsamen Schuld: So stunden sie bebend zusammen und jammerten, und wer bei den andern war, der durfte [d.h. wagte sich, P.v.M.] nicht mehr heim, und doch war Zank und Streit unter ihnen, und einer gab dem andern schuld, und jeder wollte abgemahnet und gewarnet haben, und jeder hatte nichts darwider, dass Strafe die Schuldigen treffe, sich und sein Haus wollte aber jeder ohne Strafe. Und wenn sie in diesem schrecklichen Harren und Streiten ein neu, unschuldig Opfer gewußt hätten, es wäre keiner gewesen, der nicht an demselben gefrevelt in der Hoffnung, sich selbst zu retten.24

Hier werden nun tatsächlich die bei der Beschlussfassung nur gestammelten Äußerungen in Warnungen und Ablehnungen umgedeutet. Das ist angesichts der Sprachfetzen linguistisch und juristisch keineswegs abwegig. Auf diese Weise entstehen aus Mitläufern Widerständler – ein Vorgang, der sich im 20. Jahrhundert nach dem Ende des Hitlerreichs europaweit ereignet hat. Und es gehört zum Genie Gotthelfs, dass er jetzt nicht mit einem Sündenbock auffährt, an dem sich alle freiheucheln können, sondern dass er sie verzweifelt nach einem Sündenbock sich sehnen lässt, ohne dass ihnen einer geschenkt würde: »Und wenn sie in diesem schrecklichen Harren und Streiten ein neu, unschuldig Opfer gewußt hätten, es wäre keiner gewesen, der nicht an demselben gefrevelt [...].« Dass das berühmteste Theaterstück der Schweizer Literatur, Dürrenmatts Besuch der alten Dame (1956), auf dem Grundmuster der Schwarzen Spinne aufgebaut ist, lässt sich mit Händen greifen. Ob sich der Gotthelf-Leser Dürrenmatt dessen bewusst war, ist nicht auszumachen.25 Auch hier ist die Inszenierung des schuldigen Kollektivs das Kernereignis; auch hier ist sie kontrastiert mit einer schrill kolorierten Einzelfigur. Vielleicht stammt die Wirkungskraft des Stücks auch –––––––— 22 23 24 25

Ebd. S. 58. Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. II/2, Vs. 1447. In: F.S.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. 2. Dramen 2. München: Hanser 1981, S. 964. Gotthelf: Die schwarze Spinne (Anm. 18), S. 67. Dass der Diogenes-Verlag seine Gotthelf-Auswahl später noch mit einer Ausgabe des Bauernspiegels ergänzte, ging auf einen persönlichen Vorstoss Dürrenmatts beim Verleger zurück.

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daher, dass in ihm zwei charakteristische Motive der Schweizer Literatur zur Deckung gelangen: der Heimkehrer-Topos und die schuldige Gemeinschaft. Auch Dürrenmatts Tragikomödie verbindet das kollektive Schuldigwerden mit Szenen der politischen Demokratie; auch hier wird gemeinsam entschieden, in der Volksversammlung, mit einem Ja aller Männer zum Verbrechen. (Das Stück ist 15 Jahre vor der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz entstanden.) Die Abstimmung geschieht feierlich wie der Rütlischwur. Das ist diesmal möglich, weil ein sophistischer Trick die Entscheidung verschleiert. In Wahrheit müsste die den Bürgern vorgelegte Frage lauten: »Wollt ihr, dass unser Mitbürger Ill getötet wird, damit wir dafür die versprochene Milliarde bekommen?« Sie lautet aber aus dem Munde des Bürgermeisters so: »Wer reinen Herzens die Gerechtigkeit verwirklichen will, erhebe die Hand.«26 Und alle außer dem Opfer, Alfred Ill, erheben ihre Hand. Zu ihrer Selbstabsolution haben die Bürger von Güllen Ills einstigen Verrat an seiner Geliebten, den sie damals alle billigten, zum Verbrechen erklärt und den Mord an ihrem Mitbürger zu einem Akt der Gerechtigkeit. Wie bei Gotthelf gerät damit die Geschichte vom Schuldigwerden der Gemeinschaft zur Kritik an einer der geläufigsten ideologischen Verbrämungen der Demokratie: dass nämlich der Wille aller auch das Richtige und Gute schaffe, dass die vox populi die vox Dei sei, mit Rousseau: dass le volonté générale nicht irren könne. Es wäre nun aber falsch in den literarischen Werken um das schuldige Kollektiv primär den demokratiekritischen Diskurs zu sehen. Die meisten Beispiele, die ich kenne, sind offener. Sie sind sozialpsychologisch breit angelegt und spielen vielfältig zwischen fröhlicher Humoreske, scharfer Satire und ernster Tragik. Das ließe sich zeigen bei einer Analyse der Gemeinschaft der Seldwyler in den zwei Teilen von Gottfried Kellers Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856 und 1874/75). Dieser seltsamen Sippe gegenüber käme wohl niemand geradewegs auf den Begriff des schuldigen Kollektivs. Dennoch hängt er immer in der Luft, im zweiten Teil noch stärker als im ersten. Im ersten Teil werden die Seldwyler ironisch verurteilt, weil sie gegen die Normen der Gegenwart verstoßen, einem vorkapitalistischen Genussverhalten nachleben und den Siegeszug der innerweltlichen Askese in der bürgerlichen Welt nicht anerkennen. Im zweiten Teil aber geraten sie vor das Gericht des Erzählers, gerade weil sie nun von diesem ursprünglichen Charakter abweichen und zunehmend auf eine ausbeuterische, die Ressourcen zerstörende Ökonomie verfallen. Die Komplexheit dieser kleinen Gesellschaft beruht wesentlich auf der moralischen Ambivalenz, mit der der Autor selber ihr begegnet. Bald sind sie die letzten, die das diesseitige Leben festlich zu feiern wagen; bald sind sie nichts weiter als »die Lumpenhunde zu Seldwyl«, als welche der Bauer Manz in Romeo und Julia auf dem Dorfe sie bezeichnet.27 Ein Höhepunkt dieses kostbar schillernden Zwielichts ist das Finale der Drei gerechten Kammacher. Hier –––––––— 26 27

Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Zürich: Arche 1956, S. 93. Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: G.K.: Sämtliche Werke (Anm. 14). Bd. 4. Die Leute von Seldwyla. Hg. von Thomas Böning. 1989, S. 69–144, hier S. 71.

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versammeln sich alle Seldwylerinnen und Seldwyler am hellen Mittag, um dem Wettrennen der Kammacher zuzuschauen. Sie machen ein Fest aus dem Jammer der zwei vertrockneten Seelen, die aus Geiz und Scheelsucht zum öffentlichen Gespött werden. Ein Spektakel der jubelnden Schadenfreude und des menschlichen Elends hebt an, und der Autor schildert es in seiner ganzen akustischen Vielfalt. Die zwei Wettläufer haben sich vor den Toren Seldwylas zu prügeln begonnen und laufen nun, immerzu sich prügelnd, durch das Städtchen, unter dem ungeheuren Gelächter der entzückten Einwohnerschaft: Sie weinten, schluchzten und heulten wie Kinder und schrieen in unsäglicher Beklemmung: »O Gott! laß los! Du lieber Heiland, laß los Jobst! laß los Fridolin! laß los Du Satan!« dazwischen schlugen sie sich fleißig auf die Hände, kamen aber immer um ein weniges vorwärts. Hut und Stock hatten sie verloren, zwei Buben trugen dieselben, die Hüte auf die Stöcke gesteckt, voran und hinter ihnen her wälzte sich der tobende Haufen; alle Fenster waren von der Damenwelt besetzt, welche ihr silbernes Gelächter in die unten tosende Brandung warf, und seit langer Zeit war man nicht mehr so fröhlich gestimmt gewesen in dieser Stadt. Das rauschende Vergnügen schmeckte den Bewohnern so gut, daß kein Mensch den zwei Ringenden ihr Ziel zeigte, des Meisters Haus, an welchem sie endlich angelangt. Sie selber sahen es nicht, sie sahen überhaupt nichts, und so wälzte sich der tolle Zug durch das ganze Städtchen und zum andern Tore wieder hinaus.28

Wohl erhalten hier zwei missgünstige Charaktere ihre Strafe, und insofern ist das Verhalten der vereinigten Seldwyler ein Werkzeug der Gerechtigkeit. Aber die Not der beiden Verzweifelten ist so groß und ihr anschließendes Ende so schrecklich – einer erhängt sich, der andere verkommt in Liederlichkeit –, dass jedem Leser das Gelächter im Halse stecken bleibt. Nur die Seldwyler selbst können nicht aufhören zu feiern: Die ganze Stadt, da sie einmal aufgeregt war, hatte die Ursache schon vergessen und feierte eine lustige Nacht. In vielen Häusern wurde getanzt und in den Schenken wurde gezecht und gesungen, wie an den größten Seldwylertagen; denn die Seldwyler brauchten nicht viel Zeug, um mit Meisterhand eine Lustbarkeit daraus zu formen.29

Diese Festlichkeit, die sogar ihren Anlass und damit auch das Schicksal der zwei Männer vergessen hat, bekommt einen unheimlichen Einschlag. Sie wird mitleidlos und unmenschlich. Die weinfeuchten Seelen der Seldwyler erscheinen plötzlich ebenso zwielichtig wie die vertrockneten Seelen der Kammacher, und der Begriff vom schuldigen Kollektiv liegt nicht mehr weit ab. Ins fraglos Positive gewendet erscheint die eminente Genusskultur der Seldwyler dann aber wieder in der Novelle Dietegen.30 Hier steht sie im Kontrast zu den Gesetzen und Gebräuchen eines gnadenlos grausamen Staatswesens, der benachbarten Leute von Ruechenstein. Was sonst als schleiernde Zweideutigkeit um die Seldwyler hängt, löst sich jetzt auf in der Opposition zwischen deren Menschenfreundlichkeit und der brutalen Inhumanität der Ruechensteiner. Diese verkörpern den Inbegriff eines schuldigen Kollektivs. Sie sind so homogen –––––––— 28 29 30

Gottfried Keller: Die drei gerechten Kammacher. In: Ebd., S. 195–239, hier S. 238. Ebd., S. 239. Gottfried Keller: Dietegen. In: G.K.: Sämtliche Werke (Anm. 14). Bd. 4 (Anm. 27), S. 438–498.

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bösartig wie der Bösewicht im Märchen. Dadurch büßt die finstere Gesellschaft allerdings auch an Komplexität ein. Sie belegt zwar die Attraktivität des Motivs für Gottfried Keller, in Hinsicht auf seine Feinstruktur erbringt sie aber wenig. Anders ist es mit dem Andorra-Konzept bei Max Frisch. Ich meine damit nicht nur das Stück, sondern auch die viel frühere Ausbildung eines literarischen Entwurfs, den man durchaus, in Anspielung an Keller, Die Leute von Andorra nennen könnte. Das beginnt gleich nach dem Krieg, 1946, im Tagebuch mit Marion. Dieses erschien noch in der Schweiz, 1947. Der Zürcher Verleger Martin Hürlimann wollte keine Fortsetzung, während Peter Suhrkamp in Frankfurt Frisch dazu aufforderte. Suhrkamp hatte das literarische und intellektuelle Potential des Buches erkannt. Die Fortsetzung erschien denn auch 1950, zusammen mit dem überarbeiteten ersten Teil, unter dem Titel Tagebuch 1946–1949 im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Das Andorra-Konzept, die Figur des Puppenspielers Marion und der Kulturpapst Cesario sind die drei dominierenden fiktionalen Elemente im Tagebuch mit Marion. Es bleibt merkwürdig, dass alle drei in der Fortsetzung aus den Jahren 1948/49 nicht mehr auftauchen. Marion ist eine autobiographisch geprägte Gestalt, ein verträumter Künstler vom Land, der in die Stadt geht, in die Öffentlichkeit, zur Audienz bei Cesario. Er verhält sich zu Frisch selbst wie Andorra zur Schweiz und wie Cesario zum damaligen Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, Eduard Korrodi.31 Die Stilisierung der eigenen Person zum naiven Puppenspieler, der sich eines Tages erhängt, die Stilisierung der Schweiz zu einem Land namens Andorra und die Verkörperung des herrschenden konservativen Kulturbegriffs in der Figur Cesarios ermöglichten ein mehrdeutiges, anspielungsreiches Reden. Es kann sein, dass die Marion-Figur nach 1947 tatsächlich nichts mehr hergab; das Andorra-Konzept dagegen blieb auf irritierende Weise fragmentarisch. Erst mit dem berühmten Stück von 1961 wurde es dann doch noch einmal aufgegriffen. Das war ähnlich verzögert wie die Schlussattacke auf das Prinzip Cesario, die erst an Weihnachten 1966 geritten wurde, in der legendären Polemik gegen Emil Staiger.32 Auch Marion gehört zu Andorra. Er ist Künstler in Andorra und scheitert an Andorra. Wenn sein Name nach 1947 –––––––— 31

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Dass mit Cesario Eduard Korrodi gemeint sei, hat mir Frisch selbst im Gespräch bestätigt. Der Name Cesario, der in Shakespeares Komödie Was ihr wollt einen als Mann verkleidetes Mädchen bezeichnet, enthält eine böse Anspielung auf Korrodis bekannte, aber beschwiegene Homosexualität. Im weiteren Verlauf des Tagebuchs mit Marion wird dann allerdings betont, dass Cesario nicht nur für einen bestimmten Menschen stehe, sondern für eine ganze Gruppe resp. den Typus der kulturkonservativen Leitfigur in Zürich. Dazu zählten neben Korrodi auch Leute wie Emil Staiger, Walther Meier und Max Rychner, alles Mitglieder jener legendären ›Freitagsrunde‹, die sich im Café Odeon zu treffen pflegte. Vgl. dazu Erwin Jaeckle: Die Zürcher Freitagsrunde. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte. Zürich: Rohr 1975 und ders.: Zeugnisse zur Freitagsrunde. Zürich: Rohr 1984. Max Frisch: Endlich darf man es wieder sagen. Zur Rede von Emil Staiger anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich am 17.12.1966. In: Weltwoche, 24.12.1966. Eine umfassende Dokumentation und Diskussion dieser Debatte erschien in zwei Heften der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Hg. von Walter Höllerer. Stuttgart: Kohlhammer, Nr. 22 (April/Juni 1967) und Nr. 26 (April/Juni 1968).

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nicht mehr fällt, wird dies auch damit zusammenhängen, dass Max Frisch seinem eigenen drohenden Scheitern in der Schweiz durch einen Salto entging: Er wurde fast über Nacht zu einer literarischen Leitfigur der jungen Bundesrepublik Deutschland. Das Tagebuch 1946 –1949, das der Schweizer Verleger abgelehnt hatte – aus Angst vor Cesario und aus Solidarität mit ihm –, legte das Fundament dazu.33 Der Auftakt des Andorra-Konzepts nimmt Dürrenmatts Allegorie von der Schweiz als Gefängnis vorweg. Beschrieben wird das »andorranische Wappen«: »Eine heraldische Burg, drinnen ein gefangenes Schlänglein, das mit giftendem Rachen nach seinem eignen Schwanze schnappt.«34 In diesem Emblem überlagern sich gegensätzliche Bedeutungen. Einerseits ist die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, der Ouroboros, ein uraltes, schon in der Antike bekanntes Symbol. Es steht für Abschluss, Neubeginn und Wiedergeburt. Das ist nicht ohne Gewicht in einem Buch, dessen Autor in einer Art Häutung begriffen ist und seine bisherige Existenz zugunsten einer neuen hinter sich lassen will. Marion erhängt sich, und Max macht den Salto. Diese Deutung des andorranischen Wappens steht nun allerdings in krassem Widerspruch zur Deutung im Text selbst. Dort ist die Schlange ein böses »Schlänglein«. Es ist gefangen in einer Burg und kann seine Aggressionen nicht anders ausleben, als indem es die Giftzähne in den eigenen Schwanz schlägt. Damit wird es zum Zeichen für das bestehende Schlechte, für eine kleine, missgünstige Gesellschaft, die sich mit dem Rücken zur Welt stellt und damit eigenhändig einsperrt. »Ein schmuckes Wappen, ein ehrliches Wappen«,35 meint der Autor dazu mit einer fast zu schrillen Ironie. Das hermeneutische Problem, ob man das Wappen von Andorra derart gegensätzlich deuten dürfe, wie ich es getan habe: als Sinnbild sowohl der Neugeburt wie des Versteinerns im Alten, kann ich hier nicht weiter diskutieren. Bewusste Intention und unbewusste Steuerung überlagern sich in dem merkwürdigen Zeichen. Das spezifische Fehlverhalten des Kollektivs Andorra im Tagebuch mit Marion ist nicht leicht auf den genauen Begriff zu bringen. Ästhetische, ethische und sozialpsychologische Kategorien greifen hier ineinander. Die ästhetische Frage dreht sich um den Kulturbegriff. Er wird neu gefasst und im Sinne der littérature engagée polemisch gegen das antiquarisch-museale Verständnis der genießenden Kenner gerichtet. Im Ethischen und Sozialpsychologischen dagegen dreht sich die Reflexion um Wahrhaftigkeit und Lüge sowohl in der besseren Gesellschaft als auch im Umgang mit der Kunst und den Künstlern. Dass der Puppenspieler stets die drei Marionetten Christus, Pilatus und Judas mit sich trägt, wird zum Sinnbild: Christus als die verkörperte Wahrheit (gemäß Johannes 14.6), Pilatus als der Skeptiker gegenüber aller Wahrheit (gemäß Johannes 18.38) und Judas als die Verkörperung des Verrats und der geschändeten Wahrheit. Tatsächlich brauchen wir diese drei Figuren, um das Andorra–––––––— 33 34 35

Max Frisch: Tagebuch 1946–1949. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1950. Max Frisch: Tagebuch mit Marion. Zürich: Atlantis 1947, S. 8. Ebd.

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Konzept zu verstehen. Marion ist reinen Herzens, als er in die Stadt fährt, zu den Andorranern, ins Reich Cesarios. Er nimmt »alles für bare Münze, was man ihm sagt«.36 Die allgemeine Verlogenheit verwirrt ihn dann so, dass er zuletzt auch sich selbst als Verräter erlebt. Eines Tages sieht er in seinem Spiegel das Gesicht von Judas. Da erhängt er sich, wie dieser es getan hat. Und genau dieses Moment, Judas im Spiegel, bildet nun auch die Pointe in der Erzählung Der andorranische Jude, welche ebenfalls schon im Tagebuch mit Marion steht, als wesentlicher Teil des Andorra-Konzepts und als erster Entwurf zum Stück Andorra, das 15 Jahre später auf die Bühne kommen wird. Es ist eine Parabel über jene spezifische Lüge, an der Marion zugrunde geht. Die Handlung des späteren Stücks ist bekannt; ihre Verwandtschaft mit der Schwarzen Spinne und der Alten Dame braucht hier auch nicht weiter erläutert zu werden. Wichtig aber ist mir der Satz, mit dem die Keimzelle des Stücks, die Kalendergeschichte vom Andorranischen Juden, endet: »Die Andorraner aber, so oft sie in den Spiegel blickten, sahen mit Entsetzen, dass sie selber die Züge des Judas trugen, jeder von ihnen.«37 Ich darf wiederholen: »jeder von ihnen«. Das ist das schuldige Kollektiv. In seiner Feinstruktur erscheint es hier wieder ganz anders als bei Gotthelf, anders als bei Keller, anders als bei Dürrenmatt. Aber es liegt, wie bei diesen auch, in einem intellektuellen Kernbereich des Autors und strahlt aus in die unterschiedlichsten Bereiche des Gesamtwerks. Soviel zu einem Motiv, das in der Schweizer Literatur auffällig häufig vorkommt und eine spezielle Bedeutung hat für das literarische Nachdenken über die Schweiz. Man könnte weitere Motive dieser Art finden. Der versiegelte Mund zum Beispiel wäre eines, die Unfähigkeit zu sprechen bei gefährlich wachsendem Innendruck, ein großes Thema bei Gotthelf und Keller, aber auch noch bei Walser und Walter. Oder die Erfahrung der Metropolen – Paris, Berlin, New York. Des weiteren das Meer, von dem wir in der Schweiz ja nur träumen können. Schließlich das fast inflationäre Nachbilden von Glausers brummiger Detektivfigur Wachtmeister Studer (einer Kopie ihrerseits von Simenons Maigret) im Schweizer Kriminalroman. Es geht bei solchen Motiven nicht um ihre statistische Häufung, sondern um ihre Aussagekraft innerhalb des Kontinuums literarischer Reflexionen über die Schweiz. Und es geht auch nicht um Motivgeschichte im herkömmlichen Sinn wie etwa bei der Frage nach dem Großvater in der Schweizer Literatur oder dem Ehebruch in der Schweizer Literatur oder dem Fußball in der Schweizer Literatur. Es geht um Themen und Motive, die nichts zu tun haben mit der alten helvetischen Mythologie, Themen und Motive, die überall auf der Welt vorkommen können, deren auffällige Wiederkehr im Schreiben in der Schweiz aber auf eine zusätzliche Semantik deutet, eine, wenn ich es so sagen darf, einheimische Bedeutung. Dieser einheimischen Bedeutung sachlich nachzuspüren, textnah, mit wissenschaftlich zuverlässigen Mitteln und ohne auf das nationale Loch-Ness-Monster zu schielen, ist eine lohnende Arbeit. –––––––— 36 37

Ebd. S. 10. Ebd. S. 37.

Michael Böhler

Gefängnis Schweiz oder Bergnebel Seldwyla? Zur Frage von Raum- und Zeitbindung der Schweizer Literatur

1990 versammelte Seamus Deane, Professor emeritus am University College hier in Dublin, Schriftsteller, Lyriker und Herausgeber der Field Day Anthology of Irish Writing, drei Essays von Terry Eagleton, Frederic Jameson und Edward W. Said als »pamphlets« der Field Day Theatre Company in einer kleinen Broschüre mit dem Titel Nationalism, Colonialism, Literature.1 Es ist nicht bloss ein Tribut an den genius loci, wenn ich meine Darlegungen mit ein paar Sätzen aus Terry Eagletons Beitrag Nationalism: Irony and Commitment einleite. Vielmehr finden sich dort Überlegungen, die mutatis mutandis auch für das Thema dieses Bandes beherzigenswert sind – allein schon das Stichwortpaar »irony and commitment« gehört dazu. Nationale Zugehörigkeit, ebenso wie soziale Klassenlage, stellt Eagleton eingangs fest, involviere eine »impossible irony«, wie sie eine afrikanische Romanfigur in Raymond Williams Roman Second Generation (1964) formuliert habe: »Nationalism [...] is in this sense like class. To have it, and to feel it, is the only way to end it. If you fail to claim it, or give it up too soon, you will merely be cheated, by other classes and other nations.«2 Die »impossible irony« – deren impossibility eigentlich ein Paradox markiert – spielt nun aber nicht nur im Kontext von Nationalität oder Klassenlage, sondern auch in andern Konstellationen, wo kollektive Identitäten involviert sind, bei denen partikulare Gegebenheiten und universale Ansprüche aufeinander stossen, so etwa bei Geschlechter- oder Konfessionszugehörigkeit – oder auch bei Konstellationen wie jener der Schweizer Kultur und Literatur im Kontext der gleichsprachigen Nachbarkulturen Frankreichs, Deutschlands oder Italiens: If the binary opposition between ›man‹ and ›woman‹ can always be deconstructed – if each term can always be shown to inhere parasitically within the other – then just the same is true of the opposition between those other virulently metaphysical forms of identity, Catholic and Protestant. Catholic, of course, means universal; so there is something curious in using it to define a particular kind of national identity. There is a good Joycean irony involved in establishing one’s Irish identity by reference to a European capital. But the claim of the Roman Catholic church to universality is in any case only necessary once that status has been challenged by Protestantism, and so is no sooner raised than refuted, denying itself in the very act of assertion. Protestantism, on the other hand, is in one sense an aberration from such universal identity, an affirmation of national difference; yet it takes

–––––––— 1 2

Seamus Deane (Hg.): Nationalism, Colonialism, and Literature. With an introduction by Seamus Deane. A Field Day Book. Minneapolis: University of Minnesota Press 1990. Terry Eagleton: Nationalism: Irony and Commitment. In: Seamus Deane (Hg.): Nationalism, Colonialism, and Literature (Anm. 1), S. 23–42, hier S. 23.

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Michael Böhler the historical form of a return to the pure universal essence of Christianity which the Church of Rome has supposedly contaminated.3

Sind dies die Ironien von (Selbst-)Behauptung und (Selbst-)Verneinung, wie sie im irischen Kontext von Nationalität und Konfessionalität spielen, so können wir hinsichtlich der Frage einer Schweizer Literatur und des Schweizer Literaturdiskurses im Kontext von Nationalität und transnationaler Sprachkultur eine vergleichbare Rhetorik der Ironie beobachten. Ich rekapituliere daher zunächst die wichtigsten Merkmale dieses Diskurses und der Schwierigkeiten für Schweizer, ungeniert »Schweizer Literatur« zu sagen.4 Anschliessend werde ich versuchen, das Rahmenthema ›Mythos Schweiz‹ bzw. ›Mythos Schweizerliteratur‹ mit der Frage nach der Raum- und Zeitbindung von Literatur unter Rückgriff auf Michel Foucault, Anthony Giddens und weitere raumsoziologische Untersuchungen aus jüngster Zeit unter einem bisher wenig beachteten Gesichtswinkel neu zu perspektivieren, und im dritten abschliessenden Teil sollen ein paar mögliche Fährten im Umgang mit Schweizer Literatur unter dem gewonnenen Theoriehorizont skizziert werden.

I Die Eigentümlichkeiten des schweizerischen Literaturdiskurses und die Schwierigkeiten für Schweizer, »Schweizer Literatur« zu sagen, lassen sich – verkürzt und überspitzt – in sechs Punkte fassen: 1. Der schweizerische Literaturdiskurs qua Diskurs über Schweizer Literatur tendiert – insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz – dazu, sich primär mit sich selbst zu befassen, und dies kaum je in vergleichender Perspektive etwa mit kulturgeographisch ähnlich gelagerten Literaturen wie etwa den anglophonen in Ländern wie Irland oder Indien bzw. den frankophonen etwa in Québec oder den französischen Antillen. Damit verbunden ist ein weiterer Charakterzug: 2. Dieser Diskurs wird in der Regel von Schweizern geführt. Dazu kommen weltweit vielleicht ein gutes Dutzend literaturwissenschaftlicher Schweizspezialisten, Aussenbeobachterposten sozusagen. Auch bei Veranstaltungen zur Schweizer Literatur im Ausland, zumeist von diesen Aussenbeobachterposten organisiert, wird das Programm mehrheitlich von eingeflogenen Schweizern bestritten, die dann jeweils im kurzfristigen Exil den innerschweizerischen Binnendiskurs für zwei bis drei Tage als Aussendiskurs vor ausländischen Gästen führen, welche in Wirklichkeit die dortigen Natives sind. – Die Tagung –––––––— 3 4

Ebd., S. 24f. Ausführlicher erörtert habe ich sie im folgenden Artikel: Michael Böhler: Von der Karibik zu den Alpen. Das Kreolische an der Schweizer Literatur und die Alpenidylle des hölzernen Beins. In: Corina Caduff, Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – Ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Wilhelm Fink 2004, S. 57–74.

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in Dublin, aus der dieser Band hervorging, mit dem ungewöhnlichen Verhältnis von zwölf zu neun gehört eher zu den Ausnahmen. 3. Die Eigentümlichkeit einer diskursiv partikularistischen Geschlossenheit der Akteure und Akteurgruppen im Binnen- wie im Aussendiskurs zur Schweizer Literatur ist nicht nur im veranstaltungsmässigen Literaturbetrieb von Symposien etc. festzustellen, sondern auch in Publikationen, seien dies Literaturgeschichten oder Sammelbände – wieder mit demselben positionalen Dreheffekt. Als Beispiel könnte etwa der 1998 erschienene Sonderband Literatur in der Schweiz in der Reihe Text+Kritik dienen. Von den 27 Autorinnen und Autoren zum Band sind 24 schweizerischer Herkunft, drei zum Teil seit langem in der Schweiz lebende Schriftstellerinnen aus Deutschland und der Slowakei. Bereits der erste Satz im Auftaktbeitrag Fragmentarisches Alphabet zur Schweizer Literatur von Urs Widmer ist aufschlussreich: »A wie Anfang Es gibt keine Schweizer Literatur. Es gibt eine Literatur aus der Schweiz.«5 Während der Herausgeber der Reihe, Heinz Ludwig Arnold, in München bzw. Göttingen, für den Sonderband noch »Literatur in der Schweiz« titelt, versetzen sich Widmer und mit ihm eine Reihe weiterer Autoren, zuhause in Zürich, Basel oder Bern an ihren Computern sitzend, geistig ins Ausland und berichten über Literatur aus der Schweiz.6 4. Diese Literatur aus der Schweiz oder in der Schweiz oder der Schweiz7 ist nun aber – wir haben es soeben gehört – keineswegs eo ipso auch schon eine Schweizer Literatur, ganz im Gegenteil. Und damit sind wir im Ironie-Zentrum des Schweizer Literaturdiskurses angelangt, dem, was man den rituellen Eiertanz um die Ortszuweisung der Literatur in-der-aus-der-der Schweiz nennen könnte. Dabei gewinnt dieser Diskurs seine reproduktive Energie und seine Diskurskontinuität daraus, dass er seit dem 19. Jahrhundert seinen Gegenstand einer Schweizer Nationalliteratur oder nur schon einer Schweizer Literatur in Abrede stellt, die Existenz seines Themas bestreitet und dabei ebenso beharrlich fortlebt und munter gedeiht. In Übernahme und Abwandlung von Terry Eagletons Formulierung könnte man sagen: ›The question of a Swiss Literature is no sooner raised than refuted‹, müsste dann aber in Umkehrung seiner Aussage zum irisch-katholischen Universalismus »... denying itself in the very act of assertion« im Fall der Schweizer Literatur sagen: ›... asserting itself in the very act of denying [sometimes ferociously] its existence‹. Diese Ironie der ›self-assertion in denial‹ ist eine Diskurskonstante seit Gottfried Keller bis in die Gegenwart. Gottfried Keller 1880: »[...] während –––––––— 5

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Urs Widmer: Fragmentarisches Alphabet zur Schweizer Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur in der Schweiz. München: edition text & kritik 1998, S. 7–12, hier S. 7. Hervorhebung M.B. Urs Engeler: Schweizer Lyrik - Lyrik aus der Schweiz. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur in der Schweiz (Anm. 5), S. 94–110; Daniel Rothenbühler: Vom Abseits in die Fremde. Der Außenseiter-Diskurs in der Literatur der deutschen Schweiz von 1945 bis heute. In: Ebd., S. 42–53. Vgl. hier den Band von Peter von Matt, Dirk Vaihinger (Hg.): Die schönsten Gedichte der Schweiz. München, Wien: Nagel & Kimche 2002.

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ich mich gegen die Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe, immer auflehne«;8 Emil Ermatinger 1933: »[Die Idee einer schweizerischen Nationalliteratur, M.B.] wird fast nur von zweit- und drittrangigen Schweizer Autoren und eingewanderten Deutschen, die durch eine laute Anpreisung der Vorzüge ihrer Wahlheimat sich in ihr innerlich und äusserlich zu festigen versuchten, [...] vertreten«;9 Adolf Muschg 1980: »[...] Eine Schweizer Nationalliteratur? Es gibt sie nicht, ja es darf sie nicht geben [...]«;10 Urs Widmer 1998: »A wie Anfang Es gibt keine Schweizer Literatur. Es gibt eine Literatur aus der Schweiz. [...] Wir Dichter aus der deutschsprachigen Schweiz sind deutsche Dichter.«11 Im gleichen Band Urs Bugmann: »So anachronistisch es ist, von einer Schweizer Literatur zu sprechen [...].«12 Und Peter von Matt und Dirk Vaihinger 2002: »Deutschsprachige Literatur in der Schweiz ist deutsche Literatur, oder sie ist gar nichts.«13 5. Eine Frage: Wie gehen wir mit einem Diskurs um, der von der unentwegten Beteuerung getragen ist, die Vorstellung einer Schweizer Nationalliteratur, ja auch nur einer Schweizer Literatur sei abwegig? – Zwar gibt es auch andere Stimmen, doch muss man dafür schon etwas genauer hinhören. Die Gretchenfrage ›gibt es sie? / gibt es sie nicht?‹ ist ein Dauerthema mit Variationen, wobei die dominante Variation beteuert, dass es kein Thema sei. Die Variationen sind einerseits von der historischen Grosswetterlage abhängig, andererseits könnte man vielleicht auch eine diskursimmanente Zyklizität postulieren, die Rhetorikmaschine des schweizerischen Literaturdiskurses sozusagen, welche ein eigentliches Perpetuum mobile generiert. Ein Beispiel: Kaum hat Urs Widmer in Klaus Wagenbachs Freibeuter deklariert: »Sauschwaben, Kuhschweizer. Natürlich sind das Begriffe für Dorfdeppen, die sich nach einer Wirtshausschlägerei sehnen. Nur, in der Wirklichkeit von heute – Fernsehen, Mobilität – funktionieren diese einfachen Spiele der Abgrenzung längst nicht mehr so recht.«14 – Kaum also ist das von den Dorfdeppen und –––––––— 8

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Gottfried Keller: Brief an Ida Freiligrath vom 20.12.1880. In: G.K.: Gesammelte Briefe. Hg. von Carl Helbling. 4 Bde. Bern: Benteli 1950–54. Bd. 2., 1951, S. 357: »Jener Aufsatz ist sehr wohlwollend geschrieben und hat nur den Fehler, [...] dass er meine Wenigkeit als eine spezifisch schweizerische Literatursache behandelt, während ich mich gegen die Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe, immer auflehne. Denn bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spass und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das grosse Sprachgebiet zu halten, dem er angehört.« Emil Ermatinger: Dichtung und Geistesleben der deutschen Schweiz. München: C.H. Beck 1933, S. 9f. Adolf Muschg: Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur? In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 1 (1980), S. 59–68, hier S. 67f. Widmer: Fragmentarisches Alphabet zur Schweizer Literatur (Anm. 5), S. 7. Hervorhebung M.B. Urs Bugmann: Vom Kleinmachen unter hohem Horizont. Warum die Literatur in der Schweiz keine Landeskunde ist. In: Heinz Ludwig Arnold: Literatur in der Schweiz (Anm. 5), S. 121–131, hier S. 130. Von Matt, Vaihinger (Hg.): Die schönsten Gedichte der Schweiz (Anm. 7), S. 229. Urs Widmer: Der Kuhschweizer als Sauschwabe. In: U.W.: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Zürich: Diogenes 2002, S. 263–269, hier S. 268.

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der Wirtshausschlägerei gesagt, gibt der angesehene Verlag Nagel & Kimche einen über dreihundertseitigen Sammelband unter dem Titel Kuhschweizer und Sauschwaben. Schweizer, Deutsche und ihre Hassliebe heraus,15 in dem alles, was in Printmedien und Fernsehen Rang und Namen hat, sich selbstverständlich gewandt heiter, aber trotzdem ernsthaft genug mit Vorurteilskritik und -bestätigung zugleich über diese scheinbar dermassen obsolete Abgrenzung verbreitet. 6. Ein Zweifel: Der nahe liegende Ausweg oder vielmehr die Flucht in den nächstgrösseren Kulturraum, etwa der gemeinsamen Sprachkultur, ist problematisch, weil der Ball dort nicht stoppt. Denn was ist denn das ›Deutsche‹ an der deutschen Literatur, oder das ›Französische‹ an der französischen Literatur, wenn man sich ein ›Schweizerisches‹ an der deutsch- oder französischsprachigen Schweizer Literatur partout verbietet oder gar verbittet? Schon früh bot sich daher als Ausweg aus den nationalverdächtigen Niederungen die Zuflucht bei Goethe und seinem Begriff der Weltliteratur an (der freilich bereits bei Goethe selber, schaut man erst einmal genauer hin, so sehr schillert, dass er de facto unbrauchbar ist).16 – Damit sind wir dann erneut bei Terry Eagletons Ironie des Universalen, nur ist jetzt nicht jenes der römisch-katholischen κατ' ολην την γην εκκλησια, sondern das der κατ' ολην την γην οητικη τεχνη. Nach frühen Ansätzen etwa bei Wolfgang Kaysers und Ernst Robert Curtius Konzepten von »Europäischer Literatur«17 oder Erich Auerbachs Idee einer »Philologie der Weltliteratur« wurde bereits in den 80-er Jahren erneut darauf als einzig noch mögliche Bezugsgrösse rekurriert.18 So etwa Walther Hinck 1981: »Endgültig gekommen ist die Zeit für jene ›Weltliteratur‹, von der zum ersten Mal Goethe sprach. [...] Goethes Idee der Weltliteratur zielt auf die Überwindung nationaler Schranken, auf Humanisierung.«19 Oder 1984 die Schweizer Literaturkritikerin Gerda Zeltner-Neukomm in der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur: »Es gibt heute keine spezifische schweizer [sic!] Literatur mehr. [...] In unserer Welt der großen übergreifenden Probleme ist Nationalliteratur offensichtlich kein relevanter Begriff mehr.«20 Oder 1988 Wilhelm Vosskamp: »Insgesamt –––––––— 15 16

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Jürg Altwegg, Roger de Weck (Hg.): Kuhschweizer und Sauschwaben. Schweizer, Deutsche und ihre Hassliebe. München, Wien: Nagel & Kimche 2003. Michael Böhler: Überlegungen zu den kulturtopographischen Raumstrukturen in der Gegenwartsliteratur. In: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen, Institute for German Studies, Seoul National University 11 (2002), S. 178–216. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern: Francke 1948; Wolfgang Kayser: Der europäische Symbolismus [1953]. In: W.K.: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern: Francke 1958, S. 287–304. Erich Auerbach: Philologie der Weltliteratur [1952]. In: E.A.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern, München: Francke 1967, S. 301–310. Walter Hinck: Haben wir heute vier deutsche Literaturen oder eine? Plädoyer in einer Streitfrage. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 33. Gerda Zeltner-Neukomm: Vom Schwyzer Hüsli zur Arche Noah. Betrachtungen zu einem Kapitel schweizer Literatur. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz: Abhandlungen der Klasse der Literatur. Wiesbaden: Steiner 1984, S. 3.

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lassen sich Fragen nach dem Nationalen oder der Nationalliteratur heute nur im Zusammenhang universaler und globaler Probleme angemessen erörtern. Spielt das Konzept der Weltliteratur [...] heute nicht eine wichtigere Rolle als die [Frage, M.B.] nach einer deutschen Nationalliteratur? [...] Wichtiger [...] sind jene universalen Probleme, die in der neuesten Literatur [...] thematisiert werden.«21 Freilich muss ich gestehen, dass ich diese Art von literarischer Globalisierungspolitik für recht hilflos und vollmundig zugleich halte. Hilflos, weil sie das manifeste Defizit der Literaturwissenschaft zum Ausdruck bringt, die komplexe Vielfalt an Bindungen zwischen Literatur und kulturellen oder geographisch geopolitischen Räumen begrifflich angemessen zu fassen. Vollmundig, weil sie an den Realitäten des weltweiten Literaturbetriebs denn doch ziemlich vorbeigeht. Etwas polemisch gefragt: Werden denn etwa die Jammers-Romane Otto F. Walters dadurch, dass in ihnen globale Probleme wie die Atomenergie und die Ökologie am Jura-Südfuss thematisiert werden, eo ipso schon zu Werken der so genannten ›Weltliteratur‹? Oder ist die Tatsache, dass die ›Wandtafelsätze‹ eines anderen Schweizer Autors in Hunderten von Deutschkursen von Dublin bis Tasmanien und Tadschikistan gelesen werden, ein Hinweis darauf, dass sein Werk zur ›Weltliteratur‹ gehört? Ebenso selbstverständlich ist andererseits, dass Vorstellungen von ›Nationalliteratur‹ gleichermassen untauglich sind und zweifellos ausgedient haben. Es scheint mir also notwendig, dass wir – statt das Gänseblümchenspiel ›Gibt es sie / gibt es sie nicht‹ ad infinitum fortzuführen – danach fragen, wie das Problem von Raum- und Zeitbindung in der Schweizer Literatur neu angegangen und überdacht werden könnte. Denn dort, in der Ordnung von Raum, Zeit und Literatur, liegt meines Erachtens der springende Punkt, um den es bei der Frage nach dem Mythos ›Schweiz‹ bzw. Mythos ›Schweizer Literatur‹ geht.

II 1967 hielt Michel Foucault vor dem »Cercle d’études architecturales« einen Vortrag mit dem Titel Des espaces autres, den er erst 1984 zur Publikation freigab.22 In diesem Vortrag, worin er auch das mittlerweile bekannt gewordene Konzept der ›Heterotopien‹ entwickelt, postuliert er einleitend einen grundlegenden Epochenwandel, der sich seither meines Erachtens in jeder Hinsicht bestätigt hat: –––––––— 21 22

Wilhelm Vosskamp: Zwei deutsche Staaten – eine deutsche Literatur? Eine Rede zum 17. Juni. In: Diskussion Deutsch 102 (1988), S. 300–323, hier S. 321. Michel Foucault: Des espaces autres (conférence au Cercle d’études architecturales, 14 mars 1967). In: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (octobre 1984), S. 46–49. In: M. F.: Dits et écrits. Hg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 4. Paris: Gallimard 1994, S. 752–762. Deutsch: Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): AISTHESIS. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 2002, S. 34–46.

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Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen:23 die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der Welt. [...] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. Vielleicht könnte man sagen, daß manche ideologischen Konflikte in den heutigen Polemiken sich zwischen den anhänglichen Nachfahren der Zeit und den hartnäckigen Bewohnern des Raumes abspielen.24

Gerade in Letzteres, Foucaults These von den »ideologischen Konflikten in den heutigen Polemiken zwischen den anhänglichen Nachfahren der Zeit und den hartnäckigen Bewohnern des Raumes« (»entre les pieux descendants du temps et les habitants acharnés de l’espace«) liessen sich wohl auch mühelos die Debatten um eine ›Nationalliteratur‹ wie jene um die grands récits des ›Mythos Schweiz‹ einbetten, gehören diese doch ins Zentrum jener von Foucault so benannten »Obsession durch Geschichte« des 19. Jahrhunderts. Zugleich wird im Rahmen von Foucaults Argument aber auch evident, dass mit dem Schwinden solcher geschichtsfixierter Vorstellungen nicht etwa nichts mehr da ist, sondern dass es sich womöglich lediglich um einen Wandel oder eine Transformation von Bindungen durch Zeit in solche im Raum handelt, dass also durch die Aufräumarbeit am ›Mythos Schweiz‹ in aufklärerischer Absicht dieser nicht automatisch verschwindet, sondern sich womöglich einfach in einen Raum-Mythos verwandelt. Wichtig an dieser Stelle ist die an sich selbstverständliche Feststellung, dass es sich bei Raum- und Zeitordnungen niemals um ein polares Entweder–Oder handeln kann. Foucault schränkt denn auch sogleich ein: »Indessen muß bemerkt werden, daß der Raum, der heute am Horizont unserer Sorgen, unserer Theorie, unserer Systeme auftaucht, keine Neuigkeit ist. Der Raum selber hat in der abendländischen Erfahrung eine Geschichte [...].«25 Und Gleiches gilt selbstverständlich für die Zeit und das Geschichtliche im heute dominierenden Raumdenken. Präzisierend müsste man daher wohl sagen, dass sich das Verhältnis von Zeit und Raum, von deren Funktion und Strukturgebung in der sozialen Ordnung, verändert hat und dass es deshalb darum gehe, dieses Verhältnis in seiner Wechseldynamik näher zu bestimmen. Genau dieses unternahm Anthony Giddens in The Consequences of Modernity (1990),26 wo er eine Reformulierung der Frage nach den grundlegenden Konstitutionsprozessen sozialer Ordnungen vorschlägt, indem überlegt werden müsse, »wie es denn geschehe, daß soziale Systeme Zeit und Raum ›binden‹«.27 Dementsprechend gehe es in der Gesellschaftsanalyse um die Untersuchung der Bedingungen, »unter denen Zeit und Raum derart strukturiert werden, daß An–––––––— 23 24 25 26 27

Im Original »La grande hantise [›Gespensterspuk‹ M.B.] qui a obsédé le XIXe siècle...«. Foucault: Des espaces autres (Anm. 22), S. 752. Foucault: Andere Räume (Anm. 22), S. 34. Ebd. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Ebd., S. 24.

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wesenheit und Abwesenheit in einen Zusammenhang gebracht werden«.28 Dabei lasse sich die »Dynamik der Moderne« auf »die Trennung von Raum und Zeit und deren Neuverbindung in Formen, die die Einteilung des sozialen Lebens in präzise Raum-Zeit-›Zonen‹ gestatten«, zurückführen, ein Vorgang, den Giddens »disembedding« (Entbettung) nennt.29 Darunter versteht er »das ›Herausheben‹ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum–Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung«.30 Verfahrensweisen, die solche ›raumzeitliche Abstandsvergrößerungen‹ gestatten und daher als ›Entbettungsmechanismen‹ dienen können, sind unter anderem symbolische Zeichensysteme,31 darunter das symbolische Zeichensystem zur Entbettung par excellence, das Geld.32 Zu den Mitteln raumzeitlicher Abstandsvergrösserung einer Entbettung können wir aber auch symbolische Zeichensysteme wie die Medien, die Kunst, Musik und die Literatur zählen; sie alle dienen dazu oder erlauben es zumindest, soziale Beziehungen von den unmittelbaren Gegebenheiten ihres raumzeitlichen Kontexts zu lösen und in andere Kontexte hinüberzuspielen. Es wäre nach Giddens freilich falsch, diesen Entwicklungsprozess als bloss einsinnigen Vorgang, gar als kontinuierlichen Entwurzelungsprozess und als »Verlust an Gemeinschaftlichkeit« zu betrachten; vielmehr handle es sich um eine »doppelschichtige oder ambivalente Erfahrung«.33 Wohl treffe zu, dass »die Moderne ›dis-loziert‹ [...]: der Ort phantasmagorisch [wird].« Aber ebenso gebe es als Gegenbewegung zur Dislozierung die Rückbettung »re-embedding«. Darunter versteht Giddens »die Rückaneignung oder Umformung entbetteter sozialer Beziehungen, durch die sie [...] an lokale raumzeitliche Gegebenheiten geknüpft werden sollen«.34 Dabei gilt, »daß alle Entbettungsmechanismen in Wechselbeziehungen stehen zu rückgebetteten Handlungskontexten, die entweder auf die Stützung oder auf die Schädigung dieser Mechanismen hinwirken können«.35 In diesem dynamischen Modell sozialer Raum-/Zeit-Bindung scheint mir ein möglicher Ausweg aus den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Konzept einer Schweizerliteratur aufzuscheinen. Dies, indem man nicht mehr wie bisher versucht, Literatur schlicht territorial oder national zu verorten, sondern indem man im Anschluss an Giddens Reformulierung der Modernisierungstheorie danach fragt, wie das soziale Handlungssystem ›Literaturbetrieb‹ und das kulturelle Symbolsystem ›Literatur‹ Zeit und Raum binden, d.h. welche Prozesse der raumzeitlichen Abstandsvergrösserung oder -verminderung, des disembedding und des re-embedding, auf den verschiedenen Ebenen vom Verlagswesen und Buchhandel über das Bildungswesen bis hin zur literarischen Wirklichkeitsgestaltung in Texten –––––––— 28 29 30 31 32

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Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. »Geld ist ein Mittel zur raumzeitlichen Abstandsvergrößerung. Das Geld schafft die Voraussetzung für die Durchführung von Transaktionen zwischen Akteuren, die in Raum und Zeit weit voneinander entfernt sind.« Ebd., S. 37. Ebd., S. 174. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103.

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und ihrer figurativen Topologie stattfinden und welche Dynamiken von realen wie symbolischen Entbettungs- wie Rückbettungsvorgängen und -verfahren dabei entwickelt werden. Was beispielsweise geschieht mit literarischen Texten aus der Schweiz, wenn sie von einem deutschen Lesepublikum rezipiert werden, oder wenn sie nur schon von einem deutschen Lektor für einen grossen deutschen Verlag lektoriert werden? Dabei ist wichtig festzuhalten, dass der Genitiv im Ausdruck ›Raum- und Zeitbindung der Literatur‹ sowohl ein Genetivus subjectivus wie ein objectivus ist: Literatur wird allenfalls durch und an Raum und Zeit gebunden, kann aber auch ihrerseits Raum und/oder Zeit binden, ja überhaupt erst konstituieren – davon mehr später. Ein hübsches Beispiel für diese Dynamik eines literarischen disembedding und re-embedding, das den Vorgang selbst poetologisch thematisiert (und humoristisch ironisiert), ist Gottfried Kellers Vorwort zum zweiten Teil der Leute von Seldwyla (1873/74), siebzehn Jahre nach Erscheinen des ersten: Seit die erste Hälfte dieser Erzählungen erschienen, streiten sich etwa sieben Städte im Schweizerlande darum, welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint sei; und da nach alter Erfahrung der eitle Mensch lieber für schlimm, glücklich und kurzweilig, als für brav aber unbeholfen und einfältig gelten will, so hat jede dieser Städte dem Verfasser ihr Ehrenbürgerrecht angeboten für den Fall, daß er sich für sie erkläre. Weil er aber schon eine Heimat besitzt, die hinter keinem jener ehrgeizigen Gemeinwesen zurücksteht, so suchte er sie dadurch zu beschwichtigen, daß er ihnen vorgab, es rage in jeder Stadt und in jedem Tale der Schweiz ein Türmchen von Seldwyla, und diese Ortschaft sei mithin als eine Zusammenstellung solcher Türmchen, als eine ideale Stadt zu betrachten, welche nur auf den Bergnebel gemalt sei und mit ihm weiterziehe, bald über diesen, bald über jenen Gau, und vielleicht da oder dort über die Grenze des lieben Vaterlandes, über den alten Rheinstrom hinaus. Während aber einige der Städte hartnäckig fortfahren, sich ihres Homers schon bei dessen Lebzeiten versichern zu wollen, hat sich mit dem wirklichen Seldwyla eine solche Veränderung zugetragen, daß sich sein sonst durch Jahrhunderte gleichgebliebener Charakter in weniger als zehn Jahren geändert hat und sich ganz in sein Gegenteil zu verwandeln droht.36

In mehrfacher Brechung eines wandernden Blickpunkts finden hier Entbettungsund Rückbettungsvorgänge statt: Die Entbettung Seldwylas durch den Autor in eine universalistisch gedachte »ideale Stadt« und ihre freie Translokation auf dem »Bergnebel« hierhin und dorthin; die Rückbettungsbemühungen der Möchtegern-Seldwyler verschiedenenorts mit ihrem eindeutigen Verortungswunsch, die Rückbindung des »gemalten« Seldwyla auf dem Bergnebel an das »wirkliche« durch den Autor. Und mit dem Hinweis auf die Grenzüberschreitung des Bergnebels Seldwyla über den Rheinstrom hinaus in Richtung auf Deutschland spielt Keller schliesslich auch noch auf das Grundgesetz der literarischen Entbettungs/Rückbettungsdynamik der Schweizer Literatur an, ihren Herzmuskel-Rhythmus oder ihre Systole und Diastole in goetheschem Sinn. Kehren wir aber zunächst noch einmal zu den theoretischen Überlegungen zurück, so können wir in der Verknüpfung von Giddens´ Raum-Zeit-Modell mit –––––––— 36

Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla II. In: G.K.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Morgenthaler. Bd. 5. Die Leute von Seldwyla, 2. Bd. Hg. von Peter Villwock et al. Frankfurt, Zürich: Stroemfeld / Verlag Neue Zürcher Zeitung 2000, S. 7f.

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der These Foucaults postulieren, dass wir gegenwärtig offenkundig in einer Zeit leben, wo die Prozesse eines raum-zeitlichen re-embeddings, einer Verräumlichung, ja einer möglichst hautnahen Ver-Örtlichung von Seldwyla, erneut sehr stark an Bedeutung gewonnen haben. Mittlerweile ist denn auch in den Kulturwissenschaften bereits von einem »spatial turn« die Rede.37 Hatte Werner Köster noch vor wenigen Jahren die Rede über den »Raum« mit Blick auf dessen Begriffgeschichte als spezifisches Konzept deutscher Ideologie herausgearbeitet,38 und war noch in den 90er Jahren von der »Raumblindheit« und »Raumvergessenheit« in den Sozialwissenschaften die Rede,39 so spricht Karl Schlögel mit Bezug auf den Historismus und seine definitive Krise im »Ende der großen Erzählungen« von der gegenwärtigen Erschütterung des »prisonhouse of temporality« durch die überhand nehmende Einsicht in die »Unauflöslichkeit des Zusammenhangs von Raum und Zeit«: »History takes place – Geschichte findet statt.«40 Als symptomatisches Beispiel für einen solchen »spatial turn« in unserem spezifischen Kontext mag ein vor kurzem an der ETH angelaufenes grösseres Projekt Ein literarischer Atlas Europas – Konzept einer räumlichen Literaturgeschichte [sic! M.B.] im Zusammenspiel von Geographie und Philologie dienen.41 Durchgeführt wird das Projekt von einer jungen Basler Germanistin, Barbara Piatti, die sich mit den Publikationen Rousseaus Garten (2001) und Tells Theater (2004) bereits einen Namen gemacht hat.42 In einer Internet-Rezension des Sammelbandes zu den Weimarer Schiller-Reden heisst es: –––––––— 37

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Der Begriff geht zurück auf Edward Soja, Professor for Urban Planning an UCLA und der London School of Economics, in Postmodern Geographies, The Reassertion of Space in Critical Social Theory (1989). Dazu auch: Stephan Guenzel: Raum – Topographie – Topologie. In: S.G. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript 2007, S. 13–32. Werner Köster: Die Rede über den »Raum«. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2002 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1). Allerdings hält auch Köster im Abschlusskapitel »Nach dem Ende der semantischen Karriere« fest: »Die hier untersuchte Rede über den Raum gehört weitgehend der Vergangenheit an. Das Thema findet daher mit dem Ende der Naziherrschaft eine klare zeitliche Begrenzung. Dagegen gilt es zu bekräftigen, daß realiter Ökonomie und Politik nach wie vor eine raumwirksame Komponente haben.« S. 235. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 9. Vgl. dazu auch: Michael Böhler: Eindimensionale Literatur – Zur Raumlosigkeit der Sozialgeschichte. In: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 129–153. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser 2003, S. 64, 70. In: http://www.grstiftung.ch/2_2_2_projektdetail.dna?ProjNr1=GRS-068/05 (Zugriff am 16.10.2006). Barbara Piatti: Rousseaus Garten. Le jardin de Rousseau. Eine kleine Kulturgeschichte der St. Petersinsel von Jean-Jacques Rousseau über die Basler Kleinmeister bis heute. Basel: Schwabe 2001; dies.: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell. Mit einem Weimarer Pausengespräch zwischen Katharina Mommsen und Peter von Matt. Basel: Schwabe 2004.

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Barbara Piatti (Germanistin, Autorin kulturwissenschaftlicher Werke und Kulturreiseführerin) entwirft visionär eine Literaturgeschichtsschreibung, »die nicht mehr chronologisch strukturiert wäre, sondern Handlungsräume und Schauplätze fokussieren würde« [= Zitat Piatti, M.B.], und gibt damit einer oft verzagten, an ihrer eigenen Befindlichkeit nagenden Germanistik eine Perspektive zur Krisenbewältigung.43

Und in einem Hauptseminar in Göttingen zum Thema »Literarische Topographie« wird sie von Heinrich Detering als »Wegbereiterin einer neuen ›Literaturgeographie‹« vorgestellt.44 Der Projektbeschrieb liest sich so: Wo spielt Literatur? Diese vermeintlich simple Frage eröffnet den Zugang zu einem erst in Ansätzen etablierten Forschungsgebiet, das sich aus einem Zusammenspiel von Literaturwissenschaft und Kartographie ergibt und sich unter dem Stichwort »Literaturgeographie« resümieren lässt. Jede literarische Handlung ist irgendwo lokalisiert, wobei die Skala von gänzlich imaginären bis hin zu realistisch gezeichneten Schauplätzen mit hohem Wiedererkennungswert reicht. Literatur weist eine spezifische Geographie auf: Schau- und Herzstück des Projekts sind deshalb Musterkapitel eines digitalen, interaktiven literarischen Atlas Europas, der die Räume der Fiktion sichtbar macht. Im Zentrum stehen dabei die vielfältigen Wechselwirkungen von realer und imaginärer Geographie, die im Rahmen dreier Modellstudien vorgeführt werden: an einer spektakulären Gebirgsregion (Vierwaldstättersee/ Gotthard), an einem Küsten- und Grenzgebiet (Schleswig-Holstein) und an einer Metropole (Prag). Um diese drei Gebiete vergleichend untersuchen zu können, wird eine literaturgeographische Datenbank entwickelt – ein neuartiges Instrument der vergleichenden, kartographisch unterstützten Literaturgeschichtsschreibung.45

Und in der abschliessenden Würdigung heisst es: Mit der literaturgeographischen Datenbank und den Methoden kartographischer Visualisierung werden Instrumente entwickelt, die der vergleichenden Literaturgeschichtsschreibung inhaltlich neue Perspektiven und organisatorisch neue Dimensionen eröffnen [...]. Das literarische Erbe Europas kann methodisch auf der Höhe der Zeit verzeichnet und damit zugänglich, vermittelbar und tradierbar gemacht werden.46

Prägnanter als im Schlusssatz »Das literarische Erbe Europas kann methodisch auf der Höhe der Zeit verzeichnet und damit zugänglich, vermittelbar und tradierbar gemacht werden« könnte der »spatial turn« einer Umlegung der Literatur von der zeitlich historischen Achse auf eine räumlich örtliche Achse nicht gefasst werden. Was durch eine solche Verräumlichung von Literatur und Literarisierung von Raum gewonnen wird, deutet Barbara Piatti in Tells Theater an: »In einer fruchtbaren Wechselwirkung gewinnt die Dichtung an Farbe, das bloss Geschriebene wird ergänzt durch Licht, Luft, Gerüche, Klänge. Umgekehrt wird die Landschaft durch die poetischen Beschreibungen nobilitiert. –––––––— 43

44 45 46

In: http://www.bol.de/shop/home/artikeldetails/mein_unermesslich_reich_ist_der_gedanke_wtv/ barbara_piatti/ISBN3-937939-13-X/ID6606587.html;jsessionid=fdc-tojktpl4201.fdc21 (Zugriff am 15.10.2006). In: http://wwwuser.gwdg.de/~hdeteri/pages/hs0607pag.html (Zugriff am 16. 10. 2006). In: http://www.grstiftung.ch/2_2_2_projektdetail.dna?ProjNr1=GRS-068/05 (Anm. 40). (Zugriff am 16.10.2006). Ebd. Hervorhebung M.B.

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Michael Böhler

Durch den Filter der Literatur gesehen, wirkt sie noch eindrücklicher, als sie es ohnehin schon ist.« 47 Ich möchte es dahingestellt bleiben lassen, ob wir mit einer solchen literaturgeographischen Verräumlichung von Literaturgeschichte und einem solchen »nobilitierenden« »Filter« oder Weichzeichner nicht erneut beim Raum-Mythos ›Schweiz‹ des 18. Jahrhunderts angelangt sind, einem Raum-Mythos, der sich dann im 19. Jahrhundert in den gesellschaftshistorischen Zeit- bzw. Nationalmythos ›Schweiz‹ transformiert hat. Ist doch nach Ernst Cassirer gerade dies der »primäre Unterschied« zwischen dem mythischen und dem geometrischen, d.h. physikalischen Raum, nämlich die Unterscheidung »zweier Bezirke des Seins: eines gewöhnlichen, allgemein-zugänglichen und eines anderen, der, als heiliger Bezirk, aus seiner Umgebung herausgehoben, von ihr abgetrennt, gegen sie umhegt und beschützt erscheint.«48 Ich möchte es auch dahingestellt bleiben lassen, ob es nicht gerade ein solches räumliches reembedding war, was Gottfried Keller vor der Vorstellung einer Schweizer Nationalliteratur zurückschaudern liess: »Die Engländer vollends werden durch eine solche Einteilung nur verleitet, ein schweizerisches Buch zu den Berner Oberländer Holzschnitzereien, Rigistöcken mit Gemshörnern usw. zu zählen.«49 Auch Peter Bichsels und Adolf Muschgs bekannte Kritik kommt erneut in den Sinn – Peter Bichsel: Wir haben uns angewöhnt, die Schweiz mit den Augen unserer Touristen zu sehen. Ein Durchschnittsschweizer hält von der Schweiz genau dasselbe, was ein Durchschnittsengländer von der Schweiz hält. Unsere Vorstellung von unserem Land ist ein ausländisches Produkt. Wir leben in der Legende, die man um uns gemacht hat.50

Adolf Muschg: Denn ist die Schweiz, die wir uns eingebildet haben, nicht selbst das historische Gemeinschaftsprodukt einer europäischen Bilderindustrie, sozusagen eine kulturstiftende Spiegelfechterei par excellence? Was wäre denn eigen am Bild dieses Landes, wenn ihm andere, von Rousseau bis zum britischen Alpinisten, nicht ein Muster für seine Eigenart vorgegeben, seine Gebirgsnatur, die für ihre Einheimischen nicht viel mehr als ein Hindernis, bestenfalls eine unwirtliche Kulisse für lebenswichtige Übergänge gewesen war, nicht als kultureller Topos zugespielt hätten? Daß denn auch viele Schweizer, von Albrecht von Haller bis zum unbekannten Kurdirektor, an dieser Fremdarbeit gewissenhaft, geschmeichelt und hocherhobenen Hauptes weitergestrickt haben, bis sie von der dringend benötigten Schweizer Identität nicht mehr zu unterscheiden war und als deren Bild wiederum vom Territorium gelöst und zur internationalen Imagepflege verwendet werden konnte – das steht auf einem andern Blatt [...]. Die Verkleidung ihrer [der Schweizer, M.B.] Bedürfnisse, Interessen und Selbstbilder ist ohne den Fundus des exemplarischen Hirtenvolkes, das ein neues

–––––––— 47 48

49 50

Piatti: Tells Theater (Anm. 42), S. 130. Hervorhebung M.B. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Sonderausgabe. Bd. 2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 106. Vgl. auch ebd.: »Wo immer das mythische Denken und das mythisch-religiöse Gefühl einem Inhalt einen besonderen Wertakzent verleiht, wo immer es ihn gegen andere auszeichnet und ihm eine eigentümliche Bedeutung beilegt, da pflegt sich ihm diese qualitative Auszeichnung im Bilde der räumlichen Sonderung darzustellen.« Gottfried Keller: Brief an Ida Freiligrath vom 20.12.1880. In: G.K.: Gesammelte Briefe (Anm. 8), S. 357. Peter Bichsel: Des Schweizers Schweiz. In: P.B.: Des Schweizers Schweiz. Aufsätze. Zürich: Arche 1984, S.9–27, hier S. 19.

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Arkadien bevölkert, schwer zu denken. Diese Projektion europäischer Utopisten haben wir gewissermaßen zum Original unseres Selbst-Bildes prozessiert – als Ur-Bild des Sonderfalls, auf den sich links und rechts, konservative und progressive Bilder der Schweiz beziehen, bewußt oder nicht, explizit oder nicht.51

Viel wichtiger für mich ist an dieser Stelle jedoch die Gefahr, dass wir uns mit einem solchen Konzept der Verräumlichung von Literaturgeschichte womöglich erneut in jener Raumvorstellung bewegen, die Albert Einstein als »container«Vorstellung bezeichnete, wonach der Raum »wie eine Schachtel oder ein Behälter die Dinge, Lebewesen und Sphären umschließt«,52 ein Konzept, das Martina Löw als eine zwar »bis heute [...] dominante Vorstellung im alltäglichen Verständnis von Raum« bezeichnet,53 die aber weder den physikalisch-theoretischen Erkenntnissen noch den kulturhistorischen oder kultursoziologischen Einsichten zu genügen vermöge. Gegenüber einer solchen Container-Vorstellung postuliert Löw: Die beobachtbaren Prozesse der Konstitution von Raum in der modernen Gesellschaft lassen sich nur erklären, wenn Raum und Gesellschaft nicht als zwei getrennte Realitäten definiert werden. Versteht man Raum als einheitlich gegeben, dann erscheint die Veränderung als Auflösung und Zerstörung, denkt man Raum als Territorium, so gerät das Gesellschaftliche aus dem Blick, setzt man Raum mit dem konkreten Ort gleich, dann sind makrosoziologische Perspektiven undenkbar. Nur wenn man die systematische Trennung zwischen Raum und Handeln überwindet und Raum (bzw. Räume) als gesellschaftliche Produkte begreift, gelingt es, die verschiedenen Dimensionen der Konstitution zu verstehen.54

Hierbei unterscheidet sie zwei verschiedene Prozesse der Raumkonstitution: Erstens konstituiert sich Raum durch das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen [...]. Dieser Vorgang wird im folgenden Spacing genannt.55 Spacing bezeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren. [...] Es ist ein Positionieren in Relation zu anderen Plazierungen. Spacing bezeichnet bei beweglichen Gütern oder bei Menschen sowohl den Moment der Plazierung als auch die Bewegung zur nächsten Plazierung. Zweitens [...] bedarf es zur Konstitution von Raum aber auch einer Syntheseleistung, das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt.56

Sensibilisiert für ein differenzierteres Raumverständnis durch diese analytischen begrifflichen Unterscheidungen, einerseits der raumkonstitutiven Kategorien des Spacing und der Syntheseleistung aus Martina Löws Raumsoziologie, andererseits des dynamischen Raum-Zeit-Modells aus Giddens Theorie der Moderne mit den Prozessen des disembedding und re-embedding können wir die Titelfrage nun neu angehen. –––––––— 51 52 53 54 55

56

Adolf Muschg: Die Bilderschweiz. In: Jahresbericht 1991 des Schweizerischen Sozialarchivs. Zürich: Selbstverlag 1992, S. 18–23, hier S. 23. Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 24. Ebd., S. 27. Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 129: »Ich benutze das englische ›spacing‹, da das deutsche Wort ›räumen‹ entweder ›leer machen‹ (Wahrig 1997, S. 1009) bedeutet, was dem hier gemeinten Sinn zuwiderläuft, oder ›etwas an eine andere Stelle [...] bringen‹ (ebd.) heißt, was nur eine Substanz betrifft und nicht den komplexen Formierungsprozeß erfaßt.« Ebd., S. 158f.

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III Aus dem bisher Dargelegten ergeben sich für mich zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze mit geradezu konträren theoretischen und methodologischen Prämissen. Der eine sagt – und ich nehme an, es ist der Ansatz der neuen Literaturgeographie bzw. der neuen geographischen Literaturgeschichtsschreibung: Gegeben ist ein Raum, gegeben sind Örter, Landschaften, Gegenden etc. (der Vierwaldstättersee z.B.), und nun schauen wir, was da drin literarisch abläuft (Tells Theater z.B.) – durchaus auch unter Zulassung der Möglichkeit einer Interdependenzwirkung und einer historischen Perspektive, wobei sich dann freilich Zeit und Geschichte gleichsam insular in Raum und Ort einkapselt. Der andere Ansatz sagt – und ich möchte ihn jetzt als den meinen bezeichnen: Gegeben ist Literatur als symbolisches Zeichensystem oder Medium und als soziales Handlungssystem oder Institution, und nun schauen wir hin, wie diese Literatur Raum ›räumt‹ und für den gesellschaftlich konstitutiven Raum synthetische Raumwahrnehmungsleistungen erbringt. Ich brauche jetzt bewusst den Ausdruck ›Räumen‹ für den von Martina Löw verwendeten englischen Fachterminus ›Spacing‹, da der deutsche Ausdruck mehr erschliesst, als Löw wahrhaben wollte. Dies nicht zuletzt mit Blick auf einen ganz späten Text von Martin Heidegger Die Kunst und der Raum, den dieser 1969 eigenhändig auf Stein mit 7 Litho-Collagen von Eduardo Chillida geschrieben hat, wo das Wort ›räumen‹ in Heideggers Frage nach dem »Eigentümlichen des Raumes« eine zentrale Rolle spielt.57 Das Verb oder nomen agens »Räumen« bringt ein aktives, konstruktives Umgehen des Menschen mit und im Raum zum Ausdruck: Im Räumen spricht und verbirgt sich zugleich ein Geschehen. Dieser Charakter des Räumens wird allzu leicht übersehen. Und wenn er gesehen ist, bleibt er immer noch schwer zu bestimmen, vor allem, solange der physikalisch-technische Raum als der Raum gilt, an den sich jede Kennzeichnung des Raumhaften im vorhinein halten soll.58

›Räumen‹ meint weiterhin ein Ordnen oder Umordnen im Raum zum Raum; wiederum Heidegger: Ist es nicht das Einräumen und dies wiederum in der zwiefachen Weise des Zulassens und des Einrichtens? Einmal gibt das Einräumen etwas zu. Es läßt Offenes walten, das unter anderem das Erscheinen anwesender Dinge zuläßt, an die menschliches Wohnen sich verwiesen sieht. Zum anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglichkeit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören.59

›Räumen‹ ist aber auch ein Leeren oder Verlassen des Raumes: »Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen. [...] Räumen ist Freigabe von Orten.«60 –––––––— 57 58 59 60

Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum – L’art et l’espace. St. Gallen: Erker-Verlag 1969, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9f. Ebd., S. 9.

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Wie ein solches Spacing oder Räumen als Konstitution oder Transformation von gesellschaftlichem Raum durch und in Literatur geschehen kann, haben wir bereits andeutungsweise in Kellers Vorwort zu den Leuten von Seldwyla II in der dynamischen Bewegung von Entbettung und Rückbettung verfolgen können. Es ist ein Spacing, das einen symbolischen Raum ›Seldwyla‹ erschliesst, aber zugleich das Freie und Offene im Sinne Heideggers ›einräumt‹. Dieses Räumen als Entbettungsvorgang oder Raumöffnung finden wir als literarische Form der Raumkonstitution in vielfältigsten Erscheinungen der Schweizer Literatur, am reinsten vielleicht bei Robert Walser. Dabei zeigt sich auch unmittelbar, dass der Raum der Schweizer Literatur nicht identisch ist mit dem geopolitischen Territorialraum ›Schweiz‹. Ich erinnere nur an das bekannte Gedicht: Ein Schullehrer aus dem Kanton Bern saß jeweilen gern verträumt zu Peking auf einer Mauer. Liebesschauer rieselten ihm den Primarlehrerrücken hinauf und hinab, wenn zu seinem Entzücken im hellsten Sonnenschein Chinas Kaiserin in einer Barke vorüberfuhr. [...] Sie verlor sich ganz im Anschau(e)n ihres blassen Spiegelbilds, im Geiste sah sich der bernische Schullehrer daheim jassen.61

Symptomatisch für Walsers entgrenzendes Spacing, hier als Raumüberbrückung einer Globalisierung ganz eigener Art verstanden, ist auch Walter Benjamins Raumzuweisung in seinem Essay zu Robert Walser.62 Darin gruppiert er zunächst Walsers Figuren in die literarische Gesellschaft der »im germanischen Schrifttum [...] großen Prägungen des windbeutligen, nichtsnutzigen, tagediebischen und verkommenen Helden« von Eichendorffs Taugenichts, Hebels Zundelfrieder, Knut Hamsuns Figuren ein und fragt sodann nach deren kulturtopographischem Raum: »Woher der Taugenichts, das wissen wir. Aus den Wäldern und Tälern des romantischen Deutschland. Der Zundelfrieder aus dem rebellischen, aufgeklärten Kleinbürgertum rheinischer Städte um die Jahrhundertwende. Hamsuns Figuren aus der Urwelt der Fjorde [...]«.63 Soweit ist Benjamins Verfahren eine kulturräumliche, ›kontextualisierende‹ Ansiedlung, die im Rahmen von Giddens Modell als eine ›Rückbettung‹ literarischer, d.h. symbolischer – und dies heißt zeichenhaft ›entbetteter‹ – Figuren gesehen werden kann, und bei Eichendorff, Hebel und Hamsun geht diese Einräumung für Benjamin offenkundig zwanglos auf. Bei Robert Walser setzt er zwar ebenso zu einer solchen an, um sie jedoch umgehend wieder zu verwerfen: –––––––— 61

62 63

Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren 1924–1925. Bd. 2: Gedichte und dramatische Szenen. Entziffert und hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 338–339. Walter Benjamin: Robert Walser. In: W.B.: Über Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 62–65. Ebd., S. 64.

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Michael Böhler Walsers? Vielleicht aus den Glarner Bergen, den Matten von Appenzell, wo er herstammt? Nichts weniger. Sie kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig.64

Beinahe zu einem literarischen Programm und einer Lebensphilosophie hat Robert Walser selbst dieses entgrenzende Spacing und Aufräumen mit festen Ortszuweisungen im Raum während seiner Berliner Zeit gemacht: [...] es ist nur noch sehr geringe oder gar keine Hoffnung mehr vorhanden, daß ich jemals in meinem Leben wieder einen Jodler auszustoßen imstande sein werde [...]. Die Welt ist weit, und der Mensch ist ein Rätsel, und Napoleon war ein großer Mann, und Nidau [Walsers Heimatort, M.B.] ist ein reizendes Städtchen, und der Kern eines Menschen geht nirgends völlig verloren. Was ist doch das für eine Borniertheit, dieses Alte-TantenGetratsche aus dem Süden. Berlin ist eine so schöne Stadt, und seine Einwohner sind so schaffige, rechtschaffene und artige Menschen.65

Ein ganz anderes, geradezu konträres literarisches Spacing des Raumes ›Schweiz‹ geschieht in Friedrich Dürrenmatts berühmter Preisrede auf Václav Havel 1991 keinen Monat vor seinem Tod: So läßt sich Ihren [Václav Havels, M.B.] tragischen Grotesken auch die Schweiz als Groteske gegenüberstellen: als ein Gefängnis, [...] wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben. Weil alles außerhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität. Es gibt nur eine Schwierigkeit für dieses Gefängnis, nämlich die, zu beweisen, daß es kein Gefängnis ist, sondern ein Hort der Freiheit, ist doch, von außen gesehen, ein Gefängnis ein Gefängnis und seine Insassen Gefangene, und wer gefangen ist, ist nicht frei: Als frei gelten für die Außenwelt nur die Wärter, denn wären diese nicht frei, wären sie ja Gefangene. Um diesen Widerspruch zu lösen, führten die Gefangenen die allgemeine Wärterpflicht ein: Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit. Der Schweizer hat damit den dialektischen Vorteil, daß er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.66

Es ist die Raumschaffung einer radikalen Raumschliessung, die selbst den offenen und freien Raum des Aussen in sich hineinstülpt, eine Raumparabel, die nicht nur das, was Michel Foucault unter dem Begriff der ›Heterotopie‹ fasste, in reinster Verknappung verdichtet, sondern die auch eine bedeutende traditionelle Raumfigur, einen dominanten Raumgestaltungs-Topos im Schweizer Literaturdiskurs – man denke nur an Paul Nizons Diskurs in der Enge,67 Karl Schmids Unbehagen im Kleinstaat 68 – in der Dramaturgie ›Schweiz‹ in echt dürrenmattscher Weise zum letzten denkbaren Ende führt. –––––––— 64 65

66 67 68

Ebd., S. 64. Robert Walser: Was aus mir wurde. (Berlin 1912). In: R.W.: Das Gesamtwerk VIII. Verstreute Prosa I (1907–1919). Hg. von Jochen Greven. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978, S. 64f., hier S. 65. Friedrich Dürrenmatt: Rede zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav Havel. In: DU. Die Zeitschrift der Kultur, Januar 1991, S. 14–18, hier S. 16. Paul Nizon: Diskurs in der Enge. Zürich, Köln: Benziger 1970. Karl Schmid: Unbehagen im Kleinstaat. Untersuchungen über Conrad Ferdinand Meyer, Henri-Frédéric Amiel, Jakob Schaffner, Max Frisch, Jacob Burckhardt. Zürich, Stuttgart: Artemis 1963.

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Treten wir aus dem Parabelraum dieser Groteske ›Gefängnis Schweiz‹ heraus und in unsern aktuellen Diskursraum hinüber, so stellt sich hier die Frage, ob jene, die eine Schweizer Literatur zum Mythos erklären und in Abrede stellen, im Gefängnis sind, oder jene, die mit einer solchen Vorstellung leben können. Abschliessend aus der impossible irony heraustretend zum commitment: Es gibt selbstverständlich eine Schweizer Literatur – nicht etwa bloss eine Literatur aus der Schweiz oder in der Schweiz oder der Schweiz, die in Wirklichkeit deutsche Literatur oder französische Literatur in disguise wäre. Es gibt sie ohne Wenn und Aber: Weil es seit über dreihundert Jahren eine Literatur gibt, die am Spacing der Schweiz im kultursoziologischen Sinne Martina Löws und anderer Raumtheoretiker als einem gesellschaftlichen Konstitutions- und Produktionsprozess von Raum höchst aktiv teilhat und hier auch bedeutende Syntheseleistungen erbrachte und jederzeit weiterhin erbringt. Im Wortsinn Martin Heideggers gibt es die Schweizer Literatur, weil es eine Literatur gibt, die den gesellschaftlichen und geopolitischen Raum ›Schweiz‹ unermüdlich räumt, weil es Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt, welche die Schweiz aufräumen oder einräumen, umräumen oder abräumen, auch gelegentlich das Feld räumen und das Weite suchen.

Teil II

Mythos Alpen

Peter Utz

Der Kitt der Katastrophen

Das, was die Schweiz verbindet, stemmt sie so hoch hinauf wie möglich: die Alpen. Für die Schweiz sind sie nicht nur das ästhetisch ›Erhabene‹, das die Aufklärung in den Alpen erkennen wollte, sondern die konkrete Erhebung zu einem gemeinsamen Mythos, zu einem Mythos der Gemeinsamkeit. Im archaisierenden Blick auf die Alpen kann sich die Schweiz als moderne Nation konstituieren, denn zu ihnen kann man von allen Seiten aufblicken. Doch in den Katastrophen geraten die Alpen nicht selten ins Rutschen. Dies schädigt ihre Erhabenheit jedoch nicht. Im Gegenteil: rutschende Berghänge, Lawinen und vom Berg stürzende Wasserströme schweißen eine Nation, die sich auf die Alpen als ihr topographisches Leitmassiv fixiert hat, desto enger zusammen. Je mehr Felsbrocken, Schneemassen oder Wasserfluten von den Bergen stürzen, desto mehr steigt das Selbstbewusstsein der Schweiz. Dieser Effekt scheint naturgegeben, bis heute. Doch ›Natur‹-Katastrophen werden zu solchen immer durch ihre Interpretation in einem kulturellen Rahmen. Max Frisch bringt dies in seinem Holozän auf den lapidaren Befund: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.«1 Naturkatastrophen sind Kulturkatastrophen. Erst als eine ›Erzählung‹, welche Vorgeschichte und Verlauf inszeniert und das ›Ereignis‹ als radikalen Bruch in der Kontinuität bestimmt, wird die Katastrophe zur Katastrophe. Deshalb gehört zu ihr die mediale Vermittlung, vom Flugblatt der frühen Neuzeit bis zum Katastrophenfilm Hollywoods. Dabei bilden sich tragende Bildmuster heraus, deren wirkungsmächtigstes für die christlich-abendländische Kultur die Bibel mit Schöpfung, Sintflut und Apokalypse setzt. Solche universellen Muster differenzieren sich kulturell aus, werden national und lokal perspektiviert. Sie erhalten, mit Peter von Matt zu sprechen, »einheimische Bedeutung«, und sie werden, wie von Michael Böhler beschrieben, im lokalen Kontext ›re-embedded‹.2 Im Zeitalter der sich ausbildenden Nationalstaaten konfiguriert sich in ihnen das, was wir heute höchstens in Anführungszeichen als ›nationale‹ Kultur verstehen wollen. Der Westschweizer Schriftsteller Gonzaque de Reynold beispielsweise, Wortführer des Mouvement Hélvétiste, erzählt in seinen Contes et légendes de la Suisse héroïque, wie die Bürger der Stadt Solothurn der Schöpfung und der Sintflut von ihren sicheren Stadtmauern aus zuschauen – das Jahr der Erstpublikation ist bezeichnenderweise das Jahr des –––––––— 1 2

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 103. Vgl. dazu die Beiträge von Peter von Matt, S. 31–43, hier S. 43 und Michael Böhler, S. 45–61, in diesem Band.

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Peter Utz

Kriegsausbruchs 1914.3 Literarische Katastrophenerzählungen aus der Schweiz müssen deshalb zumindest für die letzten zweihundert Jahre in den Rastern einer ›nationalen‹ Literaturgeschichte gelesen werden, auch wenn man in ihnen nicht deren affirmative Bestätigung sucht.4 Denn die Literatur aus der Schweiz leistet einen Beitrag zur Herausbildung einer nationalen Katastrophenkultur, selbst wenn sie dazu ihre Fragezeichen setzt. Mit dieser These verbinde ich jedoch die größere Frage, inwieweit es noch sinnvoll und sogar notwendig ist, eine historische und thematische Konstellation von literarischen Texten an einem nationalgeschichtlich geprägten Raster auszurichten, auch wenn man dieses historisch relativiert und ihm ideologisch gründlich misstraut. Historisch konstellieren kann ich dabei in der gegebenen Kürze nur einige bekanntere Autoren und Werke der Literatur aus der Schweiz der letzten zweihundert Jahre. Angeleitet wird diese Konstellation durch eine These des Berner Klimahistorikers Christian Pfister, der zeigt, wie die moderne Schweiz seit der Helvetik in der Bewältigung von Katastrophenereignissen den inneren Zusammenhalt übt und ausbildet. Eine eigentliche schweizerische »Katastrophenkultur« entsteht,5 mit eigenen Institutionen und Ritualen. Denn anders als die meisten europäischen Staaten kann die Schweiz aufgrund ihrer Plurikulturalität den inneren Zusammenhalt nicht in aufgeheizten Kriegen gegen die Nachbarnationen ausbacken. Statt an militärischen Fronten Flagge zu zeigen, hisst die Schweiz sie über den Verwüstungen, welche die Elementargewalten im Inneren anrichten. Denn vor ihnen erscheinen alle Schweizer als gleich, ohne sprachliche und konfessionelle Unterschiede. Dies umso mehr, als die sichtbarsten Naturgefahren von den Alpen ausgehen, die man in der gleichen Zeit zum Zentralmassiv der nationalschweizerischen Integration aufbaut. Dort lokalisiert man die mythische Schweizerfreiheit, doch von dort drohen auch jene Naturgefahren, welche die Schweiz erst recht zur nationalen Solidargemeinschaft zusammenschweißen. Es ist bezeichnend für diese kulturelle Kodierung der Elementarkräfte, dass in der Schweiz das Risiko von Erdbeben weit unterschätzt wird, verglichen mit dem hoch entwickelten Bewusstsein jener Gefahren, die ihr von den Bergen drohen. Die Solidarität unter den Alpen wird ihrerseits zum kollektiven Mythos, den die Schweiz bis heute ständig beschwört: Noch in seiner Neujahrsansprache für das Jahr 2006 erinnert Bundespräsident Leuenberger an die Bewältigung der Unwetterkatastrophe im Jahr zuvor und feiert den »Geist« konstruktiver Solidarität.6 –––––––— 3

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Gonzaque de Reynold: Comment les gens de Soleure, Avoyers, Grand et petits Conseils, assistèrent, du haut des remparts, à la Création du Monde et au Déluge. In G.d.R.: Contes et légendes de la Suisse héroïque (1914). Zit. Ausgabe: Lausanne: Payot 1937, S. 9–22. Vgl. als eine erste Problemskizze Peter Utz: Wenn in der Schweiz die Welt untergeht. Literatur aus der Schweiz und ihre Katastrophenszenarien. In: Corina Caduff, Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen – ein Phantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink 2004, S. 219–233. Christian Pfister: Strategien zur Bewältigung von Naturkatastrophen seit 1500. In: Ch. P. (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern: Haupt 2002, S. 209–255, hier S. 231. »Der gemeinsame Einsatz für die öffentliche Sache, für unser Staatswesen, gibt diesem

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Auch die Erinnerungskultur kann sich aus dem, was von den Bergen herunterdonnert, ihre nationalen Marksteine holen: Im Jahr 2006 jährte sich zum zweihundertsten Mal der Bergsturz von Goldau 1806. Dabei gedachte man nicht nur der 457 Toten dieser größten Naturkatastrophe der neueren Schweiz, sondern auch der Solidarität, die sich bei diesem Anlass erstmals unter ein nationales Vorzeichen stellt. Denn der Bergsturz fällt 1806 nach dem Ende des helvetischen Einheitsstaatsexperiments in eine Zeit, in der sich der alte Staatenbund neu formieren muss. Erstmal tritt dabei der Landammann der Schweiz als Akteur auf. Er organisiert eine landesweite Spendenaktion, die alle Kantone und Landesteile erfasst – auch die Waadt, eben noch Untertanengebiet, kann mit einer kräftigen Spende selbstbewusst die gleichberechtigte Zugehörigkeit zur Schweiz demonstrieren.7 Die Geldspende als Form der sowohl materiellen wie symbolischen Partizipation erweitert den Radius der vom Unglück Mitbetroffenen; sie zeichnet einen Kreis, innerhalb dessen man auf gegenseitige Hilfsbereitschaft setzt. Für Solidarität zahlt man nun ein, und sie soll sich dann auch auszahlen. Sicher ist eine solche Solidarisierung vor der Katastrophe kein Privileg der Schweiz. Doch die Schweiz kann sich in ihr – in Erneuerung des alten Genossenschaftsgedankens – als ›Eidgenossenschaft‹ verstehen. Im 18. Jahrhundert ist dazu die Zeit noch nicht reif – die edlen Hirten aus Hallers Gedicht Die Alpen von 1729 beispielsweise scheinen keine Lawinen, Bergstürze oder Hochwasser zu fürchten. Erst die Französische Revolution und die Entstehung des modernen Nationalstaates integrieren das Katastrophische in die nationale Kultur. Dazu fällt der Schweiz der Schlüsseltext von außen zu: 1804 liefert Schiller mit seiner Version des Wilhelm Tell die prägende Formel, wie der Selbsthelfer Tell in die Solidargemeinschaft der Rütliverschwörer hineinfindet. Das ist bekannt. Wenig beachtet hat man dabei jedoch, wie Schiller in die Begründung des Widerstands gegen die fremden Vögte auch die katastrophenträchtige Gewalt der Natur einspeist, um diesen Widerstand naturrechtlich zu legitimieren. Wenn Stauffacher klagt: »Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, / Doch ach – es wankt der Grund, auf den wir bauten« (V. 214f.), dann greift er noch zur universalisierenden Erdbebenmetapher, in der auch die Verstörung über die Französische Revolution mitklingt.8 Auch Tell behauptet zunächst in einem alten, unspezifischen Katastrophenbild: »Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter.« (V. 433) Später jedoch belehrt er seinen Knaben und den Zuschauer konkret, –––––––—

7 8

Land die innere Kraft. Wir haben diesen inneren Zusammenhalt und ich bin froh darüber. Gerne erinnere ich mich, wie sich die Menschen nach den Unwettern im vergangenen Spätsommer gegenseitig geholfen haben. Ich weiss um die freiwilligen Dienste im Rettungswesen, im sozialen Bereich, in der Kultur und im Sport. Da wird Enormes geleistet. Es ist ja auch schön, Verantwortung wahrnehmen zu können. In diesem Geist wollen wir unser Land auch weiterhin gestalten.« In: http://www.admin.ch/ch/d/cf/alloc/20060101.html (Zugriff am 24.7.2008). Vgl. Markus Hürlimann: Der Goldauer Bergsturz 1806. Geschichte der Naturkatastrophe und Betrachtungen zweihundert Jahre danach. Schwyz: Verlag Schweizer Hefte 2006, S. 37. Friedrich Schiller: Nationalausgabe Bd. 10. Die Braut von Messina; Wilhelm Tell; Die Huldigung der Künste. Hg. von Siegfried Seidel. Weimar: H. Böhlaus Nachf. 1980. Wilhelm Tell wird im laufenden Text in Klammern mit Verszahl zitiert.

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wie nur der Schutzwald als eine »Landwehr« Altdorf von den Lawinen bewahre (V. 1785), und dass es trotzdem besser sei, »die Gletscherberge« im Rücken zu haben als die »bösen Menschen« (V. 1812f.). So fokussiert Schillers Schauspiel die Katastrophenmetaphorik auf die alpine Landschaft und transponiert den Widerstand gegen fremde Vögte in einen Kampf gegen die Elementargewalten, der keine weitere Legitimation mehr braucht. Gleichzeitig liefert Schiller mit der Rütlischwurhandlung eine einzigartige Formulierung jener Solidargemeinschaft, aus der man sich später bei allen nationalen Notfällen bedienen kann. Bei einer großen Überschwemmung im Alpenraum von 1868, welche der Bundesrat zum »Landesunglück« erklärt, kann er dazu aufrufen, den Naturgewalten ebenso entschlossen entgegenzutreten wie früher den Feinden von außen und dazu zitieren: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern« – wie so oft wird dabei Schillers »einzig« zur Tautologie des »einig« verstärkt.9 Dank Schillers prägenden Formulierungen kann das tradierte, weitgehend militärisch formierte Nationalgefühl, das sich gleichzeitig etwa auch in Preußen mit Schiller-Zitaten armiert, in der Schweiz in die neue Solidargemeinschaft gegen die Naturkatastrophen übersetzt werden. Die Tellknaben lernen, fasziniert zu den bedrohlichen Gletscherbergen aufzublicken, von denen ihnen nicht nur alles Unheil, sondern auch alles Heil kommt – denn auch die Touristenströme beginnen diesen Bergen nun zuzufließen. Die Literatur aus der Schweiz partizipiert an dieser Ausbildung einer helvetischen »Katastrophenkultur« im 19. Jahrhundert, doch nicht nur im affirmativen Sinn. Sie lässt in ihren eigenen Katastrophendarstellungen auch jene ideologischen Schichten an den Tag treten, die durch die Solidaritätsrituale gerade zugedeckt werden sollen, und sie meldet sich im Chor der nationalen Solidarität mit ihrer eigenen, gelegentlich dissonanten Gegenstimme. Ein erstes Beispiel dazu liefert Jeremias Gotthelf mit seiner Wassernot im Emmental am 13. August 1837. Es ist ein Schwellentext, in dem sich eine archaisch-universelle, christlich geprägte Katastrophendeutung mit einer modernen, konkreten Sozialanalyse überlagert. Archaisch wirkt der Text in seinem Gestus einer Predigt, die wie die wortgewaltige Verbalisierung eines strafenden göttlichen Donnerwetters auftritt. Modern ist er als journalistische Nahaufnahme, die sich für die Auswirkungen einer Naturkatastrophe auf das soziale Netz interessiert. Wenn Gotthelf die meteorologische Konstellation schildert, welche zum großen Unwetter über dem Emmental führen wird, greift er zunächst noch zum Bild alteidgenössischer militärischer Selbstwehr: Fremde Wolken treffen wie ein »Hunnenheer« auf die bernischen Berge, die ihnen den Weg sperren »nach alter Schweizer Weise« (W, S. 21).10 Und nach dem verheerenden Gewitter und den Verwüstungen, welche die Emme im ganzen Emmental –––––––— 9 10

Schiller: Wilhelm Tell, V.1448 – das Zitat des Bundesrats bei Pfister: Am Tag danach (Anm. 5), S. 227. Jeremias Gotthelf: Die Wassernot im Emmental. In: J.G.: Sämtliche Werke in 24 Bänden und 18 Ergänzungsbänden. Bd. 15. Kleinere Erzählungen, Teil 3. Hg. von Rudolf Hunziker und Hans Blösch. Erlenbach, Zürich: Rentsch 1929, S. 5–82. Im laufenden Text zitiert als W mit Seitenzahl in Klammern.

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anrichtet, vergleicht er den Schaden mit dem eines »Schlachtfeldes«, um festzustellen, dass die entfesselten Naturkräfte noch viel unbeschreiblichere Spuren hinterlassen. (W, S. 48) Solche alteidgenössischen Referenzen werden im Text aber allmählich durch neue abgelöst, welche die schweizerische Solidargemeinschaft beschwören, die sich durch eine erfolgreiche Spendenaktion für die Opfer beweist. Gotthelf vergleicht sie mit der Spendenaktion, die eine große Donauüberschwemmung kurz zuvor im habsburgischen Österreich ausgelöst habe. In einem so weiten Lande werde selbst ein großes Unglück klein. Umgekehrt in der Schweiz: »In einem kleinen Lande aber hat jede zerstörte Hütte Bedeutung, und die Gesamtheit sieht nicht nur den Schaden jedes einzelnen, sondern fühlt auch dessen Schadnis. Oh, es ist gar heimelig in kleinem Lande, wo das Weh des einen Teiles das ganze Ländchen durchzittert!« (W, S. 49) Unter dem Vorzeichen neuer Solidarität versteht es Gotthelf hier rhetorisch, der verwüsteten Landschaft eine neue, heimelige Nestwärme abzugewinnen. Im Österreich Metternichs dagegen, so unterstellt Gotthelf in der Folge, würden nur »einige Landes- und Handelsfürsten« den Schaden nach Gutdünken regeln, während in der Schweiz alle spenden würden, die ärmsten vielleicht sogar mehr als die Reichen, »denn man gibt hier eben nicht deswegen viel, um der Größte zu sein, sondern um dem Bruder am besten zu helfen.« (W, S. 49) Gotthelf rechnet den Österreichern vor, sie müssten »über fünf Millionen zusammenlegen«, wenn sie mit den »sechzigtausend Franken«, welche im Schweizer »Ländchen« für die Opfer der Wassernot gesammelt wurden, mithalten wollten. Doch süffisant vermerkt Gotthelf: »Wo viele geben, wird die Summe leicht größer, als wo wenige viel geben, und, wo der Mensch leicht und frei atmet, da nur hat er Lust und Mut zum tätigen Mitgefühl.« (W, S. 72) So aktiviert Gotthelf das alte schweizerische Selbstbild, das Kleinheit, demokratische Freiheit und innere Solidarität überhöht, und er mobilisiert gleichzeitig eine alte äußere Erzfeindschaft, aber unter neuem Vorzeichen: Die Schweiz schlägt das Haus Habsburg nicht mehr mit der Hellebarde, sondern mit dem Sammelbecher. Dieser zeigt nun nicht nur das christliche, sondern auch das Schweizerkreuz. Gotthelf scheint die Tradition der Buß- und Mahnpredigt, die er mit seinem Text aufgreift, in die Formulierung der modernen nationalen Solidargemeinschaft zu investieren. Doch er ist ein zu scharfsichtiger Beobachter seines sozialen Geländes, als dass er nicht auch die negativen Seiten dieser Wasser- und Solidaritätsflut ausmachen würde. So stellt er den Katastrophentourismus dar, wie er »seit Goldau«, das schon »in jedem Handbuch« stehe, die Neugierigen an die Stätten des neuesten »Naturereignisses« treibe (W, S. 65f.). Und er weidet sich daran, wie ein reicher Engländer, von dem man sich eine Million an Spendengeldern erhofft, auf einem zur Sänfte verwandelten Nachtstuhl durch die Verwüstung getragen wird – natürlich trifft die Million nie ein. Vor allem aber analysiert und kritisiert Gotthelf die Profitsucht, mit der gleich nach der Katastrophe das angeschwemmte Holz von den Einheimischen gehamstert und an fremde Holzhändler weiterverkauft wird. Mit einem weit hergeholten Klischee sagt Gotthelf: »So ging es Emme auf und ab, als ob Banden hungriger Irländer

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in unser Land eingebrochen wären, das bei ihnen übliche Strandrecht geltend zu machen.« (W, S. 64) So spiegelt er in die helvetische Katastrophenlandschaft den Gegensatz zwischen den angeblich arroganten Engländern und den ausgehungerten Iren hinein. Auch die Einschätzung des Schadens und die Verteilung der Geldspenden fördert »giftigen Neid« (W, S. 60) und »tierische Gier« (W, S. 64) zutage. Gotthelf kritisiert weniger das Ungenügen der staatlich organisierten Hilfsmaßnahmen als den Egoismus des Einzelnen, welcher die Solidargesellschaft unterminiert. Denn die Flutwelle hat auch den »Bodensatz jedes Herzens« (W, S. 76) aufgerührt, jenen trüben moralischen Untergrund, dem Gotthelf gerade in seiner christlichen Weltsicht ins Gesicht zu blicken wagt. Die Geldspenden begrüßt Gotthelf mehr als materielle Zeugnisse des permanenten Kampfs zur Eindämmung des Bösen, denn als Zinsen an ein neues nationales Solidaritätsgefühl. So leistet Gotthelf mit seinem Text zwar einen Beitrag an die sich als ›schweizerisch‹ ausdifferenzierende Katastrophenkultur, doch setzt er gleichzeitig zur Solidaritätsideologie, in die sie mündet, einige deutliche Fragezeichen. Diese Dialektik im Umgang mit dem sich formierenden Mythos der neuen, nationalen Solidargemeinschaft zeigt sich in vielen weiteren Werken aus der schweizerischen Literatur. Gottfried Keller, ein erklärter Bewunderer von Gotthelfs Wassernot,11 hat mehrfach selbst versucht, sich zum Katastrophenthema seine eigenen Reime zu machen. Doch es bleibt bei den Projekten, von der frühen Skizze eines Märchens, das eine Überschwemmung als Kampf der Elementarkräfte schildern sollte, über das Dramenfragment Therese, bei dem sich die Titelheldin in einem Hochwasser zu bewähren hat, bis hin zur Überlieferung, dass noch der todkranke Keller von einer Fortsetzung des Martin Salander und von einer Überschwemmung, die ihn abschließen sollte, phantasiert habe.12 Dieser ungeschriebene Katastrophen-Schluss des Salander hat die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Denn tatsächlich sollte das »Romänchen«, wie Keller 1882 an Paul Heyse schreibt, »mit einer wirklichen Bergfahrt vieler Menschen kataströphlich abschließen«.13 Das abgeflachte Leben soll in einen alpinen Aufstieg münden und der Roman »Exzelsior« heissen.14 Die erhaltenen Entwürfe konkretisieren, dass sich das »junge, degenerirliche Volk« am Pfingstmontag zu einer Bergfahrt versammelt, es von reißenden Bergbächen abgeschnitten wird und der Wald in Brand gerät. Eine Notiz sieht hier noch eine –––––––— 11

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Vgl. Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf (IV. 1.3.1855). In: G.K.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning et. al. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1989–1996. Bd. 7. Aufsätze, Dramen, Tagebücher. Hg. von Dominik Müller. 1996, S. 113–124, hier S. 121. Vgl. aus dem Notizheft von 1851 zur Entstehung von Die Leute von Seldwyla im Kommentarteil: Keller: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 4. Die Leute von Seldwyla. Hg. von Thomas Böning. 1989, S. 609; das Fragment Therese aus dem Nachlass in Keller: Sämtliche Werke (Anm. 11). Bd. 7, S. 498–532, hier S. 530f.; zur Entstehung des Martin Salander im Kommentarteil Keller: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 6. Sieben Legenden. Das Sinngedicht. Martin Salander. Hg. von Dominik Müller. 1991, S. 1063. Gottfried Keller: Brief Nr. 373 an Paul Heyse vom 25.12.1882. In: G.K.: Gesammelte Briefe. Hg. von Carl Helbling, 4 Bde. Bern: Benteli 1950–54. Bd. 3.I. 1952, S. 83–86, hier S. 85. Ebd., S.86.

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»reinigende Wendung« vor, indem »rechtliche & hülfsfähige Männer« Rettung bringen.15 Über diesen ungeschriebenen Katastrophen-Schluss von Kellers letztem Roman hat man häufig spekuliert, ja fast ist er zu einem neuen, kritischen Mythos avanciert, weil er die Schweiz, die im Roman als korrupte Profitgesellschaft erscheint, einer strafenden Apokalypse ausliefert. Diese muss als eine »höhere Gewalt« eingreifen, wie sie Kellers Freund, der Wiener Jurist Adolf Exner, in einem Traktat von 1883 definiert, das er auch an Keller schickt.16 Denn ihre moralische Korruption allein scheint nicht auszureichen, um diese Gesellschaft auch materiell in sich zusammenbrechen zu lassen. Dies zeigt sich in der Figur des Hochstaplers Louis Wohlwend, der Martin Salander am Schluss auch zur Bergfahrt verführen soll.17 Er hat die Firma mit dem sprechenden Namen »Schadenmüller und Companie« übernommen.18 Ihren Sitz hat diese Firma an einer neuen Geschäftsstraße, die »Winkelriedgasse« heißt, und auf Wohlwends Haus prangt ein Winkelried mit den Speeren im Arm auf Goldgrund, nebst einer Inschrift: »Sorget für mein Weib und meine Kinder«.19 Winkelried, der Held der Schlacht bei Sempach, wird in Kellers Epoche zum eidgenössischen Nationalhelden hochgeredet und hochgemalt. Dabei kämpft er weniger gegen Österreich, als dass er vielmehr mit seinem letzten Wort dazu auffordert, für seine Nächsten zu sorgen. Der Kriegsheld wird nach innen umgepolt. Dort wird er zur Integrationsfigur, zur Personifikation jenes Prinzips der auf wechselseitigem Vertrauen aufgebauten Solidargemeinschaft, das sich zu Kellers Zeit in weiteren Katastrophen bewährt: Während der Entstehungszeit des Salander führt der Bergsturz von Elm 1881, die opferreichste Katastrophe des neuen Bundesstaates, zu einer weiteren landesweiten Solidaritätsaktion. Der erfolgreiche Wirtschaftskriminelle Wohlwend trägt einen anti-katastrophischen Wohltätigkeitsnamen und gibt sich als Winkelried aus. So verklammert Keller die Realität des modernen Wirtschaftsegoismus mit der ebenso modernen Staatsdoktrin der Solidargemeinschaft. Diese zeigt sich von Anfang an als ideologische Mogelpackung: Es stellt sich heraus, dass Wohlwend den Maler seines Winkelriedbildes nicht einmal bezahlt hat. Zwar wird Wohlwend am gedruckten Romanschluss mit einem »Blitzzug« aus dem Roman ausgeschafft, –––––––— 15 16

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Vgl. Entwurfsnotiz Nr. 46 in Keller: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 6 (Anm. 12), S. 1085f. Vgl. Kellers brieflichen Dank im Brief Nr. 234 an Adolf Exner vom 11.6.1883 in: Keller: Gesammelte Briefe (Anm. 13), Bd. 2. 1951, S. 297. Exner definiert die »höhere Gewalt« im Hinblick auf die Entwicklung des modernen Verkehrswesens, besonders der Eisenbahnen, um deren Haftung im Falle von »Elementarereignissen« begrenzen zu können. Solche »Ereignisse« definiert er dadurch, dass sie als »Außerordentliche« die »Augen der Menschen auf sich ziehen«, auch in den »nicht unmittelbar Getroffenen Theilnahme und Furcht« erregen und sich dadurch »dem Gedächtniss Vieler« einprägen. In: Adolf Exner: Der Begriff der Höheren Gewalt (vis major) im römischen und heutigen Verkehrsrecht. Wien: Alfred Hölder 1883, S. 73. Im Bereich der »höheren Gewalt« lässt Exner auch den »Zufall« als Kategorie zu – Keller verstärkt und thematisiert analog in seiner Bearbeitung des Grünen Heinrich den ›Zufall‹ gegen Ende des Romans ganz wesentlich. Vgl. Entwurfsnotiz Nr. 45 in Keller: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 6 (Anm. 12), S. 1085. Ebd., S. 424. Ebd., S. 423f.

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damit er nicht weiteres Unheil anrichten kann.20 An seine Stelle tritt Salanders Sohn, der mit dem Winkelried-Vornamen ›Arnold‹ nun seinerseits die richtigen Tugenden verkörpern soll. Doch der Sohn ist ebenso schmalbrüstig wie dieser Schluss, der über einem nicht materiell, aber moralisch verwüsteten Land höchstens ein positives Notdach errichten kann. Diesen Roman voll traurig-bissiger Ironie legt Keller der helvetischen Festgemeinde auf den Altar, als sie 1886 das fünfhundertste Jubiläum der Schlacht bei Sempach feiert und im Namen Winkelrieds gleich auch eine Stiftung für die Nachkommen von gefallenen Soldaten errichtet.21 Keller zeigt: besser hieße diese Gesellschaft, die sich Solidarität nur als Fassadenfigur hält, »Schadenmüller und Companie«. Das ist die Pointe dieses literarischen Beitrags zur helvetischen Katastrophenkultur: Im Salander, wie er in der Buchfassung vor uns liegt, findet die Katastrophe zwar nicht statt, dafür aber umso deutlicher die Entsolidarisierung der modernen Profitgesellschaft. Diese geht der Katastrophe sogar voraus – und das ist die wirkliche Katastrophe. Diese kritische Inversion des helvetischen Topos von der Solidargemeinschaft wird in der Literatur aus der Schweiz im 20. Jahrhundert weitergedreht. Während sich die helvetische Ideologie auf den »Schweizer Standpunkt« des Zuschauers bei den Weltkatastrophen zurückzieht, wie ihn Carl Spitteler 1914 formuliert,22 und sich auch weltoffene Schweizer als »Homo alpinus helveticus« zu definieren suchen,23 brechen die Katastrophen gewissermaßen aus den literarischen Seitenkulissen in die Schweiz ein. Ich kann dazu nur die zwei wichtigsten Katastrophiker der Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert anführen, CharlesFerdinand Ramuz und Friedrich Dürrenmatt. Ramuz antwortet auf den Ersten Weltkrieg und die darauf folgende nochmalige Überhöhung des Alpenmythos, die sich im ›Réduit‹ des Zweiten Weltkriegs einbetonieren wird, mit einer Reihe von Katastrophenromanen. Sie stellen alle in unterschiedlicher Weise das Auseinanderbrechen der Gesellschaft in der Katastrophe dar, von Les signes parmi nous (1919) über Présence de la mort (1922), La grande peur dans la montagne (1926) bis zu Derborence (1934). Greifen wir Présence de la mort heraus, dessen erster Manuskripttitel noch schlicht: La Fin du monde gelautet hatte.24 Der Roman zeigt, wie die Gesellschaft auf eine –––––––— 20 21

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Ebd., S.699. Vgl. Beat Suter: Arnold Winkelried, der Heros von Sempach. Die Ruhmesgeschichte eines Nationalhelden. Diss. phil. Zürich 1977, S. 394; Peter Utz: Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers »Wilhelm Tell«. Königstein: Athenäum 1984, S. 123. Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. In: C.S.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Land und Volk. Hg. von Werner Lauber. Zürich: Artemis 1947, S. 577–594, hier S. 594. Ernest Bovet: Réflexions d’un Homo alpinus. In: Wissen und Leben 3 (1908/09), S. 296– 299. Vgl. dazu Peter Utz: Anspruchsvolle Anstrengungen helvetischer ›Kulturträger‹. Die Anfänge der schweizerischen Kulturzeitschrift Wissen und Leben. In: Ulrich Mölk in Zusammenarbeit mit Susanne Friede (Hg.): Europäische Kulturzeitschriften um 1900 als Medien transnationaler und transdisziplinärer Wahrnehmung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 93–112. Charles-Ferdinand Ramuz: Romans. Bd. 2. Hg. von Doris Jacubec. Paris: Gallimard 2005 (Pléiade), S. 1497. Im laufenden Text zitiert als P in Klammern mit Seitenangabe.

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Klimakatastrophe reagiert: Weil, wie man vermutet, die Erde sich der Sonne annähert, steigen die Temperaturen, die Seen trocknen aus und ein kollektives Sterben beginnt. Doch jeder stirbt für sich allein: »Les vies finissent sans communication entre elles, ni annonce de leur fin. Ah! comme il faut pourtant qu’on meure seul! comme on est seul pour mourir! Chaque chose, chaque être, seuls devant rien.« (P, S. 61) Die Gesellschaft atomisiert sich, die soziale Kohäsion bricht auseinander, und eine Solidarität zeigt sich höchstens noch in den untersten Schichten der Gesellschaft, in denen eine Art anarchistischer Kommune entsteht (vgl. P, S. 53). Die Armee wird aufgeboten, um den Besitz zu schützen, vor allem die Banken im Stadtzentrum – eine deutliche Reminiszenz an den Generalstreik von 1918 (vgl. P, S. 29). Trotzdem werden sie geplündert und gehen in Flammen auf (vgl. P, S. 55). Die Gemeinden riegeln sich gegen ihre Nachbarn ab. Es herrscht »Krieg« (P, S. 64, 78), ein Krieg aller gegen alle. Jener Krieg, den die Katastrophen in der Schweiz als Integrationsfaktor ersetzen, kehrt so in der von Ramuz imaginierten Katastrophe wieder in die Schweiz zurück. Die Menschen flüchten in die Berge, doch auch ins alpine Refugium schleppen sie den darwinistischen Überlebenskampf ein. Erst im Schlusskapitel deutet sich in einer mysteriösen Gemeinschaft in einem Bergdorf nach der Apokalypse noch eine Hoffnungsperspektive an (vgl. P, S. 92). Die Atomisierung der Gesellschaft zeigt sich auch in der Romanstruktur, die sich in 30 Kapitel auflöst, die einzelnen Erlebnisweisen entsprechen – es gibt keine gemeinsame Perspektive mehr, kaum mehr die des Erzählens.25 Das für Ramuz typische, literarisch innovative Erzählverfahren des ›on dit‹, einer sehr figurennahen, insofern polyphonen Erzählstimme, die weitgehend auf psychologische Introspektion verzichtet und nur die sicht- und hörbare Außenseite der Welt erfasst, wird zum adäquaten Ausdruck einer desolidarisierten Gesellschaft. Zudem hält diese Erzählweise den Leser nahe bei der dargestellten Welt, ohne ihm eine entlastende Zuschauerdistanz zu verschaffen. In dieser Darstellungsform erhält die Katastrophe eine diagnostische Kraft: sie zeigt nicht nur, dass der helvetische Mythos der Solidargemeinschaft hohl ist. Die Entsolidarisierung nach der Katastrophe zeigt auch an, wie zerrissen die Gesellschaft längst vor der Katastrophe ist. So schreiben die Schriftsteller in ihrer Weise an der helvetischen Katastrophenkultur weiter: sie wird ihnen zum literarischen Erkenntnisinstrument. Friedrich Dürrenmatt sagt im Zusammenhang seines Porträts eines Planeten: »Ich zeige die Erde im letzten Augenblick. Eine Fiktion, um die Gegenwart zu zeigen. Die Apokalypse ist für mich der Lichtblitz, der die fotographische Aufnahme ermöglicht.«26 Die Bilder, die Dürrenmatts Erzählkamera in diesem Moment festhält, werden im Laufe seines Werks immer greller, schärfer und fokussieren sich auch immer konkreter auf die schweizerische Realität. Während Dürrenmatt in –––––––— 25 26

Vgl. dazu das Nachwort, ebd., S. 1498. Friedrich Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990. 4 Bde. Bd. 2. Die Entdeckung des Erzählens. Gespräche 1971–1980. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Zürich: Diogenes, 1996, S. 15. Ähnlich auch im Nachwort zum Porträt eines Planeten in: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Bd. 12. Zürich: Diogenes 1998, S. 197.

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seinem Frühwerk und bis in die sechziger Jahre hinein im Sinne parabolischer Universalisierung die helvetische Realität ins Universelle extrapoliert,27 kehrt vor allem seine späte Prosa rächend und strafend in deren reale Talschaften zurück, gewissermaßen als eine ganz alte Dame, die nun von den Güllenern den Preis für eine lange Verlogenheit einfordert. Dies könnte man in den »Winterkriegs«-Kapiteln der Stoffe oder am Roman Justiz zeigen, denn für beide gilt, was das Nachwort zu Justiz formuliert: »Hat unsere Friedenszeit […] nicht schon längst die Form dessen angenommen, das wir einst Krieg genannt haben, indem wir die Katastrophen, die uns besänftigen, in unseren Frieden einbauen?«28 Diese rhetorische Frage beantwortet Dürrenmatt zum Beispiel am Ende seines letzten Romans, dem 1989 erschienenen Durcheinandertal: Hier wird das Kurhaus für Milliardäre und Gangster von den Dorfbewohnern in Brand gesteckt, nachdem sie der Pastorensohn mit einer Hasspredigt, die ihre rhetorischen Funken auch aus der Tellsage und dem alteidgenössischen Freiheitskampf schlägt, dazu aufgestachelt hat.29 Die wirkungsvollste Solidarität entsteht immer noch gegen das feindliche Fremde. Doch die Bewohner des Durcheinandertals kommen auch selbst in den vom Föhn weitergetragenen Flammen um.30 Damit erfüllt sich jener perverse Katastrophentraum des Gemeindepräsidenten, der sich viel früher fragt, wieso denn »zu uns ins Dorf nicht Lawinen oder Erdrutsche kommen, um alles zu verschütten wie bei anderen Bergdörfern, dann würde die ganze Schweiz helfen und im Radio die Glückskette Geld sammeln, und das Fernsehen käme, das Dorf würde berühmt und neu aufgebaut und käme zu Geld […].«31 Das, so findet er, sei ungerecht vom »lieben Gott«.32 Eine negative Theodizee hat sich im irdischen Durcheinandertal installiert: Nur wen Gott liebt, dem schickt er zuerst Lawinen oder Erdrutsche und dann die Geldspenden. Jene Katastrophenkultur, in der – wie es schon früher im Text heißt – die Menschen »von einer Hilfswut und Wohltätigkeitsorgie erfasst« werden, sobald »die Erde bebte, die Ströme über die Ufer traten, Lawinen niederdonnerten, Berghänge rutschten, Vulkane auseinanderbrachen«,33 stellt so die apokalyptische Logik der göttlichen Vergeltung für irdische Sünden auf den Kopf. –––––––— 27

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Vgl. Michael Böhler: »Auch hierzulande reden wir vom Heute, als stünde kein Gestern dahinter« – Literarischer Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz. In: Jakob Tanner, Sigrid Weigel (Hg.): Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges. Zürich: Hochschulverlag 2002, S. 145–178. Friedrich Dürrenmatt: Nachwort. In: F.D.: Werkausgabe (Anm. 26). Bd. 25. Justiz, S. 229. Schon die allererste Notiz zum Roman, datiert vom 20. August 1959, spricht von der »Möglichkeit einer Novelle. Hotel – Dorf. (Vorbild Wilhelm Tell)«. Reproduziert in: Friedrich Dürrenmatt: Schriftsteller und Maler. Hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv. Bern, Zürich: Kunsthaus, Diogenes 1994, S. 234. Dies gilt eindeutig erst in der letzten, publizierten Fassung – vgl. dazu Peter Rusterholz: Tohuwabohu oder paradoxes »Sinnenbild«. Friedrich Dürrenmatts Durcheinandertal. In: Ebd., S. 238–241. Friedrich Dürrenmatt: Durcheinandertal. In: F.D.: Werkausgabe (Anm. 26), Bd. 27, S. 101. Ebd. Ebd., S. 30f.

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Darum scheint es auch nicht mehr möglich, dieser Welt in der imaginierten Katastrophe die moralische Rechnung zu präsentieren, wie dies noch Keller oder Ramuz als Medium ihrer Gesellschaftskritik imaginiert hatten. Die Spendenkampagnen und jene schweizerische Versicherungskultur, welche die Katastrophensolidarität im 20. Jahrhundert überlagert, aber nicht ersetzt, lassen sogar apokalyptische Vergeltungsszenarien ins Leere laufen – das Hotel Waldhaus in Vulpera, das Dürrenmatt zum Vorbild dient, geht tatsächlich kurz nach der Fertigstellung des Romans in Flammen auf. Es ist für 36 Millionen versichert – Dürrenmatt vermutet Brandstiftung.34 Die alttestamentliche Rachelogik hat ausgedient. Das deutet sich auch mit dem provokativen Schluss des Romans an, bei dem die von einem Gangster geschwängerte Gemeindepräsidententochter, die als einzige die Katastrophe überlebt, das Wort »Weihnachten« haucht.35 Wenn es einen Gott, einen »Großen Alten« geben soll, dann ist er nicht der vollkommene Gott, der seiner Schöpfung strafend gegenübertritt; er hat vielmehr ein Menschenantlitz, er liebt die Schöpfung, indem er sie ebenso freudig erschafft, wie er sie lustvoll und spielerisch zerstört.36 Das wäre der Gott, wie ihn Moses Melker, eine Hauptfigur des Romans, am Schluss inmitten jener Flammen erkennt, in denen er selbst umkommt. So faltet Dürrenmatt in seinen helvetischen Katastrophenroman eine negative Theologie ein, die jedoch nicht nur eine der Destruktion, sondern auch eine der Kreation ist. Darum kann er sich in dieser Schöpfung auch als Schriftsteller selbst erkennen. In einem seiner letzten Gespräche sagt Dürrenmatt: »Wenn man schreibt, ist man immer der Große Alte.«37 Sein Durcheinandertal, das Marcel Reich-Ranicki als »schriftstellerische Katastrophe« verreißen konnte,38 ist das Werk einer kreativen Zerstörungslust, die den Spielcharakter jeder Schöpfung, auch der literarischen, an die erste Stelle rückt. Dies gibt Dürrenmatts Endspielen neben der gesellschaftskritischen auch eine poetologische Dimension.39 Auch das hat in der Schweiz eine – wenn auch verborgene – Tradition: Katastrophenszenarien entflammen nicht nur die Spendensolidarität. In ihnen kann sich auch jene literarische Kreativität spiegelnd erkennen, die sich dieser Katastrophenkultur verdankt, auch wenn sie sich kritisch gegen sie richtet. In katastrophischen Bildern entdeckt sie eine Quelle ihrer Schöpfungskraft. Im Jahr 1939 formuliert Ramuz in seinem autobiographischen Essay La découverte du monde, wie bei ihm als einem saturnischen Melancholiker die gestauten Schreibenergien mit einem Mal losgebrochen seien, gleich wie bei einem wilden Bach, der sich an seinem eigenen Geschiebe staut, schließlich losbricht und dabei auch reinigt: –––––––— 34 35 36 37 38 39

Dürrenmatt: Gespräche (Anm. 26), Bd. 4. Dramaturgie des Denkens. Gespräche 1988– 1990, S. 157. Dürrenmatt: Durcheinandertal (Anm. 31), S. 136. Ebd., S. 134. Ebd., S. 171. Zit. bei Rusterholz: Tohuwabohu (Anm. 30), S. 238. Vgl. dazu: Dürrenmatts Endspiele. Mit Texten und Bildern von Friedrich Dürrenmatt und Beiträgen von Pierre Bühler und Ulrich Weber. Cahier 7 (2003), Centre Dürrenmatt Neuchâtel.

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Peter Utz Le saturnien est un malheureux: il a sans cesse à se combattre lui-même. Il ne ›circule‹ pas facilement. Il est pareil à un ruisseau qui s’engorge du fait des débris qu’il charrie, jusqu’à ce que l’accumulation de l’eau finisse par crever le barrage et lui permette alors de se précipiter, plus rapide, plus claire, dans sa course en avant.40

Hundert Jahre zuvor, im Jahr der Niederschrift der Wassernot, greift Gotthelf gegenüber seinem Vetter Carl Bitzius in einem Brief zum genau gleichen Bild, um das Ausbrechen seiner literarischen Kreativität zu beschreiben: Dieses Leben mußte sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat es in Schrift. Und daß es nun ein förmlich Losbrechen einer lange verhaltenen Kraft, ich möchte sagen der Ausbruch eines Bergsees ist, das bedenkt man natürlich nicht. Ein solcher See bricht in wilden Fluten los, bis er sich Bahn gebrochen, und führt Dreck und Steine mit in wildem Graus. Dann läutert er sich und kann ein schönes Wässerchen werden. So ist mein Schreiben auch gewesen ein Bahnbrechen, ein wildes Umsichschlagen nach allen Seiten hin, woher der Druck gekommen, um freien Platz zu erhalten. Es war, wie ich zum Schreiben gekommen, auf der einen Seite eine Naturnotwendigkeit, auf der andern Seite mußte ich wirklich so schreiben, wenn ich einschlagen wollte ins Volk.41

Für Ramuz und Gotthelf hat das Schreiben die Wucht und Notwendigkeit eines Naturereignisses, einer produktiven Katastrophe. Sie fassen sie ins gleiche Bild, das sich konkret der schweizerischen Topographie und jenen Katastrophenszenarien verdankt, die sich aus ihr ableiten. Jene ›Freiheit‹, die in der Schweizermythologie an den Alpen entspringt und die man in Solidaritätsfranken umzumünzen versteht, nehmen sie beim Wort: es ist eine wilde Freiheit, die sich nur gegen den »Druck« äußerer Verhältnisse Bahn brechen kann und die sich erst im Werkprozess läutert. Es ist die Freiheit einer Kreation, welche die Katastrophe als ihre eigene Voraussetzung erkennt. Dabei richtet sich ihr Blick zunächst auf die Trümmer, die »débris«, den »Dreck« und die »Steine«, statt dass sie schnell abbindenden Solidaritätskitt zwischen die Trümmer gießt, um auf ihnen Plattformen des Patriotismus zu errichten. Das macht diese literarischen Beiträge zur schweizerischen Katastrophenkultur so genau und glaubhaft: Sie können deren Veräußerlichung nur deshalb so präzise diagnostizieren, weil die Kreation aus der Katastrophe heraus ihr Schreiben zu innerst motiviert.

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Charles-Ferdinand Ramuz: La découverte du monde: Paris. In: C.-F.R.:Œuvres complètes. 24 Bde. Bd. 20. Lausanne: H. L. Mermod 1941, S. 95. Jeremias Gotthelf: Brief vom 16.12.1838 an Carl Bitzius. In: J.G.: Sämtliche Werke (Anm. 10). Ergänzungsband 4. Briefe, Teil 1. Hg. von Kurt Gugisberg und Werner Juker. 1948, S. 280f.

Hans-Jürgen Schrader

Hallers Die Alpen, mythenkritisch reflektiert in Brandstetters Almträume

»Berge sind absolut wertfrei«. So ist in der Herbstausgabe 2006 der BerghilfZiitig (»Das Magazin der Schweizer Berghilfe«) ein Artikel überschrieben, in dem der Winterthurer Kabarettist Viktor Giacobbo alias Harry Hasler, Debbie Mötteli oder Fredi Hinz nach einer Wanderung mit Freunden rund um den Mürtschenstock für die Rubrik »Über den Berg« interviewt wurde.1 Während er sich da outete als der Städte bedürftig – und hin und wieder auch des Meeres –, gab er ungeachtet des Kabarett-Gesetzes zu satirischer Unausgewogenheit ein Zeugnis ab zugleich zum Mythos der Bergwelt und, in Rücksicht auf seine tägliche Berufskonfrontation mit »den Themen Naturschutz, beim Stauseeprojekt und beim Gotthardtunnel«, einer dazu austarierten Mythenkritik: Die Luft in den Bergen ist rein, die Gegend ist schön und weil es hoch oben nur wenig Leute gibt, findet man wieder zu sich selber. [...] Die Berge sind einfach da und wir leben mit ihnen. Einmal stellen sie ein Hindernis dar und manchmal sind wir stolz, wenn wir sie besteigen können. Berge sind vollkommen wertfrei.2

Die Debatte über die Werthaftigkeit der zuvor als »einfach da«-seiend, sicher auch schon als »hoch« und »schön« und »rein«, jedenfalls aber zugleich als unwirtlich empfundenen starren Auffaltungen der Erdkruste ist bekanntlich entscheidend durch den Berner Stadtmenschen und mehr oder minder universalgelehrten Stubenhocker Albrecht von Haller angestoßen worden,3 der für die –––––––— 1

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[Nathalie Zeindler] (nz): Über den Berg. In: Berghilf-Ziitig. Das Magazin der Schweizer Berghilfe – Aide Suisse aux Montagnards – Aiuto Svizzero ai Montanari – Agid Svizzer per la Muntogna 53 (Herbst 2006), S. 14f., hier S. 14. Ähnlich zeugmatischen Gestus zeigt auch das Kurzprosa-Stück von 1972: Alois Brandstetter: Bergwelt. In: A.B.: Von den Halbschuhen der Flachländer und der Majestät der Alpen. Frühe Prosa. Salzburg, Wien: Residenz 1980, S. 189f.: »Die Alpen sind nicht uneben. [...] Einerseits sind die Alpen Kulisse und Panorama, andererseits vor allem aus Kalk. [...] Sind sie lediglich Übertreibungen, Auswüchse, Beulen im Tiefland. Oder sind sie nicht vielmehr unser Schicksal?« Ebd. Gegen ein allzu leichthändiges Zu- oder Nachsprechen dieser Kennzeichnung eines – bei aller Weite seiner Interessen und überdisziplinären Forschungsanstöße – doch bereits typischen Vertreters der modernen in Einzelfächer ausdifferenzierten Naturwissenschaft spricht sich gerade der Leiter des nachlasserschließenden Berner Haller-Projekts aus. Vgl. seinen Artikel: Urs Boschung: Ein Gebirge an Gelehrsamkeit. In: Horizonte. Nachrichtenblatt des Schweizerischen Nationalfonds 24 (März 1995), S. 12f. Gerade in der »Universalität« des »letzten Universalgelehrten« sieht dagegen Karl S. Guthke: Haller im Halblicht. Vier Studien. Bern, München: Francke 1981 [Teildruck aus K.S.G.: Das Abenteuer der Literatur. Bern, München: Francke 1981], S. 7 (Vorwort) die Grundlage für Hallers zunehmende Unverständlichkeit in Zeiten der Wissenschaftsspezialisierung und verloren gegangenen Allgemeinbildung.

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»Leute« ein Rezept damit verband, wie sie aus der Naturentfremdung ihres Stadtlebens »wieder zu sich selber« finden können. Und seit seinem epischen Gedicht Die Alpen von 1729,4 das ebenso wie zweieinhalb Generationen später Friedrich von Schillers Drama Wilhelm Tell einen Urmythos der Schweiz durch gültige literarische Form erst recht gestiftet hat, sind weder die Berge noch die Lebensformen der Montagnards und Montanari mehr »wertfrei« zu diskutieren – weder »absolut« noch »vollkommen«. Hallers Preisgesang auf die Alpen und auf ihre vor den Entfremdungen und gesellschaftlichen Versuchungen der modernen Welt noch bewahrten Bewohner markierte ja einen bedeutsamen Wendepunkt auch in der Einstellung zu den Bergen selbst, die bis dahin weithin als nicht bloß unkultivierte, sondern schlechterdings unkultivierbare Landschaft den Gegenpol zum Ästhetisch-Schönen dargestellt hatten, konnte man sie doch aufgrund ihrer klimatischen Rauheit und der Unfruchtbarkeit ihrer Böden so gar nicht als vollkommen nützlich im Sinne eines harmonisch perfekten göttlichen Weltenplans ansprechen.5 Die emphatische Aufnahme von Hallers in jeder Neuauflage weiter ausgefeilten und in den Fußnoten sukzessive von den anlassgebenden Eindrücken im Waadtländer Jura, am Genfersee und im Wallis auf das Berner Oberland umbezogenen Alpen-Gedicht in den nachfolgenden zwei Generationen dagegen bereitete nicht nur dem rousseauistischen Enthusiasmus des 18. Jahrhunderts für die einfachen, unvergesellschafteten Lebens- und Empfindensformen in unverfälschter Natur den Boden, sondern auch einem bergenthusiastischen Alpentourismus, dem Hallers Naturentwurf zum unentbehrlichen Wanderführer und Wegweiser der wertenden Wahrnehmung wurde. 6 Goethe als bedeutsamer –––––––— 4

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Zuerst in: Versuch Schweizerischer Gedichten. Bern: Niclaus Emanuel Haller 1732. Es folgten zu Lebzeiten zahllose immer wieder sprachlich überarbeitete legitime Neuausgaben, überdies Raubdrucke. Die erste Einzelausgabe des deutschen Texts kam mit Vignetten zuerst in der Konfrontation mit einer französischen Übersetzung heraus: Die Alpen. Von Albrecht von Haller. Les Alpes. Par Alb. de Haller. Bern: Typograph. Sozietät 1795. Ich zitiere im folgenden aus der auf der Grundlage der Ludwig Hirzelschen Edition der Gedichte, Frauenfeld: Huber 1882 erarbeiteten Reclam-Ausgabe mit ihrem umfassend einführenden Nachwort und Kommentaren von Adalbert Elschenbroich: Albrecht von Haller: Die Alpen und andere Gedichte. Stuttgart: Reclam 1965, 2. Aufl. 1984, insofern dieses ›Reclambändchen‹ auch die Grundlage der hier beleuchteten Zitationen und Allusionen in der Rezeption der Gegenwartsliteratur darstellte: Alois Brandstetter: Almträume. Eine Erzählung, Salzburg, Wien: Residenz 1993 [seitenidentisch München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995], hier S. 161. Zur Editions- und Forschungsgeschichte vgl. Waltraud Hagen (Hg.): Handbuch der Editionen. Berlin: Volk und Wissen 1979, 2. Aufl. München: C. H. Beck 1981, S. 242–244. Zitatnachweise aus Hallers Gedicht im laufenden Text in Klammern mit der Versnummer (V. ). Zitatnachweise aus Almträume im laufenden Text in Klammern als (A, S. ) Über den grundlegenden Paradigmenwechsel zur Positivierung der zuvor eher negativen Einschätzung der Bergwelt informiert grundlegend die Studie von Ruth Groh und Dieter Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung. In: Heinz-Dieter Weber (Hg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs. Konstanz: Universitätsverlag 1989 (= Konstanzer Bibliothek 13), S. 53–95, hier bes. S. 54, 68–73. Hoch bedeutsam für die Geschichte der Prägung unserer Eindrücke und unseres Bewusstseins durch blickleitende literarische Modelle ist die (abgesehen von Weitschweifigkeiten

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Repräsentant dieser Neubewertung wurde in seiner Bildkonzeption des auf der zweiten Schweizerreise im Oktober 1779 besuchten Staubbachfalls bei Lauterbrunnen im »Gesang der Geister über den Wassern« durch Hallers Blicklenkung angeregt.7 So offenbart auch sein ganz unmittelbar und individuell erscheinender Blick, dass das Sehen und Beschreiben der Natur immer mitbestimmt ist von der imaginationssteuernden Kraft der zuvor aus Malerei und Poesie aufgenommenen Bilder, hier aus Hallers reich mit Epitheta ausgezierter Gemäldedichtung:8

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und Redundanz) noch immer wie ein Kriminalroman zu lesende positivistische Studie von Ferdinand Vetter: Der »Staubbach« in Hallers Alpen und der Staubbach der Weltliteratur. In: Festgabe zur LX. Jahresversammlung [...] der Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz. Dargeboten vom Historischen Verein des Kantons Bern. Bern: Gustav Grunau 1905, S. 311–362. Aus den Hallerschen Tagebüchern von seinen wiederholten Alpenwanderungen weist Vetter nach, dass die bestimmenden Eindrücke für sein Gedicht 1728 von den besuchten Gegenden im Waadtländer Jura (Colombier, Lac de Joux), am Genfersee mit dem Blick auf die Savoyer Alpen und dann im Unterwallis bei Martigny, durchweg also in der französischsprachigen Schweiz, ausgelöst worden sind und erst später in den Anmerkungen überlagert und uminterpretiert wurden von den ihm erst während der späteren Wanderungen (nach Abfassung des Gedichts) von 1731 und 1732 gründlicher bekannt gewordenen Hochgebirgsregionen des Berner Oberlands. Dabei tritt die Suggestion, die höchsten Zonen des eigenen Heimatkantons seien hier geschildert, interessanterweise erst mit der vierten, in Göttingen bei Vandenhoeck 1748 herausgebrachten Ausgabe der Alpen hervor (offenbar also als Heimweh-Phänomen des in die Ferne verschlagenen Berners). Wohl wegen der Entlegenheit dieser tiefgreifenden Sichtkorrektur am allseitig akzeptierten Alpen-Mythos sind diese Einsichten in der Haller-Forschung weithin wieder untergegangen: das Geschilderte erscheint so wieder als typisiertes Abbild deutschschweizerischer und spezifisch bernischer Besonderheit. Korrekt (wenngleich nicht dem Irrtum wehrend) Franz R. Kempf: Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter. Eine Rezeptionsgeschichte. Bern, etc.: Peter Lang 1986, S. 144f. Die intertextuelle Verweisung des Goetheschen Gedichts auf Hallers »Waldstrom«-Strophe ist bereits von J[oseph] Herzfelder: Goethe in der Schweiz. Eine Studie über Goethes Leben. Leipzig: Hirzel 1891, S. 64 angedeutet, im Detail wird sie aufgeschlossen bei Vetter: Der »Staubbach« in Hallers Alpen (Anm. 6), S. 329, 351–355. Goethe hält natürlich im Sinne der von Haller selbst beförderten Umdeutungen ins Bernische den »Staubbach« (Pletschbach-Fall) bei Lauterbrunnen für Hallers »Waldstrom«, bemerkt aber interessanterweise vier Wochen später beim eigenen Besuch des für Haller ursprünglich bildauslösend gewesenen Salanfe-Falls, der »Pisse-Vache« zwischen St. Maurice und Martigny, die Bildanalogie (»Wasserfall auf Staubbachs Art«), vgl. S. 354. Plausibel begründet die Haller-Adaption Goethes neuerlich Adalbert Elschenbroich: Nachwort. In: Haller: Die Alpen (Anm. 4), S. 104. Zum Text des Gesang der Geister über den Wassern und seinen Realbezügen vgl.: Mit Goethe in der Schweiz. Ein Bildband von Michael Ruetz mit Texten von Martin Müller. Zürich, München: Artemis 1979, S. 28–31, 55–58, 202; als Wegweiser zu den zahlreichen Interpretationen Wulf Segebrecht (Hg.): Fundbuch der Gedichtinterpretationen. Paderborn, etc.: Schöningh 1997, S. 129f. Höchst eindringlich ausgeführt bei Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen (Anm. 5), S. 54–56, 86, abbrevierend auch Christoph Siegrist: Albrecht von Haller. Stuttgart: Metzler 1967, S. 25–27, ferner Karl S. Guthke: Albrecht von Haller. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1977, S. 84–97, hier S. 89.

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Hans-Jürgen Schrader Hier zeigt ein steiler Berg die Mauer-gleichen Spitzen, Ein Waldstrom eilt hindurch und stürzet Fall auf Fall. Der dick beschäumte Fluß dringt durch der Felsen Ritzen Und schießt mit gäher Kraft weit über ihren Wall. Das dünne Wasser teilt des tiefen Falles Eile, In der verdickten Luft schwebt ein bewegtes Grau, Ein Regenbogen strahlt durch die zerstäubten Teile Und das entfernte Tal trinkt ein beständigs Tau. Ein Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen, Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen. (V. 351–360)9

Zugleich aber erinnert eine von Goethe kuriositätshalber aufbewahrte und – als Zitat gekennzeichnet – ebenso in seine antithetischen Spruchsammlungen wie in »Makariens Archiv« der Wanderjahre integrierte Lesefrucht daran, daß die Zeit noch nicht weit zurücklag, in der die Berge vornehmlich als monströses Relikt des Chaotischen in der göttlichen Heilsökonomie, als Störfaktor einer auf Nutzen und Wohlfahrt zielenden Ordnung erschienen waren: Wenn Reisende ein sehr großes Ergetzen auf ihren Bergklettereien empfinden, so ist für mich etwas Barbarisches ja Gottloses in dieser Leidenschaft; Berge geben uns wohl den Begriff von Naturgewalt, nicht aber von Wohltätigkeit der Vorsehung. Zu welchem Gebrauch sind sie wohl dem Menschen? Unternimmt er dort zu wohnen, so wird im Winter eine Schneelawine, im Sommer ein Bergrutsch sein Haus begraben oder fortschieben; seine Herden schwemmt der Gießbach weg, seine Kornscheuern die Windstürme. [...] Er führt ein einsam kümmerlich Pflanzenleben [...] ohne Bequemlichkeit und ohne Gesellschaft. Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felswände, diese ungestalteten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte [...] ein Menschenfreund sie preisen!10

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Vgl. Hallers Fußnote zur Rechtfertigung des Bildentwurfs wie der von Kritikern angegriffenen Schlussreime, Haller: Die Alpen (Anm. 4), S. 17, »daß [...] wann oben am Berg die Wolken liegen, der Staubbach aber durch seinen starken Fall einen Nebel erregt, als wovon hier die Rede ist, der letzte Vers allerdings nach der Natur gemalt scheint«. Elschenbroich weist in seiner Anmerkung zur Fußnote ebd. auf Hallers ausdrückliche Identifikation des beschriebenen Wasserfalls als »Lauterbrunner Staubbachfall« in seinem Einzeldruck der Alpen von 1773: »Den Regenbogen habe ich gesehn und bin stundenlang stillegestanden, die seltene Erscheinung zu betrachten.« Ich zitiere diese »Paradoxie eines würdigen Mannes« nach der Version »Aus Makariens Archiv« im Dritten Buch von Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. 1. Abt. Bd. 10. Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 762. Das Zitat findet sich auch bereits in der der Farbenlehre zugeordneten Sammlung »Sprüche in Miszellen« in: J.W.G.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. 1. Abt. Bd. 13. Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hg. von Harald Fricke. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 383, sowie als »Einzelne Betrachtungen und Aphorismen« im Kontext von Über Naturwissenschaft im Allgemeinen in J.W.G.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. 1. Abt., Bd. 25. Schriften zur allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie. Hg. von Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 929. Den Hinweis auf diese richtige Piste verdanke ich der Präsidentin der Goethe-Gesellschaft Schweiz, Dr. Margrit Wyder, nachdem mich ein offenbar irrtümlicher Beleg des Teilzitats, angeblich aus einem Brief an Nees von Esenbeck, bei Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen (Anm. 5), S. 64 in die Irre geführt hatte. Für

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Hallers eigenes Sehen war freilich genauso wenig voraussetzungslos wie das des ihm nachempfindenden Bewunderers: das Bild vom herabbrausenden und rauschend wieder emporjauchzenden »Waldstrom« ist natürlich den Horazschen Carmina IV/2, 5–12 (»monte decurrens velut amnis«) verpflichtet, an dem später Herder und Goethe ihre Pindar-Begeisterung schulten,11 und historischkritisch benennt Hallers Gedicht einige derer, die ihm neben selbstverständlich auch Vergil und Lukrez das Auge und die Feder gelenkt haben: »Was Epiktet getan und Seneca geschrieben, / Sieht man hier ungelehrt und ungezwungen üben«. (V. 69f.) Alois Brandstetter,12 der in seiner (wie der Untertitel sagt) »Erzählung« Almträume von 1993, eher einem mit multiplen intertextuellen Verweisungen namentlich auch zur Schweizer Literatur angefüllten Großessay mit stark autobiographischer Grundierung, Hallers Alpen zum zentralen Bezugspunkt der literarischen Verspiegelungen macht, führt den Poeten- und Gelehrtenkollegen –––––––—

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Goethes Einschätzung des Zitierten als bereits obsoletes Kuriosum vgl. auch ihre Studie über seine »Faszination der Höhe« und »der weiten Aussicht«, Margrit Wyder: Vom Brocken zum Himalaja. Goethes »Höhen der alten und der neuen Welt« und ihre Wirkungen. In: GoetheJahrbuch 121 (2004), S. 141–164. Wie ungeprüft freigegriffene Behauptungen, vage Verortungen und Quellenangaben auch in weithin solide Arbeiten übernommen werden, zeigen die vollkommen divergierenden Zuweisungen in den Fußnoten zu den drei Abdruckstellen innerhalb derselben Edition: Bd. 10 der I. Abteilung (Wanderjahre), S. 1265 kommentiert vorsichtig nur Goethes in der ironischen Entgegnung zur hier zitierten Position erfolgende Anspielung auf Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, übergeht also die Frage der Zitatquelle. In Bd. 25 der 1. Abteilung (Naturlehre) dagegen wird S. 936 (unbelegt) behauptet: »Das Zitat stammt aus Johann Gottfried Schnabel, Wunderliche Fata [...]«. Erst Fricke, Bd. 13 der I. Abteilung (Sprüche in Prosa), S. 980f., der die Herkunft dieser Fehlangabe über eine Kette ungeprüfter Übernahmen zurückverfolgt, stellt klar, dass sich bei Schnabel »eine solche Stelle nirgends finden lasse«, so dass die Identifikation der Exzerptherkunft der künftigen Forschung aufgegeben bleibt; er gibt dazu die Suchhypothese »Es könnte sich bei der zitierten Stelle wohl um ein Rezeptionszeugnis zur Insel Felsenburg handeln«. – Kempf: Hallers Ruhm als Dichter (Anm. 6), S. 132 weist auf die Bekundung in Dichtung und Wahrheit hin, dass Goethes eigener Vater diese negative Sicht der Berge (»wilde Felsen, Nebelseen und Drachennester«) teilte. Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Götter, Helden, Waldteufel. Zu Goethes Sturm- und DrangAntike. In: Bernd Witte, Mauro Ponzi (Hg.): Goethes Rückblick auf die Antike. Berlin: Erich Schmidt 1999, S. 59–82, hier S. 65 bzw. in italienischer Version: H.-J.S.: Dèi, eroi e satiri. Ovvero la classicità stürmeriana di Goethe. In: B.W., M.P. (Hg.): Goethe e l’antico. Rom: Lithos 2005, S. 55–81, hier S. 62 (= I saggi 32). Grundinformationen zu Leben und Werk von Johann Strutz: Alois Brandstetter. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), Bd. 1. München 1978ff. (aktualisierende Nachlieferungen bis 1985); Anhang in: Alois Brandstetter: Landessäure. Starke Stücke und schöne Geschichten. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Stuttgart: Reclam 1986, 2. Aufl. 1988, S. 71–92; Siegmund Geisler: Der Erzähler Alois Brandstetter. St. Ingbert: Röhrig 1992 (= Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur 3); Sonderband der oberösterreichischen Literaturzeitschrift Die Rampe: Johann Lachinger, Alfred Pittertschatscher (Hg.): Die Rampe. Hefte für Literatur, Sonderheft: Porträt Alois Brandstetter. Linz: Trauner Verlag 1998. Jüngerer zusammenfassender Überblick: Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck: Haymon-Verlag 2001, insbes. S. 165f., 191, 283.

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des frühen 18. Jahrhunderts in einer potenzierenden Hochtreibung des literarischen Allusionsspiels als Urheber der neuen Schule des Sehens ein:13 Was Goethe für die Gotik und das Straßburger Münster mit seinem Aufsatz in Von deutscher Art und Kunst leistete, nämlich einen Meinungsumschwung (Achtung nach Verachtung), das leistete eine Generation früher Haller für die Alpen. Bis in seine Zeit, also in die Mitte des 18. Jahrhunderts, galten die Alpen als häßlich, das Leben der Menschen in dieser abgelegenen Gegend als roh und unkultiviert. Es galt die biblische Paradiesesverheißung: Jeder Berg soll abgetragen, jedes Tal soll ausgefüllt werden. [...] Keiner hat sich ohne Not aus der Wirtlichkeit des Haarebenen in die Unwirtlichkeit des ›Gebürges‹ begeben, wo man nichts als Beschwerlichkeit, Kälte und Not antraf. Das war schließlich im großen und ganzen auch die Meinung des großen Philosophen Immanuel Kant, der die Schweiz bekanntlich für ein armes und rückständiges, von den Alpen verunstaltetes Land gehalten hat, obwohl Albrecht von Haller sein Lieblingsdichter war, was auf kein besonders entwickeltes literarisches Bewußtsein schließen läßt. Aber hierin, was die Beurteilung der Alpen und die Tugend der Alpenbewohner betrifft, hat Kant von von Haller keine Lehre angenommen. Für Kant war Königsberg nicht nur ein Wohnort, sondern eine Weltanschauung. Irrtum ausgeschlossen. [...] Aus den Bergen und von den Alpen kommt nichts Gutes. (A, S. 35–37)14

Kant erscheint da gleichsam als Vorformulierer des mir noch aus Nach-68erZeiten im Ohr liegenden Sponti-Spruchs gegen die zweckrational-absurde Logik kommerzieller Naturtransformation: ›Weg mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!‹ Hallers Absicht war nun allerdings gar nicht in erster Linie, die Schönheit der Bergnatur in sich aufzunehmen und in ansteckender Begeisterung in Worte zu fassen. Als sich der junge Gelehrte, der als polyglottes Wunderkind schon neunjährig orientalische Lexika und Grammatiken entworfen hatte und 13jährig in Biel zum Medizinalpraktikum, 14jährig in Tübingen zum Medizinstudium zugelassen und noch nicht einmal 19jährig in Leyden (mit einer physiologischen Arbeit über den Speichelgang) zum Doktor promoviert worden war, im Sommer –––––––— 13

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Auf Hallers grundlegenden Einfluss nicht allein für die ästhetisch-poetische Aufwertung des Hochgebirges, sondern auch für die erste Welle der intellektuellen wie dann auch touristischen Schweiz-Begeisterung geht ausführlich Kempf: Hallers Ruhm als Dichter (Anm. 6), S. 131–136 ein im Kapitel »Serie der Alpen-Nachahmer im 18. Jahrhundert von Suppius bis Matthisson und Baggesen«. Eine poetische Reflexion im 20. Jahrhundert kann er (sieben Jahre zu früh erschienen für eine mögliche Wahrnehmung von Brandstetters strukturbildend-intertextuellem Spiel) nicht mehr konstatieren, bloß noch ein (verblassendes) Interesse der Fachwissenschaften (vgl. S. 153–156). Vgl. zum hier Alludierten die dem Königsberger Philosophen selbst in den Mund gelegte Satire Alois Brandstetter: Königsberg und Innsbruck oder: Der Skilauf, von der hohen Warte des deutschen Idealismus gesehen. In: A.B.: Landessäure (Anm. 12), S. 56–60 mit der aus dem Axiom von »Königsberg als Weltanschauung« resultierenden Auffassung des Philosophen, »daß dort unten im Süden die Berge so hoch wie die Philosophie und der Geist flach und tiefstehend seien« (S. 58). Unter den Almträume-Rezensionen hebe ich hervor Michael Scheffel: Proseminar für Bergfreunde. Alois Brandstetters Almträume. In: Süddeutsche Zeitung, 10.7.1993, sowie Otto F. Beer: Das Große im kleinen. Alois Brandstetters Erzählung Almträume. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 31.7.1993. Vgl. auch die Textcollage von Vera Felbermair und die reizvolle Photoserie von Josef Neumayr: Eine Spurensuche. Alois Brandstetters Erzählung Almträume in ausgesuchten Zitaten. In: Die Rampe. Sonderheft: Porträt Alois Brandstetter (Anm. 12), S. 8–19.

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1728 nach der seine naturwissenschaftliche Ausbildung beschließenden Kavalierstour durch halb Westeuropa während eines Basler Aufbausemesters der höheren Mathematik mit seinem Studienfreund Johannes Geßner auf die Wanderung durch den Westschweizer Jura nach Genf und durchs Walliser Rhonetal bis ins Berner Oberland aufgemacht hatte, war das Ziel die Erweiterung der botanischen Sammlungen.15 Das musste notwendig in beträchtliche Höhen führen. Der vorrangige und für sein Gedicht anlassgebende Eindruck des euphorieweckenden Steigens und Wanderns in frischer Höhenluft war dabei jedoch gar nicht die Landschaft selbst. Noch weit stärker beeindruckte die botanisierenden Studiosi das gleichförmig vom Kreislauf der Jahreszeiten geordnete Leben der bergbäuerlichen Bevölkerung, das sie als so völlig konträr erfuhren zur eignen entfremdeten Existenz und mehr noch zum schon aus Selbstschutz verachteten Genussstreben der großen Mehrheit der im Studium und auf den Bildungsreisen kennengelernten städtischen Bevölkerungen.16 Bei jedem Wiederlesen jedenfalls bin ich angesichts der anknüpfenden naturenthusiastischen Rezeption und den dadurch überlagerten eigenen Lektüreerinnerungen des Alpen-Gedichts erstaunt, wie wenig und wie spät erst dort tatsächlich von Eindrücken der Landschaft oder gar von dadurch ausgelösten Empfindungen die Rede ist. Primär in jedem Belang ist die kulturkritische Lehrabsicht, das Alpenvolk als paradiesisch-einfaches Gegenbild gegen die Kompliziertheit, gesellschaftliche Verlogenheit und überfeinerte Schwelgerei in den städtischen Zentren und an den Höfen anzupreisen. Zu diesem strikt sozialkonservativen Lehrinhalt passt vollkommen das schon veraltet-beschwerte Alexandrinermaß der wuchtig-zehnversigen Bild-fürBild-Strophen, passen namentlich die üppig beigegebenen Erläuterungen sowie Fußnoten dieser nachbarocken Gelehrtenpoesie, die alle aufgewandte Poetenmühe beschreibt – ganz im Sinne von Karl Valentins schönem Flügelwort »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«17 Von Brandstetter wird Haller mit seinem schweren Versgetöne und Fußnotengepäck (das gleichwohl Zusatzfußnoten des modernen Editors erfordert) –––––––— 15

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Für die biographischen Fakten verweise ich insbes. auf Siegrist: Albrecht von Haller (Anm. 8), S. 5–17, hier bes. S. 6–8, ferner Guthke: Albrecht von Haller, (Anm. 8), S. 85. Eine treffende Kurzcharakteristik der Hallerschen Dichtung und ihrer literarischen Wirkungsgeschichte gibt Heinz Balmer: Albrecht von Haller. Bern: Paul Haupt 1977 (= Berner Heimatbücher 119), S. 36–43, vgl. 84f. Aufmerksam darauf machen beispielsweise auch Siegrist: Albrecht von Haller (Anm. 8), S. 25, ferner Guthke: Albrecht von Haller, (Anm. 8), S. 89. Zum goldenen Wort gewordenes Paradox Karl Valentins, heute z.B. verwendet als Werbeaufdruck auf den Verkaufstüten des ›Postkartenladens‹, Köln. Vgl. schon Hallers Eingangserläuterung zu seinem Gedicht: »Die zehenzeiligen Strophen, die ich brauchte, zwangen mich, so viele besondere Gemälde zu machen, als ihrer selbst waren, und allemal einen ganzen Vorwurf mit zehen Zeilen zu schließen. Die Gewohnheit neuerer Zeiten, daß die Stärke der Gedanken in der Strophe allemal gegen das Ende steigen muß, machte mir die Ausführung noch schwerer. Ich wandte die Nebenstunden vieler Monate zu diesen wenigen Reimen an, und da alles fertig war, gefiel mir sehr vieles nicht.« Haller: Die Alpen (Anm. 4), S. 3. Hinführung zur Forschungsliteratur über diese bekannteste Dichtung Hallers bei Siegrist: Albrecht von Haller (Anm. 8), S. 25–27; zu Hallers lebenslangen Besserungen und Umarbeitungen ebd., S. 18–24.

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erfahren als der gravitätische adlige Akademie-Schulmann, der sich mühsam genug auf die schwindelerregenden Höhen seiner Bergidylle emporarbeiten musste (in Wirklichkeit ja war er erst Jahre nach seiner Alpendichtung in Göttingen zum Professor geworden, und noch später hatten ihm die Göttinger für schweres Geld den – daheim theoretisch nie gültigen – erblichen Adelsstand erkauft).18 Und außerdem findet der zum Klagenfurter Germanistikprofessor aufgestiegene provinzbürtige oberösterreichisch-katholische Gegenwartsautor gegenüber dem barocken Reformierten aus Bern zeitliche, regionale und auch konfessionelle Zugangsschwierigkeiten:19 Ich muß mich selbst bei der Lektüre der Alpen von Haller konzentrieren, um ihm bei seiner akademischen Klettertour folgen zu können und mitzukommen. Und immer wieder falle ich einmal ins Seil, und es rettet mich nur noch der Anmerkungsapparat tief unten am Ende der Seite. [...] Der Bergführer des Anmerkungsapparates belehrt mich, daß ich Titan in Vers 321 mit der Sonne gleichzusetzen, Hamen als ›Angel, Fessel‹ zu verstehen habe. Im Vers 481, kurz vor dem Ende des Gedichtes, preist Haller die Alpenbewohner auf seine Art: »O selig! wer wie ihr mit selbst gezogenen Stieren Den angestorbenen Grund von eignen Äckern pflügt.« Der angestorbene Grund?! Hier geht ohne ortskundigen Bergführer gar nichts mehr [...], denn angestorben bedeutet ererbt! Im alten ›Ave Maria‹ hat es noch statt heutigem »in der Stunde des Todes« geheißen »in der Stunde unseres Absterbens«. Wenn die Eltern absterben, dann ist die Zeit des Ansterbens ihres Besitzes. (A, S. 37f.)

Wo Haller aber doch den Blick auf die Natur richtet, gelangt er – schon weil dem verquält und furchtsam Gottsuchenden entsprechende Gewissheiten einer transgressio ad coelum nicht mehr verfügbar sind – hinaus über die schematischen Anwendungen der Physikotheologen, in der deutschen Dichtung also der formal bereits so viel gewandteren und musikalischeren Vorläufer wie Paul Gerhardt (»Geh aus mein Herz und suche Freud«) oder Barthold Hinrich Brockes (Irdisches Vergnügen in Gott und darin namentlich das Gedicht »Die Berge«),20 die von –––––––— 18

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Vgl. Guthke: Albrecht von Haller, (Anm. 8), S. 86 sowie insbes. den exzellenten Artikel des Berner Alttestamentlers und Altrektors der Göttinger Georg-August-Universität, Walther Zimmerli: Haller in Göttingen. In: Albrecht von Haller 1708–1777. Ausstellung. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. Göttingen: Hubert & Co. 1977, S. 9–12, hier S. 11 (Arbeiten aus der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek 14a); mit Illustrationen »Zum 200. Todestag des Universalgelehrten«. Wiederabgedruckt in: Göttinger Tageblatt, 10./11.12.1977 (»Hochschule«). Die Ambivalenz der theologisch-weltanschaulichen Sympathielenkungen des praktizierenden Katholiken in beinahe allen seinen Werken reflektiert neuerdings überzeugend und ausgewogen Jörg Ernesti: »Wie durch das umgekehrte Fernrohr«. Die Kirchenkritik des Romanciers Alois Brandstetter. In: Geist und Leben 76 (2003), S. 458–468. Vgl. eher programmatische Bekenntnisäußerungen, etwa Alois Brandstetter: Kinder des Lichts... In: Hans Georg Koch (Hg.): Christ sein – Mensch sein. 33 Aussagen. Ostfildern, Stuttgart: Schwabenverlag 1984, S. 18–21. U.d.T. »Der Christenmensch« auch übernommen in A.B.: Kleine Menschenkunde. Salzburg, Wien: Residenz 1987, S. 65–68, oder A.B.: Vom Predigen oder Die Sehnsucht nach der stillen Messe. Erwartungen eines Hörers. In: Diakonia 16 (1985), S. 332f. Vgl. Barthold Hinrich Brockes: Die Berge. In: B.H.B.: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart: Metzler 1965, S.123–131. (Erstdruck im Ersten Theil des Irdischen Vergnügen 1721).

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der Schönheit und Vollkommenheit der Natur auf den Schöpfer und seine weise Welteinrichtung schließen. Über deren stets detailfokussierende Rahmenschau gelangt er in der emphaseweckenden Blickerweiterung auf die ganze, dynamisch erfahrene Totale der Landschaft zukunftsweisend hinaus:21 Durch den zerfahrnen Dunst von einer dünnen Wolke Eröffnet sich zugleich der Schauplatz einer Welt Ein weiter Aufenthalt von mehr als einem Volke Zeigt alles auf einmal, was sein Bezirk enthält (V. 325–328). Aus Schreckhorns kaltem Haupt, wo sich in beiden Seen Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen teilt, Stürzt Nüchtlands Aare sich, die durch beschäumte Höhen Mit schreckendem Geräusch und schnellen Fällen eilt (V. 431–434). Dann hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget Und der erhabnern Welt die Sonne näher scheint, Hat, was die Erde sonst an Seltenheit gezeuget, Die spielende Natur in wenig Lands vereint (V. 311–314).

Ganz offensichtlich hat es dem botanisierend zu Blüten und Kräutern niedergebeugten Wanderer doch, wie ja sein stundenlanges Verharren vor dem Walliser (und später dann auch dem Berner Oberländer) Staubbachfall indiziert, häufig den Blick nach oben und in die ungemessene Weite fortgerissen, und zweifellos hat auch diese Erfahrung entscheidend dazu beigetragen, dass es der im heimatlichen Bern eher gering geachtete, im nördlichen Göttingen aber mit Ehren überhäufte und um jeden Preis zum Dableiben oder Wiederkommen umworbene Exzellenzprofessor ›im ellende‹ des nördlichen Hügellands auf Dauer –––––––— 21

Vgl. die noch immer höchst einsichtfördernden Beobachtungen für die Entwicklung der Naturapperzeption, des Naturgefühls und auch der Landschaftsschilderung zwischen der Abfolge statisch-umgrenzter Einzelbilder in der Aufklärung und dynamischen Bildsprengungen zu kosmischer Weite seit dem Sturm und Drang und in der Romantik, bereitgestellt in der Dissertation von August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 2. Aufl. 1965 und 3. Aufl. 1968. Um ein aktuelles Vorwort erweiterter Reprint der Erstausgabe Jena: Diederichs 1934 (= Deutsche Arbeiten der Universität Köln 6), hier, namentlich für Haller und die Aufklärungssicht des Hochgebirges, S. 3, 19f., 40f., 118, danach auch Siegrist: Albrecht von Haller (Anm. 8), S. 26f. Deutlich wird hier, wie Hallers »malende Poesie« (ebd., S.25) noch vollends teilhat an der aufklärerischen Bilderkettentechnik, doch wird, anders etwa als in Christian Garve: Über einige Schönheiten der Gebirgsgegenden. In: Vermischte Aufsätze, 2. Teil, 2. Aufl. Breslau: Korn 1800 die Bergwelt nicht mehr zur bloßen Rahmenkulisse für Fernblicke: in der Annäherung an die nicht mehr ferne Konzeption des Erhabenen weiten sich vielmehr die Einzelbilder bereits tendenziell ins Unermessliche und gewinnen eine den Betrachter mitreißende Dynamik. Dazu insbes. auch Elschenbroich: Nachwort. In: Haller: Die Alpen (Anm. 4), S. 88, 97f. 103f. Die Rahmenschau, auch mittels des durch optische Instrumente fokussierten Blicks, als Grundlage sowohl physikotheologischer Beweisführungen als auch einer spezifisch aufklärerischen Ästhetik reflektiert neuerdings eindringlich Ulrich Stadler: Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 69–77, 128f. Dem grundlegenden Ideal komplementärer Erkenntniswege von Poesie und Wissenschaft (vgl. ebd., S. 132) bleibt Haller freilich noch verpflichtet.

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nicht hat aushalten können,22 dass ihn vielmehr sein ›mal du pays‹, die, wie Brandstetter aus Adelungs und Grimms Wörterbüchern nachweist, sprichwörtliche »Schweizerkrankheit« des Heimwehs,23 ins Heimatland zurückgerufen und dort festgehalten hat. Die Konzeption der Nachfolgegeneration vom ›Erhabenen‹ heroischer Landschaften ist aber bei Haller, selbst wenn das Wort hier auftaucht, aus mehreren Gründen noch nicht erfüllt. Wenn er nämlich V. 312 von »der erhabnern Welt« spricht, meint das noch vorrangig die geographisch höhergelegenen Zonen. Zum einen führt der Anblick der Berge den Poeten nicht zur Teilhabe gewährenden Erfahrung oder Ahnung einer göttlichen Transzendenz (als wirkende Kraft wird V. 314 »die spielende Natur« angesprochen, und eher metaphorisch als Ursache der waltenden Utilität heißt es, »der Himmel hat dies Land [...] geliebet, Wo nichts, was nötig, fehlt und nur, was nutzet, blüht«, V. 317f.), zum andern meidet er alle Emphasen der seligen Empfindungen einer in Trunkenheit und Schwärmerei versetzten Seele. Wesentlichstes Kennzeichen des Erhabenen hingegen ist dessen vollkommene Zweckfreiheit.24 Seine Wahrnehmung ebenso wie deren ins Arrheton oder aber in ekstatisch begeisterte Wortkaskaden drängende Wiedergabe muss frei sein von allem Nutzkalkül. Den Luxus der Nutzlosigkeit in der spleenig-empfindungsbegierigen Seelenaufblähung vor dem Erhabenen, Topos aller Naturschwärmerei-Kritik bis hin zu Heine oder Raimund,25 aktuali–––––––— 22

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Ausland und Elend sind ja im älteren Deutsch in Begriff und Bedeutung noch ungeschieden – Zeichen einer für beide gleichermassen angstbesetzten Erfahrung. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 19. Auflage, bearb. von Walter Mitzka. Berlin: de Gruyter 1963, S.163. Dazu Brandstetter: Almträume (Anm. 4), S. 62. Vetter: Der »Staubbach« in Hallers Alpen (Anm. 6), S. 328 weist darauf hin, dass Haller schon bei seinen Wanderungen durchs Berner Oberland (Hasliberg) im Sommer 1738 »Studien über Pflanzen, Bergluft und Schweizer Heimweh« angestellt hat. Ihm ging es also um empirische Verifikation der Theorie seines großen Vorgängers als polyhistorischer Landesforscher, Johann Jacob Scheuchzer (zuerst Seltsamer Naturgeschichten Des Schweitzer=Lands Wochentliche Erzehlung, Bd. 1, 1705, S. 57), dass »das so genante Heimwehe / eine seltsame und gefährliche Krankheit / Welche die Schweitzer in frömden Landen ausstehen müssen / vornehmlich von der Beschaffenheit der Schweitzerischen Luft« herrühre. [Johann Jacob Scheuchzer:] Helvetiæ Stoicheiographia, Orographia et Oreographia. Oder Beschreibung der Elementen des Schweitzerlands (Der Natur-Histori des Schweitzerlands Erster Theil). Zürich: Bodmer 1716. Reprint, mit einem Begleitband von Arthur Dürst. Zürich: Orell Füssli 1978, S. 11. Differenzierungen zur ›Heimat‹-Identifikation und zur Selbsteinschätzung der immateriellen Lebensqualitäten in den einzelnen Landesteilen (mit besonders affektivem Bezug in den Alpengebieten und speziellem Hinblick auf den »Aufbau der bernischen kulturellen Identität«) gibt Roland Ris: Kulturelle Identität. In: Maja Silvar (Hg.): Bern – Schweiz – Europa. Identität und Identitäten. Bern: Paul Haupt 1991, S. 63–85, bes. S. 68 und 74–79 (= Berner Universitätsschriften 37); dagegen zu interregionalen Abgrenzungen, Auto- und Heterostereotypen ders.: Innerethnik der deutschen Schweiz. In: Paul Hugger (Hg.): Handbuch der Schweizerischen Volkskultur. Bd. 2. Zürich: Offizin 1992, S. 749–766. Umfassende Diskussion bei Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen (Anm. 5), S. 58f., 63, 70–77. Das zwingt zu Vorsicht gegenüber anachronistischer Begriffsemphase; vgl. Kempf: Hallers Ruhm als Dichter (Anm. 6), S. 134, 136. Als Beispiel erinnert sei die bündigst-denkbare Abfertigung biedermeierlicher Naturschwärmerei in Heines Neue Gedichte – Verschiedene, »Seraphine X.« von 1832: »Das Fräulein

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siert Brandstetter in seinem montanarischen Essay im satirischem Sprachspiel auf den vorgeblichen Idealismus der heutigen Bergsteigerindustrie: Der Drang in die Höhe, dieser besondere Hang zu den Bergen, dieser Berg-Hang also, ist bekanntlich eine europäische Erscheinung, eine mitteleuropäische genaugenommen. Darum sprechen wir auch von Alpinismus. Der wahre Alpinist aber lacht heute über die Alpen. Alpinisten sind in den Anden, im Kaukasus, im Karakorum und im Himalaja unterwegs. [...] Wer hoch hinaus will, muß sich in Nepal umsehen. So hat also der Alpinismus die Alpen ›erniedrigt‹. Denn es geht dem Alpinisten ums Beherrschen, er will die Berge in die Tasche stecken, die Joche unterjochen und alles auf die Spitze treiben. Der Alpinist will die Berge abhaken. [...] Ein Achttausender muß her! rufen die Alpinisten im Bergsteigerchor. [...] Zwischen dem Gipfelstürmer und dem Sherpa herrscht ein merkwürdiges Verhältnis. Der Sherpa ist im Sinne des Alpinismus kein Bergsteiger, seinem Bergsteigen fehlt die Würde der Sinnlosigkeit, denn er geht ja nicht aus idealistischen Motiven auf den Berg hinauf, das würde ihm nie einfallen, solche Einfälle haben nur die übersättigten Europäer. [...] Den Bergsteiger aber entschädigt das unbeschreibliche Gipfelgefühl für alle Mühen des Sherpas. (A, S. 12–15)

Haller konnte als Frühaufklärer zur Rechtfertigung der Berge von deren Nutzen noch nicht absehen. Wenn er auf ihre Funktion als Wasserscheide und als Wasserspeicher für ganz Europa hinwies (»Der Berge wachsend Eis, der Felsen steile Wände / Sind selbst zum Nutzen da und tränken das Gelände«, V. 319f.), auf ihren Reichtum an »funkelndem Kristall« (»Europens Diamant«, V. 406 und 410), »heilsam Eisensalz« und gar Thermalwasser, das »eilt, gebraucht zu sein« (V. 411–430), dann weiß er freilich, dass dies angesichts der Unbill der Natur (der »Elemente Neid«, V. 40) kein besonders gutes Argument für einen auszeichnenden Nutzen des Hochlands vor der Ebene ist. Und auf die Exploitierung der Berge für einträglichen Tourismus, Unterhaltungssport und Tunnelbauprojekte war noch niemand gekommen. Aber sein Interesse ist ja auch nicht ein kommerzielles, sondern geht aufs Ethische. Auf diesem Feld wird er nun für überlegene Sinnhaftigkeit der grausen Klippen und Schlünde fündig: die Berge sind schlichtweg da als Schutzfeste ihrer noch nahe der güldenen Zeit lebenden Bewohner gegen den Sittenverfall und das leichtfertige Lasterleben in den Tälern, in den Kapitalen und im klischeefreudig abgestempelten welschen Süden und Westen mit ihrem dolce far niente und ihren alkoholischen Exzessen: Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen, Allein dein Pflug geht durch und deine Saat errinnt; Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen (V. 51–53, vgl. 161f.).

Eine Brentanosche Gottesmauer gegen den altbösen Feind aus der Tiefe schützt also das frugal-paradiesische Idyll der noch naturhaften Kommunität auf den –––––––— stand am Meere« (ein von Karl Marx gern zitiertes Epigramm). Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Winddfuhr. Bd. 2. Neue Gedichte. Bearbeitet von Elisabeth Genton. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983, S. 35f.; vgl. auch S. 450f., oder die lächerliche Gestalt des Naturanbeters Dumont in Raimunds Der Verschwender von 1833 (v.a. II.4–II.7) in Ferdinand Raimund: Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Schreyvogel. München: Winkler 1966, S. 545–548.

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Höhen (vgl. V. 121),26 wo jeder tut, was ihm zukommt, zufrieden ist mit dem, was die Natur ihm schenkt, vor allem klares Wasser, aber auch Milch und sonstige Leibesnotdurft, Käse und Eicheln, wo noch ehrlich geredet wird und unverstellt getreulich geliebt, gar freudig gelernt bei den würdig und durch Erfahrung weise gewordenen Alten: Was hat ein Fürst bevor, das einem Schäfer fehlet? (V. 15) Seht ein verachtet Volk zur Müh und Armut lachen, Die mäßige Natur allein kann glücklich machen. (V. 449f.) [...] Euch muß ein Fürst beneiden, Dann Liebe balsamt Gras und Ekel herrscht auf Seiden. (V. 149f.) Bei euch, vergnügtes Volk, hat nie in den Gemütern Der Laster schwarze Brut den ersten Sitz gefaßt [...]. (V. 471f.) Des Morgens Freude frißt des Heutes Sorge nie. [...] Man ißt, man schläft, man liebt und danket dem Geschicke. (V. 76 und 80)

Alois Brandstetters Gegengesang gegen diese Idyllenpoesie und Utopie vom wiedergewinnbaren Paradies ist nun keinesfalls ein mythoklastisches Spottlied auf das von Haller gehegte holde Wunschgebilde.27 Seine eigene Erzählung, deren inhaltlicher Kern der illusionsbesetzte Erwerb eines (mittlerweile auch wieder veräußerten) Kleinbauernguts auf dem einstigen Weinberg im ferngerückten oberösterreichischen Heimatort Pichl bei Wels darstellt und dort der Ausbau eines »Kleinhäuslerdachbodenmuseum[s]« (A, S. 53, vgl. S. 18ff., 25, 51) zur Erinnerung an frühere Lebensformen im Voralpenraum, bezeichnet er sogar, wenngleich die Verleger dergleichen nicht ins Roman-Rollenfach passende Gattungsangaben nicht auf dem Titelblatt sehen wollen, als eine »Prosaidylle« und ein »Hohelied auf die Einfachheit« (A, S. 188, vgl. S. 44). Der Skopus dieses opus ist gegen die Zeittendenz zum Extremen und zum Größenwahn das Lob der mittleren Höhen,28 bergwirtschaftlich gesprochen der amönen Weide–––––––— 26

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Die Kennzeichnung als ein »frugales Paradies« ist Karl S. Guthke so wichtig, dass er sie in verschiedenen Studien wiederholt. Guthke: Albrecht von Haller, (Anm. 8), S. 89, vgl. auch ders.: Der Glaube des Zweiflers. Glanz und Krise der Aufklärung in Hallers Lyrik. In: Guthke: Haller im Halblicht (Anm. 3), S. 16. Vgl. den (dem Kant-Spezialisten Rudolf Malter gewidmeten) Essay Alois Brandstetter: Ins Paradies vertrieben. In: Harald Seuter (Hg.): Der Traum vom Paradies. Zwischen Trauer und Entzücken. Wien, Freiburg, Basel: Herder 1983, S. 131–141. Die Verbindung vom bisweilen nostalgischen Rückblick einer wehmütigen Kindheitssuche des seiner bäuerlichen Herkunft unwiederbringlich entfremdeten Intellektuellen und satirischen Einsprachen in idyllische Städterprojektionen von vermeintlichen Wonnen ländlicher Lebensganzheit aus präziser und oft traumatischer Kenntnis heraus wird deutlich im Vergleich mit anderen landbürtigen Autoren. Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Sphärensprünge vom Landleben zur Literatur. Von Bräker bis Brandstetter. In: Alfred Messerli, Adolf Muschg (Hg.): Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 93–115 (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 44). Vgl. dazu den Anlass und Zentralmotiv der Almträume-Erzählung erläuternden Essay von Alois Brandstetter: Aschlberg. In: Josepf Bramer [Zeichnungen] und Alois Brandstetter [Essay]: Aschlberg. Land vor den Alpen. Hg. von Hellmuth Grausam. Melk: Edition Babenberg 1991, S. [10]–[42].

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zonen, bairisch-österreichisch der »Almen« unterhalb der darüberliegenden felsstarrenden »Alp«.29 Das gilt gerade auch gegenüber der großen Geste in poeticis: »mir geht es im großen und ganzen ums Kleine« (A, S. 61, vgl. S. 166), selbst um den Preis, dieserhalb unter den Schroffen und Aufragenden als ›Poeta minor‹ angesehen und also übersehen zu werden (A, S. 179): Alm und Alp sind zwar nur verschiedene Ausprägungen desselben Wortes, [...] sind freilich in der Bedeutung heute deutlich geschieden. Und es ist mir immer, als trage die Sprache mit dem Wort Alm, dem sanften, ja weichen Nasal-m im Auslaut, der freundlichen, einladenden Schönheit der Alm Rechnung, während das harte p im Auslaut von Alp, dieser aggressive Explosionslaut, die Schroffheit des Gesteins über der Vegetationsgrenze anzeigt [...]. Ein Almtraum wäre im Gegensatz zu einem Alptraum wirklich ein Traum! Ein Traum, den wohl jeder gern träumen würde, denn die Alm ist doch gerade das, was die Alten den ›locus amoenus‹ nannten, den ›Lustort‹, [...] eine paradiesische Sehnsucht von Anfang an. In einem Almtraum liegt man ausgestreckt im würzigen Gras, sieht über sich am blauen Himmel kleine Schäfchenwolken, Schönwetterwolken, ziehn und hört aus der Ferne eine Kuhglocke. (A, S. 39f.)

Der Wunschtraum von der aetas aurea in naturhafter Bescheidung, Nüchternheit und unkomplizierter Redlichkeit selbst in der Interaktion der Geschlechter bringt ihn von da ungesäumt zu Haller, dessen autoritätengestützte Gelehrtenpoesie er zitierend sogar mit Versbelegen nachahmt, um sie gleichsam interlinear zu kommentieren. Das wundersame Traumbild zu vervollständigen, taucht schließlich ein herrlicher weiblicher Mensch auf, der sich über einen beugt. Ein leises, weiches, weibliches Wesen wendet und neigt sich dir zu, ein Milch- und Honigmädchen, und bietet dir an und lädt dich ein, von allem zu genießen, was die Natur und die Natürlichkeit des Menschen anzubieten haben. [...] Die Wollust deckt ihr Bett auf sanft geschwollenes Moos, Zum Vorhang dient ein Baum, die Einsamkeit zum Zeugen, Die Liebe führt die Braut in ihres Hirten Schoß, schreibt Haller, Vers 146ff. Das kann jeder selbst in seinem Sinne zu Ende träumen. Meistens erwacht man ja eben an der Stelle, wo es besonders wohlig und angenehm wird. Das ist sozusagen die Krise der Idylle. (A, S. 40f.)

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Auch diesbezüglich gibt es Übersetzungsbedarf, insofern der Unterschied zwischen der »Alm« als Weidezone und der »Alp« als darübergelegenem Klippenterrain im Schweizerischen ja nicht realisiert werden kann, wird doch hier auch und gerade das Weidegebiet als »Alp« angesprochen. Vgl. die Artikel »Alp«, »Alpabfahrt«, »Alpaufzug«, »alpen« (mit dem jeweiligen bair.-österr. Äquivalent) in: Kurt Meyer: Duden. Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen Besonderheiten. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag 1989, S. 70. Im Österreichischen dagegen ist »Alm« explizit schriftsprachlich. Die Grundform »Alm« für »Viehweide im Gebirge« wird dort dem in dieser Bedeutung als mundartlich nur für Tirol und Vorarlberg (also in alemannischer Einflußzone) notifizierten »Alp / Alpe« gegenübergestellt. Vgl. Österreichisches Wörterbuch. Hg. im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 35. Aufl. Wien: Österreichischer Bundesverlag / Jugend und Volk 1979, S. 102. Vgl. mit der Verbableitung »almen« (»[Vieh] auf der Alm halten«) Jakob Ebner: Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliograph. Institut 1969, S. 26. Standarddeutsch verschwimmen die Bedeutungsdifferenzen, vgl. Ursula Hermann, Lutz Götze: Wahrig. Die deutsche Rechtschreibung. Neuausgabe Gütersloh, München: Wissen Media Verlag 2005, S. 146: »Alp« wird da synonym erläutert »Alm, Gebirgswiese, Alpe« und »Alm« als »Bergwiese, Alp«.

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Hans-Jürgen Schrader Haller, der sich seinerseits bei den alten Idyllikern der Griechen und Römer bedient hat, hat freilich seinen Almtraum für Wirklichkeit gehalten. Es war seine Absicht, diesen für wahr und wirklich ausgegebenen Almtraum den Städtern und dem Leben in den Städten entgegenzuhalten. Die Städter, etwa die Göttinger [...] sollten sich an den einfachen Schweizer Bauern ein Beispiel nehmen. Denn auf der Alm gibt es keine Sünde, wie etwa auch die folgende Stelle beweist: Sobald ein junger Hirt die sanfte Glut empfunden [...] So wird des Schäfers Mund von keiner Furcht gebunden, Ein ungeheuchelt Wort bekennet, was ihn rührt; Sie hört ihn und, verdient sein Brand ihr Herz zum Lohne, So sagt sie, was sie fühlt, und tut, wornach sie strebt [...] (V. 13ff.) (A, S. 40–43).

Nur weiß Alois Brandstetter, der heutige Universitätsgelehrte, Raabe- und nun auch Stifter-Preisträger,30 der sich selbst dem von Stifter in der Poesie, wenn auch nicht immer in den Gemälden (A, S. 168f.) gewahrten ›Sanften Gesetz‹ verschreibt, zugleich aber Wahrheit in Raabes Wahlspruch »Unsere tägliche Selbsttäuschung gieb uns heute« findet,31 dass Illusion nur dann heilsam bleibt, wenn man ihren Fiktionscharakter durchschaut. Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so. Und da schaut er, der selbst auf dem Land unter tausend Ängsten, sozialen und ekklesiogenen Neurosen aufgewachsene Sohn eines Müllers und Nebenerwerbsbauern, dem gelehrten Berner Stadtbürger denn doch weitersehend über die Schulter – bzw. über die enorme Allongeperücke, wie sie »auf zeitgenössischen Stichen« zu sehen ist: Gerade im Blick [...] auf Hallers alptraumartigen Kopfschmuck wird auch sein Almtraum vom einfachen Leben der Bauern, die keinen Zopf und keinen Kragen kennen, erklärbar. Und es gehört zum liebenswürdigen Widerspruch aller Idyllen, daß vom Ungeschminkten literarisch ein wenig geschminkt, vom Einfachen umständlich, vom Echten künstlich, vom Natürlichen ein bißchen unnatürlich traktiert wird. Die Natur ist natürlich, die Kunst ist künstlich, das liegt in der Natur der Kunst. (A, S. 46f.)

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Vgl. Alois Brandstetter: Dankesrede zur Raabe-Preisverleihung 1984. In: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 1985, S. 44–47; motivliche Reflexe in Hans-Jürgen Schrader: »Im Kreise der Greise«. Zu Alois Brandstetters 60. Geburtstag. In: Egyd Gstättner (Hg.): Vom Manne aus Pichl. Über Alois Brandstetter. Salzburg, Wien: Residenz 1998, S. 121–134; Alois Brandstetter: Vom Glückwünschen. Eine Gratulation für W.S.-D. zum 60. Geburtstag! In: Pia Janke, Michael Ritter (Hg.): Der Germanist. Österreichische Autoren und Autorinnen über den Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler. Zum 60. Geburtstag. Wien: Edition Praesens 2002, S. 11–15; Alois Brandstetter: Stifter über Stifter. Ein Jahresregent zieht Bilanz [und Hans-Jürgen Schrader: Über Alois Brandstetter]. In: Alois Brandstetter. Adalbert-Stifter-Preis. Beispiele 2005. Kulturpreise des Landes Oberösterreich. Hg. von Paul Lehner. Linz: Gutenberg, Amt der OÖ. Landesregierung 2005, S. 4–8. Diesen Satz aus seiner poetologisch unterfütterten grotesken Erzählung Vom alten Proteus (1875/76) hat Wilhelm Raabe gleichsam als Lebensmotto im mit seiner Unterschrift und einem Porträt faksimilierten Manuskript unter die kleine Autobiographie setzen lassen, die er nach lebenslanger Verweigerung anderer Lebensrechenschaften als der seines Werks 1906 für einen Heimatkalender geschrieben hat. Wilhelm Raabe: Der Heidjer. Ein niedersächsisches Kalenderbuch auf das Jahr 1907 Christi. Hg. von Hans Müller-Brauel. Hannover: Jänecke [1906], [S. 33]. Das Selbstzeugnis mit dem Wahlspruch-Faksimile habe ich auch dem Eingangsband meiner zehnbändigen Raabe-Taschenbuch-Kassette vorangestellt: Wilhelm Raabe: Werke in Einzelausgaben, Bd. 1. Stuttgarter Erzählungen. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Frankfurt/M.: Insel 1985, S. 11, vgl. S. 331f.

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Weil sich aber so viel künstliche Stilisierung und illusionäre »süße Utopie« (A, S. 90) wie die den Alten nachempfundene Versidylle die oratio prorsa einer heutigen Prosaidylle nicht mehr leisten kann,32 ohne zu schönredender Verführung zu verkommen, ruft Brandstetter neben dem Idyll auch »die Krise der Idylle«, das grausam-ernüchternde Erwachen, auf und dafür neben der eigenen Erfahrung mit dem Bauernleben im Voralpenland auch Kronzeugen aus der Schweizer Literatur von Ulrich Bräker bis Adolf Muschg mit besserer Kenntnis als Haller über die Härte, Unglückfracht, auch die sozialen und sexuellen Frustrationen im Bergbauernleben.33 Da erfährt man, dass die Idyllen mehr von innen heraus als bloß von außen bedroht sind,34 dass das Leben in den Bergen eben nicht immer heiter alle Notdurft beschert und dass durchaus nicht nur Wasser und fromme Milch getrunken werden, dass vielmehr auf Alm und Alpe ärgere ›Sünd‹ herrschen kann als im städtischen juste milieu, schließlich auch, dass auch dort die Alten nicht immer weise sind, Generationenkonflikte dagegen permanent.35 Dieses aber, das eigene Einsprechen ins Idyll wie auch Muschgs düstere Erzählung Der Zusenn oder das Heimat,36 sind ihm »nur scheinbar die Widerlegung Hallers« (A, S. 122). Denn durchschaut als holde Kunst und uneinholbare Verheißung – und querdenkend überprüft, ob denn das Verheißene wirklich zu menschlicheren Modellen frommt –, dürfen Illusion und –––––––— 32

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Die Abgrenzung der »oratio prorsa« (aus: provorsa) der ›Prosa‹ von der »oratio ligata« der Lyrik hat Brandstetter in seinem Werk häufiger reflektiert, vgl. schon den poetologischen Aufsatz Alois Brandstetter: Probleme der Textkonstitution in der Kurzprosa. In: A.B. (Hg.): Gegenwartsliteratur als Bildungswert. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1982, S. 96–103, hier S. 96 (= Schriften des Instituts für Österreichkunde 41), oder im Großessay Alois Brandstetter: Schönschreiben. Salzburg, Wien, 2. Aufl. 1997, S. 86. Als Reminiszenz an die erquicklich-gedeihliche Tagung in Maynooth und Dublin, der sich die vorliegende Studie verdankt, sei aus diesem Buch (S. 115) auch das ›Schönschreibe‹-Lob vom »schönsten aller Bücher, dem Book of Kells im Trinity College in Dublin« mitzitiert. Für Antwortstrukturen zu Bräker vgl. Schrader: Sphärensprünge (Anm. 27). Zu Muschg (insbesondere zur von Brandstetter reflektierten Zusenn-Erzählung) vgl. Hans-Jürgen Schrader: »Daheim ist daheim«. Frühe Impulse neuer ›Heimat‹-Vermessung bei Adolf Muschg, Guntram Vesper und Alois Brandstetter. In: Eduard Beutner, Karlheinz Rossbacher (Hg.): Ferne Heimat – Nahe Fremde. Bei Dichtern und Nachdenkern. Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 240–263, hier S.244–247. Theoretisch hat dieses Idyllengesetz namentlich Renate Böschenstein herausgearbeitet, nicht nur in der grundlegenden Gattungsmonographie Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2. durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart: Metzler 1977 [zuerst 1967], sondern schärfer noch in ihren späten Droste-Studien Renate Böschenstein: Idylle, Todesraum und Aggression. Beiträge zur Droste-Forschung. Hg. von Ortrun Niethammer. Bielefeld: Aisthesis 2007, namentlich S. 15–35 »Die Struktur des Idyllischen«; vgl. auch ebd. S. 11f. Ortrun Niethammers Einführung. Auch untersucht als bevorzugtes Thema der eigenen Literaturepoche. Alois Brandstetter: Prosaische Annäherung an die Väter. Zu einem Motivboom in der österreichischen Gegenwartsliteratur. In: Friedbert Aspetsberger, Hubert Lengauer (Hg.): Zeit ohne Manifeste? Zur Literatur der 70er Jahre in Österreich. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1987, S. 191–198 (= Schriften des Institutes für Österreichkunde 49/59). Adolf Muschg: Der Zusenn oder das Heimat. In: A.M.: Liebesgeschichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, 7.–9. Tsd. 1973, S. 23–46.

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Utopie ihre märchenhafte Trost- und Heilungsfunktion behalten.37 In diesem Sinne auch wäre jedem Literaturlehrer [...] zu raten, Muschgs Geschichte zu Hallers Idylle hinzuzulesen: »Bald aber spricht ein Greis, von dessen grauen Haaren Sein angenehm Gespräch ein höhers Ansehn nimmt, [...] Er malt die Schlachten ab, zählt die ersiegten Fahnen, Bestürmt der Feinde Wall und rühmt die kühnste Schar. Die Jugend hört erstaunt und wallt in den Gebärden, Mit edler Ungeduld, noch löblicher zu werden.« (V. 281ff.) – (A, S. 122f.)

Beispielhaft für zahllose weitere Haller-Zitationen und die leise korrigierend hineingewirkten Einsprachen des auf einem ausgedienten Melkschemel seines Kleinhäusler-Museums in sein Reclam-Heft der Hallerschen Alpen hineinsinnierenden Idyll-Prosaisten will ich nun nicht die Wespen und Hornissen vergessende Evokation der den Älplern in den Mund wachsenden goldreifen Äpfel, süßen Birnen und honigreichen Pflaumen oder die unter den Schweizermythen heute politisch unkorrekte Abgrenzung der wassertrinkenden Berner OberlandBauern von den vorgeblich in Ausschweifung und Alkohol verkommenden Welschen im Westen und Süden ausführen (»wirklich eine Beschreibung des goldenen Zeitalters vor dem Sündenfall der fraktionierten Destillation. Ist Haller entgangen, daß auch schon die Schweizer von jenen paradiesischen Bäumen nicht nur den einen oder anderen frischen Apfel gepflückt, sondern auch schon Most und [...] Birnenschnaps im Sinne hatten?«..., A, S. 87), auch nicht den anderen Mythos vom die Härte und Unbeliebtheit solcher Arbeit verkennenden idyllischen Viehtreiben, Melken und Käsen.38 Vielmehr beschließe ich, anknüpfend ans Zitat des Glorifizierens verjährter Militärerinnerungen durch einen geschwätzigen Alp-Alten (für uns kaum mehr wie für Haller ein »angenehm Gespräch«) mit jener Idyllenkorrektur, in der Brandstetter aufgrund eigener Genfer Ohrenzeugenschaft explosiv geübter Wehr und Waffen (vielleicht auch einer mythischen Obsession der Schweiz – entschieden gefahrendrohender freilich auch anderer Länder) ein Realmanko unserer süßen Hoffnungen offenbar –––––––— 37

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Die Ambivalenz hat Brandstetter schon in einem frühen Beitrag für den Jahresalmanach seines Verlags, Locus amoenus, gestaltet und dabei seine Lust am als illusionär erkannten Idyll einbekannt: »Jene Stellen, an denen ich mich am liebsten aufhalte, sind Stellen in alten Büchern, wo Stellen wie diese beschrieben werden, möglichst an Stellen, die den beschriebenen ähnlich sind.« Alois Brandtsetter: Locus amoenus. 1. Das Ptolemäische Weltbild / 2. Die Kopernikanische Wende. In: Literatur im Residenz Verlag. Almanach auf das Jahr 1975. Salzburg: Residenz 1975, S. 25–29, hier S. 25. Es zeigt sich wiederum eine Analogie zum reifen Erzählwerk Wilhelm Raabes, vgl. etwa Charlotte Jolles: »Im alten Eisen«. Wirklichkeit im Märchenton. In: Josef Daum, Hans-Jürgen Schrader (Hg.): Revisionen. Festschrift zum 150. Geburtstag Wilhelm Raabes. Braunschweig: Waisenhaus Verlag 1981. [Zugleich: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1981], S. 194–209, und Diskussion S. 82–87; Hans-Jürgen Schrader: Das Klobige der Irdenware und die Zartheit des Porzellans. Vor hundert Jahren: »Hastenbeck«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1998, S. 70–98. Vgl. die Erzählung Alois Brandstetter: Viehtreiben. In: A.B.: Über den grünen Klee der Kindheit. Salzburg, Wien: Residenz [und Lizenzausgabe Wien: Donauland – Kremayr & Scheriau] 1982; München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1985, S. 74–87; wieder aufgenommen in A.B.: Meine besten Geschichten. Salzburg, Wien: Residenz 1999, S. 120–131.

Hallers »Die Alpen«, mythenkritisch reflektiert in Brandstetters »Almträume«

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macht: unserer Almträume, es gebe eine Welt ohne Krieg im ewigen Frieden. Der Passus bezieht sich, ohne den alludierten Text wie sonst zitierend aufzurufen, auf Hallers elegische Evokation der untergegangenen goldenen Zeit zu Beginn seines Alpen-Gedichts (in der Urversion von 1729 war es sogar die erste Strophe), von deren Glück ohne Überfluss und Zufriedenheit ohne Reichtümer er in seinen Bergen noch Relikte wiederzufinden meint: Beglückte güldne Zeit, Geschenk der ersten Güte, Oh, daß der Himmel dich so zeitig weggerückt! Nicht, weil die junge Welt in stetem Frühling blühte Und nie ein scharfer Nord die Blumen abgepflückt; Nicht weil freiwillig Korn die falben Felder deckte Und Honig mit der Milch in dicken Strömen lief; Nicht, weil kein kühner Löw die schwachen Hürden schreckte Und ein verirrtes Lamm bei Wölfen sicher schlief, Nein, weil der Mensch zum Glück den Überfluß nicht zählte, Ihm Notdurft Reichtum war und Gold zum Sorgen fehlte! (V. 21–30)

In Brandstetters sich von der Vorgabe freisetzendem Gegengesang erscheint wie vieles in der Gegenwart auch manches Erbteil unserer Vergangenheit eher unidyllisch und dunkel. Tröstlich dagegen bleibt eine durch Umrüstung, erinnerndes Aufbewahren und querdenkende Aktualisierung zukunftsverfügbar erhaltene kulturelle, namentlich literarische Tradition: Immer wird der Prophet Jesaia mit dem denkwürdigen Satz zitiert, daß die Schwerter zu Pflugscharen werden (2,4). In einer großen Vision, deren Verwirklichung freilich schon Jahrtausende auf sich warten läßt und die wohl eine Illusion, Utopie, bleiben wird, sieht er den Löwen beim Lamme ruhen, eine Idylle, die sich nicht einmal in der Schweiz Hallers ganz erfüllt hat, von der es heißt, sie sei »aus der Geschichte ausgetreten«. Auf der Terrasse [...] in Genf, hoch über dem Ufer der Rhône, den mächtigen Montblanc vor Augen, wurden wir gleichwohl schon beim Frühstück von den Schüssen des nahen Schießplatzes der Milizionäre [...] in unseren Fachgesprächen über Haller und vor allem über Ulrich Bräker empfindlich gestört. Noch wird geschossen, und es wird am Waffenhandel mehr als am Viehhandel verdient. Die Glocken der Kirche in Pichl bei Wels wurden eingeschmolzen, mußten also einrücken, aus ihnen wurde Munition gemacht, was gerade die Umkehrung der Vision des Jesaia bedeutet. Immer wurden bisher aus Pflugscharen Schwerter, und daß der Löwe beim Lamme ruht, gilt bis auf weiteres als eine besondere Nummer der Dompteure im Zirkus, in freier Wildbahn wird sie noch nicht gespielt. [...] In meinem Heimatmuseum ist dies im umfunktionierten Stahlhelm, der als Jaucheschöpfer diente, aber bereits Wirklichkeit geworden. [...] So landet alles im Museum. Der einstige Stahlhelm wurde zum Jaucheschöpfer, bevor er endgültig zum Demonstrationsobjekt [...] wurde. [...] Er überbrückt und ›versöhnt‹ meine Abteilungen ›Militaria‹ und ›Agraria‹, [...] er ist witzig und spritzig und macht sich über den mörderischen Schwachsinn in den Köpfen der Militaristen lustig. (A, S. 116–118)

Thomas Feitknecht

Der Berg – das Hirn Wandel des Bergbildes in der Gegenwartsliteratur der deutschen Schweiz

Zwei Männer treffen in den Bergen aufeinander und erleben eine Existenzkrise – das ist ein Motiv, das in der deutschsprachigen Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder kehrt. Im König der Bernina (1900) von Jakob Christoph Heer (1859–1925) erschiesst der Jäger Markus Paltram in Notwehr den auf frischer Tat ertappten Wilderer Sigismund Gruber; beide sind auch Gegenspieler im Leben, denn beide lieben die gleiche Frau, Cilgia Premont.1 Der Roman Albin Indergand (1901) von Ernst Zahn (1867–1952) schildert das Ringen des Pfarrherrn im Urner Bergdorf Anderhalden mit dem verlorenen Sohn eines Wilderers und Mörders in den Wirren nach der Französischen Revolution.2 In Pilatus (1912) von Heinrich Federer (1866-1928) wird der Gymnasiast Florin schwer verletzt, als er auf Veranlassung seines früheren Klassenkameraden Marx Omlis ein Edelweiss pflücken will und abstürzt; Florin stirbt früh, Marx Omlis bleibt sein Leben lang durch dieses Erlebnis gezeichnet.3 In der Erzählung Die Gratwanderung von Meinrad Inglin (1893-1971) gewinnen die beiden jungen Akademiker Albrecht und Gregor auf einer Bergtour zu viert Klarheit über ihre Liebe zu Hedwig und Irene.4 Im Stummen (1959) von Otto F. Walter (1928– 1994) erkennt auf einer Strassenbaustelle im Jura ein stummer junger Arbeiter seinen Vater wieder, den Sprengmeister Ferro; bei der Sprengung einer Kuppe kommt der Vater ums Leben, und der Stumme findet seine Sprache wieder, die er verloren hatte, als der Vater im Suff die Mutter getötet hatte.5 In der Bergfahrt (1975) von Ludwig Hohl (1904–1980) versuchen die beiden ungleichen Freunde Ull und Johann, einen Berg zu besteigen; der schwache Johann bricht nach einem Wetterumsturz die Tour ab, stürzt in einen reissenden Bergbach und kommt um, der bergtüchtige Ull steigt weiter auf, erreicht den Gipfel aber nicht und stirbt in einer Gletscherspalte.6 Die Wand der Sila (1986) von Emil Zopfi (*1943) ist gewissermassen die Antithese zu Hohl: bei Zopfi bringt der Zufall zwei ebenfalls ungleiche, mit persönlichen Problemen beladene Bergsteiger zusammen; der junge Sportkletterer Daniel und der ältere Johann überleben –––––––— 1 2 3 4 5 6

Jacob Christoph Heer: Der König der Bernina. Stuttgart: Cotta 1900. Ernst Zahn: Albin Indergand. Roman. Zürich: Ex Libris 1981. Heinrich Federer: Pilatus. Roman. Zürich: Ex Libris 1981. Meinrad Inglin: Die Gratwanderung. In: M.I: Der schwarze Tanner und andere Erzählungen. Zürich: Amann 1985. Otto F. Walter: Der Stumme. München: Kösel 1959. Ludwig Hohl: Bergfahrt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975.

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Wetterumsturz und Absturz körperlich versehrt, jedoch innerlich geläutert.7 Der Roman Am Hang (2004) von Markus Werner (*1944) lässt im Hotel Bellavista auf der Collina d’Oro ob Lugano zwei Unbekannte zusammentreffen, und im Laufe ihrer langen Gespräche zeigt sich, dass die Liebe zur gleichen Frau die beiden Männer zugleich verbindet und trennt.8 Im Roman Mall oder Das Verschwinden der Berge (1993) von Urs Richle (*1965) sind der 22-jährige Krankenwärter Ulrich Hörmann und der von ihm gepflegte 87-jährige Bergwerksingenieur Carl Mall die Kontrahenten; der Berg ist der 1829 Meter hohe Gonzen bei Sargans, im Rheintal zwischen Chur und dem Bodensee, wo während mehr als sechs Jahrhunderten bis 1966 Eisenerz abgebaut wurde. Im Motto zu Mall bezieht sich Richle auf die literarische Tradition, in der er steht. Er zitiert zwei Sätze aus der Bergfahrt von Ludwig Hohl: »›Warum steigt ihr auf die Berge?‹ – Um dem Gefängnis zu entrinnen«.9 Aber bereits im Untertitel Das Verschwinden der Berge deutet der Autor auch den Bruch mit dieser Tradition an. Der Berg, auf dem – oder vielmehr in dem sich Hörmann und Mall treffen – ist nicht der reale Gonzen mit seinen Schächten und Stollen, sondern der imaginierte Berg, der Berg im Kopf, das Hirn Malls mit seinen Windungen, die dort eingeschlossene und gefangene Geschichte Malls. Und damit nimmt Richle Motive auf, die Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) in seinen Stoffen (Der Winterkrieg in Tibet, 1981, und Das Hirn, 1990)10 und Hermann Burger (1942–1989) in Die künstliche Mutter (1982) gestaltet haben.11 Wie Richle vorgeht, sei in der Folge gezeigt. Mall besteht aus drei Kapiteln: »Wiesenegg«, »Das Lachen des Pöstlers« und »Käferberg«. »Ich bin Ulrich«, heisst es im ersten Kapitel von Mall. Ich bin Ulrich. Ulrich Hörmann. Krankenpfleger. Bis vor kurzem im Krankenheim Käferberg tätig.12

Hörmann ist nach Malls Tod wegen Suizidgefahr in der psychiatrischen Klinik Wiesenegg interniert worden, weil er angeblich auf der Suche nach Malls Spuren auf dem Gonzen Selbstmord begehen wollte. Max Frischs Stiller beginnt ähnlich, allerdings mit der Negierung des Erzählers: »Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis […] sage ich es, schwöre ich es […].«13 –––––––— 7 8 9 10

11 12 13

Emil Zopfi: Die Wand der Sila. Zürich: Limmat Verlag 1986. Markus Werner: Am Hang. Frankfurt/M.: Fischer 2004. Urs Richle: Mall oder Das Verschwinden der Berge. Roman. Berlin: Gatza 1993. Richle bezieht sich hier auf Ludwig Hohl: Bergfahrt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 87f. Friedrich Dürrenmatt: Der Winterkrieg in Tibet. In: F.D.: Stoffe I–III. Zürich: Diogenes 1981, S. 11–179; Friedrich Dürrenmatt: Das Hirn. In: F.D.: Turmbau. Stoffe IV–IX. Zürich: Diogenes 1990, S. 235–266. Hermann Burger: Die künstliche Mutter. Frankfurt/M.: Fischer 1986. Richle: Mall (Anm. 9), S. 12. Max Frisch: Stiller. Frankfurt/M.: Fischer 1965, S. 6.

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Ich bin nicht. Ich bin. »Ich wollte mir das Leben nicht nehmen. Ich bin in Sargans gewesen und wollte den Gonzen besteigen«, beteuert der internierte Hörmann in der Zürcher Klinik Wiesenegg.14 Vier Monate hatte er sich nach Malls Tod im Hotel Storchen in Sargans aufgehalten. Alle drei Tage bezahlte er die Hotelrechnung, aber es waren immer die gleichen drei Tage, die er scheinbar untätig im Angesicht des Gonzens verbrachte, ohne diesen je ganz zu erreichen. In Wiesenegg – »Wiesenegg ist flach«, bemerkt Hörmann15 – vergegenwärtigt sich Hörmann das, was geschehen ist: wie er Carl Mall im Krankenheim Käferberg pflegte, wie er nach Malls Tod ohne Kündigung aus dem Krankenheim verschwand, nach Sargans reiste, sich dort inkognito im Storchen einquartierte und vom Hotelzimmer aus und mit dem Feldstecher den Gonzen zu erkunden begann, wie er langsam verkam und sich nicht mehr wusch, und wie er schliesslich von der Freundin Isabelle Zbinden ausfindig gemacht und von Arzt und Polizei interniert wurde. Zusammen mit Isabelle unternimmt Hörmann von der Klinik aus eine Fahrt nach Sargans, und das ist der Inhalt des zweiten Kapitels mit dem Titel »Das Lachen des Pöstlers«. Denn es war der recht phantasievolle Sarganser Postbote, der das Gerücht verbreitet hatte, Hörmann habe sich vom Gonzen in die Tiefe stürzen wollen. Zusammen mit Isabelle dringt Hörmann zum ersten Mal in den Gonzen ein. Er nimmt an einer Führung durch die Bergwerksstollen teil, die nach dem Ende des Erzabbaus zu einem Museum der Industrie-Archäologie geworden sind. Vorgeführt wird auch ein Dokumentarfilm aus dem Jahre 1944, in dem der »stolze junge Bergwerksingenieur« Carl Mall auftaucht.16 Nach der Touristenführung steigen Hörmann und Isabelle auf den Gipfel des Gonzens. Dort erzählt Hörmann seiner Begleiterin, warum er in Sargans nach Malls Spuren gesucht hatte: »Ich hatte mir vorgenommen, alles über meinen Patienten Carl Mall in Erfahrung zu bringen, […] um zu verstehen, was Carl Mall erlebt haben muss, als er in meinen Armen starb.«17 Dieses Verstehen ist Gegenstand des dritten Kapitels. Es trägt den Titel »Käferberg« und schildert den Anfang der ganzen Geschichte: den Alltag im Krankenheim Käferberg, das langsam entstehende Vertrauensverhältnis zwischen Hörmann und dem von Altersdemenz gezeichneten Mall, der seine Gedanken nur noch beschränkt formulieren kann. Jetzt, nachdem Hörmann in und auf dem Gonzen gewesen ist, versteht er Carl Mall und dessen Persönlichkeit. Der hinfällig gewordene greise Mall war als Mittdreissiger »der stolze junge Bergwerksingenieur« gewesen, ein eleganter Herr »mit Krawatte und Brille«,18 der den Stollenbau im Bergwerk geleitet, den Erzabbau überwacht, den Berg ausgehöhlt hatte. Mall hat die Fähigkeit verloren, zusammenhängend zu denken. Bruchstücke –––––––— 14 15 16 17 18

Richle: Mall (Anm. 9), S. 10. Ebd., S. 27. Ebd., S. 57. Ebd., S. 67. Ebd., S. 57.

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von Erinnerungen kommen aus ihm heraus, Gedankenfetzen, die zeigen, dass sich sein Hirn immer noch mit dem Berg, dem Bergbau, dem Erzabbau beschäftigt. Er […] sieht so aus, als schaute er über die Stadt. Aber ich weiss, dass er nur so tut, dass er in Wirklichkeit ganz woanders ist. In Wirklichkeit schaut er nach innen. Er hat manchmal Augen, die einen nicht anschauen, die zwar offenstehen, die aber nicht dorthin schauen, wohin sie gerichtet sind. Sein Blick scheint nirgends aufzutreffen, kein Objekt zu haben. Es sind im Gegenteil gerade die Augen, die einem den Blick in einen Raum öffnen, in einen Innenraum, der nicht zu entziffern ist. Ein Blick in seine hellen Augen ist ein Blick in sein Gehirn, in sein Bergwerk, das mir durch diese Augen plötzlich offen steht. Ein unüberschaubarer Raum, ein System, wie er es nennt, ein kompliziertes System aus Koordination und List. Ja, List ist in seinen kleinen Pupillen, die List des Ingenieurs, der den Berg aushöhlt, sich durch den Berg hindurchfrisst, so wie er sich mit seinem Verstand durch sein eigenes Hirn hindurchbeisst. Die Bezwingung des Berges ist gleichzeitig die Bezwingung seines eigenen Gehirns.19

Das dritte Kapitel von Mall beansprucht mit 80 Seiten etwa gleich viel Platz wie die beiden vorangehenden zusammengezählt. Es ist textgenetisch zuerst entstanden. Parallel zum Roman hat Richle die Kurzgeschichte Vom Verschwinden der Berge geschrieben, die in der Literaturzeitschrift Pegasus abgedruckt worden ist.20 In diesem Avant-texte zu Mall macht sich der namenlose Erzähler Gedanken über den Dorftrottel von Kalterbach, Hans Mall genannt, der verschwunden ist, sich anscheinend in den Schrunzen eingegraben hat, einen unbedeutenden Nagelfluhbrocken zwischen fünf mächtigen Dreitausendern. Dieser Hans Mall in Richles Kurzgeschichte hat Züge der beiden Protagonisten aus dem Roman: er ist »ein alter, vergrauter, einsamer Kauz« wie der Bergwerksingenieur, er gilt wie der Krankenpfleger als selbstmordgefährdet und ist »verludert« wie dieser am Ende seines viermonatigen Sarganser Aufenthalts.21 Dieser Hans Mall hat sich den Schrunzen ausgesucht, »um sich in ihn hineinzuarbeiten, einzuwühlen, zu baggern, zu schaufeln, hämmernd, schlagend, mit den Fingernägeln kratzend wahrscheinlich, sich selbst im Bauch des Schrunzens umschichtend, um, wie mittlerweile feststeht, sich zum Verschwinden zu bringen«.22 Als der Erzähler dem Dorfpolizisten eine Vermisstmeldung macht, fordert dieser ihn auf, die Suche aufzunehmen. Ihm folgen Suchtrupps, »eine ganze Horde von Fahndern, Technikern, Geologen, Glaziologen, Geochemikern und Geografen, Polizisten und Schaulustigen«.23 Der angebliche Selbstmörder Hans Mall muss gefunden werden, und zu diesem Zweck wird der Berg abgetragen und der Kies daneben aufgeschüttet, so dass »ein neuer Berg« entsteht, »eine zukünftige Ausflugsattraktion«.24 Aber der Erzähler sinniert weiter: […] der Verdacht, dass Mall, während der Suchtrupp den Schrunzen abträgt und den NEUEN aufschichtet, sich unterirdisch in den NEUEN hinüber geschaufelt hat, liegt auf der Hand, so dass die Fahnder, Bauingenieure, Techniker und Nachdenker diesen Verdacht

–––––––— 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 132f. Urs Richle: Vom Verschwinden der Berge. Zitiert nach dem Typoskript des Autors. Ebd., S. 3, 6. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 6f.

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ebenfalls schöpfen werden und […] einen zweiten Suchtrupp am NEUEN beauftragen. Gemeinsam werden sie einen dritten, SUPERNEUEN Schrunzen aufschichten, für den logischerweise zu späterem Zeitpunkt ein weiterer Such- und Bohrtrupp beauftragt werden muss, was zu einem vierten, dann zu einem fünften und schliesslich zu vielen immer kleineren Schrünzelchen führen wird, während die alten, nachdem sie systematisch durchlöchert und nach Mall abgesucht worden sind, wieder abgetragen werden, bis über der Sumpfebene bloss noch unzählige kleine Schotterhäufchen verteilt bleiben, bis aus der Sumpf- und Moorwiese ein Kiesplatz geworden ist, ein Parkplatz für Sonntagswanderer. Auch sie werden Mall nicht finden.25

Dieses Infinitesimaldenken, dieses unerbittliche Weiterdenken eines Gedankens, der ins Absurde führt, erinnert an Friedrich Dürrenmatt. Wenn in Richles Roman der Krankenpfleger Hörmann sagt, er möchte mit Mall »in seinen Berg steigen, in sein Labyrinth, in […] sein sich selbst erforschendes und schliesslich zersetzendes Hirn«,26 dann werden gleich zwei Schlüsselbegriffe aus Dürrenmatts Alterswerk der Stoffe genannt: das »Labyrinth« und das »Hirn«. »Indem ich die Welt […] als Labyrinth darstelle, versuche ich, Distanz zu ihr zu gewinnen«, schreibt Dürrenmatt in Stoffe I–III, die in späteren Ausgaben den Titel Labyrinth tragen.27 Für Dürrenmatt ist »jeder Versuch, diese Welt denkend zu bewältigen […] ein Kampf […], den man mit sich selber führt: Ich bin mein Feind, du bist der deinige.«28 Im Kapitel »Der Winterkrieg in Tibet« werden Kämpfe geschildert, die in einem »endlosen« labyrinthischen Höhlenund Stollensystem »ungeheurer Gebirgsmassive« stattfinden.29 Der Erzähler, ein überlebender »Söldner«, ein arm- und beinloser Krüppel im Rollstuhl, ritzt mit der rechten Armprothese seine »Gedanken in die Felswände«.30 Diese Gedanken kreisen um die Entstehung des Lebens und die Folgen des zurückliegenden, verheerenden atomaren Dritten Weltkriegs. Diese Inschrift wird das einzige sein, was man dereinst von der Menschheit wissen wird. Dabei erscheint es aber dem Erzähler von vornherein als unwahrscheinlich, dass diese Inschrift je gefunden und von künftigen »fremden Wesen« gelesen wird.31 Er ritzt seine Erkenntnisse in den Fels, nicht damit sie gelesen werden, sondern damit ich meine Gedanken besser formen kann. Denn indem ich sie in den Fels grabe, grabe ich sie in mein Hirn: Der Weg, der zur Erkenntnis führt, ist schwer zu begehen, schwerer noch als die Wege, die ich zurückgelegt habe, seit ich in einer nepalesischen Kleinstadt nackt eine schmierige Treppe hinuntergestürzt bin. Ohne das Wagnis von Fiktionen ist der Weg zur Erkenntnis nicht begehbar.32

In einer wissenschaftlich verbrämten Nachschrift – mit autobiografischen Zügen Dürrenmatts – werden die eingeritzten Gedanken des Söldners mit Platons Höhlengleichnis und Nietzsches Philosophie in Verbindung gebracht. Im Winterkrieg –––––––— 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 7. Richle: Mall (Anm. 9), S. 168. Dürrenmatt: Winterkrieg (Anm. 10), S. 77. Ebd., S. 94. Ebd., S. 108, 111. Ebd., S. 110. Ebd., S. 120, 126. Ebd., S. 173.

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in Tibet von Dürrenmatt wird also der Berg zum Hirn, in dessen Windungen die Erkenntnis eingraviert und gespeichert wird. In seinem Text Das Hirn führt dann Dürrenmatt aus, wie wir uns – in Anlehnung an die moderne Kosmologie – die Entwicklung des Hirns vorstellen können. So wie die Welt aus dem Nichts entstanden sei, »als Explosion eines dimensionslosen Punkts«, so könnten wir uns »ein reines Hirn« vorstellen, ein »Hirn ohne Idee einer Aussenwelt«.33 Dieses Hirn entwickelt sich nach Dürrenmatt im Laufe der Jahrmilliarden, es beginnt zu fühlen, die Zeit zu erfühlen und zu zählen, Töne zu erfühlen. Und eines Tages »wird das Hirn ›sich‹ entdecken, das ›Ich‹, das denkt«.34 Dürrenmatt führt diesen Gedanken weiter, in einem absatzlosen Text, der die Aporie des Denkens zeigt. »Und ich, der ich Das Hirn geschrieben habe, frage mich, wenn ich ein Gedanke des Hirns bin, der Das Hirn schreibt, ob dann nicht alles Gedanken sind, Das Hirn, die Hand, die es schreibt, der Leib, zu dem diese Hand gehört, der Kopf, Das Hirn ausdenkend, das Ich endlich, mein Ich.«35 Der Text endet abrupt mit einem Besuch im Konzentrationslager Auschwitz. Dieser Ort wurde nicht von einem fingierten Hirn ausgedacht: »Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht möglich sein, weil es keinen Sinn hat. Es ist, als ob der Ort sich selber erdacht hätte. Er ist nur. Sinnlos wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und ohne Grund.«36 Es gibt eine ähnliche Stelle in Richles Roman, wo der Krankenpfleger Hörmann Malls »sich selbst erforschendes und schliesslich zersetzendes Hirn« erwähnt.37 Die schon früher gestellte Frage: »Herr Mall, haben Sie 1942 an Deutschland Eisenerz geliefert?« wird wiederholt und bleibt, bis zum Schluss, unbeantwortet.38 Es bleibt Malls Geheimnis. »Das Geheimnis eines Landes über eine Zeit, die ich nicht erlebt habe«, wie Hörmann sagt.39 Damit sind wir bei einem Thema der Schweizer Geschichte angekommen, über das sich Mythen gebildet haben. Ich öffne hier eine Klammer, um einen Blick auf ein Werk der Westschweizer Literatur zu werfen, das ebenfalls das Sich-Eingraben im Berg zum Motiv hat. In seinem Chant de La Grande-Dixence (1965) erzählt Maurice Chappaz (*1916), was er als junger Hilfsgeometer beim Bau dieser grossen Staumauer im Wallis erlebt hat.40 Das nur knapp 40-seitige Werk ist eine Mischung von Reportage und Hymne, Pamphlet und Gebet. Es ist ein Psychogramm derer, die die Stollen graben und sprengen, die das Wasser aus andern Tälern in den Grande-DixenceStausee leiten sollen. Dabei tauchen Bilder auf, die sich ähnlich bei Richle wieder finden. Ich zitiere hier als Beispiel gekürzt eine Stelle aus dem Gesang von der Grande-Dixence von Maurice Chappaz, und zwar in der Übersetzung von Pierre Imhasly (dem Autor der monumentalen Rhone Saga): –––––––— 33 34 35 36 37 38 39 40

Friedrich Dürrenmatt: Das Hirn (Anm. 10), S. 237. Ebd., S. 239. Ebd., S. 260f. Ebd., S. 266. Richle: Mall (Anm. 9), S. 168. Ebd., S. 169. Ebd. Maurice Chappaz: Chant de la Grande-Dixence. In : M.C. : Chant de la Grande-Dixence. suivi de. Le Valais au gosier de grive. Genève: L’Aire 1995, S. 7–46.

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Könnte es sein, dass die Arbeiter nicht mehr in die Welt zurückwollen? [Sie gaben, T.F.] der Nacht den Vorzug vor dem Tag. Bescheiden vertraute mir einer von ihnen an: »Im Stollen kenn ich alles. Nichts ist wie draussen, und ich kenne alles.« Diese Arbeit, der beschwerliche Lauf der Dinge im Innern des Berges kamen ihnen entgegen. […] Zu zweit waren sie und rührten, Kilometer unter der Erde, seit zwei Wochen Beton an. In meinem Herzen bleiben sie begraben, die beiden. […] Zement, Sand, Sand, Zement, Kübel Wasser. Zum Schluss erbauten sie den Turm von Babel! […] Wir gruben einen Aushub, drei Meter fünfzig breit und vierzig Meter in die Tiefe. Ein umgestülpter Berg Athos.41

Zurück zu Urs Richles Roman. In der Konfrontation mit dem 87-jährigen Bergwerksingenieur Carl Mall wird der 22-jährige Krankenwärter Ulrich Hörmann auch auf die Fragen seiner eigenen Existenz zurückgewiesen. Der Versuch, Mall zu verstehen, ist gleichzeitig der Versuch, meine Situation zu verstehen. […] Während Mall sich in seinem Kopf freischaufelt, schaufle ich mich in die Arbeit im Krankenheim hinein. Mall geht durch seinen Kopf aus dem Krankenheim hinaus, ich durch die Arbeit mit ihm ins Krankenheim hinein.42

Hörmann gilt in Richles Roman, wie Hans Mall in seiner Kurzerzählung, als suizidgefährdet. Bei diesem Motiv hat sich der Autor nach eigener Aussage stark von Hermann Burger beeinflussen lassen. Während Richle an Mall schrieb, las er Burgers Tractatus logico-suicidalis (1988), einen Text mit 1046 »Ziffern« oder Sätzen »Über die Selbsttötung«, wie der Untertitel lautet.43 Burgers Tractatus logico-suicidalis ist in der Struktur mit Hohls Notizen vergleichbar und erörtert aphorismenartig Aspekte von Leben und Tod. Dabei zitiert Burger Autoren wie Jean Améry, Siegmund Freud, Franz Kafka, Heinrich von Kleist, Novalis, Hermann Hesse, Klaus Mann und Adolf Muschg, aber auch medizinische und juristische Fachliteratur. Im 121. Satz nimmt Burger Bezug auf die Anekdote Ernst von Thomas Bernhard, die dann in ähnlicher Konstellation in Richles Mall wiederkehrt. Burger schreibt: Ein Komiker, so Bernhard, welcher jahrzehntelang davon gelebt habe, komisch zu sein, sei plötzlich […] für eine bayerische Ausflüglergruppe, die ihn auf dem Felsvorsprung über der sogenannten Salzburger Pferdeschwemme entdeckt habe, die lange erwartete Sensation gewesen. Der Komiker habe behauptet, er werde sich […] in die Tiefe stürzen, worauf die Ausflüglergruppe in ein lautes Gelächter ausgebrochen sei, wie gewohnt. Der Komiker habe gesagt, dass es ihm ernst sei, und habe sich augenblicklich in die Tiefe gestürzt.44

Bei Richle ist es »Das Lachen des Pöstlers«, das dem Krankenpfleger entgegenschallt, als er kühn behauptet, er werde den Gonzen über die Felswand besteigen. Ich weiss nicht, was in diesem Augenblick in mir vorging. Vielleicht war es tatsächlich bloss das unbegreifliche, herausfordernde Lachen des Pöstlers, das mich aussprechen liess, was ich bis dahin nicht einmal als Gedanken mir selber gegenüber ausgesprochen hatte.

–––––––— 41

42 43 44

Maurice Chappaz: Gesang von der Grande Dixence. In: M.C.: Die hohe Zeit des Frühlings. Testament der oberen Rhone. Gesang von der Grande Dixence. Deutsch von Pierre Imhasly. Zürich: Limmat Verlag 1986, S. 147f., 153. Richle: Mall (Anm. 9), S. 160. Hermann Burger: Tractatus logico-suicidalis. Über die Selbsttötung. Frankfurt/M.: Fischer 1988. Ebd., S. 41f.

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[…] ich wette mit Ihnen, sagte ich gereizt, dass ich diese Wand hochklettern werde, […] bis zur Spitze des Gonzens und schliesslich hinunterspringe.45

Diese »Wette« mit dem Pöstler, dieser angekündigte, aber nie ernsthaft in Betracht gezogene und nie versuchte Selbstmord des Krankenpflegers steht im Gegensatz zum tatsächlichen, scheinbar natürlichen Tod Malls. Aber, auch zu diesem ersten Satz Burgers im Tractatus logico-suicidalis bekennt sich Richle: »Es gibt keinen natürlichen Tod.«46 Mall löscht sich ebenfalls letztlich selber aus, bringt sich zum Verschwinden. Aber es ist ein langsames Sterben, eine Qual und eine Pein, die der hinfällige Körper erleiden und erdulden muss. Mall drückt das in einem klaren Moment aus: »Das Hirn lebt, sagt er einmal, solange es mit sich selbst ringt. Das Ergebnis dieser Anstrengung ist die Auflösung, die eigene Vernichtung. Und solange ich da nicht hingekommen bin, sagt er, bleibe ich hier, solange habt Ihr mich zu waschen, zu rasieren, anzuziehen, wie es sich gehört.«47 In der Einleitung zum Tractatus logico-suicidalis evoziert Hermann Burger seinen sechs Jahre früher erschienen Roman Die künstliche Mutter. Er lässt sich als Tractatus-Verfasser auftreten, der sich selber zum Verschwinden bringt. Damit mobilisiert er einen ganzen Krisenstab, der den angeblichen Selbstmörder eine Nacht lang sucht. Während der Verfasser des Tractatus die Nacht nicht weit weg verbringt, nämlich »in der Kammer der Serviertochter Ursula«,48 verschwindet Privatdozent Wolfram Schöllkopf als Protagonist der Künstlichen Mutter tief im Innern des Berges. Es ist ein Stollensystem, das an Dürrenmatts »Winterkrieg« denken lässt. Auch bei Burger gibt es Anspielungen auf das Réduit, die Verteidigungskonzeption der Schweiz von General Guisan im Zweiten Weltkrieg. Aber es ist kein militärisches, sondern ein medizinisches Stollensystem, eine »Stollenklinik«, in der Schöllkopf Heilung von seinen »Malästen« sucht.49 Schöllkopf ist »Privatdozent für neuere deutsche Literatur und Glaziologie« und hat seine Antrittsvorlesung gehalten über »Die Bedeutung der Gletscher in der Schweizer Gegenwartsliteratur«;50 seine umständehalber verhinderte Vorlesung an der Eidgenössischen Technischen Universität ETU ist angekündigt als Einführung in die moderne Gebirgs-Dramatik mit besonderer Berücksichtigung der panalpinen Solidarität Österreichs und der Eidgenossenschaft, von Friedrich Dürrenmatts Komödie Der Alpenkönig, die in einem eisblumenverzierten Bernina-Hospiz angesiedelt ist, bis zum epochalen Einakter Die Bergsteiger von Eduard Maria Steiner, worin sich drei Gipfelstürmer auf der nadelspitzen Fiamma der Cima di Castello begegnen und über das Phänomen unterhalten, dass der eine rote, der zweite blaue und der dritte gelbe Socken trägt, hingegen alle haargenau dasselbe Zopfmuster aufweisen.51

Wenn am Schluss der Einleitung zum Tractatus logico-suicidalis der Autor lebendig wieder auftaucht, ist der Ort im Zusammenhang mit unserem Thema nicht ganz –––––––— 45 46 47 48 49 50 51

Richle: Mall (Anm. 9), S. 91. Burger: Tractatus logicus-suicidalis (Anm. 43), S.19. Richle: Mall (Anm. 9), S. 173. Burger: Tractatus logicus-suicidalis (Anm. 43), S.17. Burger: Die künstliche Mutter (Anm. 11), S. 41. Ebd., S. 9. Ebd., S. 39.

Der Berg – das Hirn

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unbedeutend. Es ist nämlich die Gedenkstube des Bahnhofbuffets Göschenen, die dem langjährigen dortigen Wirt gewidmet ist. Und das ist niemand anderer als der Schriftsteller Ernst Zahn, der u.a. den eingangs zitierten Roman Albin Indergand geschrieben hat. Die Lektüre einer einzigen Stelle aus diesem Roman zeigt den gewaltigen Wandel, den das Bergbild in der Schweizer Gegenwartsliteratur beim Gang durch die Stollen der Bücher Dürrenmatts, Burgers und Richles durchgemacht hat: Die Sonnenstrahlen zuckten durch das leuchtende Zweigwerk und zerbrachen an den Nadeln und Ästen in gleissende Lichtscherben. Wo immer aber der Wald zu einem Tore sich auftat und dem Blicke Tal und Berge zu überschauen gönnte, war Ausblick auf eine wundersame und reiche Gotteswelt, die an Schönheit wuchs, je höher der Wanderer stieg. […] Plötzlich aber, fast schreckhaft plötzlich, hörte der Wald auf, wo das Steinwandgut begann. Da lag alle Goldpracht, die um Alpen und Firne gegossen war, gleichermassen auf die einsame Bergmatte gesenkt. […] Dem Berg zunächst, gleichsam in seiner Hut sich bergend, stand die Hütte des Albin. Wenn der Pfarrherr auf die Matte trat, suchten seine Blicke den jungen Bauern. […] Der Albin war auch an Gestalt zum Manne geworden. Er war herangewachsen, wie es der Pfarrherr erwartet hatte.52

Wir brauchen nicht bis zum Heimatschriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts zurückzugehen. Wir finden dieses Bergpathos selbst in den siebziger Jahren noch beim hoch geschätzten, viel gelobten und viel geliebten Ludwig Hohl: Man sah nur senkrecht über sich Stücke Himmels, fahl und gering, mit einem dünn gewordenen Stern; und die finstern Massen des Gebirgs, entschwindend in das brauende ungeheure Gewölk, stiegen zu ebensolcher Höhe an; und kein Grat war frei da droben, vor einem hellen Stück Himmel, mit ein paar Zacken, die riefen. Des Gebirgs riesige Felsenleiber lagerten da, die sich mit der Unendlichkeit zusammengetan hatten, die ganze Welt ein qualmender Kessel, Grauen erweckend und aussermenschlich […].53

Mit einem Blick über die Grenzen der deutschsprachigen Schweizer Gegenwartsliteratur hinaus soll dieser Beitrag beschlossen werden. Im Jahr 2006 sind zwei Romane von Nichtschweizern erschienen, die das Motiv der Existenzkrise, die zwei Männer in den Bergen erfahren, ebenfalls verwenden. Im Roman Der fliegende Berg des Österreichers Christoph Ransmayr sucht ein irisches Brüderpaar einen noch unentdeckten Gipfel im Himalaja, Phur-Ri genannt, der fliegende Berg. Liam, der Bruder des Erzählers, glaubt ihn im Internet gefunden zu haben. Er ist der Macher, der Homo faber, der sein Haus auf der einsamen irischen Insel verkabelt und vernetzt hat und für die Expedition technisch hoch gerüstet ist. Der Erzähler ist der Nachdenkliche, der vieles mit sich geschehen lässt und der sich in Nyema verliebt, eine Frau aus dem tibetischen Stamm, der die beiden auf dem Weg zum fliegenden Berg begleitet. Je näher die beiden Brüder ihrem Ziel kommen, desto klarer wird, dass der verheissene Berg letztlich nur in ihnen selber zu finden ist. Sie kommen diesem »höchsten Vermessungspunkt unseres Lebens« zum Greifen nahe,54 aber es bleibt ungewiss, ob sie ihn wirklich erreicht haben. Der Erzähler kommt lebend –––––––— 52 53 54

Zahn: Albin Indergand (Anm. 2), S. 227. Hohl: Bergfahrt (Anm. 6), S. 31. Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 2006, S. 340.

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aus dem Himalaja zurück, oder vielmehr: neugeboren, nämlich »ins Leben zurückerzählt« von Liam, der dann in einer Lawine umkommt.55 Das andere Buch mit diesem Motiv ist der Roman Cleaver des englischen Autors Tim Parks, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Stille erschienen.56 Hier ist es der Fernseh-Starjournalist Harold Cleaver, der vor dem autobiographischen Erstlingsroman seines ältesten Sohnes Alex aus London in die Südtiroler Berge flieht. Konfrontiert mit dem Mief eines hinterwäldlerischen Bergbauernmilieus hadert Cleaver mit dem abwesenden Sohn, der in seinem Buch kein schmeichelhaftes Bild des egozentrischen Vaters gezeichnet hat. Was mit diesen beiden Hinweisen unterstrichen werden soll: es gibt in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz Berg-Motive, die Bestandteil der Weltliteratur sind und nicht zwangsläufig einen ›Mythos Schweiz‹ begründen.

–––––––— 55 56

Ebd., S. 20. Tim Parks: Cleaver. A Novel. London: Harvill Secker 2006. Deutsch von Ulrich Becker. Tim Parks: Stille. München: A. Kunstmann 2006.

Andrew Liston

Bergzauber Franz Bönis mythische Bergwelten

Die Beiträge in diesem Band behandeln das Rahmenthema »Mythos Schweiz«. Zu dem Mythos der Schweiz und den Schweizer Mythen gehört ein gutes Stück Bergiges. Dieser Aufsatz versucht das Werk Franz Bönis innerhalb der literarischen Bergfaszination der Schweiz zu positionieren. Die Prosa Franz Bönis ist bekannt für ihren rauen Stil, und die Bergszenen, die er beschreibt, sind es ebenfalls. Man findet keine Idyllen wie bei Salomon Geßner, und Bönis Romane, die die Schweizer Bergwelt behandeln, werden oft auch als Auseinandersetzung mit der Schweizer Tradition der Idealisierung des Alpenlebens gelesen.1 Diese Leseart basiert zum grossen Teil auf Bönis »scheinbar realistisch[er]« Erzähltechnik.2 In dieser Analyse möchte ich untersuchen, inwiefern dieser Realismus den Mythos der Schweizer Bergidylle unterläuft. Ein zweites Ziel ist es, die Verbindung zwischen Bönis idiosynkratischem Realismus und dem Prozess der Mythologisierung zu untersuchen. Trägt Böni die Berge innerhalb der Schweizer Literatur ab, oder macht er vielmehr durch seine Prosa die Hänge steiler, die Schluchten tiefer und die Spitzen imposanter? Berg-Faszination scheint hier ein angemessener Begriff, weil es eine Vereinfachung wäre, die Alpen als den zentralen Mythos der Schweiz zu betrachten. Überhaupt wird die Suche nach einem zentralen Mythos der Schweiz schnell problematisch. Lässt sich, wenn überhaupt, trennungsscharf zwischen Motiv und Mythos unterscheiden? Werden gewisse wiederkehrende Themen oder rote Fäden nur deshalb mythisch, weil sie fast allgegenwärtig sind? Können solche Themen eine ähnliche Wirkung wie Mythen haben? Dies sind zentrale Fragen für die Untersuchung von Bönis Werk. Der Rahmen dieses Aufsatzes erlaubt keine ausführliche Auseinandersetzung mit der Rolle der Alpen als Teil der Mythen der Schweiz, aber eine kurze Skizze ist hier dennoch nötig, um Bönis Ausgangspunkt zu verstehen. Die Alpen bilden zumindest einen Brennpunkt der Mythologie der Schweiz. Damit meine ich, dass die Berge für die Identitätsbildung der Schweiz eine wichtige –––––––— 1

2

Vgl. Robert Acker: The New Alps. The World of Franz Böni. In: Translation Review 44. Dallas: University of Texas 1992, S. 45; Samuel Moser: Franz Böni. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition text + kritik 1990, S. 5. Ernst Nef: [Auszug aus seiner Besprechuung zu Franz Böni: Der Knochensammler. 1980 in der Neuen Zürcher Zeitung. Zitiert als Verlagswerbung]. In: F.B.: Die Alpen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 120.

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Rolle spielen, ein Vorgang, der von Mythen (mit)bestimmt wird. Ich möchte damit sagen, dass die Identität ein mythosähnliches Phänomen ist – da man sie nie wirklich präzisieren kann und sie oft im Geschichten-Erzählen formuliert wird. Ich möchte damit aber auch sagen, dass andere Mythen, die sich um einen zentralen Mythos bilden, diesen eben auch beeinflussen können. Für diese Diskussion ist es auch wichtig zu verstehen, dass die Rolle, die die Berge in der Schweizer Kultur und Literatur im Allgemeinen (nicht nur in der Identitätsbildung) spielen, selbst fast mythisch wird, einfach durch ihre Allgegenwärtigkeit. Zum Teil werden Geschichten auch zu Mythen, indem sie mitgeteilt und verbreitet werden: Wenn Mehrere ähnliche Geschichten erzählen, die eine gemeinsame Grundlage haben, unterstützen diese Geschichten möglicherweise einen Mythos. Die Frage ist natürlich: Wo hört ein solches zentrales Element auf ein Motiv zu sein und wo fängt es an ein Mythos zu werden? Die Berge in der Schweizer Literatur sind immerhin ein zentrales Motiv: Es gibt in der Helvetistik Erdrutsche, Lawinen, Bergbauer, Soldaten auf Bergen, imaginäre Berge, magische Berge, neue Berge, Berge als Gefängnisse, und sogar einen deus ex machina dank einer Sesselbahn.3 An sich sind diese Beispiele für sich noch kein Beweis der Existenz eines Mythos. Sie zeigen aber ganz deutlich, wie stark die Schweizer Literatur von den Bergen geprägt wird. Die Ursprünge dieser Faszination finden sich bei Albrecht von Hallers Lob der Alpenwelt in Die Alpen und Salomon Geßners Idyllen.4 In seinem Vorwort zu Hugo Loetschers Lesen statt klettern behauptet Jeroen Dewulf, dass es eine Bergfaszination gibt, »die den Einstieg in die Schweizer Literatur mit den Gedichten Albrecht von Hallers zu Unrecht monopolisiert hat.«5 Es kann sein, dass Dewulf recht hat, aber wie er selbst bemerkt, ist diese Betrachtungsweise der übliche Einstieg. Albrecht von Hallers Die Alpen wird von vielen als ein wirkungsmächtiger Text verstanden, und seine Vorliebe für das Leben in den Bergen hallt durch die Schweizer Literatur. Das Zitat von Dewulf ist bezeichnend, weil es hervorhebt, dass es diese Tradition gibt und sie gleichzeitig kritisiert. Böni hat ähnliche Probleme mit dieser Tradition; es kann ihm nicht vorgeworfen werden, dass seine Alpen-Szenen den »prähollywoodschen Happyendismus« Salomon Geßners reproduzieren.6 Trotzdem, oder gerade deswegen, fühlt er sich dazu gezwungen, die Bergwelt zu untersuchen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. –––––––— 3

4 5 6

Siehe z.B. Franz Hohler: Die Steinflut. München: Luchterhand 1998; Ferdinand Ramuz: Derborence. Zürich: Limmat 2003; Beat Sterchi: Blösch. Zürich: Diogenes 1985; Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt/M: Suhrkamp 1964; Urs Richle: Mall oder das Verschwinden der Berge. Berlin: Gatza 1993; Franz Hohler, Der neue Berg. Hamburg und Zürich: Luchterhand 1991; Ludwig Hohl, Bergfahrt. Frankfurt/M: Suhrkamp 1975; Franz Hohler, Zum Glück. Winterthur: Casino Theater 2002. Albrecht von Haller: Gedichte. Leipzig: H. Haessel 1923; Salomon Gessner: Idyllen. München: Beck 1921. Jeroen Dewulf: Vorwort. In: Hugo Loetscher: Lesen statt klettern. Zürich: Diogenes 2003, S. 7–10, hier S. 7. Hugo Loetscher: Salomon Geßner und die leichte Flöte. In: H.L.: Lesen statt klettern. (Anm. 5), S. 52–72, hier S. 61.

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Die klarste Verbindung zwischen der von mir beschriebenen mythischen Rolle der Berge und Bönis Arbeit findet man in seinem 1983 veröffentlichten Roman Die Alpen. Obwohl er von Hallers Titel übernimmt, vermeidet Böni zum großen Teil die Alpenwelt und konzentriert sich auf das Stadtleben in der zeitgenössischen Schweiz. Zürich wird als eine triste Sackgasse dargestellt, zumindest für diejenigen, die arm und hoffnungslos sind. Wie der Erzähler uns am Anfang des Romans mitteilt: »ein Mensch ohne Geld ist nichts, er ist Luft.«7 Als einfacher Arbeiter muss man stehlen, um am Leben zu bleiben. Statt sonniger Felder mit Blumen und fröhlichen Bauern im Einklang mit der Natur, wie wir sie bei Geßner und von Haller finden, finden wir bei Böni Figuren, die sich in ihrer Umgebung unwohl fühlen. Der Roman ist der Bericht eines Nowak, dessen Erfahrung von Zürich am meisten dadurch geprägt wird, dass er ständig stehlen muss, und in der Tat beschäftigt sich der Text hauptsächlich mit der Beschreibung von solchen Szenen und den verschiedenen Strategien, die Nowak verwendet, um zu stehlen. Die Schweizer sind in diesem Roman kein Bergvolk mehr. Der Erzähler zeigt, dass die Berge für den Arbeiter einfach viel zu teuer sind: Ein Ausflug in die Alpen würde einschließlich Zugfahrt und Übernachtung rund 50 Schweizerfranken kosten, was genau dem Tageslohn eines durchschnittlichen Arbeiters entspricht.8 In einer Schlüsselpassage des Romans erkennt man leicht diese Verwandlung vom Bergvolk zum von der Alpenwelt entfremdeten Arbeitervolk. Der Erzähler beschreibt die Geschichte seiner Familie: »Vom sonnigen Hochplateau Amdens, das über dem Walensee liegt, vollzog unsere Sippe den Abstieg bis zur Eisenfabrik im Flachland.«9 Dieser Abstieg von der Alp ins Flachland ist nicht geografisch, sondern auch metaphorisch gemeint. Böni scheint seine Aufgabe darin zu sehen, eine neue Schweiz darzustellen: In seinen Alpen gibt es keine fröhlichen Bauern oder Melkerinnen mit roten Wangen, keine Heidis und keine Peters. Der Widerspruch zwischen dem Titel und dem Inhalt macht dies ziemlich früh deutlich. Dass er so einen mit Bedeutung beladenen Titel wählt – einen Titel der mythischen Schweiz – und danach ein völlig anderes Bild der Schweiz zeichnet, deutet darauf hin, dass es sein Ziel ist, genau diese mythische Schweiz infrage zu stellen. Dies ist 1983 zwar nichts Neues, aber die Art, in der er es tut, verdient, dass man sein Werk genauer unter die Lupe nimmt. Sein berühmter Realismus dient diesem Darstellungsziel. Ziemlich früh bekommen wir einen Eindruck von diesem Stil. Zum Beispiel ist das Wetter in Zürich düster. Der Roman ist schlicht chronologisch aufgebaut: Es gibt elf Kapitel einheitlicher Länge, von 1970 bis 1980 je ein Kapitel pro Jahr. Diese Schlichtheit der Struktur lässt das Gefühl eines Berichts entstehen. Der Text besteht aus präziser Beschreibung und kühler und gefühlloser Beobachtung. Außerdem gibt es sehr wenig Dialog. Der Gebrauch einer »schmucklose[n], schwerfällige[n] und unbeholfene[n] Sprache« hilft dem Autor zu einem inten–––––––— 7 8 9

Böni: Die Alpen (Anm. 2), S. 8. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 107.

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siveren Wirklichkeitssinn.10 Er benutzt kaum Metaphern und nur die allernötigsten Adjektive. Aber statt, so wie im bekannten metaphernfreien Stil von Henri Beyle (Stendhal), dem Leser einen imaginären Freiraum zu eröffnen, scheint dieser Mangel an Farbe Bönis Prosa nur noch karger zu machen. Dieser Eindruck entsteht zum Teil auch, weil Böni verfremdende Erzähltechniken verwendet. Zum Beispiel lesen wir in dem ersten Kapitel von Die Alpen die Erinnerungen eines Ich-Erzählers; dieses ›Ich‹ wird in späteren Kapiteln zum ›Er‹. Als ob diese Verwirrung nicht genüge, bleiben die Verbindungen zwischen den Kapiteln eigentlich unerklärt, wenn man sie auch vermuten kann. Die Tatsache, dass in einer so präzise beschriebenen Geschichte solche Unklarheiten präsent sind, verunsichert den Leser. Die gravierendste Undurchschaubarkeit wird durch die Auslassung der Gründe der Umzüge des Protagonisten erreicht. Wieso ist er plötzlich in einem Vorort und wie kann er plötzlich nach Jahren auf der Straße eine Eheähnliche Beziehung in einer bequemen Wohnung genießen? Warum lebt er am Ende des Romans wieder auf der Strachey? Diese bedeutenden Lücken heben sich aus der sehr begrenzten Handlung heraus. Ein Wanderer im Alpenregen, eine Kurzgeschichte aus der Sammlung des gleichen Namens, ist ein weiteres gutes Beispiel der Bönischen Auseinandersetzung mit dem Bergmythos.11 Seine Geschichte beginnt mit einem Mann aus einem Tal, der eine Bergwanderung plant. Dass er dieses Unternehmen für seine Freizeit plant, deutet darauf hin, dass er auf eine gute Erfahrung hofft. Trotzdem misslingt es ihm: Der Aufstieg ist sehr hart, härter als er erwartet hatte, und die anderen Gäste in der Berghütte, in der er übernachtet, sind infantil und wollen zur gleichen Zeit Geständnisse ablegen. Er schläft schlecht und frühstückt am nächsten Morgen neben einem Haufen Erbrochenen. Auf dem Rückweg muss er sich vor einem Sturm in eine Sennhütte retten, wo er versucht, sich mit dem Bauer, dessen Dialekt er nicht verstehen kann, gut zu stellen, indem er ihm ein Eukalyptusbonbon anbietet. Sein außergewöhnlicher Verbrüderungsversuch hat nicht die Folgen, die er erwartet. Der Senn hat nie zuvor ein Eukalyptusbonbon gegessen, und dessen Wirkung auf seinen Mund ist für ihn furchterregend. Der Ausflug als Ganzer ist eine Desillusion: Die Alpenwelt, die eine regenerative Funktion haben soll, ist in Wirklichkeit fremd, unverständlich und erschöpfend. Seine Erfahrung ist die einer Entfremdung und zwar auf verschiedenen Ebenen: sozial, linguistisch, und physisch. Wie Nowak in Die Alpen zählt der Protagonist nicht zum mythischen Bergvolk der Schweiz und er lernt ein anderes Bergvolk kennen als das von Geßner und von Haller. Die Kurzgeschichte Jahrmarkt aus derselben Sammlung ist eine typische Böni-Erzählung, die ebenfalls die Thematik problematischer Kommunikation aufgreift.12 Aber anstatt eine klare Nachricht mitzuteilen, widerlegt Böni unsere Erwartungen von einer Geschichte, und Jahrmarkt bleibt rätselhaft und er–––––––— 10 11 12

Samuel Moser: Natur und Fabrik. Zum Werk Franz Bönis. In: Franz Böni: Alvier. Erzählungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 139–151, hier S. 142. Franz Böni: Ein Wanderer im Alpenregen. In: F.B.: Ein Wanderer im Alpenregen. Zürich: Suhrkamp 1979, S.16–26. Franz Böni: Jahrmarkt. In: Ebd. (Anm. 11), S. 44–57.

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gebnislos. Der Protagonist »A.« verlässt ein Dorf, wo er gerade den Jahrmarkt besucht hat, und auf der Straße trifft er per Zufall einen Verkäufer, der auf dem Weg nach Hause ist. Die ganze Szene wird vom Mond beleuchtet, und allein dies verleiht der Geschichte etwas Unheimliches. Der Verkäufer fängt sofort mit einer Beschreibung seiner Tätigkeit an und erklärt A. den Grund seines Erfolgs: Er hat alles von seinen Eltern geerbt und kann deswegen aus dem marginalen Geschäft des Verkaufs von Pferdeausrüstungen sein Brot verdienen. Im Laufe der Erzählung wird A. immer weniger ein Gesprächspartner und immer mehr das Objekt eines Monologs des Verkäufers. Dieser berichtet von einer harten Kindheit weit entfernt von der zivilisierten Welt in einem abgelegenen Tal in den Alpen. Als Kind musste der Verkäufer früh aufstehen und lange Stunden auf dem Kartoffelacker arbeiten. Seine Mutter hat ihn ständig angeschrien und beschimpft. Seine liebsten Erinnerungen aus dieser Zeit sind die Momente der Ruhe, die er in einer dreckigen Ecke der Stube unter einer Bank verbracht hat. Sogar dieses Vergnügen sei nicht rein gewesen, weil der Hund diese Ecke als seine eigene betrachtet habe. Auch diese Szene ist alles andere als idyllisch, und die Verbindung zwischen Bergort und Malaise wird vom Verkäufer explizit gezogen: »Doch eine solch abgeschiedene Welt bringe zwangsläufig eine düstere Kindheit mit sich.«13 Diese Beziehung zwischen Landschaft und Unzufriedenheit, in der auch eine Revision der Bergidylle angelegt ist, findet man auch im Roman Schlatt. Der Roman beginnt mit einer kurzen Synopse des Lebens im Hochtal: »Die Bewohner des Hochtals haben den Charakter der Landschaft. Da das Hochtal verschlossen und kalt ist, sind es auch die dort Lebenden.«14 Der Rest des Romans ist der Bericht des Lebens von Franz Zuber. Es ist kein erfreuliches Bild. Die verschiedenen Stadien seines Lebens stellen einen Katalog von verschiedenen Formen von Gefängnissen dar. Bis jetzt passt Böni in das Demythologisierungsschema. Seine Berge sind nicht diejenigen der Tourismusindustrie, sie sind trist und karg. Seine Prosa scheint wie eine Überwachungskamera auf die Schweizer Wirklichkeit zu funktionieren. Er erzählt so scheinbar objektiv und farblos, dass manche sich bei der Lektüre langweilen. Klara Obermüller zum Beispiel geht soweit, Böni wegen seines langweiligen Stils mit Peter Handke zu vergleichen: »Wie Handke sieht Böni sich als großer Schauer und Beobachter. Das ist auch gar nicht schlecht getroffen, denn erzählen kann Böni ebenso wenig wie Handke.« Weil er darauf beharrt, keine gewöhnliche Erzählweise zu benutzen, und weil auch das Banale zu seinem Stoff gehört, meint Obermüller, dass er einen »Kult der Langeweile« pflege.15 Bönis Werk behandelt aber eigentlich nicht wirklich die reale Welt. Was er so gut beobachtet, lässt er nicht einfach so, wie er es gefunden hat. Obwohl viele Böni als Realist sehen, scheint diese Klassifizierung reduktiv, wie Samuel Moser –––––––— 13 14 15

Ebd., S. 48. Franz Böni: Schlatt. Frankfurt/M., Zürich: Suhrkamp, 1979, S. 5. Klara Obermüller: Des Kaisers neue Kleider oder Kult der Langeweile. In: Die Weltwoche, 20.10.1983, S. 15–23.

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behauptet.16 Wenn wir noch mal den Roman Schlatt anschauen, sehen wir, dass Böni unsere Überwachungskamera ein bisschen verstellt hat; das Gefühl von Objektivität ist täuschend. Wenn der Protagonist nach harten Arbeitsjahren bei der SBB in die Alpenwelt zurückkehrt, landet er in Schlatt, einem Dorf, das eine Karikatur des Alpenlebens darstellt: Schlatt ist voll von Idioten, Zwergen und Volksmusikern, die nicht aufhören wollen zu spielen, und fast alle Bewohner haben einen Kropf. Dieses Bild ist eine Verzerrung, kein neutraler Bericht. Die übliche Verwirrung, die Bönis Leser erfahren, ist vielleicht das nächste Zeichen, das uns aufmerken lassen sollte. Wenn Böni dem Realismus zugerechnet werden soll, einem Stil, der durch seine Zugänglichkeit und Verständlichkeit charakterisiert ist, scheint es merkwürdig, dass Kritiker wie Klara Obermüller auf der Suche nach dem Sinn seiner Geschichten mit Frustration reagieren.17 Bönis Erzählungen sind nicht nur frustrierend, weil man oft den Sinn nicht finden kann, sondern weil sie auch unsere Erwartungen oft widerlegen. Die Erzählung Der Johanniterlauf ist hierfür ein Beispiel.18 Sie scheint wie eine Parabel aufgebaut: Eine Figur begeht einen Betrug in einem Laufwettkampf und erlangt dadurch Ruhm und Wohlstand. Dann endet die Geschichte plötzlich. Da die Erzählung mit einer Schummelei anfängt und sich die Folgen des erfolgreichen Laufs langwierig im Rest der Geschichte aufbauen, erwartet der Leser die Erlösung, die Enttarnung des Bösen. Diese wird uns aber nicht gegönnt, und Böni vermeidet das poetisch gerechte Ende. Bis jetzt hatten wir gedacht, Böni wäre ein Mythos-Töter. Hier können wir nun aber einen Aspekt der Re-Mythologisierung erkennen. Mythos wird zum Teil dadurch definiert, dass er gegen hermeneutische Interpretation und konventionelle Logik wirkt.19 Mit Jean Pierre Vernants Worten: »Ein Gespräch zwischen Mythos und Logik ist unmöglich«.20 David Hume unterstreicht, dass man gar nicht mit einer logischen Interpretation anfangen sollte, wenn das Objekt der Interpretation nicht mit Logik konstruiert worden ist.21 Natürlich hilft Hume uns als Interpreten nicht allzu viel. Seine Meinung deutet aber auf das zuvor erwähnte Merkmal des Mythos hin, nämlich, dass ein Mythos nie endgültig zu entziffern ist. Warum sonst lesen und interpretieren wir die alten Geschichten immer wieder neu? Ernst Cassirer ist der Meinung, dass Versuche, ein mythisches Werk zu analysieren, dessen Kraft zerstören: »Seinen Gehalt verstehen – dies schien nichts anderes bedeuten zu können als seine objektive Nichtigkeit zu erweisen, als die zwar allgemeine, aber nichtsdestoweniger völlig ›subjektive‹ Illusion zu durchschauen, der er sein Dasein verdankt.«22 Bönis Werk beinhaltet –––––––— 16

17 18 19 20 21 22

Samuel Moser: [Auszug aus seiner Besprechuung zu F.B.: Ein Wanderer im Alpenregen.. 1979 in den Schweizer Monatsheften. Zitiert als Verlagswerbung]. In: Franz Böni: Die Alpen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 119. Vgl. Obermüller: Des Kaisers neue Kleider (Anm. 15). Franz Böni: Der Johanniterlauf. Frankfurt/M: Suhrkamp 1984. Karen Armstrong: A Short History of Myth. Edinburgh: Canongate 2005, S. 2. Jean-Pierre Vernant: Mythe et Société en Grèce ancienne. Paris: Librarie Gallimard 1974, S. 203. Übersetzung des Verf.. Vgl. Bertrand Russell: History of Western Philosophy. London: Routledge 1996, S. 605f. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische

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genau dieses Subjektive, auf das Cassirers Bemerkung abzielt. Den Geist von Humes Ideen erkennen wir auch in Bönis Geschichten, die die Hermeneutik sozusagen lahmlegen. Vielleicht ist es also kein Wunder, dass viele Leser sich von Bönis Werk entfremdet haben, dass Böni aus der Welt und Frankfurt am Main verschwunden ist, wie Michael Angele sagt.23 Man erwartet Klarheit, wie wir sie vom Realismus gewohnt sind, wird aber nur verwirrt. Die Frage der Interpretationsschwierigkeiten des Mythos ist für die Kurzgeschichte Jahrmarkt relevant. Der Aufbau der Geschichte ist eigenartig. Der scheinbare Protagonist verliert kurz nach dem Anfang der Geschichte die Kontrolle über das Geschichtenerzählen, und der Verkäufer überwältigt ihn mit einem Monolog. Der Konjunktiv der indirekten Rede macht dem Leser wiederholt deutlich, dass die Hauptfigur plötzlich verschwunden ist, da jedes Verb im Konjunktiv ist, nicht nur kürzere Passagen zwischendrin. Er [die Hauptfigur] wartete nun, da er einem etwaigen Gespräch nicht abgeneigt war. Zu seiner Verwunderung erkannte er in dem Mann den Händler der landwirtschaftlichen Artikel, den er bereits auf dem Markt gesehen hatte. Er hatte den Eindruck, dass der Händler die Gegenstände, die er nicht losgeworden war, in seinem Sack nach Hause trug. Der Händler begrüßte nun A. und sagte, dass es spät geworden sei, weil er noch mit einem Kollegen über die Geschäfte diskutiert habe.24

Von diesem Moment an ist der Protagonist lediglich der Vermittler der Geschichte des Händlers. Das Verschwinden des Protagonisten funktioniert als eine Art Verfremdung, eine Erzählstrategie, die typisch für Bönis Prosa ist. Wenn man diese Verfremdung noch zu dem grauen Bild, das Böni im Allgemeinen malt, hinzunimmt, kann man leicht Rolf Michaelis zustimmen, wenn er sagt, dass Bönis Schweiz eine »Alptraum-Schweiz« ist.25 Das Alptraumartige in diesen Geschichten spielt eine grosse Rolle in der Diskussion von Bönis Auseinandersetzung mit Schweizer Mythen. Diese Seite seines Werkes ähnelt stark den Geschichten Franz Kafkas. Die Beziehungen zwischen den beiden Autoren sind deutlich zu erkennen. Nicht nur das Zitat aus Das Schloss, das als Epigraf in der Geschichte Hospiz dient, zeigt offenkundig, wie sehr der Winterthurer Franz beim Prager Franz in der Schuld steht.26 Jahrmarkt hat viele Ähnlichkeiten mit dem Werk Kafkas. Erstens hat der Protagonist ebenfalls nur einen einzigen Buchstaben als Name. Diese Technik ist typisch für Böni und funktioniert wiederum als Verfremdungseffekt. Zweitens ist die Uhrzeit unerklärlich und erinnert an die verwirrenden Uhrzeiten in –––––––—

23

24 25

26

Denken. Vorwort. In: E.C.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Birgit Recki. Bd. 12. Hamburg: Felix Meiner 2002, S. XI–XVI, hier S. X. Michael Angele: Aus der Welt (und Frankfurt am Main) verschwunden: Franz Bönis Geschichten. In: Corina Caduff, Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink 2004, S. 269–280. Böni: Jahrmarkt (Anm. 12), S. 44f. Rolf Michaelis: Das Huhn ist eine Ente oder die Wirklichkeit, die Irrealität genannt wird. In: Franz Böni: Sagen aus dem Schachtental. Stücke, Gedichte, Aufsätze und Erzählungen. Zürich: Ammann 1982, S. 130–136, hier S. 132. Franz Böni: Hospiz. Frankfurt/M: Suhrkamp 1980, S. 7.

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Andrew Liston

Kafkas Der Prozess: Warum wählt der Verkäufer gerade diese nächtliche Gelegenheit, einem völlig Unbekannten seine Lebensgeschichte zu erzählen? Letztlich ist die Strafe, die A. erleiden muss, erschreckend und bleibt, wie bei Kafka, unerklärt. Zudem nennt der Verkäufer diese Strafe »ein Geschenk.« A. muss sich auf eine Pferdedecke hinlegen, die der Verkäufer auf dem Boden ausbreitet. Dann bindet er A.s Hände hinter seinen Rücken, aber ohne das Seil gut zuzuknoten. Schließlich peitscht er ihn. Er fuhr mit dem Striegel über A.s Körper, schürfte ihm die Kleider auf und zerschnitt ihm das Fleisch. Dann warf er sich zufrieden den leeren Sack über die Schulter und verließ die Höhle. A. dachte, dass der Strick zwar gut sei, der Händler jedoch nichts von Knoten verstehe.27

Ansonsten kommentiert der Erzähler diese schockierende Szene überhaupt nicht. Der gefühllose Ton macht die Überraschung des Lesers nur noch stärker. Jemand wird gepeitscht, ohne dass er versucht sich zu verteidigen. Die Tatsache, dass der Knoten sehr schlecht geknüpft ist und der Protagonist sich also hätte wehren können, erlaubt einen kleinen Einblick in den Kopf des Protagonisten, nämlich, dass er leicht masochistisch veranlagt ist. Er ist zumindest passiv und scheint sogar seine Strafe gern entgegenzunehmen. Er scheint auch unsere Ideen von dem, was schockierend ist, nicht zu teilen. Der Erzähler verurteilt nichts. Albert Camus schreibt über Kafka, dass die Angst, die seine Geschichten erregen, hauptsächlich durch den unparteilichen Ton des Erzählers erzeugt wird.28 Diese berichtähnliche Unbetroffenheit findet man auch bei Böni mit demselben Effekt. Die Ähnlichkeiten zwischen Kafka und Böni könnte man noch durch etliche Beispiele weiter darstellen, aber der Sinn des Vergleichs liegt eigentlich darin, hervorzuheben, dass Böni wie Kafka symbolische Geschichten schreibt. Die Geschichten beschreiben eine Welt, die der wirklichen Welt sehr ähnlich ist, aber eine symbolische Welt darstellt; die Gegenstände haben keine direkte Korrelation mit unserer Realität. Dieses Merkmal ihrer Arbeit ist, laut Meletinsky, die Basis der Mythologisierung. Meletinsky schreibt über Kafka, dass alltägliche Gegenstände in seinem Werk »von seinen psychischen Dämonen infiziert sind.«29 Meletinsky sieht hierin den Ursprung des mythischen Schreibens. Die Aufladung von Gegenständen mit symbolischem Sinn verhilft uns zu einer neuen Perspektive über diese. Aus diesem Grund sieht Meletinsky Kafka als einer der größten Mythen-Erzähler des 20. Jahrhunderts. Natürlich schreibt Kafka weder über Berge noch über die Schweiz, aber das Wesentliche für unser Thema ist sein Stil, der Ähnlichkeiten mit dem Stil Bönis hat. Wie Kafka geht Böni über den Realismus hinaus: »Like Kafka, Bönis eerie world is recognisable and foreign at the same time«.30 Obwohl beide Autoren das (scheinbar) Alltägliche behandeln, werden banale Gegenstände und bekannte –––––––— 27 28 29 30

Böni: Jahrmarkt. (Anm. 12), S. 57. Albert Camus: L’espoir et l’absurde dans l’oeuvre de Kafka. In: A.C.: Le mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde, Paris: Librairie Gallimard 1942, S. 50–59, hier S. 55. Eleazar Meletinsky: The Poetics of Myth. New York: Routledge 2000, S. 317. Übersetzung A.L. Acker: The New Alps (Anm. 1), S. 45.

Bergzauber

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Topografien mit Bedeutung aufgeladen. Bönis Schweiz ist keine idyllische Schweiz, aber auch keine Wiederspiegelung der realen Schweiz. Als Beispiel kann man den Regen in Die Alpen nehmen. Am Anfang hört es nie auf zu regnen. Genauer gesagt strömt die ganze Zeit der Regen. Die ersten Worte des Romans sind: »Ich kam an in einer düsteren Zeit«, und auf den folgenden Seiten wird der Regen immer wieder erwähnt – der Protagonist muss sich sogar vor dem Regen in eine Kirche retten. Auch am Schluss gibt es eine »düstere Februaratmosphäre« und die Beobachtung »Draußen rauscht der Regen«.31 Das Wetter wird in diesem Roman nur erwähnt, wenn es schlecht ist. Obwohl Zürichs Hochnebel zumindest in der Schweiz berühmt ist, könnte man niemals behaupten, dass diese Beschreibung realistisch sei. Die Sonne wird nur ein einziges Mal erwähnt und dann lediglich als Produktname. Die Beschreibung des Wetters ist übertrieben, und auf diese Weise wird Bönis Realismus zu einer destillierten Form des Realismus, eine stärkere, verwirrende Form. Die Tatsache, dass das Wetter auch eine wichtige Rolle im Geschichtenerzählen spielt, bedeutet, dass das Wetter bei Böni kein willkürliches Element darstellt, wie es in der Natur der Fall ist. Wie bereits erwähnt sind die ersten und letzten Szenen in Die Alpen »düster« und finden im strömenden Regen statt. Das schlechte Wetter gewinnt dabei narrativ an Prominenz. Eine solche Prominenz, so Meletinsky, kann ein Motiv in ein mythisches Element verwandeln. Diese Betonung des Wetters findet man überall bei Böni. In Schlatt ist das Wetter immer miserabel und mit Schneestürmen und bitterer Kälte eine Bedrohung für die schwachen Lungen des Protagonisten. In Hospiz funktioniert das Wetter als Falle: Der Protagonist bleibt am Ende des Romans im Dorf stecken.32 Nach dem Vergleich mit Kafka lässt sich sagen, dass Bönis Realismus nicht der mimetischen Norm entspricht, sondern eigentlich eine eigene Form der Mythologisierung darstellt. Statt den Mythos einer idyllischen Alpenwelt, in der die Schweiz ihren Ursprung finden kann, zu stärken, malt Böni eine böse, alptraumartige Karikatur. Wichtig ist bei dem Schweizer Kafka, das Verhältnis von Bergsituation und Stadtsituation zu bewerten. Es ist anzunehmen, dass der moderne Schweizer womöglich gar keine Alpenerfahrung mehr hat. Die Mehrheit der Schweizer wohnt ja in Städten und nicht in Alpentälern. Ihre Wirklichkeit wird zumeist nicht von den Bergen geprägt. Bei Böni gibt es aber immer noch eine klare Verbindung. Verstörende Elemente finden sich ebenso in seinen Bergszenen wie in seinen Stadtbildern. In Schlatt zum Beispiel wird dies deutlich, wenn sich die Hoffnung des Protagonisten auf Ruhe in den Alpen nach sechs Jahren harter Arbeit im Flachland als Illusion herausstellt, weil die Alpenwelt genauso unwirtlich ist wie die Ebene. Böni zweifelt also nicht an dem Mythos, dass die Schweiz von ihren Bergen geprägt wird; er versteht die Verbindung zwischen Bergen und Schweizer Identität vielmehr als grundlegend. Seine Vision dieser Verbindung ist allerdings anders, als wir es normalerweise aus der Literatur gewohnt sind. –––––––— 31 32

Böni: Die Alpen (Anm. 2), S. 116. Vgl. Böni: Hospiz. (Anm. 26), S. 130.

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Als Zusammenfassung diene eine Anekdote. Als ich zwei Freunden, die beide Böni nicht kannten, einem Schotten und einer Schweizerin, erzählte, dass ich einen Schweizer Autor untersuche, gab es unterschiedliche Reaktionen: Der Schotte wusste, dass Böni die Berge behandeln würde. Als ich es ihm bestätigte, war die Schweizerin natürlich überrascht: »Warum interessiert er sich so für die Berge, wenn er aus Winterthur kommt?« Ohne dass sie es hätten wissen können, berührten ihre Reaktionen ein Kernproblem in Bönis Werk. Die schottische Reaktion folgt dem bekannten Stereotyp. Die Reaktion der Schweizerin zeigt dagegen, dass der Zusammenhang zwischen dem modernen urbanen Schweizer und den Bergen keine Selbstverständlichkeit ist. Böni kann sich vom Bann der Berge nicht befreien. Indem er sich mit der von Hallerschen Tradition auseinandersetzt, betont Böni, wie wichtig die Berge im Schweizer Bewusstsein sind. Er will unbedingt die Idylle der Alpen zerstören; Gefahr lauert in den Bergen überall und die Dörfer sind mit Idioten und Kranken bevölkert. Nichtsdestotrotz ist Böni kein Berichterstatter, wie oft behauptet wird. Seine übertriebene Kargheit scheint eine neue Form der Mythologisierung zu sein. Er zerstört den Mythos nicht; er schreibt ihn um. Obwohl die Alpen kein Bauern-Nirwana mehr sind, bleiben sie immer noch das mythische Fundament von Bönis Prosa. Es gibt auch für Böni einen Bergzauber, eine hartnäckige Faszination, die das Leben schwer macht für Leute, die versuchen, einen Prozess der Entmythologisierung in Gang zu setzen.

Teil III

Mythos Eidgenossenschaft

Hans-Georg von Arburg

Nation aus dem Sumpf Pfahlbauergeschichten oder literarische Konstruktionen eines anderen ›Mythos Schweiz‹*

Die Konkurrenz religiöser, territorialer und zivilisatorischer Ursprungserzählungen beflügelt seit der Gründung der Confoederatio helvetica 1848 die Mythologie des Nationalstaates Schweiz – auch die literarische. Dass die Schweiz und die Schweizer ihren Bergen entsprungen sind, galt unter Berufung auf Inkunabeln wie Johann Jacob Scheuchzers (1672–1733) Natur-Geschichten des Schweizerlands (1705/08) oder Albrecht von Hallers (1708–1777) Die Alpen (1729/32) als ausgemacht.1 Noch 1998 stellte sich die Schweiz als offizielles Gastland an der Frankfurter Buchmesse unter dem Motto »Hoher Himmel, enges Tal« vor. Demgegenüber fristete die Ursprungserzählung, wonach die helvetische Existenz auf in den sumpfigen Uferboden gerammten Pfählen gründet, ein Schattendasein. Nach einer kurzen, aber steilen Karriere in der Stabilisierungsphase des Schweizerischen Bundesstaates schrumpfte der Pfahlbaumythos alsbald zu einer bloßen Episode im Kampf um die Deutungshoheit über ›unsere‹ nationale Identität. Der Grund für diese Marginalisierung mag im wissenschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Faktum liegen, dass die ungeheure Popularität der Pfahlbauforschung in kleinbürgerlichen und mittelständischen Milieus von Beginn weg parallel lief mit ihrer wissenschaftlichen Diskreditierung. Schon wenige Jahrzehnte nach ihrer Aufsehen erregenden Entdeckung in den 1850er Jahren wurde die Vorstellung malerischer Habitate aus Stämmen, Schilf und Weidengeflecht auf hölzernen Plattformen über der Wasseroberfläche durch die Universitätsarchäologie wie durch die etablierten Kulturträger als romantisches Phantasma beflissener Amateurwissenschaftler verunglimpft. Umso hartnäckiger setzte sich die Idee pfahlbauender Protohelvetier in den Köpfen der –––––––— *

1

Für ihre wertvollen Hinweise und ihre Unterstützung sei an dieser Stelle François de Capitani, Rémy Charbon, Jacqueline Häusler und Marc-Antoine Kaeser herzlich gedankt. Ein ebensolcher Dank geht an die im Abbildungsnachweis erwähnten Inhaber der Bildrechte für ihre großzügige Abdruckgenehmigung. Johann Jacob Scheuchzer, Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands. 3 Theile, Zürich: Schaufelberger/Hardmeier 1706–1708 (Buchausgabe der ab 1705–1707 als Wochenschrift publizierten Seltsamer Naturgeschichten des Schweizer Lands Wochentliche Erzehlung Allen Standes und Geschlechts); Albrecht von Hallers Langgedicht Die Alpen entstand im Anschluss an eine alpine Studienreise und wurde erstmals im Versuch Schweizerischer Gedichten. Bern: Nicolaus Emanuel Haller 1732 veröffentlicht. Zur Etablierung des Alpenmythos Schweiz vgl. Uwe Hentschel, Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850. Tübingen: Niemeyer 2002 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 90).

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Schweizerinnen und Schweizer fest.2 Miniaturmodelle und historische Festumzüge, Schulwandbilder und Schulbücher, eine reichhaltige Kinder- und Jugendliteratur sowie eine vom Volkskalender bis ins Kunstmuseum wogende Flut von Bildern zeugen von ihrer Popularität bis heute.3 In dieser Kluft zwischen wissenschaftlichem Diskurs und populärer Tradition nistete sich auch eine quantitativ wie qualitativ bescheidene Literatur für Erwachsene ein. Die literarischen Variationen des Pfahlbaumythos geben nicht nur Auskunft darüber, wann, wen und weshalb die Idee einer auf hölzernen Füßen stehenden Schweiz faszinierte und in welchen Schwundformen sie bis heute weiterlebt. Aufschlussreicher, weil eigenständiger, ist der Einblick in das realpolitische bis utopische Potential der Pfahlbauerphantasien bei der Konstruktion eines anderen ›Mythos Schweiz‹, den sie gewähren. Um diese genuine Erkenntnisleistung der Schweizer Pfahlbauerliteratur wird es im Folgenden gehen. Ich werde diese Leistung an drei exemplarischen Autoren und Texten erörtern, die je für eine historisch neuralgische Epoche aus der Geschichte nationaler helvetischer Mythenbildung stehen: An Friedrich Theodor Vischers (1807–1887) Professorenroman Auch Einer von 1878/79 als einem Vertreter aus der ›heroischen‹ Anfangsphase des Pfahlbaumythos zwischen Staatsgründung und Erstem Weltkrieg, an Jakob Bührers (1882–1975) Tragikomödie Die Pfahlbauer aus dem Jahre 1932, die im Zeichen der Auseinandersetzung mit nationalistischen und rassistischen Tendenzen in der Zwischenkriegszeit steht, sowie an Christian Hallers (*1943) unlängst erschienenem Roman Die besseren Zeiten als einem Beispiel für das besagte subkutane oder, um im Bilde zu bleiben, submarine Weiterleben des Mythos unter den Bedingungen der Spätmoderne. –––––––— 2

3

Begriff und Konzept der Pfahlbauer als ›Protohelvetier‹ wurden durch den Titel einer der einflussreichsten frühen Schriften über die Schweizer Pfahlbaufunde geprägt und international verbreitet: Victor Gross: Les protohélvètes, ou les premiers colons sur les bords des lacs de Bienne et Neuchâtel. Paris: Baer / Berlin: Asher 1883. Vgl. im Zusammenhang: Guy P. Marchal: Höllenväter – Heldenväter – Helvetier. In: Archäologie der Schweiz 14/1 (1991), S. 5–13, hier 11f.; Marc-Antoine Kaeser: Helvètes ou Lacustres? La jeune Confédération suisse à la recherche d’ancêtres opérationnels. In: Urs Altermatt, Catherine BosshartPfluger, Albert Tanner (Hg.), Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert. Zürich: Chronos 1998, S. 75–86 (= Die Schweiz 1798–1998: Staat – Gesellschaft – Politik 44). Die anhaltende Popularität des Pfahlbauer-Themas dokumentiert wohl nichts so eindrücklich wie das vom Schweizer Fernsehen (SF) im Sommer 2007 durchgeführte ›Living Science‹-Projekt, das während dreier Wochen im Sendegefäß »Schweiz aktuell« zur abendlichen prime time in wissenschaftlich kommentierten 15-minütigen Live-Sendungen über das Leben von acht bis zehn ›modernen‹ Pfahlbauer/innen in einer rekonstruierten Siedlung bei Pfyn/TG berichtete. Vgl. die online-Dokumentation www.sf.tv/ sf1/pfahlbauervonpfyn/manual.php?docid=pfahlbauervideo (eingesehen am 5. Januar 2009). Katharina Eder, Hans Trümpy: Wie die Pfahlbauten allgemein bekannt wurden. In: Archäologie der Schweiz 2/1 (1979), S. 33–39; Hans-Georg Bandi: Pfahlbaubilder und Pfahlbaumodelle des 19. Jahrhunderts. In: Archäologie der Schweiz 2/1 (1979), S. 28–32; HansGeorg Bandi, Karl Zimmermann: Pfahlbauromantik des 19. Jahrhunderts/Romantisme des habitations lacustres au 19 e siècle. Hg. von Alexander Tanner, Zürich: Historisch-Archäologischer Verlag 1980; Karl Zimmermann: Kelten und Helvetier im Spiegel historischer Festumzüge. In: Archäologie der Schweiz 14/1 (1991), S. 37–45; Peter Raimann, Pfahlbauer im Schulzimmer. In: Archäologie der Schweiz 27/4 (2004), S. 78–83.

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Vorab ist einschränkend festzuhalten, dass ich mich mit der Auswahl meiner Textbeispiele ganz bewusst auf einen qualitativ wie quantitativ nicht repräsentativen Ausschnitt aus der Pfahlbauerliteratur beschränke. Diese wurde und wird nach wie vor überwiegend von Kinder- und Jugendbüchern bestritten. Der Prototyp und wohl erfolgreichste Longseller in dieser Sparte ist David Friedrich Weinlands (1829–1915) im gleichen Jahr wie Vischers Auch Einer erschienene Jugendroman Rulaman. Aus der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären, dessen altsteinzeitlicher Titelheld in den Kapiteln XII und XIII auch in Kontakt mit Pfahlbauern kommt, den am oberschwäbischen Federsee siedelnden »See-Aimats«.4 Im Schweizerischen Kontext wäre in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Erzählung Die Pfahlbauer am Moossee des Berner Pädagogen Hans Zulliger (1893–1965) hinzuweisen, ein frühes Heft des gegen den nationalsozialistischen ›Schmutz und Schund‹ gegründeten Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW).5 Und auch das konservative Gegenstück dazu, die »Romane aus den Wildnissen der Urzeit« des Innerschweizer Priesters und Schriftstellers Franz Heinrich Achermann (1881–1946) aus den Zwischenkriegsjahren, waren ungemein erfolgreich und prägten Generationen von (vorab katholischen) jugendlichen Lesern.6 Eine Analyse dieses populären Genres wäre nicht weniger lohnend, die Einsichten in die von mir anvisierte Erkenntnisleistung der Pfahlbauerliteratur im Hinblick auf die nationale Identitätsbildung in der Schweiz würden aber wahrscheinlich spezifisch anders ausfallen.

*** Für welche Werte stand der Pfahlbauermythos nach seiner archäologischen Geburt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die ihn im Hinblick auf ein neues nationales Selbstbewusstsein interessant, ja mehr noch, die ihn offiziell fungibel machten? Aus der Fülle an Pfahlbauerbildern, die im ausgehenden 19. Jahrhundert vornehmlich in der Schweiz, aber auch in anderen mitteleuropäischen Ländern produziert wurden, lässt sich eine Antwort auf diese Frage mit wenigen Strichen skizzieren. –––––––— 4

5

6

David Friedrich Weinland: Rulaman. Erzählung aus der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären. Der Jugend und ihren Freunden gewidmet. 8., durchges. Aufl., Leipzig: Spamer 1912, S. 85–94. Vgl. dazu den Ausstellungskatalog Rulaman der Steinzeitheld. BraithMali-Museum, Biberach a.d. Riss. Hg. von Frank Brunecker. Tübingen, Berlin: Wasmuth 2003. Hans Zulliger: Die Pfahlbauer am Moossee. Zürich: Schweizerisches Jugendschriftenwerk 1934 (= SJW 18). Das Büchlein war in einer stilistisch leicht variierten Fassung bereits 1923 u.d.T. Die Pfahlbauer in der im Auftrag des Jugendamtes des Kantons Zürich herausgegebenen Reihe »Schweizer Jugendschriften« (Nr. 26) publiziert worden. Es wurde bis in die 1970er Jahre mehrfach aufgelegt, wechselte drei mal das Erscheinungsbild und ist mit einer Gesamtauflage von über 300.000 Exemplaren die meistgelesene Pfahlbauerlektüre in der Schweiz. Vgl. Raimann: Pfahlbauer im Schulzimmer (Anm. 3), S. 80. Franz Heinrich Achermann: Die Jäger vom Thursee. Roman aus den Wildnissen der Steinzeit. Olten, Konstanz: Otto Walter Verlag 1918; ders.: Der Schatz des Pfahlbauers. Roman aus den Wildnissen der Bronzezeit. Olten: Walter 1920; ders.: Der Totenrufer von Halodin. Prähistorischer Kulturroman aus den Wildnissen der ersten Eisenzeit. Olten: Walter 1928. Vgl. Eva Tobler: Neolithikum helvetisch und katholisch. F. H. Achermanns PfahlbauRomane. In: Archäologie der Schweiz 27/4 (2004), S. 14–21.

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Beginnen wir mit zwei Bildern und zwei Konjekturen, welche die Leistungsfähigkeit des Pfahlbaumythos in seiner jugendlichen Frische vor Augen führen. Unter dem Titel Le Rapt à l’âge du bronce, zu deutsch: Die Entführung in der Bronzezeit, entwirft der französische Prähistorienmaler Paul Jamin (1853–1903) um 1880 ein großformatiges ÖlAbb. 1: Paul Jamin : Le Rapt à l’âge du bronce, um 1880 gemälde, auf welchem eine Horde rustikaler Burschen in einem Einbaum eine Schönheit von Böcklinschem Format entführt [Abb. 1].7 Die Beute, gefesselt und gleichzeitig durch den Schild eines ihrer Entführers geschützt, hat den Kopf halb verzweifelt, halb verlangend zum felsigen Ufer zurückgedreht, wo den wild gestikulierenden Stammesgenossen nur noch die Wut über das Unvermögen ihrer Waffen bleibt. Wer sind die Entführer? Wohin mögen sie mit ihrer Jagdtrophäe steuern? Die Antwort auf diese Fragen liefert ein zweites Bild, das ungefähr gleichzeitig in Jules Gourdaults (1832-1911) monumentalem Reisewerk La Suisse, études et voyages à travers les 22 cantons (1879/80) publiziert wurde [Abb. 2].8 Das Bootsvolk ist hier – und dies wäre die erste Konjektur – in der heimatlichen Pfahlbausiedlung angekommen, das den Bergbewohnern geraubte Opfer ist zur Hirschkuh, pardon: zum Rentier mutiert – dies die zweite Konjektur. In dieser Bildfügung sind alle Elemente konzentriert, die den Pfahlbaumythos zu einem konkurrenzfähigen Gegenspieler des Alpenmythos für eine Gesellschaft machten, welche sich im Zeitalter beschleunigter Mechanisierung eben erst als nationales Staatengebilde konstituiert hatte: technische Überlegenheit und innovative Mobilität, Risikobereitschaft und Intelligenz und nicht zuletzt ein Sinn für Ästhetik und – wiewohl gebändigte – Erotik. Helvetia hatte sich über Abb. 2: [Künstler/Stecher unbekannt]: Jagdihre neuen Hüter gewiss nicht zu beklagen. szene vor Pfahlbauten am Fuß der Alpen. –––––––— 7

8

Zur Prähistorienmalerei als einem Spezialgebiet der Historienmalerei vgl. David Ripoll: Nos ancêtres les lacustres. Images d’un mythe d’origine. In: Genava. Revue d’Histoire de l’art et d’archéologie. Nouvelle série 42 (1994), S. 203–218, hier S. 207. Jules Gourdault: La Suisse, études et voyages à travers les 22 cantons. 2 Bde. Paris: Hachette 1879–1880, Bd. 1, S. 66.

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Abb. 3: Ferdinand Keller: Die keltischen Pfahlbauten in den Schweizerseen

Dass Jamin, der Maler des mythenträchtigen Frauenraubs, kein Schweizer, sondern Franzose war, passt durchaus ins Konzept. Denn anders als der Alpenmythos und sein anthropologisches Kondensat, der »homo alpinus helveticus«, gehorchte der Pfahlbaumythos nicht der Logik von Inklusion und Exklusion, sondern befriedigte Bedürfnisse nach Kommunikation und Transgression.9 Was sich später unter dem Eindruck des Faschismus als Schwäche herausstellen sollte, wurde im 19. Jahrhundert noch durchaus als Qualität wahrgenommen.10 Für den territorialen, kulturellen und historischen crossover, den die kurz nach ihrer Entdeckung im Winter 1853/54 durch den Zürcher Altertumswissenschaftler Ferdinand Keller (1800–1881) ins Kraut schießende Pfahlbaudebatte und insbesondere die Pfahlbauikonographie feierte, ließen sich fast beliebig viele Beispiele anführen. Keller stellte die Pfahlbauten von Obermeilen am Zürichsee in seinem epochemachenden Rekonstruktionsversuch [Abb. 3] unter Bezugnahme auf ethnographische Bildtopoi noch als menschenleeres Habitat –––––––— 9

10

Zum anthropologisch-rassenbiologischen Konzept des »homo alpinus helveticus« und seinem Funktionsmodell von In-/Exklusion vgl. Georg Kreis: Der »homo alpinus helveticus«. Zum schweizerischen Rassendiskurs der 30er Jahre. In: Guy P. Marchal, Aram Mattioli (Hg.): Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität/La Suisse imaginée. Bricolages d’une identité nationale. Zürich: Chronos 1992 (= Clio Lucernensis 1), S. 175–190; zum Schweizer Pfahlbaudiskurs innerhalb dieser Koordinaten Alexandra M. Rückert: Pfahlbauleute und Nationalismus, 1920–1945. In: Altermatt, Bosshart-Pfluger, Tanner: Die Konstruktion einer Nation (Anm. 2), S. 87–100; zur Alternative ›Alpen‹ versus ›Pfahlbau‹ und ihren ideologischen Implikationen vgl. insbes. die Arbeiten von MarcAntoine Kaeser: Le pacifisme des Lacustres. Considérations sur les fondements idéologiques du ›Sonderfall‹ suisse. In: Revue Historique Neuchâteloise 1997, S. 297–306; ders.: e Le fantasme lacustre. Un mythe et ses implications idéologiques dans la Suisse du XIX siècle. In: Albert Ducros, Jacqueline Ducros (Hg.): L’homme préhistorique. Images et imaginaire. Préface d’Yves Coppens. Paris: L’Harmattan 2000 (= Collection Histoire des Sciences Humaines), S. 81–104. Vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Josef Speck: Pfahlbauten: Dichtung oder Wahrheit? Ein Querschnitt durch 125 Jahre Forschungsgeschichte. In: Helvetia Archaeologica 12 (1981), S. 98–128.

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Abb. 4: Rodolphe-Auguste Bachelin: Idealbild einer vorgeschichtlichen Pfahlbausiedlung in einem Schweizer See, 1867.

auf einer isolierten Seeplattform dar.11 Zehn Jahre später bevölkerte der Neuenburger Maler Rodolphe Auguste Bachelin (1839–1890) seine vom Bundesrat als Schweizer Beitrag zur Pariser Weltausstellung von 1867 in Auftrag gegebene Pfahlbaulandschaft dann bereits mit einer handelstüchtigen Population im Kontakt mit phönizischen Kaufleuten [Abb. 4].12 In den folgenden Jahrzehnten blieben die Pfahlbauten der grenzüberschreitende Exportschlager der offiziellen Schweiz. 1889 schickte man sie aus Anlass der nächsten Weltausstellung an den Ufern der Seine zum Gipfelgespräch mit dem jüngsten Triumph internationaler –––––––— 11

12

Ferdinand Keller: Die keltischen Pfahlbauten in den Schweizerseen (sog. Erster Pfahlbaubericht). In: Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 9/3 (1856), S. 65–100, Taf. 1, Fig. 4. Zu Keller und der Bedeutung seiner Pfahlbau-Entdeckung für die Etablierung der Ur- und Frühgeschichte als Disziplin vgl. Stefanie Martin-Kilcher: Ferdinand Keller und die Entdeckung der Pfahlbauten. In: Archäologie der Schweiz 2/1 (1979), S. 3–11; Marc-Antoine Kaeser: Antiquare, Pfahlbauten und die Entstehung der urgeschichtlichen Wissenschaft. Die nationale und internationale Ausstrahlung der Antiquarischen Gesellschaft. In: Pfahlbaufieber. Von Antiquaren, Pfahlbaufischern, Altertümerhändlern und Pfahlbaumythen. Zürich: Chronos 2004 (= Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft 71), S. 125–146; zu den ethnographischen Implikationen v.a. Christian Kaufmann: Völkerkundliche Anregungen zur Interpretation der Pfahlbaufunde. In: Archäologie der Schweiz 2/1 (1979), S. 12–19. Das Gemälde hing nach seiner Rückkehr aus Paris bis 1891 im Bundeshaus in Bern, von wo es, zusammen mit einem weiteren Pfahlbaubild Bachelins und der Pfahlbausammlung des Arztes und Altertumssammlers Victor Gross aus dem bernischen La Neuveville, als Gründungsgeschenk ins neu eröffnete Schweizerische Landesmuseum in Zürich kam. Zur zentralen Funktion der Pfahlbauforschung und -ikonographie für die nationale Museumspolitik in der Schweiz vgl. Karl Zimmermann: Pfahlbauromantik im Bundeshaus. Der Ankauf der ›Pfahlbausammlung‹ von Dr. Victor Gross durch die Eidgenossenschaft im Jahre 1884 und die Frage der Gründung eines schweizerischen National- oder Landesmuseums. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 49 (1987), S. 117–151.

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Ingenieursarchitektur – dem Eiffelturm [Abb. 5].13 Den Völker und Generationen verbindenden Technikaspekt der Pfahlbauten und ihr ästhetisches Versöhnungspotential von Natur und Industrie dokumentiert auch das Pfahlbaudörfchen im Maßstab 1:2, welches sich der Schönenwerder Elastikgewebe- und Schuhfabrikant Carl Franz Bally (1821–1899) 1888/90 in seinen englischen Landschaftsgarten stellen ließ Abb. 5: Pfahlbauerdorf an der Exposition universelle [Abb. 6]. Dieses einzigartige 1889 in Paris, zeitgenössischer Stahlstich. Kulturdenkmal existiert übrigens noch heute und schläft, sanft renoviert, einen Dornröschenschlaf direkt an der Intercity-Strecke Bern–Zürich.14 Dass die Transgressionsdynamik des Pfahlbaus von einigen Zeitgenossen auch skeptischer beurteilt wurde, beweist Albert Ankers versonnen blickende Femme lacustre von 1873 [Abb. 7].15 Immerhin herrscht auch hier freie Sicht auf den Alpenrandsee. Das mythische Versprechen von Kommunikation und Transgression ist denn auch das zentrale Thema in Friedrich Theodor Vischers »Pfahldorfgeschichte«

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Das Schweizer Pfahlbaudörfchen an der Pariser Exposition universelle von 1889 bildete den Auftakt zu einer architekturgeschichtlichen Pleinair-Ausstellung (Sektion XXI: »Histoire de l’habitation«) von den prähistorischen Anfängen über historische Frühformen (Ägypten, Assyrien, Phönizien, Indien), antike Vorbilder (Griechenland, Rom) und mittelalterliche Varianten bis zum Renaissance-Palazzo und zu rezenten Beispielen aus der Ethnographie, »confondus dans un pittoresque pêle-mêle«. Zit. nach: Louis Rousselet: L’exposition universelle de 1889. Paris: Hachette 1890, S. 261–268, hier S. 268. Vgl. Philipp Abbegg, Georges Bürgin, Samuel Rutishauser, Matthias Stocker: Industrieensembles und Parkanlage ›Bally‹ in Schönenwerd. Bern: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK 2005, zu Park und Pfahlbauten bes. S. 35–53. Vorbild für die Schönenwerder Pfahlbauten war ein Modell, welches der Basler Uhrmacher Maximilian Götzinger unter Anleitung Ferdinand Kellers um 1870 angefertigt hatte. Der Festschrift zum 50-jährigen Firmenjubiläum im Jahre 1901 zufolge beherbergte Ballys Pfahlbaudörfchen auch eine kleine Pfahlbausammlung, die, wie der größte Teil des Parks, öffentlich zugänglich war: 50 Jahre der Firma C. F. Bally Söhne. Schönenwerd: [o.V.] 1901, S. 79ff. Das Bild gehörte zu Lebzeiten des Künstlers zu den beliebtesten Werken Ankers und wurde von diesem in mindestens drei Öl-Varianten, einer Aquarellvariante und zwei Federstudien ausgeführt. Vgl. Sandor Kuthy, Therese Bhattacharya-Stettler: Albert Anker 1831– 1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien / Catalogue raisonnée des peintures et des études à l’huile. Bern: Kunstmuseum / Basel: Wiese Verlag 1995, Nr. 182, S. 120f.; vgl. ferner die Fassungen II und III ebd., Nr. 194, S. 125f. und Nr. 317, S. 164; Angaben zu weiteren Pfahlbau-Sujets Ankers ebd., Nr. 360, S. 179.

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Abb. 6: [Photograph unbekannt], Die Pfahlbauten im Bally-Park, Schönenwerd, mit Vertretern der vierten Generation der Fabrikantenfamilie, Photographie, um 1895.

Der Besuch.16 Die Novelle stammt, gemäß der fiktionalen Konstruktion des humoristisch-autobiographischen Romans Auch Einer, in dessen labyrinthische Architektur sie als überlange Binnenerzählung eingelassen ist, aus der Feder des Titelhelden A. E. und wird dem Ich-Erzähler aus Venedig und also aus der internationalen Pfahlbaumetropole schlechthin zugeschickt.17 Diese Konstruktion fungiert als eine Art narrativer Chiffre für das in diesem Text vielfach variierte Leitmotiv der Vermittlung und Entgrenzung territorialer, sozialer und politischer Positionen. Erzählt wird das Schicksal des Pfahlbaujünglings Arthur vom See Nuburik (Neuenburg), der die neu entdeckte Bronze oder das »Erz«, wie sie im Text genannt wird, mit seinen revolutionären Materialeigenschaften in eigener Mission aus dem fortschrittlichen Westen ins Pfahlbaudorf am Robanus, am Pfäffikersee im Zürcher Oberland, einführen will. Mit diesem Vorhaben stört Arthur nicht allein die Idylle der beiden Verliebten Alpin und Sigune, sondern auch die traditionalistische Mentalität der Robaner Pfahlbürger aufs Abb. 7: Albert Anker: La femme lacustre/Die Pfahl–––––––— 16

17

bauerin (1. Fassung), 1873.

Zitiert wird nach der im Jahr der Erstausgabe erschienenen zweiten, durchgesehenen Auflage, die mit jener von wenigen Ausnahmen abgesehen text- und seitenidentisch ist: Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. 2 Bde., Stuttgart, Leipzig: Hallberger 1879, Bd. 1, S. 127–397. Textnachweise im folgenden im Text in Klammern mit Sigle (B, Seitenangabe). Ebd., unpaginierte Vorbemerkung [S. 125].

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Empfindlichste. Die anfängliche Rivalität zwischen dem Hirten Alpin – nomen est omen – und seinem faszinierend fremdartigen Konkurrenten schlägt nach einem durch die Intervention eines Wisents vereitelten Duellversuch in mutige Solidarität um. Alpin, der in seinem »Herzen doch eigentlich auch für’s Neue« ist (B, S. 395), verhilft dem Revolutionär zur Flucht, nachdem dessen Innovationsanstrengungen vom konservativen Druiden Angus und der Mehrzahl der aufgebrachten Pfahlbaugemeinde verunglimpft und zum Anlass genommen wurden, die anachronistische Sitte des Menschenopfers am Leib des »Erzketzers« (B, S. 299, 301) wieder zu aktualisieren (B, S. 383ff.). Dass eine Aktualisierung ganz anderer Art, jene der von Kellers Entdeckungen aufgebrachten Pfahlbaudebatte in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht, die Hauptabsicht von Vischers Erzählung war, steht von Beginn weg außer Zweifel. Vischer lässt die Zürcher Intelligentsia der 1850er und 60er Jahre geschlossen auftreten. Ihre Protagonisten sind mit Namen wie Feridun Kallar für Ferdinand Keller, Guffrud Kullur für Gottfried Keller (1819–1890), Angus für den konservativen Zürcher Theologen Heinrich Lang (1826–1876) oder Massikomur für den Robenhausener Landwirt und Pfahlbauenthusiasten Jacob Messikomer (*1828) nur notdürftig verklausuliert.18 Vor allem aber kommentiert Vischer die Sitten und Gebräuche der Urbevölkerung konsequent mit Begriffen der gründerzeitlichen Moderne. So kannten schon die Pfahlbauer »eine Theilung der Arbeit und mit ihr eine Vervollkommnung durch Massenbetrieb« (B, S. 142), Alpins Vater bestimmt den widerspenstigen Sohn zum »Fabrikant[en]« im »Schnur- und Fadengeschäft«, und beide geraten, ohne es zu wissen und selbst zu durchschauen, in der Auseinandersetzung über diese Bestimmung auf die »Vorstellungsreihe […] Arbeiterfrage! Geld! Geldspekulation, Geldhandel, Geld aus Geld! Banken! Gründungen! –« (B, S. 147). Höhepunkt dieser Aktualisierungsstrategie ist die Festrede des Barden – in Vischers anachronistischer Terminologie ein Sammelbegriff für die Zunft zukunftsorientierter Wissenschaftler – Kallar (also Ferdinand Kellers) über seine »merkwürdigen Fünde« im »Seegrund« des Pfahldorfes Milun (Meilen). Ganz im Sinne des wiederholt als »Linke« titulierten progressiven Flügels der Gemeindeversammlung (B, S. 233, 390; vgl. 186ff., 301, 370ff.) deutet Kallar die Pfahlbaufunde unter den bestehenden Pfahlbauten als Beweis für die unausgesetzte Überformung und Beschleunigung menschlicher Existenzweisen durch den Menschen selbst (B, S. 260ff.). Diese Beschleunigungsphantasie kulminiert am Ende in einer kommunikationstheoretischen Science Fiction von kosmischem Ausmaß: »O«, ereifert sich Kallar, ich hab’ da schon öfters einen gar sonderbaren Einfall gehabt. Da droben, die großen Lichter am Himmel: sie müssen arg weit von uns weg sein, und da die entfernten Dinge kleiner scheinen als sie sind, wie groß mögen sie sein! Und, ja – wie? Sind sie nicht vielleicht eigentlich etwas Dichtes, das durch die große Macht und Kunst der Gottheit ohne Stützen so im Freien schwebt? Und was meint ihr, wär’s am End’ nicht gar auch möglich,

–––––––— 18

Zur historischen Aufschlüsselung der Allonyme vgl. Harry Kürbs: Studien zur Pfahldorfgeschichte aus Friedrich Theodor Vischers Roman »Auch Einer«. Diss. phil. Universität München. Borna, Leipzig: Noske 1914, S. 28ff., sowie Franza Feilbogen: Fr. Th. Vischers »Auch Einer«. Zürich: Orell & Füssli 1916, S. 108ff.

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daß auf diesen großen, beleuchteten Kuchen auch eine Art Leute lebten? Und gar auch noch, da die Leute hier auf unserem Kuchen gar so viel Mittel erfunden haben werden, von einander und von der Ferne zu erfahren und zu wissen, – was meint ihr, wär’s nicht gedenkbar, daß Die hier und Die dort – was weiß ich, wie und auf welchen Wegen! – auch von einander erführen und in eine Art Gemeinschaft mit einander träten! (B, S. 270f.)

Die Antwort des Archäologen Kallar auf die Frage – die in der Wissenschaftsgeschichte der Ur- und Frühgeschichte als ›Pfahlbaufrage‹ schlechthin notorisch wurde –, warum sie alle denn an den katarrhfördernden Seen wohnten, lautet damit provokativ anders als das Dogma des Theologen Angus, der die Tatsache pro domo mit dem höheren Willen der im Mond wohnenden Gottesmutter Selinur und den finsteren Machenschaften des Urschlammprinzen Grippo erklärt (B, S. 201ff. und 283ff.). Eine an die hinterwäldlerischen Robaner gerichtete Brandrede Arthurs konkretisiert Kallars Kommunikationsthese schließlich auch politisch: Wißt ihr denn auch, was die drei Hauptstücke des wahren Frommseins sind? Die Gemeinde mehr lieben als sich, die vielen Gemeinden mehr als die eigene, und alle Gemeinden des Volks, das Eine Sprache spricht, so lieben, daß man Gut und Blut für sie zu opfern all’ Stund von Herzen bereit ist. Drei sind der Sümpfe, darin man nicht leben soll: der Sumpf der Seen, der Sumpf der Schlaffheit und der Sumpf des engen Pfahlsinns, der von keinem Vaterland weiß. Wißt ihr denn von einem Vaterland? […] Auf! auf, so lang es Zeit ist! Einen festen Bund stiftet von Gemeinde zu Gemeinde, von Stamm zu Stamm! Dem unbekannten Gotte – o, bei allen Himmeln, er ist auch der Gott des Vaterlands! – ihm an seinem Altare schwört, treu zu sein dem Bunde bis auf den letzten Athemzug! (B, S. 296f.)

Unter dem generellen Aktualisierungsindex der Erzählung erscheint diese realpolitische Paränese des Reformers nicht ohne Widerspruch: Die Seen und Sümpfe, die den innovativen Austausch mit Fremden ermöglichen, werden gleichzeitig denunziert, dass das Vaterland lediglich »alle Gemeinden des Volks« umfasst, »das Eine Sprache spricht«, wird den Deutschschweizer Pfahlbürgern von einem ›welschen‹ Gewährsmann überbracht,19 und die unmittelbare Motivation für den Aufruf zum Bundesschluss, die äussere Bedrohung durch die Großmachtgelüste eines »mächtige[n] und riesige[n] Volk[es]« von jenseits der Alpen, –––––––— 19

Martin Stern, von dem m.W. der unter der hier interessierenden Perspektive einzige spezielle Aufsatz zu Vischers Pfahlbaunovelle stammt, fragt sich, ob »angesichts des engagierten deutschen Patriotismus des Erzählers« die Empathie mit dem Boten aus dem fortschrittlichen Westen »echt allegorisch auf Frankreich und die Ideen der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit bezogen werden darf.« Martin Stern: Friedrich Theodor Vischers Romaneinlage »Der Besuch. Eine Pfahldorfgeschichte«. In: Archäologie der Schweiz 2/1 (1979), S. 40–43, hier S. 41. Diese Frage ist aufgrund des hier dargelegten Kontextes falsch gestellt, da die Alternative zum großdeutschen Traum nicht die ursprungsmythischen Ideale der ›Grande Nation‹ sein kann, sondern in der durchzusetzenden Realität des Schweizer Föderalismus gesucht werden muß. Die negative Konnotation des ›Welschen‹ wird übrigens auch von anderen Textstellen bestätigt. So heißt es etwa im Zusammenhang mit dem abgedruckten Speisezettel eines Festmahls, die Pfahlbauer hätten »alle unnöthigen Entlehnungen aus fremden Sprachen« und namentlich aus der »welschen« verabscheut (B, S. 357). Demgegenüber werden freilich die mit demselben »Welschen« konnotierten Eigenschaften »Ueberbildung, von der Natur abweichende Kultur, Raffinirtheit, Frivolität und dergleichen« von Alpin unrechtmäßig zur Legitimation seines geplanten Zweikampfs mit Arthur ins Feld geführt (B, S. 232); die Kritik am »Welschen« wird hier also vom Kontext als chauvinistisches Vorurteil diskreditiert.

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fließt aus der Feder des entschieden großdeutsch gesinnten A. E. Für Vischer scheint »der Punkt« an den neu entdeckten Pfahlbauten eben jener gewesen zu sein, den auch Kallar zu Beginn seiner Rede herausstreicht: »Die Sache ist […] nicht wichtig, Abb. 8: [Photograph unbekannt], Groupe de lacustres de l’âge de aber das ist wichtig, la pierre, Cortège historique à Neuchâtel, 1882. was sie zu denken gibt« (B, S. 264). Das Mittel des Linkshegelianers Vischer ist die Ironie im Sinne des kritischen Idealismus, von dem Vischer bildungssoziologisch auch herkommt. Sein Ziel ist der durch Verzerrung, Verdopplung und Verneinung pointierte Reflexionsgehalt seines Themas.20 Ganz im Gegensatz zum nationalistischen Potential des Mythos in Überwältigungsästhetiken wie jener Richard Wagners, die als ohren- und geistbetäubende »Pfahlvolkmusik« (B, S. 342) detailliert vorgeführt wird (vgl. B, S. 315–320 und S. 325–342), ist die höhere Botschaft des Pfahlbaumythos in einer solchen Reflexionsästhetik freilich gefährdet. Dies beweist das Ende der Erzählung. Von Sigune erfährt der Leser, dass der Hoffnungs- und Sympathieträger Arthur »weit, weit weg in einem wilden Lande [...] von grausamen Menschen erschlagen worden« sei, »weil er ihnen ihre Götter nehmen wollte« (B, S. 394).

*** Die Indienstnahme pfahlbauender Ahnen für die kollektive Identitätsbildung und -sicherung blieb nicht lange so humorvoll wie bei den vier sympathischen Herren, die sich 1882 für den Cortège historique in Neuenburg in ein exotisches Prähistorienkostüm stürzten [Abb. 8], oder im liebevoll ausstaffierten Tableau –––––––— 20

Vischer hatte seine Theorie der Ironie bzw. des ironischen ›Zufalls‹ als Umschlagsphänomen zwischen alltagspraktischer Kontingenz und metaphysischer Providenz in seiner Habilitationsschrift Über das Komische und Erhabene (Tübingen 1837) theoretisch zugrunde gelegt und später u.a. in seinen Ansätzen zu einer Ästhetik der Mode auch praktisch erprobt. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Mode und Zynismus. Beiträge zur Kenntnis unserer Kulturformen und Sittenbegriffe. In: F.T.V.: Kritische Gänge. 2., verm. Aufl. Hg. von Robert Vischer. 6 Bde. Berlin: Meyer & Jessen 1922, Bd. 5, S. 367–417. Zu Vischers ›ironischer‹ Schreibweise im Roman Auch Einer und ihren philosophiegeschichtlichen Hintergründen vgl. Ingrid Oesterle: Verübelte Geschichte. Autobiographische Selbstentblössung, komische Selbstentlastung und bedingte Selbstbehauptung in Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer. In: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S. 71–93; im Zusammenhang mit der Pfahldorfgeschichte speziell Günter Oesterle: Die Grablegung des Selbst im Andern und die Rettung des Selbst im Anonymen. Zum Wechselverhältnis von Biographie und Autobiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Friedrich Theodor Vischers Auch Einer. In: Ebd., S. 45–70, hier S. 60ff.

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vivant »Die Pfahlbauer«, welches dem Fastnachtsumzug 1889 im St. Gallischen Rorschach die Krone aufsetzte [Abb. 9].21 Nach dem Ersten Weltkrieg wich die verspielte Atmosphäre der historischen Festumzüge dem Ernst einer pseudo-wissenschaftAbb. 9: [Photograph unbekannt], Pfahlbaugruppe am Fasnachtslichen Volksbildung, umzug in Rorschach/SG, 1889 die wenig später in krude Propaganda umschlug. Eine Standaufnahme aus dem Ufa-Film Natur und Liebe von 1926/27 formuliert das Motto, unter welchem die Pfahlbauikonographie nunmehr stand: »Prüfen der Waffen« [Abb. 10]. Die Pfahlbauepisode dieses kosmologischen Kulturfilms, welcher die Entwicklung des Lebens auf dem Planeten Erde und seine Ausdifferenzierung in die heute lebenden ›Menschenrassen‹ darstellt, wurde in Unteruhldingen bei Überlingen am Bodensee gedreht, wo wie an vielen anderen Orten auch in wenigen Jahren Dutzende von Pfahlbau-Rekonstruktionen errichtet wurden.22 Das 1922 gemeinsam –––––––— 21

22

Abb. 10: »Prüfen der Waffen«, Standaufnahme aus dem Ufa-Kulturfilm Natur und Liebe, Deutschland 1926/27.

Vgl. Louis Specker: Rorschach im 19. Jahrhundert. Einblicke in die Zeit des grossen Umbruches. Rorschach: Löpfe-Benz 1999, S. 268. Zum Pfahlbauerthema an den historischen Festumzügen des ausgehenden 19. Jahrhunderts allgemein vgl. Zimmermann: Kelten und Helvetier (Anm. 3). Die Aufnahme aus dem Ufa-Film wurde in Unteruhldingen später auch als Ansichtspostkarte verkauft. In der gegenwärtig angebotenen Version ist die entsprechende Legende aus der Postkarte wegretuschiert worden. Vgl. die Reproduktion der originalen Postkarte in: Günter Schöbel: Museumsgeschichte der Pfahlbauten von Unteruhldingen. Teil 1: 1922 bis 1949. Unteruhldingen: Pfahlbaumuseum 2001, S. 18. Eine Kopie dieses Films, der entsprechend seiner Episodenstruktur unter wechselnden Titeln (für die Pfahlbauepisode: Schöpferin Natur) in den Verleih kam, wird noch heute im Museumsarchiv in Unteruhldingen aufbewahrt. Zu diesem und ähnlichen Beispielen kinematographischer Pfahlbaumythologie in der Weimarer Republik vgl. Peter Zimmermann (Hg.): Die Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Im Auftrag des Hauses des Dokumentarfilms. 3 Bde. Stuttgart: Reclam 2005, Bd. 2, S. 108–119, hier S. 112f.; S. 293–298, hier S. 294f.; ferner die online-Dokumentation des Deutschen Filminstituts: http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/de2tb035350i.htm (Zugriff am 12.10.2006).

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Abb. 11: [Photograph unbekannt], Freilichtmuseum Unteruhldingen als Palisadendorf (Fluchtburg), April 1944.

von den kommunalen Behörden unter Bürgermeister Georg Sulger (1866–1939) und dem durch den jungen Archäologen Dr. Hans Reinerth (1900–1990) vertretenen Urgeschichtlichen Forschungsinstitut der Universität Tübingen gegründete und betriebene Pfahlbaumuseum in Unteruhldingen ist ein symptomatischer Spezialfall: ein Spezialfall, weil es die einzige thematisch spezialisierte Museumsgründung war, die bis heute funktionstüchtig geblieben ist, und symptomatisch, weil das Museum und der Unteruhldinger Verein für Pfahlbauten und Heimatkunde in den folgenden Jahren zu einem Forum für eine chauvinistische und rassenbiologische Interpretation des Pfahlbaumythos wurde. Am 16. Oktober 1937 erhielt Unteruhldingen allerhöchsten Besuch des NSDAPReichsleiters Alfred Rosenberg, kurz danach wurde es mit den übrigen frühund vorgeschichtlichen Institutionen des Landes im Reichsbund für deutsche Vorgeschichte unter der Leitung Prof. Reinerths gleichgeschaltet.23 Fortan sah das Idealbild eines Pfahlbaudorfes bis zur Niederlage der NS-Diktatur entgegen allen neueren archäologischen Forschungsergebnissen so aus [Abb. 11]: eine palisadenbewehrte Flucht- und Trutzburg vor den Ufern des angeblich gefährdeten und zu engen heimatlichen Grund und Bodens. Die Ideologisierung und Biologisierung des archäologischen Pfahlbauproblems nimmt der aus proletarischen Verhältnissen stammende engagierte Sozialist Jakob Bührer in seiner 1929 am Berner Stadttheater uraufgeführten Tragikomödie Die Pfahlbauer kritisch auf.24 Die Handlung spielt gemäß einer Angabe im Personenverzeichnis in einem »schmutzige[n] enge[n] Pfahlbau–––––––— 23

24

Vgl. Schöbel: Museumsgeschichte der Pfahlbauten von Unteruhldingen (Anm. 22), S. 51. Eine differenzierte Einschätzung von Figur und Funktion Reinerths, der durch die Eingliederung in den Reichsbund eine Übernahme des Unteruhldinger Freilichtmuseums in das ›SS-Ahnenerbe‹ verhindern konnte, für die Jahre unter dem NS-Regime ebd., S. 43–89. Als Konsequenz seiner Hinhaltetaktik gegenüber Forderungen der Parteileitung wurde der einstige Gefolgsmann Reinerth am 27. Februar 1945 aus der NSDAP ausgeschlossen (ebd., S. 83). Jakob Bührer: Die Pfahlbauer. Eine Tragikomödie in drei Akten. Zürich: Rascher 1932. Textnachweise im folgenden im Text in Klammern mit Sigle (P, S.). Zur Uraufführung vgl. die Anzeige in: Schweizer Theater. Offizielles Organ des Verbandes Schweizerischer Bühnen 2/7 (1929), S. 13. 1932 wurde das Stück auch im St. Galler Stadttheater inszeniert. Vgl. auch hierzu Anzeige und Szenenaufnahmen in: Schweizer Theater 5/6 (1932), S. 11f.

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dorf« mit dem sprechenden Namen Suisano und erzählt vom verzweifelten Versuch der einst den feindlichen Figonesern geraubten Majola, den tönernen Gott Volkswillsso in den See zu stürzen.25 Majola hofft bei ihrem Vorhaben auf die Unterstützung durch ihren verschollenen Sohn Avanzan, den sie einst mit Redigeiß, dem »Priester und Führer« (P, S. 15), in Suisano, unter Umgehung der daselbst geübten Euthanasie gezeugt hatte (vgl. P, S. 27, 55). Leider entpuppt sich Avanzan nach seiner überraschenden Heimkehr (vgl. P, S. 23f.) nicht als »Retter« und »Erlöser« (P, S. 13), sondern als desillusionierter Runaway und zögerlicher Opportunist, der seine Versklavung in der Fremde (vgl. P, S. 25f.) »in einer kleinen Hütte auf dem sichern Wasser« (P, S. 40) vergessen will und der sich nach dem Sturz seines Vaters am Ende selbst zum Führer aufschwingt (vgl. P, S. 52ff.). Diese Handlung wird in einem für den eben skizzierten Kontext prototypischen diskursiven Dispositiv ausagiert. Zentrale Themen sind die kultisch überhöhte Vernichtung aller Kleinkinder, deren Kopfumfang das standardisierte »Maß des Pfahlbauschädels« übertrifft, die mit anderen Worten renitente »Dickköpfe« zu werden versprechen (P, S. 9, 14f., 22, 56), die Angstlust der Suisaner vor dem Ausbruch aus der heimatlichen Enge (vgl. P, S. 34ff., 53) sowie die mythische Begrenzung dieser Enge durch einen schnee- und eisbewehrten Berg, der zum unüberwindlichen »Ende der Welt« dämonisiert und gleichzeitig verklärt wird (P, S. 15ff., 38, 53ff.). Diese Referenzen auf die zeitgenössische NS-Anthropometrie und die Vereinnahmung des Alpenmythos durch eine chauvinistische Abschottungs- und Selbstbeschränkungsideologie im Zeichen des heraufdämmernden ›Frontenfrühlings‹ in der Schweiz zeugen zwar vom Aktualitätsbezug der Pfahlbauthematik auch bei Bührer. Sie sind für sich genommen allerdings nicht weiter aufregend. Irritierend ist allein der mehrdeutige Schluss des Stücks. Als Majola einsehen muss, dass sie sich in ihrem Sohn getäuscht hat und mit dessen Hilfe für ihr ikonoklastisches Unternehmen nicht rechnen kann, versucht sie, ihn durch die Preisgabe des Geheimnisses seiner illegalen Geburt der Rache der selbstgerechten Suisaner auszuliefern. Aber auch dieser Versuch scheitert: Majola: Er [Avanzan] hat die Schädelprobe … – Avanzan: Schweig! – Majola: … nicht bestanden. Wir haben dreimal durch die Prüfung ihn geschmuggelt, der Redigeiß und ich! Er ist dem Gott verfallen von Geburt! […] – Avanzan: Sie lügt! – Majola: So macht die Probe! […] – Avanzan: Verdammt! – Vexim: Ha, jetzt bist du am Ende! – Schütz jetzt den Götzen, schütz! Hei. Jetzt schlägt er dich! […] – Avanzan: (zum Götzen zurückweichend) Jaja, Ihr Leute hört, es ist schon so, so wie ihr sagt. Ich … meine … ja! Man muß natürlich, ja, der Vexim hat ganz recht. Seit ich zurückkam durch das End der Welt, ist eine neue Zeit. Und drum ist nur gerecht, ich meine nur, nicht wahr, wer diese neue Zeit ansagt, bestimme auch, nicht wahr … nun kurz und gut (er schlägt dem Volkswillsso das Schädelmaß aus den Händen) inskünftig liegt dies Rund in Gottes Hand und gibt Normalmaß für den Pfahlbauschädel! (Er hat seine Kopfbedeckung in des Gottes Hände gelegt.) (Die Menge ist erst verblüfft, dann lachen einige, dann immer mehr.) – Chorem: Heil Avanzan! – (Heilrufe) – Avanzan: (heimlich zu Majola) Was sagst du, Mutter? Sei jetzt still [!] Schließ einen Kompromiß, ’s ist immerhin ein Fortschritt. – Majola: Gebt einen Enzian

–––––––— 25

Ebd., unpaginiert.

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mir, mir wird übel! […] – Avanzan: »Heil Avanzan! […]« – Das hört auf, sag ich! […] – Rufe: Heil Avanzan, dem großen Reformator! (P, S. 55f.)

Dass Avanzans Anspruch auf Führerschaft von den Suisanern trotz Majolas Beteuerung, ihr Sohn hätte die »Schädelprobe« einst »nicht bestanden«, akzeptiert wird, kritisiert die Verführungsbereitschaft des helvetischen Durchschnittsbürgers. Dass dieser Anspruch indessen ein Akt der Notwehr ist, weil nämlich Avanzan seinen Kopf nur dadurch retten kann, dass er dem Gott das bisher gültige »Schädelmaß« aus den Händen schlägt und mit dem »Normalmaß« seiner eigenen Mütze vertauscht, setzt hinter die scheinbar niederen Motive des »großen Reformators« ein großes Fragezeichen. Die Hartnäckigkeit, mit der sich Avanzan die faschistoiden Huldigungen der Suisaner verbittet, qualifiziert ihn ebenso zum Inbegriff des ›rechtschaffen‹ Schweizerischen wie der faule »Kompromiß«, unter dem er seine Überlebensstrategie flugs als »Fortschritt« verkauft. Aus diesem moralischen Sumpf helfen auch die guten alten Alpen nicht heraus. Die rhetorische Anstrengung, mit der Majolas Stoßseufzer »Gebt einen Enzian mir, mir wird übel!« metonymisch auf diese rekurriert, ist deplatziert. Und die Verwirrung, die diese Rhetorik im syntaktischen rectus ordo stiftet – »Gebt einen Enzian mir« statt »Gebt mir einen Enzian« –, macht allein im Hinblick auf eine problematisierende Lektüre dieses Schlusses Sinn.26

*** An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hat das Pfahlbauthema in der Schweiz zwar nur wenig von seiner mythopoetischen Faszination eingebüßt.27 –––––––— 26

27

Selbst im Repertoire der klassischen Rhetorik ist ein solcher Verstoß gegen den rectus ordo, die ›normale‹ Wortfolge im Satz, nicht vorgesehen. Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart: Steiner 1990, S. 471 (§§ 952 und 953). Auch die rhythmische Lizenz (§ 935b; vgl. § 985), die mit Blick auf die (stellenweise) jambische Rhythmisierung von Bührers Dramentext allenfalls in Frage käme, entfällt in dieser Schlusspartie. Dies zeigt das Beispiel des ›Laténium‹, des am Ort der keltischen Siedlung von La Tène errichteten und 2001 eingeweihten Musée archéologique in Hauterive bei Neuchâtel mit seiner großen Pfahlbausammlung und seinen äußerst populären Freilichtrekonstruktionen. Auch die vom 17. Januar bis 23. April 2004 im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich gezeigte und rege besuchte Ausstellung zum 150jährigen Jubiläum der Pfahlbauforschung in der Schweiz verschrieb sich für ihre Vermittlungsaufgabe ganz dem Erzählen. Vgl. hierzu den Katalog: Die Pfahlbauer. 150 Objekte erzählen 150 Geschichten / Les Lacustres. 150 objets racontent 150 histoires. Zürich: Schweizerisches Landesmuseum / Musée suisse 2004. Dass die Pfahlbauer als Gegenstand der Kinder- und Jugendliteratur nicht ausgedient haben, belegt z.B. der 2005 bereits in zweiter Auflage erschienene Pfahlbauerroman von Irmgard Bauer: Feuer am See. Eine Geschichte aus der Bronzezeit. Gaggenau: Metz 1999. In dieser Erzählung über den Alltag in der Siedlung Zug-Sumpf in der Spätbronzezeit werden so aktuelle und sensible Themen wie Fremdenfeindlichkeit oder sexueller Missbrauch angeschnitten. Die Mehrdeutigkeit des Wortes »Sumpf« spielt freilich keine Rolle. Zu weiteren Publikationen aus diesem Segment vgl. Susanne Wiermann: »Rulaman« – der

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Seine identitätsbildende Energie jedoch scheint endgültig aufgebraucht, mindestens soweit diese diskursiv verhandelbar wäre – und eben kaum mehr verhandelt wird. Interventionen wie die Maquette [Abb. 12] der Schweizer Künstler Peter Fischli und David Weiss aus der 1980/81 in der Zürcher Galerie Stähli Abb. 12: Peter Fischli, David Weiss: Pfahlbauer, Maquette ausgestellten Lehmfigurenaus der Serie Plötzlich diese Übersicht Serie Plötzlich diese Übersicht sind wohl parodistisch gemeint, bleiben aber auch in der gleichnamigen Ausstellungspublikation bezeichnenderweise ohne Kommentar.28 Der zweifellos beste Indikator für diese Thematisierungsabstinenz ist die Planungs- und Informationspolitik rund um die sechste und vorläufig letzte Schweizerische Landesausstellung ›Expo.02‹ und ihr publizistisches Echo. Darüber, dass die vom 15. Mai bis 20. Oktober 2002 dauernde ›Expo‹ im Drei-Seen-Land an den Ufern des Bieler-, Neuenburger- und Murtensees und damit auf einem für die Schweizer Pfahlbauforschung historischen Terrain stattfand,29 und dass ihre so genannten ›Arteplages‹ zu einem guten Teil auf pfählernen Substruktionen aus Eisenbeton standen, wurde offizielles Stillschweigen bewahrt. Entsprechende Hinweise von Fachleuten in der Tagespresse aus der langjährigen Vorbereitungszeit des kapitalen Events verhallten ungehört;30 ebenso eine Reihe einschlägiger Anregungen aus einer 1997 lancierten Mitmachkampagne.31 Und auch auf die mythenkritische Aufarbeitung durch die akademische Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung –––––––—

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Harry Potter des 19. Jahrhunderts. Heutige Jugendromane über »Aimats« und »Kalats«. In: Ausstellungskatalog Rulaman der Steinzeitheld (Anm. 4), S. 91–94. Peter Fischli, David Weiss: Plötzlich diese Übersicht. Zürich: Galerie & Edition Stähli 1982 [unpag.]. Der einzige schriftliche Kommentar besteht in der unter der Photographie des Tonmodells angebrachten Titellegende »Pfahlbauer – Lake dwellers«. Vgl. Béat Arnold, Albert Hafner, Margot Maute Wolf, Michel Mauvilly, Ariane Winiger, Claus Wolf: Die Region der drei Seen – im Grenzraum zwischen Romandie und Deutschschweiz. In: Archäologie der Schweiz 27/2 (2004), S. 42–52. Marc Antoine Kaeser: L’expo 2001 [sic] renoue le mythe novateur de la Suisse lacustre. In: Le Nouveau Quotidien, Nr. 1180. 8.1.1996, S. 14; ders.: Wiederkunft eines fortschrittlichen Mythos. Wie archäologische Fakten die Landesausstellung vor dem Abgleiten ins Nostalgische retten könnten. In: Tages Anzeiger, Nr. 88, 16.4.1996, S. 2. Vgl. die Dokumentation von Roman Keller und Barbara Wiskemann (Hg.): Expomat. 1341 Projekte der Mitmachkampagne für eine Schweizer Landesausstellung / 1341 projets pour la campagne de participation à une Exposition nationale suisse. Zürich: Edition Patrick Frey/Scalo 2002, darin insbes. die Dossiernummern 1221: »Sculptures lacustres / PfahlSkulpturen« [sic], S. 167 (Pierre-Alain Morel, Villaz-St-Pierre); Nr. 3168: »PfahlbauerSkulptur«, S. 346 (Paul Brand, Oslo); Nr. 3874: »Vom Pfahlbauer zum Uhrmacher / Des sites lacustres à l’horlogerie«, S. 551 (Philipp Kind, Basel); Nr. 4048: »Le village lacustre/Das Pfahlbaudorf«, S. 559 (Blaise Parel, La Chaux-de-Fonds).

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Abb. 13: L/B – Sabina Lang, Daniel Baumann: Hotel Everland, Ansicht, 2002

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Abb. 14: L/B – Sabina Lang/Daniel Baumann, Hotel Everland, Visualisierung, 2006/2007

des Landes blieben sie, soweit ich sehe, ohne Wirkung.32 Dabei waren die Bezüge zum Pfahlbaumythos und seiner guteidgenössischen Geschichte noch in der gebauten ›Expo‹ mit Händen zu greifen. Dies zeigt etwa das Beispiel der Installation »Hotel Everland« des Burgdorfer Künstlerpaares Sabine Lang (*1972) und Daniel Baumann (*1967), ein mobiles Hotelzimmer, das während der ›Expo‹ tagsüber als Museum besucht und nachts individuell gemietet werden konnte [Abb. 13]. Als wäre es aus dem Kellerschen Pfahlbau-Idealbild geschnitten worden, besiedelte dieses für die ›Arteplage‹ in Yverdon-les-Bains entworfene Environment als postmoderner Mutant und Nachfahre von Vischers Pfahlbautraum über Pfahlbauten jene Stellen, wo die Wissenschaft einst seine hölzernen Vorbilder vermutet hatte. Seither nomadisiert die ephemere Phantasiekonstruktion durch die Weltgeschichte Mitteleuropas, lässt sich kurzfristig an spektakulären Orten nieder und kommt – so wollen es jedenfalls die Künstler und die mit der Amor–––––––— 32

Vgl. exemplarisch Stanislaus von Moos: Wet Dreams. Notizen zur Mythologie der Expo.02. In: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar 49/3 (2003), S. 198–208. Der Aufsatz wurde zuvor am prestigeträchtigen 9. Internationalen Bauhaus-Kolloquium in Weimar zum Thema »Medium Architektur« gehalten, an durchaus repräsentativer Stelle also. Auch in einem zweiten Beitrag lässt von Moos, der sich explizit um die unterschwellige politische Symbolik der erklärtermaßen ›unpolitischen‹ Expo.02 bemüht, jeden Hinweis auf diese Tradition vermissen. Vgl. ders.: Politische Architektur in der Schweiz. Die Macht des Ephemeren. In: Georg Kohler, Stanislaus von Moos (Hg.): Expo-Syndrom? Materialien zur Landesausstellung 1883–2002. Zürich: vdf Hochschulverlag 2002, S. 115–134, vgl. auch die Diskussion dazu, ebd., S. 249–258. Ähnlich unergiebig bleibt die Suche nach dem Pfahlbau-Vorbild in den offiziellen Dokumentationen zum Gesamtkonzept der Ausstellungsarchitektur. Vgl. hierzu exemplarisch ImagiNation. Das offizielle Buch der Expo.02. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2002. Die vom Directeur technique der Expo.02 Rudolf Rast herausgegebene, speziell der Expo-Architektur gewidmete offizielle Überblicksdarstellung vermeidet die Thematisierung des historischen Vorbildes selbst dort, wo sie – wie im Fall des modularen Hotels »Palafitte«, eines 5 km im Nordosten der Arteplage Neuchâtel platzierten Ensembles von 5-Sterne-Suites auf Holzpfählen über dem Wasser – buchstäblich auf der Zunge lag. Vgl. Rudolf Rast: Architecture Expo.02. Exposition nationale Suisse: concept, montage, démontage / Schweizerische Landesausstellung: Konzept, Realisierung, Abbau / Swiss national exhibition: concept, realization, dismantlement. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2003, S. 352f.

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tisierung des Objekts betraute Verwertungsgesellschaft –, schließlich dort an, wo 1889 seine vergessenen Vorläufer schon einmal gewesen waren: am Fuße des Pariser Eiffelturms, auf dem Dach des Palais de Tokyo [Abb. 14]. Das unverhoffte Wiedersehen mit dem Vergessenen, Verdrängten und längst tot Geglaubten ist auch das große Thema von Christian Hallers Roman Die besseren Zeiten, dem im Sommer 2006 erschienenen Schlussband einer Familiensaga, die Autor und Verlag zur »Trilogie des Erinnerns« erklärten.33 Nur scheinbar am Rande dieses Romans leistet Haller jene Erinnerungsarbeit, die den Pfahlbaumythos in seine alten Rechte als Geschichts- und Geschichtenkonstrukteur wieder einsetzt. Denn die Pfahlbauforschung, die der jugendliche Erzähler und Hobbyarchäologe zusammen mit seinem gleichgesinnten Freund Armin betreibt und die ihm von seinem unwirtlichen familiären Umfeld und einer zunächst interessierten und dann besserwisserischen scientific community madig gemacht werden, liefert die Schlüsselbilder für das, was diese Erinnerungsarbeit ins Werk setzt: für die literarische Arbeit selbst nämlich. Dem Ich-Erzähler sind die aus einer »Pfahlbausiedlung« »so alt wie die Pyramiden« gehobenen »Fundstücke«, die er im improvisierten Privatmuseum seines Kinderzimmers ausstellt, »›Hieroglyphe[n]‹ für Gefühle«. Ihre psychisch-libidinöse Energie ist nicht geringer als jene eines geheimnisvollen Gesichts auf einem ägyptischen Sarkophag im Naturkundemuseum, während die Autoritäten des in den 1950er Jahren grassierenden wirtschaftlichen Aufschwungs darin nur »unwissenschaftliches Zeugs« sehen (Z, S. 173f.). Dass die »Zeichen«, die der Erzähler darin erkennt, trügerisch sind, wird ihm wenig später von höchster Stelle auch wissenschaftlich attestiert. An der Jahresversammlung der Gesellschaft für Urgeschichte, zu welcher die beiden Jungarchäologen ehrenhalber eingeladen werden, zieht der Direktor des Schweizerischen Landesmuseums gegen den Dilettantismus der Pfahlbauforschung vom Leder, die »wie im 19. Jahrhundert« durch »sammelwütige Laien« betrieben würde, und rechnet auf Kosten der beiden »Schüler« mit der rufschädigenden Amateurwissenschaft ab (vgl. Z, S. 235f.). Sowenig sich die Vorstellung von Pfahlbauten als Fluchtburgen wissenschaftlich halten ließ, so »untauglich« erweisen sich die »urgeschichtlichen Forschungen« für den Jungen als »Schutz gegen die Willkür und die Heftigkeit der Wörter« in der Botmäßigkeit der diskursmächtigen Erwachsenen (Z, S. 225, 236f.). Der wirtschaftliche Verdrängungskampf, der den aus einer Industriellenfamilie stammenden Vater das Vermögen, die Lebensfreude und am Ende das Leben selbst kostet, erstickt in der Gestalt des Neureichen Hackler am Steuer einer Motorjacht auch die Träume des adoleszenten Sohnes: Ich aber wünschte mir, das Boot läge vor einer der berühmten Ufersiedlungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts bei einem tiefen Wasserstand entdeckt worden waren und durch die im Schlick aufgefundenen Pfähle zur Annahme führten, die Häuser müssten auf Rosten über dem Wasser gestanden haben, jener romantischen Vorstellung, die seit damals die Urgeschichte

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Christian Haller: Die besseren Zeiten. München: Luchterhand 2006. Zitatnachweise im folgenden im Text in Klammern mit Sigle (Z, Seitenangabe). Das Zitat entstammt dem vorderen Klappentext. Der Eröffnungsband der Trilogie erschien unter dem Titel Die verschluckte Musik. München: Luchterhand 2001, der Mittelteil trägt den Titel Das schwarze Eisen. München: Luchterhand 2004.

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prägte. Wie oft hatten Armin und ich uns ein Boot gewünscht, wenn wir in Stiefeln im Wasser standen, nie weiter als zwei, drei Schritte hinausgehen konnten, ahnten, dass eben dort an der Kante des Uferschildes, zwischen Schilf und Pfählen, die wunderbarsten Funde liegen mussten, für uns unerreichbar. Doch das Motorboot fuhr und fuhr, schnitt Wellen vom Kiel und zog eine Spur vom Heck, die erstarrte und erlosch, und der See blieb verschlossen mit gleißenden Reflexen und dunklem Wasser. (Z, S. 213f.)

Ironischerweise erschließt sich das unterdrückte Potential dieses Pfahlbautraums am Ende ausgerechnet durch die Verbindung mit dem Berg- und Alpenmythos – und durch die Spannung zur Begründungsgewalt des Worts.34 Die gefrorenen Spuren, die der Protagonist im Schnee des Gartens vor seinem Elternhaus entdeckt (vgl. Z, S. 22ff.) oder die er als Skiläufer gleichsam »an den Zeilen eines schmalen Buches entlang« fahrend selbst zieht (vgl. Z, S. 45ff., zit. 45) und die er wie der Jäger die »Siegel« des Wildes zu lesen versucht (Z, S. 22), diese Spuren legen sich palimpsestartig über jene erstarrte »Spur« hinter Hacklers Boot, die den Pfahlbausumpf unter der Wasseroberfläche des Bieler- und Neuenburgersees verschließt, auf dass dieser Sumpf endlich richtig interpretiert werde. Am Ende von Hallers Archäologie des Selbst und zugleich an ihrem Anfang steht im selben hermeneutischen und textgenetischen Koordinatennetz wie das Juragebirge konsequenterweise ein Relikt aus der Zeit der Pfahlbauer – ein »Steinwerkzeug« (Z, S. 275). Dieses Werkzeug sichert die Identität der Akteure und ihre Beziehungen untereinander freilich ebenso wenig wie die unzuverlässigen Wörter (vgl. Z, S. 207, 327, 266, 278). Es fordert vielmehr zur Arbeit an dieser Identität im Zeichen einer Literatur auf, die ihre Wörter und Geschichten im und durch den Akt des Schreibens fortwährend zur Tabula rasa macht. »Mutter«, so kommentiert der Erzähler deren Tod im vorletzten Kapitel des Romans, musste den weitesten Weg von uns allen gehen […]. [Sie] musste in der Menschheitsgeschichte tiefer hinabsteigen, zum Anfang des Lebens überhaupt. Und ihr Atem klang wie das Schaben eines Steinwerkzeugs auf Pergament, das, gleichmäßig kratzend, unaufhalt-

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Dieses Potential wird vom Erzähler an anderer Stelle explizit thematisiert. Im Anschluss an den Bericht von der Diskreditierung der eigenen Pfahlbauforschungen durch den »reformatorischen Eifer« des »gestrenge[n] Professor[s]« und »Direktor[s] des schweizerischen Landesmuseums« rehabilitiert sich der Erzähler retrospektiv durch den Hinweis auf die ungeheure Wirkung, die das »gehätschelte Idyll« vom Siedeln auf Pfählen durch die Vermittlung von Vordenkern wie Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright auf die moderne Architektur gehabt habe: »Auch die Pfahlbauer waren jetzt keine Pfahlbauer mehr […]. Doch die Pfahlbauten drängten mit ungeahnter Gewalt in die Moderne zurück, trotz Forschung und Theorie. Corbusier, der Rekonstruktionen von Pfahlbauten aus seiner Kindheit kannte, bezeichnete in seinem Entwurf der ›Boîte en air‹ 1928 die Betonpfeiler, auf die das Gebäude gestellt werden sollte, als ›Pfähle‹. Die Häuser sollten schweben, auch über dem Wasser wie Wright es mit ›Falling water‹ verwirklichte, und die Idee, den Baukubus von seinem Untergrund zu lösen, und damit die sechste Seite des Würfels sichtbar zu machen, fand weltweit so viel Nachahmung, dass in allen Städten die Regierungsgebäude, Verwaltungen, Bürohäuser, sogar Wohnblöcke auf Stützen gestellt wurden, die in ihren Ausmaßen immer größer, ja gigantisch wurden« (Z, S. 214f.). Zur architekturhistorischen Relevanz dieser These vgl. Adolf Max Vogt: Le Corbusier, der edle Wilde. Zur Archäologie der Moderne. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1996, der die Kenntnisnahme der Pfahlbautheorien durch den jugendlichen Le Corbusier und ihren Einfluss auf dessen Konstruktionsideal einer ›Boîte sur pilotis‹ überzeugend und anregend zugleich nachzeichnet.

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sam und in ordentlicher Vollständigkeit alle Schriftzeichen löscht – bis nur die schneeweiße Fläche bleibt. (Z, S. 274f.)

*** Will man aus den exemplarisch untersuchten Textzeugen eine vorläufige Bilanz ziehen, so lässt sich festhalten: Die literarischen Bearbeitungen helvetischer Pfahlbauermythen suggerieren, dass die eigentliche Kraft des Mythos in der Moderne und mithin auch seine Legitimität nicht in der Funktionalisierung im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel – etwa die nationale Identität – liegen können. Sie machen vielmehr Phänomene und Probleme zum Thema, welche sich im Rücken dieser Zielvorgabe entwickeln. Friedrich Theodor Vischer pointiert am Pfahlbauerideologem der jungen Confoederatio helvetica das Reflexionspotential und den Reflexionsbedarf solcher Konstrukte, die ohne diese Reflexion blinde Fenster in eine ebenso phantastische Vergangenheit wie in eine verhängnisvolle Zukunft bleiben müssen. Jakob Bührer kritisiert im schweizerischen Pfahlbauerdiskurs um 1930 unbedachte Spiegelungen der faschistischen Biologisierung dieses Diskurses, die noch die entschiedenste Gegenrede zu einem Verstärker einer menschenverachtenden Sprachpolitik machen. Christian Haller schließlich exemplifiziert an der in der mythenskeptischen Gegenwart für nichtig erklärten und gleichwohl nicht mundtot zu machenden Legende pfahlbauender Urschweizer das Funktionieren des Mythos als solches und damit eine Produktionsformel von Literatur schlechthin: den für die literarische Sinngebung konstitutiven Sinnentzug und also den Motor allen Erzählens.

Abbildungsnachweise Abb. 1 Paul Jamin: Le Rapt à l’âge du bronce, um 1880. Öl auf Leinwand, 188 x 321 cm. © Musée SaintRemi, Reims. Abb. 2 [Künstler/Stecher unbekannt]: Jagdszene vor Pfahlbauten am Fuß der Alpen. In: Jules Gourdault: La Suisse, études et voyages à travers les 22 cantons. 2 Bde., Paris: Hachette 1879–1880, Bd. 1, S. 66. © Zentralbibliothek Zürich. Abb. 3 Ferdinand Keller: Die keltischen Pfahlbauten in den Schweizerseen. In: Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 9/3 (1856), S. 65–100, Taf. 1, Fig. 4. © Zentralbibliothek Zürich. Abb. 4 Rodolphe-Auguste Bachelin: Idealbild einer vorgeschichtlichen Pfahlbausiedlung in einem Schweizer See, 1867. Öl auf Leinwand, 148 x 249 cm. Zürich, Schweizerisches Landesmuseum. © Schweizerisches Landesmuseum / Musée suisse.

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Abb. 5 Pfahlbauerdorf an der Exposition universelle 1889 in Paris, zeitgenössischer Stahlstich. In: Louis Rousselet: L’exposition universelle de 1889. Paris: Hachette 1890, S. 263. Abb. 6 [Photograph unbekannt], Die Pfahlbauten im Bally-Park, Schönenwerd, mit Vertretern der vierten Generation der Fabrikantenfamilie, Photographie, um 1895. Abb. nach: Philipp Abbegg, Georges Bürgin, Samuel Rutishauser, Matthias Stocker: Industrieensembles und Parkanlage ›Bally‹ in Schönenwerd, Bern: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK 2005, S. 42. Abb. 7 Albert Anker: La femme lacustre / Die Pfahlbauerin (1. Fassung), 1873. Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm. © Musée des Beaux-Arts, La Chaux-de-Fonds. Abb. 8 [Photograph unbekannt]: Groupe de lacustres de l’âge de la pierre, Cortège historique à Neuchâtel, 1882. Zeitgenössische Photographie, Schweizerisches Landesmuseum, Zürich. Abb. nach: www.diepfahlbauer.ch, Presse-Bilder zur Ausstellung »Die Pfahlbauer. 150 Objekte erzählen 150 Geschichten / Les Lacustres. 150 objets racontent 150 histoires«. Zürich, Schweizerisches Landesmuseum, Musée suisse, 17. Januar bis 23. April 2004 (Zugriff am 12.10.2006). Abb. 9 [Photograph unbekannt]: Pfahlbaugruppe am Fasnachtsumzug in Rorschach/ SG, 1889. Zeitgenössische Photographie. © Museum im Kornhaus (ehem. Heimatmuseum), Rorschach. Abb. 10 »Prüfen der Waffen«, Standaufnahme aus dem Ufa-Kulturfilm Natur und Liebe, Deutschland 1926/27. Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen (Postkarte). © Pfahlbaumuseum Unteruhldingen. Abb. 11 [Photograph unbekannt]: Freilichtmuseum Unteruhldingen als Palisadendorf (Fluchtburg), April 1944. Zeitgenössisches Photographie, Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen. Abb. nach: Günter Schöbel: Museumsgeschichte der Pfahlbauten von Unteruhldingen. Teil 1: 1922 bis 1949. Unteruhldingen: Pfahlbaumuseum 2001, S. 83. Abb. 12 Peter Fischli, David Weiss: Pfahlbauer. Maquette aus der Serie Plötzlich diese Übersicht, Galerie Stähli, Zürich-Enge, 1980/81. Abb. nach: www.diepfahlbauer.ch (wie Abb. 8). Abb. 13 L/B – Sabina Lang, Daniel Baumann: Hotel Everland, Ansicht, 2002 in Yverdon-les-Bains (Expo.02), Photographie. © L/B. Abb. 14 L/B – Sabina Lang/Daniel Baumann: Hotel Everland, Visualisierung, 2006/2007 in Paris (Palais de Tokyo), Photomontage. © L/B.

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Der Rote Pfeil oder Die bewegte Nation Vom literarischen Mehrwert der Eisenbahn bei Peter Bichsel und Peter Weber1 Für Johann Jakob Sorg Der Zug hatte sich bei diesem angenehmen Wetter zwischen den Alpen und dem Jura fortzubewegen, an reichen Dörfern und kleineren Städten vorbei, später an einem Fluß entlang, und tauchte denn auch nach noch nicht ganz zwanzig Minuten Fahrt, gerade nach Burgdorf in einen kleinen Tunnel. Friedrich Dürrenmatt

1. Vom epochalen Ereignis zum Spielzeug 1992 erscheint von Peter Bichsel – in der Schweizer Illustrierten – eine Kolumne, die vom »Roten Pfeil« handelt: Im Schaufenster eines Spielwarenladens habe ich einen »Roten Pfeil« gesehen. Ich betrachtete ihn lange, hatte irgendwie das Gefühl, daß ich etwas mit ihm zu tun hätte, daß er – der Rote Pfeil – etwas mit meiner Biografie zu tun hätte, und ich hätte eigentlich Lust gehabt, Passanten anzuhalten und ihnen mitzuteilen: »Schauen Sie mal – ein Roter Pfeil.« Und ich hätte mit dem Finger darauf gezeigt, und sie hätten einen kleinen roten Eisenbahntriebwagen gesehen mit zwei eleganten Nasen vorn und hinten, und der wäre sicher den Jüngeren als nichts anderes erschienen als eben so etwas wie ein Oldtimer für Modelleisenbahnfans.2

Diese Szene, es ist der Anfang des Textes, umschreibt, was im Folgenden zur Debatte steht: Die Schweizer sind nicht nur Weltmeister im Zugfahren,3 sondern pflegen auch ein sentimentales Verhältnis zu ihrer Eisenbahn und allem, was dazu gehört.4 Und es ist dies eine Emphase, aus der die Literatur Kapital zu schlagen –––––––— 1 2

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Dieser Beitrag erschien bereits in der Zeitschrift für Germanistik 17/1 (2007), S. 155–175; für die Neupublikation wurde er überarbeitet und geringfügig ergänzt. Peter Bichsel: Churchill und Onkel Jules. In: P.B.: Kolumnen, Kolumnen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 434–436, hier S. 434. Für Hinweise und Anregungen danke ich herzlich Rudolf Altrichter, Michael Angele, Lucas Marco Gisi, Jan Loop, Michel Mettler, Brigitte Peters, Erhard Schütz und Peter Utz. Vgl. Mathias Plüss: Bahnsinnige. In: Weltwoche, Nr. 17, 27.4.2006, S. 99; laut der vom Verfasser verwendeten Statistik sind es 1804 gefahrene Kilometer pro Einwohner und Jahr; am zweitmeisten fahren die Weißrussen mit 1318 Kilometern pro Einwohner und Jahr; die Deutschen liegen mit 871 Kilometern auf Rang zehn. Ein Höhepunkt sentimental-melancholischer Eisenbahn-Poesie helvetischer Provenienz ist Mani Matters berndeutsches Chanson Ds Lied vo de Bahnhöf von 1969, das in der Schweiz Volkslied-Status hat. Vgl. Mani Matter: Ds Lied vo de Bahnhöf. In: M.M.: Us emene lääre Gygechaschte. Berndeutsche Chansons. 3. Aufl. Bern: Kandelaber 1970, S.56f., und M.M.: Ir Ysebahn. In: M.M.: Warum syt dir so truurig? Berndeutsche Chansons. Zürich, Köln: Benziger 1973, S.8.

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weiß – im übertragenen Sinn, aber immer wieder auch ganz buchstäblich, etwa dann, wenn zum UNESCO-Welttag des Buches 2007 in der ganzen Schweiz als Lesegeschenk ein Heftchen mit einer »transsibirischen Geschichte« von Peter Bichsel verteilt wird, die mit den Worten »Ich mag Bahnhöfe […]« anhebt.5 Die Anfänge der Wechselwirkung von Literatur und Eisenbahn reichen zurück in die Zeiten, als letztere wie nichts sonst den Fortschritt verkörperte, da sie nicht nur Handel und Industrie, sondern auch die Herausbildung der Nationalstaaten beflügelte.6 Literarischen Niederschlag fand dies etwa in Gottfried Kellers Martin Salander (1886). Kellers letzter Roman thematisiert, wie der Wirtschaftsliberalismus im Begriff ist, der freisinnigen Politik, die zum Bundes-staat von 1848 geführt hatte, den Rang abzulaufen. Kellers ästhetische Abrechnung mit den Verhältnissen seiner Zeit ist als klassische Rückkehrer-Geschichte angelegt. Sie nimmt ihren Anfang dort, wo der Held einst das Weite gesucht hatte: am Bahnhof einer kleinen »helvetischen Stadt«.7 So neu und verwandelt ist inzwischen alles, dass Salander sich bei seiner Rückkehr erst einmal orientieren muss: [D]iese Straßenanlagen [waren] schon nicht mehr die früheren neuen Straßen, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand.8

Diese Exposition weist dem weiteren Verlauf von Kellers literarischem Vermächtnis die Richtung. Der Bahnhof dient als Leitmotiv, und ebenso wie »das ganze Ländchen überall von den Schienenwegen durchzogen« ist,9 ist es der Text. Die Eisenbahn erscheint als eine Triebfeder der Entwicklung und steht insgesamt für den Fortschritt, für die dämonisch um sich greifende, alles tangierende Merkantilisierung. Als Salander etwa zufällig seinen besten Freund von früher trifft und der ihn erstaunt fragt, ob er denn wieder im Lande sei, lautet die Antwort: »Soeben komm ich vom Bahnhof!« Worauf der andere ausruft: »Was du sagst! Ich komme doch auch daher, trinke alle Tage meinen Kaffee dort und sehe, wer abgeht und ankommt, und habe dich nicht bemerkt!«10 Werden die Bahnhöfe im 20. Jahrhundert dann zu –––––––— 5 6

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Peter Bichsel: Meine Reisen zu Cordes. Eine transsibirische Geschichte. Mit Bildern von Hannes Binder. Zürich: Buchlobby Schweiz 2007. Zur Eisenbahn als literarischem Motiv gibt es diverse einschlägige Textsammlungen; vgl. etwa: Günter Stolzenberger (Hg.): Eisenbahngeschichten. Ein literarisches Lesebuch. Frankfurt/M.: Deutscher Taschenbuch Verlag 2003; Markus Krause (Hg.): Poesie & Maschine. Die Technik in der deutschsprachigen Literatur. Köln: Kösler 1989; Ralf R. Rossberg (Hg.): Vom Reiz der Eisenbahn. Künzelsau, etc.: Sigloch Edition 1979. Vgl. auch Klaus Beyrer: »… Fazilitäten der Kommunikation«: Die Eisenbahn. In: Literatur im Industriezeitalter. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. 2 Bde., Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1987, Bd. 1, S. 69–94 (= Marbacher Kataloge 42/1, 42/2). Gottfried Keller: Martin Salander, mit einem Nachwort von Peter Bichsel. München, Wien: Nagel & Kimche 2003, S. 5. Ebd. Ebd., S. 151. Ebd., S. 13.

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»Knotenpunkte[n] des Wartens«,11 so erscheint der Ort in Kellers Romans als »Bild des rastlosen Lebens«.12 Und am Ende des Romans wird die Klammer geschlossen. Da heißt es über Salanders Gegenspieler Wohlwend, dessen Spekulationswut dem integren Helden zum Verhängnis wird, man habe ihn »auf dem Bahnhofe gesehen, wie er mit Weibern, Kisten, Koffern und bösen Blicken erschienen und mit einem Blitzzuge abgefahren sei«.13 Das ist die zeitgemäße Art, eine ungeliebte Figur zum Teufel zu jagen.14 Natürlich war Keller nicht der Erste, der es unternahm, der symbolischen Macht der Eisenbahn einen literarischen Mehrwert abzugewinnen. Dabei war die ursprüngliche Wirkung der Züge viel unmittelbarer und von geradezu revolutionärer Tragweite gewesen.15 Das erweist ein Beitrag, der 1843 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschien, unter dem lakonischen Titel Industrie und Kunst. Verfasst hatte ihn kein geringerer als Heinrich Heine, der seit 1831 bis zu seinem Tod 1856 im Pariser Exil lebte und dort deutschen Blättern als Korrespondent diente: Aber die Zeit rollt rasch vorwärts, unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen, und die abgenutzten Helden der Vergangenheit, die alten Stelzfüße abgeschlossener Nationalität, […] werden wir bald aus den Augen verlieren. Die Eröffnung der beiden Eisenbahnen, wovon die eine nach Orleans, die andere nach Rouen führt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet […]. Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem anderen den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, daß unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird […]. So muss unsern Vätern zumut gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch die ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providencielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt […]; es beginnt ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte, und unsere Generation darf sich rühmen, daß sie dabei gewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die

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Peter Utz: Aus dem Warten heraus. An die Bahnhöfe der Schweizer Literatur grenzt das Meer. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur in der Schweiz. München: Edition Text + Kritik 1998, S. 111–120, hier S. 112. Keller: Martin Salander (Anm. 7), S. 172. Ebd., S. 370. Bezeichnend auch die Stelle, wo das Gehen dem Bahnfahren gegenüber gestellt wird: »Er [Martin Salander] verließ das Haus und das ansehnliche Dorf, ohne weiter jemand zu sehen, und anstatt die Bahn zu benutzen, auf welcher er gekommen, schlug er einen Fußweg ein, der quer durch Felder und Wälder nach Münsterburg führte. Auf diesem einsamen Gange konnte er überlegen, inwiefern es nicht nur für den höheren Staatsmann, sondern auch für den Volksmann zweckmäßig sei, moralische Aufrichtigkeiten zu unterdrücken.« (Ebd., S. 98). Vgl. dazu die nach wie vor grundlegende Darstellung von Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert [1977]. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993.

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Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! […] Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.16

Heines Prophezeiung, dass die Eisenbahn die kantischen a priori von Raum und Zeit außer Kraft setze und ein neues Zeitalter der Simultaneität und Virtualität einläute, das auf eine allgemeine ›Ortlosigkeit‹ hinausläuft, hat sich ebenso bewahrheitet wie Kellers Einsicht, dass der springende Punkt der Moderne die Mobilität sei. Die Eigendynamik des Verkehrs und Transfers setzt sich über die politischen Werte, denen sie sich ursprünglich verdankt, hinweg.17 Im Laufe der Zeit tritt die revolutionäre Dimension des Phänomens mehr und mehr zurück, und das Trauma des ersten Eindrucks weicht der geregelten Produktivität der neu etablierten Wahrnehmungsmuster. Erscheint das Eisenbahnwesen bei Heine als ein punktuelles Ereignis, das in die bestehende Welt einfällt, um sie auf den Kopf zu stellen, so hat es bei Keller alles Außerordentliche verloren und repräsentiert den globalen Normalzustand. Um 1900 dann tritt man dem Phänomen dezidiert gelassen und ironisch gegenüber. Der Bahnhof sei »das lebhafteste und schönste Schauspiel der Welt« und ziehe allerhand »Müßiggänger« an: »Für Stellenlose und alle die verschiedenen Sorten Tagediebe, die das heutige industrielle, künstlerische und kommerzielle Leben und Treiben bisweilen aufs Pflaster setzt, sind Bahnhöfe und der Anblick von abfahrenden und ankommenden Zügen ein Ideal«.18 Der das schreibt, ist Robert Walser, jener Autor, der eigentlich für seine Wanderungen und Spaziergänge bekannt ist, der sich aber in den paar Prosastücken, in denen er sich zur Eisenbahn vernehmen lässt, als ein wahrer Kenner der Materie erweist.

2. Das Zugpferd der Nation Aus den ersten Schweizer Eisenbahnlinien, bei deren Bau ab den 1840er Jahren Zufall und Willkür im Spiel waren, erwuchs bald ein Netz, dessen Verdichtung gezielt und planmäßig verlief.19 Entscheidend war, dass die Eisenbahn keineswegs nur von wirtschaftlich-ökonomischen, sondern in hohem Maß auch von politischen Entscheidungen abhing. Nicht nur die Metropolen und Zentren wurden –––––––— 16

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Heinrich Heine: Lutetia. In: H.H.: Sämtliche Schriften. Bd. 9. Schriften 1831–1855. Hg. von Karl Heinz Stahl. Frankfurt/M, Berlin: Ullstein 1981, S. 217–548, hier S. 448f.; der Text datiert vom 5.5.1843 und fand 1854 als Teil der Lutetia Aufnahme in den dritten Band der Vermischten Schriften. Über die Interferenzen von modernem Verkehr und Politik vgl. Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie [1977]. Aus dem Franz. von Ronald Voullié. Berlin: Merve 1988. Robert Walser: Etwas über die Eisenbahn [1907]. In: R.W.: Feuer. Unbekannte Prosa und Gedichte. Hg. von Bernhard Echte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 17–22, alle Zitate S. 17. Vgl. Hansrudolf Schwabe, Alex Amstein (Hg.): 3 x 50 Jahre. Schweizer Eisenbahnen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Basel: Pharos-Verlag 1997.

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miteinander verbunden, sondern – entsprechend der föderalistischen Doktrin – auch die Landesteile und Regionen; die erste elektrische Vollbahn Europas etwa zirkulierte ab 1899 zwischen Burgdorf und Thun. Das Verlegen von Schienen auch in die Winkel des Landes war Infrastrukturpolitik avant la lettre, wodurch sich Schritt für Schritt etablierte, was heute ›Grundversorgung‹ heißt. 20 Aus der ›Eisenbahnfrage‹ des 19. Jahrhunderts erwuchs die Vorstellung eines staatlich geregelten öffentlichen Verkehrs, der neben partikularen Interessen auch dem Land bzw. dem Staat als Ganzem zu dienen hatte. Zudem war das Eisenbahn- und Industriewesen in hohem Maß personalisiert. In der Frage engagierten sich nicht nur so schillernde Pioniere wie Alfred Escher, der ›Eisenbahnkönig‹ und ›Zar von Zürich‹, Begründer von ETH, Gotthardtunnel, Credit- und Rentenanstalt, an dessen interdisziplinärem Wirken das ganze Land Anteil nahm,21 sondern auch Tausende von Parlamentariern und Lokalpolitikern, die neben den Interessen ihrer Regionen auch die Aktionäre der neu gegründeten Eisenbahn-Gesellschaften vertraten.22 Einen Meilenstein bedeutete dann die Verstaatlichung der Bahnen.23 Die 1902 gegründeten SBB wurden damit über Nacht zum größten Arbeitgeber des –––––––— 20

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Der früheste Nachweis des Begriffs ›Infrastruktur‹ »lässt sich bisher auf 1875 datieren, wenngleich er zunächst nur als Fachbegriff im Gleisbau Verwendung fand. Damit ist der Begriff der Infrastruktur von Anfang an primär an die Verkehrstechnik und insbesondere die Eisenbahn gekoppelt.« Dirk Rose: Peripherie und Perspektive. Infrastrukturgeschichtliche Überlegungen zu Liliencron und Bölsche. In: Zeitschrift für Germanistik 15/2 (2005), S. 311–326, hier S. 315; vgl. dazu: Dirk van Laak: Der Begriff »Infrastruktur« und was er vor seiner Erfindung besagte. In: Archiv für Begriffsgeschichte XLI (1999), S. 280–299; Dirk van Laak: Infra-Strukturgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367–393. Zur Frühgeschichte der Infrastruktur in Deutschland vgl. Rainer Fremdling: Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840–1879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur. Dortmund: Gesellschaft für westfälische Wirtschaftsgeschichte 1985 (= Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 2); zur spezifisch schweizerischen Entwicklung vgl. David Gugerli (Hg.): Allmächtige Zauberin unserer Zeit. Zur Geschichte der elektrischen Energie in der Schweiz. Zürich: Chronos 1994; Stanislaus von Moos: Bahn, Zeit, Architektur. Notizen zu einer Typologie des Hybriden. In: Monika Burri, Kilian T. Elsasser, David Gugerli (Hg.): Die Internationalität der Eisenbahn 1850–1970. Zürich: Chronos 2003, S. 47–69 (= Interferenzen 7); Stanislaus von Moos: Nicht Disneyland. Und andere Aufsätze über Modernität und Nostalgie. Zürich: Scheidegger & Spiess 2004. Vgl. dazu das neue Standardwerk von Joseph Jung: Alfred Escher, 1819–1882. Der Aufbruch zur modernen Schweiz. 4 Bde. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2006. Die Eisenbahngesellschaften gaben Anlass zu fundamentalen Diskussionen und stellten eine konzeptionelle Herausforderung dar, denn ihre hochkomplexen Systeme waren mit herkömmlichem Organisationswissen nicht zu bewältigen; vgl. Andreas Balthasar: Zug um Zug. Eine Technikgeschichte der Schweizer Eisenbahn aus sozialhistorischer Sicht. Basel, etc.: Birkhäuser 1993, S. 80–91. Beschlossen wurde sie 1898. Das Eisenbahngesetz von 1852 hatte die Diskussion über ein Staatsbahnensystem zugunsten von privaten Eisenbahngesellschaften unter Oberaufsicht der Kantone vorerst beendet gehabt; vgl. dazu Heinz von Arx: Der Kluge reist im Zug. Hundert Jahre SBB. Zürich: AS-Verlag 2001, S. 67–78. Zur Entwicklung der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz vgl. Reto Sorg, Osamu Okuda: »Die satirische Muse«. Hans Bloesch, Paul Klee und das Editionsprojekt »Der Musterbürger«, Zürich: zip 2005, S. 150–156, S. 164–169 (= Klee-Studien 2).

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Landes. Der Verstaatlichung voraus gegangen war ein Abstimmungskampf, in dem die Massenmedien erstmals heutige Breitenwirkung erzielten und den die Befürworter mit der Parole »Die Schweizer Bahnen dem Schweizer Volk!« am Ende überraschend deutlich für sich entschieden.24 Es ist die über Jahrzehnte hinweg brennende Eisenbahnfrage gewesen, die in der Schweiz das befördert hat, was man heute ›Öffentlichkeit‹ nennt. Neben der Politisierung und Personalisierung war es die spezielle helvetische Topografie gewesen, die dafür sorgte, dass die Eisenbahn in der Schweiz zu einem nationalen Mythos wurde. Weder legte die Kleinräumigkeit besonders dringlich ein dichtes Verkehrsnetz nahe, noch war das zerklüftete Land dafür prädestiniert, von Bahnen durchfahren zu werden. Zwar wurden die Strecken nicht wider jede Vernunft gebaut, aber es ist nach wie vor unglaublich, dass nicht nur jede Stadt, sondern auch fast jeder zweite Gipfel erschlossen ist. Die unausweichliche Dialektik von zunehmenden technischen Möglichkeiten einerseits und wachsendem Bedürfnis nach ›Natur‹ andererseits stach kritischen Geistern wie Robert Walser schon früh ins Auge: Wo heute Natur ist, sind auch Eisenbahnen. Es gibt bald keinen Koloß von Berg mehr, den man nicht bereits angefangen hat, für den Verkehr und die Zivilisation und für den Genuß zu durchstechen. Drahtseilbahnen gibt’s die liebe Menge, und das alles ist gut, denn es setzt Hände und Geister in wohltuende Bewegung.25

Die Bezwingung der Alpen, die damals mit Werken wie dem Gotthard-Tunnel und der Jungfraujoch-Bahn bewies, wozu die Technik in der Lage war, zählt in der Universalgeschichte des Verkehrs zu den ›Weltwundern‹. Neben der Transsibirischen Eisenbahn und der Eroberung des Wilden Westens durch das Feuerross gehörte sie zum Eindrücklichsten, was die Ingenieurskunst zu bieten hatte.26 Die Pioniere erfuhren auch Widerstand, was die Publizität der Projekte noch erhöhte. Erinnert sei an Ernest Bovet aus Lausanne, Herausgeber der Kulturzeitschrift Wissen und Leben und Begründer des Schweizerischen Heimatschutzes, der 1907 mit einem nationalen Aktionskomitee dazu beitrug, dass das Matterhorn von einer Gipfelbahn verschont blieb.27 –––––––— 24

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Sie wurde zum geflügelten Wort und kursiert noch Jahre später; vgl. etwa das SBB-Büchlein auf die Landesausstellung 1939. Bern: Publizitätsdienst der Schweizerischen Bundesbahnen 1939, S. 13, 20. Walser: Etwas über die Eisenbahn (Anm. 18), S. 21f. Noch in Sergio Leons Western-Klassiker C’era una volta il West (1968) bleibt die nahezu mythologische Kraft der Eisenbahn ungebrochen: Der Film beginnt mit der legendären Ankunftsszene des Helden auf dem einsamen Bahnhof, und er endet mit dem Blick über das Bahntrassee, das rastlos Richtung Westen vorangetrieben wird. Peter Utz: Anspruchsvolle Anstrengungen helvetischer »Kulturträger«. Die Anfänge der schweizerischen Kulturzeitschrift Wissen und Leben«. In Ulrich Mölk (Hg.): Europäische Kulturzeitschriften um 1900 als Medium transnationaler und transdisziplinärer Wahrnehmung. In Zusammenarbeit mit Susanne Friede. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 93–112, S. 94. Carl Spitteler hingegen, infolge eines Reitunfalls leicht gehbehindert, was ihm das Bergwandern erschwerte, trat ein paar Jahre zuvor als Befürworter der Jungfraubahn in Erscheinung. Vgl. Carl Spitteler: Berg [= Kommentar zu Der Gotthard]. In:

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Die maschinelle Erschließung repräsentiert in der kontinuierlichen Aufwertung dieser einst wüsten und unbeachteten Gegend hin zum Kerngebiet schweizerischer Identität einen neuen Höhepunkt. Johann Jacob Scheuchzer und Albrecht von Haller hatten die exponierte Weltgegend einst in aufklärerischdidaktischer Absicht ins Bewusstsein gehoben,28 das wahre imaginäre Potential aber kam erst zum Vorschein, als die Berge allgemein zugänglich wurden. Am Anfang des 19. Jahrhunderts standen die Erhabenheit suchenden Individualtouristen, an seinem Ende die Züge voller Wandergruppen und Schulklassen. Die ›Entdeckung der Alpen‹ wird zu einem Vergnügen der Massen.29 1935 dann taucht der Rote Pfeil auf, jene leichte Triebwagenkomposition RBe 2/4, die zum Nonplusultra der Schweizerischen Bundesbahnen werden sollte.30 Kaum in Gebrauch, kannte ihn jedes Kind. Seine Rarität, die »gänzlich neuen Geschwindigkeitsbegriffe« und die auffällige Signalfarbe machten ihn über Nacht zur Ikone des nationalen Fortschritts.31 Bereits im folgenden Jahr erscheint das Jugendbuch Der Rote Pfeil (1936), in dem drei Freunde mit besagtem Gefährt »eine Reise rund um [ihr] Land« unternehmen.32 Nach getaner Fahrt sind sie »stolz und fühlten sich als Schweizer, die so etwas Rassiges zustande gebracht hatten wie diesen ›Roten Pfeil‹«.33 – Kaum –––––––—

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C.S.: Gesammelte Werke. Hg. von Gottfried Bohnenblust et. al. Zürich, Stuttgart: Artemis 1958, Bd. 10/II, S. 437–468, hier S. 437. Vgl. Uwe Hentschel: Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850. Tübingen: Niemeyer 2002 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 90). Vgl. Jean-François Bergier, Sandro Guzzi: La découverte des Alpes, La scoperta delle Alpi, Die Entdeckung der Alpen. Basel: Schwabe 1992 (= Itinera 12/1992); Claude Reichler: Entdeckung einer Landschaft. Reisende, Schriftsteller, Künstler und ihre Alpen [2002], aus d. Franz. von R. Schubert. Zürich: Rotpunktverlag 2005; Guy P. Marchal, Aram Mattioli (Hg.): Erfundene Schweiz. Konstruktion nationaler Identität. La Suisse imaginée. Bricolages d’une identité nationale. Zürich: Chronos 1992 (= Clio Lucernensis 1). Ab 1938 wurde die schnellere Variante RAe 4/8 gebaut, die später als ›Churchill-Pfeil‹ bekannt wurde, da Winston Churchill anlässlich eines Staatsbesuches im Frühherbst 1946 in dem Fahrzeug durch die Schweiz reiste; vgl. Hans G. Wägli: Die Roten Pfeile der SBB [zweiseitiges Informationsblatt], o. O. [Bern], 17.5.1997 [Signatur in der Infothek der SBB in Bern: SBB 3. 9933] u. LOKI Spezial 21 (2002): Faszination Roter Pfeil. Die berühmten Leichttriebwagen der SBB. Zur Baugeschichte vgl. Kaspar Vogel: Die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik 1871–1997. Luzern: Minirex 2003. Ein Grund für die Entwicklung des schnellen und kostengünstigen Roten Pfeils bestand in der zunehmenden Konkurrenz durch das Auto, insbesondere im Regionalverkehr; vgl. Heinz von Arx: Der Kluge reist im Zug. (Anm. 23), S. 104–106. Die Schweizerischen Bundesbahnen unterhalten eine »Stiftung historisches Erbe der SBB«; das erste Bild auf deren Homepage zeigt den Roten Pfeil; vgl. www.sbbhistoric.ch (Zugriff am 22.7.2008). Walter Ingold: Der Rote Pfeil. Ein Jugendbuch der Gegenwart. Illustr. von Bernhard Reber [u. mit 24 s/w Fotografien auf Tafeln]. Bern: Francke o. J. [1936], S. 63. Anfänglich betrug die Höchstgeschwindigkeit der Komposition 80 km/h. Ebd., S. 55. Ebd., S. 63. Einer der Höhepunkte des Buchs ist ein Flug-Traum, in dem einer der Knaben sich vorstellt, wie er mit dem Roten Pfeil »über die Erde hinaus in den freien Himmelsraum« gelangt. Das Vehikel nimmt »zuletzt riesenhafte Dimensionen« an, landet auf dem Mond und auf der Sonne, wo die Gefährten um Energie für ihr vom »Touristenverkehr«

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auf den Schienen, hat der Rote Pfeil als neues ›Paradepferd‹ das ebenso legendäre Krokodil abgelöst,34 jene düster martialische Güterlokomotive Ce 6/8, die seit den zwanziger Jahren rund um die Uhr die Rampen der Alpentransversalen hinauf und hinunter kroch. Die schlagende Kombination von Fortschrittsglauben und nationaler Identität, die der Rote Pfeil repräsentierte, trug bald auch das Ihre zur schweizerischen Selbstbehauptung bei.35 Die Symbolwirkung gipfelte darin, dass der Künstler und Grafiker Hans Erni die Triebwagenkomposition zum Mittelpunkt des allegorisch angelegten Wandbildes erhob, das er für die Schweizerische Landesausstellung von 1939 anfertigte.36 Erni war 1937 von der Schweizerischen Zentrale für Verkehrsförderung beauftragt worden,37 für die ›Landi‹ die Rückwand des Tourismus-Pavillons in Luzern zu bemalen. Das Auftragsthema legte auch gleich den Bildtitel fest: Die Schweiz, Ferienland der Völker. Unglaubliche 6,5 x 110 Meter maß das Bild am Ende. Wie kein anderes Werk offenbart es die herausragende Bedeutung des Verkehrswesens für das Selbstverständnis der modernen Schweiz. Angelegt als –––––––—

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(alle Zitate: ebd., S. 149) abhängiges Land Schweiz bitten, fliegt von dort weiter zum Saturn, um schließlich zur Erde zurückzukehren. – An der großen Popularität des Roten Pfeils konnte auch die schon nach damaligen Gesichtspunkten eher verunglückte Formgebung nichts ändern; vgl. dazu von Stanislaus von Moos: Industrieästhetik. Disentis: Pro Helvetia/Desertina Verlag 1992, S. 204ff. (= Ars Helvetica XI); Claude Lichtenstein, Franz Engler (Hg.): Stromlinienform. Streamline. Aérodynamisme. Aerodinamismo. Zürich: Museum für Gestaltung/Lars Müller 1992. Die Bezeichnung geht auf die Baureihen SBB Ce 6/8 II (1921–22) und SBB Ce 6/8 III der SBB zurück, die für Güterzüge insbesondere auf der Gotthardstrecke entwickelt wurden. Um die nötige Größe in den engen Kurven fahrbar zu machen, wurde der Wagenkasten dreigeteilt und beweglich verbunden: Die zwei kleineren Vorbauten mit den Antriebsachsen und Motoren sind mit einem Gelenk fest an den Mittelteil gekuppelt, der Führerstand und Transformator enthält. Ihren Namen erhielten die mehrheitlich grünen Lokomotiven wegen der durch die rotierenden Kuppelstangen verursachten leichten Schlingerbewegungen, die an den Gang eines Krokodils erinnern. von Moos: Industrieästhetik (Anm. 33), S. 204ff. In den Darstellungen der Zeit ging Ernis monumentales Werk, bei dem es sich um eines der größten Wandbilder überhaupt handelte, erstaunlicherweise unter. Auch im Ausstellungsführer ist es nicht erwähnt. Vgl. Schweizerische Landesausstellung 1939 in Zürich. Offizieller Führer mit Ausstellungsverzeichnis und Orientierungsplan, o.O. [Zürich], o.J. [1939], S. 51–58. »H. Erni« figuriert lediglich in der Liste, welche die »Malerei und Plastik als Schmuck der Landesausstellung« verzeichnet (vgl. S. 306). Die dreibändige Gesamtdarstellung Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung reproduziert zwar einen Ausschnitt des Bilds als ausklappbare Farbtafel, im dazugehörigen Textteil werden Künstler und Werk jedoch nur beiläufig erwähnt, ersterer fälschlicherweise als »Fritz Erni«. Vgl. Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung. 3 Bde. Zürich: Atlantis 1940, Bd. 2, S. 390. Der Fehler wird in der Legende zu einer Schwarz-Weiß-Reproduktion des Bildes, in der dieses als »humorvoll« apostrophiert wird, als »F. Erni« wiederholt (vgl. S. 407). Die korrekten Angaben finden sich lediglich im dritten, der Kunst in der Schweiz gewidmeten Band (vgl. Bd. 3, S. 293); der ausführliche Textteil von Paul Ganz erwähnt weder Erni noch das Werk (vgl. S. 7–71). Ein Zusammenschluss der Generaldirektionen von SBB und PTT (Schweizerische Post) sowie dem Eidgenössischen Amt für Verkehr anlässlich der Landesausstellung.

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»Panorama der Modernisierung des Landes«,38 wirkt »die reichbewegte Darstellung«39 wie »ein kolossales Schulwandbild zur Geschichte, Land und Leuten der Eidgenossenschaft«.40 In der Schweiz ist das Eisenbahnwesen eine didaktische Angelegenheit, die volkspädagogische Züge trägt. Das Fahren mit der Bahn erscheint schlichtweg als Ausdruck der Vernunft: »Der Kluge reist im Zuge«, der Werbespruch aus dem Jahre 1958, wurde über Nacht zum geflügelten Wort.41

3. Peter Bichsel oder Die nationale Besinnung Auch in Bichsels Kolumne entwickelt der Rote Pfeil keine unmittelbare, sondern eine medial vermittelte Präsenz. Ernis Monumentalität ins pure Gegenteil verkehrend, fällt der Blick hier auf eine Spielware, die den Verfasser an sich und seine Biografie erinnert, an die Zeit, als er selber klein war. Dabei kommt Bichsel ein Onkel in den Sinn, der damals einen Film gedreht hatte, der dem kleinen Bichsel zum »Kultfilm« geworden ist: »Man sah auf dem Film nichts anderes als immer wieder den Roten Pfeil vorbeifahren. Mein Onkel war sehr stolz darauf, daß er den Roten Pfeil immer wieder ›erwischt‹ hatte, er lag für den Roten Pfeil auf der Lauer wie ein Zoologe für ein äußerst seltenes Tier.«42 Von dieser Faszination für Betrachtungen über das Fahren von Zügen ist Bichsel auch als gestandener Autor noch immer erfüllt. Die Faszination reicht bis in die Tiefen der ästhetischen Präferenzen, denn Gottfried Kellers Dämonisierung des Eisenbahnwesens konnte nicht verhindern,43 dass Martin Salander –––––––— 38 39 40 41

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Stanislaus von Moos: Hans Erni, der Strom und die Schweiz. In: Gugerli (Hg.): Allmächtige Zauberin unserer Zeit (Anm. 20), S. 211. SBB-Büchlein (Anm. 24), S. 3. von Moos: Hans Erni, der Strom und die Schweiz (Anm. 38), S. 211. Die SBB selber sahen sich gerne als »›Drehscheibe Europas‹«. SBB-Büchlein (Anm. 24), S. 3. Erfunden hat ihn der Werbegrafiker Werner Belmont. Beispielsweise fand der Spruch Eingang in die in der Schweiz unter Kindern populären Globi-Bücher; vgl. Globis abenteuerliche Schweizerreise. Zürich: Globi-Verlag 1984, S. 3: »Er fuhr meistens mit dem Zuge, / denn das tut bei uns der Kluge.« Vgl. auch den Band Globi und die Bahn, Zürich: GlobiVerlag 2001, S. 3: »Wieder steht man ganz genau / im gewohnten Urlaubsstau! / Solchen Unfug meidet Globi. / Er fährt Bahn, das ist sein Hobby.« Bichsel: Churchill und Onkel Jules (Anm. 2), S. 435. Schon bei Gotthelf ist der Verdacht aufgekommen, »ob nicht die Eisenbahnen viel schuld seien an den Schwindeleien der Zeit«. Jeremias Gotthelf: Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz. 2 Bde. [1846 u. 1847]. Sämtliche Werke in 24 Bänden. In Verbindung mit der Familie Bitzius hg. von Rudolf Hunziker und Hans Bloesch. Bd. 9. Erlenbach, Zürich: Eugen Rentsch 1937, S. 492. Der räsonierende Erzähler denkt dabei weniger an das »Wohlgefallen, Städte und Dörfer an sich vorbeifliegen und im Rücken Platz zu nehmen zu sehen« (ebd.), als an die Tatsache, dass das Fahren von den Mühen des Wanderns entbindet und damit das Ende des hergebrachten Reisens bedeutet – mit dem Effekt, dass das Zurücklegen einer Wegstrecke »wohlfeil« wird und eine »Ungeduld« entsteht, »welche am Ziel sein will, ehe man zur Reise angesetzt« (S. 493). Der springende Punkt ist »die gleichmachende Richtung der Zeit« (S. 494), das heißt die moderne Verkehrstechnik

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Bichsels Lieblingsbuch ist. Es rühre ihn zu Tränen,44 schreibt er in einem Nachwort, und zähle »zu den fünf, sechs Büchern, die [er] immer wieder lese«.45 Wer Bichsel kennt, weiß, dass er nicht nur »immer und immer wieder über die Eisenbahn geschrieben«46 und auch ein Bändchen mit entsprechenden Geschichten vorgelegt hat,47 sondern die Eisenbahn gezielt zum eigentlichen Schreibanlass macht. Er schreibt nicht nur über Bahnen, sondern buchstäblich in Bahnen. Er verlegt den Ort des Schreibens vom Schreibtisch in den Zug und schreibt als Fahrgast, dem es »egal ist, wohin der Zug gerade fährt«.48 Und das Unterwegssein kann zum Gegenstand der Darstellung werden, wie in der folgenden Kolumne: Ich schreibe dies im Zug zwischen Solothurn und Genf, ein fast sonniger Tag, ein fast nebliger Tag, ›diffus‹ nennt man wohl dieses Licht. Vor dem Fenster jetzt nur noch Bäume, einige Birken dazwischen, ich sitze in der Transsibirischen Eisenbahn, kurz nach Moskau, ja genauso habe ich mir das vorgestellt.49

Hier wird die Bahnfahrt zum Schreibmittel und Traumgenerator. Das Fahren bewirkt einen transgressiven Effekt, es wiegt den Reisenden in einen diffusen Zustand der Entgrenzung, der Innen- und Außenwelt eins werden lässt und die Gedanken ebenso in Fahrt bringt wie die Sätze. Dass Fahren ›Bilder‹ erzeugt, ist in der Literatur lange bekannt,50 und das –––––––—

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hat nivellierende Funktion: Da alle im selben Zug sitzen, dieselbe Strecke fahren, »Reiche und Arme akkurat gleich schnell« sind und zur selben Zeit ankommen, »sind diese Eisenbahnen [auch] ein ungeheurer Schritt in der Gleichstellung aller Menschen« (S. 493), eine Vorstellung, vor der den konservativen Gotthelf graust. Wie bei Keller findet die Entfremdung ihre Entsprechung darin, dass die Einheimischen den Protagonisten bei dessen ›plötzlicher‹ Rückkehr in die Heimat erstmal als »einen wildfremden Menschen« (S. 494) behandeln. – Fantastisch überhöht erscheint die Dämonisierung dann in Alfred Kubins Roman Die andere Seite von 1909, der gut zwanzig Jahre nach demjenigen von Keller erscheint. Nachdem der Antagonist Bell mit einem unter Volldampf stehenden ›Geisterzug‹ in der Stadt anlangt, kommt es zum Showdown. Dabei wird die über das Traumreich hereinbrechende Apokalypse von einem grotesken Spiel begleitet: Der sich ins »Grenzenlose« entwickelnde Magier Patera »beugte sich über den Bahnhof, wo er nach einer Lokomotive griff. Darauf blies er wie auf einer Mundharmonika, wuchs aber zusehends immer nach allen Seiten, so daß ihm sein Spielzeug bald zu klein wurde.« Alfred Kubin: Die andere Seite. Mit 51 Zeichnungen nach einem Plan. München: Edition Spangenberg 1975, S. 260. Vgl. Peter Bichsel: Drei Ellen guter Bannerseide [Nachwort]. In: Keller: Martin Salander (Anm. 7), S. 371–381, hier S. 381. Ebd., S. 376. Peter Bichsel: Schreiben Sie doch mal. In: Bichsel: Kolumnen, Kolumnen (Anm. 2), S. 638–641, hier S. 639. Peter Bichsel: Eisenbahnfahrten. Hg. u. mit einem Nachw. von Rainer Weiss. Frankfurt/M.: Insel 2002. Peter Weber: Der vibrierende Tisch. In: St. Galler Tagblatt, 23.3.2005. Peter Bichsel: Das Metzgerspiel. In: Bichsel: Kolumnen, Kolumnen (Anm. 2), S. 622–624, hier S. 623f. Vgl. Alfred Ch. Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung. Die Eisenbahn in der deutschen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Textübersicht und vergleichende Analyse. Bern: Francke 1992 (= Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 63); Martina Ernst: Phantastische Eisenbahn. Ein komparatistischer Blick auf

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diesbezügliche Potential der Eisenbahn wurde von erzähltechnisch versierten Autoren wie Wilhelm Raabe auch genutzt. In Raabes Roman Pfisters Mühle (1884) etwa fährt der seelisch aufgewühlte Held in einem »rasselnden, klirrenden, klappernden Eilzuge, vorbei an dem Raum und an der Zeit« und fragt sich derweil, welches in seinem Leben die prägenden Eindrücke gewesen seien.51 Er entscheidet, dass es diejenigen seien, die ihm im Moment der rasenden Fahrt in den Sinn kommen: »Die von ihnen, welche bleiben, lassen sich am besten wohl betrachten im Halbtraum vom Fenster eines an der bunten, wechselnden Welt vorüberfliegenden Eisenbahnwagens.«52 Anders als im Impressionismus ist es nicht die flüchtige Landschaft, die zur Beschreibung reizt, sondern die vom Fahren hervorgerufenen inneren Bilder.53 Es ist, als brächte das Fahren so etwas wie die Wahrheit an den Tag. Besonders drastisch ist das der Fall in Altershausen, dem 1911, ein Jahr nach Raabes Tod, erschienenen Fragment, wo der greise Protagonist am Tag seines siebzigsten Geburtstags den Zug besteigt, um, wie es heißt, »seine letzte Reise, seine Jubiläumsfahrt nach Altershausen« anzutreten.54 Die »vom Heimweh nach der Jugend« beflügelte Fahrt gerät zu einem verrückt anmutenden Bildersturz,55 in dessen Verlauf das in blaues Licht getauchte Abteil – man hatte die Gardinen gezogen – zu einem romantischen »Traumland« wird,56 zum Schauplatz einer fantastischen, alles auf den Kopf stellenden Lebensrückschau des in dem Moment wohl sterbenden Helden.57 –––––––—

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Erscheinungsform und Funktion der Schienenwelt vornehmlich in der kurzen Erzählprosa. Bern, etc. Peter Lang 1992; Manfred Riedel: Vom Biedermeier zum Maschinenzeitalter. Zur Kulturgeschichte der ersten Eisenbahnen in Deutschland. In: Harro Segeberg (Hg.): Technik in der Literatur. Ein Forschungsüberblick und zwölf Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 102–131; Dirk Hoeges: Alles veloziferisch. Die Eisenbahn – vom schönen Ungeheuer zur Ästhetik der Geschwindigkeit, Rheinbach-Merzbach: CMZ 1984; Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. München: Fink 1982; Gerhard Rademacher: Das Technik-Motiv in der Literatur und seine didaktische Relevanz. Am Beispiel des Eisenbahngedichts im 19. und 20. Jahrhundert. Bern, etc.: Peter Lang 1981; Werner Schadendorf: Das Jahrhundert der Eisenbahn, München: Prestel 1965. Vgl. auch Heinrich Lützeler: Die Eisenbahn in der Malerei. Bonn: Boldt 1971. Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft [1884]. Mit einem Nachw. von Horst Denkler. Stuttgart: Reclam 1992, S. 164. Ebd. Vgl. Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt/M, New York: Campus 1994, S. 271ff. Wilhelm Raabe: Altershausen, mit einem Nachw. von Eckart Oehlenschläger. Stuttgart: Reclam 1981, S. 29. Ebd., S. 95. Ebd., S. 59. Raabe hat die Eisenbahn schon früh für seine Zwecke genutzt. In Die Kinder von Finkenrode [1858] etwa reist der Ich-Erzähler per Bahn zum Ort der Handlung, eine Fahrt, die über Seiten beschrieben wird und verschiedene Topoi des Eisenbahnfahrens enthält; vgl. Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode. In: W.R. Sämtliche Werke, 2. Serie, Bd. 2. Berlin-Grunewald: Verlagsanstalt für Literatur und Kunst/Hermann Klemm o. J., S. 1–243, hier S. 8ff. Dass die schnelle Fahrt unter Umständen auf direktem Weg zur Selbsterkenntnis führt, lag

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Bichsel nun ist sich im Klaren, dass die Eisenbahn heute als ungebrochenemphatisches Bildspender-Medium ein Anachronismus wäre. Auf die Schippe genommen hatte das Dichten im Coupé schließlich schon Wilhelm Busch.58 So beginnt denn Bichsels Kolumne, die auf die oben besprochene folgt – auch sie erscheint 1998 in der Schweizer Illustrierten – mit den Worten: Ein Leser beklagte sich über meine letzte Kolumne. Ich kann ihn verstehen. Da fährt einer mit der Bahn von Solothurn nach Genf und vergißt dabei plötzlich, daß er sich in der Schweiz befindet. Ein paar Birken erinnern ihn an die Transsibirische Eisenbahn, mit der er in Wirklichkeit noch nie gefahren ist. Nun bildet er sich ein, durch Rußland zu fahren.59

Diese schweifende Fantasie hat der Leser offenbar nicht geschätzt und dem Autor vorgehalten, ein heilloses Durcheinander zu veranstalten. Der Tadel an der scheinbar unmotivierten Abschweifung nach Russland bringt Bichsel zur nationalen Besinnung. Noch einmal schaut er nämlich aus dem Fenster, um sich dessen, was er sieht, genau zu versichern: »Eine wunderschöne Landschaft: der Jura mit weißen Flecken, die Rebberge sind zu jeder Jahreszeit ein neues Erlebnis, das wechselnde Grün ihres Bodens, die Seen, die Alpen. Heute sind sie nicht strahlend, sie liegen in leichtem Dunst, ja sie sind schön.« 60 Erneut indiziert die suggestiv diffuse Stimmung die einsetzende Entrückung. Sie führt diesmal nicht in die russische Tundra, sondern zur Frage, was es mit der schönen Aussicht auf sich habe: Das war nicht einfach immer so, daß die Menschen die Alpen als schön empfanden: Sie empfanden sie als schrecklich, bedrohlich, beängstigend, wild und chaotisch, und die noblen Leute, die sich in Sänften über die Alpen tragen ließen, zogen die Vorhänge zu, um das Schreckliche und Erschreckende nicht sehen zu müssen. Im 18. Jahrhundert hat dann ein Berner, Albrecht von Haller, die Alpen für die Welt entdeckt. Er hat ein großes Gedicht, Die Alpen, geschrieben, das von den Gebildeten seiner Zeit mit großer Überraschung gelesen wurde. Es öffnete ihnen die Augen, und von da an waren die Alpen schön. Die Menschen lernten durch Albrecht von Haller die Berge anders

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auch für Robert Walser im Bereich des Möglichen: »Ich hörte so im Zuge sitzend mein Wesen singen« brachte der Erzähler in einem Mikrogramm aus den zwanziger Jahren das Phänomen lakonisch auf den Begriff. Robert Walser: Ich schlafe so brav [1924]. In: R.W.: Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. 1: Mikrogramme 1924–1925. Prosa. Hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. S. 14–19, hier S. 18. Buschs ›verhinderter Dichter‹ Balduin Bählamm [1883] reist und dichtet gern im »Bummelzug«: »Vorüber schnell und schneller tanzen, / Durch Draht verknüpft zu einem Ganzen, / Die schwesterlich verwandten langen / Zahlreichen Telegraphenstangen. / Der Wald, die Wiesen, das Gefilde, / Als unstet wirbelnde Gebilde, / Sind lästig den verwirrten Sinnen. / Gern richtet sich das Bild nach innen. / Ein leichtes Rütteln, sanftes Schwanken / Erweckt und sammelt die Gedanken. / Manch Bild, was sich versteckt vielleicht, / Wird angeregt und aufgescheucht. / Bald fühlt auch Bählamm süßbeklommen / Die herrlichsten Gedanken kommen. – // Ein langer Pfiff. – Da hält er schon / Auf der ersehnten Bahnstation. –«. Wilhelm Busch: Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter [1883]. In: W.B.: Gesammelte Werke in drei Bänden. Hg. von Friedrich Bohne. Bd. 2. Zürich: Diogenes 1974, S. 251– 326, hier S. 271, 272. Peter Bichsel: Paris ist gar nichts. In: Kolumnen, Kolumnen (Anm. 2), S. 624–626, hier S. 624. Ebd.

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sehen. Mein entsetzter Leser wird mir das nicht glauben, und ich selbst habe Mühe, es zu glauben. Ich blicke über den Genfersee, die Alpen sind wirklich schön. Und jetzt mache ich halt noch einmal das, was mein Leser nicht mag: Ich versuche mir etwas vorzustellen – ich schaue und schaue und versuche, die Alpen als schrecklich und häßlich zu empfinden. Und mein Versuch ist total erfolglos. Ich kann es drehen, wie ich will, ich kann schauen, wie ich will, ich kann denken, wie ich will, es gelingt mir nicht, das Bild in meinem Kopf herzustellen, das die Menschen vor Albrecht von Haller von diesen Alpen hatten. Sie sind nun für mich und alle anderen ein für allemal wunderschön.61

Der Traum, durch fremde Länder zu fahren, wandelt sich zur Reflexion über das eigene Land. Es scheint aus der Postkartenidylle keinen Ausweg zu geben. Anders als bei Heine, wo die Topografie in Bewegung gerät, anders als bei Keller, wo die entfesselte Ökonomie dominiert und anders als bei Raabe, wo ein Ich sein Leben rekapituliert, generiert das Fahren hier eine Reflexion, die das Subjekt übersteigt. Nicht das Herkommen des Individuums wird fokussiert, sondern das übergeordnete Ganze, dem es sich zugehörig fühlt. Bichsels Kolumne veranschaulicht, dass die Schweizerischen Bundesbahnen kein neutraler Boden sind. Wer mit ihnen fährt, sei es buchstäblich oder im übertragenen Sinn, wird in Bann geschlagen und sieht sein Dichten und Denken dem für die Schweiz charakteristischen Zwang ausgesetzt, der nationalen Identität etwas abgewinnen zu müssen.62 Als Peter Bichsel siebzig wurde, offerierten die Schweizerischen Bundesbahnen ihrem prominenten Kunden tatsächlich eine Fahrt mit dem Roten Pfeil. Und der ihm kollegial verbundene Peter Weber durfte ihn begleiten. Der Text, mit dem Weber Bichsel im St. Galler Tagblatt zum siebzigsten Geburtstag gratulierte, endet mit den Worten: »Du bist der Rote Pfeil.«63 Dass Schweizer Schriftsteller auf diese Weise ›bestechlich‹ sind, ist nichts Neues. Bereits der erste Werbeauftrag, der in der Schweiz an einen Schriftsteller erging, markiert 1894 den Sündenfall. Auftraggeberin ist die damalige Gotthardbahn, Auftragnehmer Carl Spitteler, erbeten wird »Reklame für die G[otthard]-B[ahn]«.64 Der spätere und bislang einzige Literaturnobelpreisträger der Schweiz lieferte das Gewünschte zuverlässig:65 1897 erscheint Der Gotthard, –––––––— 61 62

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Ebd., S. 625. Ein besonders krasses Beispiel für die Verquickung der Bahnen mit dem Nationalen ist Hermann Burgers Roman Die künstliche Mutter. Frankfurt/M: Fischer 1982. Er spielt unter Gotthard- und »Göschenenfetischisten« (S. 103) und handelt von einem Patienten, der per Stollenbahn in den Berg einfährt, um Heilung von einem unerklärlichen Leiden zu suchen, das in einer aberwitzigen Mischung aus Schweiz-Mythos, Bahn-Wahn und Erzähl-Zwang gründet. Hier hat der Rote Pfeil jegliche Dynamik verloren und fungiert bloß noch als nostalgisches Zitat. Wie bei Bichsel erscheint er als Spielzeug, in dem Fall als Teil einer verstaubten Modellanlage des Gotthardmassivs im Wartsaal des Bahnhofs von Wassen (vgl. ebd., S. 103f.). Die Befreiung aus dem beklemmenden, sich schwindelerregend im Kreis drehenden System der Berge und Bahnen naht schließlich in Gestalt eines Automobils. Wie ein deus ex machina kommt ein roter Alfa Romeo ins Spiel, der den Helden über die Alpen hinweg in den Süden trägt. Weber: Der vibrierende Tisch (Anm. 48). Spitteler: Berg (Anm. 27), S. 440. Spitteler wurde 1919 von Romain Roland vorgeschlagen und erhielt den Preis 1920.

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eine dienstfertige Mischung aus Reise- bzw. Fahrtbericht und kulturhistorischer Abhandlung, deren Ergebnis von Anfang an feststeht: »Die Gotthardbahn führt uns in das Herz der Schweiz«.66 Über das mehr als anständige Honorar von 7000 Franken hinaus erhielt Spitteler von der Generaldirektion eine Freikarte 1. Klasse, gültig für ein Jahr auf dem ganzen Netz, für sich und seine beiden kleinen Töchter. Nach Ablauf eines Jahres wurde das Entgegenkommen durch Übernahme »in das Verzeichnis der von der G[otthard]-B[ahn] zu verabfolgenden Jahresfreikarten« bis auf Weiteres ›stabilisiert‹.67 Da der in Luzern wohnhafte Spitteler die Berge eigentlich hasste, wie er Joseph Victor Widmann während der Arbeit am Gotthard-Buch gestand, und »den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft zu sprengen« gedachte, um so die »italienische Luft direkt« nach Norden zu leiten, machte er von der Freikarte regen Gebrauch.68 Er habe es »unendlich genossen«, nach Lust und Laune von Luzern durch den Gotthard über die oberitalienischen Seen bis nach Genua zu fahren.69

4. Peter Weber oder Die erfahrende Entgrenzung Man könnte meinen, dass Autoren, die altershalber der »Generation Golf« angehören,70 zu den Bahnen Distanz halten.71 Umso erstaunlicher, dass mit Peter Weber einer ihrer Vertreter mit einem Werk an die Öffentlichkeit tritt, das schlicht und ergreifend Bahnhofsprosa (2002) heißt. Was wie die Erfindung eines neuen Genres klingt, ist tatsächlich ein Buch, wie es die neuere deutsche Literatur –––––––— 66

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Carl Spitteler: Der Gotthard. In: C.S.: Gesammelte Werke. Hg. von Gottfried Bohnenblust et. al. Zürich, Stuttgart: Artemis 1958, Bd. 8, S. 7–174, hier S. 17; das 250 Seiten starke Werk erschien im Oktober 1896 bei Huber in Frauenfeld, vordatiert auf 1897; eine 2. Aufl. ist nicht bekannt. Spittelers Affinität zur Eisenbahn prägt auch seinen Roman Imago. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. Wie in Kellers Martin Salander gelangt der Protagonist hier per Bahn aus der Fremde zurück in die Heimat. »›Warten mit dem Aussteigen. Warten denn, bis der Zug hält!‹« (S. 7), lautet der Anfang, und »Einsteigen!« (S. 182) heißt es gegen Schluss, als der Held »so früh als möglich, so früh, als ein Zug abgeht« (S. 179) den Schauplatz wieder verlässt. Spitteler: Berg (Anm. 27), S. 440. Ebd., S. 437; vgl. ebd.: »Ich hasse im Grunde die Berge, weil sie kälten und dem Himmel, also der Lichtkugel, Stücke wegfressen, den Horizont verringern.« Das Zitat stammt aus einem Brief vom 13.10.1896 an Joseph Jacob Widmann (1842–1911). Spitteler korrespondierte mit dem Schriftsteller und Kritiker, der ab 1880 Redaktor beim Berner Bund war, wo er als erster Texte von Robert Walser publizierte. Ebd., S. 440. Vgl. Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin: Argon 2000. Wenn man Peter Stamms Erstlingsroman Agnes zum Maßstab nimmt, so sind durchaus Ansätze einer Distanzierung zu erkennen. Der Protagonist, ein Schweizer, sitzt da nämlich in der Public Library von Chicago und schreibt ein »Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen« und darüber hinaus geht es nicht weiter um Bahnen, sondern um die Beziehung zu Agnes. Peter Stamm: Agnes. Zürich, Hamburg: Arche 1998, S. 13.

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noch nicht gesehen hat. An die surrealistischen Miniaturen von Robert Musil,72 Ernst Jünger73 oder Elias Canetti erinnernd,74 entwirft Weber, der von sich behauptet »bahnsozialisiert« zu sein, ein abenteuerliches Werk,75 das die seit jeher mit der Eisenbahn in Verbindung gebrachte »Metamorphose von Raum und Zeit« wörtlich nimmt.76 Wie es die Realien verwandelt, ist ›Verfremdung‹ pur, erinnert an einen psychedelischen Trip und die gleitende Logik von Träumen.77 Inmitten des Erzählstroms steht ein ungreifbarer Ich-Erzähler, von dem man bald einmal annimmt, er repräsentiere die Sicht eines Schriftstellers. Er stellt sich dem »Gerede« und »Gebrabbel«,78 dem ganzen »höllischen Lärm«,79 wie er im Bahnhof herrscht, entgegen: »Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, ihn zu zerteilen […].«80 Als Wunschtraum hegt er die »[u]nheimliche Stille, für einen Augenblick«, in die hinein man noch in aller Ruhe etwas setzen könnte.81 Das erste und letzte der vierundzwanzig Kapitel, aus denen das Buch besteht,82 bilden einen Rahmen, der das Ich als eine Art spätmodernen Flaneur Walserscher Provenienz kenntlich macht, der infolge eines Überflusses an Zeit »beinahe alles [beobachtet]«.83 Es sitzt im Hauptbahnhof (der unschwer als derjenige von Zürich erkennbar ist) und nimmt das Treiben gleich einem Medium in sich auf, um es fantastisch zu überhöhen. Bei aller Verfremdung arbeitet Weber intensiv an der Bahnhofs-Mythologie und hält sich an deren Topik: das Ankommen und Abfahren, das Herumlungern, die Anonymität, die Reklame, die Massen-Erotik, die Shop-Ville-Ästhetik, das Futuristische der neuen Züge, –––––––— 72

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Vgl. Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten [1936]. In: R.M.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt 1978, S. 471–622. Vgl. Ernst Jünger: Das abenteuerliche Herz. Erstfassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht [1929]. Mit einem Vorwort von Michael Klett. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (= Cottas Bibliothek der Moderne 67). Vgl. Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. München: Hanser 1974. Peter Weber: Die Einsteinschen Unruhuhren und der Taktfahrplan. Vier Versuche und eine Fußnote. In: Florian Dambois, Guy Krneta (Hg.): Albert Einstein, Ilma Rakusa, Michael Schindhelm, Jürgen Theobaldy, Peter Weber, Sabine Wen-Ching Wang. Nahe am Original. Fünf Autoren antworten auf Albert Einstein 1905. Mit einem Beitrag von Dietmar Dath. Basel, Weil am Rhein: Urs Engeler Editor 2007, S. 107–112, hier S. 110. Vgl. Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit (Anm. 53). Nicht verzeichnet ist Weber in Lis Künzli (Hg.): Bahnhöfe. Ein literarischer Führer. Berlin: Eichborn 2007. Peter Weber: Bahnhofsprosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 9. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 133. Die einzelnen Kapitel tragen Überschriften wie Die Halle oder Weißes Rauschen und sind meist so eigenständig, dass sie als Miniaturen auch außerhalb des Textganzen funktionieren; vgl. die beiden Anthologien: Reto Sorg, Andreas Paschedag (Hg.): Swiss Made. Junge Literatur aus der deutschsprachigen Schweiz. Berlin: Wagenbach 2001; Reto Sorg, Yeboaa Ofosu (Hg.): Natürlich die Schweizer! Neues von Paul Nizon, Ruth Schweikert und Peter Stamm. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2002, wo Kapitel ohne Hinweis auf ein übergeordnetes Textganzes vorveröffentlicht wurden. Walser: Etwas über die Eisenbahn (Anm. 18), S. 17.

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das Geschichtsträchtige der Bahnhofsarchitektur, die Pendlerströme, die Anzeigetafeln, die Telefoniererei, der Uhren-Kult – alles kommt vor, nach wenigen Seiten ist die »vielbeschworene Bahnhofsatmosphäre« gründlich evoziert.84 Selbst die Gliederung des Buches in vierundzwanzig Kapitel erinnert noch an den Takt der im Bahnhof Ton angebenden »Mutteruhr«.85 Anfang und Ende des Buchs überblenden die Bahnhofshalle mit der Sixtinischen Kapelle. Die Sakralisierung aktiviert den Topos vom Bahnhof als Kathedrale der Moderne und ist Bestandteil der Poetisierung, die Weber betreibt.86 Am Bahnhof ist alles poetisch, aber der Bahnhof erscheint nicht als poetischer GegenOrt, der sich vom Gewöhnlichen abheben würde, sondern als Chiffre einer allumfassenden, unsere Zeit repräsentierenden »Bahnhofexistenz«.87 Weber schreibt in Bahnhofsprosa nicht über den Bahnhof, sondern gleichsam aus dem Inneren des Bahnhofs heraus, der als ein absolutes Zentrum erscheint. Es ist nicht mehr die bewegende Fahrt im bewegten Abteil, die den Fahrenden punktuell ergreift und verwandelt, sondern die Bewegung ist global und hat vom Schreibprozess selber Besitz ergriffen. Alles, was er erfasst, gerät in Bewegung. Das Buch erscheint wie ein einziger Traum oder Rausch, als eine einzige fantastische Virtualität. Nichts steht fest, alles ist laufende Einbildung. In diese Bahnhofswelt initiiert nicht länger der Rote Pfeil, sondern der »neue eisweiße Hochgeschwindigkeitszug«, der wie »ein fremdes Wesen« erscheint, aus dem die »mitgeführten Passagiere« dann als »großäugige Geschöpfe« entweichen.88 Damit betritt man die Hypermoderne, in der das Fernweh als Entfremdung erscheint: Als wir Reisegeschwindigkeit erreicht hatten, wurde mir klar, daß es sich bei diesem Zug um […] ein Schulungs- und Unterweisungsmittel [handelte, R.S.]. Die meisten Passagiere waren neu in den hier vermittelten Fächern: Glauben, Glänzen, Gleiten. Der Zugführer, der den Unterricht leitete, wollte keine Fahrscheine sehen, ihm war die Tatsache, daß man sich an seinem Fernkurs beteiligte, Gewähr genug. Wer Ferngespräche führte, fernsah und fernzufühlen bereit war, reiste gratis.

Und weiter: Bei Höchstgeschwindigkeit rief der Zugführer feierlich: »Bauchläden öffnen!«, und nun wurden flundernflache Bildschirme aus den Taschen und Köfferchen geholt, aufgeklappt,

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Weber: Bahnhofsprosa (Anm. 78), S. 23. Ebd., S. 20. Zur Errungenschaft des Taktfahrplans vgl. Gisela Hürlimann: Taktfahrplan. In: NZZ, Nr. 95, 25.4.2006, S. 14. Der Taktfahrplan ist ein Phänomen, das auch die Schriftsteller fasziniert; vgl. Weber: Die Einsteinschen Unruhuhren und der Taktfahrplan (Anm. 75); dort auch weitere Ausführungen zur »Mutteruhr« (S. 110). Vgl. Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit (Anm. 53), S. 278f. Weber: Bahnhofsprosa (Anm. 78), S. 56. – Als ein der Imagination dienender Ort erscheint der Bahnhof auch in Paul Nizons Stolz. Der Held gleichen Namens arbeitet als Student nebenher auf der Bahnpost. Als er den Brotjob dank eines Stipendiums quittieren und sich über wissenschaftliche Arbeit beugen kann, hält er inne: »Fast sehnte er sich nun nach dem Bahnhof, den er, wie er erkannte, als eine Art Warteraum, als Vorwand zum Aufschub, als freundliche Leere geliebt hatte. Nicht er hatte im Bahnhof, der Bahnhof hatte für ihn gearbeitet.« Paul Nizon: Stolz. Frankfurt/M, Zürich: Suhrkamp 1975, S. 75. Alle Zitate: Weber: Bahnhofsprosa (Anm. 78), S. 29.

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auf die Bundfalten der Hosen gebettet und mit den Sesseln verkabelt, […] es entstanden die vielbeschworenen gleitenden Märkte.89

Dergestalt an Maschinen gebunden, fliegt der Protagonist »durch kommende Landschaften«, vorbei an allen »Kopfbahnhöfe[n] Europas«,90 und anstelle eines Fensters gibt es »nur den neuesten Flachbildschirm«.91 Von den realen Landschaften außerhalb ist nur vermittelt die Rede. Sie existieren entweder als nostalgisches »Panorama an der Hallenhinterseite«, das in »naturalistischer Malerei den Ausblick von unseren höchsten Bergen [zeigt], vom Zug aus in wenigen Schritten zu erreichen«,92 seitdem »jeder sichtbare Gipfel mit einer Bahn versehen« ist.93 Oder sie existieren als kulturkritisch inspirierte Vorstellung vom Mittelland, das, seitdem »die Städte und Vorstädte zusammengeflossen sind«, als »größte Badewanne des Kontinents«, als eine Art Kältesee und Nebelloch, »zwischen Alpenkamm und Jurakette« liegt.94 Generell ist die verkleinerte Landschaft ein Motiv. Neben dem Panorama gibt es einen »Scherenschnitt«,95 sowie »Kioskstraßen, in denen alles verkleinert angeboten wird, Berge, Häuser, Züge, Gleise und Weichen, der ganze Bahnhof hosentaschenklein, im Koffer oder in einer Armbanduhr.«96 Und es ist – wie bei Bichsel – von einer »Modellanlage« die Rede. Die Kinder »sind von der Tatsache fasziniert, daß in der Anlage dieselben Züge verkehren wie vorne an den Gleisen«.97 Und am Ende erscheint gar der Ich-Erzähler selber als Modellbauer: »Ich bin den Modellbauern zugeteilt worden. Voraussetzung für die Arbeit an den Modellen ist, daß man nur Materialien verwendet, die im Bahnhof vorkommen […].«98 Die Poetisierung der Eisenbahn produziert bei Weber weder äußere noch innere, sondern künstliche Bilder. Was seine Bahnhofsprosa leistet, ist die Aufhebung des Nationalen im Virtuellen. Obwohl der Text sich einem helvetischen Gemeinplatz verschreibt und typisch schweizerische Eigenheiten wie das Leiden an der Kleinheit des Landes oder den verinnerlichten touristischen Blick zur Kenntlichkeit entstellt, weist er über den Zwang, das Schweizerische ergründen zu müssen, hinaus. Die intensive Arbeit am helvetischen Bahn-Wahn befreit von herkömmlichen Mustern, unterläuft die Mythen und versetzt sie in Bewegung.99 Die Ironie schafft Distanz; Tempo, Mobilität –––––––— 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Ebd., S. 30f. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd., S. 14. Ebd., S. 121. Ebd., S. 111. Ebd., S. 35. Ebd., S. 89f. Ebd., S. 93. Ebd., S. 120. Interessant auch die Gewaltfantasien, die sich bei Schweizer Jungautoren finden. Im Erstling von Roland Reichen: Aufgrochsen. Zürich: Bilgerverlag 2006 etwa installiert der Protagonist im Keller des elterlichen Chalets eine Modelleisenbahn, um sich den Bubentraum der »Tschu-Tschu-Bahn« (S. 101) zu erfüllen, derweil sein Sohn die kleine

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und Medien kennen keine Grenzen. Das »›Bahnhofsdeutsch‹« ist keine Nationalsprache.100 Es bewältigt nicht die Vergangenheit, sondern bespricht die Gegenwart: »[W]ir brauchen schnelle Zungen, um den neuen Geschwindigkeiten beizukommen«.101 Der Rote Pfeil weist über das weiße Kreuz hinaus. Es geht in der Bahnhofsprosa weder im buchstäblichen noch im übertragenen Sinn um das Erfahren von Landschaften, sondern – umgekehrt – um das, was die Surrealisten »dépaysement« nannten.102 Als unscharfer »›Bewegungsbegriff‹« entstanden,103 dokumentiert er die Folgen der durch Fotografie und Film transformierten Wahrnehmungsmuster und bedeutet bei André Breton radikale Verfremdung. Die »Entführung ins Andere« reicht bis hin zur »Entstellung«.104 Hält man sich an die Etymologie – ›dé-payser‹ –, so gehört das damit Bedeutete »keinem Land (pays), keiner Landschaft an, sondern schiebt die Länder, Areale, Bereiche, Zugehörigkeiten ineinander«.105 Das Besondere aber bleibt: Eine Poetologie – denn als solche kann man Webers Buch lesen –, am ›Bahnhof‹ festzumachen, das dürfte so nur in der Schweiz möglich sein.

5. Ins Offene »Etwas vom Sinnreichsten und Zweckmäßigsten, was die neue Zeit in technischer Hinsicht hervorbrachte, ist meiner Ansicht nach der Bahnhof.«106 Das hatte in den dreißiger Jahren Robert Walser bilanziert und die lakonische Bemerkung zu einer Apotheose ausgebaut: [D]ie Halle [ist] ein Raum […], der das Maschinenzeitalter veranschaulicht und etwas Internationales verkörpert. Beinahe romantisch mutet der Gedanke an, daß durch alle Länder während der sonnigen Tageszeit oder in den Nächten rastlos Züge hin- und herfahren. Welch ein weitverzweigtes Bildungs- und Zivilisationsnetz wird hiezu vorausgesetzt. Man kann Ein-

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Plastikfigur eines »Schweizer Kondukteur[s]« (S. 56), also eines Schaffners, mit dem Feuerzeug zum Schmelzen bringt: »Eine ganz abseitige Wöhle empfand der Phant dabei, als er den Bähndler [sic!] in die Flamme hielt.« (Ebd.). Weber: Bahnhofsprosa (Anm. 78), S. 105. Ebd., S. 105. Vgl. dazu Justus Fetscher: Entstellte Schrift. Zum surrealistischen Collageroman. In: Inge Münz-Koenen, Justus Fetscher: Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900–1938). Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 127–144, hier S. 138 (= Schrift und Bild in Bewegung 13). Ebd., S. 143. Ebd., S. 138. Ebd., S. 144. Robert Walser: Der Bahnhof (II) [1932/33]. In: R.W.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Bd.20. Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit 1928–1933. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 75–76, hier S. 75; vgl. auch ders.: Der Bahnhof (I) [1931/32]. In: ebd., S. 73–75; ders.: Reisen [1931]. In: ebd., S. 70–72.

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richtungen, die man geschaffen hat, Institutionen, die ins Leben gerufen wurden, nicht abschütteln. Was ich leiste, zustande bringe, verpflichtet mich. Meine Tätigkeit ist mir überlegen.107

Bichsels Eisenbahngeschichten und Webers Bahnhofsprosa legen nahe, dass die Literatur der von Walser beschworenen »Institution« nach wie vor »verpflichtet« ist. Was Peter Weber angeht, so liegt nicht erst der Bahnhofsprosa, sondern schon seinem Erstlingsroman Der Wettermacher (1993) das besagte »Zivilisationsnetz« zu Grunde. Der »zwischen Haus und Bahnhof« gespannte Handlungsbogen führt dort am Ende dazu, dass der Held den Zug nimmt.108 Er setzt damit der »unsäglichen Churfirstensucht« ein Ende und verlässt das heimatliche Toggenburg Richtung Zürich: »hinter mir aber kippten Hügel, Talenden konnten nicht mehr länger aufrechterhalten werden, der Zug verschwand im Tunnel«.109 Im Tunnel verschwindet der Zug allerdings nicht auf Nimmerwiedersehen – wie in Dürrenmatts viel zitierter Erzählung –,110 sondern er kommt am andern Ende unversehrt wieder heraus: »Es war hier in der Stadt, wo ich zum ersten Male unter dem Wetterrand durch und ins Offene hinausschauen konnte.«111 * * * Wenn Peter Weber sich einmal entschließen sollte, auch den Bahnhof zu verlassen, um, vielleicht zusammen mit seinem Kollegen Peter Bichsel, den Zug zu nehmen und dem Jura entlang, durch die grünen Rebberge, vorbei an den Seen und Alpen, ins Blaue zu fahren, so könnten die beiden, mit etwas Glück, den »Robert Walser« erwischen. Denn bekanntlich haben die Schweizerischen Bundesbahnen ob der hartnäckigen Zuneigung der Schweizer Autoren kapitu–––––––— 107 108 109 110

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Walser: Der Bahnhof (II) (Anm. 106), S. 76. Peter Weber: Der Wettermacher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 7. Ebd., S. 315; die Churfirsten sind die dominierende Bergkette im Toggenburg. Vgl. Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. In: F.D.: Die Stadt [1952], Neuausgabe. Zürich: Arche 1962, S. 149–167. – Auch in Dürrenmatts wohl berühmtestem Theaterstück: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Zürich: Arche 1956, spielt die Eisenbahn eine Schlüsselrolle. Noch bevor sich der Vorhang hebt, ertönt da der »Glockenton eines Bahnhofs« (S. 9), und der ›rettende Engel‹ Claire Zachanassian entsteigt dem Zug. Die alte Dame hat, um den Schnellzug im kleinen Güllen anzuhalten, die Notbremse gezogen und damit den Zugführer herausgefordert: »Ich protestiere. Energisch. Die Notbremse zieht man nie in diesem Land, auch wenn man in Not ist. Die Pünktlichkeit des Fahrplans ist oberstes Gebot. (S. 15) Die Tunnel-Metaphorik ist in der Schweiz heute noch tragfähig; vgl. etwa Michel Mettler, der eine autobiografisch fundierte Erzählung mit dem Satz enden lässt: »Und wir alle sind Tunnelbauer im Grunde – von Kopf bis Fuss auf Unterquerung eingestellt.« Michel Mettler: Bergendes Dunkel. Unveröffentlichtes Typoskript [2006]; vgl. www.culturactif.ch/inedits/mettler2.htm (Zugriff am 1.9.2008). Weber: Der Wettermacher (Anm. 108), S. 316. Maßgeblich ist die Bahn nicht nur in Webers Erstling und in Bahnhofsprosa, sondern auch in seinem jüngsten Werk Die melodielosen Jahre [2007]. Das Buch beginnt mit einem Blick aus dem vorbeirasenden Zug auf die moderne Zivilisation und endet mit dem vorgängig mehrfach variierten symbolträchtigen Satz: »Die Züge verkehren planmäßig.« Peter Weber: Die melodielosen Jahre. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 191.

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liert und als Beitrag zur Landesausstellung ›Expo.02‹ zwar nicht jedem von ihnen ein Generalabonnement geschenkt,112 aber immerhin die 23 neuen Neigezüge der Jurasüdfußlinie zwischen Zürich und Genf auf die Namen von Schweizer Schriftstellern getauft.113

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In der Schweiz verbreitete Jahreskarte, die freie Fahrt auf dem gesamten Netz gewährt; entspricht in Deutschland der Mobility BahnCard 100. Vgl. Bernadette Conrad: Hirnwürmer mit modernster Neigetechnik. In: Die Zeit, Nr. 21, 19.5.2005. Im selben Jahr haben die SBB ihrem Geschäftsbericht als Separatum sieben literarische Kurzgeschichten beigeheftet; vgl. Zeit – ein unentbehrliches Gut. Lesen Sie in einem Zug. Sieben Kurzgeschichten von Etienne Barilier, Peter Bichsel, Anne Cuneo, Anna Felder, Ulrich Knellwolf, Milena Moser, Peter Weber, Bern: Schweizerische Bundesbahnen 2002.

Richard R. Ruppel

Performing Swiss Heimat Zu Geschichte und Funktion des traditionellen Bundesfeierspiels

Die Schweiz existiert heute als eine vertrauensvolle politische Kollaboration von vier verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen, die im Laufe der Jahrhunderte für individuelle Freiheit gekämpft haben, die Schutz in einer kollektiven Sicherheit gefunden haben, und in den letzten Jahrzehnten einen ungeahnten Wohlstand in dem Schweizer Bundesstaat erworben haben, den die meisten Schweizer als ihre Heimat bezeichnen würden. Diese ›künstliche‹ Wahlheimat musste über Jahrhunderte hinweg eine gemeinsame Schweizer Kultur entwickeln, die die vier Sprach- und Kulturgruppen zu umfassen vermochte. Diese Schweizer Heimat ist von gewissen Konzepten geprägt, die auch heute noch Schweizertum verkörpern, und davon gewiss unabtrennbar sind; nämlich u.a. individuelle Freiheit, regionale Autonomie, direkte Demokratie und Neutralität. Obwohl die vier Sprachgruppen, Kanton nach Kanton, mehr oder weniger freiwillig dem Schweizerbund beigetreten sind, mussten sie dennoch kulturell gesehen noch zusammenwachsen. Eine gemeinsame Herkunft musste erst noch erzeugt werden, die noch stärker war als die individuelle kulturelle Herkunft der vier Sprachgruppen. Das Bundesfeierspiel wurde von den Schweizer Behörden als ein Mittel betrachtet, wodurch die Bundesregierung die Traditionen einer gemeinsamen Herkunft erzeugen und dadurch diese ersehnte politische Einheit in einem Vielvölkerstaat fördern konnte. Um die potenzielle politische Macht des Festspieles zu verstehen, müssen wir uns kurz der Entwicklung des Dramas in der Schweiz zuwenden. Das Schweizer Drama hat seinen Ursprung in der Kirche. Geistliche haben Schauspiele benutzt, um die Liturgie der Kirche verständlicher zu machen und zu verbreiten. Wir finden Beweise für diese Frühdramen bereits um 1300 in dem Kloster in Muri (Aargau) und in Einsiedeln. Mit der Zeit wurden diese Passionsspiele ausserhalb der Kirche in Dörfern aufgeführt. Die Schauspieler waren teilweise Laien aus dem Dorf, die mit den Kirchen kollaboriert haben. Auf diese Art und Weise wurde das Schweizer Volkstheater geboren. Das Urner Tellenspiel wurde ca. 1511 im Kanton Uri uraufgeführt und zeigte in der Folge immer wieder die Popularität des Volkstheaters.1 Die Tradition des Volkstheaters hatte zu dieser Zeit schon feste Wurzeln geschlagen, und auch die Reformation war ein fruchtbarer Boden für das Volkstheater. Beide Seiten des religiösen Konflikts haben das neue Medium verstanden und genutzt. Die Jesuiten haben ver–––––––— 1

Das Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft. Das Urner Tellenspiel. Hg. von Max Wehrli. Aarau: Sauerländer 1952.

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sucht, durch die Gründung eines Theaterzentrums in Fribourg die Passionsspiele für die Kirche wiederzugewinnen. Politische, moralische und religiöse Fragen haben die Handlung des Volkstheaters geprägt. Das Schweizer Drama genoss eine Blütezeit in Bern, wurde aber 1617 in Genf und 1624 in Zürich verbannt. Die Zentren des Schweizer Protestantismus, Basel, Bern, Genf und Zürich waren bis spät in die Aufklärung hinein gegen das Theater. Diese puritanische Einstellung dem Theater gegenüber spürte man bis spät in das 20. Jahrhundert hinein. Während jenseits der Schweizer Grenzen das Theater mit Shakespeare, Goethe, Molière, Lessing, Gellert, Racine u.a. sehr populär war und im Ausland professionelle Theatergesellschaften mit Berufsschauspielern gegründet wurden, setzte sich dagegen in der Schweiz im 18. Jahrhundert die puritanische Einstellung durch. Johann Jakob Bodmer z.B. hatte eine konservative Haltung zum Drama and meinte, dass ein Drama gelesen werden sollte, anstatt es auf der Bühne aufzuführen.2 Josef Ignaz Zimmermann (1737–1797), ein ehemaliger Jesuitenschullehrer, schrieb eine aufgeklärte Variante des Wilhelm Tell,3 die in Weimar bekannt wurde und eine der Quellen für Schillers Wilhelm Tell wurde, der dann später zum Schweizer Nationalepos avancierte. Schweizer, die im 19. Jahrhundert als Geschäftsleute im Ausland unterwegs waren, haben Aufführungen von Dramen von Goethe, Schiller und Lessing gesehen. Sie haben diese Theaterkompanien in die Schweiz eingeladen, weil die Schweiz damals noch keine Berufsschauspieler hatte. Die Sprache dieses Theaters war Hochdeutsch und diese Aufführungen haben keinen grossen Anklang unter dem Volk gefunden. Das führte zu einer Spannung zwischen dem Schweizer Berufstheater, das sich im 19. Jahrhundert etablierte, also der professionellen Bühne der hohen Kultur, auf der man Hochdeutsch hörte, und dem Volkstheater, in dem man viel mehr Dialekt und Schweizerdeutsch benutzte. Im 19. Jahrhundert hat sich Gottfried Keller (1819–1890) für das Drama und das Theater interessiert. Keller wollte eigentlich Dramatiker werden und ist mit dem allerersten Zürcher Kantonalen Stipendium nach Berlin gereist, um Theaterwissenschaft zu studieren. Ausser ein paar Jugenddramen und dem Fragment Therese hat er allerdings keine Dramen geschrieben. Keller ist nach fünf Jahren in Berlin nicht als Dramatiker, sondern als anerkannter Prosaautor des Grünen Heinrich nach Zürich zurückgekehrt. Der erste Band der Leute von Seldwyla, der noch in Berlin konzipiert wurde, erschien gleich nach seiner Rückkehr in die Heimat. In diesen Jahren hat Keller an zahlreichen kulturellen Anlässen teilgenommen, für die er gelegentlich Festlieder gedichtet hat. 1859 war er auch Mitglied des Zürcher Organisationskomitees eines Festes zur Einweihung des neuen Schillerdenkmals beim Rütli. Es handelt sich bei diesem Denkmal um einen 24 Meter hohen Felsturm aus natürlichem Stein, der in Ufernähe aus dem Urnersee ragt und mit der Inschrift versehen wurde: ›Dem Saenger Tells F. Schiller. Die Urkantone 1859.‹ Am 21. Oktober 1860 hat Keller der Einweihung –––––––— 2 3

Siehe Beat Schläfer: Sprechtheater in der Schweiz. St. Gallen: Stehle Druck AG, 1992. S. 24. Josef Ignaz Zimmermann: Wilhelm Tell. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Basel: Schweighauser 1777.

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des Schillerdenkmals beigewohnt und anschliessend einen Bericht darüber für die Allgemeine Zeitung geschrieben. Erst fünf Monate später hat er seinen Aufsatz Am Mythenstein für das Morgenblatt geschrieben, in dem er die Idee des Festspiels aufgreift und neu beleben will. In Kellers Vision soll das Festspiel ein beständiger Teil der schweizerischen Festtradition werden.4 In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) hat Schiller die ästhetische Erziehung als Heilmittel für die Menschheit gesehen. Schillers Theorie behauptet, wenn man es vereinfachen darf, dass Kunsterfahrung und ästhetische Erziehung in einer Zeit des Zerfalls und der Fragmentierung heilend und versöhnend wirken könnten. Der fragmentierte Mensch könnte durch eine Begegnung mit Kunst (im weitesten Sinne) zumindest vorübergehend wieder ein ›ganzer Mensch‹ werden.5 In Kellers Vision aus seinem Mythenstein-Aufsatz würde das Festspiel eine ähnliche Rolle erfüllen. Das Festspiel würde die Schweizer aus verschiedenen Kantonen, aus verschiedenen Glaubensrichtungen zusammenbringen und politisch erziehen. Die Texte dieser Festspiele sollten, so Keller, von Volksdichtern und Laien geschrieben werden. Auch das Festspiel selber wäre von Laien für das Volk aufzuführen; es sollte belebt sein, viel Musik und Gesang mit grossen Chören enthalten. Die Stimmung der Zuschauer und Teilnehmer soll durch den Gesang und den Festcharakter erhoben werden. Sie sollten ihre politischen und kulturellen Konflikte vergessen und ermutigt und mit erneuertem Glauben an die Schweizer Demokratie nach Hause gehen. Keller selbst hat allerdings keine Festspiele geschrieben. Die Visionen, die er in diesem Aufsatz präsentierte, hat er persönlich nie verwirklicht. Andererseits hat er selber ein Jahr zuvor Das Fähnlein der Sieben Aufrechten für Auerbachs Volkskalender geschrieben. Diese Erzählung handelt von der Vorbereitung und Durchführung eines historisch getreuen Schützenfestes, in dem gegensätzliche politische Parteien und Generationen wie auch Menschen aus verschiedenen sozialen Klassen zusammenkommen und versöhnt werden.6 Kellers Werke sind reichlich mit Festen aller Art versehen. Man denke an das Tell-Fest im Grünen Heinrich oder an das Sängerfest, das Jukundus und Justine am Anfang von Das Verlorene Lachen zusammenbringt.7 Seine dramatische Ader –––––––— 4

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Gottfried Keller: Am Mythenstein. In: G.K.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning et. al. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989–1996. Bd. 7. Aufsätze, Dramen, Tagebücher. Hg. von Dominik Müller. 1996, S. 164–192. Dort im Kommentar S. 839 Hinweise auf Kellers Kommissionsmitgliedschaft. »Die Menschheit hat ihre Würde verloren, aber die Kunst hat sie gerettet und aufbewahrt in bedeutenden Steinen; die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, und aus dem Nachbilde wird das Urbild wieder hergestellt werden. So wie die edle Kunst die edle Natur überlebte, so schreitet sie derselben auch in der Begeisterung, bildend und erweckend, voran.« Friedrich Schiller: On the Aesthetic Education of Man. Hg. von Elizabeth M. Wilkinson, Leonard Ashley Willoughby. 9. Brief. Oxford: Clarendon Press 1982, S. 56. Gottfried Keller: Das Fähnlein der Sieben Aufrechten. In: Keller: Sämtliche Werke (Anm. 4). Bd. 5. Züricher Novellen. Hg. von Thomas Böning. 1989, S. 235–302. Vgl. das 13 und 14. Kapitel im 2. Band des Romans: Gottfried Keller: Der Grüne Heinrich. 2. Fassung. In: Keller: Sämtliche Werke (Anm. 4). Bd. 3. Hg. von Peter Villwock. 1995,

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hat Keller in seine Novellen und Romane einfliessen lassen. Keller hat persönlich erlebt, wie schwer es damals war, sein tägliches Brot als Schriftsteller zu verdienen. Deswegen hat er sich um die Stelle als erster Zürcher Staatssekretär beworben, einen Posten, den er fünfzehn Jahre lang bekleidet hat, weil er ihm finanzielle Sicherheit gewährte. Keller hat wohl verstanden, wie schwer es für ihn gewesen wäre, in der Schweiz literarische Dramen in Hochdeutsch auf die Bühne zu bringen, weil es zu dieser Zeit noch keine Berufsschauspieler in der Schweiz gab. Die puritanische Gesinnung dem Theater gegenüber hätte es nicht zugelassen. Kellers berühmtes Wort vom »Holzboden« der Kunst bezieht sich spezifisch auf das dramatische Genre.8 Das hochdeutsche Drama war ein ausländisches Produkt und wurde als fremde, importierte Hochkultur betrachtet. Demgegenüber hatte das – oft in der Mundart verfasste – Festspiel eine lange Tradition und wurde als Volkseigentum betrachtet. Richard Wagner hat schon 1851 in seinem Aufsatz, Ein Theater in Zürich für ein eigenes Schweizer Theater plädiert. Sein Anliegen war es, einen kulturellen Aufschwung in der Schweiz nicht durch importierte Dramen aus dem Ausland zu erzwingen, sondern durch bodenständige Schweizer Werke zu erzeugen. Das Theater sollte nicht von Berufsdramatikern und professionellen Schauspielern, sondern von dem Volk für das Volk gemacht werden.9 Hierin sind sich Kellers MythensteinVision und Wagners Ideen ähnlich. Schon 1851 hat Keller in einem Brief an Baumgartner sein Einverständnis mit Wagners Überlegungen bekundet.10 In der Schweiz wird Hochkultur mit Hochdeutsch assoziiert; Volksdrama findet in der Schweizer Schriftsprache mit dialektaler Einfärbung statt. Diese Spannung zwischen Drama und Festspiel in der Schweiz lässt sich heute immer noch spüren.

Freys Festspiel von 1891 Im Jahre 1891 wurde der Zürcher Germanist Adolf Frey beauftragt, das Bundesfestspiel zur Feier anlässlich des 600jährigen Jubiläums der Gründung der Eid–––––––—

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S. 324–339; Gottfried Keller: Das verlorene Lachen. In: Keller: Sämtliche Werke (Anm. 4). Bd. 4. Die Leute von Seldwyla. Hg. von Thomas Böning. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 499–595, hier S. 499–507. Gottfried Keller: Brief Nr. 87 an Wilhelm Baumgartner vom 28.1.1849. In: G. K.: Gesammelte Briefe. Hg. von Carl Helbling, 4 Bde. Bern: Benteli 1950–54. Bd. I. 1950, S. 273–278, hier S. 276. Richard Wagner: Ein Theater in Zürich und programmatische Erläuterungen zu den Ouvertüren »Koriolan« und »Tannhäuser«. Zürich: Schulthess 1999. »Richard Wagner habe ich schon in Heidelberg in seinen ersten Schriften kennen gelernt und seither alles mit großem Interesse verfolgt, was ich von ihm erfuhr, z.B. den Aufsatz von Liszt über ihn. Sein Schriftchen über Ein Theater in Zürich habe ich mir kommen lassen und mit Freuden gelesen, [...]. Ich bin mit dem Schriftchen ganz einverstanden, nicht so mit den letzten Konsequenzen von Wagners Ideen über die Kunst der Zukunft.« Brief an Wilhelm Baumgartner vom September 1851. In: Keller: Gesammelte Briefe. Bd. 1 (Anm. 8), S. 289–298, hier S. 294.

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genossenschaft zu schreiben. Dieses Bundesfestspiel besteht aus sieben Bildern, die die wichtigsten historischen Begebenheiten und herausragenden Persönlichkeiten in der Entwicklungsgeschichte der Eidgenossenschaft hervorheben und darstellen. Das erste Bild besteht aus einem kurzen Schauspiel, das den Zuschauer an den Bundesschwur von 1291 erinnert. Die Freiheit der Urkantone wird bedroht und die Vertreter aus Schwyz, Uri und Unterwalden kommen zusammen, um die zunehmende Bedrohung seitens der Habsburger zu diskutieren. Der Stauffer Friedrich hat den Schweizern zwar den Freiheitsbrief geschenkt, aber dahinter stand nur sein guter Wille und keinesfalls eine Zusage zu Verteidigung oder finanzieller Unterstützung. Die Habsburger erstreben die Erweiterung ihres Territoriums, was natürlich den Rechten der Schweizer entgegensteht. Stauffacher erklärt sich bereit zu kämpfen, und Attinghusen duldet keinen Fremden als Richter. Der alte Eid wird neu beschworen: Schwört, innerhalb des Landes und ausserhalb Mit Leib und Gut und Blut und aller Macht Einander beizusteh'n in guten Treuen, Wer immer gegen uns Gewalthat wagt.11

Dem ersten Teil folgt ein sogenanntes ›Lebendes Bild‹. Auf der Bühne steht Tell mit der Armbrust; neben ihm der Knabe mit dem abgeschossenen Pfeil in der Hand. Das Tableau reicht aus, um die Tellsage ins Gedächtnis zu rufen; es bedarf keiner Dramatisierung derselben. Der nächste Teil des Festspiels heisst »Kampf und Sieg«; er bezieht sich auf Schweizer Heldentaten und trägt den ersten Untertitel »Die Geächteten von Morgarten 1315«. Die kurze Dramatisierung erinnert an den Januar 1314, als Schwyz mit Einsiedeln um Weiderechte gestritten hat und die Schwyzer das Kloster in Einsiedeln angegriffen und einige Mönche als Geiseln genommen haben. Die Habsburger haben Einsiedeln unterstützt und wollten diese Situation ausnutzen, um die freiheitsliebenden Schweizer zu disziplinieren. Kaiser Friedrich schickte seinen Bruder Leopold mit einer Armee, doch die Schweizer haben ihn und seine Männer am 14. November 1315 überrascht und besiegt. Frey versucht in seinem Festspiel die Schweizer, die zahlenmässig unterlegen waren, als mutige Bauern darzustellen, die durch Strategie und Heldentum eine viel stärkere Armee besiegen können. Solche Heldentaten sind natürlich nicht ohne Opfer zu haben. Attinghusen, dessen Sohn Heini zuvor wegen ungebührlichen Benehmens von seinem Vater verstossen worden war, taucht in dieser Schlacht als Held auf und verliert sein Leben. Er stirbt in den Armen seines Vaters, der ihn verbannt hatte. Die Schlacht hat damit einen bittersüssen Schluss und erinnert an die menschlichen Kosten solcher Heldentaten. In Freys drittem Bild, das »Im Laupenstreit 1339« heisst, kommen Berner und die Vertreter der Urkantone zusammen, um einander gegenseitig Hilfe zu leisten. Dieses Bild bringt zum Ausdruck, wie wichtig es für die freiheitsliebenden Schweizer war, vereinigt gegen Habsburg zu kämpfen, um Freiheit für alle –––––––— 11

Adolf Frey: Festspiel 1891. Aarau: H.R. Sauerländer 1891, S. 15.

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Schweizer zu gewährleisten. Mit der Unterstützung der Habsburger und des Jura wollte Fribourg Berns Wachstum in Schach halten. Dank der Hilfe der Urkantone hat Bern am 21. Juni 1339 bei Laupen einen Sieg über Fribourg errungen. Das vierte Bild zeigt die Ankunft der Leiche Winkelrieds in Stans 1386. Winkelried ist vermutlich nach Wilhelm Tell der bekannteste Held der alten Eidgenossenschaft. Winkelried hat sich der Sage nach im Kampf gegen die Österreicher geopfert, in dem er eigenhändig einen Angriff führte, der es den Schweizern ermöglichte, durch die erste Kampflinie der Österreicher zu brechen. Nur dank seines Heldenmuts und seines Opfers haben die Eidgenossen die Feinde besiegt. Hans Spilmatter erzählt, wie heldenhaft Winkelried gestorben ist und verspricht, für Winkelrieds Frau und Kinder zu sorgen. Alle knien nieder und beten. Winkelried geht in die Geschichte als anerkannter Schweizer Held ein. Auch dieses Tableau zeigt wiederum einerseits Heldentum und andererseits seine Kosten, die die Witwen und Kinder der Verstorbenen tragen müssen. Das fünfte Bild heisst »Unter dem Ahorn zu Turns. 1424.« Hier wird eine Vollversammlung dargestellt, in der die Drohung Österreichs besprochen wird, das gerade in Graubünden festen Fuss gefasst hat und vorhat, das ganze Schweizer Land unter seine Herrschaft zu bringen. Diese Vollversammlung wird vom Bischof Peter von Pontaningen geleitet, besteht aus Bürgern, Bauern, Adel und Geistlichkeit und kommt zusammen mit der Absicht, einen neuen Bund zu schliessen, wie die Urkantone es schon 1291 gemacht hatten. Teile des bedrohten Gebiets gehören dem letzten Grafen von Toggenburg, der vor einiger Zeit verschwunden ist. Das Bild zeigt, dass alle Schweizer aus allen Ständen der Gesellschaft in der Erkenntnis zusammenkommen, dass sie freiwillig zusammenstehen und zusammenhalten müssen, wenn sie ihre Freiheit bewahren wollen. Historisch gesehen hat Graf Friedrich VII., der letzte Graf des Toggenburger Adelsgeschlechts, während seiner Herrschaft einen Bürgerrechtsvertrag mit Zürich, Glarus und Schwyz beschlossen, der gegenseitige Hilfeleistung in Notlagen versprach. Dieser Teil des Festspiels wird ebenfalls mit einem ›Lebenden Bild‹ von Niklaus von der Flüe abgeschlossen. Niklaus von der Flüe ist auch eine Schweizer Sagenfigur, die immer wieder als Mahner auftaucht. Wir werden ihm auch als Weissager bei Arx in dem zweiten Teil seines Bundesfeierspiels begegnen. Der letzte Teil des Feierspiels trägt den Titel, »Bürgertugend und Menschenliebe«. Es besteht aus zwei kurzen, von einem ›Lebenden Bild‹ getrennten Dramoletten. In dem sechsten Bild, das den Titel »Wengi. 1533« trägt, treten bewaffnete Solothurner Bürger auf, die Katholiken geblieben sind. Sie stossen auf Reformierte und streiten über die Wahl Wengis zum Schulthessen. Die Nachricht von dem Sieg bei Kappel erhitzt die streitenden Parteien noch mehr. Die Katholiken holen eine Kanone aus dem Zeughaus und wollen auf das Spital schiessen, in dem eine Vollversammlung der Reformierten stattfindet. Der Schulthess Wengi, vermutlich von dem Lärm herbeigelockt, tritt mannhaft auf und verhindert mit besänftigenden Worten das drohende Blutvergiessen. Katholiken und Reformierte kommen zusammen und bilden einen gemeinsamen festlichen Zug. Dieses Bild will religiöse Toleranz fördern.

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Ein lebendes Bild von Aloys von Reding führt demgegenüber wieder die Kriegsthematik ein. Er hat eine Pistole in der linken Hand und einen gezogenen Degen in der Rechten, trägt ein Hirtenhemd und steht vor dem Schwyzer Landsturm. Dieses Bild eines bewaffneten Hirten kommt gleich vor dem siebenten Bild »Pestalozzi in Stans. 1798«. Soldaten der französischen Armee und der helvetischen Legion stehen um einen Freiheitsbaum und hören eine Rede, die die von den Franzosen gebrachten Segnungen lobt. Pestalozzi erscheint mit einer Schar verwaister Kinder, deren Eltern und Angehörige im Krieg gefallen sind. Pestalozzi plädiert für Fürsorge für diese Waisen und äussert den Wunsch, dass Bildung und Menschlichkeit helfen mögen, zukünftige Kriege und Kriegsgräuel zu verhindern. Unter der französischen Besatzung versucht der grosser Schweizer Erzieher, Frieden und Menschlichkeit zu fördern. Das Schlussbild in Freys Bundesfestspiel schliesslich stellt den Chor der Ahnen dar: Tell, Attinghusen, Stauffacher, Winkelried, u.a. neben einem Harst von Soldaten in alter Ausrüstung. Neben diesen stehen mindestens zwei Vertreter von jedem Kanton in der Tracht der Renaissance in Standesfarben und mit Bannern. In ihrer Mitte thront auf einem Wagen die Freiheit. Hinter diesem Wagen stehen zwei Chöre, der Chor der Berggeister und der Chor der Stromgeister. Die Ahnen fragen ihre Enkel, ob sie noch auf den alten Wegen wandeln, ob sie das Vaterland lieben und bereit zum Opfer sind. Das Feierspiel schliesst mit Segensliedern, gesungen von beiden Chören. Freys Bundesfeierspiel führt bekannte Gestalten aus der Schweizer Geschichte wie Stauffacher, Attinghusen, Tell, Winkelried, Graf von Toggenburg und Pestalozzi vor, um die Zuschauer an diese grossen Eidgenossen zu erinnern und um die Taten derselben zu feiern. Freys Festspiel besteht aus ausgewählten, prominenten Bildern oder Szenen aus der Schweizer Geschichte, mit denen sich jeder Schweizer identifizieren kann oder soll. In poetischer Vergegenwärtigung dieser historischen Begebenheiten verbinden sie Geschichte und Fiktion und dienen dazu, ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein aller Schweizer zu fördern und Tugenden wie Heldentum, Opferbereitschaft, Zusammenarbeit und auch Menschlichkeit zu ermutigen. Das Bundesfeierspiel ist somit ein politisches Erbauungsstück. Der Autor eines solchen Feierspiels muss natürlich alles vermeiden, was spaltend wirken und irgendeinen Landesteil, einen Stand oder eine Konfession beleidigen oder verletzten könnte. Er muss darauf abzielen, dass alle Bilder genau die Eigenschaften verkörpern, denen die Eidgenossenschaft nach offizieller Lesart auch im Jahre 1891 noch ihre Begründung und Existenz verdankt. Wie Keller schon erkannt hat, musste das Festspiel gerade in einem Vielvölkerstaat wie der Schweiz eine politische Rolle annehmen. Durch das Festspiel und das Bundesfeierspiel konnten gerade in Krisenzeiten gewisse Schweizer Symbole in Erinnerung gebracht und eingeprägt werden, die die gemeinsame Geschichte betonen, Ideologie verbreiten und Patriotismus für die Schweiz erzeugen. Das Festspiel war eine Möglichkeit, die verschiedenen Kulturvölker in der Schweiz zusammenzubringen und die offiziellen politischen Mythen zu bestätigen. Das war besonders vor dem Zweiten Weltkrieg nötig. Schon die

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europäischen Konfliktlinien im Ersten Weltkrieg haben die Schweiz als politische Einheit bedroht. Die französischsprachigen Schweizer haben sich mit Frankreich und seiner Kultur identifiziert. Es gab italienischsprachige Schweizer, die sich kulturell Italien zugehörig fühlten und natürlich auch deutschsprachige Schweizer, die sich mit Deutschland identifizierten. Es kam so weit, dass der Nobelpreisträger Carl Spitteler, der angeblich immer das Rampenlicht scheute, sich 1914 in einer Rede verpflichtet fühlte, »Unser[en] Schweizer Standpunkt« zu beschreiben und seine Landsmänner zu ermahnen, zusammenzukommen und die Neutralität der Schweiz zu stärken, um die Einheit der Schweiz zu schützen. Vor allem müssen wir uns klar machen, was wir wollen. Wollen wir oder wollen wir nicht ein schweizerischer Staat bleiben, der dem Auslande gegenüber eine politische Einheit darstellt? [...] Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn, und bis auf weiteres liebe Nachbarn; alle, die diesseits wohnen, sind mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder. Der Unterschied zwischen Nachbar und Bruder aber ist ein ungeheurer. Auch der beste Nachbar kann unter Umständen mit Kanonen auf uns schiessen, während der Bruder in der Schlacht auf unserer Seite kämpft. Ein grösserer Unterschied lässt sich gar nicht denken.12

Cäsar von Arx’ Festspiel von 1941 Cäsar von Arx (1895–1949) ist der einzige Schweizer Dramatiker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Schauspiele heute noch gelegentlich auf Volksbühnen und im Theater aufgeführt werden. Kein anderer Schweizer Dramatiker hat so viele von seinen Dramen zwischen 1930 und 1950 inszeniert und zwar nicht nur in der Schweiz, sondern auch auf internationalen Bühnen. Während der dreissiger Jahre war Arx für seine historischen Dramen wie Der Verrat von Novara, Der heilige Held oder Land ohne Himmel berühmt. Während der vierziger Jahre wurde er dann auch als Verfasser des Bundesfestspiels anlässlich des 650-jährigen Bestehens der Schweizerischen Eidgenossenschaft bekannt. Insgesamt hat Arx zehn Festspiele geschrieben. In erster Linie jedoch sah er sich als Dramatiker, der Dramen für das Theater schrieb. Arx rang mit sich, ob ästhetische Werte und intellektuelle Aufgeschlossenheit vor Politik und geistiger Landesverteidigung Vorrang haben sollten. Gerade deshalb muss man dieses Bundesfestspiel zur 650-Jahr-Feier des Bestehens der Eidgenossenschaft, das 1940–41 verfasst wurde, im historischen Licht dieser Zeit sehen. 1941 war Europa ein Schlachtfeld und die Schweiz war als neutrale Macht von den Achsenmächten umschlossen. Die eigene Neutralität, die Souveränität und den Frieden zu bewahren, waren Hauptziele der schweizerischen Politik. Dazu kamen eine Schar von Flüchtlingen aus ganz Europa. Das Zürcher Schauspielhaus wurde in den Kriegsjahren weltberühmt als die einzige freie deutschsprachige Bühne. Bekannte Dramatiker wie Bertolt Brecht, Georg Kaiser, Friedrich –––––––— 12

Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. Zürich: Rascher 1918, S. 7.

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Wolf, Else Lasker-Schüler, Franz Werfel und viele andere kamen mit Regisseuren und Schauspielern nach Zürich, um dort ihre Inszenierungen auf die Bühne zu bringen.13 Arx hat auch die Tätigkeiten dieser ausländischen Gäste unterstützt. Auf der anderen Seite war das kulturelle Klima vom Konzept der ›Geistigen Landesverteidigung‹ geprägt. Dies war, kurzgefasst, die historische Situation, in der Arx sein Bundesfeierspiel verfasste. Arxs Bundesfeierspiel hat drei Teile, die drei historische Perioden, 1291, 1480 und 1941 darstellen. Der Schauplatz ist der Gleiche für das ganze Spiel: »Eine mächtige Stube von schlichtem, bäuerlichem Charakter«. (A, S. 330)14 Es gibt einige Gestalten, z.B. Tell oder den Pfarrer von Schwyz, die in allen drei Teilen erscheinen. Der erste Teil beginnt mit der Gründung der Eidgenossenschaft im Jahre 1291. Konrad ab Iberg, der Landammann von Schwyz, Arnold von Silenen, der Landammann von Uri und Heinrich von Stans, der Landammann von Unterwalden, und deren Männer treten auf. Auch Melchtal, Baumgarten und Tell sind zugegen. Es gibt auch eine neunzigjährige Greisin, Frau Richenza Hunin, die die historischen Ereignisse, die die Männer besprechen, persönlich erlebt hat. Alle sind schlicht und einfach gekleidet. Die Männer tragen Hirtenhemden. Die Frauen kümmern sich um das Feuer und sitzen mit Spinnrocken am Herd. In einem riesigen Kessel kocht das Habermus. An den drei Tischen sitzen die Männer von Uri, Schwyz und Unterwalden, jede Gruppe an ihrem eigenen Tisch. Der Pfarrer von Schwyz liest aus der Chronik: »Und versprach der König Rudolf den Ländern, alle ihre Rechte, Freiheiten, Gnaden und alten Gewohnheiten wohl zu achten«. (A, S. 334) Es kommt zum Streit unter den Männern der drei Urkantone darüber, wer was wem versprochen hat. König Rudolf hat 1291 nur den Freiheitsbrief von 1231 bestätigt, den König Heinrich der Siebente diesen Urkantonen verliehen hat. Die Männer von Uri meinen, sie hätten ihre Freiheit mit dem Geld vom Wegzoll am Gotthard teuer bezahlt. Die Vertreter von Schwyz loben Kaiser Friedrich, der den Schwyzern ihre Freiheit geschenkt habe als Belohnung für ihre Tüchtigkeit als Söldner. Die Schwyzer sind stolz darauf, ihre Freiheit selber mit eigenem Blut erkauft zu haben. Die Unterwaldner meinen, dass sie freie Bauern auf eigenem Boden seien, weil Gott, der Herr, ihnen diese Freiheit versprochen habe. Nach dem Tod von König Rudolf tauchten Probleme auf. Ein Mann musste seine Frau retten und seine Ehre wahren, in dem er einen Vertreter des verhassten Landvogts umbrachte, weil der seine Frau begehrte. Ein anderer erzählte, wie jemand die Augen seines Vaters ausgestochen habe. Der Letzte musste einen Apfel von dem Kopf seines Kindes schiessen. Alle drei, Baumgarten, Melchtal, und Tell sind bekannte Figuren aus der Sage von Wilhelm Tell. Kaum haben diese Figuren ihre –––––––— 13

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Siehe auch das von Martin Stern verfasste Kapitel 6.2. »Schweizer Exildramatik« in Hans Amstutz, Ursula Käser-Leisibach, Martin Stern: Schweizertheater. Drama und Bühne der Deutschschweiz bis Frisch und Dürrenmatt. Zürich: Chronos 2000, S. 481–509. Cäsar von Arx: Das Bundesfeierspiel zum 650jährigen Bestehen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. In: C.v.A.: Werke in vier Bänden. Bd. 3. Festspiele von 1914–1949. Hg. von Armin Arnold, Urs Viktor Kamber und Rolf Röthlisberger. Olten: Walter 1987, S. 329–383. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern als (A, Seitenangabe).

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Geschichten erzählt, als Tell selber erscheint, genau wie Ferdinand Hodler ihn gemalt hat – ein starker Mann in einem Hirtenhemd aus Leinen und in kurzen Hosen. Alle erkennen ihn sofort. Tell erzählt allen, was er geleistet hat: Der Vogt ist tot. In der Stube diktiert Tell den Bundesbrief: »Wir, die Landleute von Uri, von Schwyz und von Unterwalden geloben und versprechen angesichts der Arglist der Zeit und zu besserem Schutz und Schirm, einander beizustehen mit Rat und Tat, mit Leib und Gut, mit gesamter Macht und Kraft, wieder alle und jede, die uns Gewalt und Unrecht tun.«15 Der Pfarrer schreibt and spricht, »Geschehen im Jahre des Herrn eintausend-zweihundert-und-einundneunzig, am ersten Tage des Augstmonats.« (A, S. 344) Der Bundesbrief wird versiegelt. Ein Chor fängt an, das Vermahnlied an die Eidgenossenschaft zu singen. Zum Schluss servieren die Frauen das Habermus, es wird vorher gebetet und dann gegessen. Das Abendbrot wirkt wie ein heiliges Sakrament. Weder die Anspielungen auf Schillers Tell und dessen Heldentat noch die ernste Bedeutung des Bundesbriefes für die aktuelle Zeit, 1941, sind zu übersehen. Der zweite Teil spielt 1477 bis 1481 während der sogenannten Reisläuferzeit. Die Landammänner von Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus und Zug treten auf. Dazu kommen noch die Männer der Stadt, Hasfurter von Luzern, Diesbach von Bern und Waldmann von Zürich und die eidgenössischen Kriegsleute. Die Zeiten haben sich geändert. Die Männer tragen die äusserst farbige und üppige Tracht der Reisläuferzeit. Über dem Herdfeuer sieht man Fleisch im Überfluss, Geflügel, Wildbret und ein Schwein am Spiess statt Habermus. Die Frauen werden als »leichtgeschürzt[]« (A, S. 347) beschrieben und tragen die neuen Speisen in goldenen Schüsseln und auf silbernen Platten auf. Rot- und Weisswein fliesst. Die Frauen sitzen nicht mehr am Herd, sondern unter den Männern. Dort wird zusammen gegessen, getrunken und gesungen. Es ist ein ganz anderes Bild als vorher. Die Männer aus den Städten streiten mit den Vertretern der Landkantone um die Verteilung der Kriegsbeute. Es soll nach Kopfzahl der Leute verteilt werden. Ammon Kätzi von Schwyz klagt Bern an, die Verpflichtungen des Sempacherbriefs vom 10. September 1393 nicht eingehalten zu haben,16 aus dem er vorliest: »Zum fünften und letzten ist unser fester und einhelliger Wille, daß keine Stadt und kein Land unter uns, insgesamt oder für sich, einen Krieg anfange, mutwillig, ohne Grund und Ursach, und ohne der andern Orte klare Erkanntnis.« (A, 351) Bern hatte am 25. Oktober 1474 Herzog Karl von Burgund den Krieg erklärt. Kätzi meint, Bern habe die Sicherheit der Urkantone aufs Spiel gesetzt, als es zu –––––––— 15

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»Einhellig versprechen und geloben wir einander, keine fremden Richter in unseren Tälern zu dulden. Und niemand schädige den andern an Leben und Gut. Wer Schuld auf sich geladen, leiste Genugtuung. Wenn aber zwischen Eidgenossen Streit entsteht, so sollen die Einsichtigsten unter uns zusammentreten und ihn schlichten. Unsere Bundessatzungen, zum Wohle aller geordnet, sollen mit Gottes Hilfe ewig dauern.« (A, S. 344). Mit dem Sempacherbrief von 1393 haben sich die Urkantone fester aneinander gebunden. Schweizer Truppen aus einem Kanton dürfen nicht Krieg erklären, ohne es mit den anderen Kantonen abzusprechen, denn solch ein Krieg könnte alle beteiligten Kantone im Bund gefährden. Vgl. Beatrix Mesmer: Geschichte der Schweiz und der Schweizer. Basel: Helbing & Lichtenhahn 1986, S. 209.

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seinem eigenen Nutzen diesen Krieg angezettelt habe, was Diesbach aus Bern natürlich bestreitet. Waldmann aus Zürich meint, durch den Krieg mit Burgund seien die Eidgenossen ein begehrtes Machtzentrum geworden. Andere Länder suchten nun ihre Freundschaft. Fast als Bestätigung für Waldmanns Behauptung kommen anschliessend Gesandte aus Frankreich, Rom und anderen Ländern Europas angeritten. Die Reisläufer sind stolz auf ihren neuen Ruf als Söldner. Dazu gibt es Neid, weil die Städte Freiburg und Solothurn beitreten wollen und es damit fünf Städte und fünf Landkantone im Bund geben würde. Die Landkantone haben Angst, ihre Machtposition zu verlieren. Während sie streiten, erscheint Bruder Klaus in einer langen braunen Kutte, barfuss und barhaupt. In einer Hand trägt er einen Stab, in der anderen eine brennende Laterne. Seine Mahnung lautet wie folgt: O liebe Freunde, tuet als ich euch sage, und ihr seid vor dem Drachen allzeit gefeit: Machet den Zaun nit zu weit, damit ihr dester bas im Frieden in Ruh und Einigkeit, und in der Freiheit der Väter verbleiben möget. Beladet euch nie mit fremden Händeln, bindet euch nit an fremde Macht. Wahret euch vor Entzweiung und Eigennutz. Lasset und hasset den Krieg – doch so euch jemand überfallen wollte, dann streitet tapfer für eure Freiheit und euer Vaterland! Ihr aber, ihr Frauen, waltet getreulich des Amtes, das Gott euch gegeben: hütet den Herd, ihr hütet das Herz des Vaterlandes. Sorget, daß nie sein Feuer erlischt. (A, S. 363f.)

In der Aufregung haben die unwachsamen Frauen das Feuer am Herd ausgehen lassen. Das Feuer wird mithilfe der Laterne wieder angezündet – ein Funke der Hoffnung in diesem Moment der Stille und der Demütigung. Der dritte Teil des Bundesfeierspiels findet 1941, also in der damaligen ›heutigen‹ Zeit statt und beginnt mit einem Engelschor, der »Friede[n] auf Erden« singt. Im Hintergrund aber hört man grelle Posaunenstösse, die, begleitet von dem Ruf »Krieg!«, immer stärker und drohender werden. (A, S. 367) Um die Tische in der Bauernstube sitzen und stehen Männer aller Stände und Altersstufen: Arbeiter, Soldaten, Bauern. Gewehre sind zu Pyramiden aufgestellt und landwirtschaftliche Werkzeuge und Geräte hängen an den Seitenwänden. Über dem Herd kocht ein grosser Kessel Habermus, betreut von einfach gekleideten Frauen wie im ersten Teil. Wenn sie bedroht sind, kommen alle Stände zusammen. Das hat man auch im sechsten Bild von Freys Festspiel gesehen. Der Pfarrer von Schwyz liest aus der Chronik, dass die Eidgenossen damals die Mahnungen von Bruder Klaus nicht beherzigt haben. Trotz der Worte von Bruder Klaus (Niklaus von Flüe) haben die Eidgenossen die Tür – die Grenze – zu weit offen stehen lassen. Anno 1799 kamen Napoleons Truppen hinein und verwüsteten das blühende Land. Die Brücke zur modernen Zeit und der Vergleich mit der Gefahr, die von Hitlerdeutschland droht, ist nicht zu übersehen. Die Männer fragen sich, wie viel länger dieser Krieg dauern kann. Schärtlin meint erbittert, sein Geschäft zuhause gehe den Bach hinunter, weil er über vierhundert Diensttage geleistet habe. Auch andere können sich mit ihm identifizieren. Die Landesmutter dagegen behauptet, dass sie nicht am Ende, sondern am Anfang einer neuen Eidgenossenschaft stünden. Sie meint, dass sie nicht mehr freie Bürger eines freien Landes seien, sondern an sich selbst versklavt: »Sind wir nicht untertan unsern Bedürfnissen? sind wir nicht abhängig

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von unseren Wünschen? sind wir nicht gekettet an unsern Besitz? – Gesegnet sei drum die Not, die uns not tut, die uns befreit aus der Knechtschaft des Unnötigen.« (A, S. 372) Die Landesmutter meint, diese Not tue allen Schweizern gut, weil es sie zurück zu den Quellen des Bundes führe: »Einer für alle, alle für einen!« (A, S. 372) Jedenfalls überzeugt sie die Männer, und diese schämen sich und bewundern sie. In diesem Moment kommen zugleich eine Soldatengruppe in voller Ausrüstung von der Wacht sowie eine Gruppe Landarbeiter in die Stube. Beide Gruppen wechseln die Kleidung und verlassen die Stube, um ihrer anderen Tätigkeit nachzugehen. Nach diesem Abzug loben die Männer am Beispiel der Landesmutter alle Frauen. Tell sitzt als Wachtmeister in einer Territorialkompanie unter ihnen and liest die Worte von erzener Tafel: »einander beizustehen mit Rat und Tat, mit Leib und Gut, mit gesamter Macht und Kraft, wider alle und jede, die uns Gewalt und Unrecht tun!« (A, S. 375) Der Pfarrer liest weiter aus der Chronik und erzählt von Schweizer Siegen aus ihrer Geschichte, wo z.B. am Morgarten dreizehnhundert Eidgenossen über ein Heer von fünfzehntausend Mann einen Sieg errungen haben. Tell unterstreicht diese Leistung mit den Worten: »Es siegte der Geist über die Zahl! / Es siegte der Mut über die Macht!« (A, S. 376) Die Männer fangen an, ein patriotisches Lied zu singen. Tell springt begeistert auf einen Tisch, seine ausgestreckte Hand hält das Gewehr umklammert, so wie sie im ersten Teil die Armbrust umklammert hielt. Er spricht mit Entschlossenheit: »Frei! und auf ewig frei! / Sei unser Feldgeschrei, / Schlag unser Herz!« (A, S. 377) Tell wird von einem jungen Soldaten unterbrochen, der höhnt: »Nie hinterwärts! doch auch nicht vorwärts! [...] Wehe dem Volk, [...] das sich dem Ruf der Zeit verschließt! es verschließt sich selbst den Weg in die Zukunft!« (A, S. 377f.) Der Begründer des Roten Kreuzes, Henri Dunant, tritt auf, um dem jungen Soldaten, der offensichtlich von der Macht des Dritten Reiches begeistert ist, aufzuklären: »Das ist der Ruf, der an uns gemeint ist. Das ist unsere Sendung: Hilfe zu senden.« (A, S. 378) Dunant zeigt ihm die Fahne der Eidgenossenschaft, weisses Kreuz auf Rot, und auch die andere: rotes Kreuz auf Weiss. »Hie Eidgenoß! Hie Leidgenoß!« (A, S. 379) Der Pfarrer liest die Geschichte vom barmherzigen Samariter aus der Heiligen Schrift vor. Tell zeigt auf die Rotkreuzfahne und sagt: »Diese zu schützen ist unsere Pflicht! [...] Hörst du den Ruf der Heimat nicht? – Sie mahnt uns: gedenket der Väter und wahret ihr Erbe!« (A, S. 380) Nun singen die Kinder ein patriotisches Lied. Die Landesmutter trägt jetzt einen roten Mantel mit weissem Kreuz. Sie mahnt die Versammelten, an die alten Werte zu denken, die den Menschen zum Frieden, zur Ruhe, zu Nutz und Ehren gesetzt sind. Sie führt alle in eine Erneuerung des Bundesbriefes: »›Wir, die Landleute von Uri, von Schwyz und von Unterwalden [...]‹. ALLE werfen die Hände hoch zum Schwur: ›Und beschworen von uns, am ersten Tag des Augstmonats, im Jahre des Herrn eintausend neunhundert und einundvierzig.‹« (A, S. 383) Der dritte Teil schliesst mit der Landeshymne Rufst du, mein Vaterland. Die Frauen in Arxs Festspiel sind zwar im Hintergrund, haben aber doch eine starke Ausstrahlung. Richenza Hunn, die alte Greisin im ersten Teil hat die Gräueltaten unter den Habsburgern persönlich miterlebt. Alle Kirchen wurden

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geschlossen. Kein Priester war da, um die Sakramente zu spenden. Ihr Mann ist gestorben und wurde ohne Sakrament in ungeweihter Erde begraben. Als Zeugin dieser Zeit hat sie ihre Standhaftigkeit und Tapferkeit gezeigt. Die Landesmutter in dem dritten Teil bringt es fertig, die Männer aus ihrem Selbstmitleid, ihrer Selbstgefälligkeit und Ich-Bezogenheit zu ziehen und fordert sie heraus, füreinander und miteinander zusammenzuarbeiten, um den Schweizer Staat vor dem Untergang zu retten. Die Männer erkennen ihre Grösse und respektieren sie. Die Landesmutter in dieser Rolle erinnert sehr an die Rolle der alten Stauffacherin in Schillers Tell. Der Pfarrer von Schwyz, der immer aus der Chronik vorliest, verkörpert Ehrlichkeit, Standhaftigkeit und die Würde seines Amtes. Bruder Klaus tritt im zweiten Teil mit Mahnungen auf. Er versucht, die Eidgenossen der Reisläuferzeit von ihrem gefährlichen Spiel abzuhalten. Er ist eine Vaterfigur, der Respekt gebührt, obwohl sein Rat hier kein Gehör findet. Die Figur des Niklaus von der Flüe gehört schlechthin zu dem Festspiel. Kein Bundesfeierspiel wäre möglich ohne die Figur von Wilhelm Tell. Im ersten Teil taucht er als Retter auf, der den Vogt ermordet hat. Im dritten Teil ist er ein Wachmeister in einer Territorialkompanie, ein Mann unter Männern. Er wird von den anderen respektiert und hofft, den Männern mithilfe seiner patriotischen Sprüche und seiner Vaterlandsliebe Respekt für die Vorfahren, Hoffnung und Mut zufliessen zu lassen. Neu in Arx’ Bundesfestspiel ist die Figur von Henri Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes. Er scheint hier einen neuen Weg für die Schweiz zu bahnen, der ihre Neutralität betont als ein Land, das anderen Menschen Hilfe leistet. Er sieht die neue Aufgabe der Schweiz, »Hilfe zu senden« als »die Krönung« dessen, was die Schweiz im Namen der Väter und von deren Bund erreichen könnte. Um die Neutralität zu schützen, muss die Schweiz allen kriegerischen Parteien Hilfe anbieten. Tells letzte Worte waren: »Hörst du den Ruf der Heimat nicht? Sie mahnt uns: gedenket der Väter und wahret ihr Erbe! [...] Den schützt die Freiheit nur, der sie beschützt!« (A, S. 380)

Herbert Meiers Festspiel von 1991 In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erwarb die Schweiz einen zuvor nicht gekannten Wohlstand. Aufgrund ihrer Neutralität überstand sie zwei Weltkriege ohne Zerstörung oder Kriegseinwirkung und es gab keinen Grund mehr, sich um den Zerfall der Schweiz zu sorgen. Die überwältigende Mehrheit ihrer Bürger identifizierte sich mit der Schweiz und der Wohlstand der Nachkriegszeit gab fast allen Schweizern die Möglichkeit eines bequemen Lebens. In dieser Atmosphäre der Zufriedenheit aber auch der satten Selbstgefälligkeit wurde Sozialkritik, wie sie Frisch und Dürrenmatt formulierten, möglich und dringlich. Dürrenmatts Kritik der Wohlstandsgesellschaft in Der Besuch der alten Dame erinnert ein wenig an die alten Revolutionäre in Kellers Fähnlein der Sieben Aufrechten,17 die einhundert Jahre zuvor vor den Gefahren solchen –––––––— 17

Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Zürich: Arche 1956.

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Wohlstands und seiner Auswirkungen auf eine egalitäre Gesellschaft gewarnt haben. Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule hat den Wilhelm-Tell-Mythos gründlich erforscht und dekonstruiert.18 Während der achtziger Jahre hat Frisch seine kritische Aufsätze über die Schweiz herausgebracht mit provozierenden Titeln wie: Schweiz ohne Armee?, Ohne Widerstand – keine Hoffnung, Demokratie ohne Opposition oder Haben wir eine demokratische Öffentlichkeit?19 Fast schien es, die Schweiz habe die Notwendigkeit ihrer Symbole und pseudohistorischen Figuren überwunden und es sei nicht mehr nötig, den alten Tell aus der Kiste zu holen und auf die Bühne zu stellen. Aber Tradition blieb doch Tradition. 1991 nahte die 700-Jahr-Feier zur Gründung der Eidgenossenschaft, und was wäre eine Jubiläumsfeier der Schweiz ohne ein Bundesfeierspiel?! Eine Beratergruppe aus Literatur- und Theaterkennern hielt ein Festspiel für wichtig und beauftragte den etablierten Dramatiker Herbert Meier aus Zürich ein Bundesfeierspiel zu schreiben. Meier behauptet, keines der historischen Festspiele gesehen oder gelesen zu haben (M, S. 107).20 Es war auch nicht seine Absicht, ein Festspiel im traditionellen Sinne zu konzipieren, er wollte vielmehr einfach ein dramatisches Stück für eine Freilichtbühne schreiben, (vgl. M, S. 106) mit professionellen Schauspielern und Laien für die Gruppenszenen. Meier wollte »Ein Theater entwicklen, das mit allen sinnlichen Eindrücken, welche die Umgebung bietet, und mit neuesten technischen Möglichkeiten zusammen ein totales Erlebnis für die Besucher darstellt«. (M, S. 109) Um diese Wirkung zu erreichen, wurde Hans Hoffer als Regisseur angestellt, um Meiers Stück zu inszenieren. Hoffer ist bekannt für seine »bahnbrechende[n] avantgardistische[n] Bühnenexperimente«. (M, S. 108) Der Schauplatz für Meiers Festspiel war der Marktplatz in Schwyz, der Kantonshauptstadt des gleichnamigen Kantons. Die Freilichtbühne wurde auf diesem zentralen Platz aufgebaut. Die Stadt liegt zwischen dem Urnersee, der Teil des Vierwaldstättersees ist und zwei hohen Bergen, den sogenannten Mythen. Meier hat seinem Feierspiel den Titel Mythenspiel gegeben, benannt nach den zwei Gipfeln, die dicht hinter der Stadt liegen. Meier behauptet, es sei nur eine geografische Bezeichnung, aber es ist fast unmöglich, die Doppeldeutigkeit dieses Titels zu übersehen (vgl. M, S. 112). Mythenspiel ist nicht nur ein Festspiel, das unmittelbar vor diesen Bergen stattfindet, sondern es ist auch und vor allem ein Spiel mit den Schweizer Mythen selber. –––––––— 18 19

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Max Frisch: Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. »Zum Beispiel: 0,5% besitzt 50% des versteuerten Gesamtvermögens, d.h. von 200 Eidgenossen besitzt 1 Eidgenosse soviel wie die 199 andern. Und unter 10 Eidgenossen ist es 1 Eidgenosse, der 80% der Immobilien besitzt....« Max Frisch: Demokratie – ein Traum? Fragen. In: M.F.: Schweiz als Heimat. Versuche über 50 Jahre. Hg. von Walter Obschlager. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 489–492, hier S. 490. In diesem Band auch die anderen oben erwähnten Aufsätze S. 493–547, S. 470–488, S. 260–262, S. 457–460. Herbert Meier: »Nur kein herkömmliches Festspiel...«. In: H. M.: Mythenspiel. Ein großes Landschaftstheater mit Musik. München, Zürich: Piper 1991, S. 103–125. Zitatnachweise dieses Werkstattgesprächs und des Spiels selbst im laufenden Text in Klammern als (M, Seitenangabe).

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Wie Freys Festspiel aus dem Jahre 1891 ist auch Mythenspiel in Szenen aufgeteilt, und zwar in insgesamt 22. Teiler, der Protagonist, ist ein Schweizer Jedermann. Nach einem Autounfall, bei dem seine Gefährtin, Barbara, verloren gegangen ist, beginnt Teiler eine lange Reise bei Nacht, geführt von dem Spielführer, Vinz Hans, dem Schweizer Iberger Riesen, der im Frühling mit Berggipfeln kegelt. Diese traumartige Reise bei Nacht führt durch wilde Berglandschaften. Teilers Hauptanliegen ist es, Barbara wieder zu finden. Unterwegs begegnet Teiler hauptsächlich historischen Figuren, lebenden und toten, aus allen Zeiten der Schweizer Geschichte. Mithilfe des Scheibenhunds begegnet Teiler nicht nur einem Tell, sondern drei Tellen, die er aus dem Schlaf wecken muss. Vinz, Teilers Reiseführer, gibt zu, die Tellen »nur aus der Sage« zu kennen. »Wir sind am Axenfels, Teiler, da spukt's. Sie waren unauffindbar über Jahrhunderte, nur dann und wann, wenn das Vaterland in Not war, so wird erzählt, sah man sie durch die nähere Gegend ziehen.« (M, S. 24) Der älteste Tell stammt aus Uri, der mittlere Tell aus Schwyz und der jüngste Tell aus Unterwalden. Die Tellen streiten untereinander. Der ältere Tell hat viel von dem alten Habsburger gehalten – »Ein gerechter Richter«. (M, S. 26) Der mittlere Tell nennt ihn »Unser Schutzherr«. Der Junge Tell hält dagegen: »Diese Schutzherrn, Freunde, müßt ihr wissen, kreisen wie die Adler über uns und richten ihr Auge scharf auf den Sankt Gotthard.« Der Jüngere weist darauf hin, wie viel Arbeit der Pass kostet und wie viele Leben er fordert. Der Jüngere will wissen, »wer aber den Wegzoll einsackt?« Eine rhetorische Frage, denn er weiss, es ist der König. Der alte Tell meint, »Der Junge redet unbesonnen.« Der Junge antwortet: »Wär ich besonnen, hieße ich nicht Tell.« Der Mittlere schlägt einen Kompromiss vor: wir müssen »die alten Freibriefe neu beschwören«. (M, S. 27) Der Junge Tell: »Diese ewigen Briefe«. Der alte Tell: »Stillehalten, sagte ich, den Frieden wahren, den Frieden, Freunde.« Teiler wird aufgefordert, ein Manifest der drei Tellen, die ihm abwechselnd diktieren, aufzuschreiben: Einhellig versprechen wir einander [...] und setzen fest [...] und ordnen an [...] daß wir bei uns keinen Richter [...] dulden [...] der sein Amt mit Geld oder anderswie gekauft hat [...] und nicht einer der unseren ist. [...] Wir verwalten uns selbst, wir richten uns selbst, herrschaftsfrei. (M, S. 28)

Teiler muss schwören, dass er alles Wort für Wort aufgeschrieben hat. Offensichtlich ist auch heute noch ein Bundesfeierspiel ohne Tellfigur undenkbar. Die Tellen dulden keinen Richter, der sein Amt gekauft hat – das erinnert uns an Dürrenmatts Alte Dame und auch an Kellers Fähnlein und an Frischs Aufsätze, die uns die Gefahren individuellen Reichtums und seiner Wirkung auf die Politik vor Augen führen. Teiler scheint keine Ahnung von dieser Tradition oder von seiner eigenen Geschichte und den Schweizer Sagen zu haben. Im Vergleich zu Frey und Arx finden wir diese Tellen lustig, eben weil sie menschlich wirken und untereinander streiten, aber doch den Bundesbrief neu beschwören. Teiler befindet sich unweit des Schlachtfelds von Marignano und freut sich, echte Söldner aus dem frühen 16. Jahrhundert kennenzulernen. Die drei Tellen begleiten ihn. Teiler denkt wahrscheinlich an Hodlers Gemälde, eine heroische

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Darstellung der Geschlagenen, die aus der Schlacht zurückkehren, wenn er sagt: »Es war eine Schlacht der Giganten, und ihr seid dabei gewesen.« (M, S. 30) Vinz muss Teiler aufklären: »Du hast sie nie begriffen, deine Helden. Es war Arbeit zeitlebens, Kriegsarbeit für Geld. Ihr Leben war verkauft, von Geburt an. Ein Elend war ihr Leben.« (M, S. 31) Teiler trifft auch die Frauen der verstorbenen Soldaten und hört ihre Klagen: »Was ist es, daß sich die Männer schlachten, seit Ewigkeiten, sich schlachten und opfern, – für wen?« (M, S. 31) Teilers Vorstellung von dem Heldentum der Schweizer Söldner, das Frey und Arx noch ganz unkritisch gefeiert hatten, ist zerschlagen; er hat genug gehört und will zurück ins wirkliche Leben. Er landet zunächst bei einem reichen Patrizier, der eine schöne Tochter namens Eugenia hat. Eigentlich wird Eugenia von einer verkleideten Barbara gespielt – Teilers verloren gegangener Lebensgefährtin. Nach altem Brauch bringt eine Freundin drei Rosen, die unter den drei Freiern verteilt werden. Der Mann, der am Ende eine unverwelkte Rose in der Hand hat, wird der erwählte Bräutigam. Teiler befindet sich als Mitbewerber in diesem Spiel. Die Rosen der ersten zwei Männer, eines Dichters namens Serenus und eines Holländers namens Potterlo, verwelken. Der Gast, Teiler, hat unverhofft die Braut gewonnen. Aber Teiler hat nur die äussere Schönheit von Eugenia wahrgenommen: wie sie selber sagt: »Du siehst ja nur die Hülle, nicht mich selbst.« (M, S. 43) Ihr Kleid fällt weg, und enthüllt einen schwarzen Leib voller »Todesfrüchte«. Das Spiel war wie ein Märchen mit Elementen einer barocken Vanitas-Allegorie: Teiler hat die Braut zwar den Spielregeln nach gewonnen; das Happy End aber wurde ihm entzogen. In der zehnten Szene begegnet Teiler Hudi, einer volkstümlichen Gestalt aus Schwyz; eigentlich eine junge Frau, als alte Frau verkleidet. Seine Neugier macht ihn ungeduldig und er reisst die Larve ab, erwartet Barbara zu sehen und entdeckt, dass Hudi ein junges Mädchen ist. Sie regt sich über seine Frechheit auf und verschwindet. Kaum ist das Mädchen weg, da begegnet Teiler einem alten Herrn, der als Pestalozzi erkennbar ist, weil er immer von Kindern umringt ist, von Stans und seinen Erfahrungen mit Kindern erzählt. Diese scheinen immer bereit, noch mehr obdachlose Kinder aufzunehmen, auch wenn sie dann selber noch weniger haben würden: Kinder verstehen zu teilen. Wie bei Frey fordert dieser Auftritt von Pestalozzi die Schweizer Zuschauer auf, Kindern und Menschen in Not zu helfen. Als Nächstes trifft Teiler Ignaz Paul Vital Troxler aus Beromünster, den Mediziner, Anthropologen, Politiktheoretiker und Philosophen an der Universität Bern, der seinerzeit ungerecht behandelt wurde: Ich habe mich der Obrigkeit widersetzt. Denn sie wollte Ungeheuerliches von mir. Auf ihr Geheiß hätte ich meine Studenten bewaffnen sollen, damit sie draußen vor der Stadt auf die Aufständischen schießen. Ich teilte keine Waffen aus, ich verbot das Töten. Denn was wollten die Aufständischen? Nichts als das alte Recht der Freiheit und keine Herrschaft mehr über sich. (M, S. 63f.)

Troxlers Aufgabe ist es, an das uralte Freiheitsrecht zu erinnern. Troxler hat einen alten Übersetzer namens Erasmus dabei. Erasmus will von Teiler wissen, ob die Bergpredigt heute noch bekannt sei. Teiler weiss noch von seiner Kindheit:

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»Selig sind die Friedfertigen«. (M, S. 65) Erasmus behauptet, dass »Friedfertigen« die falsche Übersetzung sei. Es heisse vielmehr »Friedensmacher«. »Ich kenne mein Griechisch (eiränopoioi).« Er fügt hinzu: »Man hat es uns falsch übersetzt, wie so vieles: um uns auf den göttlichen Frieden im Jenseits zu vertrösten; um alles Hiesige zu rechtfertigen, die Machtherrschaft, die Unterwerfung, den Krieg.« (M, S. 66) Erasmus weist auf einen Friedensmacher hin, nämlich Dunant, der als Clochard auf der Mauer sitzt. Auch Arx hatte schon Dunant in sein Festspiel aufgenommen und seine Rolle war ähnlich als Symbol für die Friedensstifter und um die Schweiz als Land zu repräsentieren, das Hilfe sendet. Troxler taucht wieder auf und bittet Teiler, sein Gesetz aufzuschreiben: »Staat, überwinde dich selbst, anders unterliegst du dir selbst.« (M, S. 84) Dieser Rat kommt gut gelegen, da Teiler bei dem Schweizer Bundespräsidenten eintrifft, der eifrig am Schreibtisch in einer Felshöhle arbeitet. Die Tochter des Bundespräsidenten (eigentlich Barbara, in der Gestalt von Lydia) liest Rousseau im Park und arbeitet daran, einen neuen Staat zu konzipieren. Teiler taucht im Park auf, wird sofort zum neuen Sekretär ernannt, denn als Frau dürfte Lydia ihrem Vater in der Politik nicht Hilfe leisten. Der Bundespräsident will die Schweiz wirtschaftlich ausbauen und weiter entwickeln – ohne Rücksicht auf die Kosten. Die politische Opposition versucht, den Bundespräsidenten zu stürzen, was dieser so kommentiert: »Es ist etwas Seltsames in diesem Land. Wer das Mass übersteigt, den verfolgen sie und treiben ihn in Verzweiflung und Einsamkeit. Später dann bauen sie ihm ein Denkmal.« (M, S. 94) Der Präsident bekommt Besuch von den drei Tellen, die ihre Urkunde abgeben wollen, die Teiler eben aufgeschrieben hat. Teiler tut, als ob er sie nicht kennt, aber sie kennen ihn. Der Präsident hat auch noch nie von den Tellen gehört, aber er hält ihre Urkunde für wichtig. Teiler wird sofort entlassen, weil er die Wichtigkeit der Urkunde nicht erkannt hat. Barbara, als Lydia verkleidet, versucht Teiler auf die richtige Spur zu bringen: »Die Toten sind unter uns, mit ihren Träumen, Botschaften, Leiden, darin ist viel künftiges Leben. Das scheinen Sie, Teiler, nicht zu wissen.« (M, S. 98) Vinz erscheint und entlässt Teiler aus seinem Nachttheater. Barbara taucht auch auf und wird mit Teiler wieder vereint. Damit schliesst Meiers Bundesfeierspiel. Peter von Matt hat 1987 in Bern ein Symposium über die Krise und den Niedergang dieser Festspieltradition organisiert, in dem von Matt weiterführende Thesen zu Festspielformen und -inhalten für Gegenwart und Zukunft vorgestellt hat.21 Vielleicht ist mit Meiers Festspiel von Matts Zukunftsvision in Erfüllung gegangen. Meiers Festspiel versucht auf einer freien Bühne vor einer Berg- und Seenlandschaft die Architektur des Menschen mit der Struktur der Landschaft und der Natur zusammenzubringen nach dem Motto: »Die Seele ist ein weites Land.« (M, S. 114)22 Tatsächlich erinnert Teilers Reise durch die –––––––— 21

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Peter von Matt: Die ästhetische Identität des Festspiels. In: Balz Engler, Georg Kreis (Hg.): Das Festspiel. Formen, Funktionen, Perspektiven. Willisau: Theater-Kulturverlag 1988, S. 12–28 (= Schweizer Theaterjahrbuch 49). Hans Hofer, der für die Inszenierung und die Bühnenausstattung des Mythenspiels verantwortlich war, zitiert hier Arthur Schnitzler.

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Nacht auf der Suche nach Barbara auch an Fausts Erlebnisse in der Walpurgisnacht oder aber an Dantes Divina Commedia. Teilers Reise führt quer durch die Geschichte der Schweiz. Unterwegs trifft er einige klassische Festspielgestalten wie die Tellen oder Hudi, auch Vinz, der Spielführer, der eigentlich mehr von der Fastnachtstradition hat als von dem Iberger Riesen. Teiler hat auch viele Gestalten getroffen, die nicht Teil des traditionellen Festspielrepertoires sind aber doch wichtige Gestalten in der Schweizer Kultur waren wie zum Beispiel Troxler, Pestalozzi oder Dunant. Es war Meiers Anliegen, historische Figuren aus Sagen und aus der Geschichte aufzugreifen und auch Figuren aus einer Zauberwelt wie den Scheibenhund hinzuzufügen, um die Relevanz dieser Gestalten für unsere moderne Welt darzustellen. Teiler, der Schweizer Jedermann, macht zusammen mit den Zuschauern in einer Nacht eine Bildungsreise durch die Schweizer Kultur und Geschichte. Nicht alle Märchen, Mythen oder Sagen haben ein glückliches Ende. Er erlebt aus erster Hand, wie Geschichte manchmal falsch ausgelegt wird: Die Söldner waren keine Helden, wie er vorher gedacht hat. Sie haben in Elend gelebt, sind früh gestorben und haben ihre Frauen und Kinder im Stich gelassen. Von Erasmus erfährt Teiler die Wirkung, die ein falsch übersetztes Wort haben kann. Von Lydia lernt er, das die Toten mit ihren Träumen und Leiden uns viel zu lehren haben. Troxler teilt Teiler seiner Philosophie mit: »Wer sich selbst nicht überwindet, der unterliegt sich selbst eines Tages.« (M, S. 84) Teiler, der Schweizer Jedermann, muss sich überwinden, hat sich vielleicht in dieser Nacht überwunden. Man hat den Verdacht, dass Barbara dahinter steckt, weil Barbara, als Eugenia oder als Lydia verkleidet, öfter auftaucht. Wie Lydia, die einen neuen Staat konzipiert, hat Barbara versucht, Teiler zu helfen, sich zu überwinden. So fordert diese Nacht den Protagonisten und auch uns als Leser oder Zuschauer zum Nachdenken auf. Im Gegensatz zu Freys konservativem Festspiel von 1891 und von Arxs Bundesfestspiel im Zeichen der geistigen Landesverteidigung von 1941 steht die Schweiz in Meyers Festspiel von 1991 nicht als von aussen gefährdet, sondern als wohl etabliert und florierend dar. Teiler dürfte eine Kritik darstellen an allen Schweizer, die ihr Kulturerbe nicht pflegen. Dieser Mangel an historischem Bewusstsein könnte als Mahnung für die Zukunft interpretiert werden. Gleichzeitig scheint Meier mehr daran interessiert, der modernen Schweizer Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und ihr ein paar Denkanstösse aus Anlass der 700. Jubiläumsfeier der Eidgenossenschaft zu bieten. Meier hat somit ein Festspiel geschrieben, das der aufgeschlossenen Gesinnung der modernen Zeit entspricht. In Mythenspiel hat er die traditionellen Grenzen des Festspiels gesprengt. Dieses Festspiel fordert uns auf, das Schweizer Kulturerbe immer wieder neu zu untersuchen, neu auszulegen, und vielleicht fordert es uns auch ganz persönlich auf, anders zu leben.

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Zur Entmythologisierung des Schweizer Selbstbildnisses Die ›Schweizer Stücke‹ von Herbert Meier

In ihrem ausgezeichneten Buch A Short History of Myth unterstreicht Karen Armstrong die Zentralbedeutung des Mythos für unsere Existenz. Wir sind, so ihre These, »meaning-seeking creatures«, sinnsuchende Wesen, Menschen also, die seit undenklichen Zeiten Geschichten erfunden und entwickelt haben, damit wir unser kurzes Leben in einen größeren, bedeutungsvolleren Kontext stellen können.1 Mythen, Geschichten und Legenden stellen uns seit je feste Grundstrukturen zur Verfügung, die gegen die allzuoft als chaotisch erscheinende Wirklichkeit Schutz gewähren. Eben durch das Erzählen von Geschichten versuchen wir, uns in der verwirrenden Welt zu orientieren. Nach Armstrong ist die menschliche Phantasie, die in dieser Fabulierlust zum Ausdruck kommt, genau dieselbe Eigenschaft, die die Naturwissenschaftler und Technologen kennzeichnet. Wie bei diesen geht es auch dem Erzähler von Mythen nicht darum, der Welt auszuweichen, sondern darum, sich der Welt zu stellen, um darin intensiver leben zu können.2 Im Gegensatz zu solchen positiv humanistischen Gedanken hat Manfred Pfister neulich einen anderen Aspekt des Mythos hervorgehoben. Er hat auf die Tendenz von »totalising myths« hingewiesen, eine oberflächliche Homogenität zu beschwören, die »the fissures and fault lines created by divergent interests« übertüncht.3 Er schreibt: »One important task that myths perform is to prevent questions, to forestall their being asked in the first place«.4 Mit anderen Worten: »totalisierende Mythen« tragen dazu bei, die Macht und Hegemonie einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu untermauern, indem sie die Interessen anderer Gruppen unterdrücken, sogar eliminieren.5 Die Hartnäckigkeit, mit der diese ideologische Funktion des Mythos verteidigt wird, läßt sich im Schweizer Kontext am Beispiel von Wilhelm Tell leicht darstellen. Seit dem späten 18. Jahrhundert hatte der neue Historizismus mit seiner damals bahnbrechenden Forschungsmethodik klar bewiesen, daß dieser Urschweizer Held nie existiert hatte und seinen Teil am Befreiungsmythos von 1291 also als reine Fiktion –––––––— 1 2 3 4 5

Karen Armstrong: A Short History of Myth. Edinburgh, New York, Melbourne: Canongate 2005, S. 2. Ebd., S. 3. Manfred Pfister: Europa/Europe. Myths and Muddles. In: Richard Littlejohns, Sara Soncini (Hg.): Myths of Europe. Amsterdam, New York: Rodopi 2007, S. 21–33, hier S. 29. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29.

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entlarvt. Zu einer Zeit, wo Mythos und nationale Selbstständigkeit eng miteinander verwoben waren, wurde über solche wissenschaftlichen Ergebnisse heftig gestritten. So sprach Gottfried Keller für viele seiner Landsleute in seinem Gedicht Die Tellenschüsse von 1845: Ob sie geschehn? Das ist hier nicht zu fragen; Die Perle jeder Fabel ist der Sinn, Das Mark der Wahrheit ruht hier frisch darin, Der reife Kern von allen Völkersagen.6

Natürlich hatten die politischen Errungenschaften der Schweiz im 19. Jahrhundert mit Wilhelm Tell und seiner Legende sehr wenig zu tun. Diese verkörpern sich vor allem in der Verfassung von 1848, die dem modernen Bundesstaat den Grundstein legte, und in dem darauf folgenden industriellen Aufschwung. Zwei herausragende Ereignisse, die diesen neuen Staat charakterisierten, waren der Gotthard-Tunnel, den der sogenannte ›Eisenbahnkönig‹ Alfred Escher im Jahre 1882 konstruierte, und die Begründung des Roten Kreuzes durch Henry Dunant fast zwei Jahrzehnte früher. Als Vertreter des industriellen Unternehmungsgeistes einerseits und des humanistischen Idealismus andererseits gewannen diese beiden Individuen mit der Zeit einen fast mythischen Status für das Schweizer Selbstverständnis. Wie eben der Tell, lösten sich diese Figuren als Ikonen rasch von der konkreten Geschichte ab. Die Frage danach, wie solche Mythen unangefochten zustandekamen und dabei die soziale Realität oft verdrängten, war Herbert Meier Anlaß genug, den gesellschaftlichen Kontext, in dem Escher und Dunant lebten, zu untersuchen und dessen Relevanz für heute zu erkunden. In seinen fünf ›Schweizer Stücken‹ – Stauffer-Bern (1974), Dunant (1976), Bräker (1978), Der Fähnrich von S. (1991) und Mythenspiel (1991) – stellt der Dramatiker also die Vorurteile seiner Zeitgenossen in Frage, indem er die noch gängigen Mythen demontiert, die das Schweizer Selbstverständnis im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts unterstützten.7 *** Der Skandal, den das Durchbrennen von Lydia Welti-Escher, Tochter des ›Eisenbahnkönigs‹ and Ehefrau des prominenten Bankiers Emil Welti mit dem Maler Karl Stauffer-Bern (1857–1891) im späten 19. Jahrhundert auslöste, muß Herbert Meier schon deshalb gereizt haben, weil er ihm die Gelegenheit verschaffte, »extreme Individuen, ihre politischen und menschlichen Kollisionen« in einer Gesellschaft darzustellen, wo soziale Gegensätze hinter der idealisierten Maske bürgerlichen Selbstvertrauens versteckt sind.8 Die Handlung von Stauffer-Bern –––––––— 6

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Gottfried Keller: Die Tellenschüsse. In: G.K.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989–1996. Bd. 1. Gedichte. Hg. von Kai Kaufmann. 1991, S. 463. Aus Platzmangel können die eher als Kammerspiele konzipierten Komödien Bräker und Der Fähnrich von S. hier leider nicht behandelt werden. Herbert Meier: Theater, nichts als Theater. Erfahrungen. In: NZZ, Nr. 265, 12./13.11.1994,

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wird von einem Vor- und Nachspiel rückblickend umrahmt. Hier wird bei einem förmlichen Bankett in banalen, selbstgefälligen Reden die Gründung der Gottfried-Keller-Stiftung gefeiert. So werden schon in der szenischen Gestaltung der endgültige Triumph der feinen Gesellschaft, die Restauration bürgerlicher Macht und bürgerlichen Prestiges markiert. Stauffer-Berns Grabstein – die »Kollisionen« haben ihn in den Selbstmord getrieben, dem Lydias eigener Freitod bald folgen soll – steht im Vordergrund als stilles Symbol der Tragödie, die durch diese heuchlerische Zeremonie eben verdrängt wird. (Im Nachspiel bedeckt ein rot-weißer Kranz das Grab, der die knappe Formel ›Der Schweizer Bundesrat‹ trägt.) Obwohl die Stiftung durch Lydias nach der Ehescheidung zurückerstattetes Vermögen finanziert worden ist, stellt deren Umbenennung – Lydia hatte die kulturelle Initiative ursprünglich ›Welti-Escher Stiftung‹ taufen wollen –, mit dem Namen des größten Schweizer Dichters als Galionsfigur, den offensichtlichen Versuch dar, Lydias Identität und damit ihren Klassenverrat zu tilgen. Die falsche Bescheidenheit ihres Ehemannes, mit der er die Wahl rechtfertigt – »Bescheidenheit, oder nennen Sie es / Selbstverleugnung. Wir sind so erzogen« –9 leiht der ganzen Prozedur einen besonders schäbigen Ton der Unehrlichkeit.10 Die »politischen und menschlichen Kollisionen« in Stauffer-Bern drücken sich thematisch in zwei miteinander verwickelten Bereichen aus: erstens der Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft, und zweitens die brutale Macht einer starren Patriarchalität, die die individuelle Freiheit sofort unterdrückt, wenn diese das bürgerliche Ansehen und die damit verbundenen moralischen Normen bedroht. Das Thema des Künstlers, der den Versuch macht, den normativen Ansprüchen der Gesellschaft zu entfliehen, wird schon im Vorspiel angeschnitten. Der Kulturattaché, Rochette, der Schweizer Botschafter in Italien, Bavier, and der Bundesrat Welti, Lydias Schwiegervater, spenden Gottfried Keller übertriebenes Lob: »ein Genius des Vaterlandes«, »eine Zierde der Schweiz« (SB, S. 13). Da der große Dichter vor kurzem verstorben war, ist er nun endlich –––––––—

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S. 66. Weiteres zum Skandal bei Bernhard von Arx: Karl Stauffer-Bern und Lydia Escher. Chronik eines Skandals. Ergänzte und erweiterte Neuauflage. Bonn, Gümlingen, Wien: Zytglogge 1991. [Zuerst 1969 u.d.T. Der Fall Stauffer. Chronik eines Skandals]. Siehe auch den eher journalistisch angelegten, aber gut recherchierten Bericht von Willi Wottreng: Die Millionärin und der Maler. Die Tragödie Lydia Welti-Escher und Karl Stauffer-Bern. Zürich: Orell Füssli 2005. Herbert Meier: Theater I. Schweizer Stücke. München, Zürich: Piper 1993, S. 13. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern mit Seitenzahl: SB = Stauffer-Bern, D = Dunant, M = Mythenspiel. Vgl. Paul Nizons bissigen Kommentar zur späteren Arbeit der Gottfried-Keller-Stiftung: »Die Gottfried-Keller-Stiftung ist die Geld und Tat gewordene Wiedergutmachung am Unrecht, das die Heimat Stauffer angetan hat. Sie versteht ihre Aufgabe darin, zu sammeln, was die Gesellschaft in der Zeit an grossen Söhnen nicht zu tragen vermochte und an schöpferischen Energien verschleudert hat. Sie webt so korrigierend und flickend am Kunst- und Mythen-Teppich der Nation.« Paul Nizon: Stauffer-Bern und die Wiedergutmachung. In: P.N.: Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst. Zürich, Köln: Benziger 1973, S. 81–88, hier S. 88.

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zur kulturellen Aneignung reif. Im Gegensatz dazu muß »das Zeitgenössische« mit großer Vorsicht behandelt werden: Bundesrat Welti: Wir fördern auch das Zeitgenössische, Herr Attaché, ausnahmsweise und mit Maßen, versteht sich. Denn das Zeitgenössische – wie sagten Sie neulich, Bavier? Das Zeitgenössische – Bavier: Das Zeitgenössische zersetzt die gesunden Verhältnisse. Bundesrat Welti: So ist es. Schauen Sie sich unsere Künstler an. Es wimmelt von krankhaften Existenzen im Land. Überall tritt man in seelische Kloaken, und Kloaken verdienen keine Förderung. (SB, S. 14)

Die unmittelbare Anspielung auf Emil Staiger, den damalig prominentesten Vertreter der Schweizer Universitätsgermanistik, dessen Schillerpreis-Rede Literatur und Öffentlichkeit, 1966 in Zürich gehalten, den sogenannten ›Zürcher Literaturstreit‹ auslöste, läßt keinen Zweifel darüber, daß Meier seine Kritik auf das heutige Publikum richtet. Denn für die Kunst haben diese mächtigen Repräsentanten des Schweizer Großbürgertums eine einzige Verwendung: Wie Welti rundheraus behauptet: »Die Kunst soll dem Vaterlande dienen / es besingen, wie unser Keller es besang« (SB, S. 14). Bei dieser Instrumentalisierung der Kunst wird Kellers Seldwyla-Kritik selbstverständlich vertuscht. Schon in der ersten Szene thematisiert Stauffer-Bern die problematische Rolle, die die Kunst in der Gesellschaft seiner Zeit zu spielen hat. Da der Maler sich dem entscheidenden Einfluß des Kunstmarkts aus freien Stücken gebeugt hat, hat er als Porträtist in Berlin großen Erfolg erzielen können. Der Preis für diese soziale Anpassung ist dementsprechend hoch: »Ich bin ein wahres Kunsttier geworden« (SB, S. 17). Die Herabwürdigung seines schöpferischen Potentials zu dem, was er »die ewige Abmalerei« nennt, wodurch sein Talent sich verbraucht, indem er »nachäfft und pinselt, / was einer photographieren kann, sekundenschnell« (SB, S. 25), bildet das Schicksal jedes Künstlers, der dem Artikulieren der Wahrheit das Beschaffen von Geld vorzieht. Die endgültige Warnung davor, daß Stauffer am künstlerischen Scheideweg steht, ist die Verleihung der Goldmedaille durch den Akademischen Senat Berlins: entweder versinkt er endgültig in der prätentiösen Mittelmäßigkeit – »ein Schmuck / für unser Vaterland« (SB, S. 28), um die Gratulationsworte von Bundesrat Welti zu zitieren – oder er muß sich von allen sozialen Zwängen befreien, um auf die Suche nach seiner eigenen Identität zu gehen. Eben diesen Kurs schlägt er ein: »Ich bin jemand, den es noch gar nicht gibt. / Ich muß mich erst zur Welt bringen.« (SB, S. 25) In diesem krisenhaften Augenblick lernt Stauffer Lydia Escher kennen. Mit Stauffers altem Schulfreund, Emil Welti, Sohn des Bundesrats, verheiratet, macht sich Lydia sofort zur Mäzenin des Malers. Ihre Begeisterung für die Kunst hat sicherlich etwas mehr zu tun mit dem lähmenden Gefühl, in der intellektuellen und gesellschaftlichen Enge des Schweizer Großbürgertums zu ersticken, als mit irgend einer neuentdeckten ästhetischen Einsicht. So läßt sich Lydias leicht

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koketter Wunsch, daß Stauffer sie porträtiert, »wie ich in der Gesellschaft erscheine«, sofort durchschauen. Stauffer nimmt in dieser Frau genau die Unruhe wahr, die ihn selbst zum Ausbruch drängt: »Sie wollen ausbrechen […]. Ausbrechen, Madam. / Aber mit rotem Seidenplüsch und Goldfederhüten / allein kommen Sie aus Zürich-Enge nicht heraus.« (SB, S. 33) Der treffend genannte Stadtteil, Zürich-Enge, wo das Welti-Ehepaar in seiner prunkvollen Villa Belvoir wohnt, steht mit seiner bürgerlichen Solidität in starkem Kontrast zu Stauffers vagen Visionen künstlerischer Freiheit, nachdem er dem Konsumdruck der Berliner High-Society entflohen ist: Jetzt will ich malen, was sich nicht verkleidet. Mich ekelt das Äffische in der Kunst. Ich will das Einmalige, das Gesellschaftsfreie entdecken in einem Gesicht, in einer Figur. Ich entdecke, indem ich male, und sehe im Malen, was ich entdecke. (SB, S. 33f.)

Dieser Revolte gegen die bürgerliche Saturiertheit will Lydia sich anschließen, indem sie Stauffer eine nach seinen eigenen Ideen konzipierte Plastik für ihren Garten in Auftrag gibt. Später soll sie ihm einen Aufenthalt in Rom finanzieren, damit er die notwendigen Techniken erlernen kann. Die ahnungslose Reaktion ihres Ehemanns auf das Investitionsvorhaben seiner Frau – typischerweise kommt er gerade von einem guten Geschäft, bei dem er in Julius Maggis neues Suppenrezept investiert hat! – erinnert an das krasse Philistertum des Vorspiels: »So ein Künstler bereichert die Atmosphäre.« (SB, S. 38) In Rom findet Stauffer die künstlerische Freiheit, die ihm in Zürich and Berlin fehlte, wo der Markt ihn zu »ein[em] Gesellschaftstier. / Eine[r] Gespenstheuschrecke« (SB, S. 41) verwandelt hatte. Nun arbeitet er mit voller Energie an einer Plastik, ›Adorant‹ betitelt, die das Gegenteil von all diesen sozialen Zwängen darstellen soll: Ein Freigelassener. Vorbote von dem, was kommen wird -: Ein Reich für den Menschen, in dem keiner mehr den andern versklavt. Wo jeder sich entfalten kann Im Anblick der andern. (SB, S. 42)11

In der Szene, »Die Hausfrau«, die die Einschränkung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft thematisiert, läßt sich diese utopische Erklärung deutlich bestätigen.12 Eine verzweifelte Lydia beaufsichtigt das alljährliche Einmachen, –––––––— 11

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In seinem Nachwort zu Meiers Schweizer Stücken glaubt Peter Grotzer aus diesen Worten »Erwartungen von 1968« herauszuhören, »als sich in Frankreich, Deutschland und der Schweiz eine totale Infragestellung des Etablierten und Entwürfe zu einer neuen Gesellschaftsordnung abzeichneten.« Peter Grotzer: Nachwort. In: Meier: Schweizer Stücke (Anm. 9), S. 531–465, hier S. 535. Die Szene hatte sicherlich zur Zeit der Uraufführung des Stückes höhere Brisanz, da die Schweizer Frauen erst drei Jahre zuvor 1971 das allgemeine Stimmrecht errungen hatten.

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das den Erfolg der Gesellschaftspartys in den kommenden Wintermonaten gewährleisten soll. Verbittert sagt sie unwissend ihre eigene Zukunft voraus: »Dieses Getafel und Gerede Woche für Woche! / Das bringt mich noch ins Irrenhaus.« (SB, S. 54) In diesen Worten bahnt sich Lydias eigene Kollision mit der Gesellschaft deutlich an. Bitter beklagt sie die untergeordnete Rolle der Frau: Ich kann über mein Geld nicht verfügen. Alle Gewalt in diesem Land hat der Mann. Und die Frau, was ist sie? Eine Ware auf dem Markt der Hohen Interessen. Dort wird sie ausgelegt und gehandelt. Sobald ein guter Käufer sie erworben hat, wird sie rechtlos, und ihr Vermögen sein Besitz. Besitz wird auch sie selbst und bleibt es. (SB, S. 55)

Ursache für diesen emotionellen Ausbruch ist die Entscheidung ihres Ehemanns, Stauffer nicht mehr zu finanzieren; er steht nämlich unter väterlichem Druck, da Stauffer sich unklugerweise geweigert hat, den Bundesrat zu porträtieren. Gleichzeitig erfährt Lydia, daß der Staat eine Straße durch ihren Park plant, der ihr Mann schon zugestimmt hat. Dazu kommt noch das Gedröhn der vielen Züge, die an ihrer Villa vorbei nach Süden dampfen, das ihr den Schlaf nimmt. So unterstreicht der unaufhaltsame industrielle Fortschritt Lydias wachsende geistige Labilität, während Stauffer dem Tauschnexus des bürgerlichen Systems zum Opfer fällt: kein Produkt, kein Geld. Lydias Vorhaben, einen Tempel in ihrem Garten zu bauen, um für Stauffers ›Adorant‹ eine passende Umgebung zu kreieren, bringt sie dem Abgrund noch einen Schritt näher. Die Sehnsucht nach der Freiheit bringt beide zur letzten, verhängnisvollen Kollision. Ihrer gemeinsamen Flucht aus Zürich-Enge zurück nach Italien wirken Bundesrat Welti, Botschafter Bavier and Kulturattaché Rochette schnell und brutal entgegen. Offensichtlich haben diese ihre exzellenten Beziehungen zu politischen und diplomatischen Kreisen in Italien spielen lassen, um den großen Skandal zu vertuschen. Der Macht des beleidigten Bürgers ist das ›Hohe Paar‹ einfach nicht gewachsen. Das schmeichelhafte Bildnis des liberalen Rechtsstaats – und hierin liegt der wahre Skandal –13 wird radikal revidiert, indem die Schweizer Stauffer von der italienischen Polizei wegen »Notzucht an einer Geisteskranken« (SB, S. 105) verhaften und Lydia nach Hause bringen lassen, wo sie in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht wird und ihren Liebhaber endgültig denunzieren muß. Isoliert und verzweifelt finden Lydia and Stauffer die erwünschte Freiheit nur im Freitod. Im theatralischen Aufbau des Stückes wird ihre Tragödie durch die kalte Umarmung des Vor- and Nachspiels effektiv ausgelöscht, in denen eine fundamentale Heuchelei den Ton angibt. Das Individuum und seine schöpfe–––––––— 13

Vgl. Paul Nizons Behauptung: »Das Beispiellose an Stauffers Geschichte besteht weniger in seinem Konflikt zur Gesellschaft als in der Art der Strafe, die die Gesellschaft über ihn verhängt hat. Das Beispiellose besteht darin, dass Stauffers Fall (der über die Wege diplomatischer Beziehungen zwischen Nachbarstaaten gelöst wurde) als ein Politikum behandelt worden ist«. Nizon: Stauffer-Bern und die Wiedergutmachung (Anm. 10), S. 86.

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rischen Impulse werden von der großbürgerlichen Gesellschaft unerbittlich vernichtet, sobald deren Selbstverständnis in Frage gestellt wird. Indem sie die politischen Instrumente des Staates zu einem ganz privaten Zweck mißbraucht, läßt die Welti-Familie den brutalen Autoritarismus zum Vorschein kommen, der normalerweise hinter der Maske des Liberalismus versteckt bleibt. Die liberalen Prinzipien von 1848, ja der ›Freiheitsmythos‹ der Schweiz selbst, werden von deren Hauptvertretern selbst als sinnentleerte Worthülse entlarvt.14 Die Geschichte von Karl Stauffer und Lydia Escher ist also beispielhaft für die soziopolitische Deformation eines Patriarchats, das seine Macht rücksichtslos ausübt. In Stauffer-Bern ist Meiers Absicht klar: Das Publikum soll über den Mythos einer freiheitsliebenden, humanistischen Schweiz im späten 19. Jahrhundert nachdenken und dabei sein heutiges Selbstverständnis kritisch nachprüfen. *** Der schweizerische Anspruch, die liberal-humanitäre Tradition von 1848 auf einzigartige Weise zu verkörpern, wird auch in Dunant kritisch unter die Lupe genommen. Henry Dunant, Gründer des Roten Kreuzes, erster Empfänger des Friedensnobelpreises (1901) und Sinnbild des schweizerischen Humanitätsideals schlechthin, fungiert heute als Paradebeispiel des Schweizer Selbstverständnisses. Daß seine Lebensgeschichte anders verlaufen ist, und zwar nicht zur Ehre der damaligen Schweizer Gesellschaft, ist der Gegenstand dieses düsteren Schauspiels. Dunant gibt ein weiteres Beispiel für Paul Nizons These, daß die Schweizer Gesellschaft sich mit ihren »großen Söhnen« immer wieder schwertut, daß die gesellschaftliche Elite in ihrer geistigen Mittelmäßigkeit – damals wie heute – tiefes Mißtrauen gegen die unberechenbare Vorstellungskraft und die grenzenlosen Ideale des Utopisten hegt. In zwölf knapp skizzierten Szenen mit einem Nachspiel legt Meier Dunants Aufstieg und Fall schonungslos dar. Wie beim Stauffer-Bern geht es Meier hier nicht in erster Linie um die dokumentarische Wahrheit einer historischen Figur. Dagegen wählt er aus der Fülle biografischer Details gerade die Momente, wo die gesellschaftliche Wirklichkeit mit den leidenschaftlichen Visionen des Individuums am heftigsten zusammenprallen. Wie bei allen seinen Schweizer Stücken will Meier die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart hervorheben, oder genauer, szenisch demonstrieren, wie die Gegenwart durch eine kritiklos übernommene Vergangenheit verbildet wird: »Die Figur Dunant, ihr Drama, ihr Widerspruch, ihre Botschaft« interessieren den Autor also »nicht als Historie, sondern als wahre Geschichte einer Gesellschaft, die wir sind.«15 –––––––— 14

15

Vgl. Peter von Matts Zusammenfassung: »Herbert Meier […] schuf mit Stauffer-Bern einen ungestümen kleinen Klassiker der poetischen Systemkritik.« Zitiert nach Wottreng: Die Millionärin und der Maler (Anm. 8), S. 138. Herbert Meier im Programmheft zu Dunant, Schauspielhaus Zürich, Januar 1976. Zitiert nach Meier: Schweizer Stücke (Anm. 9), S. 514.

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Die erste Szene zeigt den jungen Henry Dunant als forschen, ja etwas abgebrühten Geschäftsmann, der seinen Investitionen in Nordafrika zielstrebig nachgeht. Sein Unternehmungsgeist steht in krassem Gegensatz zum vorsichtigen Anwalt, Gustave Moynier. Im Gespräch zwischen Dunant, Moynier und dem Bankier Olivet lässt sich ein gewisser Zynismus nicht überhören. Dunant gibt beispielsweise zu, daß er französischer Staatsbürger geworden ist – allerdings ohne seinen Genfer Pass aufzugeben – um seinen ausländischen Geschäften die Bahn zu ebnen: »Man muß allen alles werden, meine Herren […]. Allen alles, rund um den Erdball.« (D, 216). Zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere nimmt er sogar die kommerziellen Vorteile des Kriegs wahr. Als er von MacMahons Sieg bei Magenta hört, ruft er ungeniert aus: »[…] Aber wie gut sich das fügt! / Siege erhöhen die Verhandlungsbereitschaft.« (D, S. 217) Gerade vom Gottesdienst zum Pfingstsonntag kommend, reden Moynier sowie Dunant von Gott als von »de[m] Kaufherr[n] von oben.« (D, S. 214, 217) Das Blasiert-humorvolle dieses Gesprächs täuscht aber keineswegs über die grundverschiedenen Veranlagungen der zwei Männer hinweg: Dunant ist der etwas naive Optimist voll rücksichtsloser Tatkraft, Moynier ein eher zurückhaltendes, jedoch selbstgefälliges Individuum – Temperamentsunterschiede, die später Dunant zu Fall bringen sollen. In den nächsten zwei Szenen wird Dunant mit der harten Wirklichkeit konfrontiert, eine Kollision, die in ihm und in seiner Einstellung zur Welt eine große Verwandlung verursacht. Mit kaufmännischer Kühnheit will er Napoleon III., der gerade zu dieser Zeit in der Lombardei Krieg führt, aufsuchen, um Konzessionen für seine Geschäfte in Algerien zu erbitten. Stattdessen stößt er unerwartet auf die blutigen Auswirkungen der Solferino-Schlacht. Von der Weigerung der französischen Militärärzte, die verwundeten Feinde zu behandeln, zutiefst schockiert, zahlt Dunant selbst für Medikamente und frisches Leinen unter der Bedingung, daß die Chirurgen umdenken. Im anschließenden Interview mit dem General MacMahon beginnt Dunant zunächst, die Frage der algerischen Konzessionen anzuschneiden, um dann sehr schnell auf das soeben erlebte Grauen zu kommen, das er offensichtlich nicht verdrängen kann. MacMahon, der gerade im Begriff ist, die Anzahl der schrecklichen Opfer von Solferino (etwa 40000 Tote und Verwundete) zusammenzustellen, zeigt dabei die furchtbar einfache Einstellung des Berufsoffiziers. Für ihn ist der Krieg bloß ein Mechanismus, der die Gesellschaftsordnung aufrechterhält, den Egoismus einschränkt und die allgemeine Sittlichkeit unterstützt: […] Ein allzu langer Friede entnervt die Leute. Es wird aufbegehrt, und die Existenzen verwahrlosen. Die Ordnungen geraten aus den Fugen, man kennt das. Der Krieg aber reißt alle unter die Herrschaft eines Zweckes. Und man fügt sich wieder. Der Krieg allein überwältigt die egoistischen Geschäfte eines jeden von uns. Das ist das Sittliche an ihm. (D, S. 231f.)

Darauf antwortet Dunant wie betäubt: »Ich habe einen Leichenlauf hinter mir. / Verwundete, Verstümmelte, Tote, aufgestapelt.« (D, S. 233) In diesen Worten

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läßt sich Dunants persönliche Epiphanie erblicken. Ihm gelingt es, MacMahon zu überreden, Napoleon seine Bitte vorzubringen, daß gefangene Ärzte freigelassen werden sollten, um die Verwundeten auf beiden Seiten zu behandeln. Von diesem Zeitpunkt an verwandelt sich der gewiefte Geschäftsmann in den entschlossenen Philanthropen. Das erste Ergebnis dieser grundlegenden Verwandlung stellt Dunants 1862 auf eigene Kosten gedruckte Broschüre Un souvenir de Solferino dar. Das kleine Buch wird rasch zum Hauptgesprächsthema in der ganzen High-Society Europas. Dunants revolutionärer Vorschlag, »unverletzbare Zonen mitten im Krieg« (D, S. 236) zu errichten, trifft jedoch auf eine gemischte Reaktion seitens Gustav Moyniers, des Präsidenten der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, die für die Verwirklichung von Dunants Plänen eine Schlüsselrolle spielt. Wo Moynier für vorsichtiges Taktieren plädiert, fordert Dunant sofortiges Handeln. Die dunkle, kaum wahrnehmbare Wolke, die schon in der ersten Szene über Dunants Kopf schwebte, ist jetzt klar auszumachen. Moyniers ganzes Denken und Handeln richten sich darauf aus, alles Organisatorische – und damit die Macht – in den eigenen Händen zu behalten. Dagegen darf Dunant ruhig auf Reisen geschickt werden, um seine exzentrischen Ideen zu verbreiten. Die Atmosphäre verdunkelt sich weiter in dieser vierten Szene, wo Olivet sich darüber beschwert, daß Dunant sich mit seinen vielen Projekten verzettelt und die dringenden Geschäfte der Bank vernachlässigt. Für sein Einkommen verläßt er sich nämlich auf die Bank. Olivets Gereiztheit deutet schon auf die verhängnisvolle Widersprüchlichkeit der Dunant-Figur: der Versuch, zwei grundverschiedene Ziele – das der humanitären Hilfe und das der kommerziellen Interessen – gleichzeitig zu verfolgen, musste innerhalb der Genfer Gesellschaftskonstellation von vorneherein scheitern. Diesem enthusiastischen Einzelgänger volles Vertrauen zu schenken, kommt bei Moynier und Olivet gar nicht in Frage. Hier zeichnet sich der zentrale Konflikt deutlich ab: die bürgerliche Mittelmäßigkeit fühlt sich von Dunants stürmischem Idealismus förmlich bedroht. Das widerspiegelt sich schon in Olivets knappem Schlußwort: »Der Mann ist mir nicht mehr geheuer.« (D, S. 242) Trotz Dunants Erfolg, führende europäische Persönlichkeiten – zum Beispiel die französische Kaiserin Eugénie und die Königin Augusta von Preußen – für seine Ideen zu gewinnen, nimmt die Entfremdung zwischen Dunant und Moynier ständig zu. An der großen Genfer Konferenz, die die Hauptprinzipien des Roten Kreuzes festlegen soll, gelingt es Moynier, Dunant an die Wand zu spielen, indem er ihn zum Schriftführer ernennt. Dadurch wird Dunant das Mitspracherecht vorenthalten. Hier ist Moyniers charakteristische Ängstlichkeit klar im Spiel: die Unverletzlichkeit der Zonen, wo die Lazarette aufzustellen sind – das Prinzip der Neutralisierung also – geht für Moynier politisch zu weit: Unklug ist es, so tief in den Krieg einzugreifen. Wo Zonen neutralisiert sind, öffnet sich ein Feld für zersetzende Geister, Saboteure und Spione. Lazarette werden zum Herd der Meuterei und des Aufruhrs. (D, S. 261)

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Auf diese Weise hält die Engstirnigkeit des Bürokraten die humanitäre Handlungsfähigkeit des Individuums unter Kontrolle. Die private Animosität des historischen Moynier, seine Eifersucht auf Dunants bemerkenswertes Profil im Ausland, wird im dramatischen Geschehen heruntergespielt, da es Meier eher darum geht, die Mechanismen des bürokratischen Geistes ganz allgemein darzustellen. Um diesen Punkt zu unterstreichen, läßt Meier die verschiedenen Konferenzteilnehmer im Parkett sitzen; sie verlassen ihre Plätze erst dann, wenn sie ihre Reden halten sollen. So wird das heutige Publikum eingeladen, an der Debatte zwischen idealistischem Prinzip und politischer Zweckmäßigkeit symbolisch teilzunehmen. Am Ende zwingt die breite Billigung seiner humanitären Vorstellungen Dunant doch dazu, seine kontroversen Neutralzonen, ohne die das ganze Konzept des Roten Kreuzes zusammenfallen würde, heftig zu verteidigen. Angesichts dieser Übertretung der Tagesordnung beeilt sich Moynier jedoch, die Konferenz zu schließen: »Wir, das Genfer Komitee, achten die Kriegsordnungen, / welcher Art sie auch sein mögen. So ward es beschlossen« (D, S. 266) – ein treffendes Beispiel für die alte bürokratische Wahrheit: diejenigen, die die Tagesordnung kontrollieren, besitzen die Macht. Kurz nach der Genfer Konferenz stattet Dunant der Königin Augusta in Potsdam einen Besuch ab. Am Hof wird gerade der Sieg von Königgrätz gefeiert. Augusta hat Dunants humanitäre Vorstellungen begeistert angenommen. Ihr Gespräch erörtert eines der großen Themen, die das Stück problematisiert: die Rolle des Schicksals in menschlichen Angelegenheiten. Was die oberflächliche, wenn auch wohlmeinende Augusta als über menschliche Kontrolle hinaus wirkendes »Zeittheater« betrachtet, wird von Dunant entschieden abgelehnt. Was als ehernes Gesetz des Schicksals erscheinen mag, ist in Wirklichkeit das Produkt menschlicher Entscheidungen und Handlungen: Die Szenen entstehen uns erst im Spielen, mit allen Folgen, und sind doch stets abänderbar in Augenblicken. […] Madame, das Zeittheater wird von Menschen vorgefaßt, nicht vom Schicksal. (D, S. 270f.)

Indem Dunant die Willensfreiheit ins Zentrum stellt, kann er seiner aufklärerischen Vision von Generälen in Potsdam, die durch Verträge »den ewigen Frieden« (D, S. 271) schaffen, vollen Ausdruck geben. Das Ironische an diesem Gedankenaustausch läßt sich vor allem daran erkennen, daß der Erzrealpolitiker Bismarck Dunant beim Siegesbankett nicht gegrüßt hatte, denn vor allem anderen repräsentiert Bismarck den berechnenden Menschenwillen in der Staatsführung. Die Ironie hört da nicht auf. In der Szene zwischen Dunant und dem progressiven französischen Journalisten Vermorel spricht dieser das beunruhigende Paradoxon an, das den Kern der Dunant’schen humanitären Arbeit berührt: Sie sollten hören, was diese Feldherren sagen: »Die Samariterei des Herrn Dunant legt uns zonenweise das blutende Kriegstheater still. Und das ist gut so. Es verblutet nicht gleich alles,

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was angeschossen ist. Was man verarztet hat, ist wieder verwendbar. Ins Chaos kommt Ordnung und Ökonomie.« Der Krieg erscheint denen auf einmal human und gottgefällig! Gibt es eine gloriosere Rechtfertigung? (D, S. 276)

Der leichte Anklang an Moynier (»aufgewachsen in Zucht und gottgefälliger Pietät«; D, S. 214) verschärft diese Konfrontation. Vermorel stellt jedoch den genauen Gegensatz zu Moynier dar: wo Moynier der große Zögerer ist, der sich weigert, die Mächtigen zu verunsichern, ist Vermorel der linke Unruhestifter, Vertreter der Pariser Commune, der den Versuch anstellt, Dunant für das Volk zu gewinnen, weg von »den Kaisern, Königen, Kriegsministern, Feldherren und Befehlshabern« (D, S. 277). Dunant steht in der Mitte zwischen gegensätzlichen Kräften gefangen als Opfer der unvorhergesehenen Folgen des eigenen Idealismus. Die darauffolgende neunte Szene bringt die Katastrophe. Olivet and Moynier werfen Dunant illegale Geschäfte vor, nämlich Veruntreuung und Betrug an seiner Kreditbank. Sie holen schnell zum entscheidenden Schlag aus. Die Bank ist in Konkurs gegangen, und Dunant steht als Hauptschuldner da. Trotz seiner Unschuldsbeteuerungen und seinem Hinweis auf seine unermüdliche Arbeit, die seinen Kontrahenten sowie Genf so viel Prestige und sittliches Kapital gebracht hat, entkleidet Moynier Dunant seines Amtes und löst ihn von allen Bindungen an das Rote Kreuz ab. Die Schande des Konkursverfahrens und die damit verbundene Demütigung treiben Dunant aus Genf und führen zu seinem Entschluß, sich völlig aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Zur Zeit der Weltausstellung in Paris einiger Jahre später (in der 10. Szene) sind Gerüchte seines Todes weitverbreitet. Während des Verlaufs dieser Szene, die im französischen Pavillon – ein Wunder moderner Technologie – stattfindet, ist Dunant »im Halbdunkel abseits« gegenwärtig (D, S. 289), ein »Statist in seinem eigenen Stück«.16 Da muß er wortlos zusehen, wie die Kaiserin Eugénie und Königin Augusta seine Büste enthüllen und mit dem preußischen Kriegsminister von Roon über die Bedeutung seines Lebenswerks diskutieren, als gehörte es einem ganz anderen Zeitalter an. Ganz zynisch bemerkt von Roon: Nun, seine Verdienste, sie werden bleiben. Er hat für uns das neutrale Lazarett erfunden. Darin läßt sich fortan ziemlich sauber sterben. (D, S. 291)

Gegen die Ansicht der beiden Frauen, daß Dunant mehr als ein Erfinder war, eher ein Friedensbringer, zitiert von Roon die Behauptung des preußischen Hofpredigers, daß nur der Krieg »das Neue Jerusalem« hervorbringen wird. Thron und Altar schließen sich auf fatalste Weise zusammen, und zwar zu ihrem gemeinsamen Vorteil, denn »Ein Gott […], der mit Kriegen die Geschichte plant, / braucht seine Krupps und Kriegsminister bis ans Ende« (D, S. 292). Auf der leeren Bühne zurückgelassen, kann Dunant nur die bittere Wahrheit er–––––––— 16

Eveline Hasler: Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant. 3München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005, S. 95. [Zuerst 1994]. Haslers biografischer Roman rekonstruiert Dunants Leben und Leiden mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen.

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kennen: »Wie schnellfüßig das läuft, / mit meiner stillen Liquidation.« (D, S. 292) Mit diesen verzweifelten Worten zerstört er seine Büste mit dem Schrei: Krupp und Dunant – was für ein Gespann! Der eine hilft töten, der andere heilen, ein Zweigespann! Nein! Das bin nicht ich! nicht ich! Weg mit ihm! Aus der Welt mit ihm! (D, S. 293)

Eine letzte harte Probe hat Dunant doch noch auszustehen: die Pariser Commune. In der elften Szene ist er Zeuge davon, wie die Ideale der Communarden verdreht werden, bis sie die Gestalt einer erneuten Unterdrückung annehmen. Dunant ist nach Paris gekommen, um die Freilassung seines alten Bekannten von Solferino, des Chirurgen Chenu, zu erbitten, der von dem fanatischen Chef des Sicherheitswesens, Rigault, verhaftet worden ist. Die anderen Communarden – darunter der Journalist Vermorel – haben schon längst eingesehen, daß sie Rigault zu viel Macht anvertraut haben. Rigault wirft dem Roten Kreuz dubiose Aktivitäten vor: seine unverkennbare Fahne ist bloß ein »Tarnlappen« (D, S. 298), hinter dem nicht die Verwundeten behandelt werden, sondern die Obdach suchenden Reichen: »Was mit diesen Tüchern und Fetzen getrieben wird, / ist ruchlose Täuschung, Tarnung, Spionage!« (D, S. 299) Die klare Anspielung auf Moyniers Rhetorik ist nicht zu überhören. Aber wo dieser von einem rein politischbürokratischen Geist getrieben wird, personifiziert Rigault all jene Revolutionäre, die ihre ursprünglichen Ideale rasch aus dem Auge verlieren und genau dem Machtdrang erliegen, den die Commune zunächst hatte eliminieren wollen. Dem Fanatiker kann Dunant nur seine humanitäre Botschaft anbieten, wie sie in den Genfer Konventionen aufbewahrt ist: »In einem Lazarett liegen keine Feinde. / Es liegen dort Opfer, Opfer des gleichen Unheils.« (D, S. 305) Es nützt jedoch nichts. Dem Blutrausch eines Rigault kann das Wort anscheinend nicht standhalten. Hier wiederholen sich die alten Fehler der großen Revolution von 1789. Einer der Communarden verfällt sogar in den Georg-Büchner-Ton: »Wenn man so die Tugenden der Revolution betrachtet, / man könnte melancholisch werden.« (D, S. 308) Der von Roonsche Zynismus läßt sich kaum deutlicher bestätigen. Die letzte Szene der Haupthandlung bietet ein letztes Gespräch zwischen Dunant und der im Londoner Exil lebenden Kaiserin Eugénie. Von ihrem jähen Fall zutiefst desillusioniert, bemerkt Eugénie resigniert: »Seltsam, daß uns die Augen erst aufgehen, / wenn wir selbst alle Macht eingebüßt haben.« (D, S. 314) Auch Dunant muß zugeben, daß sein nun von Moynier und den Genfer Administratoren verwaltetes Lebenswerk seine ursprünglichen Visionen nicht verwirklicht hat, sein Anteil sogar totgeschwiegen worden ist: »Mich haben sie aus ihren Registern ausgelöscht. / Ihre Gründungsgeschichte erwähnt mich nicht.« (D, S. 315) Statt den Wahnsinn des Krieges auszurotten, hat er dem endlosen Leiden nur schwache Linderungsmittel entgegenhalten können. Eugénie, von ihrem eigenen Schicksal zu hart betroffen, um praktische Hilfe zu leisten, kann Dunant nur dringend raten, den Glauben an sich selbst nicht aufzugeben: »Die Welt braucht ihn, braucht Sie.« (D, S. 316)

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Das kurze Nachspiel, das in Heiden stattfindet, wo Dunant die letzten Jahre krank, verbittert, in Vergessenheit geraten und in völliger Armut verbracht hat, ist von bedrückender Ironie durchdrungen. 1901 verleiht die Stockholmer Kommission Dunant, der durch einen reinen Zufall wiederentdeckt wurde, den ersten Friedensnobelpreis. In der kleinen Gemeinde von Heiden wird er bejubelt und gefeiert, doch Dunant hat keine rechte Freude an der verspäteten Anerkennung. Daß Alfred Nobel, der Stifter des Preises, der Erfinder des Dynamits war, erinnert Dunant nur daran, wie eng miteinander verbunden seine Ideale und die menschliche Zerstörungslust doch sind. Den Zeitungen entnimmt er, daß nun große Geldflüsse zu humanitären Zwecken in seine Vaterstadt Genf geleitet werden: Aber viele, die ihre Gaben schenken, so lese ich, verdienen ihr Geld mit Waffen und Maschinen, die sie an andere zum Töten und Vernichten verkaufen. Meine Fahne deckt am Ende nur den Mord. (D, S. 320)

Dieses verheerende Fazit richtet sich direkt an die im Parkett sitzenden Zeitgenossen, an die »Gesellschaft, die wir sind«. Mit diesen bitteren Schlußworten demontiert die nationale Heldenfigur ihren eignen Mythos. *** Im Jahre 1989 erschütterte ein politisches Erdbeben das Schweizer Selbstverständnis. Ans Licht kam die skandalöse Tatsache, daß der demokratische Bundesstaat Geheimakten über fast ein Sechstel der Bevölkerung angelegt hatte, führende Schriftsteller wie Max Frisch, Peter Bichsel und Friedrich Dürrrenmatt eingeschlossen.17 Der landesweite Zornesausbruch führte vor allem seitens der Schriftsteller und Intellektuellen zum Boykott der 700-Jahr-Feier zur Gründung der Eidgenossenschaft, die 1991 stattfinden sollte. Herbert Meier war einer der ganz wenigen Kulturschaffenden, die den umstrittenen Boykott ignorierten, wofür er harte Kritik von seinen KollegInnen einstecken mußte. Mythenspiel, ein öffentlich in Auftrag gegebenes Werk, stellt ein höchst anspruchsvolles, multimediales Theaterstück dar, das ausdrücklich für einen unter freiem Himmel mit 4000 Plätzen ausgestatteten Zuschauerraum konzipiert wurde, der am Fuß des zweigipfeligen Mythen-Berges im Kanton Schwyz gelegen war – am historischen Kern der Schweiz also.18 Auf den ersten Blick mag Mythenspiel wie eine Rückkehr zum traditionellen Festspiel eines Cäsar von Arx anmuten.19 In Wirklichkeit ist Meiers Spiel das Gegenstück zu solchen konventionell-patriotischen –––––––— 17 18

19

Zur Information über die sogenannte ›Fichenaffäre‹ siehe Schnüffelstaat Schweiz. Hundert Jahre sind genug. Hg. vom Komitee ›Schluss mit dem Schnüffelstaat‹. Zürich: Limmat 1990. In einem Werkstattgespräch 1990 gab Meier offen zu, daß ihm beim Arbeiten am Mythenspiel der Doppelsinn des Titels nicht bewußt war. Erst nach dessen Abschluß durch deutsche Freunde darauf gebracht, sah er ein, daß es in seinem Theaterstück tatsächlich um ein »Spiel mit Mythen« sowie um ein »Spiel unter den Mythen« ging. Siehe Herbert Meier: »Nur kein herkömmliches Festpiel…«. In: H.M.: Mythenspiel. Ein großes Landschaftstheater mit Musik. München, Zürich: Piper 1991, S. 103–125, hier S. 112. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Richard Ruppel in diesem Band S. 159–176.

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Schauspielen. Sein Protagonist ist ja keine heroische Figur, sondern ein zeitgenössischer Jedermann namens Teiler, der durch einen Autounfall aus der banalen Existenz eines Durchschnittsbürgers herausgerissen wird. Auf der Suche nach seiner verschwundenen Partnerin wird er von Vinz, eine Art alter ego, begleitet. Dieser führt Teiler auf eine geistige Reise durch eine imaginäre, aber real wirkende Landschaft, währenddessen Teiler sich mit der schmerzvollen Unzulänglichkeit seines inneren Lebens konfrontiert sieht und darüber hinaus die geistige Leere der Gesellschaft, in der er bisher gelebt hat, anerkennen muß. Der imposante Prospekt des Mythen-Gebirgs symbolisiert die verborgenen Höhlen, die geheimen Tunnel und die abgründigen Risse in Teilers Unterbewußtsein, wo »vergrabne Figuren; Abgesunkenes, Vergessenes« (M, S. 415) versteckt sind. Denn Teiler, wie sein Name erkennen läßt, vertritt die moderne Zivilisation, d.h. er ist ein einseitiges Individuum, der die Ganzheit menschlichen Erlebens eingebüßt hat, indem er die phantasievolle, sinnlich-mystische Seite seiner Natur verdrängt hat. Den Hauptdefekt von Teilers Existenz drückt eine gigantische weibliche Figur aus, die am Anfang seiner Reise erklärt: eng ist sein Denken und feindlich allem Geheimnisreichen auf das Ausbeutbare abgerichtet alles mißt er an Zahl und Gewinn (M, S. 420)

Im Laufe von Teilers oft albtraumhafter Odyssee verweben sich unheimlichmythologische Kreaturen aus den alten Legenden der Innerschweiz mit halb vergessenen Persönlichkeiten aus der jüngsten Vergangenheit der Schweiz wie etwa der Arzt, Philosoph und politische Denker Ignaz Paul Vital Troxler (1780– 1866), der sich gegen die reaktionäre Obrigkeit seiner Zeit für Frieden, Freiheit und konstitutionelle Reform engagierte, und zwar unter großer persönlicher Belastung.20 An die Oberfläche von Teilers fragmentarischem Bewußtsein scheinen solche Vorbilder einer humaneren, aber verdrängten Schweiz zu treiben; Opfer der feindlichen Gesinnung der Mächtigen oder seiner eigenen historischen Unkenntnis. Mit einer Bemerkung über seinen älteren Zeitgenossen, den großen Pädagogen und Inbegriff des Schweizer Humanismus, Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), deutet Troxler selbst darauf hin, wie leicht die historische Wahrheit verbogen, gar verschwiegen wird, wenn es darum geht, ein bequemes Selbstverständnis aufzubauen: Auch so ein Geschlagener. Er hatte einen Traum –: Sein Kinderhaus. […] Darin wollte er Liebeskräfte, wie er sagt, ausbilden und den Grund zu einem neuen Staat legen. Der alte Staat war in Fäulnis übergegangen.

–––––––— 20

Trotz vieler Rückschläge gelang es Troxler schließlich doch, bei der Bundeserneuerung von 1848 das amerikanische Zweikammersystem als Grundstein der neuen Schweizer Verfassung zugrundezulegen.

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Er setzte auf die Tugend des Individuums. Er weiß, die Masse hat keine Tugend. Aber die politischen Halbköpfe haben ihn nicht begriffen. Und ihn gehindert, wo sie konnten. Man ließ ihn gehen, man läßt sie alle gehen, die großen Träumer. (M, S. 465)

Diesen visionären Figuren gegenüber steht ein ganz anderes Phänomen: die tatkräftigen Großindustriellen, die der Schweiz des späten 19. Jahrhunderts ihren Stempel unverkennbar aufdrückten – zum Beispiel Männer wie Alfred Escher, der ›Eisenbahnkönig‹, den wir schon in Stauffer-Bern kennenlernten. Die rücksichtslose Fortschreibung der politischen und ökonomischen Ideen von Alfred Escher hat Teiler sich unbewußt als eine Art Naturgesetz angeeignet. Gerade diese Ideen drohen jedoch die geistigen Werte zu zerstören, die allein die krassen, destruktiven Nebenwirkungen des Kapitalismus mildern können. Eschers Gotthard-Tunnel stellte zweifelsohne einen Triumph des Ingenieurwesens und des zielstrebigen Willens dar; während Escher aber sein Denkmal vor dem Zürcher Hauptbahnhof hat, bleibt es Herbert Meier im Mythenspiel anheimgestellt, an die unbesungenen Heldentaten der Bergarbeiter zu erinnern, die beim Tunnelbau ums Leben gekommen waren. Und wieder bringt Troxler die angemessene Warnung zum Ausdruck. Indem er den unermüdlichen Escher, den Hauptvertreter des bürgerlichen Unternehmertums, an seinem Arbeitstisch beobachtet, rät er Teiler dringend, sich seiner Mahnworte zu erinnern: Ihr Aufschwung wird uns begraben. Ihr Wohlstand hat einen tödlichen Preis. Unter ihm verderben die Güter der Seele. Und die Ruhe, die sie erstreben, ist keine staatliche Tugend. Ihr folgt die Trägheit auf dem Fuß und lähmt den fragenden Geist, Teiler. Nur das Unentwegte, Hin- und Herbewegte, Voranreißende ist lebendig. Wer nicht stets sich selbst überwindet, der unterliegt sich selbst eines Tages. Und was von dir gilt, Teiler, das gilt nicht weniger vom Staat. Schreib daher ins Gedächtnis: »Staat, überwinde dich selbst, anders unterliegst du dir selbst.« (M, S. 486)

In diesem Sinn läßt sich Teilers Reise als eine nach dem verlorenen Gedächtnis auffassen, denn allein das Gedächtnis – und die Kontinuität, die dieses gewährleistet – können solche humanen Werte vor dem endgültigen Verfall bewahren. Durch seine Technik der Synchronizität gelingt es Meier, die legendäre Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, und auf diese Weise die Mechanismen der selbstgefälligen Schweizer Identität aufzuzeigen. So läßt Meier sogar drei Tell-Figuren erscheinen, die die ursprünglichen Waldkantone am Ende des 13. Jahrhunderts vertreten. Der jüngste ist ein ungestümer Rebell, der gegen die tief-konservative Einstellung der älteren Tells protestiert. Da die Handlung des Mythenspiel praktisch im Kopf von Teiler stattfindet, wird Teiler hier deutlich eingeladen, für sich selbst zu entscheiden, inwieweit ihm diese »allusive[n] Erscheinungen, Figuren mit Anspielungen ans Heute« von Bedeutung sind.21 Daher wird Teiler symbolisch auch dazu eingeladen, in deren Auftrag den mythischen ›Bundesbrief‹ niederzuschreiben, dessen Inhalt er laut den Spiel–––––––— 21

Meier: »Nur kein herkömmliches Festspiel…« (Anm. 18), S. 118.

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regeln des Theaters mitbestimmen darf. Diese Provokation der geläufigen Tradition hilft Teiler zu der Einsicht zu kommen, daß solche Mythen späteren Generationen keine stabilen, ewig gültigen Rollen anbieten, sondern sich unendlich manipulieren lassen. Ein weiteres Beispiel dafür stellt der Mythos des heroischen Schweizer Söldners dar. Statt das hochgeschraubte Heldentum hervorzuheben, wie etwa Ferdinand Hodler es in seinem berühmten Gemälde der Schlacht zu Marignano tut, zeigt Meier dagegen das unsagbare Leiden der Witwen und Kinder, die nach der Schlacht zurückgeblieben sind. Die mythische Verherrlichung des Soldatenwesens wird als ideologische Lüge bloßgestellt. Genauso relativiert werden auch die drei Tells selbst, wenn sie mit ihrem kostbaren Bundesbrief vor Alfred Escher erscheinen, der gerade an der Revidierung der Bundesverfassung von 1848 arbeitet. Die Antwort des Industriellen auf dieses ›historische‹ Dokument ist sowohl prompt als auch zutiefst zynisch: »Eine Urkunde. Etwas aus mythologischer Zeit. / Dergleichen ist gut für einen neuen Staat. Wir werden es aufbewahren, öffentlich.« (M, S. 499) Diese Szene markiert ein weiteres Stadium im Aufklärungsprozeß der Teiler-Figur. Die humane Botschaft von Troxler und Pestalozzi sowie die Einsicht in die Realpolitik der Mächtigen sind ja widerspruchsvolle Mosaikteilchen, die dieser Jedermann in ein ganzheitliches Gebilde einfügen muß, wenn er seinen verloren gegangenen Sinn für moralische und zivile Verantwortung zurückgewinnen soll. Es geht Meier vor allem darum, Geschichten, Legenden und Mythen – ob aus alten oder modernen Zeiten – als lebendige Produkte der menschlichen Phantasie darzulegen; als solche helfen sie uns die eigene Identität zu gestalten. Wenn man diese schöpferische Funktion jedoch beibehalten will, muß man sie geistig und gefühlsmäßig ständig erneuern – und sie nicht zu Ideologie verkümmern lassen. Die andere Dimension des Mythenspiels läßt sich aus der geistigen Blindheit des Protagonisten leicht ermessen. Das Stück beginnt mit der verzweifelten Suche nach seiner Partnerin, Barbara. Die Handlung bringt aber deutlich zum Ausdruck, daß Teiler gar nicht imstande ist, sie wiederzuerkennen, egal ob sie als eine moderne Version der mittelalterlichen ›Frau Welt‹ (die Patriziertochter Eugenia) oder als die aufsässige Tochter von Alfred Escher (Lydia) erscheint. Auch eine der gigantischen Frauenfiguren deutet auf sein Hauptproblem hin: »Wo ein Gedächtnis war, hast du einen weißen Fleck.« (M, S. 454) Daß Teiler diese lebenswichtige Eigenschaft abhanden gekommen ist, hat zum Verlust jeder schöpferischen Verbindung zwischen Mann und Frau geführt: seine Beziehungen zu Frauen bleiben daher genau so mangelhaft wie seine Einstellung zur Natur und zur Gesellschaft.22 Die zentrale Symbolik des imponierenden Bühnenbilds von Hans Hoffer unterstrich Teilers Dilemma, indem sie suggerierte, daß Mythenspiel als eine Art Bewußtseinstheater erlebt werden sollte: ein überdimensionierter stilisierter Menschenkopf überragte das Publikum und den Spielraum. Tatsächlich mußten –––––––— 22

Hier ist ein kritisches Wort angebracht: die Rolle der Frau in Mythenspiel ist nicht bühnenmäßig ausgearbeitet worden. Der Hinweis auf das Goethesche ›Ewig-Weibliche‹ als Schlüssel zum kreativen Leben bleibt also viel zu abstrakt.

Zur Entmythologisierung des Schweizer Selbstbildnisses

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die Zuschauer eben durch diese Kopfstruktur hindurch, um zum Theater selbst zu gelangen, als gingen sie in den Geist eines Individuums hinein – was genau von Meier und Hoffer beabsichtigt war. Der riesige Menschenkopf wurde aufgestellt, damit er der natürlichen Größe der Mythen gegenüber stand. Die menschliche Genialität mit ihren extremen Formen der Rationalität steht also in dialektischem Verhältnis zur geheimnisvolleren Seite der menschlichen Psyche. Das Zusammenspiel der Laserinstallationen, der Musik und der groß angelegten visuellen Einfälle verliehen dem individuellen Schicksal Teilers schließlich eine weiter reichende Resonanz.23 Obwohl Teiler und Barbara sich in der letzten Szene wiederentdecken – wenn auch nicht auf überzeugende Weise – bietet dieser Schluß keine gültige Antwort auf die Problematik, die das Stück aufwirft. Teiler wird zwar dazu gezwungen, die eigene Geistesenge einzusehen, genau so wie das Schweizer Publikum eingeladen wird, das eigene Selbstverständnis in Frage zu stellen. Ob es Teiler und Barbara jedoch überhaupt gelingen wird, zu einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander zu kommen oder in der Gesellschaft in Zukunft eine schöpferisch-verantwortungsvolle Rolle zu spielen, bleibt ganz offen. Herbert Meiers implizite Warnung in seinen ›Schweizer Stücken‹ läßt sich knapp zusammenfassen: das Individuum wie auch der Staat müssen zusammen die jeweilige Engstirnigkeit überwinden, die sonst nur zu andauernden Konflikten führt; sie müssen beide nach einer kreativen Symbiose streben. In diesem Kontext deuten Stauffer-Bern, Dunant und Mythenspiel, wenn auch in ganz verschiedener Weise, auf die Hauptrolle der Phantasie hin. Denn laut Herbert Meier ist »die Phantasie […] beides, Gedächtnis und Energie«.24 Diese Kombination – das Nicht-Vergessen-Wollen und die sich immer erneuernde Fabulierlust – hat natürlich Konsequenzen für die Rezeption von Mythen. Mit den tiefgreifenden ökonomischen und politischen Veränderungen in Europa konfrontiert, muß die Schweiz vor allem die dringende Aufgabe wahrnehmen, das eigene Selbstverständnis und die eigene Geschichte kritisch zu überprüfen. Nur dadurch kann sie ihre zukünftige Rolle in der erweiterten Europäischen Union neu definieren. Hierfür erweisen sich Mythen als höchst zweischneidig. Daß »totalisierende Mythen« nach Manfred Pfister dazu beitragen können, die unbequeme Wirklichkeit effektiv zu verschleiern, ist kaum bestreitbar. Karen Armstrongs Behauptung dagegen, daß der Mensch Mythen und Geschichten weiterhin braucht, um sich in seiner immer komplexer werdenden Umwelt zu orientieren, wird von Herbert Meier und seinem Werk sicherlich bestätigt. In diesem Sinne haben seine Schweizer Stücke dem langwierigen Prozeß der Entmythologisierung des Schweizer Selbstverständnisses neue und wichtige Impulse gegeben. –––––––— 23

24

Mythenspiel wurde ja gerade für diese historische Stätte entworfen. Herbert Meier ist jedoch davon überzeugt, daß sein Stück in einem konventionellen Theater mit Erfolg inszeniert werden kann: »Man könnte das Mythenspiel durchaus auf einer leeren Bühne mit einer grossen Beleuchtungskunst kulissenlos spielen.« Brief an den Autor, Zürich, 20.7.1994. Herbert Meier: Gespräch. In: Peter André Bloch (Hg.): Gegenwartsliteratur. Mittel und Bedingungen ihrer Produktion. Bern, München: Francke 1975, S. 162–170, hier S. 162.

Teil IV

Mythos Sonderfall

Jürgen Barkhoff

Europa wird entweder untergehen oder verschweizern Konjunkturen einer Diskursfigur Halt! Woher? Ein Aus-län-der! Sie wollen bei uns bleiben und Anträge schreiben? Und wenn sie hier mal sind dann kommen Frau und Kind in buntbedruckten Hemden um uns zu überfremden – warum gehn Sie nicht nach Schweden? Dort nehmen sie doch jeden! Die lieben unsre Berge nicht und auch nicht unsre Seen die haben’s doch allein auf unser Geld abgesehn!

Halt! Wohin? Was haben wir im Sinn? Wir wollen Gurken setzen nach eigenen Gesetzen denn unsre Suppenschüssel steht hier und nicht in Brüssel und unsre Teller spülen die Türken und Tamilen und klar braucht ein Spital auch etwas fremdes Personal aber ja nicht dieser freie Verkehr von Personen sonst kämen die ja alle, nur um bei uns zu wohnen [...]

Doch wir, wir wollen Schweizer sein ganz allein gut gefahren seit 700 Jahren als die freundlichen, fleissigen Opas Europas.

Franz Hohlers satirisches Chanson Schweizer Sein versammelt alle gängigen Klischees helvetischer Euroskeptiker von Xenophobie und Überfremdungsängsten über Sonderfallbewusstsein und Alpenpatriotismus bis hin zu Isolationismus und Mobilisierung des Rütlimythos.1 Zugleich entlarvt Hohler den Selbstbetrug dieses Lagers, das die internationalen Wirtschaftsverflechtungen der Schweiz mit patriotischer Imagologie verschleiert und die volkswirtschaftliche Abhängigkeit von Arbeitsimmigranten verleugnet. Die Bieler Schriftstellerin und Journalistin Laure Wyss beschreibt in ihren 1997 erschienenen Briefen nach Feuerland. Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa einen Auftritt Hohlers an einem der symbolischen Daten der Europa-Debatte in der Schweiz. Am 23. September 1995 –––––––— 1

Franz Hohler: Schweizer Sein. Zit. nach Laure Wyss: Briefe nach Feuerland. Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa. Zürich: Limmat Verlag 1997, S. 53f. An der Tagung wurde Hohlers Chanson vom ›Swiss Chörli‹ des Swiss Club Ireland vorgetragen. Zu Hohler insg. siehe Jürgen Barkhoff: Franz Hohler – a Magical Realist from Switzerland. In: Sabine Egger, Patrick Studer (Hg.): From the Margins to the Centre. Irish Germanists on Swiss Culture and Literature. Bern etc.: Peter Lang 2007, S. 325–344.

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Jürgen Barkhoff

fanden in Zürich gleich zwei große Europa-Demonstrationen statt. Am Morgen mobilisierte die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz AUNS zu einer Demonstration auf dem Münsterhof gegen den, wie es anspielungsreich hieß, Anschluss an Europa, während am Nachmittag eine von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und anderen organisierte Gegenkundgebung auf dem Platzspitz stattfand. Dort leitete Hohler sein Lied wie folgt ein: »Grüezi mitenand, da ich annehme, die wenigsten von Euch haben gehört, was Herr Blocher heute mittag gesagt hat, möchte ich es Euch schnell zusammenfassen, es dauert zum Glück nicht lang.«2 Seine Zusammenfassung der euroskeptischen Position samt ihrer humoristischimpliziten Widerlegung soll hier ausreichen, denn diese hinlänglich diskutierte Seite der schweizerischen Europa-Diskurse ist die Kontrastfolie, nicht aber das Thema dieses Beitrags.3 Statt dessen sei die Aufmerksamkeit auf Hohlers Schlusspointe gelenkt: »Schweizer sein / fast allein / wir trotzen der Gefahr / nochmal 700 Jahr / mit fest entschlossnem Schritt / solange bis Europa / der Schweiz beitritt.«4 Hohler verortet den Stolz auf die europäische Sonderrolle der Schweiz und die Forderung, Europa müsse zur Schweiz, oder doch zumindest wie die Schweiz werden, bei den Euroskeptikern. Das wirkt auf den ersten Blick plausibel, tatsächlich aber, und das sei im folgenden These und Thema, findet sich die Vorstellung, dass die Schweiz Vorbild und Modell für eine zukünftige Neuordnung Europas sein könnte, in viel größerem Maße bei helvetischen Europa-Befürwortern, und zwar, wenn auch mit erheblichen Unterschieden, in erstaunlicher Kontinuität seit dem späten 18. Jahrhundert. In einem Aufsatz von 1988, der in den Band Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz Aufnahme fand, welcher 1991 im Zusammenhang mit dem 700-JahrJubiläum und im Vorfeld der EWR-Abstimmung erschien, hat Adolf Muschg auf die Konstanz dieser für den schweizerischen Europa-Diskurs zentralen Denkfigur hingewiesen und dabei ihre wichtigsten Versatzstücke identifiziert: Immerhin hat sich die Schweiz oft und gern dazu beglückwünschen lassen, sie sei so etwas wie ein Europa-Müsterchen: der vernünftige, keineswegs hochfliegende Zusammenschluss kleiner und kleinster politischer Einheiten zu einem Bundesstaat mit einer aufs Nötigste beschränkten Zentralgewalt, starken föderalistischen Sicherungen und einem Maximum an direkter Demokratie.

Wobei Muschg sogleich auf das beträchtliche Mythenpotenzial und den Konstruktionscharakter dieses diskursiven Topos hinweist, der sich »um so hartnäckiger« behaupten könne, »je weniger sich die Realität darum kümmert.«5 –––––––— 2 3

4 5

Wyss: Briefe nach Feuerland (Anm. 1), S. 52. Zum Hintergrund vgl. die politikwissenschaftliche Analyse von Tobias Theiler: Why are the German-speaking Swiss so Eurosceptic? In: Gisela Holfter, Marieke Krajenbrink, Edward Moxon-Browne (Hg.): Beziehungen und Identitäten. Österreich, Irland und die Schweiz. Bern etc.: Peter Lang 2004, S. 321–340. Zit. nach Wyss: Briefe nach Feuerland (Anm. 1), S. 54. Adolf Muschg: Fräulein Blechschmitt und Europa. In: A.M.: Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz. Erinnerungen an mein Land vor 1991. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 153–161, hier S. 159f.

Europa wird entweder untergehen oder verschweizern

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Im Folgenden sei den Konjunkturen dieser Diskursfigur vom europäischen Vorbildcharakter der Schweiz anhand ausgewählter, aber hoffentlich beispielhafter Ausprägungen vor allem (aber nicht nur) unter Deutschschweizer Intellektuellen nachgegangen.6 Sie erweist sich als wichtiges Element in der Verhandlung und Inszenierung kollektiver Identität in der Schweiz. Diese kann mit Benedict Andersons theorieprägendem Konzept der »imagined communities« verstanden werden als offener, unabschließbarer Prozess der von konfligierenden historischen Konstellationen und politischen Interessen geprägten Formierung und Umcodierung kultureller Werte mit normsetzender und praxisprägender Kraft.7 Intellektuellen und Schriftstellern kommt in diesem diskursiven Prozess eine besondere Bedeutung zu, da sie, im Gegensatz zu den vornehmlich auf partikulare Aspekte fokussierten Politikern, eher eine universalistische Perspektive einnehmen, was gerade in puncto Europa-Bewusstsein von besonderer Bedeutung ist.8 Da kulturelle Identität in beträchtlichem Maße durch Formen symbolischer Repräsentation konstruiert, inszeniert, tradiert und durchgesetzt wird, nimmt besonders die Literatur im Ensemble der diskursiven Verfahren, die diese gerieren, einüben und verändern, einen wichtigen Platz ein.9 –––––––— 6

7

8

9

Eine Reihe von Beiträgen zur Debatte können aus Platzgründen nicht behandelt werden. Siehe z.B. politikwissenschaftlich: Wolf Linder: Europäisierung der Schweiz? – Verschweizerung der EU? Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz 2000; Elmar Holenstein: Kulturphilosophische Perspektiven. Schulbeispiel Schweiz. Europäische Identität auf dem Prüfstand. Globale Verständigungsmöglichkeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, bes. S. 11–36; historischkulturgeschichtlich: Hans Küng: Die Schweiz ohne Orientierung? Europäische Perspektiven. Zürich: Benzinger 1992; Jean-Francois Bergier: Wilhelm Tell – ein Europäer? Betrachtungen eines Historikers. Zürich: Benzinger 1992. Vorsichtiger: Erwin Jaeckle: Die Idee Europa. Frankfurt/M.: Propyläen 1988, bes. S. 385f.; Edgar Bonjour: Gibt es noch einen Sonderfall Schweiz? In: E.B: Die Schweiz und Europa. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Bd. 7. Basel, Frankfurt/M.: Helbing & Lichtenhahn 1981, S. 360–381. Vgl. auch: Georg Kreis: Nach der schweizerischen jetzt die europäische Integration. Zur Idee der schweizerischen Modellhaftigkeit. In: G.K.: Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze Bd. 3. Basel: Schwabe: 2005, S. 330–349; Ralph Müller: Europa schönschwätzen? – Metaphern zum Verhältnis Schweiz – Europa in Deutschschweizer Essays. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Hg. von JeanMarie Valentin unter Mitarbeit von Jean-Francois Candoni. Bd. 12. Sektion 28. Europadiskurse in der deutschen Literatur und Literaturwissenschaft. Betreut von Claudia Benthien, Paul Michael Lützeler, Anne-Marie Saint-Gille. Bern etc.: Peter Lang 2007, S. 139–147. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 1983, Deutsch: B.A.: Die erfundene Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt/M.: Campus 1988. Als Überblick zu den Diskussionen um kollektive Identitäten siehe: Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hg.): Identitäten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (= Erinnerte Geschichte. Identität 3); Jürgen Straub: Identität. In: Friedrich Jaeger et. al. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. 3 Bde. Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart: Metzler 2004, S. 277–303. Vgl. hierzu Bernhard Giesen: Europa als Konstruktion der Intellektuellen. In: Reinhold Viehoff, Rien T. Segers (Hg.): Kultur. Identität. Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 130–146. Zur Rolle der Schweizer Literatur für die Konstruktion kultureller und politischer Identität vgl. aus den letzten Jahren insbesondere die Bände Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München, Wien: Hanser 2001;

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Den Hintergrund der folgenden Erörterungen bildet die lebhafte Schweizer Europa-Debatte, die die Gestaltung und Weiterentwicklung erst der EWG, dann der EG und schließlich der EU seit den 50er Jahren begleitet hat und dabei die Schweiz gegenüber den europäischen Nachbarn, der sich vergrößernden und vertiefenden Europäischen Gemeinschaft und gegenüber ›Europa‹ als Diskursraum positioniert. Während in den 50er und 60er Jahren der Europa-Enthusiasmus der Nachkriegszeit den Hintergrund bot, vor dem helvetozentrische Europa-Utopien zu lesen sind, so intensivierte sich die Diskussion in der jüngeren Vergangenheit jeweils punktuell durch Abstimmungskämpfe wie den um den EWR-Beitritt 1991 und die Annahme der bilateralen Verträge 2000, aber auch angesichts historischer Jubiläen wie den 700-Jahr-Feiern 1991 oder dem 150-Jahr-Jubiläum der Schweizer Bundesverfassung 1998. Wichtig waren in diesem Kontext natürlich auch die Auseinandersetzungen nach 1997 um NaziRaubgold, nachrichtenlose Vermögen und die schweizerische Politik gegenüber Nazideutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs, die die Schweiz vor dem Einmarsch der Deutschen bewahrte. In jüngster Zeit sind es vor allem die weiteren Identitätsdiskurse anlässlich der EU-Erweiterungen, die auch Schweizer die Frage »Was ist europäisch?« wieder aufnehmen lassen. Unter diesem Titel hat Adolf Muschg 2004 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen vier weit ausgreifende »Reden für einen gastlichen Erdteil« gehalten, in deren letzter er seine Titelfrage gegenüber seinem deutschen Publikum lakonisch mit »die Schweiz« beantwortet, »nicht ohne Emphase, aber auch ohne Einbildung und vor allem ohne Illusionen«.10 Wie das gemeint ist und wie es sich in Kontinuität, Abgrenzung und Fortschreibung gegenüber dem etablierten Diskurs von der Beispielhaftigkeit und Tauglichkeit der Schweiz als EuropaModell positioniert, wird gegen Ende dieses Beitrags zur Sprache kommen. Dass solche Rede über die Rolle der Schweiz in Europa und für Europa dabei immer zugleich Europa-Diskurs und Schweizdiskurs ist, versteht sich. Der Titel dieses Beitrags »Europa wird entweder untergehen oder verschweizern« ist eine Variation auf das hochironische und tiefambivalente Aperçu des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt »Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern« aus seinem im Jahr 1957 begonnenen und erst 1985 fertiggestellten Roman Justiz.11 Die von Dürrenmatt angebotene Alternative hat als ihren Hintergrund den Ost-West-Konflikt und die Drohung atomarer Vernichtung und lässt damit im Kontext unserer Perspektive auch die –––––––—

10 11

Corina Caduff, Reto Sorg: (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink 2004; Michael Braun, Birgit Lermen (Hg.): Begegnung mit dem Nachbarn (IV.): Schweizer Gegenwartsliteratur. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 2005. Zum Thema Europa vgl. den Überblick von Barbara Rowinska-Januszewska: Schweizer Intellektuelle und Europa seit Ende der 80er Jahre. In: Wulf Segebrecht, Claude D. Conter, Oliver Jahraus, Ulrich Simon (Hg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Bern etc.: Peter Lang 2003, S. 315–328. Adolf Muschg: Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. München: Beck 2005, S. 103. Friedrich Dürrenmatt: Justiz. In: F.D.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Zürich: Diogenes 1991, S. 611.

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Geburt der europäischen Nachkriegsordnung inklusive der westeuropäischen Einigungsbemühungen aus der Katastrophe zweier Weltkriege und des Holocaust assoziieren. Plausibel wird das auch mit Blick auf die Wortgeschichte des vor allem von Deutschen gebrauchten Begriffs »Verschweizerung«. Zuerst findet er sich, soweit ich sehe, bei Friedrich Nietzsche, der den Deutschen die weltoffene Atmosphäre der Schweiz seit dem 18. Jahrhundert als Antidot zum aggressiven Nationalismus des jungen Deutschen Reiches empfahl. Immer noch dort wachsen Alpen- und Alpentalpflanzen des Geistes, und wie man zur Zeit des jungen Goethe sich aus der Schweiz selbst seine hohen deutschen Antriebe holte, wie Voltaire, Gibbon und Byron dort ihren übernationalen Empfindungen nachzuhängen lernten, so ist auch jetzt eine zeitweilige Verschweizerung ein ratsames Mittel, um ein wenig über die deutsche Augenblicklichkeits-Wirtschaft hinauszublicken.12

Diese positive antinationalistische Besetzung kehren später, zur Zeit des Ersten Weltkrieges und dann in der Zwischenkriegszeit, Max Weber und Carl Schmitt um, wenn sie als Verschweizerung den zaghaften, für die Deutschen unangemessenen Verzicht auf den »Machtstaat« oder,13 was jedenfalls bei Schmitt auf dasselbe hinausläuft, eine mutlose »Aussenpolitik der Vermeidung jeder Aussenpolitik« bezeichnen.14 An diese Begriffsgeschichte schließt Dürrenmatt implizit an, wenn er schreibt: Da wir die Politik entpolitisiert haben – hier weisen wir in die Zukunft, nur hier sind wir modern, wirklich bahnbrecherisch, die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern –, da von der Politik nichts mehr zu erwarten ist, keine Wunder, kein neues Leben, nur nach und nach vielleicht noch etwas bessere Strassen, da sich das Land selbst biologisch erfreulich benimmt und sich im Kinderkriegen zurückhält (dass wir nicht zahlreich sind, ist unser grosser, dass sich unsere Rasse dank der Fremdarbeiter langsam verbessert, ist unser grösster Vorzug), herrscht Dankbarkeit über jede Unterbrechung des täglichen Trotts, ist jede Abwechslung willkommen.15

Gegen den historisch so verhängnisvollen aggressiven Nationalismus seiner europäischen Nachbarstaaten lässt sich dies als positive Referenz an einen zentralen Standardtopos des Modells Schweiz verstehen, das friedliche und gedeihliche multikulturelle Mit- oder Nebeneinander der vier Sprachgemeinschaften in der selbstgenügsamen, nichtexpansiven ›Willensnation‹. Dürrenmatts ironisches Lob der multikulturellen Auffrischung der Schweiz richtet sich gegen den in Europa dominanten Ethnonationalismus, der Nation und Volk über die gemeinsame Sprache definiert, und man kann dieses Lob durchaus ernst nehmen, wenn man es nicht demographisch oder gar rassenbiologisch, sondern kultur–––––––— 12

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14 15

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Fragment 249 (1881). In: F.N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 9. Nachgelassene Fragmente 1880–1882. Hg. von Georgio Colli und Mazino Montinari. Berlin: Walter de Gruyter 1980, S. 536. Max Weber: [Zwischen zwei Gesetzen]. In: M.W.: Studienausgabe der Gesamtausgabe. 1. Abt. Schriften und Reden. Bd. 15. Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914– 1918. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. Tübingen: J. C. B. Mohr 1988, S. 95–98, hier S. 95. Carl Schmitt: Die Kernfrage des Völkerbundes. Berlin: Ferdinand Dümmlers Verlagsbuchhandlung 1926, S. 64f. Dürrenmatt: Justiz (Anm. 11), S. 611.

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diagnostisch liest. Zugleich schwingt in Dürrenmatts Anerkennung der Entemotionalisierung, Entideologisierung und Pragmatisierung der Politik als Verschweizerung die antiideologische Skepsis der 50er Jahre mit; sie passt aber auch durchaus zur helvetisch-nüchternen Konsens-, Konkordanz- und Abstimmungsdemokratie. Dürrenmatts Ironie trifft aber auch deren Schattenseite, die Verbürokratisierung des Politikalltags, den hohen Regelungsbedarf in der durchstrukturierten Gesellschaft, die Apathie des Stimmbürgers, die Entpolitisierung des öffentlichen Diskurses und die zunehmende Atrophie der politischen Diskussionskultur, die sich nicht nur, aber in Dürrenmatts Wahrnehmung in besonders hohem Maße in der Schweiz findet. Insofern wäre dem noch Paul Nizons dystopisch-polemische und auf die europäische Konsumkultur insgesamt bezogene Variante jeglicher Rede über die Vorbildhaftigkeit der Schweiz an die Seite zu stellen: »Die Schweiz kann man als Avantgarde auffassen, insofern sie etwas vorwegnimmt, was dem ganzen westlichen Europa blüht, die Einübung in den Tod. Hier ist das Licht des Lebens schon längst erloschen.«16 Nizon radikalisiert einen vertrauten Topos des kritischen Schweizdiskurses, den der Langeweile und Unlebendigkeit im reichen, satten, selbstzufriedenen und perfekt durchorganisierten Gemeinwesen. Er markiert damit eine Extremposition, auf welche, wie auch Dürrenmatts ironisches Spiel mit Ambivalenzen zu verstehen gibt, die selbstbewusste Stilisierung der Schweiz zum Europa-Muster im Kleinen zu jedem Zeitpunkt dialektisch rückzubeziehen ist. Bevor der so abgesteckte Rahmen zwischen Utopie und Dystopie, Schweizlob und Schweizkritik mit Inhalt gefüllt wird, sei noch eine kurze Bemerkung zur Literatur gestattet. Ursprünglich sollte dieser Beitrag mit dem Motto ›Europa erzählen‹ überschrieben werden und fiktive Bearbeitungen des Europa-Themas untersuchen. Politische Europa-Konzepte oder auch europäische Identitätsfragen scheinen sich aber offenbar für eine literarisch-fiktive Bearbeitung nicht recht zu eignen. Jedenfalls ist mit Blick auf die deutschsprachige Schweizerliteratur Wulf Segebrecht beizupflichten, der in seinem einleitenden Beitrag zu dem 2003 erschienenen Tagungsband Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart über die deutsche Gegenwartsliteratur das Fazit zog »mit Europa als Thema oder gar als politischer Vision hat sie nichts im Sinn.«17 Ähnlich fragt –––––––— 16

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Paul Nizon: Die Erstausgaben der Gefühle. Journal 1961–1962. Hg. von Wend Kässens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 135. Zit. nach: Hugo Loetscher: Im Helvetischen Chatroom. In: H.L.: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz. Zürich: Diogenes 2003, S. 376–417, hier S. 416. Wulf Segebrecht: Wie europäisch ist die deutsche Gegenwartsliteratur? In: Segebrecht, Conter, Jahraus, Simon (Hg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart (Anm. 9), S. 19–35, hier S. 19. Zur Schweiz vgl. im selben Band Malgorzata Grzywacz: Europäische Themen in der deutschschweizerischen Literatur. Europa in der Schweiz. Die Schweiz in Europa – Erinnerung und Gegenwart, S. 367–378. Siehe auch: Ursula Keller: Europa schreibt. In: U.K., Ilma Rakusa (Hg.): Europa schreibt. Was ist das Europäische an den Literaturen Europas? Essays aus 33 europäischen Ländern. Hamburg: edition Körber-Stiftung 2003, S. 13–30 sowie Claudia Benthien, Paul Michael Lützeler, Anne-Marie Saint-Gille: Einleitung zu »Europadiskurse in der deutschen Literatur und Literaturwissenschaft«. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 (Anm. 6), S. 13–19.

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Paul Michael Lützeler, der viele deutsche Europa-Konzepte der letzten 200 Jahre zusammengetragen hat: »Wo sind die deutschen Schriftsteller, die heute, in der Situation nach 1989, das Problem der europäischen Identität neu überdächten?«18 Angesichts der Fülle von schweizerischen Einlassungen zum Thema Schweiz und Europa möchte man ihm antworten: in der Schweiz. Aber es sind eben im Wesentlichen Essays, Reden, Stellungnahmen oder, wie bei Laure Wyss, Briefe, die dies tun, und nicht Narrationen. An einer Stelle allerdings wird man zum Thema ›Europa erzählen‹ doch fündig. In Adolf Muschgs Roman Sutters Glück von 2001 wird Europa erzählt, und zwar an einem der mythischen Orte der Schweizer und der Europäischen Kulturgeschichte, in Sils-Maria.19 Der Titelheld Sutter, alias Emil Gygax, pensionierter Gerichtsreporter, will wie jedes Jahr seinen Urlaub im Engadin in der Pension Bazzell antreten, doch statt der seit vielen Jahren vertrauten Wirtin Seraina Bazzell trifft er dort zu seiner Überraschung auf forsche Eventmanager, die aus der Pension für Bildungsbürger, denen das ›Waldhaus‹ zu prätentiös oder zu teuer war, ein Seminarzentrum gemacht haben »mit bester Adresse, Nietzsche, Hesse, Adorno, Thomas Mann, da fließt Energie, und wenn das Land etwas brauchen kann, dann einen Energiestoß. Genau der Standort, ihm eine neue Geschichte zu erzählen.« »Narrating the World from the Top of Switzerland!« ist das Motto der neuen Herren in Sils: »Diesen Herbst haben wir mit Europa angefangen, wir müssen dieses Europa, das wir nicht kaufen wollen, zuerst uns selbst verkaufen. Erzählen müssen wir es uns! Dann spüren wir auf einmal: das sind wir ja selbst! Und sind schon mitten im Prozeß. Schon das erste Seminar: dreifach überbucht.« Kaufen und Verkaufen ist das Stichwort. Erzählen im Dienste eines politikkompatiblen Image-Marketings, zu dem immerhin, wie wir erfahren, ein Parteipräsident, ein Bundesrat und Sutters früherer Chefredakteur angereist sind. Das damit der Ausverkauf der europäischen Kulturgeschichte stattfindet, beweist das Tagungsprogramm: »Wissen sie Herr Sutter, was wir uns am ersten Tag vorgenommen haben? Das Gästebuch der guten alten Seraina Bazzell. Da stehen fünfzig Jahre Europa drin.«20 So wird das kulturelle Gedächtnis Europas verscherbelt und narrativ vernutzt. Eine gegen helvetische Introspektion gerichtete Pointe dieser Veranstaltung: »Das ist unsere Spielregel: dieses Mal sind es Schweizer, die Schweizern etwas erzählen. Wir sind unter uns, wenn wir von Europa reden, und plötzlich ist Europa unter uns.«21 Das ist das glatte Gegenteil der Weltoffenheit, die Nietzsche, vom gleichen Ort inspiriert, den Deutschen zur Nachahmung empfohlen hatte. Muschgs kulturkritische Satire warnt davor, den öffentlichen Europa-Diskurs – und nicht nur diesen – durch selbstreferenzielle Event-Kultur zu ersetzen, an die Stelle harter Denkarbeit die weiche Selbsterfahrung treten zu lassen, und damit das identifikatorische –––––––— 18 19 20 21

Paul Michael Lützeler: Einleitung. In P.M.L. (Hg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 7–26, hier S. 14. Vgl. Paul Raabe: Spaziergänge durch Nietzsches Sils-Maria. Zürich: Arche 1992; Iso Camartin: Von Sils-Maria aus betrachtet. Ausblicke vom Dach Europas. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Adolf Muschg: Sutters Glück. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 257. Ebd., S. 258.

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und persuasive Potenzial der Phantasie ganz den Medienprofis und PR-Experten zu überlassen.22 Mit Literatur hat also das Folgende nicht viel zu tun, sehr wohl aber mit Narration, denn natürlich ist der Diskurs über den Modellcharakter der Schweiz eine narrative Konstruktion, eine Form von ›Europa erzählen‹ oder ein Mythos, der mit anderen Schweizmythen in einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis steht. Darauf weist mit Blick auf die Konkurrenz zwischen den vielfach besetzten Jubiläumsdaten 1291 und 1848 Adolf Muschg in seinem Buch O mein Heimatland. 150 Versuche mit dem berühmten Schweizer Echo. Die im Jubiläumsjahr 1998 erschienene Studie verbindet ein Porträt des geistig-politischen Klimas in der Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts mit Beobachtungen und Reflexionen über die Kontroversen, die Muschgs Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt 1997 ausgelöst hatte. Dazu kommen noch Reminiszenzen über das Hineinwachsen des Autors in seine Schweizer Identität während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Neben- und Ineinander der Zeit- und Diskursebenen erlaubt es dem Autor, vielfache Echos der Geschichte in der Gegenwart auszuloten und implizite Parallelen zwischen den Epochen nahezulegen. Die Dominanz der 700Jahr-Feiern des Bundesbriefs gegenüber der Erinnerung an die Gründung des demokratischen Bundesstaates 1848 signalisiert für Muschg die Fortschreibung jener verhängnisvollen, in der sogenannten ›Geistigen Landesverteidigung‹ vor und während des Zweiten Weltkrieges mobilisierten und seither nicht wirklich revidierten Geschichtsnarration, die die »reale – nicht legendäre – Gründungsund Bewährungsprobe der Schweiz« im 19. Jahrhundert verdrängt und stattdessen mit Rütlischwur und Tellenschuss Abwehr, Abgrenzung und Sonderrolle mythisch unterfüttert.23 Dagegen erinnert Muschg mit seinem Buch an die wahrhaft europäische Episode der Schweizergeschichte, in der das multikulturelle, –––––––— 22

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Wie berechtigt solche Warnungen sind, zeigt zum Beispiel eine Veranstaltung wie der ›Literaturexpress Europa 2000‹, mit dem im Juni 2000 103 Autoren aus 43 europäischen Ländern gemeinsam auf der Route des alten Nord-Süd Expresses von Lissabon quer durch 11 Länder bis ins Baltikum, Rußland, Weißrussland und über Polen nach Berlin reisten. Schaut man sich die Beiträge der beiden mitreisenden Schweizer Autoren, der in Budapest geborenen und in Zürich aufgewachsenen Christina Viragh und des Graubündners Leo Tuor in dem Europaexpress titulierten literarischen Ertrag der Reise an (den anzufertigen eine Teilnahmebedingung war), so fällt vor allem auf, dass die Thematisierung des von den Teilnehmern selbst recht kritisch eingeschätzten Reise- und Lesezirkus über 7000km durch 19 Städte einen sehr viel breiteren Raum einnimmt als die von ihm erhofften Beobachtungen und Reflexionen zu europäischer Identität und europäischer Literatur. Christina Viragh: Vom Reisen in eigener Sache. In: Thomas Wohlfahrt, Christiane Lange (Hg.): Europaexpress. Ein literarisches Reisebuch. Berlin: Eichborn 2001, S. 29–34 spricht von »Banalisierung« (S. 30) und Funktionalisierung unter dem »Zugriff des Literaturbetriebes« (S. 31) und davon, dass die Mission der Reise, die »Schaffung eines europäischen Bewusstseins« oder einer »europäische[n] Poetik« (S. 29) die weltoffene Wahrnehmung des europäisch Erzählenswerten eher behindere als befördere. Im gleichen Band bilanziert Leo Tuor: Die Liebe der Zuhälter, S. 322–334: »Im Namen der Literatur wurde da etwas gestartet, was mit der Literatur nichts zu tun hat.« (S. 329). Adolf Muschg: O mein Heimatland! 150 Versuche mit dem berühmten Schweizer Echo. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 220.

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demokratische und republikanische Staatswesen in einem monarchisch regierten und nationalistisch gesinnten Europa tatsächlich fortschrittlich, vorbildlich und impulsgebend war. »Die europäische Plastik der Schweiz schwand im dürftigen Licht des rückwärts angewandten Neutralitätsprinzips. Es konstruierte, für den Schulgebrauch, eine Schweizergeschichte unter Ausschluss der anderen, so weit sie nicht als schlichte Feindbilder zu gebrauchen waren.«24 Ähnlich betont zur gleichen Zeit auch Peter Bichsel den beispielhaften Wechselverkehr progressiven Gedankenguts im 19. Jahrhundert. 1998 wäre für ihn die Gelegenheit gewesen, »den Tellen endlich die Scham zu nehmen, die Scham darüber, dass wir uns damals ›fremdem‹ Gedankengut öffneten, auf deutsche Liberale hörten, einen guten Teil der amerikanischen Verfassung abschrieben. 1848 wäre der Stolz darauf, ein geistig offenes Land zu sein«.25 Und die Journalistin und Schriftstellerin Laure Wyss erinnerte an das Anfang der 90er Jahre lancierte Manifest Für den EU-Beitritt – wie anno 1848, dass die geistig-politische Offenheit der 48er Zeit zum Vorbild für einen heutigen proeuropäischen Kurs erhob.26 Es ist alles andere als ein Zufall, dass eine der wichtigsten und ausgearbeitetsten schweizerischen Europa-Utopien vom Geist dieser Zeit inspiriert ist. Der freisinnige Züricher Jurist Johann Caspar Bluntschli legte 1878 unter dem Titel Die Organisation des Europäischen Staatenvereins den Entwurf für eine europäische Bundesverfassung vor, die zahlreiche helvetische Züge trägt wie die »sorgfältige Wahrung der Selbstständigkeit [...] der verbündeten Staaten«,27 eine föderalistische Struktur und ausgedehnten Minderheitenschutz. Zu diesem Zeitpunkt war Bluntschli schon dreißig Jahre Professor in Deutschland, kannte das europäische Umfeld genau und wusste daher: »kein einziges dieser Kulturvölker betrachtet die Schweizerrepublik als seinen Musterstaat.«28 In seiner drei Jahre zuvor erschienenen Schrift Die Schweizerische Nationalität warnt er vor übertriebenem Stolz auf das Musterhafte des eigenen Landes. Dieser »schmeichelt der Selbstgefälligkeit und reizt zur Überschätzung, aber er hat keinen realen Boden und keinen Kern, er ist hohl und eitel.«29 Nun gehören Bescheidenheitsgesten wie diese in vielen Fällen zum diskursiven Repertoire des Schweizlobs; im Zweifelsfall erhöhen sie die Glaubwürdigkeit des Gesagten. Und tatsächlich resümiert Bluntschli im Hinblick auf den »internationalen Charakter der Schweizer Nationalität«, der zu »einem Lebensprinzip der Schweiz geworden« sei, im gleichen Text –––––––— 24 25 26 27

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Ebd., S. 219. Peter Bichsel: Tells klobige Hände. In: P.B.: Die Totaldemokraten. Aufsätze über die Schweiz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 81–89, hier S. 88. Wyss: Briefe nach Feuerland (Anm. 1), S. 87. Johann Caspar Bluntschli: Die Organisation des Europäischen Staatenvereins (1878). Zit. nach: Elisabeth Rotten (Hg.): Die Einigung Europas. Sammlung von Aussprüchen und Dokumenten zur Versöhnung und Organisation Europas aus eineinhalb Jahrhunderten. Basel: Verlag Haus der Bücher 1942, S. 69. Zu Bluntschli siehe Tamara Ehs: Helvetisches Europa – Europäische Schweiz. Der Beitrag der Schweiz an der europäischen Einigungsidee im Kontext schweizerischer Staats- und Nationswerdung. Bern etc.: Peter Lang 2005, S. 128–136. Ebd. Johann Caspar Bluntschli: Die Schweizerische Nationalität (1875). Zit. nach Rotten (Hg.): Die Einigung Europas (Anm. 27), S. 67.

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durchaus selbstbewusst: »Dadurch hat die Schweiz in ihrem Bereiche Ideen und Prinzipien geklärt und verwirklicht, welche für die ganze europäische Staatenwelt segensreich und fruchtbar, welche bestimmt sind, dereinst auch den Frieden Europas zu sichern.«30 Höchst bemerkenswert und geeignet als eigentlicher Lackmustest für die Glaubwürdigkeit seiner supranationalen Vision ist nun, dass in der Logik dieser Utopie die Selbstaufhebung der Schweiz angelegt und mitgedacht ist. »Wenn dereinst das Ideal der Zukunft verwirklicht sein wird, dann mag die internationale Schweizernationalität in der größeren europäischen Gemeinschaft aufgelöst werden. Sie wird nicht vergeblich und nicht unrühmlich gelebt haben.«31 Die Verwirklichung wahren Schweizertums bedeutet seine Überwindung: in dieser Denkfigur paaren sich Patriotismus und Universalismus, Nationalstolz und Internationalismus, Prinzipientreue und Weltoffenheit, Traditionsverbundenheit und Zukunftsorientierung auf das Beste. Bluntschlis Züricher Zeitgenosse Gottfried Keller hat zur gleichen Zeit im Fähnlein der sieben Aufrechten genau diesen Gedanken zu Literatur gemacht, wenn er Frymann sagen lässt: Wie es dem Manne geziemt, in kräftiger Lebensmitte zuweilen an den Tod zu denken, so mag er auch in beschaulicher Stunde das sichere Ende seines Vaterlandes ins Auge fassen, damit er die Gegenwart desselben um so inbrünstiger liebe; denn alles ist vergänglich und dem Wechsel unterworfen auf dieser Erde. Oder sind nicht viel größere Nationen untergegangen, als wir sind? [...] Nein! ein Volk, welches weiß, daß es einst nicht mehr sein wird, nützt seine Tage um so lebendiger, lebt um so länger und hinterläßt ein rühmliches Gedächtnis; denn es wird sich keine Ruhe gönnen, bis es die Fähigkeiten, die in ihm liegen, an’s Licht und zur Geltung gebracht hat [...]. Ist die Aufgabe eines Volkes gelöst, so kommt es auf einige Tage längerer oder kürzerer Dauer nicht mehr an [...].32

Hier spricht gelassenes Vertrauen in die geschichtliche Sendung des Eigenen im Wandel der Zeiten, das auch europapolitisch dem angstvollen Festhalten am Althergebrachten und Erreichten im Angesicht des bedrohlich Anderen entgegenzusetzen ist. Adolf Muschg hat mehrfach und zuletzt in seinen EuropaReden dargestellt, dass Kellers Kleinod des literarischen Schweizdiskurses eine »hochaktuelle europäische Mitgift der Schweiz« und damit ein auch für unsere Gegenwart relevantes Stück ›erzähltes Europa‹ ist.33 Der bedeutende Westschweizer Kulturhistoriker und Vorkämpfer eines europäischen Föderalismus Denis de Rougemont nennt 1965 Bluntschlis Projekt »eine der fruchtbarsten Arbeitshypothesen, deren sich die Erbauer eines künftigen Europa bedienen können.«34 De Rougemonts Studie Die Schweiz. Modell Europas. Der schweizerische Bund als Vorbild für eine europäische Föderation ist die –––––––— 30 31 32

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Ebd., S. 68. Ebd. Gottfried Keller: Das Fähnlein der sieben Aufrechten. In: G.K.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning et.al. Frankfurt/M: Deutscher Klassiker Verlag 1985–1996. Bd. 5. Züricher Novellen. Hg. von Thomas Böning. 1989, S. 235–302, hier S. 251f. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 119. Denis de Rougemont: Die Schweiz. Modell Europas. Der schweizerische Bund als Vorbild für eine europäische Föderation. Wien, München: Molden 1965, S. 237f.

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Übersetzung seines 1961 erschienenen Buchs La Suisse ou l’histoire d’un peuple heureux. Ein glückliches Volk sind die Schweizer für de Rougemont vor allem aufgrund der europäischen Vorreiter- und Führungsrolle, die er ihnen zuschreibt. Ähnlich wie Bluntschli macht er detaillierte Vorschläge für eine föderative Ordnung Europas. Ein entscheidender Antrieb seiner Ideen liegt darin, dass ein »Europa der Staaten« zugleich das »finis Helvetiae, ohne Kommentar« bedeuten würde.35 Anders als für sein Vorbild aus dem 19. Jahrhundert ist dies für ihn eine Schreckensvision, die es um jeden Preis zu verhindern gilt. Deshalb fordert er die Schweizer auf, zu »Missionare[n] ihres eigenen Föderalismus« zu werden,36 ihre Zurückhaltung aufzugeben und ihre föderalistischen Erfahrungen und auch ihre geographische Mittellage mit Selbstbewusstsein in die Waagschale zu werfen, um »mehr als jedes andere Land [...] eine wegbereitende Rolle in einem föderalistisch organisierten vereinten Europa zu spielen.»37 Die Schweiz will er zum »Bundesdistrikt« oder europäischen »Hauptland« – statt einer Hauptstadt – erheben,38 in der alle wichtigen Behörden der europäischen Föderation ihren Sitz nehmen. Mehr noch: sein Europa wird von Schweizern – und nur von Schweizern – für ganz Europa gemacht. »In Zusammenarbeit mit den intellektuellen und politischen Eliten, mit den Kantonen, den größten Städten und den wichtigsten Berufsgruppen, würde sie in großen Zügen das Projekt einer politischen Föderation entwerfen. Dieses Projekt [...] müßte dann den 19 Staaten Westeuropas vorgelegt werden.«39 Eine solche Mischung aus Pioniergeist und Isolationismus markiert in puncto Sendungsbewusstsein und Helvetozentrismus eine ziemlich einzig dastehende Maximalposition. Eine ganz andere diskursive Strategie verfolgt ebenfalls in den 60’er Jahren Karl Schmid, Professor für Germanistik an der E.T.H. Wie de Rougemont gehörte er zu den maßgeblichen proeuropäischen Schweizer Intellektuellen der Nachkriegsjahrzehnte, doch im Gegensatz zu diesem schlägt er sehr viel verhaltenere Töne an. Auch er plädiert für ein föderales Europa und sieht Elemente des Schweizer Beispiels wie das »föderalistische Zusammengehörigkeitsgefühl«, die Autonomie des »kulturellen Bereichs« und die »Rücksicht auf sprachlich-kulturelle Minderheiten« als »betrachtenswert«.40 Zugleich warnt er davor, solche Hinweise nicht als »Belehrungen oder als Rezepte für den europäischen Zusammenschluss« misszuverstehen.41 Mit Recht gibt er zu bedenken, dass die direkte Demokratie bereits im helvetischen »Kleinstaat« an ihre –––––––— 35 36 37 38 39 40

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Ebd., S. 235. Ebd., S. 252. Ebd., S. 251. Ebd., S. 254f. Ebd., S. 251. Karl Schmid: Europa zwischen Ideologie und Verwirklichung. Psychologische Aspekte der europäischen Integration. Zürich, Stuttgart: Artemis 1966, S. 162f. Vgl. auch Karl Schmid: Die Schweiz vor der europäischen Wirklichkeit (1969). In: K.S.: Die Schweiz zwischen Tradition und Zukunft. Ansprachen und Aufsätze aus 25 Jahren. Schaffhausen: Novalis Verlag 1991, S. 55–72. Schmid: Europa zwischen Ideologie und Verwirklichung (Anm. 40), S. 166.

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Grenzen stoße. Vor allem aber verweist er auf die höchst unterschiedlichen historischen Belastungen: »Der psychologische Schritt von einem schweizerischen Kanton zur schweizerischen Eidgenossenschaft war doch nicht durch eine so lange und so schwierige Vorgeschichte erschwert, wie es der Schritt von Deutschland oder Frankreich zu Europa ist.«42 Schmids Studie ist eine weit ausgreifende ideengeschichtliche Untersuchung, die den Föderalismus als gelungene Synthese zweier binär-archetypisch gegeneinander gestellter europäischer Traditionen präsentiert: Die Gegensätze zwischen Aufklärung und Romantik, Pluralismus und Unitarismus, rationalem Denken und irrationaler Treue, Fortschritt und Bindungsgefühl, Gemeinschaft und Individualität sieht Schmid als im Föderalismus verbunden und versöhnt. Ein solch grandioser kulturgeschichtlicher Bezugsrahmen unterläuft freilich seine Bescheidenheitsrhetorik und macht den helvetischen Föderalismus unter der Hand sozusagen zur Erfüllung der abendländischen Geistesgeschichte. Eine ganz ähnliche Denkfigur verwendet, um nun zu den Europa-Debatten der letzten zehn Jahre zu kommen, der Historiker und derzeitige Rektor der Universität Freiburg Urs Altermatt in seinem 1996 erschienenen Buch Das Fanal von Sarajewo. Ethnonationalismus in Europa. Wie der Titel andeutet, bespricht Altermatt das Erstarken von Nationalismus, Populismus und Euroskepsis in ganz Europa vor dem Hintergrund des Balkankonflikts. Gegen den dort so besonders verhängnisvollen Ethnonationalismus sieht er die Entkoppelung kultureller und politischer Identitäten als eine vielversprechende Strategie und kommt in diesem Zusammenhang auf »das Schweizer Modell« und seine »durchaus nachahmenswerten[n] Elemente« zu sprechen. Dort wirkten sprachliche oder konfessionelle Konflikte nicht desintegrativ, weil kulturelle, konfessionelle, sprachliche und politische Grenzen nicht identisch seien. Ein »Wechselspiel der Minderheiten« mit verschiedenen und wechselnden Konfliktlinien dämpfe und moderiere, so Altermatt, die Gegensätze.43 Diese These ist ebenso nüchtern wie plausibel; Altermatt schließt jedoch seine Ausführungen mit dem Hinweis auf die »brutale Radikalisierung des ethnographischen Projekts« im Balkankrieg ab und lässt sie in der Pointe gipfeln: »Europa steht in einem gewissen Sinne vor der Entscheidung, sich zu balkanisieren oder zu helvetisieren«.44 Eine solche Dramatisierung seiner Analyse gemahnt nicht nur an Dürrenmatts Diktum, sie wiederholt, von der Geistesgeschichte auf die politische Arena gewendet, auch Karl Schmids Stilisierung der Schweiz zur Trägerin einer geschichtsphilosophischen Mission – wobei Altermatt freilich ebenso wenig wie Karl Schmid meint, dass diese Helvetisierung Europas von der Schweiz ausgehen müsse. Laure Wyss, diese bedeutende und trotz der Bemühungen von u.a. Corina Caduff, Thomas Feitknecht und Adolf Muschg zu wenig bekannte und zu wenig –––––––— 42 43 44

Ebd., S. 163. Urs Altermatt: Das Fanal von Sarajewo. Ethnonationalismus in Europa. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1996, S. 243. Ebd., S. 248.

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gelesene Schriftstellerin und Autorin,45 war 84 Jahre alt, als 1997 ihre Briefe nach Feuerland erschienen. Ihr Europa-Engagement ist lebensgeschichtlich begründet; sie hatte die ersten Kriegsjahre in Schweden in enger Verbindung zum antifaschistischen Widerstand verbracht; eine Erfahrung, die sie als Journalistin und seit ihrer Pensionierung auch als Autorin zu einer kritischen und mutigen Kämpferin für Menschenrechte, Zivilcourage und Toleranz machte. Bereits die sich im Titel ihrer Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa andeutende Erzählperspektive unterscheidet ihren Text. In zehn Briefen versucht sie euroskeptische und europafreundliche Stimmungen und Entwicklungen in ihrem Heimatland einem Schweizer Ehepaar, das in Patagonien lebt, zu erklären. Dieser Versuch, die Schweiz vom anderen Ende der Welt her zu verstehen, von einem Ort, der spätestens seit Bruce Chatwin das Andere der kleinräumigen mitteleuropäischen Zivilisation symbolisiert,46 markiert eine Fremdstellung, einen kritischen Distanzgewinn, eine sozusagen ethnographische Perspektive und mit ihr die Aufforderung, sich nicht als Zentrum der Welt zu begreifen oder zum Maß aller Dinge zu erheben. In gleichem Sinn ist ihr Versuch, die momentane Stellung der Schweiz in Europa zu verorten, untrennbar verknüpft mit einer kritischen Perspektive gerade auf das, was der Schweiz zu Europa fehlt. So nutzt sie die spätestens seit Bichsels Des Schweizers Schweiz topischen Grenzerfahrungen mit dem leuchtend roten Schweizer Pass,47 die sich, wie sie anekdotisch beschreibt, dramatisch von Stolz zu Scham umgekehrt haben, seit sich Schweizer bei der Einreise in die EU in die lange Schlange der »others«, die nicht zu Europa gehören, anzustellen haben, zu einem Angriff auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz.48 Und gleich zu Anfang ihrer Darstellung verknüpft die engagierte Kämpferin für Frauenrechte und Feministin den Ausdruck ihrer Heimatliebe zu Biel und dem Jura mit einer Reflexion darüber, dass sie sich, trotz solch starker Verbundenheit, viel zu lange nicht als vollwertige Schweizerin fühlen konnte, weil sich die Schweiz in Sachen Frauenstimmrecht so lange als unrühmliche europäische Ausnahme gezeigt und damit aus dem, was längst europäische Selbstverständlichkeit war, ausgegrenzt habe.49 Dazu passt, dass sie das Schweizlob, dessen Faden dieser Beitrag verfolgt, nur höchst verhalten und aus zweiter Hand zitiert, und zwar von einer europapolitisch prominent exponierten Schweizerin, Gret Haller, die ständige Vertreterin der Schweiz beim Europarat war, bevor sie zur Ombudsfrau für –––––––— 45

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Vgl. z.B. die beiden Sammelbände: Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss. Schriftstellerin und Journalistin. Zürich: Limmat 1996; Laure Wyss. Quarto. Zeitschrift des Schweizer Literaturarchivs, Nr. 12. Red. Franziska Kolp. Bern: Bundesamt für Kultur 1999. Vgl. Bruce Chatwin: In Patagonien. Reise in ein fernes Land. Reinbek: Rowohlt 1990. Vgl. Peter Bichsel: Des Schweizers Schweiz. In: P.B.: Des Schweizers Schweiz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 9–27, hier S. 10: »Andere Nationalitäten nehmen ihren Paß erst vor dem Beamten aus der Tasche oder tragen ihn irgendwie unauffällig in der Hand; die Schweizer aber tragen ihren Paß gut suchtbar, ihren roten Paß mit dem weißen Kreuz. Er soll sie schützen, und die Tatsache, daß sie Schweizer sind, soll die Gefahr abwenden, soll ihnen Vorteile bringen [...].« Vgl. Wyss: Briefe nach Feuerland (Anm. 1), S. 15. Vgl. auch S. 9. Vgl. ebd., S. 9f.

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Menschenrechte für Bosnien und Herzegowina wurde. »Mit seinen nebeneinander bestehenden Kulturen, der Vielsprachigkeit und seiner föderalistischen Struktur hat unser Land in mancher Hinsicht auch ein wenig Modellcharakter für verschiedene Elemente eines künftigen Europa.«50 Überhaupt setzt sie gegen die euroskeptische Mehrheitsmeinung ihrer Mitbürger Beispiele von europapolitisch aktiven Schweizern, die in europäischen Institutionen bereits seit langem mitgestalten und dabei, wie sie vorsichtig formuliert, in Sachen Toleranz »die 175 jährige Übung [...] und unsere Erfahrungen im Ertragen von ungleichen Nachbarn« konstruktiv einbringen können.51 Ähnlich wie bei Laure Wyss sind auch bei Adolf Muschg Schweizlob und Schweiztadel konstitutiv untrennbar, und seine zahlreichen proeuropäischen Interventionen, in denen er auch immer wieder auslotet, inwieweit und unter welchen Bedingungen »Schweizer Errungenschaften [...] gemeinschaftsdienlich und europanützlich« sein könnten,52 sind nur richtig einzuordnen, wenn sie mit seiner kontinuierlichen und radikalen helvetischen Selbstkritik zusammengelesen werden. Wenn er in der Vorrede zu seinen Europa-Vorlesungen zu bedenken gibt, diese hätten vielleicht »passender« »Europa und sein Zweifel« überschrieben werden sollen,53 so trifft dieser Zweifel auch immer das eigene Land und die eigene Rolle, denn er ist sich insbesondere gegenüber seinem deutschen Publikum sehr bewusst, »daß gerade ein Bürger meines Landes, das sich von der EU ausgeschlossen hat, keine Empfehlungen für Europa abgeben sollte«.54 Wenn er trotzdem gegen Ende seiner Ausführungen die Frage »Was ist europäisch?« durchaus selbstbewusst mit »die Schweiz« beantwortet, so ist das zunächst und vor allem so zu verstehen, dass Muschg sich dagegen wehrt, sein Land als ›Sonderfall‹ aus der gemeinsamen europäischen Verantwortung zu entlassen, gegen die dominanten isolationistischen Narrationen das eminent Europäische an der Schweiz betont und ihre Zugehörigkeit zu seiner Geschichte und Kultur einklagt. Schon 1989 forderte er seine Landsleute auf, »dem Sonderfallbewusstsein gründlich ab[zu]schwören« und wieder stolz »ein integrierendes Stück Europa« zu werden.55 Und genau diese Insistenz war ja auch das eigentliche Skandalon an Muschgs provokantem Beitrag zur Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt, von dem sich die rechtspopulistische Leitfigur der SVP Christoph Blocher so provoziert fühlte, dass er Muschg in seiner Replik zum Unschweizer zu stempeln versuchte.56 Der absolute Zivilisationsbruch, den Auschwitz darstellte, ist für –––––––— 50 51 52

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Ebd., S. 34. Ebd., S. 51. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 29. Vgl. z.B. seine Aufsätze »Auf der Suche nach dem europäischen Menschen« und »Eigensinn und Europa« in: Muschg: Die Schweiz am Ende (Anm. 5), S. 162–169 und S. 175–193. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 11. Ebd., S. 12. Adolf Muschg: Vorsatz Europa. In: Muschg: Die Schweiz am Ende (Anm. 5), S. 170–174, hier S. 173. Vgl. Adolf Muschg: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. In: A.M.: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation. Frankfurt/M.:

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Muschg denn auch Ausgangspunkt der Suche nach einer europäischen Identität. Europa, so sein Ansatz, kann nicht mehr gedacht werden ohne seine Katastrophen, die Verheerungen der beiden von Europa ausgegangenen Weltkriege und ihrer imperialistischen Vorgeschichte. Zugleich gilt aber: auch die Hoffnung Europas lebt von seiner Fähigkeit, sich mit diesem »Schwarze[n] Loch« in seiner Mitte zu konfrontieren und seine eigene Geschichte, seine Prämissen und Positionen infrage zu stellen.57 So wie für den Schweizer Patrioten gehören auch für den leidenschaftlichen Europäer der Zweifel und der Glaube untrennbar zusammen. Ja, diese Fähigkeit zur Infragestellung, gepflegt als »Kultur des Zweifels«58 ist ihm in der Krise und als Weg aus der Krise geradezu der Kern Europas als »kulturelles Projekt«.59 Als das Andere des europäischen Sonder- und Sendungsbewusstseins betont er eine solche Kultur der Selbstrelativierung. Das Europa, das ich meine, ist auf den Trümmern der Zivilisation aufgerichtet: darum und davon wird es zur Kultur. [...] Es hat den Unglauben an sich selbst als praktizierendes Glaubensbekenntnis zu etablieren. Der Pluralismus der Wahrheiten muß ein starker, ein bescheidener, aber ein tragender Glaube Europas werden.60

Diese Paradoxie kann an vielfältige abendländische Traditionen kritischutopischen Denkens anknüpfen. Muschg variiert ein Wort des französischen Historikers Jules Michelet über Frankreich »Europa schafft Europa durch nachhaltige Arbeit an sich selbst, über sich«. Wenn Muschg dazu dann ergänzt »über sich hinaus«,61 so schwingt in dieser Erweiterung ein praktisch-gesellschaftlich gewendetes idealistischtranszendentalphilo-sophisches Erbe mit und selbst noch die progressiv-universalpoetische Selbstrelativierung romantischer Ironie. Und geschult an der fragilen Utopie der Dialektik der Aufklärung, die Adorno und Horkheimer ja auch aus dem Absinken des alten Europa in die faschistische Barbarei entwickelt hatten, ist die Hoffnung darauf, »dass die Aufklärung auch zu wissen wagt, was gegen sie selbst spricht«,62 sowie der daraus abgeleitete Imperativ: »Das Europa, das ich meine, wird das Produkt einer Aufklärung zweiten Grades, der Aufklärung des vermeintlich Aufgeklärten, über sich selbst sein – oder es wird nicht sein, und dann muss es nicht sein.«63 Aus der epistemologischen Selbstrelativierung »Der Kern der Wahrheit ist es, ganz anders zu sein«, entwickelt sich dabei selbstverständlich die moralische Dimension als »der Kern des Menschenrechts, anders zu sein«.64 Man könnte sagen, dass Muschg in puncto europäischer Identität das verfolgt, was die Systemtheorie einen dissenstheoretischen Ansatz nennen würde, die Idee nämlich, –––––––—

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Suhrkamp 1997, S. 7–18. Ein Abdruck des SVP Inserats mit der Reaktion Blochers findet sich als Anhang D in Muschg: O mein Heimatland (Anm. 23), S. 334f. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 25. Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Ebd., S. 65f. Ebd., S. 35. Ebd., S. 43. Ebd., S. 65. Ebd., S. 59. Hervorhebung im Original.

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»dass die Einheit einer Kultur nicht in der Universalität ihrer Werte beruht, sondern in der reflexiven Distanz und im reflexiven Umgang mit den Werten einer Kultur.«65 Nach dem historischen Bankrott uniform-universalistischer Identitätsentwürfe liegt heute die Chance kultureller Identitätsstiftung in der Anerkennung von und im konstruktiven Umgang mit Dissens und Verschiedenheit. Genau darin, in der kulturell eingeübten und institutionell verankerten »Kommunikation von Widersprüchlichkeit« nun hat,66 um zur Schweiz zurückzukehren, die »vielfältig geteilte Schweiz« als »patchwork«, als »bricolage« vielfältige, über Jahrhunderte eingeübte kulturstiftende Erfahrungen, die sie in einer europäischen Föderation beizutragen hätte.67 Bereits 1997 bemerkte Muschg »Die Schweiz ist ein Land, das von der Arbeit an seiner inneren Differenz lebt, und mehr als andere lebt es von seinen Differenzen.«68 Eine ähnliche Arbeit an seiner inneren Differenz ist auch Voraussetzung für ein europäisches Projekt, das gelingen könnte, »wenn der Zweifel an Europa gerade die moralische Triebkraft sein könnte, die es, kraft seiner gespaltenen Seele, zur Einheit der Welt beizutragen hat – keiner Einheit der Gerechten und Selbstgerechten [...], sondern der Einigkeit des Verschiedenen, auf kleinem Raum sogar Grundverschiedenen?«.69 Spricht Muschg hier über Europa oder über die Schweiz? Oder spielt das überhaupt noch eine Rolle? In jedem Fall spricht sich hier eine Vision aus, eine Utopie, und damit eine Fiktion. Das scheint mir der tiefere Grund, warum Adolf Muschg in diesem Kontext immer wieder und auch in seinen Europa-Reden auf Gottfried Kellers Lob der »Mannigfaltigkeit in der Einheit« im Fähnlein der Sieben Aufrechten zu sprechen kommt.70 Kellers erzählte Schweiz ist nicht eingelöste Realität, sondern Vision, bleibt Auftrag und Verpflichtung, und dies eben nicht nur für die Schweiz, sondern auch für das Europa, in dessen Mitte die Schweiz gehört. Kellers Lob »der kulturellen Mehrsprachigkeit, der föderalistischen Vielfalt, und damit auch der Mehrdeutigkeit des eigenen – und jeden – politischen Glaubensbekenntnisses« ist auch und gerade ein Stück erzähltes Europa.71 Mythos Schweiz ist Mythos Europa, aber freilich kein rückwärtsgewandt-defensiver, sondern ein zukunftsoffenes Projekt, eine Vision voller Zuversicht, die das Ästhetische als Haltung braucht und zu Hilfe nimmt. Muschg spricht in diesem Zusammenhang von der Kraft, im politischen Handeln dieses »symbolisch zu verstehen, nicht als Mittel zu einem Zweck, sondern als ein Zweck und Ziel für sich selbst«. Wenn er hinzufügt: »Das ist nur dem anspruchsvollsten Bewußtsein möglich – oder dem selbstvergessenen. Demjenigen, das in seinem Geschäft so aufgehen kann wie ein Kind in seinem –––––––— 65 66 67 68 69 70 71

Klaus Eder: Integration durch Kultur? Das Paradox einer Suche nach europäischer Identität. In: Viehoff, Segers (Hg.): Kultur. Identität. Europa (Anm. 8), S. 147–179, hier S. 158. Ebd. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 122. Muschg: O mein Heimatland (Anm. 23), S. 164. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 46. Keller: Das Fähnlein der sieben Aufrechten (Anm. 31), S. 378. Vgl. auch: Muschg: Eigensinn und Europa (Anm. 52), S. 189f.; Muchg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 106–123. Muschg: Was ist europäisch? (Anm. 10), S. 108.

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Spiel«72 – so zitiert dies Friedrich Schillers Spielbegriff aus dessen Briefen zur Ästhetischen Erziehung der Menschheit: »Der Mensch [...] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.73 Mit Friedrich Schiller und seiner Erweiterung des Ästhetischen zur kulturanthropologischen Kategorie mit Ausstrahlung ins PolitischGesellschaftliche bildet das Ideal des ästhetischen Staates, eines von der Reflexions-, Gestaltungs- und Strahlkraft des Ästhetischen mitgeprägten Gemeinwesens, den äußersten Horizont von Adolf Muschgs Europa-Utopie.

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Ebd., S. 111. Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: F.S.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München: Hanser 1993, S. 570–669, hier S. 618. Zur politischen Dimension von Schillers Idee des ästhetischen Staats vgl. jüngst Jeanne Riou: Schiller’s Aesthetic Education as Intervention. In: Germanistik in Ireland. Jahrbuch der / Yearbook of the Association of Third-Level Teachers of German in Ireland. Special Issue: Schiller – On the Threshold of Modernity 1 (2006), S. 41–51. Allgemeiner: Lesley Sharpe: Schiller’s Aesthetic Essays: Two Centuries of Criticism. Columbia: Camden House 1995, bes. S. 94–101.

Charlotte Schallié

Par distance und aus der Enkelperspektive Thomas Hürlimanns entstellte Schweiz Man muss das Problem sozusagen per [sic] distance betrachten und aus der Enkelperspektive. Thomas Hürlimann (1981)1 Die Schweiz war damals von den Achsenmächten eingekreist. Sie musste Konzessionen machen, konnte nicht nur heldisch sein. Aber nach dem Krieg hätten wir zu unseren Fehlern stehen müssen. Fehler einzugestehen ist keine Schande. Statt dessen hat man verdrängt, ja sogar Spuren verwischt. Und heute gibt man nur zu, was bewiesen wird. Aber Geschichte ist unerbittlich. Sie holt uns immer wieder ein. Adolf A. Häsler (1996)2

»Ein Land kommt endlich dort an, wo seine Literatur seinen Standort immer schon einzeichnete«, schrieb Frank Schirrmacher im Mai 1997 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als die Schweiz aus dem Ausland mit massiven Anschuldigungen zu ihrer Haltung im Zweiten Weltkrieg konfrontiert wurde.3 Einer dieser Autoren, der seine Heimat kritisch sichtet und gegen die mythenreiche Nationalgeschichte und die offizielle Geschichtspolitik der Schweiz anschreibt, ist Thomas Hürlimann.4 Anhand ausgewählter Textpassagen aus seinem Theatererstling Großvater und Halbbruder (1981) soll sichtbar werden, wie Hürlimann die –––––––— 1

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Thomas Hürlimann: Großvater und Halbbruder. In: T.H.: Das Lied der Heimat. Alle Stücke. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1998, S. 5–63, hier S. 50. Dieser Aufsatz ist Teil eines größeren Projekts: Heimdurchsungen. Deutschschweizer Literatur, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur seit 1965. Zürich: Chronos 2008. Zitiert in Stefan Reinhart: Alfred A. Häsler schrieb seine Biographie. In: Schweizer Illustrierte, 28.10.1996, S. 16. Frank Schirrmacher: Die Farbe des Goldes. Adolf Muschgs Appell an sein stürzendes Land. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.5.1997, S. 39. In den deutschen Vergangenheitsdiskursen werden die Begriffe ›Gedächtnispolitik‹ und ›Geschichtspolitik‹ oftmals als Synonyme gebraucht, wenn zur Untersuchung steht, wie Erinnerungen von Interessengruppen kollektiviert und dadurch für tagespolitische, bzw. gruppenspezifische Zwecke verwertet werden. Es handelt sich in beiden Fällen um den Versuch, das nordamerikanische- und angelsächsische Konzept der Politics of Memory auf Deutschland zu übertragen. Ich verwende den Begriff ›Geschichtspolitik‹ in Anlehnung an Edgar Wolfrum, der darunter den Vorgang der »öffentlichen Konstruktionen von Geschichts- und Identitätsbildern, die sich über Rituale und Diskurse vollziehen« versteht. Vgl. dazu Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999.

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im Schweizer Kollektivgedächtnis vorhandenen Legenden zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in der grotesken Überzeichnung der Parodie und der Persiflage humoristisch aushöhlt. Im zweiten Teil dieses Beitrags richtet sich das Augenmerk dann auf die Vergangenheitsdebatten, die dieses Theaterstück ausgelöst hat. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage aufgeworfen werden, ob und inwieweit Großvater und Halbbruder die kanonische Erinnerungskultur in der Schweiz beeinflusst und das öffentliche Geschichtsverständnis sensibilisiert hat,5 schliesslich wurde Hürlimanns Stück lange vor der eigentlichen ›Konfrontation‹ aufgeführt. Spätestens seit Der grosse Kater (1998) ist die nicht immer klar abzugrenzende Vermischung von Faktizität und Fiktion in Hürlimanns Texten – nach Michael Böhler eine »›Hybridisierung‹ von Literatur und Geschichtsdarstellung bzw. -rekonstruktion in unterschiedlichen Mischtechniken dokumentarischer Unterlegung und fiktionaler Gestaltung«6 – ein Dauerthema im deutschsprachigen Feuilleton.7 Den dramatischen Auftakt für dieses literarische Verfahren, das familiäre Nabelschau und Heimatbefinden in den Texten von Thomas Hürlimann ineinander verwoben sieht, bildet Großvater und Halbbruder. Das Theaterstück thematisiert die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg, indem es den mehr oder weniger latent vorhandenen Antisemitismus in der damaligen Schweizer Gesellschaft in der geradezu klassischen schweizerischen Literaturform – der Dorfgeschichte – grotesk verzerrt.8 Doch findet die Konfrontation mit der jüngsten Geschichte des Zweiten Weltkrieges im Text auf zwei Ebenen statt. Großvater und Halbbruder verdeutlicht nicht nur, welche Aspekte der Geschichte verdrängt wurden, sondern macht auch die damit verbundene kollektive Verdrängungsleistung – das heisst, den Prozess des Vergessens oder Verschweigens – erkennbar. Besonders auffallend ist diesbezüglich die Verwendung des karnevalesken Prinzips: Es zeigt sich in der Abkehr vom Realismus zugunsten des Rollenspiels und des Rollentausches. Und obwohl sie eher unfreiwilliger Natur waren, trugen selbst die –––––––— 5

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Eine kanonische Erinnerungskultur ist vor allem darum bemüht, Alteingesessenes zu bewahren und dieses in kollektiven Ritualen zu verfestigen. Vgl. dazu Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 1992, S.18. Michael Böhler: »Auch hierzulande reden wir vom Heute, als stünde kein Gestern dahinter«. Literarischer Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz. In: Jakob Tanner, Sigrid Weigel (Hg.): Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges. Zürich: Vdf Hochschulverlag 2002, S. 145–178, hier S. 168. So wird u.a. beanstandet, dass Hürlimann seine »Familiengeschichte plagiiere«. Vgl. dazu Evelyn Finger: Im Gefängnis Familie. In: Die Zeit, 30.11.2006, S. 69. Hier zeigen sich Parallelen und Gemeinsamkeiten mit der neueren deutschen Gedächtniskunst, die das Erinnerungsprojekt in den 80er Jahren als suspekt bezeichnete und sich in einer Protesthaltung der Gegenerinnerung verschrieb. Indem diese Künstler den Prozess der Erinnerung und der Geschichtstradierung problematisierten und konventionelle Darstellungsformen in Frage stellten, erhofften sie sich eine Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen der geschichtlichen Bewältigung.

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Ereignisse im Vorfeld der Theaterproduktion und im Anschluss an die Aufführungen karnevaleske Züge.9 Denn skandalös für das Publikum war nicht nur, dass Hürlimann die Problematik der unterlassenen Schweizer Hilfsbereitschaft im Zweiten Weltkrieg als Groteske darstellte, sondern dass er seinen Vater – den damals amtierenden Bundesrat und Vorsteher des Departement des Innern – in der Figur MEIN VATER HANS HÜRLIMANN ins Personenverzeichnis und auf die Bühne stellte. Großvater und Halbbruder steht somit auch für die Rebellion der Nachkriegsgeborenen gegen die Vätergeneration und für den Versuch einer Aufarbeitung der transgenerationell weitergegebenen Schuld. Ort der Handlung ist eine Badeanstalt im Kanton St. Gallen oberhalb des Bodensees nahe der deutschen Grenze. Die erste Szene findet am Vorabend des Zweiten Weltkrieges statt. Der Hauptteil der erzählten Zeit spielt während der Kriegszeit, lediglich die letzte kurze Szene ist in der Nachkriegszeit angesiedelt. Die Badegäste stehen auf den Umkleidekabinen und beobachten, ausgerüstet mit Feldstechern, was sich in Deutschland alles tut. Man ist bestens informiert. Der Eigentümer der Badeanstalt ist der Grossvater, wobei ihn der Autor erzählstrategisch als MEIN[EN] GROSSVATER OTT bezeichnet: Damit stellt der Autor Hürlimann eine scheinbar authentische biografische Nähe der Figur zum Stückeschreiber-Ich ›Hürlimann‹ her und schafft dramaturgisch eine Mischform von Typenfigur – ›Grossvater‹ – und realhistorischer Person – »mein Grossvater Ott« [Hervorheb., Ch. Sch.]: er ist sozusagen das literarische Porträt von Thomas Hürlimanns Grossvater mütterlicherseits. Das Stück enthält zahlreiche weitere verschlüsselte Indiskretionen und private Anspielungen. Im Text selbst sind Hürlimanns literarisierte Eltern als MEINE MUTTER und MEIN VATER aufgeführt. Diese Fiktionalisierung zeitgenössischer und familiärer Figuren aus dem persönlichen Umfeld des Autors entbehrt nicht der politischen Brisanz, war doch sein Vater, Hans Hürlimann, zum Zeitpunkt der Uraufführung von Großvater und Halbbruder schweizerischer Bundesrat und Vorsteher des Departements des Innern, womit noch eine weitere Dimension in die Figurenkonstruktion einfliesst, jene einer politisch öffentlichen Repräsentanzfigur. Thomas Hürlimann porträtiert die Bühnenfigur HANS HÜRLIMANN als einen Zeitgenossen, der die wahren Verhältnisse nicht wahrhaben will und den Neutralitätsgedanken blindlings verteidigt: »Wir Schweizer sind doch neutral. Durch uns fährt er [der Güterzug aus dem deutschen Reich, Ch. Sch.] nur durch, durch unser Land«.10 Der Vater weiss sehr wohl, dass es sich dabei um einen »Rüstungstransport für den Duce« handelt,11 doch weil der Zug auf dem Schweizer Schienennetz nicht anhält, ist seiner Meinung nach auch die eidgenössische Neutralität nicht gefährdet. Die antisemitische Gesinnung verschiedenster Figuren ist nur ansatzweise verschleiert. So macht der Lehrer Birri aus seiner Hitlerverehrung –––––––— 9 10 11

Vgl. dazu: Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1990. Hürlimann: Großvater und Halbbruder (Anm. 1), S. 39. Ebd., S. 42.

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keinen Hehl, wobei seine politische Haltung als repräsentativ für die politisch aufgeklärte Mittelschicht verstanden werden kann: Habe den Herren da gerade vom Hitler berichtet. Also, wenn er seine Reden hält, der Hitler, das ist ja schon etwas! Damals in Nürnberg war das direkt ein Ereignis. Da sind den schwangeren Weibern dort die Kinder aus dem Bauch gekrochen, die Hand voran, so – Hitlergruss.12

DIE SCHNAUZTANTE hingegen ist eine engagierte Kriegsgegnerin, jedoch

nicht aus Überzeugung, sondern alleinig deshalb, weil Hitlers Expansionspläne ihre Badesaison ruinieren. Sie beklagt, dass es jetzt unmittelbar vor Kriegsausbruch, »wo wir das schönste Badewetter hätten«, mit der »Saison am End« sein wird.13 Die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung, als dem Grossvater eines Tages ein ärmlich gekleideter Flüchtling zuläuft, der unverkennbar ein jüdischer Flüchtling ist, sich jedoch als Hitlers Halbbruder Alois ausweist. Selbst für seine seltsame Verkleidung hat Alois eine, wenn auch nicht sehr plausible, Erklärung: Warum diese pazifistische Verkleidung? Warum schlüpft er als Bogennase über die Grenze, als hätte der eiserne Hitlerbesen ihn hinweggeputzt? [...] Der Halbbruder hat’s befohlen. ›Verkleide dich‹, hat er zu mir gesagt, ›zieh herum mit deinem Fluchtgepäck! Der erste, Alois, der hinter deiner semitischen Maske den Halbbruder erkennt, den machst du zum Alpenkönig!‹ Du hast mich erkannt. Ich mach dich zum Alpenkönig!14

Grossvater Ott will anfänglich nichts mit dem unheimlichen Fremden zu tun haben, doch Alois lässt sich nicht so leicht abschütteln und versucht, den Grossvater einzuschüchtern. Richtig makaber wird es jedoch erst, als Alois dem Grossvater damit droht, ihn »einzustampfen«, um ihn danach eigenhändig zu verschlingen: »Du willst mich verraten. Ich verrate dich. In jeder Zeitung steht’s, dass er kommt, und er kommt, er hat es versprochen. Du, ich stampf dich ein! Ich streich mir den gestampften Grossvater aufs Brot und habe ihn gefressen. – Ich habe doch Hunger, Herr...«15 Der Hinweis auf den gestampften Grossvater ist eine parodistische Anspielung auf die Fleischkonserven in der Schweizer Armee, die unter den Soldaten als ›Iigstampfte Jud‹ (eingestampfter Jude) bekannt waren. Grossvater Ott durchschaut natürlich Alois’ Maskerade und versucht, ihn fortzujagen. Um seine wahre Identität zu verbergen, trägt der Flüchtling eine antisemitische Gesinnung zur Schau: »Ich mag den Jud nicht riechen. Wer zuletzt lacht. Wir sehen noch«.16 Alois bietet Ott an, ihn zum Alpenkönig zu krönen. Als Letzterer unbeeindruckt bleibt, will der Fremde ihn gar zum Ortsgruppenleiter ernennen. Doch der Grossvater traut der Identität des Vagabunden nicht und befürchtet zu Recht, dass es ein Jude sein könnte, nennt ihn jedoch spasseshalber ›Hitler‹. Im schönsten Oxymoron ruft er ihm nach »Bist ein Saujud, Hitler!« –––––––— 12 13 14 15 16

Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 21.

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und will ihn sogleich loswerden.17 Diese Szene, die bestenfalls ein ambivalentes Lachen bewirkt, trägt deutlich karnevalistische Züge. Solche Züge sind insgesamt charakteristisch für das Stück, und dementsprechend liefert das Stichwort des Karnevalistischen einen Schlüsselbegriff zur Erschliessung von Großvater und Halbbruder im Kontext der literarischen Erinnerungskultur. Den »Vorgang der Übertragung des Karnevals in die Sprache der Literatur« nennt Michail Bachtin »die Karnevalisierung der Literatur«.18 Hitler wird in Hürlimanns Bühnenstück als Obrigkeit travestiert – und zwar, um die Wirkung der Groteske zu steigern, von einem Juden. Letzterer ist als »Saujud Hitler« die klassische Verkörperung von Michail Bachtins Karnevalskönig, der früher oder später zu Fall gebracht wird: Die hervorstechendste karnevalistische Handlung ist die Wahl und der anschließende Sturz des Karnevalskönigs. [...] Die Erhöhung enthält bereits die Idee der kommenden Erniedrigung; sie ist von Anfang an ambivalent. Gekrönt wird der Antipode des wirklichen Königs: der Sklave oder der Narr.19

Somit zeichnet es sich bereits ab, dass Alois, Hitlers vermeintlicher Halbbruder, in diesem karnevalesken Ritual am Ende vernichtet werden muss. Dass der Fremdling den Grossvater wiederum zum Alpenkönig krönen will, zeigt, wie symbiotisch diese beiden Figuren miteinander verflochten sind und einander gegenseitig parodieren. Laut Bachtin sind »Gestaltenpaare, die nach dem Kontrastprinzip (hoch und niedrig, dick und dünn) oder nach dem Prinzip der Identität (Doppelgänger, Zwillinge) ausgewählt werden« typisch »für das karnevalistische Denken«.20 Hier kann eine direkte Verbindungslinie zu Freud gezogen werden. Nach Freud ist das Doppelgängerprinzip ein wichtiger Aspekt des Unheimlichen, denn es steht für die verdrängten Anteile der Psyche und »die unterdrückten Willensentscheidungen«,21 die das Ich in der Folge heimsuchen.22 Der liminale Schauplatz – nahe der schweizerisch-deutschen Grenze, doch in einem Niemandsland der Gesinnungen – macht das Verwirrspiel erst möglich. Für Michael Böhler bewegen sich der Grossvater und Alois »in halbirren Wahnwelten«, in denen »alle festen Zuschreibungen und stabilen Identitäten verwischt und die Unterscheidungsmöglichkeiten von Flucht und Ausbruch, Täter oder Opfer im Zwischenland der Grenzlinie in der Schwebe gehalten werden«.23 Doch der Grossvater traut der hereinbrechenden Karnevaleske nicht und beglaubigt die Scheinrealität nur widerwillig. Er verweigert dem Fremden die Zuflucht und –––––––— 17 18 19 20 21 22

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Ebd., S. 22. Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 9), S. 47. Ebd., S. 50f. Ebd., S. 53. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: S.F.: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. Frankfurt/M.: Fischer 1963, S. 45–84, hier S. 64. »Der Charakter des Unheimlichen kann doch nur daher rühren, dass der Doppelgänger eine den überwundenen seelischen Urzeiten angehörige Bildung ist, die damals allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden (Heine, Die Götter im Exil)«. In: Ebd., S. 64f. Böhler: Auch hierzulande reden wir vom Heute (Anm. 6), S. 170.

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schickt ihn auf den gefrorenen Bodensee zurück. Denn schliesslich wisse doch jeder, dass die Juden nirgendwo Fuss fassen würden: »Seifig sind’s, die Hebräer, pomadig und schleimig wie Fisch. Die sind nicht zu greifen, nicht heimisch, die treiben herum, wie soll ich ihn greifen? Das ist das Jüdische am Jud — «.24 Im Lauf der Handlung scheint der Grossvater jedoch mehr und mehr an Alois’ Maskerade zu glauben, es könnte ja durchaus sein, redet er sich ein, dass es sich bei diesem seltsamen Mann mit der langen krummen Nase um Hitlers Halbbruder handelt. Schliesslich gewährt er Alois in der Badeanstalt Unterschlupf, was dazu führt, dass ihn das Dorf wie einen Abtrünnigen meidet und hasserfüllt beschimpft. Denn die Juden sind in den Kriegsjahren in St. Gallen nicht gern gesehen: »Der Coiffeur Rosenbaum hat sein Geschäft verkauft, und was ein Hebräer ist, retiriert mit Sack und Pack in die Innerschweiz«.25 Um sein Vorgehen zu rechtfertigen, erklärt der Grossvater vor der versammelten Dorfgemeinde, dass es sich beim Juden um Hitlers Halbbruder handelt. Die Gemeinde zweifelt an seinem Geisteszustand. Gleichzeitig entwickelt sich Alois zum eigentlichen Über-Nazi, wird herrschsüchtig und versucht, den Grossvater mit antisemitischen Parolen in seinen Bann zu ziehen. Die angebliche Leichtgläubigkeit des Grossvaters ist jedoch nicht mehr als Eigennutz und taktisches Kalkül, denn er verspricht sich für seine Hilfe vom Führer eine finanzielle Entschädigung. Doch zuerst müsste dafür die Schweiz eingenommen werden: »Ich hoff halt, dass der Hitler bald Zeit hat für die Schweiz. Dann könnte dem Heimlichtun ein End gemacht werden«.26 Als Hitlers Endsieg zeitweilig in den Bereich des Möglichen rückt, sind die Rollen im Dorf auf einmal vertauscht. Alois ist als Hitlers potenzieller Halbbruder in der Dorfkneipe vorübergehend ein gern gesehener Gast, während sich der ausgegrenzte Grossvater in die Wälder zurückzieht. MEIN GROSSVATER: Ich friere in den Wäldern. Das habe ich jetzt von allem. ALOIS: Komm ins Dorf, Ott. Der Alois ist ein lieber Mensch. Er hilft beim Kartoffelschälen, und der Kaplansköchin trägt er die Tasche. So einer, sagen sie, ist kein Jud, Herrschaftabeinander!27

Wenn Alois auf sich selber verweist, spricht er fast ausnahmslos in der dritten Person, was den Verdacht erhärtet, dass er seine Geschichte bewusst inszeniert. Die Beziehung zwischen dem Grossvater und dem Flüchtling findet in der folgenden Szene ihren Höhepunkt. Der senile alte Mann hat sich mittlerweile endgültig eingeredet, dass Alois mit Hitler verwandt sei, und er fordert ihn dazu auf, mit ihm auf die Judenjagd zu gehen. Alois entgegnet: Dummkopf. Mit dem Hitler geht’s bergab. Bergab, Ott! Er kapiert’s nicht. Er will’s nicht kapieren. Jetzt, gerade jetzt, soll ich armer Hebräer, ich Jud, ich gehetzter, meine semitische Fratze als hitlerische Maske zu Markte tragen?! Ich kenne dich, du. Mit deiner Verstocktheit willst du mich zum Peinbold machen, zum Hitlerbruder! Wer bin ich?

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Hürlimann: Großvater und Halbbruder (Anm. 1), S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 34. Ebd., S. 47.

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MEIN GROSSVATER: Hitler. ALOIS dreht stärker. MEIN GROSSVATER schreit stumm. ALOIS: Der Jud bin ich, der Jud! An dir, Ott, hab ich’s bewiesen. MEIN GROSSVATER schreit.28

Sichtbar wird hier der wiederholte Rollenwechsel, welcher die herkömmlichen Stereotype gleichzeitig bestätigt und demontiert. Alois’ karnevaleskes Rollenspiel erlaubt es ihm, sich selbst immer wieder von Neuem in Szene zu setzen und die Welt des Grossvaters auf den Kopf zu stellen. Alois trickst den Grossvater virtuos aus, spielt er ihm doch genau das vor, woran der alte Mann glauben will und rettet damit gleichzeitig – solange die Karnevaleske anhält – seine eigene Haut. Nach Bachtin hebt die komödiantische Inszenierung in der karnevalesken Literatur die Realität auf und erlaubt es, dominante Diskurse zu untergraben und in ihrer ganzen Scheinheiligkeit zu entlarven: Der Karneval ist umgestülpte Welt. Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt. [...] Alles, was durch die hierarchische Weltanschauung außerhalb des Karnevals verschlossen, getrennt, voneinander entfernt war, geht karnevalistische Kontakte und Kombinationen ein. Der Karneval vereinigt, vermengt und vermählt das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Grosse mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.29

Indem er seine beiden Hauptfiguren zu karnevalesken Kunstfiguren macht, wirkt die Namensgebung MEIN GROSSVATER eher befremdend und parodistisch, als dass sie als authentisches Porträt gelesen werden kann. Hürlimann geht es freilich nicht nur darum, im karnevalistischen Medium Wahrheiten auszusprechen, die ansonsten kaum darstellbar sind, oder die in der bürgerlichen Gesellschaft auf starken Widerstand stossen würden – soweit würde er sich lediglich in der konventionellen Karnevalstradition bewegen. Mit dem Einbezug der persönlich-familiären Sphäre des Stückeschreibers selbst wird vielmehr auch die literarische Autorposition in den Strudel des Karnevalesken des Stücks mit hineingerissen und die ohnehin prekäre Grenzziehung von literarischer Fiktionalität und historischer Realität radikal unterlaufen: Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. [...] Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals ausser Kraft gesetzt. Das betrifft vor allem die hierarchische Ordnung. [...] Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben. An ihre Stelle tritt eine besondere Karnevals-Kategorie: der freie, intimfamiliäre, zwischenmenschliche Kontakt. [...] Diese Kategorie bestimmt auch den eigentümlichen Charakter der Massenhandlungen, der karnevalistischen Gestikulation, des unverblümten karnevalistischen Wortes.30

Das Auflösen jeglicher Ordnung, die Vermengung des »Hohe[n] mit dem Niedrigen« wird auf sprachlicher Ebene in den vielen Interferenzen des Hoch–––––––— 28 29 30

Ebd., S. 53. Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 9), S. 48f. Ebd., S. 49.

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deutschen mit dem Schweizer Mundart-Dialekt deutlich: »Hat halt zu lange im Fruchtwasser geschwommen, der Tötschlivetter. Da ist er im Fruchtwasser verkrottet.«31 / »Wenn ich in den ›Leuen‹ komme, wird es auf einmal still an allen Tischen, und wenn einer grosstun will vor allen, dann schnörrzt er mich an.«32 / »Wo wohl der Hitler jetzt ist? Später glumst er dann von selber ab...«33 Der karnevalesken Tradition entsprechend ist die Sprache »exzentrisch und deplaziert vom Standpunkt der Logik des gewöhnlichen Lebens«.34 Zeitweilig wirkt diese Sprache so unnahbar, dass sie, wie Marianne Zelger-Vogt in der Neuen Zürcher Zeitung schreibt, »zur Kunstsprache wird, die fremd und vertraut zugleich klingt«.35 Auch hier zeigt sich wieder die dichotome Spannung, die dem Freud’schen Konzept des Unheimlichen innewohnt. Hürlimann benutzt die deutsche Sprache – die Sprache der Täter, die Sprache der Mitschuld – und parodiert sie, macht sie somit als Erklärungsmodell suspekt. Dass die umgestülpte Ordnung in Großvater und Halbbruder ein Ende nehmen muss und die Dorfbevölkerung in absehbarer Zeit ein Machtwort sprechen wird, entgeht selbst Alois nicht. Eines Tages verschwindet er spurlos, denn die Ausgrenzung des Grossvaters gewährt ihm nur noch begrenzten Schutz. Die Weltkriegsperiode im Stück endet damit, dass die Dorfbevölkerung erneut auf die Dächer der Umkleidekabinen steigt, und die Leute interessiert und mit der Begeisterung von Sportfans mitverfolgen, wie Friedrichshafen im April 1944 in Flammen aufgeht. In der Buchfassung blicken die Schauspieler hinunter in den Zuschauerraum. In der Uraufführung verschob der Regisseur Werner Düggelin die Perspektive um 180 Grad: die Feldstecher waren nicht länger auf das Publikum, sondern von ihm weg gerichtet. Die Zuschauer auf ihren Logenplätzen wurden somit selbst zu passiven, unbeteiligten Zeitzeugen eines historischen Ereignisses. Beklemmend an diesem Stück ist der von Hürlimann unerbittlich hergestellte ›Theatralitätseffekt‹, der Tatbestand also, dass sich die Schweizer Dorfbevölkerung so verhält, als wäre der Zweite Weltkrieg nur Theater und würde sie im Übrigen nichts angehen. Das Bombenspektakel wird zwar interessiert beobachtet und kommentiert, doch geschieht dies stets aus einer sicheren Logen-Entfernung. Indem der reale Zuschauer in diese auf der Bühne vorgespielte Zuschauerhaltung gegenüber dem Schrecklichen reflexiv miteinbezogen ist, entsteht rezeptionsästhetisch zugleich eine mise en abîme eines vertige ins Unheimliche. Unheimlich ist diesbezüglich insbesondere nach Freud »das HeimlicheHeimische«,36 weil das, was uns am Vertrautesten scheint, ein reichhaltiger Nährboden für abgewehrte Erinnerungen ist: »[...] denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist«.37 –––––––— 31 32 33 34 35 36 37

Hürlimann: Großvater und Halbbruder (Anm. 1), S. 17. Ebd., S. 34. Ebd., S. 58. Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 9), S. 49. Marianne Zelger-Vogt: Aus der Enkelperspektive. In: NZZ, 17./18.10.1981, S. 39. Freud: Das Unheimliche (Anm. 21), S. 75. Ebd., S. 10. Vgl. dazu auch: »Steckt im Unheimlichen immer etwas heimlich Bekanntes – so

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Der Umgang mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ist für Hürlimann eine klassische Schauergeschichte. Wenn das eigene Spiegelbild zur Leerstelle wird, muss unweigerlich auch die Gegenwart entstellt und gespenstisch werden. Die Weigerung, Verdrängtes anzunehmen, zieht dabei persönliche und gesellschaftliche Konsequenzen nach sich. Denn die Begegnung mit dem Unheimlichen, die zu einer Heimatbefremdung und -entfremdung führt, steht in direktem Zusammenhang damit, dass die Gegenwart von einer monströsen im offiziellen kollektiven Gedächtnis verdrängten Vergangenheit heimgesucht wird. Der Einbruch des Unheimlichen verzerrt das vertraute Heimatbild zu einer grotesken Fratze. In seiner Dankesrede zum Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1997) schreibt Hürlimann: Wir haben in einer Legende Platz genommen, und lange Zeit saßen wir bequem. Was hätte unseren Ruhm, unsere Ruhe stören können? Vor den Banken gab es keine Rampen, in den Tresorräumen keine Gasduschen, alles war sauber, war anständig, war »heimelig«. »Heimelig« ist ein schweizerdeutsches Wort, und hat, zumindest in meinem Dialekt, kein Pendant. Sagen wir »heimelig«, meinen wir das Heimatlich-Vertraute, während das Wort »unheimlich« in die Spukwelt gehört und mit dem Heimatlichen nichts zu tun hat. [...]. Wir haben unsere Geschichte weggelogen, also uns selbst. Wir haben uns mit einer Legende verwechselt, und im Moment, da die Legende platzte, waren wir nicht mehr vorhanden. Spukgestalten. Niemande im Niemandsland. Abstracta. Abgezogen von der Realität.38

Das »heimelige« Gefühl, das Hürlimann unterläuft, indem er seine Dorfgeschichte »vom närrischen Topos bis zur apokalyptischen Vision« führt und damit mit Grauen durchsetzt,39 hat rechtlich-politisch einen Namen: Neutralität. Großvater und Halbbruder unterstreicht, dass der Neutralitätsbegriff das politisch korrekte Wort für das Abseitsstehen war. Das Stück macht deutlich, dass die Schweiz für ihre Haltung einen hohen Preis bezahlte. Die Protagonisten stehen bei Hürlimann auf Beobachterposten mit klarsten Sichtverhältnissen. Sie schauen zu, warten ab und handeln doch nicht. Sie dispensieren sich im Namen des Mythos Neutralität aus der Geschichte. Am Ende stellt sich in Großvater und Halbbruder die beklemmende Frage, die erst fünfzehn Jahre später in der Schweizer Presse tiefschürfender und konfrontativer diskutiert wird: War das Abseitsstehen ein anderes Wort für unterlassene Hilfestellung, Beihilfe oder gar Mord? –––––––—

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die These Freuds – bietet diese Erkenntnis nicht nur die besänftigende Sicherheit, befremdende Erfahrungen könnten als altbekannte entlarvt werden. Sie erlaubt auch eine weniger beruhigende Folgerung, dass nämlich einer jeden Vorstellung von Beheimatung von Anfang an ein zersetzender Kern innewohnt«. In: Elisabeth Bronfen: Das Unheimliche von Freud und Jonathan Demmes Sklavendrama Beloved nach einem Roman von Toni Morrison. In: Basler Zeitung, 24.6.1999, S. 45. Thomas Hürlimann: Dankrede zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-AdenauerStiftung an Thomas Hürlimann, Weimar, 3.6.1997. Dokumentation. Hg. von Günther Rüther, S. 24f. In: http://www.kas.de/wf/doc/kas_7813-544-1-30.pdf (Zugriff am 20.1.2008). Rolf Haaser, Günter Oesterle: S.v. »Grotesk«. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A–G. Berlin, New York: De Gruyter, 1997, S. 745–748, hier S. 746.

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Als Thomas Hürlimann 1981 als Dramatiker seinen Einstand gab, hatte er einen einzigen, wenn auch euphorisch besprochenen Erzählband (Die Tessinerin) vorzuweisen.40 Die Erwartungen und Ansprüche, die an den jungen Autoren mit Wohnsitz in Westberlin gestellt wurden, waren erheblich. Denn seine Erbschaft war gross, lebte er doch im Schatten seines Vaters. Insbesondere in der Boulevardzeitung Blick war Thomas Hürlimanns eigenständige Identität als Schriftsteller und Dramatiker ungesichert. Sein Name wurde fast ausnahmslos mit dem Zusatz »Bundesrat Hürlimanns dichtender Sohn« versehen,41 und selbst als sein Vater nicht mehr im Amt war, war der Vermerk »Altbundesrat-Sohn« in der Boulevardzeitung Blick ein ständiger Begleiter.42 Hürlimanns Eltern, die nach eigenen Angaben »voll und ganz« zu Hürlimanns Stück standen,43 waren bei der Uraufführung von Großvater und Halbbruder im Schauspielhaus Zürich im Oktober 1981 anwesend, wenn sie auch, wie sie gegenüber der Presse verlauten liessen »nicht mit allem einverstanden sind, was der Sohn schreibt und treibt«.44 Der Grossvater konnte zum Theaterstück keine Stellung mehr beziehen. Er verstarb bereits 1957; seine beiden Söhne brachen nach der Aufführung den Kontakt zum Autor und zu dessen Eltern ab. Für eine rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Untersuchung des Theaterstücks ist der Blick von besonderem Interesse, weil sich besonders in dieser Tageszeitung die Familiaritätsproblematik in Großvater und Halbbruder – die enge Vernetzung von Familie und Staat, Öffentlichkeit und Privatsphäre – und ihre Bedeutung für die Schweizer Erinnerungskultur anschaulich nachvollziehen lässt. Aufschlussreich ist dabei, wie die karnevalesken Grundmuster in Großvater und Halbbruder, die Vermengung des »Geheiligten mit dem Profanen« und des »Hohen mit dem Niedrigen«, von der Bühne losgelöst im Umfeld der Erstaufführung – dem »Schauspiel ohne Rampe« – ihre Fortsetzung fanden. Geradezu ironisch mutet an, dass Thomas Hürlimanns Versuch, seinen Vater als öffentliche Person in einem poetologisch-dramaturgischen Kunstgriff zu einer Kunstfigur zu verdichten, im Blick dazu führte, dass sich die Grenzziehung zwischen familiärer und offizieller Optik auflöste. In der Folge wussten die Blick-Reporter nicht mehr zu unterscheiden, wer denn nun gemeint war. So wurde die Bühnenfigur HANS HÜRLIMANN nicht als literarische Abstraktion gelesen, sondern wurde mit dem Politiker Hürlimann verwechselt: »Bundesrat Hans Hürlimann (63) konnte sich selbst auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses bewundern: Dargestellt als junger Leutnant vom Schauspieler Georg Holzer in einem Theaterstück, das sein Sohn geschrieben hat.«45 –––––––— 40 41 42 43 44 45

Thomas Hürlimann: Die Tessinerin. Zürich: Ammann Verlag 1981. Georg Ubenauf: Bundesrat Hürlimanns dichtender Sohn feiert Weltpremiere in der Schweiz! In: Blick, 10.10.1981, S. 20. Zensur für Schriftsteller Thomas Hürlimann, den Sohn des Altbundesrates. In: Blick, 23.07.1984, S. 2. Thomas Hürlimann: E-Mail an die Autorin, 16.6.2005. Ubenauf: Bundesrat Hürlimanns dichtender Sohn (Anm. 41), S. 20. Georg Ubenauf: Nach der Theater-Premiere: Ein Kuss – und ein Lob von Papa für BundesratsSohn Hürlimann. In: Blick, 17.10.1981, S. 2.

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Der Stückeschreiber Thomas Hürlimann bekleidete aufgrund seiner familiären Verbindung ein quasi halb-offizielles Amt als dichtender Bundesratssohn: »Nach der Theater-Premiere: Ein Kuss – und ein Lob von Papa für Bundesrats-Sohn Hürlimann.«46 Dass der »Papa« seinem »Bundesrats-Sohn Hürlimann« gratuliert, ist ein stilistisches Vergehen, das gleichzeitig symptomatisch für die Vermengung von politischen, familiären und ästhetischen Urteilen ist. Thomas Hürlimann bekleidet die Rolle einer öffentlichen Person, die losgelöst von der offiziellen Funktion seines Vaters selbst im familiären Rahmen nicht zu existieren scheint. Selbst Hans Hürlimann wollte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Bühnenfigur, die seinen Namen trug, ein Abbild seiner selbst war. Auf die Frage des Blick-Reporters, was er denn davon halte, sich im Schauspielhaus im Scheinwerferlicht zu bewundern, entgegnete er: »Es hat in mir keineswegs komische Gefühle ausgelöst, mich so auf der Bühne zu sehen.«47 Diese – selbst innerhalb der Hürlimann-Familie stattfindende – Vermischung von privaten Identitäten, öffentlichen Rollen und politischen Funktionen führte dazu, dass Thomas Hürlimanns dramaturgischer Exkurs in die Schweizer Weltkriegsgeschichte für den Blick an politischer Schärfe und potenziellem Skandalwert gewann. Um den Skandalwert zu steigern, kündigte Blick das Theaterstück vor seiner Uraufführung als »Hitler-Buch« an.48 Doch inwieweit beruht das Theaterstück auf historischen Tatsachen? Hürlimann liess in einem Interview verlauten, dass Hitler einen Halbbruder hatte, der Halbjude gewesen sein soll: »Den hat’s gegeben, eine merkwürdige Gestalt, Kellner, Sittlichkeitsdelinquent und dann verschwunden«.49 Dass Hitlers Halbbruder Halbjude gewesen sein soll, ist höchst umstritten und kann bis heute nicht nachgewiesen werden. Historisch verbürgt ist allerdings, dass Adolf Hitler abgesehen von einer Schwester und einer Halbschwester auch einen älteren Halbbruder (geb. 1882) hatte, der Alois hiess. Alois, der vor Gericht der Bigamie überführt wurde, hatte einen Hang zu Brutalitäten, nannte ihn doch seine irische Frau »Hitler the Second«.50 Zuweilen wird in der Hitler-Forschung kolportiert, dass Hitlers Vater, der ebenfalls Alois hiess, halbjüdisch gewesen sein soll. In Ian Kershaws Hitlerbiografie Hitler 1889-1936. Hubris findet sich jedoch kein Beleg für diese Behauptung.51 Hürlimann füllte die Leerstellen in der Biografie von Hitlers Halbbruder mit einem hypothetischen Lebenslauf, der die Schweiz als Schauplatz miteinbezog: »Ich habe –––––––— 46 47 48 49

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Ebd. Ebd. Georg Ubenauf und Jürg Zbinden: Bundesrat Hürlimanns Sohn macht Furore mit HitlerBuch. In: Blick, 11.10.1980, S. 3. Zitiert in Georg Ubenauf: Das Problem des Fremdlings im eigenen Land. In: Luzerner Neuste Nachrichten, 4.10.1980. Verfügbar in: Schweizer Mediendatenbank: http://www.smd.ch (Zugriff am 9.9.2007). Brigid Elizabeth Dowling-Hitler, zitiert in Timothy W. Ryback: Hitler’s Lost Family. What became of the Führer’s relatives? The closest live in the suburbs of New York. In: The New Yorker, 17.7.2000, S. 53. Ian Kershaw: Hitler 1889–1936. Hubris. New York: W. W. Norton & Company 1998.

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gesucht, ob es irgendwelche Notizen über ihn gibt. Aber nichts. Also habe ich mir gesagt, er hätte ja auch in die Schweiz gegangen sein können«.52 Wie sehr die Politik gegenüber der Ästhetik überhand gewann, zeigte sich auch daran, dass der Blick nach der Uraufführung im Schauspielhaus auf eine Rezension verzichtete. Stattdessen beschränkte sich der Bericht darauf, Stimmen aus dem Publikum zu zitieren. Die Reaktionen nach der Uraufführung in Zürich waren gemischt. Für Adolf Muschg war es »eine tiefgefrorene Inszenierung«. Guido Baumann zweifelte an Hürlimanns »dramatischem Können«. Der Schauspieler Dietmar Schönherr beanstandete, dass die Aufführung »nicht böse genug« war. Der Literaturprofessor Werner Weber hatte nur lobende Worte für Hürlimann, den er einen »durch und durch redlichen Menschen« nannte. »Er hat sich des unbequemen Themas mit Gewissenhaftigkeit angenommen«, meinte er, »das hat Zukunft«.53 Ob damit die Privatperson oder der Stückeschreiber Thomas Hürlimann angesprochen war, bleibt offen, denn auch Webers Kommentar liess keine klaren Grenzziehungen zu. Hans Hürlimann äusserte sich ausgewogen zum Inhalt: »Aber mit dem historischen Hintergrund des Stücks bin ich nicht einverstanden. Das sehe ich anders, obwohl ich vielleicht jetzt darüber nachdenken sollte.«54 Die NZZ-Rezensentin Marianne Zelger-Vogt verortet »das opportunistische Lavieren« und die Deutschfreundlichkeit geografisch in einem »nazifreundlichen Dorf« und vermeidet die Frage, ob dieses Dorf symptomatisch für die Schweiz steht.55 Im Stück würden »die fragwürdigsten Aspekte der schweizerischen Asylpolitik« angeschnitten, wobei es Hürlimann unterlasse, diese »vor ein anklägerisches Tribunal« zu stellen.56 Bemerkenswert scheint mir, dass ZelgerVogt in der Literarisierung der Familienmitglieder keine Absicht vermutet, die Eltern und den Grossvater blosszustellen, sondern dieses literarische Verfahren als einen Akt der Solidarität mit der Kriegsgeneration versteht: Hürlimanns Enkelperspektive erlaube »eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise«. Der Autor fühle sich »den Angehörigen jener Generation, die durch das Erscheinen des Fremden auf die Probe gestellt wurde, zugehörig«. Hürlimanns literarische Verkörperungen seiner Eltern bezeichnet die Rezensentin als »schuldlos« und »blass«.57 Das Theaterstück wurde im selben Jahr in Wien aufgeführt, auch hier waren Hürlimanns Eltern anwesend. Der helvetozentrische Inhalt erwies sich als konvertierbar, denn zeitgleich mit der österreichischen Aufführung erliess Bundeskanzler Kreisky einen Flüchtlingsstopp für zuwandernde Polen. Weitere Aufführungen folgten in Basel, am Hessischen Staatstheater in Wiesbaden, in Wuppertal und in Konstanz. Im Schlosspark-Theater in Westberlin wurde 1984 die Situation des westlichen Beobachters auf die eigene gebrochene Geschichte –––––––— 52 53 54 55 56 57

Zitiert in Ubenauf: Das Problem des Fremdlings im eigenen Land (Anm. 49). Alle Zitate aus Ubenauf: Nach der Theater-Premiere (Anm. 45). Ebd. Ebd. Zelger-Vogt: Aus der Enkelperspektive (Anm. 35). Ebd.

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übertragen: »Auf Aussichtspodesten kann man in Westberlin in den Osten der geteilten Stadt schauen«, erklärte Hürlimann die Parallele, die vom Berliner Publikum automatisch gezogen wurde.58 Die deutschen Kritikerstimmen waren jedoch teilweise sehr negativ oder wussten mit dem Stück wenig anzufangen. Für Siegfried Diehl ist Großvater und Halbbruder ein Märchen voller gespenstischer Figuren und gewinnt gerade dadurch an Tiefenschärfe. Allerdings bemängelte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die Wiesbadener Inszenierung über »die leidige und leidvolle Geschichte von staatlicher Ordnung und moralischer Unordnung aus der kühlen Distanz der Nachgeborenen« zu lang und schwerfällig sei.59 Zu einem eigentlichen Theatereklat kam es im Juni 1984 in St. Gallen, wobei erneut deutlich wurde, wie sich Politik und Kunst vermengten. Der St. Galler Stadtrat Karl Rudolf Schwizer verhinderte (in seiner Funktion als Vorstand der Technischen Betriebe) die Aufführung im städtischen Freibad Dreilinden, weil »noch lebende oder kürzlich verstorbene Personen« durch das Stück »in ihrer persönlichen Integrität« verletzt würden.60 Es war somit klar, dass sich das Aufführungsverbot nicht gegen den Schauplatz, sondern gegen den Inhalt des Stückes richtete. Der Verweis auf die Wahrung persönlicher Interessen konnte indirekt als willkürlicher Vorschieberegel verstanden werden, der einer politischen Zensur gleichkam. Thomas Hürlimann entgegnete daraufhin, dass seine Figuren fiktiv seien, auch wenn sie die Namen seiner Verwandtschaft tragen würden.61 Der St. Galler Stadtrat gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Denn Hürlimann hatte bereits in einem publizierten Interview konträr zu seiner späteren Aussage eingestanden, dass das Stück »sehr viel Autobiographisches« beinhalte.62 »Denn die Grosseltern, am Bodenseeufer wohnhaft gewesen, hätten immer wieder erzählt, wie man hinübergeschaut hätte, damals, als die Bomben auf Friedrichshafen fielen und die Stadt in Flammen stand«.63 Für Turi Honegger war der autobiografisch-familiäre Anstrich umso mehr ein Grund, das Theaterstück aufzuführen. Er zeigt sich über das Aufführungsverbot in seiner Kolumne im Blick empört: Wer immer auch diese ›St. Galler Familien‹ sind: Damals, als sie sich offenbar der Nazifreundlichkeit befleißigten und Zustände wie in Deutschland auch bei uns anstrebten, mussten sie wissen, dass sie das historische Risiko, eines Tages von der Vergangenheit eingeholt zu werden, eingingen. Thomas Hürlimann musste sich bei der Bearbeitung seines

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Zitiert in: »Ich fühle mich in Berlin wohler als in der Schweiz«. In: Thurgauer Zeitung, 24.5.1986. Verfügbar in: Schweizer Mediendatenbank: http://www.smd.ch (Zugriff am 9.9.2007). Siegfried Diehl: Der Ritt über den Bodensee ins Ungewisse. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.1982, S. 25. Zitiert in: Zensur für Schriftsteller Thomas Hürlimann (Anm. 42). Vgl. dazu auch: »Was man schon lange munkelte, wird für viele nun durch den neuesten Fall zur Gewissheit, nämlich dass Hürlimanns Stück unliebsam ist und überhaupt nicht gespielt werden soll«. Theaterzensur wird zum Politikum. In: Der Bund, 31.7.1984, S. 6. Schweizerische Depeschenagentur: Hürlimann-Stück kann in St. Gallen aufgeführt werden, 22.8.1984. Verfügbar in: Schweizer Mediendatenbank: http://www.smd.ch (Zugriff am 9.9.2007). Ubenauf: Das Problem des Fremdlings im eigenen Land (Anm. 49). Ebd.

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Stoffes, der historische Züge trägt, an das halten, was geschehen ist. Und das tat er, indem er diese Geschichte zu einem Theaterstück aufarbeitete. Was ist denn daran so gefährlich, wenn ein Autor sich mit der nicht ganz lupenreinen Vergangenheit einiger Schweizer befasst? Haben denn diese ›Familien‹ damals ›Anstand‹ und ›persönliche Integrität‹ bewiesen? [...] Aber den alten Fröntlern fehlt eben der Mut, zu dem zu stehen, was sie damals taten. Das Theaterverbot ist Vergangenheitsverdrängung, nicht –bewältigung.64

Einen Monat später erteilte der Stadtrat dann doch die Bewilligung, allerdings mehr unter Druck als aus Überzeugung: »Die Stadtregierung ist allerdings immer noch der Ansicht, dass im Theaterstück identifizierbare Personen herabsetzend dargestellt würden«.65 Was viel riskanter schien, nämlich einen Juden darzustellen, der sich als Hitlers Halbbruder ausgab, stiess in der Deutschschweiz und in Deutschland auf keine Empörung. Der Rollentausch vom Täter zum Opfer und – weniger häufig – vom Opfer zum Täter ist ein wiederkehrendes Motiv in der deutschen und österreichischen Nachkriegsliteratur. Beispiele dafür finden sich in Der Nazi und der Friseur von Edgar Hilsenrath und Jurek Beckers Bronsteins Kinder.66 Die autobiografischen Aufzeichnungen von Salomon Perel, der sich in Braunschweig als Hitlerjunge ausgab, um dem Tod zu entgehen, unterstreichen, dass solche Situationen tatsächlich vorkamen.67 Dass Hürlimann den Grossvater Ott und Alois als symbiotisch verwachsene Doppelgänger darstellt, ist allerdings bedeutungslastig und folgenschwer. Hannah Arendt prägte den viel zitierten Begriff der »negativen Symbiose« für das deutsch-jüdische Verhältnis nach 1945.68 Für Dan Diner manifestiert sich diese traumatische Symbiose in einer »gegensätzlichen Gemeinsamkeit«,69 die, wie Hürlimanns Stück nahelegt, auch für die Schweiz zumindest ansatzweise Gültigkeit haben könnte. Was mit Alois, der im Theaterstück auf Nimmerwiedersehen verschwindet, am Schluss geschieht, bleibt nur für jene Theaterbesucher offen, welche vor der Geschichte des Zweiten Weltkrieges die Augen verschlossen halten. Die Symbiose zwischen dem Grossvater Ott und dem Fremdling aus Deutschland ist aufgelöst, jedoch nicht die Schuld, die aus dieser Verbindung gewachsen ist. Was Hürlimann impliziert, ist für das kollektive Schweizer Gedächtnis schmerzvoller als es die NZZ-Redakteurin wahrhaben wollte. Die Schweiz war mehr als eine »gleichgültige« und »unbeteiligte« Beobachterin im Logenplatz.70 Die Schweizer Grenz–––––––— 64 65 66 67 68 69 70

Turi Honegger: Theater-Stück von Altbundesrat-Sohn verboten – weil ehemalige Freunde der Nazis Angst hatten. In: Blick, 24.7.1984, S. 2. Schweizerische Depeschenagentur: Hürlimann-Stück kann in St. Gallen aufgeführt werden (Anm. 61). Vgl. dazu: Robert Lawson: Role reversal and passing in postwar German and Austrian Jewish literature. Osnabrück: Der Andere Verlag 2003. Shlomo Perel: Ich war Hitlerjunge Salomon. München: Wilhelm Heyne 1992. Hannah Arendt: Brief an Karl Jaspers. In: H.A., K.J.: Briefwechsel 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler, Hans Janer. München: Piper 1985, S. 90. Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 1 (1986), S. 9–20, hier S. 10. Zelger-Vogt: Aus der Enkelperspektive (Anm. 35).

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politik zeichnete zwar nicht für Auschwitz verantwortlich, doch hat sie dazu beigetragen, dass viele jüdische Schutzsuchende anstatt auf Schweizer Boden in den Gaskammern, die bis 1944 in Betrieb blieben, endeten. Obwohl die aktuelle Forschung belegen kann, dass die Schweiz durch ihre Politik den Krieg nicht verlängerte, deutet Hürlimanns Großvater und Halbbruder zumindest an, dass die Erinnerungen und der Umgang mit der Geschichte dadurch nicht einfacher werden. Was am Ende seines Theaterstückes bleibt, ist die schwierige Frage, wie die Erkenntnis der kollektiven Mitschuld in das kulturelle Gedächtnis der Nachkriegsschweiz zu integrieren sei.

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Otto Marchi und die Vergangenheit

In einem Aufsatz, der 1980 veröffentlicht wurde, zählt Otto Marchi verschiedene Aspekte des glücklichen Schicksals der Schweizer auf, einen langen Katalog, der umso deutlicher einen entscheidenden Mangel hervortreten ließ: »Nur eines haben sie nicht, die Literatur, die sie verdienten«.1 Während er als Sprecher für die Benachteiligten auftritt, kritisiert Marchi »Fiktion, die vorgibt, Realität zu sein« und erinnert dabei an die Empörung derjenigen, die diese Auffassung von Literatur vertraten angesichts von Publikationen bestimmter Bücher von Meinrad Inglin, Gerold Späth, E.Y. Meyer, Thomas Hürlimann und letztendlich auch Marchi selbst.2 Schweizer Schriftsteller, so führt Marchi in seiner angenommenen Rolle fort, sind blind und taub gegenüber der Realität und erschaffen »eine Karikatur der Schweiz«.3 Bis 1980 hatte Marchi ein Buch zur Schweizer Geschichte und einen Roman veröffentlicht; drei weitere Romane folgten, während ein fünfter, fast vollendet, mit seinem Tod durch den Tsunami im Dezember 2004 verloren ging. Das Hauptthema seiner veröffentlichten Werke, so scheint mir, ist unsere komplexe und oft lähmende Beziehung zur Vergangenheit. Ausgehend von Marchis ironischem Kommentar zu dem, was er für die Schweizer Erwartungshaltung in Bezug auf Literatur hielt, und dem allgemeinen Thema dieses Bandes möchte ich Marchis Darstellung des Umgangs mit der Vergangenheit in Beziehung zu nationalem Mythos, zu literarischer Tradition und zum Individuum beschreiben. Marchi, von Haus aus Historiker, veröffentlichte 1971 sein erstes Buch, Schweizer Geschichte für Ketzer oder Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft, das im gleichen Jahr wie Max Frischs viel bekannteres Werk Wilhelm Tell für die Schule erschien.4 Marchi räumt ein, dass die Erörterung von Tell und anderen legendären Helden der Schweiz, die als »ein sekundäres Glaubenssystem« im Schweizerischen Ethos eine Rolle spielen,5 mit Schwierigkeiten verbunden ist: »Jeder Versuch einer Entmythologisierung, also einer Scheidung zwischen mythischem Gehalt und historischer Wirklichkeit [wird] –––––––— 1

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Otto Marchi: Träume von der Schweiz? In: Jochen Jung (Hg.): Ich habe im Traum die Schweiz gesehen. 35 Schriftsteller aus der Schweiz schreiben über ihr Land. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 102–105, hier S. 104f. Ebd. Ebd. Marchis Text war zuvor in Serienform in einer Zeitung erschienen, geht dem von Frisch also voraus. Peter von Matt: Bilderkult und Bildersturm. Eine Zeitreise durch die literarische und politische Schweiz. In: P.v.M.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München, Wien: Hanser 2001, S. 9–78, hier S. 13.

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[...] als Ketzerei verdammt« (SG, S. 79).6 Dementsprechend besteht der Kern von Marchis Darlegung im zehnten Kapitel, das den Titel »Glauben oder Wissen« trägt. Auf der einen Seite weist er entschieden eine Position zurück, »wobei die Geschichte als Feind aller Sagen und Legenden erscheint« (SG, S. 75); die Geschichtswissenschaft sollte in der Lage sein zu erkennen‚ »wie gross der Wirklichkeitsgehalt in diesen Urformen der Dichtung sein kann« (SG, S. 75). Marchi zitiert aus Kellers Sonett Die Tellenschüsse und bekräftigt, dass die Bedeutung des Tellschen Mythos nicht in seiner historischen Glaubwürdigkeit liegt, sondern in seiner symbolischen Kraft als ein »Vorbild, das sich moralisch und staatspolitisch gleichermassen verwenden lässt« (SG, S. 79). Auf der anderen Seite möchte Marchi die Ansprüche der Geschichte geltend machen, denn es ist wichtig zu verstehen‚ »wie sich ein Staatswesen auch auf völlig reale Weise von Stufe zu Stufe entwickelt hat« (SG, S. 80). Um seinem Gedanken Ausdruck zu verleihen, dass die zwei Kategorien, mythischer Gehalt und historische Wirklichkeit, koexistieren sollten, geht er wiederum auf Keller zurück, dieses Mal auf die berühmte Passage aus dem Aufsatz »Am Mythenstein«, in der Keller schreibt: »So wären wir füglich gezwungen, wenn keine Sage über die Entstehung oder Stiftung der Eidgenossenschaft vorhanden wäre, eine solche zu erfinden«;7 Marchi wiederholt Kellers Satz und ersetzt dabei »keine Sage« durch die Worte »keine geschichtlich belegbare Erkenntnis« (SG, S. 80). Während das ausschließliche Vertrauen in Geschichte den Wert des Mythos zerstört, schaltet das ausschließliche Vertrauen in Mythos das Bewusstsein geschichtlicher Entwicklung aus – »Glauben« und »Wissen« sind komplementäre Elemente des Gesamtbildes. In der Zeit nach 1968 versuchen sowohl Marchi als auch Frisch im Diskurs der frühen 70er Jahre einen Rahmen für die Relevanz von Geschichte für die Gegenwart zu schaffen. Einerseits lässt Frisch – ironischerweise um die Figur des Gessler – eine mögliche Realität für einen Teil der Tell-Legende entstehen, in der die Helden der Geschichte »Unsicherheiten, Banalitäten, Missverständnisse und Zufälle« sind.8 Die Sage, wie sie von Frisch erzählt wird, scheint Marchis Behauptung, dass genaue historische Details das Umschlagen von Realität in Mythos (vgl. SG, S. 71) hätte verhindern können, zu bestätigen, denn allein die Plastizität und Lebendigkeit der Erzählung von Frisch sprechen gegen eine solche Wandlung. Andererseits ist Marchi bestrebt, Mythos und Geschichte in Einklang zu bringen. Seine Schweizer Geschichte für Ketzer wurde nach Meinung eines Kritikers durch ihren Humor zu einer »Ausnahme im damaligen –––––––— 6

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Otto Marchi: Schweizer Geschichte für Ketzer oder Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft. Zürich: rotpunkt 1985. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern als (SG, Seitenangabe). Gottfried Keller: Am Mythenstein. In: G.K.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning et. al. Frankfurt/M. 1989–1996. Bd. 7. Aufsätze, Dramen, Tagebücher. Hg. von Dominik Müller. 1996, S. 164–192, hier S. 166. Aleida Assmann: Die (De-)Konstruktion nationaler Mythen und die Rolle der Literatur. In: Corina Caduff, Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink 2004, S. 75–83, hier S. 80.

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gesellschaftlichen Diskurs«,9 rangierte nach Meinung eines anderen unter »den Klassikern der alternativen Geschichtsschreibung« und ist bemerkenswert durch seine offene und umfassende Diskussion zu nationalem Mythos.10 Das Buch ist auch bestimmend für Marchis vier Romane, die sich zum großen Teil mit unserer unzuverlässigen Wahrnehmung historischer Wahrheit befassen. Zwei dieser Romane schaffen auch Verbindungen zur literarischen Vergangenheit der Schweiz im Werk von Gottfried Keller. In Marchis erstem Roman, Rückfälle (1978), hat die zentrale Figur, ein namenloser Verkäufer von neuen Häusern und Wohnungen, seiner Firma aus einer undefinierbaren Unzufriedenheit heraus gekündigt. Seine Notizen über Ereignisse und Reflexionen bilden eine Art Tagebuch, welches zeigt, dass er sich der Herausforderungen, denen er sich infolge seiner Kündigung stellt, voll bewusst ist – erstens, eine andere Art zu leben, und zweitens, das Ethos seiner Umwelt zu bekämpfen, deren Stimme er ironisch selbst wiedergibt: »Wir wollen keine pathetischen Programme hören, sondern Zahlen. Uns interessiert nicht, wie etwas sein könnte, sondern was es kostet« (R, S. 34).11 Dazu kommt, dass seine Ersparnisse, von denen er lebt, rapide schrumpfen. Genau in der Mitte des Romans beschließt die zentrale Figur eines Abends Der grüne Heinrich zu lesen. Er nimmt das Buch »aus dem Schutzumschlag« (R, S. 95) und hat bald eine Beziehung zum Helden des Buches aufgebaut: »Auch ich bin Halbwaise [...] malen habe ich nie können [...] aber in München war ich auch« (R, S. 95f.); dann sieht er nach in einem »Romanführer [...], in dem alles viel zügiger nachzulesen ist« (R 96), geht dann aber zurück zum Roman, um das Ende zu lesen: »Am Schluss eines guten Buches steht, wie es gemeint ist« (R, S. 96); er begleitet Heinrich bei dessen Rückkehr in die Schweiz, hält an seinem Schreibtischstuhl an und beginnt Heinrichs Ansicht vom gesellschaftlichen Zusammenhalt zu intonieren, während er mit seinem Fuß rhythmische Bewegungen auf dem Stuhlsitz macht; bei den die gemeinnützige Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft beschreibenden Worten – »es tritt eine [wundersame] Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teil« (R, S. 98) – bricht der Stuhl zusammen. Dieses symbolische Versagen haltgewährender Strukturen wird durch die Ansicht seiner Freundin unterstrichen, dass Zugehörigkeit in der heutigen Welt einer Aufgabe seiner selbst gleichkommt: »Wer angehört, ist nicht mehr er selbst. Wer angehört, ist verfügbar, verwaltbar, ausgeliefert« (R, S. 14). Bezeichnenderweise bewirbt sich die zentrale Figur – unfähig eine neue Strategie zu entwickeln – im unmittelbar folgenden Abschnitt des Romans bei einer anderen Firma um einen Posten, der mit seinem vorhergehenden identisch ist, und seine anschließende Einstellung setzt ihn erneut diesem Prozess der gesellschaftlichen Besitzergreifung aus. Marchis Verkäufer erinnert an den Herrn aus Rom in –––––––— 9 10 11

Elsbeth Pulver: Versteckspiele, Demaskierung, Selbsterkenntnis. Zum Roman Soviel ihr wollt von Otto Marchi. In: Schweizer Monatshefte 74 (1994), S. 31–33, hier S. 31. Hans Stempel: Die Kunst der Syntax. Otto Marchis dritter Roman Landolts Rezept. In: Frankfurter Rundschau, 16.12.1989. Otto Marchi: Rückfälle. Frankfurt/M.: S. Fischer 1978. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern als (R, Seitenangabe).

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Thomas Manns Mario und der Zauberer, der sich dem Hypnotiseur wegen der Widersprüchlichkeit seiner Position ausliefert: »Etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als dass nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müsste«.12 Eine weitere literarische Figur, die auszubrechen versuchte, Albisser in Adolf Muschgs Albissers Grund (1974), war als Dr. phil., Gymnasiallehrer und Offizier ein so beispielhaftes Produkt des Systems, dass der Roman auf satirische Weise aufzeigt, welche Anstrengungen das System unternimmt, um ihn wieder zu integrieren. Aber das System ist Marchis Verkäufer gegenüber gleichgültig – er fällt sowohl in der öffentlichen als auch in der privaten Sphäre in seine früheren Handlungsweisen und Gewohnheiten zurück und denkt in Visionen, ausgedrückt im vollendeten Futur, darüber nach, was wohl vor ihm liegt. Herrmann Burger sah den Roman Rückfälle als die »Geschichte eines Trockenschwimmers, der das Prinzip Hoffnung durch das Futurum exactum ersetzt hat«.13 Der Verkäufer treibt verloren zwischen einer Vergangenheit, zu der er keine Verbindung hat, und einer Zukunft ohne Perspektive. Seine Entfremdung und die Tatsache, dass er es nicht schafft, einen tragenden Rahmen für sinnvolles Handeln zu finden, reflektieren die Desillusion und Unruhe der 70er Jahre, denen die Vision einer Gemeinschaft, wie sie von Heinrich Lee gesehen wurde, völlig fehlte. Marchis dritter Roman, Landolts Rezept (1989) bezieht sich auf verschiedene Weise auf Kellers Der Landvogt von Greifensee und steht gleichzeitig im Gegensatz dazu. Nachdem Marchis Landolt, ein Journalist, zufällig auf Kellers Novelle stößt, ist er besessen von der Idee eines Festes, das vier ehemalige Freundinnen mit seiner jetzigen zusammenbringen und als Mittel dienen soll, die letztere loszuwerden wegen ihrer ständigen Jammerei, »er bevogte sie immer noch« (LR, S. 289).14 Das Fest erweist sich als totale Katastrophe für Landolt, da die fünf Frauen gemeinsame Sache machen, um »ein Tribunal« zu veranstalten, »das den Patriarchen zwingt, sich über sein Verhalten bewusst zu werden, seine Rolle zu befragen«.15 Dieser langsame und schmerzvolle Prozess, der kurz nach dem Fest beginnt, als der Romanheld immer noch von seiner Erniedrigung geplagt wird, zieht sich durch den ganzen Roman. Landolt stellt eine Figur dar, die sich von der seines literarischen Vorgängers stark unterscheidet; seine Probleme können verstanden werden als eine Reflexion »ein[es] so subtil[en] wie unerbittlich[en] Geschlechterkampf[es] in der Spielart der achtziger Jahre«.16 –––––––— 12 13 14 15 16

Thomas Mann: Mario und der Zauberer. In: Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann. Bd. 10. Die Erzählungen. Frankfurt/M.: S. Fischer 1966, S. 658–711, hier S. 702. Hermann Burger: Vollendete Zukunftslosigkeit. In: Die Weltwoche, 12.4.1978. Otto Marchi: Landolts Rezept. Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1989. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern als (LR, Seitenangabe). Urs Bugmann: Die Wahrheit lässt sich nicht fassen. In: Neue Luzerner Zeitung, 28.1.2005. Elsbeth Pulver: Beziehungsgeschichten, Essrituale. Otto Marchi: Landolts Rezept. In: NZZ, 15.9.1989.

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Das Erzählen der Vergangenheit, um zukünftiges Verhalten zu beeinflussen, spielt sowohl in Der Landvogt von Greifensee als auch in Landolts Rezept eine Rolle. Der Pate des Herrn Jacques legt dem jungen Mann Charakter- und Verhaltensvorbilder mit Erzählungen aus der Vergangenheit nahe und gibt ihm die Geschichte des Landvogts von Greifensee als »a model for imitation«,17 damit er sie abschreibe. Der moderne Landolt beginnt auf das Drängen seiner neuen Freundin Hanna hin, ihr nach und nach so wahrheitsgetreu wie möglich über seine Vergangenheit zu erzählen und geht auf diese Weise durch eine »Schule des Erzählens«,18 die gegen Ende des Romans ein Loslösen von der quälenden Erinnerung an das Fest ermöglicht. Keller prüft ironisch die Wirkung dessen, was seine Novelle »ein [...] erbauliches und zierliches Ende« nennt,19 im Epilog an der Geschichte von Salomon Landolt, der Herrn Jacques Benehmen in Rom beschreibt. Die Geschichte des modernen Landolt hat keinen Epilog: ganz am Ende, reifer geworden und lachend über die Torheit menschlichen Verhaltens, wird er von einem Auto überfahren – die Ironie des Romans gewährt ihm keine Zukunft. Der Hintergrund des gesellschaftlichen Lebens, in das Kellers Landolt so fest eingebettet ist, hat in Landolts Rezept eine ganz andere Beschaffenheit. An den Wänden des Gasthauses im Ticino, wo das Fest stattfindet, sieht man vertraute Schweizer Ikonen, die auch andere Assoziationen hervorrufen: eine »walkürenhaft gewandete[n] Helvetia [...] mit einem verkrümmten Speer in der Hand« wendet ihren »dicken Hintern« Tell zu, der mit sphärischem Blick und pfeillosem Köcher gotthardwärts späht und nicht weiss, wie er Sohn Walter erklären soll, warum die Zitronen nicht blühen in einem Land, in dem es ihn hier neben die anderen helvetischen Heroen auf die abbröckelnde Steinwand dieses Hauses verschlagen hat (LR, S. 285).

Auch abgebildet ist »General Guisan mit dem verrutschten Chaplin-Schnauz« (LR, S. 285), und auf der Rückreise nach einem nochmaligen Besuch des Gasthauses im Ticino bemerkt Landolt »die gelbe Fahne eines Autokonzerns« (LR, S. 298) auf dem Rütli flattern. Die Konturen und der Status der Symbole, auf denen das gesellschaftliche Leben beruht, sind verwischt und müssen neben aufdringlichen Bildern aus anderen Sphären ihr Dasein fristen. Während es für Kellers Landolt kein Fest gegeben hätte ohne die Abweisungen durch seine fünf ehemaligen Freundinnen, so hätte es für den modernen Landolt kein Fest und daher keine persönliche Neubewertung gegeben ohne das literarische Modell. Aber das literarische Modell, welches Landolt, der Journalist, seinen jüngeren Kollegen immer zu konsultieren empfiehlt, wenn es Schwierigkeiten gibt, kann eine solche Überlegenheit zur Schau stellen, dass Landolt in einem Fall das Buch, in dem er um Rat sucht, verzweifelt zur Seite wirft: »Es war nicht auszuhalten, wie der seine Geschichte hingeschrieben hatte, –––––––— 17 18 19

Gail K. Hart: Readers and their Fictions in the Novels and Novellas of Gottfried Keller. Chapel Hill, London: University of North Carolina Press 1989, S. 93. Pulver: Beziehungsgeschichten (Anm. 16). Gottfried Keller: Der Landvogt von Greifensee. In: G.K.: Gottfried Kellers Werke. Hg. von Gustav Steiner. 8 Bde. Bd. 5. Zürich: Diogenes 1978, S. 137–249, hier S. 238.

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als wäre sie ihm diktiert worden, wie der sprudelte und fabulierte« (LR, S. 270). Landolts Frustration ruft die Ironie des Keller-Denkmals an den Ufern des Zürichsees in Erinnerung: auf der einen Seite des Gedenksteins erklärt eine Versicherungsgesellschaft die Urheberschaft für die Errichtung des Steins an ihrem hundertsten Geburtstag, und die andere Seite ist vollständig bedeckt mit einer Liste von Kellers Werken; für mehr bleibt kein Platz. In der literarischen Tradition, in der Keller eine so bestimmende Rolle innehat, bekennen die Romane Rückfälle und Landolts Rezept gegenüber dieser Tradition ihre Schuldigkeit und demonstrieren gleichermaßen eine Entwicklung. In seiner Schweizer Geschichte für Ketzer machte Marchi auf die Art und Weise aufmerksam, in der die Schweizer Geschichtsauffassung ungeprüft und unangefochten bleibt. Seine zwei anderen Romane behandeln die Art und Weise, in der das Individuum Mythen in Bezug auf seine persönliche Vergangenheit kreiert und energisch aufrechterhält. In Sehschule (1983) hat die zentrale Figur, Georg Aberhalden, sich vertraglich verpflichtet, einen Essay zu schreiben mit einem Titel in Anlehnung an Schillers Antrittsvorlesung im Jahre 1789 in Jena: »›Was heisst und zu welchem Ende studiert man [Universalgeschichte]?‹« (S, S. 14).20 Die Konfrontation mit diesen fundamentalen Fragen, sowohl in Bezug auf seine wissenschaftliche Disziplin als auch und vor allem auf seine eigene, unbewältigte Vergangenheit, veranlasst ihn, den Vertrag zu kündigen. Als Historiker hat er schon oft Aufmerksamkeit auf das Paradox gelenkt, dass – während andere Wissenschaftsdisziplinen Bezeichnungen tragen, die mit ihrem Studienobjekt nicht identisch sind – »nur die Wissenschaft von der Geschichte [...] nach wie vor Geschichte [heiße] und niemand [...] sich daran [störe]« (S, S. 116). Wenn man die schwierige und umstrittene Aufgabe, ein Abbild der historischen Vergangenheit zu schaffen, fallen ließe, dann würde das »blinde[m] Verfallensein in ihr unbegriffenes Verhängnis« (S, S. 22) Vorschub leisten. Während Georg Spaziergänge in und um Luzern macht und zum ersten Mal die Dokumente liest, die seine Eltern hinterlassen haben, kommt er zu schmerzlichen Entdeckungen bezüglich seiner Vergangenheit und ist gezwungen zuzugestehen, dass Vieles seiner persönlichen Erinnerung »nicht Wirklichkeit [war], sondern Regie« (S, S. 83). Allmählich kommt Georg zu zwei wichtigen Erkenntnissen. Erstens: Quellen – einerlei ob persönliche oder öffentliche – können irreführend sein: die vorhandenen privaten Familiendokumente machen Georgs Schulzeit zu »eine[r] einzigen Anekdote« (S, S. 63), was von der Wahrheit wirklich weit entfernt ist; in einem historischen Dokument aus dem öffentlichen Bereich, von dem andere Gelehrte lange Zeit glaubten, dass es die Ansichten der Zeit, in der es zu Papier gebracht wurde, reflektiere, kann man Schreibstile und damit Ansichten nachweisen, die früheren Epochen angehören. Dokumente können nicht gleichzeitig Inter–––––––— 20

Otto Marchi: Sehschule. Frankfurt/M.: S. Fischer 1983. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern als (S, Seitenangabe). Friedrich Schillers Rede: Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Gehalten am 26./27.05.1789. In: F.S.: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert Göpfert. München: Hanser 1965. Bd. 4. Historische Schriften, S.749–767.

Otto Marchi und die Vergangenheit

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pretation sein: »Was für ein Unsinn, von einer Quelle zu verlangen, sie hätte Darstellung zu sein« (S, S. 124). Zweitens: »die Distanz des Historikers« (S, S. 101), wie sie Georgs Professor seinen Studenten beigebracht hatte und die Georg versucht hatte, sich anzueignen, erweist sich als Schimäre, denn er erkennt: »Der Fotograf war stets mit auf dem Bild« (S, S. 116). Georg sieht sich jetzt selbst als einen »Chronisten, der weiss, dass er sich irrt und sich beim Aufspüren seiner Irrtümer irren wird und es dennoch nicht aufgibt« (S, S. 83). Seine veränderte Auffassung hat zwei Konsequenzen: auf der persönlichen Ebene kann er sich selbst als Teil eines historischen Kontinuums sehen und kann unterscheiden zwischen »Zusammenhängen, die seine Grosseltern und Eltern noch nicht hatten sehen können« (S, S. 162); auf der beruflichen Ebene muss er sich in die Subjektivität beider Seiten des Konflikts hineindenken: »Nur so war ein Verständnis möglich, wurden die Leiden der Opfer nicht verkleinert [...], waren die Herren Despoten und ihre Handlungen dennoch Rechtens von ihrem Standpunkt aus« (S, S. 124f.). Das Ende der Sehschule – »Georg [...] ging weiter« (S, S. 165) – lässt darauf schließen, dass der Prozess der Selbsterkenntnis des Helden weiter voranschreiten wird – zumindest wird bei ihm als einzigem von Marchis Helden dieser Prozess nicht durch Ereignisse innerhalb des Romans scharf relativiert. Eine sehr viel schmerzvollere Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit wird in Marchis zuletzt veröffentlichtem Roman Soviel ihr wollt (1994) dargestellt, was zum Gegenstand einer Kontroverse wurde, da einer der Hauptcharaktere auf einer tatsächlichen historischen Figur beruht, die in Luzern und der Zentralschweiz wohlbekannt war. Diese Figur erscheint im Roman als Brandstätter, ein katholischer Priester, bereits gestorben, der an der Sekundarschule unterrichtet hatte, die von der Hauptgestalt, dem Journalisten Konrad, besucht wurde. Konrad hält den Priester dafür verantwortlich, dass er wegen Betrugs von der Schule verwiesen wurde, und lässt ihn in einem Roman auftreten, in dem er seine eigene Version dieser Geschichte schreibt. Fünfzehn Jahre später kommt Adrian, ein ehemaliger Klassenkamerad und jetzt Zeitungsredakteur, auf ihn zu mit der Bitte, für eine Jubiläumsbeilage einen Artikel über den Priester zu schreiben, über dessen Verhältnis mit einer verheirateten Frau Gerüchte kursieren. Konrad weigert sich zunächst – er möchte nicht den toten Ballast der Vergangenheit wieder heraufbeschwören, »diese mottenzerfressenen Gespenster seiner Jugend [...], längst in seinem Roman versargt« (SIW, S. 25).21 Aber da sich Konrad in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten befindet, nimmt er widerwillig an und fährt los, um in der Zentralschweiz Erkundigungen einzuziehen. Adrian ist mit Konrads erstem Entwurf unzufrieden und wendet ein, dass Brandstätter zu einseitig dargestellt ist; der Priester habe eine viel weniger dogmatische Einstellung zum Menschlichen gehabt als Konrad behauptet, und Adrian erinnert Konrad daran, dass er die Schule schließlich aus freien Stücken verlassen hatte. Adrians Kommentare stellen die Frage nach der Echtheit von Konrads Suche nach »Beweise[n], mit denen sich die Wahrheit über Brandstätter belegen –––––––— 21

Otto Marchi: Soviel ihr wollt. Zürich, Frauenfeld: Nagel & Kimche 1994. Zitatnachweise im laufenden Text in Klammern als (SIW, Seitenangabe).

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liess« (SIW, S. 96). Einen zweiten Anstoß zu einer möglichen Veränderung seiner Sichtweise erfährt Konrad in Wien, wo er kurzzeitig Zuflucht sucht, um seinen Problemen zu entkommen. Im dortigen ›Bestattungsmuseum‹ wird er gewahr, wie die Vergangenheit trivialisiert und entwürdigt werden kann. Ein noch stärkerer Impuls für eine Selbstkorrektur kommt von den Informationen, die er von den Telefongesprächen mit jenen erhält, die die verheiratete Frau, die mit Brandstätter ein Verhältnis hatte, kannten. Während Konrad in Wien »in den Trümmern seiner Geschichte« (SIW, S. 206) sitzt, beginnt er, nachdem er die Schriftstücke der verheirateten Frau gelesen hat, seine eigene geschiedene Frau besser zu verstehen. Nach der siebenten Überarbeitung seines Artikels glaubt er, dass er der Figur Brandstätters, wenn schon nicht Gerechtigkeit, so doch weniger Ungerechtigkeit hat zuteil werden lassen und kehrt in die Schweiz zurück, um zu erfahren, dass die Beilage bereits erschienen ist und in den Zeitungsständen zum Verkauf angeboten wurde. Die Ironie wollte es, dass sein Roman veröffentlicht wurde, während sein Artikel mit dem wesentlich differenzierteren Porträt nicht erscheinen konnte. Soviel ihr wollt führt das Thema der Sehschule weiter, nämlich eine Untersuchung der »Validität der Erinnerung und der Erkenntnis der Vergangenheit« und der Hartnäckigkeit, mit der das individuelle Gedächtnis an vereinfachten Strukturen der Erinnerung festhält.22 Das Werk, das Otto Marchi hinterlassen hat, scheint die Auffassung, dass die Schweizer nicht die Literatur haben, die sie verdienen, zu untermauern. Denn in einem Land, das so stolz auf sein Verhältnis zur Vergangenheit ist, zeigt er mit seinen Büchern auf, wie schwierig, restriktiv und missverstanden dieses Verhältnis sein kann. Drei seiner Helden kämpfen mit ihren persönlichen Mythen, den Versionen der Vergangenheit, die sie selbst erschaffen haben, ein vierter lebt in einem Freiraum ohne eine echte Beziehung zur Zeit. Marchis Buch zur Schweizer Geschichte zeigt, dass die Notwendigkeit einer ständigen Neubewertung auch gleichermaßen auf die nationalen Mythen und Ikonen zutrifft, die in einer sich verändernden Welt weiterleben. Während Marchis Werk die herausfordernden Fragen der 68er Jahre reflektiert, so geht es auch in den 70er und 80er Jahren weg von geradlinigen Antworten hin zu Komplexität und Unsicherheit. In diesem Sinne enthalten seine Romane ironische Darstellungen des »alte[n] Muster[s] des Erziehungsromans«,23 denn ihre zentralen Figuren, skeptisch, unfallgefährdet, und nicht mehr jung, werden mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich mit der Schwierigkeit zu befassen, die der Darstellung der Vergangenheit innewohnt. So versucht Marchis Werk sowohl auf persönlicher als auch auf nationaler Ebene das Terrain zu erforschen, das wir – fälschlicherweise – unser eigen wähnen: »The past«, wie der Schriftsteller L.P. Hartley schrieb, »is a foreign country«.24 Differenz charakterisiert auch die Literatur selbst. Im Jahr 1980 traf Marchi die Feststellung, dass nach Meinung vieler Leser, die der Ansicht waren, ihr Land –––––––— 22 23 24

Pulver: Versteckspiele (Anm. 9). Elsbeth Pulver: Abschied von Otto Marchi. In: Reformatio, 1.5.2005, S. 36–39, hier S. 38. Leslie Poles Hartley: The Go-Between. Harmondsworth: Penguin 1972, S. 7.

Otto Marchi und die Vergangenheit

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verdiene etwas Besseres, Schweizer Schriftsteller »eine Karikatur der Schweiz« erschufen. 1998 erklärte er, möglicherweise in Übereinstimmung mit anderen Schriftstellern, dass die offizielle Präsentation der Schweiz auf der Frankfurter Buchmesse die visuellen Klischees der Schweizer Tourismusindustrie in einer Art und Weise benutzt habe, dass »eine Karikatur jeder literarischen Tätigkeit« dabei herauskam.25 Für Marchi ist Literatur »prinzipiell anarchistisch und lässt sich nicht einspannen«, so dass beide Instrumentalisierungen, auf die er sich 1980 und 1998 bezieht, die Schwierigkeit darstellen, zu akzeptieren, dass Literatur – wie die Vergangenheit – unabhängiges Territorium ist. Schriftsteller weisen, in den Worten von Max Frisch‚ auf »das Vorhandensein einer anderen Welt«.26 Die Buchmesse in Frankfurt 1998 ging einher mit dem 150. Jahrestag der Gründung des Bundesstaates 1848, dem Jahr der großen Schweizer Errungenschaften der Versöhnung und des Aufbaus; der Geist jenes Jahres könnte heute durchaus einen Dialog zwischen Schriftsteller und Leser fördern.27 Es könnte sein, dass eine Passage aus Marchis erstem Roman Rückfälle – entgegen seinen pessimistischen Äußerungen – einen Hoffnungsschimmer in diese Richtung enthält. Darin äußert die zentrale Figur Gelassenheit gegenüber der Aussicht auf einen Schiffbruch: »Irgendein Stück Holz wird sich immer finden, an dem man sich festklammern kann, bis Hilfe naht« (R, S. 124). Tragischerweise sollte sich diese einfache Überzeugung für den Mann Otto Marchi nicht bewahrheiten, aber das Bild könnte ein Emblem dafür sein, was der Schriftsteller Otto Marchi in seinem Werk vermittelt: alles Holz, an das man sich klammern kann, ist provisorisch und dünn, aber es verschafft die Möglichkeit, dass andere Menschen sich nähern und dann könnte eine Geschichte über das, was passiert ist, erzählt werden. Und man könnte akzeptieren, dass diese Geschichte für die Dauer ihrer Erzählung Gestalt annimmt, wie Christoph Geiser es implizierte, als er in seiner Ansprache auf der Gedenkfeier für Otto Marchi sagte, dass Marchi seine Geschichten »im Vertrauen darauf [schuf], dass der Sinn, wenn es denn einen Sinn gibt, im Erzählen selbst liegt«.28 Und die Stärke dessen, was Marchi uns hinterlassen hat, so scheint es mir, liegt darin, dass er uns daran erinnert, dass keine Erzählung, keine einzige Geschichte die unbestreitbare Wahrheit über die Vergangenheit und ihre Mythen enthalten kann.29

–––––––— 25

26 27

28 29

Alle Zitate aus Otto Marchi: Aus dem Gänsefüßchen-Land. Die Verkäsung der Literatur – wie die Schweiz sich und ihre Kennzeichen auf der Frankfurter Buchmesse inszeniert. In: Süddeutsche Zeitung, 2.10.1998. Max Frisch: Tagebuch 1946–1949. In: M.F.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Hg. von Hans Mayer. Bd. 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 349–755, hier S. 474. Adolf Muschg: Hunger nach Format. In: Siegfried Unseld (Hg.): Begegnungen. Eine Festschrift für Max Frisch zum achtzigsten Geburtstag. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 154–176, hier S. 174. Christoph Geiser: Zum Gedenken an Otto Marchi. Ansprache in der Jesuitenkirche, Luzern, 29.1.2005. Typoskript. Für diese Schlussformulierung bin ich dem Aufsatz von Urs Bugmann zu Dank verpflichtet: Bugmann: Die Wahrheit lässt sich nicht fassen (Anm. 15).

Teil V

Mythos Multikulturalität

Sabine Haupt

Mythos Kulturgraben Literaturpolitische Diskurse und Realitäten innerhalb und jenseits der Sprachgrenzen

Unsichtbare Grenzen gibt es in jedem Land der Welt. Als Deutsche etwa wächst man mit der Rhein-Main-Linie oder mit der Ost-West-Dichotomie auf, d.h. mit vormals realen, inzwischen nur noch imaginären Grenzen, an denen sich angeblich Mentalitäten, ja ganze Denk- und Gefühlswelten scheiden. Trotz der gerade von Nicht-Schweizern in diesem Zusammenhang immer wieder mit Bewunderung angeführten Integrationsleistung des helvetischen Föderalismus, dem es gelingt, vier Landessprachen koexistieren und miteinander kommunizieren zu lassen, scheint die Schweiz in ganz besonderem Maße von kulturellen Binnengrenzen geprägt. Man wird kaum einen Schweizer finden, der sich – ohne einen Katalog von Einschränkungen anzuführen – der kulturellen Integration seines viersprachigen Heimatlandes brüstet. Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Rede von der Helvetia mediatrix,1 dem Ideal einer zwischen den Sprachen und Kulturen vermittelnden Schweiz, wird eher als Programm denn als ernst zu nehmende Realität betrachtet. Meist wiegelt man ab: so weit sei das mit der Integration nun auch wieder nicht her, schließlich gäbe es ja den ›Kulturgraben‹ bzw. die ›barrière des röschtis‹. Damit ist das wichtigste Stichwort gefallen: Der so genannte ›Röschtigraben‹, die kulturelle Trennlinie zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz, ist mit Abstand die prominenteste Markierung auf jener imaginären, geopolitischen Schablone, auf der sich die helvetischen Binnendifferenzierungen abzeichnen. Symptomatisch ist diesbezüglich die Position von Christoph Büchi, dem seit vielen Jahren tätigen Westschweizkorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung und Autor eines Werks mit dem Titel: Röstigraben. Das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Schweiz: »Nur allzu oft bekommt man den Eindruck, dass die Sprachgruppen nicht miteinander, sondern bestenfalls nebeneinander, wenn nicht gar auseinander lebten – nicht Schulter an Schulter, und schon gar nicht Arm in Arm, sondern eher Rücken an Rücken.«2 In so manchen –––––––— 1

2

Vgl. Jean Lecoultre: La littérature nationale de la Suisse. In: Feuille centrale de Zofingue (1871) sowie in der deutschen Schweiz verschiedene Publikationen von Fritz Ernst in den 1950er Jahren: Vgl. Fritz Ernst: Europäische Schweiz, eine geistesgeschichtliche Studie. Zürich: Artemis 1961; ders.: Helvetia mediatrix. München u.a.: Verlag der Corona 1939; ders.: Der Helvetismus. Einheit in der Vielheit. Zürich: Fretz & Wasmuth 1954; ders.: Die Schweiz als geistige Mittlerin von Beat Ludwig von Muralt bis Jakob Burckhardt. Zürich: Verlag der Neuen Schweizer Rundschau 1932. Christophe Büchi: Röstigraben. Das Verhältnis zwischen deutscher und französischer

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Reden über binnenschweizer Differenzen trifft man auf diese ›Rücken-an-Rücken‹Metapher, sie ist mittlerweile ganz offensichtlich zum Topos geworden.3 Denn sie passt vortrefflich zur Metapher und zum Mythos des Kulturgrabens. Doch Mythen können, darauf weist der Untertitel des vorliegenden Sammelbandes hin, konstruiert und dekonstruiert bzw. destruiert werden. Ich möchte mit meinem Beitrag ein wenig zur Destruktion des Grabenmythos beitragen, den binnenschweizer Abgrund ein wenig zuschütten, verrücken, relativieren. Beispiele aus der Literatur dienen dabei als Belege und Indizien für bestimmte Diskurse, in denen die jeweiligen Differenzen geschaffen, aufgegriffen und verhandelt werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang vier Thesen aufstellen, die ich im Folgenden aufzeigen und diskutieren werde.

These 1: Der Schweizer Kulturgraben ist ein diskursiver Aus- und Irrläufer des deutsch-französischen Kulturgrabens. Es ist immer wieder verblüffend zu hören, mit welcher Selbstverständlichkeit vor allem eingefleischte Regionalisten, also reine Westschweizer oder authentische Deutschschweizer – meist ohne Lebenserfahrung in anderen Landesteilen – von einer anderen ›Mentalität‹ oder gar einer anderen ›Weltanschauung‹ sprechen, sobald sie sich über kulturelle oder politische Unterschiede in den verschiedenen Landesteilen äußern.4 Fragt man dann nach, worin diese mentalen und kulturellen Unterschiede denn bestünden, erfährt man außer anekdotischen Details meist nichts Weitergehendes als das spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert kolportierte Stereotyp vom eleganten bis dekadent-oberflächlichen Esprit der Franzosen, dem der etwas unbeholfen bäurische, doch tiefschürfende Geist der Deutschen gegenüberstehe. Was vor und nach der Französischen Revolution durchaus Sinn machte, als sich das deutsche Bürgertum seine nationale Identität in polemischer Abgrenzung von höfisch absolutistischen Machtritualen schuf, bzw. später, als die Werte des republikanischen Citoyen, des Bürgers der –––––––—

3

4

Schweiz. Geschichte und Perspektiven. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2000, S. 16. Vgl. auch den Sammelband Ders. (Hg.): De la Suisse dans les idées. Médias et conscience nationale. Vevey: Editions de l’Aire, 2006. Vgl. z.B. folgendes Urteil der Zürcher Germanisten Peter von Matt und Dirk Vaihinger: »Die Schweiz weiß sich politisch homogen, und sie weiß sich, wenn sie ehrlich ist, kulturell heterogen. Mindestens was die literarische Kultur betrifft. […] Die italienische und die französische und die deutsche Schweiz stehen, was ihr literarisches Leben betrifft, mit dem Rücken zueinander. […] Der Grund dafür ist einfach und zwingend. Deutschsprachige Literatur in der Schweiz ist deutsche Literatur, oder ist gar nichts.« Peter von Matt, Dirk Vaihinger: Nachbemerkung der Herausgeber. In P.v.M. (Hg.): Die schönsten Gedichte der Schweiz. München, Wien: Nagel & Kimche 2002, S. 229. Schon 1992 konstatierte von Matt »eine Sinnkrise des Gesamtnationalen«, die »man als den schleichenden Aufstand gegen Zürich« interpretieren könne. Peter von Matt.: Ein Land sucht sein wahres Gesicht. In: P.v.M.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München, Wien: Carl Hanser 2001, S. 123–130, hier S. 128. Vgl. das Interview mit dem Berner Linguisten Iwar Werlen in Feucroisé 3 (2001), S. 252–259, hier S. 254.

Mythos Kulturgraben

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Weltmetropole Paris gegen den tumben Untertanengeist einer rückständigen Agrargesellschaft abgegrenzt wurden, was also im 18. und 19. Jahrhundert Sinn machte, erscheint heute als ein fragwürdiges Repetieren obsolet gewordener Klischees, die als kulturelles Raster zudem für die Geschichte der Eidgenossenschaft ohnehin viel zu grobmaschig sind. Denn der Schweizer Föderalismus ist und war immer weitaus komplizierter und keineswegs deckungsgleich mit den Sprachgrenzen. Nicht zufällig sind, um nur ein immer noch aktuelles Beispiel zu nennen, bisher noch alle Versuche gescheitert, gegen die ökonomische und politische Hegemonie der Deutschschweiz, insbesondere des Zürcher Großraums, einen wirtschaftlich starken Kanton am Genfer See zu gründen. Vereine wie die in den 1980er Jahren gegründeten ›Helvetia latina‹ oder die ›Association romande de solidarité francophone‹ haben daran nichts geändert, auch nicht in den letzten Jahren die verschiedenen Vorstöße des ehemaligen Waadtländer Staatsrats Philippe Puidoux. Die Ablösung des französischsprachigen Jura von Bern bildet hier die große Ausnahme in einer ansonsten höchst stabilen politischen Landschaft. Betrachtet man das Kräfteverhältnis der Kantone und ihr föderalistisches Zusammenspiel nach differentialanalytischen Kriterien, so kommen neben den sprachlichen Differenzen, je nach historischem Zeitpunkt, mit ebenso großer Berechtigung konfessionelle und soziale Unterschiede ins Spiel, in den letzten dreißig Jahren vor allem auch der Gegensatz von urbaner und ländlicher Schweiz. In seinem Roman über die Schweizer Jugendbewegung nach 1968, der 1973 unter dem Titel Ich heiße Thomy veröffentlicht wurde, lässt Walter Matthias Diggelmann seinen Protagonisten, einen in Lausanne wohnenden 19jährigen Zürcher, die Westschweizer Binnendifferenzierungen folgendermaßen erklären: Man sagt immer, die französischen Schweizer seien viel progressiver, als zum Beispiel die Deutsch-Schweizer. Von den Tessinern nicht zu reden. Die Tessiner sind stockkonservativ und katholisch. Aber hier [in Lausanne, S.H.] ist auch nicht alles wie im Paradies. Sie sagen hier zwar immer, ja, ja, Revolution ist gut, aber macht sie langsam und ohne Lärm. Die Autokontrollschilder des Kantons Waadt […] tragen die beiden Buchstaben VD. Man sagt, das bedeute ›va doucement‹, geh leise oder auch langsam und sanft. In Genf hat Calvin gewütet, und das merkt man den alten Genfer Aristokraten heute noch an. Calvin hat die Formel erfunden ›Bete und arbeite‹. Da haben sie also nur gearbeitet und gebetet und alle Löhne zusammengespart, und somit sind die Banken entstanden. Andrerseits wollen die Genfer nichts mit den anderen Französisch-Schweizern zu tun haben. Sie sind keine Schweizer, sondern Franzosen, und ihre Hauptstadt ist Paris. Dafür gibt es in Genf die beste Oper und die meisten Night-Clubs und das Riesengebäude der UNO. Die Waadtländer sagen, die Genfer und die Neuenburger und die Walliser und die Freiburger seien keine richtigen französischen Schweizer.5

Freilich könnte man jetzt einwenden, die Möglichkeit der kulturellen Differenzierung sei immer eine Frage der optischen Nah- oder Ferneinstellung: aus der Nähe unterscheide sich eben alles von allem. Interessant an diesem Zitat von Walter Matthias Diggelmann ist jedoch weniger seine Lausanner Nahperspektive als vielmehr die Verschiebung des ›Röschtigrabens‹, wie der ›Kulturgraben‹ –––––––— 5

Walter Matthias Diggelmann: Ich heiße Thomy. Zürich: Rotpunkt-Verlag 1977, S. 28f.

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seit den 1970er Jahren scherzhaft heißt, um 200 Kilometer nach Westen.6 Während die durch 300 Jahre Berner Besatzung sozialisierten Waadtländer sich, nach diesem geokulturellen Modell, trotz des Zwischenspiels der Helvetischen Republik als echte Schweizer verstünden, läge der kulturelle Orientierungspunkt der Genfer außerhalb der Schweiz. Die traditionelle Kluft zwischen lateinischem und germanischem Kulturraum verliefe hier also zwischen Genf und Lausanne, und damit jenseits der Sprachgrenze, eine Auffassung, für die es womöglich ebenso viele und auch ebenso gute Argumente gäbe wie für die herkömmliche Definition eines an der Sprachgrenze entlang verlaufenden Kulturgrabens. Betrachtet man nun den Diskurs über diesen Graben und seine angeblich trennscharfen Kriterien vor der historischen Folie der allgemeinen französischdeutschen Kulturbeziehungen, und rückt man dabei – wie oft noch üblich – den politischen Antagonismus in den Vordergrund, so wird schnell klar, dass es sich um eine zwar scheinbar nahe liegende, doch letztlich in die Irre führende Vereinfachung handelt. Denn die binnenschweizer Geschichte mit ihren historischen Konflikten ist alles andere als ein Abbild der deutsch-französischen Divergenzen en miniature. Dies gilt, auch wenn es immer wieder Phasen gegeben hat, wie etwa zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in denen die Affinitäten der einzelnen Landesteile zu den gleichsprachigen Nachbarländern zeitweise zu Übertragungen außenpolitischer Konstellationen auf die Schweizer Innenpolitik führten.

These 2: Der Kulturgraben ist ein historischer Atavismus. Zu keinem geschichtlichen Zeitpunkt war der deutsch-französische Antagonismus für die Schweiz virulenter als zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Damit war eine völlig neue historische Situation geschaffen. Denn weder während des Sonderbundkrieges noch bei der Gründung des Bundesstaates verlief die Trennlinie zwischen den verfeindeten Parteien der Sprachgrenze entlang. Ausschlaggebend war zuvor vor allem die konfessionelle, nicht die sprachliche Zugehörigkeit. Um die Jahrhundertwende veränderten sich diese Konstellationen.7 Die Schweiz geriet mehr und mehr »in den zentrifugalen Sog der äusseren, gleichsprachigen Nationalismen«.8 Gegen diese Tendenz richteten sich nun bereits im Januar und Februar 1914 diverse Bemühungen von Schweizer Literaten und Literaturprofessoren. Der –––––––— 6 7

8

Vgl. Büchi: Röstigraben (Anm. 2), S. 258. Nicolas von der Weid, Roberto Bernhard und François Jeanneret nennen drei Gründe für diese Entwicklung: 1. die Einwanderung sozial bescheidener Bevölkerungsschichten von der Deutschschweiz in die Westschweiz und ein daraus entstehendes kulturelles Überlegenheitsgefühl der Westschweizer; 2. die durch sein wirtschaftliches Erstarken entstehende Anziehungskraft des Deutschen Reiches; 3. der außenpolitische Druck Deutschlands und Frankreichs auf die Schweiz. N.v.d.W., R.B., F.J.: Bausteine zum Brückenschlag zwischen Deutsch- und Welschschweiz. Eléments pour un trait d’union entre la Suisse alémanique et la Suisse romande. Biel: Editions Libertas Suisse 2002. S. 24ff. Ebd., S. 26.

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Genfer Alexis François, der Freiburger Gonzague de Reynold und der Waadtländer Robert de Traz bereiteten ein von 180 Intellektuellen und Politikern besuchtes Treffen vor, bei dem die ›Neue Helvetische Gesellschaft‹ gegründet wurde, deren Ziel die Erhaltung der nationalen Einigkeit war. Im Dezember 1914 folgte der legendäre Aufruf Carl Spittelers unter dem Titel Unser Schweizer Standpunkt, dem weitere, ähnlich gelagerte Äußerungen folgten, in der Westschweiz unter anderen von Paul Seippel. Spittelers Forderung nach strikter Neutralität ist nur verständlich aus dieser ganz spezifischen historischen Situation: Die Feinde des deutschen Reiches sind nicht zugleich unsere Feinde. Wir dürfen uns daher von dem gleichsprachigen Nachbarn, weil wir seine Zeitungen lesen, nicht seine kriegerischen Schlagworte und Tagesbefehle, seine patriotischen Sophismen, Urteilskunststücke und Begriffsverrenkungen in unser Heft diktieren lassen. […] Wir müssen uns enger zusammenschliessen. Dafür müssen wir uns besser verstehen. Um uns aber besser verstehen zu können, müssen wir einander vor allem kennen lernen. Wie steht es mit unserer Kenntnis der französischen Schweiz? und ihrer Literatur und Presse?9

Und aus welscher Perspektive pflichtet ihm Paul Seippel im Oktober 1916 bei. Folgendes äußert Seippel über die Deutschschweizer: »Nous devons apprendre à les aimer avec leurs qualités et leurs défauts. Ils sont différents de nous? Eh bien, tant mieux, c’est plus intéressant.«10 Es folgt eine über mehrere Seiten sich erstreckende Auflistung kulturpsychologischer Differenzen, in der keines der traditionellen Klischees fehlt. Die Deutschschweizer sind »sachlich und gründlich«,11 ernsthaft, bescheiden, bodenständig, phantasielos, diszipliniert, verantwortungsbewusst, sie sind verschwiegen bis mundfaul, usw., usf. Und Seippel schließt mit einer Bemerkung, die typisch ist für eine Zeit, in der die geistesgeschichtliche Hermeneutik den dominanten Verstehenszugang auch zu politischen Phänomenen bildete: »Les différences de réaction des deux parties de la Suisse, dans la guerre actuelle, viennent de ces divergences psychologiques préexistantes.«12 Hier ist Völkerpsychologie die Folie, vor der sich die politischen und militärischen Konflikte des Ersten Weltkriegs entfalten. Das in dieser Zeit entstehende Bild des deutsch-welschen Grabens lag von nun an bereit und konnte bei neuerlichen Konflikten sofort reaktiviert werden, beispielsweise als es 1920 um den kontrovers diskutierten Beitritt zum Völkerbund ging. Eine der ideologischen Konstanten des ›Graben-Diskurses‹ war von Anfang an die relative Weltoffenheit der Romandie, die einer eher verschlossenen bis fremdenfeindlichen Haltung der deutschschweizer Kantone gegenüber stand. Das war nicht nur 1920, sondern auch bei den Abrüstungsinitiativen in den 1950er Jahren, den sogenannten Chevallier-Initiativen der Fall, später wieder bei den Abstimmungen über die legendären Schwarzenbach-Initiativen bis hin zur Abstimmung über den UNO-Beitritt 1986. Dass sich aber auch hier –––––––— 9 10 11 12

Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. Vortrag, gehalten in der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich, am 14. Dezember 1914. Zürich: Rascher Verlag 1915, S. 17, 20. Paul Seippel: Vérités helvétiques. Edition Sonor, Genève o.J. [1917], S. 23. Ebd., S. 24 (im Original auf Deutsch). Ebd., S. 32.

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die Standpunkte inzwischen angeglichen haben, zeigen zahlreiche Abstimmungsergebnisse jüngeren Datums. Persönlichkeiten wie Seippel, die als Publizisten oder als Literaturprofessoren – in vielen Fällen in dieser Doppelrolle – zwischen der Deutschschweiz und der Romandie vermittelten, bildeten dann auch das Vorbild für die Figur des Gaston Junod, den Meinrad Inglin in seinem zwischen 1931 und 1938 entstandenen Schweizerspiegel als Sprachrohr des Helvetismus, bzw., um mit Spitteler zu sprechen, des »nationalen Standpunkts« auftreten lässt.13 In diesem historischen Monumental-Roman von nahezu 1000 Seiten, der durch die politische Situation der späten 1930er Jahre natürlich auch einen evidenten Aktualitätsbezug aufweist, rückt Inglin die historischen Konstellationen, sozialen Konflikte und politischen Diskurse der Schweiz ab 1912 am Beispiel einer Zürcher Großbürgerfamilie und deren Umfeld ins Bild. Die Frage der nationalen Einheit wird dabei aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Besonders virulent wird das Problem – im Roman völlig analog zur historischen Realität – zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als sich nach der Besatzung des überwiegend französischsprachigen Belgien eine unmittelbare Bedrohung für die Schweiz abzuzeichnen scheint. Was in der französischen Schweiz als evidente Gefahr empfunden wird, stößt in der deutschen Schweiz auf ambivalente Reaktionen. Die Sympathien mit dem Deutschen Reich und die Angst vor einer Okkupation halten sich die Waage. Die Wahl des kriegsführenden Generals wird dabei zur Nagelprobe für die politische Orientierung der Schweiz. Gewählt wird schließlich ein mit dem deutschen Kaiser bekannter, wenn nicht gar befreundeter Offizier.14 In der Einleitung zum 5. Teil des Romans deutet Inglin den innenpolitischen Gegensatz als Folge der unterschiedlichen außenpolitischen Loyalitäten: Die Wirksamkeit der aufgerührten Gegensätze dauerte in der Schweiz ebenso fort wie im kriegsführenden Europa; der ›Graben‹ zwischen welschen und deutschen Eidgenossen gewann manchmal […] den Anschein einer Verlängerung des ungeheuren Grabensystems zwischen Deutschland und Frankreich.15

Es folgen einige Beispiele für jene fiebrige »Reizbarkeit« und den »vergifteten Mißmut«, den der Erzähler zu Beginn des Krieges konstatiert: Krawalle, politische Skandale und dergleichen.16 Die Stimmung in der Westschweiz wird folgendermaßen wiedergegeben: »[Die welsche Presse] behauptete mit verblüffender Heftigkeit, der reichsdeutsche Einfluß habe in der alemannischen Schweiz entscheidend überhandgenommen, das Volk hänge germanophilen Gedanken nach, und die Neutralität sei dort nur mehr ein leeres Wort.«17 Im Folgenden werden die gegensätzlichen Positionen in einem Streitgespräch inszeniert, das mit dem empörten Ausruf endet: »Die Welschen sind eine Saubande!«18 Wie –––––––— 13 14 15 16 17 18

Vgl. Anm. 9. Vgl. Meinrad Inglin: Schweizerspiegel. Berlin: Ullstein 1998, S. 277ff. Ebd., S. 601. Ebd. Ebd., S. 602. Ebd. Auf der Gegenseite heißt es: »Die deutschen das kultivierteste Volk? Das ist doch un-

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schwer es der Westschweizer Helvetismus hat, sich gegen die Sympathien für Deutschland durchzusetzen, zeigt Inglin dann am Beispiel von Junod, den er explizit als Mitstreiter und Verbreiter des Spitteler-Standpunkts konzipiert: Die Anteilnahme der Welschen und der Deutschschweizer am Schicksal ihrer sprachverwandten Nachbarvölker geschah in den mannigfachsten Formen und Stärkegraden, von der bedingten, stummen Sympathie bis zum leidenschaftlichen Bekenntnis. […] Die Eidgenossenschaft wurde jetzt von innen her gefährdet; […] Angesehene Männer traten auf, um das Volk zu warnen und zu belehren. Den Reigen hatte, denkwürdig genug, ein abseits lebender Dichter eröffnet, Carl Spitteler, der im Dezember 1914 mit einem besonnenen Wort an die entzweiten Eidgenossen unerwartet aus seiner wachen Einsamkeit herausgetreten war. Ihm folgten Professoren, Schriftsteller, Parlamentarier, Journalisten, Leute der verschiedensten Herkunft und Gesinnung, die sich nun freilich oft selber in die Haare gerieten. […] In diese Diskussion hatte aus Sorge um sein Vaterland Professor Junod eingegriffen, und er machte jetzt dieselben Erfahrungen, die seine Vorgänger in beiden Lagern erbittert hatten und die kaum einem seiner Nachfolger erspart bleiben sollten. […] Der gute Junod wurde öffentlich mißverstanden, verdächtigt, verhöhnt und von den eigenen Verwandten im Stiche gelassen.19

Heute sind Spannungen und Konflikte, die sich tatsächlich zwischen den Sprachgemeinschaften abspielen, beispielsweise in der Sprachen- und Bildungspolitik, wenn es um die Frage der Priorität von Frühenglisch oder Frühfranzösisch geht, äußerst rar. Andere Konflikte, die immer wieder auf die bereits erwähnten vermeintlichen Mentalitätsunterschiede zurückgeführt wurden, etwa in der Rüstungspolitik, der Asylpolitik, der Europapolitik oder der Verkehrs- und Umweltpolitik, erweisen sich bei genauerer Analyse von Umfragen und Abstimmungsergebnissen meist als keineswegs sprachgebunden. Basel-Stadt und der Kanton Genf beispielsweise liegen in den Ergebnissen oft viel enger beieinander als etwa Basel und Luzern oder Basel und St. Gallen.

These 3: Das Bild des Grabens oder der Barriere dient als sinnliches Orientierungsschema bei der Mythisierung und Ideologisierung des Kulturraums. Definieren Strukturalisten wie Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson die Sprache als ein System von Relationen, als ein Zusammenspiel von Äquivalenz und Differenz, so überträgt Claude Lévi-Strauss in den 1940er Jahren diesen Ansatz auf soziokulturelle und ethnologische Phänomene. Eine Gesellschaft ist eine symbolische Struktur, deren Kohärenz auf einem Geflecht von semiotischen Bezügen basiert. Welcher Art diese Bezüge sind, das heißt wie sich der Realitätsbezug (bzw. die Beziehung von Zeichen und Referenz) konstituiert – das hat Lévi-Strauss an etlichen Beispielen gezeigt – ist dabei eher sekundär. –––––––—

19

glaublich! Ein Volk, das so unverfroren nur immer auf seine Macht pocht und mit dem Säbel rasselt, das vor jeder Uniform in die Knie fällt […]. Wie kann man als Schweizer überhaupt auf solche Einfälle kommen! Die Deutschen werden uns so bald als möglich in den Sack stecken. Vom Standpunkt der Macht aus haben wir keine Existenzberechtigung, unser ganzes Dasein beruht auf Recht und Freiheit, und das heißt für uns Frankreich...« Ebd., S. 266. Ebd., S. 488ff.

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Entscheidend ist, so Lévi-Strauss, »daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht«.20 Solche Konstrukte sind ideologische Vorstellungen, kulturelle Repräsentationen und, in einem erweiterten Sinne, Mythen. Man könnte daher nun ein wenig überspitzt schlussfolgern: Die Idee eines an den Sprachgrenzen verankerten Schweizer Kulturgrabens hat nicht mehr mit der Wirklichkeit gemein als etwa die kosmologischen Raumvorstellungen des von Lévi-Strauss untersuchten Bororo-Stammes im Brasilianischen Regenwald. Die Konstruktion von Auto- und Heterostereotypien, die Bildung von ›Ingroups‹ und marginalisierten ›Outgroups‹ folgt weder den empirischen Gegebenheiten, noch rational eindeutig nachvollziehbaren Kriterien. Sie ist diffus und orientiert sich an möglichst simplen Markierungen wie Hautfarbe, sprachlicher Differenz, Geschlecht etc. Kulturanthropologie und Genderforschung haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder auf diese Zusammenhänge hingewiesen. Das Erinnern und Beharren auf gedanklichen Abstrakta wie ›Willensnation‹ oder ›Helvetik‹ scheint solch sinnlich unmittelbar einleuchtenden Kriterien unterlegen. Charles Ferdinand Ramuz, der im Gegensatz zu vielen Intellektuellen in der Romandie keineswegs als Anhänger des Helvetismus hervortrat, sondern noch in den 1930er Jahren einen dezidierten Regionalismus vertrat und damit sogar die Schweizer Öffentlichkeit gegen sich aufbrachte, publizierte 1922, gewissermaßen im Vorfeld zu seinen späteren und bekannteren Walliser-Romanen einen heute nur noch wenig beachteten Roman, in dem der Kulturgraben eine mythologische, ja nahezu surreal phantastische Dimension erhält. Bereits der programmatische Titel La Séparation des Races verweist auf den strikten Antagonismus der Grundkonstellation. Der Terminus ›Rasse‹ ist bei Ramuz, durchaus noch im Sinne einer naturalistischen Biologie und Anthropologie, als deterministische und kulturprägende Kategorie zu verstehen. Kurz zur Handlung: Firmin, ein frankophoner Hirte aus dem Unterwallis, begegnet auf einer Bergwiese einer deutschsprachigen Oberwalliserin, die, wie so oft bei Ramuz, ›Frieda‹ heißt,21 groß und blond ist und auf Firmin eine ganz besondere erotische Faszination ausübt. Firmin und seine Freunde entführen das Mädchen, wobei deren jüngerer Bruder zu Tode kommt. Frieda verbringt sodann den Winter als Gefangene im Dorf, geht scheinbar auf Firmins Avancen ein. In Wirklichkeit befreundet sie sich mit einem zweisprachigen Händler, der ihre Kassiber aus dem Dorf und über den Berg nach Hause schmuggelt. Nach der Schneeschmelze dringen die Deutschschweizer ins Dorf ein, befreien das Mädchen, töten Firmin und zerstören die Häuser. Entscheidend bei dieser Dramatisierung und Mythologisierung der sprachlichen und kulturellen Gegensätze als naturgewolltes Fatum, in denen sich eine nicht zuletzt gegen kosmopolitische und internationalistische Tendenzen gerichtete Poetik des Regionalen und Singulären artikuliert, ist nun die Topo–––––––— 20 21

Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 301. Vgl. z.B. seinen frühen Roman Charles-Ferdinand Ramuz: Les circonstances de la vie. Lausanne: La Guilde du Livre 1953.

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graphie des Schauplatzes. Der Kulturgraben befindet sich hier nämlich in der Höhe: der Gipfel des Berges scheidet zwei soziale Gruppen, die sich sowohl sprachlich wie auch von den Lebensgewohnheiten fremd gegenüber stehen. Man begegnet sich nicht und man weiß auch nichts von den anderen: C’est qu’il y avait ceux qui sont de l’autre côté de la chaîne, ceux de là-bas, ceux d’au delà du col, du côté du nord; – alors, là-bas, ils parlent une autre langue, ils croient à un autre Dieu. Ils sont habiles, ils sont d’une autre espèce, ils sont nombreux, ils sont entreprenants;22

Die strenge syntaktische Symmetrie, das genau bemessene Zusammenspiel von Äquivalenz und Opposition, die überdeutlichen deiktischen Bezüge (»die auf der anderen Seite, die da drüben, die auf der Nordseite« usw.) konstituieren einen symbolischen Raum, der seine bildliche Entsprechung in jenem Berg findet, der beide ›Rassen‹ voneinander trennt. Die ›Ingroup‹ wird hingegen durch das fast litaneihaft wiederholte Attribut »le même« markiert. So gleichen sich die Frauen des Dorfes in ihren Trachtenkleidern bis in die Anzahl der Rockfalten hinein: »Elles ont toutes le même costume, la même grosse jupe de gros drap avec le même grand nombre de plis; elles ont sur la tête le même mouchoir gris à dessins noirs qui sont leurs mouchoirs de semaine.«23 ›Dasselbe‹, ›das andere‹, ›da drüben‹, ›auf der anderen Seite›: Ramuz arbeitet hier mit ganz primitiven, geradezu archaischen Sprach- und Raumzeichen und konstruiert dabei einen poetischen Raum, dessen Semantik weniger von den empirischen Gegebenheiten der 1920er Jahre als vielmehr von Ramuz’ eigenen geschichts- und kulturphilosophischen Ansichten bestimmt ist. Noch sein Aufruf zu nationaler bzw. richtiger: regionaler Größe, sein Essay Besoin de grandeur aus dem Jahr 1938 postuliert eine aus der Differenz gewonnene Identität: Le bon sens nous montre qu’on peut bien concevoir un homme abstrait qui serait partout le même, mais qu’il n’en existe pas moins un homme concret, dont la figure réelle varie indéfiniment de l’un à l’autre bout de la terre. Comment nous agrandir, alors, sinon selon nous-mêmes?24

Sehr viel dezenter inszeniert Max Frisch solche topographischen Orientierungslinien in seinem nicht weniger um das Thema der persönlichen und nationalen Identität kreisenden Roman Stiller von 1954. Im »Nachwort des Staatsanwaltes«, dem letzten Teil des Romans, wird eine Art landschaftliches ›huis clos‹ entworfen: Stiller und seine Frau haben sich in eine Pension, später in ein heruntergekommenes Gartenhaus bei Montreux am Genfer See zurückgezogen. Stiller hat keine Arbeit und kein Auskommen mehr, seine Frau ist sterbenskrank. Dieser Situation der völligen sozialen Isolierung, ja der existentiellen Sackgasse, entspricht, das zumindest suggeriert der Erzähler, das fade, unwirkliche Ambiente, ja die Leblosigkeit des Ortes. Die Gegend bestehe, so erinnert sich –––––––— 22

23 24

Charles-Ferdinand Ramuz: Œuvres complètes. Hg. von Gustave Roud und Daniel Simond. Lausanne: Editions Rencontre 1968. Bd. 11: La Séparation des Races. La Grande Peur dans la Montagne. S. 13f. Ebd., S. 30. Charles-Ferdinand Ramuz: Besoin de Grandeur. Lausanne: Rencontre 1937, S. 112.

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der Erzähler, »aus lauter Hotels, Tennisplätzen, Seilbähnchen und Chalets mit Türmchen und Gartenzwergen«.25 Die Stillers bewohnen in unausgepackten Koffern ein »beziehungsloses Hotelzimmer an einem toten Kurort«26 und fühlen sich als »ein schweizerisches Inland-Emigranten-Ehepaar«,27 ein Eindruck, den der Erzähler dann folgendermaßen bekräftigt: »Sie kamen uns wie Russen in Paris vor, oder wie meine Frau meinte: wie deutsche Juden in Neuyork; nichts gehörte zu ihnen.«28 Emigranten im eigenen Land, isoliert, ja ausweglos gefangen in einem touristischen Niemandsland am Genfer See: Auch dieses Bild der Westschweiz als eines von der Vita activa, vom wirtschaftlichen und politischen Leben gesonderten Ortes, an dem man sich »schon beinahe am Mittelmeer« wähnt,29 so fremd und unwirklich wie er erscheint, gehört ebenfalls zu den einschlägigen Klischees, die den Mythos ›Kulturgraben‹ konstituieren und in den frühen 1950er Jahren beispielsweise die Funktion haben, den Wirtschaftsboom perspektivisch auf die deutsche Schweiz zu lenken.

These 4: Der Kulturgraben ist ein paradoxes, da letztlich auch nützliches Schreckgespenst. Zwar erfüllt der Mythos vom Kulturgraben auch gewisse politische Funktionen, z.B. gestattet er es, insbesondere der frankophonen Minderheit, auf bestimmte Probleme aufmerksam zu machen, doch als Leitmetapher der binnenschweizer Kulturbeziehungen ist er ungeeignet, da irreführend. Denn vieles deutet darauf hin, dass sich die zentrifugalen und die zentripetalen Kräfte die Waage halten, ja, dass die Rede und auch die Klage über den Röschtigraben vor allem dazu dienen, diesen so klein wie möglich zu halten. Dort, wo man nicht darüber redet, ist er vermutlich am tiefsten. Was kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit der Gründung der ›Pro Helvetia‹ und damals noch unter der Fahne der so genannten ›Geistigen Landesverteidigung‹ begann, hat mittlerweile zahlreiche Nachkommen erhalten. Die Schweizer Kulturlandschaft ist inzwischen voller Projekte und Institutionen, denen es ganz explizit um die Überwindung des Kulturgrabens geht. Beginnen könnte man die Aufzählung mit der in den 1980er Jahren begonnen Revision des Sprachenartikels und den damit verbundenen Reformen.30 Zu erwähnen wären sodann diverse Aktivitäten der ›Pro Helvetia‹, wie die Förderung von Übersetzungen oder die Eröffnung des ›Centre culturel suisse‹ in Paris, gefolgt von der Gründung des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern, in dem Nachlässe aus allen Landesteilen von einem viersprachigen Team betreut werden. Weiter geht es mit der seit Jahren vom Schweizer Rundfunk und Fernsehen propa–––––––— 25 26 27 28 29 30

Max Frisch: Stiller. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978, S. 388. Ebd. Ebd., S. 389. Ebd. Ebd., S. 396. Vgl. auch: René Knüsel: Plurilinguisme et enjeux politique. Lausanne: Payot 1994.

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gierten ›Idée suisse‹, mit der Fusion der beiden Schriftstellerverbände, die ja bis in die 90er Jahre hinein de facto auch weitgehend eine sprachliche Trennungslinie aufwiesen, sowie der kürzlich erfolgten Gründung des zweisprachigen Literaturinstituts in Biel. Hinzu kommt ein erster Lehrstuhl für Mehrsprachigkeit an der Universität Fribourg und, in den nächsten Jahren, ein vom Bund finanziertes Institut für Mehrsprachigkeit. Diese Liste ist keineswegs vollständig, gerade im Bereich ›Theater und Tanz‹ sind vor kurzem eine ganze Reihe von entgrenzenden Projekten und Fördermaßnahmen gestartet. Doch wäre es andererseits sicher unklug, ja fatal, jetzt Entwarnung zu geben und öffentlich das Versanden des Kulturgrabens zu feiern. Im Gegenteil: Die eidgenössische Kulturpolitik braucht den Mythos vom Graben. Solange nämlich die Protagonisten der Schweizer Kultur- und Bildungspolitik fest an ihn glauben und dabei so manches tun, um ihn möglichst seicht zu halten, solange bleibt das, was Außenstehende an der Schweiz so bewundern, auch erhalten. Eine funktionierende, d.h. dynamische Integrationskultur gibt es wohl nur, solange sie nicht zur Selbstverständlichkeit verkommt.

Christa Baumberger

An den Kreuzungen der Sprachen Texte von Yusuf Yeúilöz und Dragica Rajþiü Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.1

Literaturen der Migration Der Fremde, wie Georg Simmel ihn in seinem Exkurs über den Fremden konturiert, ist ein »potenziell Wandernder« und damit ein unsteter Bleibender. Seine im doppelten Wortsinn zu verstehende »Gelöstheit« beruht auf einer Verortung ohne Verwurzelung. »Weil er nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist«, so Simmel, »steht er allen diesen mit der besonderen Attitüde des ›Objektiven‹ gegenüber, die nicht etwa einen blossen Abstand und Unbeteiligtheit bedeutet, sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit ist.«2 Die Dialektik von Ferne und Nähe, Exklusion und Involviertheit, von innen und aussen kennzeichnet ihn. Das Fremde an ihm ist objektiv nur schwer fassbar, es wird im Austausch mit den anderen, den Einheimischen, diskursiv erzeugt. Damit bewegt er sich nicht ausserhalb, sondern in einem strukturierten Feld von vorgeformten Diskursen und Stereotypen. Deutlich wird, dass der oder das Fremde nicht einfach das Andere ist, welches ausgeschlossen und auf diese Weise gebannt werden kann. Eine solche Sichtweise deutet vielmehr auf ein gegenseitiges Durchdringen des ›Fremden‹ und ›Eigenen‹ hin. Die breit gefächerten Debatten um die Literaturen der Migration befassen sich – implizit oder in direktem Rückgriff auf Simmel – mit den vielfältigen Ausprägungen von Figuren des Fremden.3 Im Unterschied zur Reise wird Migration –––––––— 1 2 3

Georg Simmel: Exkurs über den Fremden (1908). In: G.S.: Gesamtausgabe, Bd. 11. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 764–771, hier S. 764. Ebd., S. 766. Für den deutschen Sprachraum hat die von Alois Wierlacher gegründete und geleitete Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik wegweisende Publikationen hervorgebracht. Vgl. u.a. Alois Wierlacher (Hg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München: Iudicium 1985. Als Synthese der jahrzehntelangen Forschungstätigkeit kann das folgende Lexikon gelten: Alois Wierlacher, Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003. Zur Begriffsdebatte vgl. u.a. Werner Nell: Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten. In:

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als eine Bewegung ohne festes Ziel verstanden, charakterisiert durch eine häufig unmögliche Heimkehr und eine ungewisse Ankunft. Der Migrant wohnt »auf den Kreuzungen der Welt«:4 Mit dieser Metapher bezeichnet Chambers nicht nur den unfesten Ort des Migranten, sondern auch dessen Habitus als »potenziell Wanderndem«, der, obwohl unterwegs, dann eben doch bleibt. So verstandene Fremdheit ist eine Interferenzerfahrung, die immer auch sprachlich geprägt ist, denn auf den »Kreuzungen der Welt« treffen die Sprachen aufeinander. Es handelt sich um eine gegenseitige Befremdung, die bewirkt, dass »Sprache nicht mehr als Ausdruck einer einzigen Tradition oder Geschichte erfahren werden kann, auch wenn sie so tut, als hätte sie nur einen Namen.«5 Es resultieren daraus Situationen der Mehrsprachigkeit, in der die Sprachen nicht unbeteiligt nebeneinander stehen, sondern sich in gewissem Sinne gegenseitig ›demaskieren‹. Die »wechselseitige Erhellung mit einer anderen Sprache«, so Bachtin, beleuchtet »im Prozess des literarischen Schaffens gerade die ›weltanschauliche‹ Seite der eigenen (und der fremden) Sprache, ihre innere Form, das ihr eigene System der Bewertung und Akzentuierung«.6 Die Sprachen verzahnen sich ineinander, wobei einzelne Äusserungen, Wörter, Sätze, widerständig hervortreten. Als Sprechen in »Anführungszeichen« bezeichnet Bachtin solche semantischen, morphosyntaktischen, lexikalischen oder auch prosodischen Differenzen: Viele [Wörter, Ch. B.] leisten hartnäckig Widerstand, andere bleiben auch dann noch fremd, klingen im Mund eines Sprechers, der sie sich angeeignet hat, fremd, können seinem Kontext nicht assimiliert werden und fallen aus ihm heraus; sie setzen sich gleichsam von sich aus, ohne Rücksicht auf den Willen des Sprechers in Anführungszeichen.7

Der bzw. das Fremde in literarischen Texten kann folglich nicht einfach auf der Figurenebene geortet werden, sondern es ist das sprachliche Gewebe des Textes als Ganzes in den Blick zu nehmen; neben inhaltlichen hat man hat es stets auch mit sprachlichen und poetologischen Phänomenen zu tun.8 Wer auf den »Kreuzungen der Welt« wohnt, verfolgt den komplexen Verlauf der eigenen Wurzeln besonders sensibel, denn die eigene Unbehaustheit fordert zur Auseinandersetzung mit Traditionen und zur (vorläufigen) Positionierung –––––––—

4

5 6 7 8

Nasrin Amirsedghi, Thomas Bleicher (Hg.): Literatur der Migration. Mainz: Kinzelbach 1997, S. 34–48. Iain Chambers: Migration, Kultur, Identität. Tübingen: Stauffenburg 1996, S. 5. Zur Unterscheidung von Reise und Migration vgl. ebenfalls Chambers: »Denn Reisen impliziert eine Bewegung zwischen festen Punkten, einen Abreiseort, einen Ankunftspunkt und die Kenntnis einer Route. Es deutet auch eine mögliche Rückkehr, eine potentielle Heimkehr an. Im Gegensatz dazu bedeutet Migration eine Bewegung, in der weder Orte der Abreise noch die Ankunft unveränderlich oder sicher sind. Sie verlangt nach einem Wohnen in Sprache, in Geschichtlichkeiten, in Identitäten, die ständiger Wandlung unterworfen sind«, S. 6. Ebd., S. 5. Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 319. Ebd., S. 185. Vgl. dazu auch die Einleitung in Corina Caduff (Hg.): Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur. Zürich: Limmat 1997, S. 7–15.

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heraus. Wer sich entschliesst zu schreiben, so könnte die weitere These lauten, ist besonders sensibel für die sprachliche Verfasstheit dieser Situation. Und die besondere ästhetische Qualität der entstehenden Texte könnte im bewussten Gestalten und Erzeugen von sprachlichen Differenzen bestehen. Denn diese Texte sind keineswegs ›ortlos‹, sie haben ganz im Gegenteil mehrfache kulturelle Bezugspunkte, ihre Vernetzung ist besonders intensiv. Genährt werden sie sowohl durch die Referenz auf das kulturelle Herkunftssystem als auch die Bezüge zur aktuellen Umwelt. Jeder – vor dem Hintergrund einer individuellen biographischen Migrationsgeschichte heraus entstandene – Text bildet für sich einen Brennpunkt, in dem über kulturelle Zugehörigkeit, über Ein- und Ausschluss verhandelt wird. Wie alle Literatur treten sie in ein Verhältnis zum aktuellen literarischen Feld, aber auch zu literarischen Traditionen. Nur ist dieses Verhältnis häufig besonders spannungsvoll und damit auch fruchtbar. Das Wohnen auf den Kreuzungen der (literarischen) Welt, um ein letztes Mal diese Metapher aufzugreifen, bedingt nicht die eindeutige Entscheidung für den einen oder anderen ästhetischen und poetologischen ›Weg‹. Es fordert aber dazu heraus, sich mit den verschiedenen Möglichkeiten zu befassen, das Temporäre, Unentschiedene ästhetisch auszuschöpfen und zu gestalten. Werner Nell unterscheidet vier Funktionen, welche die Literaturen der Migration auszeichnen: Selbsterhaltung und Selbstrepräsentation, Publikumsansprache, Entwurf von Reflexions- und Stimmungsräumen, sowie Arbeit an den Möglichkeiten interkultureller, pragmatischer, träumerischer, poetischer und/oder utopischer Synthesen.9 Einerseits heben diese Kategorien die autobiographische und sozialhistorische, je nachdem auch politische Dimension hervor. Andererseits sind sie sehr allgemein: Entwirft nicht jeder Text seinen eigenen Stimmungsraum? Wenn im Folgenden zwei in der Deutschschweiz lebende Autoren mit Migrationshintergrund fokussiert werden, geht es nicht darum, diese aufgrund klar festgelegter Kriterien den Migrationsliteraturen zuzuordnen. Denn dieses Label verstellt den Blick auf die Texte nur allzu leicht. Ich möchte die Figuren des Fremden auf der inhaltlich-thematischen und der sprachästhetischen Ebene verfolgen. In einem nächsten Schritt lassen sich dann Bezüge zu Texten von sogenannten Schweizer Autoren herstellen. Gemeinsamkeiten und Differenzen treten in ein produktives Verhältnis zueinander. Es wird deutlich, dass auf beiden Seiten am Attribut ›schweizerisch‹ gearbeitet wird, und sich die ästhetische Qualität der Texte häufig an den Querbezügen zwischen Fremdsprachen und Sprachfremde ablesen lässt.

Yusuf Yeúilöz: Vermittler zwischen zwei Kulturen Der seit 1987 in der Schweiz lebende kurdischstämmige Autor Yusuf Yeúilöz positioniert sich mit seinen Selbstaussagen mitten im Diskurs zu Migration, –––––––— 9

Nell: Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten (Anm. 3), S. 45.

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kultureller Zugehörigkeit und Identität und entwirft dabei eine Raumtopographie: »Meine Bücher und Kolumnen sind Früchte der Fremdheit. Die zwei Kulturen sind für mich wie zwei Strassen. Häuser und Bäume sind verschieden, aber ich kenne beide und ich gehe durch beide.« Und im selben Interview: »Ich stehe auf einer Brücke.«10 Yeúilöz sieht sich als Vermittler zwischen zwei Kulturen, im Unterschied zu Chambers lassen seine Aussagen jedoch vermuten, dass er von einem Konzept von differenten, klar voneinander geschiedenen Kulturen ausgeht: Als Schriftsteller verstehe ich mich als jemanden, der Bilder von einer Kultur vermittelt, die der Schweizer Kultur fremd ist. Ich bin froh, dass ich diese Bilder heute direkt, ohne den Umweg über eine Übersetzung, vermitteln kann. Natürlich wird Deutsch nie meine Muttersprache sein – aber die sprachlichen Probleme haben auch positive Auswirkungen, indem ich mich auf die Bildsprache zu konzentrieren versuche.11

Als Autor übernimmt er selber die Funktion eines Übersetzers, der fremde (Sprach-)Bilder ins Deutsche überträgt. Die Brückenmetapher und die Chiffre des Autors als Übersetzer gehören eng zusammen. Der Übersetzer setzt über, er ist ein Fährmann. Damit verweisen beide Ausdrücke auf einen Wechsel von der einen Seite zur anderen. Es wird so das Bild eines Zwischenraums und einer Position im Dazwischen evoziert, wie sie für den interkulturellen Dialog charakteristisch sind.12 Sie suggerieren aber auch, dass es auf beiden Seiten ein heimisches Ufer und einen direkten Verbindungsweg von hier nach dort gibt. Die Nähe zu einem essenzialistisch geprägten Kultur-Dualismus ist unverkennbar. Nell verweist darauf, dass Fremdheit eine Interferenzerfahrung sei, »die das Gewebe der Kultur selbst ausmachen und die gestalten zu können, die grundlegende Funktion der Kunst darstellt«.13 Vor dem Hintergrund einer Migrationsbiographie erhält die sprachkünstlerische Bearbeitung von Fremdheitserfahrungen eine existenzielle Komponente. Diese »Selbsterhaltungs- und Selbstrepräsentationsdimension« drückt sich häufig in autobiographischen Schreibweisen aus. Es geht darum, dem »Sog des Verstummens und Verschwindens (in sozialer Hinsicht) eine Eigenbewegung entgegenzusetzen«.14 Yeúilöz bringt diese Suchbewegung auf folgende Formel: »Dass ich schreibe, hat sehr viel mit meinem Fremd-Sein hier zu tun.«15 Als Fremder ist er nicht nur Vermittler zwischen den Kulturen, –––––––— 10 11

12

13 14 15

Interview im St. Galler Tagblatt, 13.3.2002. Yusuf Yeúilöz im Gespräch mit Bettina Spoerri. Zusammen mit einem Essay erstmals in französischer Übersetzung publiziert in: Feuxcroisés 7 (2005), S. 91–103. Der deutsche Originaltext ist abrufbar unter www.seismograf.ch/Bibliothek/Texte/print_yesiloez.htm (Zugriff am 25.10.2008). Im Folgenden wird aus dem deutschen Original zitiert, ohne Seitenangaben. Vgl. beispielsweise die Beiträge in Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg 1997. Zur Raummetaphorik vgl. den Aufsatz von Monika Schmitz-Emans: »Die Wortgewalt des Kanaken«. Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit. In: Ulrich Schödlbauer et al. (Hg.): Migration. Die Erzeugung von Zwischenwelten. Heidelberg: Manutius 2002, S. 94–114 (= IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse 1). Nell: Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten (Anm. 3), S. 38. Ebd., S. 43. Gespräch mit Bettina Spoerri (Anm. 11).

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sondern auch eine Art Leerstelle, die ihre Konturen erst im Prozess des ›zur Sprache Kommens‹ gewinnt. Dass Yeúilöz gerade als Fremder besonders disponiert ist, für sich und andere ein Sprachrohr zu sein, erinnert an Simmel, der den Habitus des Fremden als eine komplexe Mischung von Distanziertheit und Involviertheit begreift. Mit der »Objektivität des Fremden« geht für Simmel einher, dass dem Fremden »oft die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte, entgegengebracht werden, die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält«.16 Nicht zufällig ist Yeúilöz auch als Dokumentarfilmer tätig und übernimmt als solcher genau die beschriebene Vermittlerfunktion. So zum Beispiel mit dem Porträt der Türkin Güli Dogan in seinem neuesten Film Zwischen den Welten (2006). Die Frage der glückenden Integration wie auch die autobiographische Fundierung bilden die Leitlinien von Yeúilöz’ bisherigem Prosawerk: Die drei Romane – Reise in die Abenddämmerung (1998), Steppenrutenpflanze. Eine kurdische Kindheit (2000) und Der Imam und die Eselin (2004) – beschreiben das bäuerlich-traditionelle Leben in einem kurdischen Dorf, wobei auch Kindheitserinnerungen einfliessen.17 In Vor Metris steht ein hoher Ahorn (1998) werden die Erfahrungen in einem türkischen Gefängnis beschrieben, in dem Yeúilöz 1996 kurze Zeit inhaftiert war, weil er eine Einführung in die kurdische Literatur verfasst hatte.18 Der Gast aus dem Ofenrohr (2002), eine Ich-Erzählung eines kurdischen Asylbewerbers,19 und der Kriminalroman Lied aus der Ferne (2007) thematisieren explizit Fragen zu Migration und Integration.20 Die Suche nach einem Ort und die damit verbundenen (sprachlichen und räumlichen) Grenzüberschreitungen stehen im Zentrum von Der Gast aus dem Ofenrohr. Die Gegenüberstellung des Anfangs und Schlusses zeigt, dass es weniger um ein endgültiges Überwinden von Grenzen, sondern um einen produktiven Umgang mit diesen geht: Hätte das Gitter eine Zunge, so könnte es erzählen, wie viele Menschen über es in die neue Welt gestiegen sind. Als ich über den zwei Meter hohen Gitterzaun kletterte, der an einer Stelle unter der Last der immer neuen Flüchtlinge eingeknickt war, trat ich gleichzeitig über die Grenze zwischen zwei Welten, die sich voneinander abgrenzten, sich aber vielleicht nur wenig voneinander unterscheiden.21

Und der Schluss: Ich ging zurück zum Durchgangsheim, um mein Wörterbuch zu holen, für alle Fälle, und begab mich anschliessend zum Bahnhof, um nach Littenheid zu fahren. Ich war entschlossen, die Stelle dort anzunehmen, wenn der Chef mich wollte.

–––––––— 16 17

18 19 20 21

Georg Simmel: Exkurs über den Fremden (Anm.1), S. 767. Yusuf Yeúilöz: Reise in die Abenddämmerung. Zürich: Rotpunktverlag 1998; ders.: Steppenrutenpflanze. Eine kurdische Kindheit. Zürich: Rotpunktverlag 2000; ders.: Der Imam und die Eselin. Zürich: Rotpunktverlag 2004. Yusuf Yeúilöz: Vor Metris steht ein hoher Ahorn. Münster: Unrast Verlag 1998. Yusuf Yeúilöz: Der Gast aus dem Ofenrohr. Zürich: Rotpunktverlag 2002. Yusuf Yeúilöz: Lied aus der Ferne. Zürich: Limmat Verlag 2007. Yusuf Yeúilöz: Der Gast aus dem Ofenrohr (Anm. 19), S. 7.

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So trat ich wieder in ein neues Leben – sanft, wie auf Zahnrädern aus Baumwolle, glitt die Rolltreppe in die Höhe.22

In der Sprachlosigkeit des Gitterzauns verbirgt sich die ›Geschichtslosigkeit‹ der vielen Flüchtlinge, die mühselig über ihn hinweg in die »neue Welt« klettern. In scharfem Kontrast dazu steht das Bild der Rolltreppe – als Chiffre für die sprachliche und soziale Integration –, mit welcher der Protagonist am Schluss weich abgefedert nach oben befördert wird. Anfang und Schluss des Romans verzahnen sich insofern ineinander, als beidesmal ein transitorischer Moment in den Blick genommen wird, der Übergang in ein neues Leben. Der Prozess des Spracherwerbs legt die changierende Position des Ich-Erzählers offen und gibt dem Roman seine Struktur: Damals verstand ich das Wort ›Pansonkasa‹ nicht und fragte ihn, was das auf Kurdisch heissen solle. Er konnte im Kurdischen keinen Begriff dafür finden, erklärte mir aber, was er darunter verstand [...]. Später erst lernte ich, wie man das Wort ›Pansonkasa‹ ausspricht.23 Ich, der ich die Ohren für neue Wörter offen hielt, dachte, ›Galtbir‹ sei der Name eines Getränks. Später, als im Restaurant ›Merkur‹ die alte Italienerin mit den rot gefärbten Haaren Bier in einem Glas, fast grösser und runder als Mullas Gesicht, brachte, verstand ich, dass ›Galtbir‹ einfach ein kaltes Bier war. Meine Landsleute verschlucken ein paar Buchstaben, und was übrig bleibt, sprechen sie erst noch anders aus.24

Das »Sprechen in Anführungszeichen«, wie es Bachtin nennt, kristallisiert sich hier im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schrift aus. Die übers Ohr aufgeschnappten fremden Wörter sind aus ihrem Sinnzusammenhang befreit und können – verfremdet – ihre ästhetische Wirkung im Text entfalten. Gerade die Differenz von der standardsprachlichen Norm lässt die Durchdringung von ›eigener‹ und ›fremder‹ Sprache hervortreten. Das Resultat sind hybride Wortformen, die klangvoll und dadurch auch mehrdeutig sind. In diesen Stellen, in denen Fremdheit nicht einfach beschrieben, sondern in der Sprache selber manifest wird, erhält der sonst homogene Text seine Mehrstimmigkeit. Der Kriminalroman Lied aus der Ferne schliesst thematisch an Der Gast aus dem Ofenrohr an, wobei sich an den Titeln bereits die perspektivische Verschiebung ablesen lässt. Als »Gast aus dem Ofenrohr« bezeichnet man im Kurdischen einen Überraschungsgast, der Fokus liegt damit – und akzentuiert noch durch die Ich-Erzählperspektive – ganz auf dem Asylbewerber und dessen Wahrnehmung, den Überblendungen von kurdischer Heimat und schweizerischer Fremde. Die Abwendung von der Ich-Form in Lied aus der Ferne erschwert eine explizit autobiographische Lesart. Gleichzeitig wird hier nicht mehr ein Einzelschicksal fokussiert, sondern die Migranten werden als ein heterogenes soziokulturelles Milieu aus dem Blickwinkel der Polizei geschildert. Der Fokus wird bereits damit aufgefächert, dass zwei Protagonisten, Kantonspolizist Schenker und der türkische Musiker Baran, kooperieren. Der Mord an einem türkischen Familienvater gibt Anlass, verschiedene Formen von Integration zu verhandeln: –––––––— 22 23 24

Ebd., S. 199. Ebd., S. 19. Ebd., S. 88.

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In etwas stereotyper Weise fungiert der mit einer Schweizerin verheiratete Künstler Baran als Beispiel einer geglückten Integration, während der von seinem eigenen Sohn ermordete Türke als Repräsentant einer gescheiterten Integration gelten kann. Neben der atmosphärischen Ausgestaltung gerät die Aufklärung des Mordes zur Nebensache. Anders als in Der Gast aus dem Ofenrohr wird der Status des Migranten hier aus der Aussenperspektive, der Sicht der staatlichen Ordnungshüter geschildert. Emblematisch dafür ist die Szene im Zug, in der Baran und eine Gruppe Polizisten sich gegenüber sitzen. Die Heterostereotypien verfestigen sich im Blickkontakt und im Schweigen: Er erlebte oft strenge Kontrollen, wenn er aus dem Ausland in die Schweiz einreiste, obwohl er seit rund zehn Jahren einen roten Pass vorzeigen konnte. Er wagte nicht, seine deutschsprachigen Zeitungen aus der Tasche zu holen. Wahrscheinlich wollte er die Szene, in der er der Fremde und sie die Landbesitzer waren, nicht stören. Unter diesen Männern kam er sich vor wie eine Kinoleinwand und sie waren die Kinobesucher.25

Die von Simmel positiv gefasst »Attitüde des ›Objektiven‹«, die den Fremden als Aussenstehender kennzeichnet, zeigt hier ihre negative Kehrseite. Die Begegnung wird als Territorialkonflikt geschildert, der Fremde erscheint als stumme Projektionsfläche, als Objekt im Blickfeld der Polizei. Seine Sprachlosigkeit und die Unmöglichkeit der Verständigung spiegeln sich in der sprachlichen Homogenität des ganzen Textes. Auffällig sind zwar die aus dem Kurdischen übersetzten bildhaften Redewendungen, welche im Gespräch thematisiert werden: »Bei uns sagt man: ›Das süsse Wort lockt die Schlange aus ihrem Loch.‹« Leutenegger wies darauf hin, dass er in diesem Fall eine sehr bildhafte Sprache kennen gelernt, aber trotzdem noch keinen Killer gefunden habe.26 »Im Orient sagt man: ›Ich suchte im Himmel, fand es aber auf der Erde vor meinem Haus.‹« »Vielleicht helfen uns diese orientalischen Weisheiten doch. Der Pizzakurde versucht übrigens auch immer, diese Sprüche ins Deutsche zu übersetzen«.27

Mit Bachtin könnte man hier ausführen, dass die »wechselseitige Erhellung mit einer anderen Sprache [...] im Prozess des literarischen Schaffens gerade die ›weltanschauliche‹ Seite der eigenen (und der fremden) Sprache, ihre innere Form, das ihr eigene System der Bewertung und Akzentuierung« beleuchtet und objektiviert.28 Die bildhaften kurdischen Phraseologismen werden in die Aufklärung des Falls eingeflochten, sie eröffnen einen zusätzlichen Imaginationsraum. Vor allem aber sind sie Spuren von Yeúilöz’ Spracharbeit. Es ist das literarische Resultat der Feststellung: »In der deutschen Sprache muss man vieles konkretisieren und verdeutlichen. Das ist dann ein Kampf um Sätze, um die Bildsprache, damit die Geschichte auch im Deutschen funktioniert.«29 Polyphon ist –––––––— 25 26 27 28 29

Yeúilöz: Lied aus der Ferne (Anm. 20), S. 184. Ebd., S. 187. Ebd., S. 190. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (Anm. 6), S. 319. Yeúilöz im Gespräch mit Bettina Spoerri (Anm. 11).

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dieser Text allerdings nicht, denn die Thematisierung der (Sprach-) Fremdheit wird nur an einigen wenigen Passagen explizit. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis zur auffälligen sprachlichen Homogenität, der fast schon hyperkorrekten Standardsprache und der konsequenten Ausblendung der kurdischen Muttersprache der Protagonisten. Überblickt man Yeúilöz’ Werk, so erscheint es wie der literarische Nachvollzug eines Integrationsprozesses, der politische und sprachliche Korrektheit zum Ziel hat.30 Mit seinem letzten Roman scheint Yeúilöz in der Schweiz(er Literatur) angekommen. Denn sein Kriminalroman fügt sich in eine literarische Traditionslinie ein, deren prominentester Vertreter Friedrich Glauser ist. Die grundlegenden Charakteristika sind: Dominanz der Atmosphäre vor dem kriminalistischen Plot, duale Figurenkonstellationen, das Aushandeln kultureller Divergenzen und sozialhistorischer Bezüge, die sprachkulturelle Verortung und die Vielstimmigkeit der Texte.31 Yeúilöz’ Lied aus der Ferne ist mit Glausers Studer-Romanen, insbesondere den in der Schweizer Provinz spielenden Fällen Der Chinese, Die Speiche und dem Fragment gebliebenen Ascona-Roman, durchaus vergleichbar.32 Insbesondere zwischen den Ascona-Fragmenten und Yeúilöz’ Winterthurer Kriminalroman lassen sich enge Bezüge sowohl vom Figurenarrangement (Wachtmeister Studer bzw. der Auslandschweizer Spigl als Protagonisten) als auch dem diskursiven Aushandeln interkultureller Konflikte (Studers kriminalistisches Agieren in der Asconeser Künstler-Bohème) herstellen. Alterität wird bei beiden als ein diskursiver Begriff entwickelt, Fremdheit entsteht im Austausch zwischen Schweizer Polizei und Ausländern, wobei im Gesprächsverlauf die (Sprach-)Grenzen nicht immer überwunden, sondern zuweilen erst deutlich gezogen werden. Beide integrieren dabei dialektale Elemente. Bei Glauser heisst es etwa in einem der Ascona-Fragmente: Studer räusperte sich und es klang erbittert. »Sie meinen, gnädige Frau, dass wir Schweizer Trottel sind, wenn wir zufällig im Berufe Polizisten sind, nid wahr?« Und die beiden letzten Worte waren eine kleine Rache. Studer hatte nichts dagegen, in gewissen Situationen Schriftdeutsch zu sprechen; doch diese Gesellschaft, die wohl ausnahmslos aus Ausländern bestand, sollte nicht meinen, dass man sich seines Schweizertums schämte. »Und worum bruuchet i-i- ihr mig?« fragte er. »Kommissär, Kommissär! Wie schön, dass Sie gekommen sind.«33

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33

Interessant in diesem Zusammenhang sind die Aussagen der Türkin Güli Dogan im Dokumentarfilm Zwischen den Welten. Integration bedeutet für sie vor allem sprachliche Assimilation. Folgerichtig spricht sie mit den Kindern konsequent Schweizerdeutsch, obwohl ihr türkischer Ehemann dieses nur gebrochen spricht. Vgl. dazu im Detail: Christa Baumberger: Resonanzraum Literatur. Polyphonie bei Friedrich Glauser. München: Fink 2006. Vgl. Friedrich Glauser: Der Chinese. Hg. und mit einem Nachwort von Rudolf Bussmann. Zürich: Unionsverlag 1999. [Zuerst 1939]; ders.: Die Speiche (Krock & Co.). Hg. und mit einem Nachwort von Bernhard Echte. Zürich: Unionsverlag 1999. [Zuerst 1941]; ders.: Ascona – Romanfragmente. In: ders.: Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk IV: 1937–1938. Hg. von Bernhard Echte unter Mitarbeit von Manfred Papst. Zürich: Limmat Verlag 1993, S. 255–289. Es handelt sich hier um einen Auszug aus einem Manuskript, das nicht in die Werkausgabe aufgenommen wurde. Es ist im Schweizerischen Literaturarchiv einsehbar.

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Yeúilöz hingegen benutzt den Dialekt im umgekehrten Sinn als ein verfremdendes Stilmittel. Kulturelle Abgrenzung findet bei ihm nicht über den Rückzug in den Dialekt statt, sondern in einem eigenartigen Kontrast werden gerade die Ausländer mit urschweizerischen Dialektausdrücken etikettiert. So beispielsweise wenn Polizist Schenker den Ausländer Baran als »Cheib« tituliert: »›Der Cheib ist ja bekannt‹, dachte er, während er Kaffee schlürfte. ›Um alle Artikel über diesen Typ zu lesen, brauche ich mehrere Tage. Und wenn ich alles gelesen habe, bin ich in diesem Ausländerzeugs mindestens so gescheit wie meine Emma.‹«34 Bei beiden wird deutlich, dass Fremdheit nicht an den Einschluss anderssprachiger Elemente gebunden ist, sondern sich gerade dort manifestiert, wo Sprache, genauer die eigene (d.h. Studers und Schenkers) Sprache, fremd erscheint.

Dragica Rajþiü: »Gastfrau« der deutschen Sprache Auch wenn die aus Kroatien stammende Autorin Dragica Rajþiü betont, dass »Poesie [...] ja eigentlich immer eine fremde Sprache« sei, so hält sie fest, dass Mehrsprachigkeit eine Bereicherung bedeutet, weil sie erlaubt, fremde Bilder aus der einen in die andere Sprache zu übermitteln: »[...] ich habe das Geschenk einer anderen Sprache, einer anderen Poesie – der kroatischen. Wahrscheinlich nehme ich diese poetischen Bilder von dort – hier sind sie ungewohnt, fremd, dort aber sind sie normal.«35 Die Differenz zwischen den Sprachen verfremdet die sprachliche Normalität, die Distanz ermöglicht feine Ironie und das Einweben von (feministischer) Sprachkritik. In diesem Sinn ist der Titel ihres ersten deutschen Gedichtbandes, Halbgedichte einer Gastfrau (1986), programmatisch.36 Die Neologismen werfen ihr fremdes Licht nicht nur zurück auf die Autorin, sondern auch auf die deutsche Sprache, in der ein Gast immer männlich ist. Von 1978 bis 1986 lebte Dragica Rajþiü in der Schweiz, kehrte dann nach Kroatien zurück und kam nach dem Kriegsausbruch 1991 wieder in die Schweiz. Seither schreibt sie nur noch auf Deutsch; es handelt sich um eine bewusste Sprachwahl, die sie folgendermassen begründet: Literatur kann ICH ja eigentlich immer nur in der Sprache schreiben, die MICH umgibt, in der Literaturkultur, in der ICH lebe. Sprachaneignung ist ja immer Erosion und Eroberung gleichzeitig, man eignet sich die neue Sprache an und die alte geht dabei ein bisschen verschüttet.37

Zwei Punkte sind auffällig an dieser Äusserung: Erstens die enge Verzahnung von Alltags- und Literatursprache, die sich in den so entstehenden Texten nicht nur –––––––— 34 35 36 37

Yeúilöz: Lied aus der Ferne (Anm. 20), S. 31. Dragica Rajþiü im Gespräch mit Isabelle Vonlanthen, erschienen in: LiteRacje (2007), H. 1. Hier wird aus dem von der Autorin zur Verfügung gestellten deutschen Manuskript zitiert, S. 4. Dragica Rajþiü: Halbgedichte einer Gastfrau. St. Gallen: Narziss & Ego 1986. Neuauflage Zürich: eco Verlag 1994. Rajþiü im Gespräch mit Isabelle Vonlanthen (Anm. 35), S. 3.

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semantisch und lexikalisch, sondern auch in der Verwendung einer mündlichen Schriftsprache zeigt. Zweitens deuten Wörter wie »Erosion« und »verschütten« darauf hin, dass es sich beim Spracherwerb um einen ›naturhaften‹ Prozess handelt, insofern als Sprache nicht endgültig in den Griff zu bekommen ist, sich einer Aneignung immer widersetzt. Sprache ist widerständig und bietet gerade dadurch auch Schutz: »Sprache welche mich schützt und abgrenzt, Dinge wie eine Art Klauns zu sagen«.38 Beide Elemente zusammen, Mündlichkeit und sprachliche Maskerade, ergeben ein poetologisches Prinzip, dessen ästhetische Qualitäten näher zu bestimmen bleiben. Im obigen Zitat ist es die verschriftlichte Mündlichkeit selber, das Lexem »Klauns«, das den Sinngehalt der Äusserung der Erosion anheim stellt. Wer als »Klauns« spricht, verbirgt sich hinter einer sprachlichen Maske, er spricht als ein anderer und anders. Die Wortkette ›Clown – Klauns – klauen‹ macht überdies deutlich, dass Wörter, wenn nicht geradewegs geklaut, so doch immer nur geliehen sind. Deutlich gesagt sei: Rajþiü schreibt nicht standardsprachlich. Es stellt sich daher die Frage, ob die orthographischen, grammatikalischen und semantischen Fehler einfach ein Defizit sind, oder ob sich in ihnen ästhetisches Potenzial verbirgt. Kann man diese nicht-assimilierten, widerständigen Wörter als ein »Sprechen in Anführungszeichen« im Sinne Bachtins lesen und resultiert dann daraus die unverwechselbare Polyphonie ihrer Literatur? Hunderste gedicht ohne trenen noch immer bin ich nicht richtig von hier von hier richtig sehe ich das ich von irgends komme kein Buch nimmt sich meiner an kein Brandanschlag verbrennt uns alle wir sind eine art schlimme befruchtung tauchen unter lernen schwimmen ringen mit gegnern in spigeln schlagen wurzeln über die erde was wechst ist kraut über feuerwunden noch immer wird mir täglich zwei mall mein ursprung aufgetischt aber sie sprechen schon gut deutch konnte ich nicht deutch hette ich nihts verstanden das ich so anderes bin.39

Die in diesem Gedicht evozierte Sprach- und Geschichtslosigkeit (»kein Buch nimmt sich meiner an«), die in einen expliziten Zusammenhang mit der Frage –––––––— 38 39

Ebd., S. 4. Dragica Rajþiü: Post bellum. Zürich: edition 8, 2000, S. 41.

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nach der Herkunft und den eigenen Wurzeln gebracht werden, sind typisch für den Migrationsdiskurs. Durch die Migration vom Krieg verschont geblieben (»kein Brandanschlag verbrennt uns alle«) vermag das lyrische Ich trotzdem keine Wurzeln zu schlagen. Die Wurzeln gehen »über die Erde« statt in die Tiefe. Dieses Bild erinnert an Chambers Diktum der lose über den Erdball verstreuten Punkte, die zusammen zwar ein globales Netzwerk bilden, dessen Knotenpunkte aber fragil sind und ständig zu zerreissen drohen.40 Viel deutlicher noch als bei Yeúilöz wird die Fremdheit, die nicht richtige Zugehörigkeit, mit sprachlichen Mitteln ausgedrückt. Orthographische Fehler bergen zuweilen ein klangliches Surplus, Quasi-Homophonien erweitern den Bedeutungshorizont. So evoziert »trenen« sowohl ›Tränen‹ als auch das Verb ›trennen‹; Trennungsschmerz und Trauer finden im Neologismus zusammen, werden aber bereits im Titel zurückgedrängt. Wobei »Hunderste« als mot-valise den Leser in der Schwebe lässt: Ist es das erste oder hundertste Gedicht? Wie wiederholbar ist Schmerz? Der in den Literaturen der Migration häufig beschworene »Zwischenraum«, das »Wohnen auf den Kreuzungen der Welt« (Chambers) wird in diesem Gedicht mittels graphematischer Verschiebungen auf der Sprachebene präzis ausgedrückt: »das ich von irgends komme« – der neologistische Gegenbegriff zu ›nirgends‹ verweist auf einen unbestimmten, multiplen Ort, zu dem es kein Zurück mehr gibt, der nicht einmal benannt werden kann. Über ihren »ursprung« und ihre Sprache wird von aussen verhandelt. Es fällt auf, dass die in den drei Schluss-Versen formulierte Pointe am stärksten von der Standardsprache abweicht: »konnte ich nicht deutch / hette ich nihts verstanden / das ich so anderes bin.« Hier wird vorgeführt, wie Fremdheit diskursiv erzeugt wird; sie wird von aussen zugeschrieben und in der eigenen Sprache reproduziert. Dies hat wenig zu tun mit Simmels positiv konnotierter Ambivalenz des Fremden, der zwischen Zugehörigkeit und Distanz, Beteiligung und nobler Reserve schwankt. Rajþiü bringt das paradoxe Verhältnis zwischen Fremden und Einheimischen pointiert auf den Punkt: »Der Fremde möchte immer ein Einheimischer sein, für andere ist er aber gerade als Fremder interessant.«41 Der Ort der Differenz ist für den Fremden in jeder identitären Konfiguration vorgeformt, herausfordernd wirkt aber, dass er hier in erwartungsstörender Art bespielt wird. Die fragmentarische, unkorrekte Sprache irritiert im Kontext eines Gedichts, sie wirkt deplatziert. Eine solche sprachliche Irritation ist bei Rajþiü intendiert: Ja, ich missachte bewusst die Orthographie, ich will, dass man sofort merkt, dass ich fremd bin, will die Leute irritieren, ärgern, provozieren. Aber die poetologischen Mittel interessieren mich mehr als die Korrektheit oder Fehler der Sprache – am Schreiben in der fremden Sprache interessiert mich, ob das, was ich zu sagen habe, die poetologischen Mittel, die ich anwende, in beiden Sprachen funktionieren. Ob man mich auf deutsch versteht, das für mich eine reduzierte Sprache ist, die ich mir von der Strasse, aus dem Fernsehen, im Gespräch angeeignet habe.42

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Chambers: Migration, Kultur, Identität (Anm. 4), S. 1f. Rajþiü im Gespräch mit Isabelle Vonlanthen (Anm. 35), S. 4. Ebd., S. 4.

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Ihre Gedichte sind grundiert vom genauen Hinhören, die Alltagssprache fliesst in Form von Redensarten ein, der Ton ist nüchtern. Exemplarisch kommt dies im Gedicht »gemischtes« zum Ausdruck, in dem das Kroatische und das Deutsche ironischerweise klar voneinander getrennt bleiben und die Stimmen völlig austauschbar sind: gemischtes Im Bus redet keiner Im Fabrik sagt man Salüü In der Pause sagt man ›en Guete‹ In mittags Pause sagt Kollegin Mini ma hat kseit so nüd In der wohnung sagt Frau zum Mann Dobro Vecer Zu kindern sagt man Ako si umoran idi spavati Zu sich selber kan man Schweigend sagen Egal.43

Der alltägliche Tagesablauf reduziert sich auf ein paar inhaltsleere Floskeln, die repetitive Fabrikarbeit wird auf der sprachlichen Ebene im Abspulen vorgeformter Grussformeln reproduziert. Der Text präsentiert einen Monolog, es wird gesprochen, ohne dass etwas gesagt wird: Die Sprachkritik mündet in das lapidare »egal« und versinkt in Schweigen. Die kroatischen Einsprengsel »Dobro Vecer« (›Guten Abend‹) und »Ako si umoran idi spavati« (›Wenn du müde bist, dann geh schlafen‹) machen den Text nicht polyphon, sie stehen isoliert. Und doch geben sie dem Gedicht eine besondere Tonalität, indem sie über das fremde Wortbild die Frage nach dem Klang, der richtigen Aussprache und dem Sinn aufwerfen. Mit ihren Gedicht- und Kurzprosabänden – Halbgedichte einer Gastfrau (1986), Lebendigkeit Ihre züruck (1992),44 Nur Gute kommt ins Himmel (1994),45 Post bellum (2000) und Buch von Glück (2004) – steht Rajþiü bis heute solitär in der schweizerischen Literaturlandschaft. Kein anderer Autor nichtdeutscher Muttersprache arbeitet derart radikal mit Sprachfragmenten. Der Umgang damit ist für das Lesepublikum und die professionelle Literaturkritik eine Herausforderung. Das ironische Verhältnis zum Literaturbetrieb taucht in den Texten reflektiert wieder auf. So heisst es im Gedicht Nach der Lesung: Wieso schreiben sie? Nicht in muttersprache Aus der hinteren Reihe

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Dragica Rajþiü: Buch von Glück. Zürich: edition 8, 2004, S. 81. Dragica Rajþiü: Lebendigkeit Ihre züruck. Zürich: eco Verlag 1992. Dragica Rajþiü: Nur Gute kommt ins Himmel. Ueber lebende, tote und die dazwischen. Zürich: Eco 1994.

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Ein Mann mit vergrauten kopf. (damit mutter verschont bleibt, sag nicht) Das Publikum weiss Das vor ihnen eine sitzt wo sich auf Umwegen daran macht aus ihre Sprache stifmuter zu machen Das schreibende ich Sagt das sprechende ich Ist exorzist der wörter Um ihnen weh zu tun – homoepatisch allemal. Genisst es Fremdes zu probieren?46

Auch hier ist die Lust am Sprachspiel erkennbar: Ein »vergrauter kopf« stellt die Frage, die jeden Autor vergrault: »Wieso schreiben sie?« Damit ist der Ausgangspunkt zu einer knappen Reflexion über das eigene Sprachverständnis gegeben, dessen Gebrochenheit im Begriff ›Stiefmuttersprache‹ treffsicher auf den Nenner gebracht wird. Gleichzeitig werden die deutschen Wörter ironisch auf ihren semantischen Gehalt überprüft (»Muttersprache«). Der »Umweg«, den Rajþiü mit ihrem Sprachgebrauch begeht, scheint ein ebenso einzigartiger wie einsamer zu sein. Sie selber gibt jedoch einen Verweis auf eine mögliche Verwandtschaft. Ihr Nachruf auf Niklaus Meienberg, den einzigen Schweizer Autor, dem sie bislang einen Text namentlich gewidmet hat, endet mit dem Chiasmus: »Mir entgegen kommst nicht mehr Du, aber ich Dir.«47 Mit ihm teilt sie die Lust an der Irritation und Provokation. Mit ihm aber teilt sie auch die Lust an der mündlichen Sprache: »Das schreibende ich / Sagt das sprechende ich / Ist exorzist der wörter«.48 Fremde Wörter zu probieren, sie sich einzuverleiben ist ein Genuss, lautet Rajþiü’ Antwort auf die Frage, weshalb sie schreibe. Gleichsam als Echo erklingt im Hintergrund Meienberg: »Wie habt ihr die Wörter am liebsten? Saignant, à point, à poil, well done?«49 Der Einblick in die Sprachwerkstätten von Rajþiü und Yeúilöz mit den zugehörigen knappen Ausblicken auf Glauser und Meienberg zeigen, dass die Faszination am Überschreiten der sprachlichen Territorien keineswegs auf Migranten beschränkt ist. Die Arbeit am Sprachmaterial, die Lust am Formen und Formulieren, das sprachliche Gestalten von Situationen der Fremdheit kennt auch keine nationalliterarischen Grenzen, sie ist eine Grundkonstituente jeden Schreibens. Der Fokus auf die Mehrsprachigkeit und die Vielstimmigkeit der Texte ermöglicht aber einen neuen Zugang zu Texten, die aus einer plurikulturellen Situation heraus entstanden sind. In den Texten selber sind die Spuren, Berührungspunkte mit anderen Literaturen bereits angelegt. –––––––— 46 47 48 49

Rajþiü: Buch von Glück (Anm. 43), S. 155. Rajþiü: Nur Gute kommt ins Himmel (Anm. 45), S. 149. Rajþiü: Buch von Glück (Anm. 43), S. 155. Niklaus Meienberg: Reportagen 1. Zürich: Limmat 2000, S. 147.

Moray McGowan

Milch – Migration – Mythos Beat Sterchis Roman Blösch (1983)

»Schwerbeleibte Kühe, mit freudigem Gebrüll [...] mähen das zarte Gras mit scharfen Zungen weg«, bevor sie mit prallen Eutern zu ihrem Heimathof zurückkehren: mit solchen Bildern beschwört Albrecht von Hallers Die Alpen (1729) die Schweiz als Ursprung Europas; eine Welt von Bergen, Wiesen, Milch, unverdorbener Natur und einer dem Buchwissen überlegenen Bauernweisheit, mit allen Vorzügen des einfachen Lebens: »Was hat ein Fürst bevor, das einem Schäfer fehlet? [...] Solang die Einfalt dauert, wird auch der Wohlstand währen.«1 Diese quintessenzielle Verwebung einer Landschaft mit einem moralischen, geistigen und nicht zuletzt auch das materielle Wohlergehen sichernden Wertezusammenhang wurde bekanntlich in Schillers Wilhelm Tell (1804) zu einem ›Mythos Schweiz‹ erhöht, der in den darauf folgenden zweihundert Jahren immer wieder und zu immer neuen politischen und ideologischen Zwecken aufgegriffen und umgedeutet wurde. Schon in der allerersten Bühnenanweisung seines Stückes fordert Schiller nicht nur ein Bühnenbild, das die Gipfel, Felsen, Schluchten und Seen der schweizerischen Berglandschaft hervorrufen soll, sondern auch die akustische Untermalung des aus Hallers Alpen bekannten Schweiz-Bildes: »noch eher der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische Geläut der Herdenglocken [...]«. Innerhalb weniger Dialogzeilen wird dann auch das »schmucke Vieh« zelebriert: »Ruodi: Wie schön der Kuh das Band zu Halse steht! / Kuoni: Das weiß sie auch, daß sie den Reihen führt«.2 Kühe sind nicht wegzudenkende Elemente des von Haller, Schiller und zahlreichen anderen Texten und Traditionen aller Art geprägten ›Mythos Schweiz‹.3 –––––––— 1 2 3

Albrecht von Haller: Die Alpen. Stuttgart: Reclam 1974, S. 10, 4, 5. Friedrich von Schiller: Wilhelm Tell. In: Schillers Werke. 4 Bde. Bd. 2. Dramen II. Frankfurt/M.: Insel 1966, S. 337–339. Schon im 16. Jahrhundert ist das Schimpfwort »Kuhschweizer« verbreitet. Vgl. Claudius Sieber-Lehmann, Thomas Wilhelmi (Hg.): In Helvetios – wider die Kuhschweizer. Fremdund Feindbilder in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532. Bern 1998. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Wort ›Schweizer‹ in vielen deutschsprachigen Gebieten Europas als Berufsbezeichnung für einen Melker. Diese Verbindung lebt weiter bis in unsere Gegenwart hinein, wenn auch immer häufiger in ironisierter und ironisierender Form, wie etwa bei den Feierlichkeiten »500 Jahre Basel bei der Eidgenossenschaft« 2001, bei denen mehrere Performances eine Kuh als Schweiz-Allegorie in den Mittelpunkt stellten. Vgl. Cornelia Thürlemann: Als Basel noch von »Kuhschweizern« redete. In: Basler Zeitung, 8.1.2001. Auch verfügbar unter: http://www.kling.ch/Seiten/XYetc./ BaZ_Kuhschweizer.html (Zugriff am 2. 2. 2008).

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Liest man diese Zeilen aus Wilhelm Tell aus der Perspektive von Beat Sterchis Roman Blösch (1983), der seinen Titel dem Namen der Kuh entnimmt, die bei Sterchi den Reihen führt, also die ›Leitkuh‹ der Herde auf dem Bauernhof,4 auf dem der Roman teilweise spielt, so hört man in der Entzückung Ruodis zusätzlich auch die widersprüchliche Beziehung der Menschen zu den Tieren, die sie domestizieren, d.h. die sie zugleich verwöhnen und ausbeuten. Im noch harmlos schmückenden »Band zu Halse« lauert bereits die sich erst im 20. Jahrhundert mit der Industrialisierung der Tierwirtschaft und der Lebensmittelverarbeitung voll entfaltende instrumentalisierende Herrschaft der Menschen über die Tiere, der Technik über die Natur. Ohne dass sich Blösch in der Mythenkritik erschöpft, werden im Roman am komplexen Beziehungsgeflecht Mensch-Tier und vor allem an der polyvalent allegorischen Titelgestalt der Kuh Schweizer Mythen vieldimensional mit den dahinter stehenden Wirklichkeiten konfrontiert.5 Beim Erscheinen des Romans 1983 führten die ungerade nummerierten Kapitel, die auf dem kleinen Alpenbauernhof des Bauers Knuchel mit ihren Szenen des Melkens, des Kälbens, der Heuernte oder des Schweineschlachtens dazu, dass er als ›Bauernroman‹ gelesen wurde. Die mit diesen Kapiteln »in fast sturer Symmetrie« abwechselnden gerade nummerierten Kapitel,6 die in einem städtischen Schlachthof spielen unter teils ungelernten, teils gelernten, aber von der Mechanisierung mit dem Verlust ihres Sonderstatus bedrohten, in beiden Fällen gleichfalls ausgebeuteten Arbeitern führte dazu, dass der Roman als ›Arbeiterroman‹ gelesen wurde: als ein Roman, der im halbdokumentarischen Stil die echten Lebenssituationen der Schlachthofarbeiter darstellt und zugleich das Marx’sche Wort von der Verwandlung des Menschen zum Tier durch entfremdete Arbeit aufgreift und in drastischer Form inszeniert: der Abgang und die Schlachtung der Kuh Blösch, die dem Roman seinen Titel gibt, wird vom spanischen Arbeitsmigranten Ambrosio als Allegorie und direkte Parallele seiner eigenen Situation erkannt, was ihm zum Verlassen des Arbeitsplatzes, des Ortes und der Schweiz veranlasst.7 Der Erzählmittelpunkt alterniert jedoch nicht bloß zwischen der Welt des ›Bauernromans‹ und der des ›Arbeiterromans‹, sondern zeigt diese Welten als miteinander verzahnte, sich gegenseitig bedingende Welten. Spätestens in der –––––––— 4 5

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Beat Sterchi: Blösch. Zürich: Diogenes 1985 [1983], S. 21. Nachweise im folgenden im laufenden Text mit einfacher Seitenangabe in Klammern. Auf eine Vielzahl weiterer Anspielungen auf identitätsgestaltende Schweizer Traditionen wie die des ›Schwingens‹ kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Im Kampf des Vorarbeiters Krummen mit Blöschs resistenter Leiche kollidieren zwei Schweizer Mythen: »Schwingerkönig von Kuh in die Knie gezwungen« (S. 208). Beatrice von Matt: Von schweizerischen Urtatsachen und von deren Zersplitterung. Beat Sterchis Roman Blösch. In: Beatrice von Matt: Lesarten. Zürich: Ex Libris Verlag 1987, S. 189–192, hier S. 189. Vgl. dazu Malcolm Pender: Themes in the German-Swiss novel of the 1980s: Beat Sterchi’s Blösch and Gertrud Leutenegger’s Kontinent. In: Arthur Williams, Stuart Parkes, Roland Smith (Hg.): Literature on the Threshold. The German Novel in the 1980s. New York, Oxford, München: Berg 1990, S. 153–168, hier S. 159.

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Mitte des 19. Jahrhunderts bei Friedrich Engels wurde die Unabhängigkeit des Kleinbauern als Mythos entlarvt: »Er, wie sein Haus, sein Hof, seine paar Felder, gehören dem Wucherer«.8 Knuchels Hof ist keine Idylle. Auch hier wirken sich Modernisierung, technische Erneuerung und Profitzwang aus.9 Obwohl Knuchel darauf besteht, seine Herde per Hand zu melken, ist auch sein Hof schon teilweise mechanisiert. An kleinen Details wie der Tatsache, dass er seine Kälber auch mit importiertem, mit Vitaminen angereichertem Milchpulver füttert (vgl. S. 42), wird deutlich, dass die tradierte bäuerliche Selbstständigkeit (ebenfalls ein Kernmotiv des ›Mythos Schweiz‹) in Wirklichkeit längst in ein Eingebundensein in markt- und kapitalabhängige Kreisläufe übergegangen ist. Da die städtische Arbeiterthematik den Schlachthof zum Handlungsort nimmt, wo die aus der landwirtschaftlichen Produktion stammenden Tiere industriell zu Waren verarbeitet werden, wird das Land in die Stadt hinein verlängert und die Teilhabe der modernen Landwirtschaft an industrialisierten Produktionsvorgängen unterstrichen. Diese enge Verflechtung des Ländlichen und des Städtischen, des Pastoralen und des Industriellen führte auch zur Einordnung des Romans als »Schweizer Zeitroman«.10 Die Schweiz hat ihr Selbstbild als Gesellschaft stand- und wehrhafter Hofbauern, die ihre friedliche Unabhängigkeit durch die Ausübung basisdemokratischer Tradition gewährleistet, nie ganz aufgegeben, trotz der Wirklichkeit eines Landes, das durch multinationale Firmen, eine multiethnische Arbeiterschaft und ernsthafte Umweltbelastungen charakterisiert ist. Dennoch begannen nach Erscheinen von Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule (1971) andere kritische Werke wie Niklaus Meienbergs Reportagen aus der Schweiz (1974), das Günther Wallraffs Industriereportagen nachempfunden war, solche Mythen infrage zu stellen. In der Zeit nach den Zürcher Straßenschlachten von 1980, dem verspäteten 1968 der Schweiz, konnte Blösch ebenfalls als Teil eines Prozesses gelesen werden, in dem sich die Schweiz kritisch mit ihren eigenen Gründungsmythen beschäftigte. Malcolm Pender bemerkt mit Recht, dass Blösch zu einer »significant juncture in the recent history of Switzerland [erschien,] when the clash between real events and inherited attitudes was subjecting Swiss self-perception to particular strain«.11 Während Blösch schon im Titel den bukolisch-ländlichen Mythos scheinbar hervorhebt, geht der Roman weit über –––––––— 8

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Friedrich Engels: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland [November 1894]. In: Karl Marx, F.E.: Werke. Bd. 22. Januar 1890 bis August 1895. Berlin/DDR: Dietz Verlag 1963, S. 483–505. Zit. nach: http://marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1894/11/bauern.htm (Zugriff am 29.6.2007). Vgl. die aufschlussreiche Analyse dieses Aspektes bei Malcolm Pender: Die bedrohte Umwelt im deutschschweizer Roman der 80er Jahre. In: Studien zur Germanistik der JanusPannonius-Universität Pécs 1 (1993), S. 122–130, hier S. 124f. Elsbeth Pulver: Bauernroman – Arbeiterroman – Zeitroman. Der Roman Blösch von Beat Sterchi als Beispiel der Gegenwartsliteratur der deutschen Schweiz. In: Viktoria Rehberg (Hg.): Izmirer Kolloquium. Bd. 2. Izmir: Agäische Universität 1988, S. 17–26. Malcolm Pender: »Das Eigene« and »das Fremde«: Three Literary Presentations. In: Joy Charnley, Malcolm Pender (Hg.): Images of Switzerland. Challenges from the Margins, Bern etc.: Peter Lang 1998, S. 77–98, hier S. 78.

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die in den 1980er Jahren bereits fast zum Regelfall gewordene kritische Position zu solchen Schweiz-Mythen hinaus. Symbiosen und Widersprüche zwischen mehreren Schweizer Mythen gehören als Gestaltungsprinzip zur Erzählstruktur des Romans.12 Die Lesart des Romans als eines kritischen schweizerischen, ja europäischen Zeitromans wird durch die zentrale Rolle der Figur des spanischen Arbeitsmigranten Ambrosio bestärkt. Ambrosio wird aus seinem spanischen Dorf angeworben, um vor allem als Melker für den Schweizer Bauer Knuchel zu arbeiten. Die ungerade nummerierten Kapitel, die auf dem ›Knuchelhof‹ spielen, werden größtenteils aus der Perspektive Ambrosios erzählt. Aber der Roman, und damit das erste Bauernhofkapitel, setzt ein mit dem Augenblick »viele Jahre danach«, als Ambrosio auf Zehenspitzen steht, um zum letzten Mal seine Zeitkarte in die Stempeluhr des Schlachthofes zu schieben (S. 7). So ist der Schlachthof im doppelten Sinne der eigentliche Ausgangspunkt des Erzählten und die Verflechtung von Bauernhof und Schlachthof wird vom ersten Satz an hergestellt und betont. Knuchel kann dem Druck, Melkmaschinen anzuschaffen, nur widerstehen, indem er einen Nicht-Schweizer, einen spanischen Arbeitsmigranten, zur Ausübung dieser die schweizerische Identität bildenden Tätigkeit anheuert. Entsprechende Schweizer gibt es nicht mehr, weder mit dem nötigen handwerklichen Können noch mit der Bereitschaft, es zu erlernen. Der Begriff »Schweizer« war bis in die Zeit nach 1945 hinein im deutschsprachigen Raum ein verbreitetes Synonym für den Beruf des Melkers. So drückt sich die Erosion der empirischen Basis dieses Schweizer Mythos darin aus, dass kein Schweizer »Schweizer« werden will. Infolgedessen wird der eine oft zur Zielscheibe von Modernisierungsängsten gemachte Vorbote der Veränderung, die Technik, von einem anderen, ebenfalls häufig als Sündenbock vergleichbarer Ängste dienenden Vorboten, dem Arbeitsmigranten, begleitet und zugleich vorläufig abgewehrt. Die latente Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen kommt in der übertriebenen Genauigkeit des Gemeindeamtmanns in Bezug auf Ambrosios Papiere zum Ausdruck, in der Weigerung, dem Arbeitsmigranten das Tragen des grünen Overalls der Schweizer Bergbauer zu erlauben, und in der Überzeugung des Käsers, die Milch sei durch die Teilnahme eines Arbeitsmigranten am Melken verunreinigt worden.13 –––––––— 12

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Isabel Hernandez sieht in dieser Erzählstruktur, die sie als formale Auflösung des Bauernromans deutet, die ästhetische Entsprechung für die Auflösung des Bäuerlichen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Schweiz: Isabel Hernandez: Ein Spanier in der Schweiz: Zu einer Revision der Figur des Einwanderers in Beat Sterchis Roman Blösch. In: Fawzi Boubia u. a. (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Bd. 6. Migrations-, Emigrations- und Remigrationskulturen/Multikulturalität in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Bern etc.: Peter Lang 2006, S. 169–175. Die vielbeschworene Multikulturalität der Schweiz ist schließlich eine Binnen-Pluralität der Deutsch-, Französisch-, Italienisch- und Rätoromanisch-Schweizer, die gerade in ihrer räumlichen und verfassungsrechtlichen (Ver-)Ordnung den rechtlichen und kulturellen Zugang der Vertreter anderer Pluralitäten erschwert. Vgl. etwa Janine Dahinden: Deconstructing Mythological Foundations of Ethnic Identities and Ethnic Group Formation. Albanian-

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Als Knuchel Ambrosio entlässt, wird diesem eine Arbeit im städtischen Schlachthof vermittelt. Solche dreckige, gefährliche, minder bezahlte Arbeit ist unter den Einheimischen so unbeliebt, dass die Behörde nun bereit ist, bei eventuell auftretenden Problemen mit Ambrosios Papieren ein Auge zuzudrücken. Ohne Ambrosio muss Knuchel aber seinen verbissenen Widerstand gegen die Melkmaschinen aufgeben. So wird in Blösch die Abhängigkeit eines konstitutiven Mythos der modernen Schweiz von einer entwurzelten, ausgebeuteten, migrierten Bevölkerung dargestellt. Im Schlachthof widerspricht die gleiche Abhängigkeit von als ›Fremden‹ verstandenen Arbeitern dem Mythos harmonisch-homogener Interessengemeinsamkeiten am Arbeitsplatz. Der Roman hat gewiss Eigenschaften aller drei Genres: eines ›Bauernromans‹, eines ›Arbeiterromans‹, eines ›Schweizer Zeitromans‹. Liest man ihn aber im neuen Kontext des frühen 21. Jahrhunderts, wird deutlich, dass sein kritisches Engagement mit Schweizer Mythen auch viel mit der Spannung zwischen Realismus und Allegorie in der Behandlung seines Kernthemas zu tun hat, mit seiner Darstellung des Umgangs der Menschen mit ihren Mitbewohnern auf dieser Erde, den Tieren.14 In den zweieinhalb Jahrzehnten seit der Erstveröffentlichung von Blösch 1983 hat sich die anhaltende Krise der modernen Landwirtschaft in Europa nicht nur wiederholt in sensationellen Symptomen wie der Medien- und Massenpanik über Rinderwahnsinn oder Maul- und Klauenseuche manifestiert, sondern auch in den dahinterliegenden, längerfristigen Trends der Industrialisierung der Landwirtschaft. Der finanzielle Druck auf die kleinen Bauernhöfe bewirkt nicht nur in der Schweiz ihren unaufhaltsamen Niedergang; auch in der alten Bundesrepublik Deutschland wurden schon Mitte der 1980er Jahre jährlich 20,000 Bauernhöfe aufgegeben. Im 21. Jahrhundert ist es allgemein noch unverkennbarer geworden, dass die Welt des Bauers keine bukolische Hirtenidylle ist. Die heutige ländliche Welt wird wie jede andere durch ökonomische und technologische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster geprägt und weitgehend bestimmt. Zweitens hat seit der Ersterscheinung von Blösch das allgemeine Interesse für die Themen stark zugenommen, die man ›Tierrechtsfragen‹ nennen kann, obwohl durchaus nicht alle, die sich für die Behandlung der Tiere durch die Menschen interessieren, davon ausgehen, dass Tiere Rechte haben. Gerade die Art, wie die Menschen mit ›rechtlosen‹ Wesen umgehen, ist aus dieser Sicht ein Messwert der Humanität. Solche Fragen erhielten entscheidende Impulse durch die Arbeit etwa von Peter Singer, dessen Animal Liberation (1975) zwar nicht die erste, jedoch die einflussreichste radikale Kritik des Umgangs der Menschen mit Tieren und der –––––––—

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Speaking and New Armenian Immigrants in Switzerland. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 34/I (2008), S. 55–76, bes. S. 55–58. Vgl. zu diesem Aspekt den aufschlussreichen Aufsatz von Stefan Hofer: Die Verbindung von Tier-Ethik und Migrationsproblematik: Beat Sterchis Blösch im Kontext der transkulturellen Literatur der Deutschschweiz. In: Christa Grimm, Ilse Nagelschmidt, Ludwig Stockinger (Hg.): Beiträge zur Schweizer Literatur. Leipzig: Universitätsverlag Leipzig 2010 (= Leipziger Texte 5). [Im Druck].

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diesen Umgang legitimierenden Moralorthodoxien war.15 In der Zwischenzeit hat ein großes und kontroverses öffentliches Interesse ein breites Spektrum an Ansätzen und Positionen von Moral- und Sprachphilosophen, Sozialtheoretikern, Soziobiologen, Ethnologen und Anthropologen entstehen lassen. Diese Kontroversen lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit erneut auf einen Gesellschaftsbereich, der vor allem angesichts des schwindenden Anteils der darin Beschäftigten am volkswirtschaftlichen Ganzen zunehmend marginal erschien: die Fleischproduktion.16 Doch ist diese scheinbare Marginalität irreführend: 1993 wurden pro Jahr schätzungsweise weltweit 1000 Millionen Tiere, Geflügel nicht mitgerechnet, für die Lebensmittelproduktion getötet. In den USA wurde in den 1990er Jahren im sekundären Wirtschaftssektor die fleischverarbeitende Industrie nur von der Autoindustrie an Umsatz übertroffen.17 Die in Blösch dargestellten Prozesse der Züchtung, Schlachtung und Verarbeitung von Tieren erweisen sich also keineswegs als marginalisierter vormoderner Überrest, sondern als zentrales Element einer fortgeschrittenen technologischen (und hier auch kapitalistischen) Gesellschaft im Wandel. Im Roman weist dieser Wandel die von Ernst Bloch 1934 beschriebene »Ungleichzeitigkeit« auf: Spannungen, die aus der unterschiedlich schnellen Veränderung unterschiedlicher, dennoch miteinander verbundener Elemente einer Gesellschaft entstehen.18 In der dem Schlachthof benachbarten Waffenfabrik werden die Arbeiter »Käser«, »Hirt«, »Schuhmacher«, »Küfer«, »Waldmann«, »Holzer«, »Schäfer«, »Gerber«, »Eisenschmied«, »Jäger« oder »Ackermann« genannt (S. 127), allesamt Namen aus einer ländlichhandwerklich verwurzelten Gesellschaft, die jetzt verschwunden oder im Verschwinden ist; ein Emblem der manchmal traumatischen Diskrepanz zwischen sozioökonomischem und technologischem Wandel einerseits und der Fähigkeit der Menschen andererseits, mit diesen Entwicklungen mental Schritt zu halten.19 Diese Welt steht auch an der Schwelle weiterer Veränderungen: nicht nur dem Bauernhof, wo Knuchel der Mechanisierung nur durch den Einsatz des Arbeitsmigranten Ambrosio widerstehen kann, sondern auch dem schon teilmechanisierten Schlachthof stehen weitere Modernisierungen bevor. Neue Maschinen stehen bereit, die letzten für das Gewerbe früher noch notwendigen Handwerkskenntnisse – bei schweizerischen nicht weniger als ausländischen Arbeitern – werden demnächst überflüssig. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hat sich dieser Prozess weiter fortgesetzt.20 –––––––— 15

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Peter Singer: Animal Liberation. New York: Avon 1975; die Debatte setzt sich über eine Vielzahl an Publikationen fort bis hin zu etwa Alison Hills: Do animals have rights? Cambridge: Icon Books 2005. Schon Mitte der 1970er Jahre waren nur 6,2% der arbeitenden Bevölkerung der Schweiz in der Landwirtschaft tätig: vgl. James Murray Luck (Hg.): Modern Switzerland. Palo Alto: Spross 1978, S. 71–90. Vgl. Robert Garner: Animals, politics and morality. Manchester University Press 1993, S. 93–117. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. In: E.B.: Gesamtausgabe. 16 Bde. Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 104. Auch der Schrebergarten, in den sich der vom verletzten Berufsstolz verbitterte ehemalige Metzger Rötlisberger zurückzieht, befindet sich »hinter der Waffenfabrik« (S. 292). Trotz zunehmender Automatisierung, die manche der im Roman beschriebenen handwerklichen

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Aus dieser Sicht lassen sich die in Blösch angebotenen, bluttriefenden, oft ekelerregenden Darstellungen des sogar von der Industrie selber als »disassembly line« bezeichneten Prozesses,21 bei dem Tiere schrittweise von Lebewesen über Kadaver zu Fleischprodukten, Knochen, Blut und Abfall verwandelt werden, zwar im Sinne des den Tieren zugefügten Schicksals als empirischer Realismus lesen. Das gilt auch für die genauen Darstellungen des physischen Preises, den diese Schlachthofarbeit den Körpern der Arbeiter abverlangt: Verstümmelungen, lebensverkürzende Hautkrankheiten und Innere Krankheiten.22 Doch wirken die gleichen Schlachthofszenen auch allegorisch: die ›SchlachtBilder‹ früherer Epochen Schweizer und anderer nationaler Mythenbildung sind heute hinter den Mauern des Schlachthofes verschwunden,23 wo das industrialisierte Töten unter Ausschluss einer darüber keineswegs unglücklichen Öffentlichkeit stattfindet (das Fotografieren ist hier verboten), um eine Gesellschaft zu befriedigen, die das Töten verdrängt, aber nach Fleisch verlangt. Doch muss die ›Schlacht‹ auch in dieser domestizierten und eingegrenzten Form dennoch ausgetragen werden. Die mit den Werkzeugen und Technologien der modernen Fleischverarbeitung ausgerüsteten Arbeiter herrschen zwar unangefochten über die Tiere, aber sie sind auch selber Opfer: der Maschinen, der beinahe überirdischen Kraft von Tieren in Todesangst, der durch den permanenten Dunst klebriger Flüssigkeiten verursachten Vergiftungen.24 Die Körper der Arbeiter wirken, »als kämen sie aus einem verlorenen Krieg« (S. 358). So dient die Realität – die Vorgänge und Techniken des Schlachtens, die menschlichen Kosten körperlicher Arbeit – auch als Allegorie Schweizer und universaler –––––––—

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Vorgänge historisch gemacht haben, ist die gegenwärtige Praxis der Tierschlachtung und der Fleischverarbeitung kaum weniger enthumanisierend oder brutal geworden. Vgl. etwa Adrian Peter: Die Fleischmafia. Kriminelle Geschäfte mit Fleisch und Menschen. Berlin: Econ 2006. Diese Branchen sind auch weiterhin, vielleicht sogar in noch höherem Masse, auf Arbeitsmigranten angewiesen, um »a large pool of easily replaceable labor that has no control over the pace of work on the shop floor« zu sichern: Jackie Gabriel: Organizing the Jungle. Industrial restructuring and immigrant unionization in the American meatpacking industry. In: Working USA. The Journal of Labor and Society 9 (2006), S. 337–359, hier S. 339. Zit. nach: Ebd., S. 339. Im Schweizer Literaturarchiv in Bern befindet sich neben Textskizzen auch eine Vielzahl von Hintergrundmaterialien, die Sterchi gesammelt hat, u. a. zu den in europäischen und nordamerikanischen Schlachthöfen herrschenden Bedingungen. Vgl. dazu Thomas Feitknecht: Beat Sterchi: Blösch. In: Profile. Zeitschrift des Österreichischen Literaturarchivs 1 (1998), H. 1, S. 132–136. Etwa die Schlachten gegen die Habsburger am Morgarten (1315), bei Laupen (1339), bei Sempach (1386), bei Näfels (1388), bei Vögelinsegg (1403) und Stoss (1405), oder die Burgunder- Mailänder- und Schwabenkriege des 15. Jahrhunderts. Vgl. dazu: Ulrich Im Hof: Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte 1291 –1991. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 1991. Auf die vielen Parallelen zu Upton Sinclairs Roman The Jungle [1904: Der Sumpf], der teilweise in den Schlachthöfen und Fleischverarbeitungsfabriken Chicagos spielt, wird in der Blösch-Rezeption regelmäßig und mit Recht verwiesen. Trotz des expliziten Bezugs im Text (vgl. S. 356f.) fehlen Sterchis Roman aber das Sentimentale, politisch Tendenzielle, Didaktisierende Sinclairs; stattdessen werden bei Sterchi viel ausgiebiger und genauer als bei Sinclair die Schlachtungs- und Fleischverarbeitungsprozesse beschrieben.

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Verdrängungsprozesse. In einem nach 1945 erscheinenden Text lassen Bilder von Laderampen, Selektionsvorgängen und industrialisierten Tötungsprozessen auch unvermeidliche Parallelen mit dem Holocaust assoziieren, auf die der Roman jedoch nicht näher eingeht. Die Darstellungen des Knuchelhofes weisen die Spannung zwischen Realismus und Allegorie, materieller Wirklichkeit und Mythos ebenfalls auf. Das Leben auf dem Hof ist hart, die Manieren rau und unzimperlich. Zu der täglichen Inspektion der Kühe gehört die Behandlung der Stichwunden, die den Tieren regelmäßig durch Heugabeln zugefügt werden. Doch die zärtliche Zuwendung, mit der Knuchel und seine Familie ihre zwölf Kühe behandeln – sie sprechen die Kühe nicht nur namentlich an, sondern pflegen sie sonntags besonders lange und ausgiebig, behandeln liebevoll ihre Wespenstiche und Euterentzündungen, füttern sie mit zusätzlichem frischem Heu – scheint vordergründig eher einer Kinderbuchgeschichte als der entindividualisierten Welt der hochkapitalisierten Profitlandwirtschaft anzugehören. Im Kontext des durch die Tierrechtsdebatten geschärften Bewusstseins dafür, dass die Art unseres Umgangs mit Tieren irgendwann auch unseren Umgang mit anderen Menschen prägt und damit auch unsere eigene Menschlichkeit beeinflussen kann, mag uns Knuchels Behandlung seiner Tiere instinktiv richtig scheinen.25 Auf dem Knuchelhof praktiziert man eine anachronistische Form der Landwirtschaft, scheint jedoch in mancher Beziehung moralisch fortschrittlich und auch wie ein Beispiel für die Vorteile ökologischer Nachhaltigkeit: Knuchels Milcherträge vom Handmelken seiner zufriedenen Tiere können sich quantitativ und qualitativ dem Vergleich mit den mechanisierteren Höfen seiner Nachbarn stellen. Knuchel widersteht nicht nur dem mechanisierten Melken, sondern auch der künstlichen Befruchtung. Er treibt seine Kühe stattdessen zu den Zuchtbullen der Gemeinde. Hier erlaubt sich Sterchi eine kleine Ironie. Die Bullen heißen Pestalozzi und Gotthelf. Und während der aufklärerisch-rationalistische Reformer versagt, zeigt der vitalistische Gotthelf seine allzeitbereite Potenz.26 Doch auch Knuchel kann es sich nicht leisten, ohne Gewinn zu wirtschaften. Seine für das vom Konsumenten gewünschte helle Kalbfleisch gehaltenen Kälber bleiben dem Tageslicht genauso fern wie die seiner Nachbarn (vgl. S. 246). Sobald er die Arbeitskraft Antonios verloren hat, die, da dieser im Gegensatz zu den Melkmaschinen keinen Strom verbraucht (vgl. S. 37), billig ist und in der schweizerischen Bevölkerung sowieso nicht zu finden ist, muss auch Knuchel zu den Maschinen greifen. Von dort führt eine unmittelbare kausale Linie zum Augenblick, in dem der nun im Schlachthof arbeitende Ambrosio den ausgemergelten Körper der einst herrschaftlichen ›Leitkuh‹ Blösch sieht, die ihm auf der »disassembly line« entgegenkommt. Genau diese Erfahrung veranlasst Ambrosio, den Schlachthof und das Land zu verlassen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Knuchels Kühe zwar verwöhnt, gestriegelt und verziert werden, aber letzten Endes Milchkühe sind. Milchkühe werden nur behalten, solange sie produktiv bleiben, unproduktive –––––––— 25 26

Vgl. Garner: Animals, politics and morality (Anm. 17), S. 22. Vgl. dazu Feitknecht: Beat Sterchi: Blösch (Anm. 22).

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»Munikälber« (S. 13 u.ö.) werden gänzlich unsentimental entsorgt. Sie leben in einem ununterbrochenen und erbarmungslosen Zyklus der Schwängerung, der Geburt und der Laktation. Nach Robert Garner: »Cows spend eight months of each year pregnant, nine months being milked twice a day and six months both pregnant and lactating«, was durch die Entfernung des Kalbes von der Mutter drei Tage nach der Geburt und durch die erneute Schwängerung etwa sechs Wochen später erreicht wird. »As a consequence, cows now tend to wear out quicker than they used to, the average age before they are killed now being only five years (their natural lifespan being up to thirty years).«27 Knuchel bleibt genauso wie jeder andere Teilnehmer an der Rinderhaltung an einen Prozess gebunden, der früher oder später unausweichlich zum Schlachthof führt, da das Schlachten ein integraler Bestandteil des viehwirtschaftlichen Zyklus ist, in dem die effizienz- und gewinnorientierte Linearität zwar am deutlichsten am industriellen Förderband des Schlachthofes sichtbar wird, jedoch bereits auf dem Bauernhof die Vorgänge prägt. Den Kern der Auseinandersetzung des Romans mit Schweizer Mythen bildet die Tatsache, dass die Schweiz, und insbesondere der Knuchelhof und das Schicksal der Titelgestalt aus der Perspektive des Nicht-Schweizers Ambrosio erlebt und geschildert werden. Noch früher als in der Bundesrepublik Deutschland, von Irland und anderen Boom-Volkswirtschaften des 21. Jahrhunderts ganz zu schweigen, war die Wirtschaftsentwicklung der Schweiz in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf Arbeitsmigranten angewiesen: es war bekanntlich Max Frisch, der 1965 den viel- und oft falsch zitierten Satz äußerte: »man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen».28 Auch in dieser Hinsicht war die Schweiz der ersten Nachkriegsjahrzehnte kein hinterwäldlerisch-rückständiger Kuckucksuhr-Hersteller, sondern ein Vorreiter Europas. Soziologische Darstellungen der Arbeitsmigration aus der Sicht der Aufnahmekultur neigen dazu, die Arbeitsmigranten als Betroffene, gar als Opfer zu betrachten, was im materiellen Sinne auch häufig zutrifft. Dennoch sind Migrantenfiguren in literarischen Texten wie jede andere Figur fiktionale Konstrukte, Positionen, aus denen auch das Gastland betrachtet und erzählt werden kann.29 Die Erfahrung der Migration, zu einer literarischen Erzählerposition verarbeitet, fördert die Verfremdung, den kritischen Blick. Im Bezug auf türkischdeutsche Literatur sieht Arlene Teraoka in dieser Praxis eine Art Umkehrung des ethnographischen Blicks: »The Other speaks back«.30 Auch Ambrosio verwendet diesen Blick, wenn er das Schweizer Selbstbild eines kleinen Landes umkehrt. Stattdessen bemerkt Ambrosio die monumentale Größe der Häuser, der Zäune, der Kühe – »vacas grandes como elefantes« (S. 83) –, sogar der Knuchel–––––––— 27 28 29 30

Garner: Animals, politics and morality (Anm. 17), S. 96f. Max Frisch: Überfremdung I. In: M.F.: Öffentlichkeit als Partner. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 100–104, hier S. 100. Vgl. dazu Leslie Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Towards a New Critical Grammar of Migration. New York: Palgrave MacMillan 2005, S. 17f. Arlene A. Teraoka: Gastarbeiterliteratur: The Other speaks back. In: Cultural Critique 7 (1987), S. 77–101.

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bäuerin und der leitmotivisch immer wieder auftauchenden Hebamme. Ambrosios Bewunderung der »musterhaft bestellten Felder« (S. 316) wird also von Anfang an durch seine Wahrnehmung einer grotesken Überdimensionalität relativiert. Damit wird auch ein weiteres Schweizer Selbstbild in Frage gestellt: das kleine Land, das still im Schatten seines großen dominierenden nördlichen Nachbarn lebt. Ambrosio beobachtet auch die obsessive Ordnungsliebe, die bis zur ihm völlig rätselhaften Verzierung des Misthaufens führt (vgl. S. 240), und die Auswirkungen der nationalen Festungsmentalität im landwirtschaftlichen Alltag: die Felder waren »nicht nur kuhsicher eingezäunt, sie waren befestigt, verbarrikadiert, zwei Meter hoch waren sie umhagt, nirgends wurde mit Stacheldraht gespart.« (S. 81) Ambrosios Blick auf das Leben am Knuchelhof und seiner Umgebung lässt hinter der sanften Satire der Übertreibung unheimliche Elemente erkennen. Nicht nur wirtschaftliche Zwänge stören die alpine Idylle. Erstens zweifelt Ambrosio zunehmend an der Authentizität dieser Idylle: »Diese Menschen, diese Dörfer, diese Hügel und Wälder und Berge, war das wirklich alles echt?« Die schweizerischen Bauern bearbeiten ihre Felder »als wären sie von der Wichtigkeit ihrer Geste überzeugte Schauspieler.« Es kommt ihm vor, als ob die Männer hinterm Pflug, die Frauen, die unaufhörlich ihre Blumen gießen, vielleicht sogar das »euterstarke Vieh« allesamt »zu den Kulissen einer gigantischen Theateraufführung [gehören], die eigens, um ihn irrezuführen, inszeniert worden war.« Doch der Blick des Migranten ist nur scheinbar ein naiver: »Ihn, Ambrosio, hatte man nicht getäuscht.«31 Von seinen Illusionen durch die Teilnahme an einer Welt befreit, die ihn zwar diskursiv weitgehend ausgeschlossen hat, aber mit der und in der er in engem physischen Kontakt gelebt hat, hat Ambrosio aus der Verfremdungserfahrung des Fremdseins neue Erkenntniskräfte gewonnen und »den Innerwaldnern durch die Geranien hindurch in die Stube gesehen.« (S. 313f.) Gerade in der Stube lauert unter der komischen Oberfläche das Unheimliche. Immer wieder wach gehalten durch ein rhythmisches, dumpfes Trommeln an den Holzwänden des Bauernhofes, entdeckt er schließlich, dass es durch die »Knuchelkinder« Stine, Hans and Theres verursacht wird, die, nebeneinander auf dem Sofa sitzend, ihre Köpfe »mit aller Wucht« gegen die Wand schlagen (S. 315); später zeigen sie stolz ihre plattgeschlagenen Hinterköpfe. Der dadurch aus der Fassung geworfene Ambrosio flüstert sich die Namen von Knuchels Kühen als eine Art Selbstberuhigungslitanei zu: »Bäbe, Fleck, Schneck, Bössy, Meye, Flora, Tiger, Stine, Gertrude, Spiegel, Blösch« (S. 315). Doch diese Beschwörung des Menschlichen an der Knuchelschen Tierbehandlung kann ihn den Gedanken an das Hämmern der Kinderköpfe gegen das Holz nicht vergessen lassen. Der verharmlosende Charme der Wortschöpfungen »Knuchelhof«, »Knuchelkinder«, »Knuchelvieh«, »Knuchelmilch«, »Knuchelmist« weist zugleich spätestens in Form der »Knuchelbefehle« (S. 251) auf eine patriarchalische Machthierarchie hin, an deren Spitze der gleichnamige Bauer steht. Daher scheint es nicht ganz abwegig, in der akustischen Nähe von »Knuchel« zu »Knöchel« einen Unterton latenter Gewalt erkennen zu wollen. Ambrosio wird nicht von –––––––— 31

Vgl. dazu Pender: »Das Eigene« and »das Fremde« (Anm. 11), S. 88f.

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ökonomischen Zwängen allein veranlasst, den Hof zu verlassen zugunsten der zwar eindeutig brutaleren und brutalisierenderen, zugleich aber auch mehr persönlichen Freiraum gewährenden Arbeitsbedingungen des Schlachthofes. In Sterchis Kritik am Mythos Schweiz haben nicht nur der Bauernhof und der Schlachthof, sondern auch die Kühe, vor allem die Titelgestalt Blösch, zentrale Bedeutung. In The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age sieht Harriet Ritvo in der Züchtung von »elite cattle«, riesigen Rindersorten wie dem so genannten ›Durham Ox‹ im England des 19. Jahrhunderts »a persuasive rhetoric of self-assertion and display«. Ritvo stellt einen Zusammenhang her zwischen »the ideal bovine and the social structure that it symbolically affirmed«.32 Das Rindervieh hat innerhalb der diskursiven Prozesse der Schweizer nationalen Selbstbestätigung eine vergleichbare Rolle gespielt. Im Roman wird diese Allegorie durch den Filter von Ambrosios verwundertem, manchmal spöttischem Blick gesehen: während er von den Kühen redet, sind die Anspielungen auf die ihm begegnende menschliche Gesellschaft der Schweiz unüberhörbar: Richtig gefallen konnten ihm diese Kühe unmöglich. Als kleiner Südländer hatte er Grund genug, allem Überdimensionierten, allem zu hoch Gewachsenen mit Vorsicht und Misstrauen zu begegnen, und diese Rasse hier war ihm einfach zu steif in die schwerfällige Form gegossen. Er hätte den Tieren gern ein wenig mehr Beschwingtheit gegönnt, er bezweifelte, daß sich die Kühe in ihrer trägen Wucht richtig wohl fühlten. Das hatte man ihnen aufgekreuzt. Und die Augen! Viel zu ehrlich guckten ihm diese aus den übergewichtigen Hohlschädeln. Diese Haustiere! dachte er verächtlich. Nein, um diese Simmentaler Kühe bewundern zu können, hatte er in ihren Mienen schon zu oft vergebens nach einem Anflug von Zorn gesucht. Nicht einmal eine Prise Schalk hatte er gefunden, nur krankhafte Anspruchslosigkeit und würdevolle Passivität. In ihrem erhabenen Getue, in ihrem Hang zur Selbstüberschätzung war nichts, das sich mit dem Stolz und mit der flinken Wut eines jungen Stieres aus Coruña hätte vergleichen lassen. (S. 104)

In den Schlachthofkapiteln wird der Erzähler, ein studentischer Lehrling, genauso abgestoßen durch die alltäglichen Erfahrungen dieser brutalen Arbeitswelt. Doch kann er sich wegen seiner durch Sprache und Zusammengehörigkeit viel engeren Verflechtung mit der Schweizer Kultur nicht so einfach von dieser befreien. Ambrosio dagegen, durch seinen Außenseiterstatus von der Homosozialität des Arbeitsplatzes teils ausgeschlossen, durch seinen Ausschluss aus der Sprache des Schweizer Patriarchalismus teils feminisiert, kann in der ausgemergelten Leiche, die ihm am Fließband entgegenkommt, sein eigenes Schicksal und das seiner Arbeitsgenossen erkennen: »Die Wunden Blöschs waren auch seine Wunden [...] Dieser Leib war auch Ambrosios Leib [...] In Blösch hatte sich Ambrosio an diesem Dienstagmorgen selbst erkannt«. Er hängt sich eine Kuhglocke um den Hals, steigt auf einen Stuhl »und [muhte] dazu aus voller Kraft« (S. 405–407). Das Ende seiner Arbeit im Schlachthof und seiner stets ambivalent aufgenommenen Teilnahme an der schweizerischen Gesellschaft steht unmittelbar bevor. –––––––— 32

Harriet Ritvo: The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age. London: Penguin 1990, S. 46, 49.

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Als empirische Tiergestalt gelesen, geht Blösch elendiglich und zerschunden zugrunde. Als allegorische Gestalt wirkt sie aber durch ihre Verweigerung der Teilnahme an der zwanghaften produktiven Verwertung inspirierend, bewegt Ambrosio ebenfalls zur Verweigerung. Blösch wurde zum Schlachthof verschickt, weil ihr Körper durch die unaufhörlichen Prozesse der Schwängerung, Geburt und Milcherzeugung sowie durch die Auswirkungen der Melkmaschinen nur mehr zum Schlachten gut war. Zunächst bleibt Blösch »auf der Schlachthoframpe zuchtgetreu unterwürfig und schlagtolerant« (S. 71) und wird »sangund klanglos [...] zum Schafott« geführt. (S. 113) Doch als Kadaver widersteht dieser Körper jedem Versuch des erfahrenen Schlachtmeisters Klemmen, ihn zu zerteilen, bis Klemmen ihn schließlich in einem Anfall von Wut und Frustration zu einem unverwertbaren Brei schlägt. So wird Blöschs Fleisch für ungenießbar erklärt, der Nahrungskette gänzlich entzogen und vernichtet. Blösch entfernt sich damit aus dem ewigen Kreis der Ausbeutung auf die einzige Weise, die ihre Machtlosigkeit erlaubt. Wie eine Maria Stuart in Rindergestalt geht sie mit Würde und damit im Triumph der Machtlosen über die Tyrannei ihrem Ende entgegen. Der Schluss des Romans lautet: »Die Kuh mit vergiftetem Fleisch, die Krähenbühl [der Waagmeister, M.McG] an der Rollbahn hinten zum Schlachthof hinausschob, war Blösch.« (S. 433) Blösch ist und hat das letzte Wort. Doch steht dieser ausgemergelte Rinderkörper nicht nur für das Ambrosio drohende Schicksal, sondern auch allegorisch für die Schweiz selbst. Einen Mythos kritisieren heißt wohl immer auch einen Mythos um- und damit fortzuschreiben: ohne Beat Sterchis Blösch auf eine Allegorie der Schweiz reduzieren zu wollen, lässt sich sicher sagen, dass Sterchi seiner Schweizer Leserschaft in der allegorisch beladenen Figur der stolzen Kuh und ihres einsamen, elenden und dennoch würdevollen Todes ein alternatives Selbstbild bietet, das eine Warnung und eine Möglichkeit des Widerstandes zugleich enthält. Als 1798 die Französische Revolution die Schweiz erreichte, mussten alle männlichen Schweizer, die das Alter von zwanzig Jahren erreicht hatten, einen Eid auf die neue Verfassung schwören. Die Liste für den Kanton Bern ist überliefert worden: unter den Namen der Unterzeichnenden findet man nicht nur einen Sterchi, sondern auch einen Blösch.33 »Blösch« bezeichnet nicht nur eine Kuh mit rot-weiß fleckiger Haut in den Farben der Schweizer Nationalfahne, sondern auch einen altehrwürdigen Schweizer Nachnamen. Wenn die zerschundene Blösch Ambrosio an der »disassembly line« entgegenkommt, sieht er nicht nur – wie oft in der Rezeption des Romans beobachtet – den durch die Ausbeutung zum Tier degradierten Arbeitsmigranten. Er sieht auch die Schweiz, durch ihre Ausbeutung nicht nur anderer, sondern auch ihrer Selbst zu einem ungenießbaren Kadaver reduziert, zu einer dem endgültigen Abstieg zur Travestie allzunahen Schwundstufe der Hallerschen und Schillerschen Idylle.

–––––––— 33

Vgl. etwa: http://www.andrist.net/family/oath-all-names.htm (Zugriff am 29.6.2007).

Teil VI

Mythos literarischer Gegendiskurs

Valerie Heffernan

Unschweizerische Schweizerliteratur? Ruth Schweikert, Peter Stamm, Zoë Jenny In einem 2003 erschienenen Band zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur diagnostizierte FAZ-Kritikerin Pia Reinacher »eine[n] tief greifenden Wandel« in der jüngsten Schweizer Literatur.1 Die neueren Schweizer Autoren – die teilweise erstaunlich hohe Verkaufszahlen erreichten2 – setzen sich, so Reinacher, entschieden von ihren literarischen und schriftstellerischen Vorfahren ab: Thema dieser jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren ist nicht mehr die Schweiz. Ihre Träume verheddern sich nicht mehr in der guten oder bösen Heimat. Das literarische Herz dieser nachrückenden Generation schlägt weder für noch gegen das Vaterland, sondern vielmehr für die eigene Biographie, für Liebe, Sex und Partnerstress. Zoë Jenny, Peter Weber, Ruth Schweikert, Perikles Monioudis, Aglaja Veteranyi, Peter Stamm, Raphael Urweider oder Silvio Huonder wenden sich in ihren Büchern gelassen von den Vätern ab und gehen eigene Wege.3

Reinachers Beobachtungen werfen wichtige Fragen bezüglich des Selbstverständnisses der jüngeren Schweizer Schriftstellergeneration auf. Sie deuten auf einen grundlegenden Bruch mit dem Konzept einer littérature engagée hin, wie sie von Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Walter Matthias Diggelmann, Peter Bichsel, Adolf Muschg, Hugo Loetscher und anderen Schweizern geschrieben wurde. Anders als die politisch und sozial engagierten Schriftsteller der 1960er und 1970er Jahre schenken die Angehörigen dieser Generation der politischen und sozialen Lage der Schweiz viel weniger Aufmerksamkeit; die Schweizer Identität hinterlässt daher, so Reinacher, »immer geringere Spuren im Text«.4 Vielmehr richtet sich ihr Blick nach außen und auf Motive und Probleme, die allgemein relevant sind und dadurch eine breitere Leserschaft ansprechen. Reinacher fällt auf, dass die neueren Schriftsteller die traditionellen Anliegen der Schweizer Literatur hinter sich gelassen haben, daher kommt sie zum uneingeschränkten Schluss, dass sie »der Heimat und ihren Stoffen entlaufen sind«.5 Reinachers Darstellung der literarischen Situation der Schweiz am Anfang des 21. Jahrhunderts tendiert zweifellos zur Verallgemeinerung und Vereinfachung, doch spiegelt sie zumindest teilweise Max Frischs fast vierzig Jahre zuvor –––––––— 1 2

3 4 5

Pia Reinacher: Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur. München, Wien: Nagel & Kimche 2003, S. 9. In dieser Hinsicht sei vor allem auf den Verkaufserfolg von Zoë Jennys und Peter Stamms Romanen der späten 1990er Jahre hingewiesen, sowohl innerhalb der Schweiz als auch auf dem internationalen Markt. Reinacher: Je Suisse (Anm. 1), S. 9. Ebd., S. 44. Ebd., S. 21.

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artikulierte Auseinandersetzung mit der jüngeren Literatur seiner Zeit wider. In seinem 1965 verfassten Essay Unbewältigte schweizerische Vergangenheit macht Frisch seinen jüngeren Kollegen den Vorwurf, sich nicht ausreichend mit ihrer Heimat auseinandergesetzt zu haben und vor allem dem heiklen Thema ihres zweifelhaften Verhaltens während des Zweiten Weltkriegs ausgewichen zu sein.6 Frisch bedauert, dass die jüngere Literatur der Schweiz »fast ausnahmslos apolitisch oder abstrakt-politisch« sei,7 und er stellt die pointierte Frage: »Ist unser Land für seine Schriftsteller kein Gegenstand mehr?«8 Während Frischs eindringlich formulierte Frage auch als Aufruf an seine Landsleute verstanden werden kann, sich mit den blinden Flecken in der schweizerischen Geschichte auseinanderzusetzen, erhebt Reinacher keinen politischen Anspruch. Dennoch kann nicht über die Tatsache hinweggesehen werden, dass Reinachers ebenso wie Frischs Ausführungen am Ende einer Epoche stehen, in der die Schweiz eine tief greifende Krise erlebte, die ihr Selbstverständnis ins Wanken brachte. In diesem Zusammenhang soll die Frage aufgeworfen werden, ob und inwieweit sich Pia Reinachers Darstellung der jungen Schweizer Schriftstellergeneration als Leitfaden eignet, um die neuere Literatur der Schweiz zu beleuchten. Insofern soll hier Reinachers These anhand dreier Schweizer Romane aus jüngeren Jahren auf die Probe gestellt werden, nämlich Zoë Jennys Das Blütenstaubzimmer (1997), Peter Stamms Agnes (1998) und Ruth Schweikerts Ohio (2005). Es geht darum zu untersuchen, ob und auf welche Weise die verschiedenen Diskurse über und um die Schweiz in diesen drei Werken explizit oder implizit angesprochen werden. Gegen Reinachers kritische Analyse möchte ich behaupten, dass sich die jüngeren Schweizer Schriftsteller sehr wohl mit ihrer Heimat auseinandersetzen, auch wenn sie dies auf verschlüsseltere Weise tun als ihre Vorgänger.

I. Mythos Ferne Ruth Schweikerts 2005 erschienener Roman Ohio beschreibt, wie zwei der Protagonisten, Roberto und Amalia Lazzaroni, die Wände ihres Wohnzimmers mit –––––––— 6

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Walter Matthias Diggelmanns zuerst im Juli 1965 in der Zürcher Woche in Fortsetzungen veröffentlichte und dann im Oktober desselben Jahres als Buch publizierte Die Hinterlassenschaft muss hier als brisante Ausnahme gelten. W.M.D.: Die Hinterlassenschaft. Zürich: Edition 8 2003. Max Frisch: Unbewältigte schweizerische Vergangenheit. In: M.F.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Bd. 5. Mein Name sei Gantenbein. Kleine Prosaschriften. Zürich-Transit. Biographie: Ein Spiel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 370–373, hier S. 372. Ebd., S. 373. Im März/April 1966 griff die Weltwoche Frischs provokative Frage auf und provozierte eine Flut von Reaktionen zum Thema, u.a. von Otto F. Walter, J.R. von Salis, Peter Bichsel und Adolf Muschg. Vgl. hierzu Klara Obermüller: Literatur der Zeitgenossenschaft. In: K.O. (Hg.): Wir sind eigenartig, ohne Zweifel. Die kritischen Texte von Schweizer Schriftstellern über ihr Land. München, Wien: Nagel & Kimche 2003, S. 7–23, hier S. 13.

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Landkarten und Stadtplänen bedecken, die mit wenigen Ausnahmen Länder und Städte zeigen, die sie nie bereisten.9 Dieses Bild könnte auch als Metapher für die jüngere Schweizer Literatur fungieren, denn diese fokussiert sich sehr häufig auf entfernte Orte, die möglichst weit weg von dem Herkunftsland ihrer Verfasser liegen. Dies könnte als Anzeichen für Reinachers Befund der Schweiz-Flucht zeitgenössischer Autoren gelten. Denn betrachtet man die Texte Peter Stamms, Zoë Jennys und Ruth Schweikerts, kann man in der Tat verstehen, warum Reinacher beteuert, dass sie sich absichtlich von der helvetischen Heimat distanzieren. Es ist tatsächlich auffällig, wie diese drei Autoren den expliziten Bezug auf die Schweiz aussparen und ihre Geschichten entweder ganz oder zumindest zum Teil im Ausland ansiedeln. Die Erzählungen werden in Chicago, Durban, Paris, Berlin, Skandinavien, London oder Lissabon angesiedelt, oder deren Hauptfiguren träumen von einem besseren Leben in der Ferne. Wenn die Schweiz überhaupt vorkommt, so erscheint sie oft nur als Herkunftsort der Protagonisten oder als reine Kulisse ohne erkennbare thematische Bedeutung. Jo, Zoë Jennys Protagonistin im Blütenstaubzimmer, sucht ihre Mutter in einem Land, das nie genannt wird, in dem aber die Sonne immer scheint, Feigenbäume wachsen und potentielle Liebhaber Luciano oder Vito heißen. Den Indizien im Text nach scheint das Land Italien zu sein, doch ist eine genaue Lokalisierung offenbar unwichtig; das einzig Wichtige ist, dass es anders als das Herkunftsland ist. Hier wird das Ausland als Paradies dargestellt, und Jo hofft endlich dort die Mängel in ihrem bisherigen Leben durch eine fruchtbare Beziehung zu ihrer Mutter auszugleichen. Sobald es jedoch scheint, als ob diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen wird, beginnt sich Jo nach einem Neuanfang an einem noch weiter entfernten Ort zu sehnen. Diesmal werden ihre Träume von einem besseren Leben geografisch verortet, und zwar in den Vereinigten Staaten; Milwaukee ist der Ort ihrer Träumereien. Diese amerikanische Stadt, die bei der Leserschaft womöglich Vorstellungen von Bierbrauereien und Fertigungsindustrie, technischer Entwicklung und Konsumgesellschaft hervorruft, bietet für Jennys Protagonistin die Möglichkeit eines neuen Lebens in der Anonymität, und das scheint den USA eigen zu sein. Ebenso wählt Peter Stamm die USA für seine Erzählung Agnes, die Pia Reinacher als »alles andere als ein schweizerischer Roman« bezeichnet.10 Der Protagonist von Stamms Roman verlässt seine helvetische Heimat, um in der Weltstadt Chicago sein Glück zu suchen. Auf diese Weise nimmt der Autor Abstand von seiner Heimat in diesem Roman, wie eben auch in seinen anderen Werken. Bemerkenswert ist, dass sich Stamms Romane und Kurzgeschichten nicht nur inhaltlich von der Schweiz distanzieren; Kritiker weisen häufig auf die amerikanischen Vorbilder hin, die Stamms Schreibstil beeinflussen. Sie stellen häufig in Stamms Prosa die Fortsetzung amerikanischer Erzähltraditionen fest, wie die von Ernest Hemingway, Raymond Carver und Richard Ford.11 –––––––— 9 10 11

Ruth Schweikert: Ohio. Zürich: Ammann 2005, S.21. Reinacher: Je Suisse (Anm. 1), S. 12. Vgl. zum Beispiel Hubert Spiegel: Erdmännchenblicke. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 42, 19.2.2000; Christine Lötscher: Die schwierige Freiheit der Fische. In: Tages-

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Ruth Schweikerts Ohio ist da allerdings nicht so leicht einzuordnen, weil der Roman die Chronik dreier Generationen der Familie Lazzaroni erzählt. Auf der einen Seite bildet die Schweiz den Schauplatz für die erinnerte Geschichte der ersten und zweiten Generationen, und das Geschehen auf dieser Erinnerungsebene spielt sich vorwiegend in der Schweiz ab. Auf der anderen Seite träumen die Protagonisten fortwährend von einem besseren Leben woanders, weg von der Schweiz und dem Ort ihrer gescheiterten Hoffnungen. So ziehen sich Andreas und Merete Lazzaroni in Meretes Geburtsort Durban in Südafrika zurück, um von dort aus eine neue Perspektive auf ihr Leben in der Schweiz und ihr Verhältnis zueinander zu gewinnen. Die Sehnsucht nach fremden und fernen Orten zeigt sich aber vor allem in den Tagträumen von Andreas’ Großeltern: Roberto und Amalia, die italienischen Gastarbeiter, die sich in Celerina im Engadin niederlassen, kultivieren ihre Phantasien von einem entfernten Ort namens Ohio. Diese Sehnsucht nach einem neuen Leben in Ohio reichen sie auch unreflektiert weiter an ihren kleinen Sohn Michele, Andreas’ Vater: Als kleines Kind hatte er [Michele] – er konnte noch nicht richtig lesen, die Buchstaben waren Bilder für ihn – in die Rinden der Arvenbäume OHIO geritzt, das H war eine Leiter und das I eine Straße in die Zukunft, eingerahmt von den beiden O: die offenen Münder seiner Eltern Roberto und Amalia, wenn sie am späten Nachmittag auf dem Sofa dösten.12

Diese Zeilen enthüllen die Künstlichkeit und Inhaltslosigkeit der Vorstellung der USA, die der kleine Michele von seinen Eltern erwirbt; sie ist so einfach, dass sie auch kindlicher Fantasie zugänglich ist. Wie hier offensichtlich wird, hat das Amerika, das in den Texten neuerer Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Stamm, Jenny und Schweikert erscheint, wenig mit der Realität zu tun, sondern es erscheint immer wieder als Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte der Figuren in den Texten. Was Reinacher aber in ihrer Auffassung der Schweizer Gegenwartsliteratur übersieht, ist, dass die Tendenz der Gegenwartsliteratur, das Ausland zu thematisieren, keineswegs einen »Wandel« repräsentiert. Im Gegenteil, in der Schweizer Literaturgeschichte wurde die Häufigkeit der Auslandserfahrungen sowohl für die Roman-Protagonisten als auch für die Schriftsteller selbst verschiedentlich konstatiert. Paul Nizon sah dieses Phänomen eher aus negativer Perspektive; in seinem inzwischen bekannt gewordenen Essay Diskurs in der Enge von 1970 beschrieb er die »Enge« der Schweiz, die »den Künstler aus dem Lande oder in die voreilige Vergeistigung treibt«.13 Für ihn müssten die Schweizer Künstler ihrem kleinen Land entkommen und ins Ausland flüchten, um produktiv schreiben und leben zu können. Peter von Matt dagegen sieht die Auslandserfahrung etwas positiver an, nämlich als eine Art »doppelte Heimat« oder eine –––––––—

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Anzeiger, 25.8.2001; Ulrich Rüdenauer: Ein Hemingway après al lettre. In: Frankfurter Rundschau, 17.12.2003. Schweikert: Ohio (Anm. 9), S. 124. Paul Nizon: Diskurs in der Enge. In: P.N.: Diskurs in der Enge. Verweigerers Steckbrief. Schweizer Passagen. Hg. von Peter Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 137–226, hier S. 167.

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»Zirkelexistenz: ein Bein in der Heimat, das andere im Ausland«.14 Von Matt unterstreicht, dass die Protagonisten wie auch die Autoren selbst sehr oft in die Heimat zurückkehren und das eigene Land nun mit anderen Augen ansehen. Auf diese Weise steht das Ausland beständig in einem engen Verhältnis zur Heimat. Die Fokussierung auf die USA in zeitgenössischen Texten setzt gleichermaßen einen für die Schweizer Literatur sehr prägnanten literarischen Topos fort. Von Jürg Federspiels Museum des Hasses (1969) und Max Frischs Montauk (1975) über Hugo Loetschers Herbst in der Großen Orange (1982) und Franz Bönis Amerika (1992) bis zu Rolf Lapperts Amerikanische Trilogie (1994– 2008) hat die USA in der Schweizer Literatur seit Langem eine signifikante Rolle gespielt15 – die Tradition wird in diesen drei Romanen fortgesetzt. Es ist wichtig zu bemerken, dass das Amerika der Schweizer Literatur fast ausschließlich als Bild, als klischeehaftes Image einen Wert hat. Die Schweizer Autoren lassen sich in ihren Werken bewusst auf die Klischees der USA ein und setzten sich oft kritisch oder ironisch mit den Stereotypen Amerikas auseinander, die durch Hollywoodfilme und Kriminalromane vermittelt werden. So werden die Vereinigten Staaten immer wieder idealisiert als Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder als das Zentrum von Freiheit und Fortschritt. Ähnlich wie die deutschsprachige Literatur insgesamt, stellen auch die Schweizer Schriftsteller viel öfter die amerikanischen Großstädte in ihren Texten dar; vor allem die Wolkenkratzer New Yorks dienen sehr häufig als Hintergrund zu ihren Erzählungen.16 Doch ist es wichtig anzumerken, dass das Ausland, und vor allem das literarisierte Amerika, immer als Kontrast zur kleinen, konservativen, als restriktiv und eng wahrgenommen Schweiz fungiert. Romey Sabalius betont die Wichtigkeit der USA als Kontrastfolie zur begrenzten und kleinbürgerlichen Schweiz: »In dieser Hinsicht stellt sich der nordamerikanische Kontinent ganz besonders gegenüber der sprichwörtlichen Enge der Schweiz als Gegenstück par excellence dar, sowohl unter geographischen als auch gesellschaftlichen Gesichtspunkten.«17 Die mehrfache Wiederholung des Amerikabildes in der Schweizer Literatur und vor allem die vielen Klischees, mit denen dieses Bild durchdrungen ist, unterstreichen, dass das Bild mehr mit der Schweiz zu tun hat als mit der USA. Amerika bietet einen Ausweg aus der als eng wahrgenommenen Alpenheimat; nur in der Anonymität von Milwaukee oder hoch oben in Chicagos Wolkenkratzern könne man den Mängeln und der Leere des Schweizer Alltags –––––––— 14

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Peter von Matt: Zirkelexistenzen. Die doppelte Heimat der Schweizer Literatur. In: Beat Schläpfer (Hg.): Swiss, Made. Die Schweiz im Austausch mit der Welt. Zürich: Scheidegger & Spiess 1998, S. 93–100, hier S. 93. Eine ausführliche Analyse dieser und anderer Schweizer Amerika-Texte bietet Romey Sabalius: Das Bild der USA in der zeitgenössischen Literatur der deutschsprachigen Schweiz. In: R.S. (Hg.): Neue Perspektiven der deutschsprachigen Literatur in der Schweiz. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 40 (1997), S. 11–30. Ebd., S. 18f. Vgl. auch hierzu Sigrid Bauschinger: Mythos Manhattan. Die Faszination einer Stadt. In: S.B, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hg.): Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam 1975, S.382–397. Sabalius: Das Bild der USA (Anm. 15), S.12.

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entkommen. Dies wird vor allem in Stamms Agnes deutlich artikuliert, wenn die Amerikanerin Louise den Schweizer Protagonisten mit der Bemerkung abfertigt: »Das Bild, das sich die Europäer von Amerika machen, hat mehr mit ihnen selbst zu tun als mit Amerika.«18 Das Amerikabild bei Stamm, Jenny und Schweikert erweist sich ebenfalls als klischeehaft und realitätsfern. Der Ich-Erzähler in Agnes bemüht sich zwar um ein Happyend für seine und Agnes’ gemeinsame Geschichte, doch bleibt Stamms Protagonisten die Möglichkeit wirklicher Liebe fern. Amerika mag wohl den Ruf haben, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein, aber die Realität ist wesentlich anders. Ähnlich geht es Roberto und Amalia Lazzaroni in Ohio: Das Ehepaar weiß zwar, dass es Robertos Bruder und seiner Familie in den USA nicht gut gegangen ist, doch scheint dies ihren Glauben an ein hoffnungsgebendes Ohio nicht zu erschüttern. Im Gegenteil, den können sie nur insofern aufrechterhalten, als dieser Ort immer ein Traum bleibt und nie zur Realität wird: Ohio war, soweit Michele wusste, nichts Besonderes. Ein welliges Tafelland, hatte Roberto das Schweizerische Lexikon zitiert, zwei- bis dreihundert Meter über dem Meer; die Bevölkerung arbeitete in der Eisen- und Stahlindustrie, im Maschinen- und Apparatebau. Dennoch oder gerade deswegen hatten sie diese Sehnsucht in all den Jahren auf kleinster Flamme genährt.19

Michele ist offenbar bewusst, dass seine Vorstellungen von Ohio mit dem wahren Ort nicht zu vereinbaren sind, doch scheint es, als ob die Lazzaronis diesen Traum von Ohio brauchen, um sich mit ihrem Leben in Celerina im Engadin abzufinden. Dass sie ihre Auswanderungspläne immer wieder verschieben, liegt weder an ihren mangelhaften Englischkenntnissen noch an Amalias Schwangerschaft, sondern an der inneren Notwendigkeit, ihre Vorstellungen von Ohio aufrechtzuerhalten. Auch Jennys Protagonistin scheint ihre Gedanken an Milwaukee zu brauchen; wenn ihre Freundin Rea die Möglichkeit einer Reise dorthin ganz ausschließt, so verwandelt sich Jos Wunschvision in eine Angstvision: »Die Wörter Rea und Milwaukee schrumpfen zu kleinen harten Angstkugeln. Ich bin voll mit diesen Kugeln, die mich von innen ausbeulen und verformen, so daß ich in alle Richtungen auseinanderzubrechen drohe.«20 Ihre Wahl von Milwaukee als Projektionsfläche für ihre Hoffnungen und Träume mag ebenso willkürlich wie grundlos zu sein, doch nach dem Verlust dieser Vorstellung wird die Protagonistin von Depressionen heimgesucht. Oberflächlich scheint es, als ob sich die Texte zeitgenössischer Autorinnen und Autoren sehr wohl von der Schweizer Heimat abkehren und einen Ausweg im Ausland suchen. Die Flucht in die Ferne kann jedoch nicht als Abkehr von dem Thema ›Schweiz‹ verstanden werden, denn gerade das Ausland bietet eine Projektionsfläche für die Kritik an der Heimat. Die drei Texte, die hier analysiert –––––––— 18 19 20

Peter Stamm: Agnes. München: Btb bei Goldmann 2000, S. 102. Schweikert: Ohio (Anm. 9), S. 80. Zoë Jenny: Das Blütenstaubzimmer. München: Btb bei Goldmann 1999, S. 124.

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werden, mögen zwar das Thema Schweiz nicht explizit aufgreifen, doch sowohl die Kontrastfolie ›Ausland‹ wie auch der Rückgriff auf spezifisch schweizerische literarische Vorbilder in ihren Texten weisen darauf hin, dass dieses Thema doch nicht gänzlich aus der jüngeren Schweizer Literatur verschwunden ist.

II. Mythos Schneetod Dass sich die jungen Schriftsteller nicht ganz von ihren literarischen Vorvätern und deren Schweiz-Obsession abwenden, zeigt sich auch deutlich in ihren literarischen Verfahren; ihre Texte spielen mit als schweizerisch etablierten Vorbildern und Motivkomplexen und berufen sich auf Motive und Bilder, die bereits in früheren Schweizer Texten eine prominente Rolle spielten. Doch ist dies keine affirmative Fortsetzung Schweizer Traditionen; die junge Generation verwendet solche in der Schweizer Literatur bekannten Motive und Metaphern gerade um kritisches Licht auf das Schweizer Selbstbild zu werfen. Das vielleicht offenkundigste Beispiel für einen solchen Motivkomplex ist das Sterben im Schnee. Das Motiv des Kältetods wird in allen drei der oben genannten literarischen Werke auf unterschiedliche Weise gestreift, findet seine in der zeitgenössischen Literatur eindrucksvollste Ausformung aber in der phantastischen Schlussszene von Peter Stamms Agnes. Als Agnes das Ende der für sie und über sie geschriebenen Geschichte liest, wird suggeriert, dass sie sich einem literarisierten Tod im Schnee hingibt. Der Erzähler beschreibt diese fiktive Szene wie folgt: Dann kniete sie nieder, legte sich hin und drückte ihr Gesicht in den pulvrigen Schnee. Langsam gewann sie das Gefühl zurück, erst in den Füßen, in den Händen, dann in den Beinen und Armen, es breitete sich aus, wanderte durch ihre Schultern und ihren Unterleib zu ihrem Herzen, bis es ihren ganzen Körper durchdrang und es ihr schien, als liege sie glühend im Schnee, als müsse der Schnee unter ihr schmelzen.21

Diese starke Schlussszene von Stamms Romans ist von einigen Kritikern als Replik eines von Robert Walser entworfenen Todes im Schnee rezipiert worden.22 Walser hat nämlich seinen eigenen Tod im Schnee fast fünfzig Jahre im Voraus literarisch prophezeit, indem er in seinem 1907 verfassten Roman Geschwister Tanner das Auffinden eines toten Dichters im Schnee beschrieb.23 In diesem Zusammenhang ist es signifikant, dass Agnes ihren eigenen Tod im Roman selbst vorausgesehen hat. Als beide Protagonisten auf einer Wanderung auf einen kleinen Friedhof stoßen, bemerkt Agnes: »Stell dir vor, in wenigen Wochen –––––––— 21 22 23

Ebd., S. 153. Vgl. hierzu Norbert Staub: Rieselnde Wirklichkeiten. In: NZZ, Nr. 233, 8.10.1998; Peter Hamm: Der Tod der erzählten Frau. In: Focus, Nr. 47, 16.11.1998. Robert Walser: Geschwister Tanner. In: R.W.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Bd. 9. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 129f.

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liegt hier Schnee, und dann kommt für Monate niemand hierher, und alles ist ganz still und verlassen. Es heißt, zu erfrieren sei ein schöner Tod.«24 Peter von Matt datiert das Motiv des Kältetods noch weiter in der Vergangenheit, und betont, »daß sich das Sterben im Schnee, der Kältetod, seit dem 19. Jahrhundert als ein unheimlich-inständiges Motiv durch die Schweizer Literatur zieht.«25 Als exemplarische Autoren nennt er Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Meinrad Inglin und Friedrich Dürrenmatt. Auch wenn sich Peter Stamm zu amerikanischen Vorbildern bekennt, lässt er sich motivgeschichtlich ebenso als Repräsentant einer spezifisch schweizerischen Tradition einordnen. Allerdings weicht seine Version des Kältetods signifikant von dem durch die Schweizer Literatur überlieferten Motiv ab. Es ist merkwürdig, wie Agnes’ imaginärer Tod im oben zitierten Abschnitt nicht mit Kälte verbunden wird, sondern mit Hitze; indem sich Agnes hier einem keinesfalls unschweizerisch anmutenden Tod im Schnee hingibt, strahlt sie vor Wärme. Bemerkenswert ist, dass auch Schweikert und Jenny mit Varianten dieses Motivs spielen. In Ruth Schweikerts Ohio erlebt Sarah, eine gute Freundin der zwei Protagonisten, einen langsamen Tod im Schnee, als sie bei einer Wanderung in den Bergen durch eine Gletscherspalte fällt und dort erfriert. »In einer Tiefe von ungefähr zwanzig Metern eingeklemmt zwischen den Eiswänden einer Gletscherspalte, konnte sie sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen.«26 Auf diese Weise wird dem für die Schweizer Literatur sehr häufigen Motiv des Kältetods ein tieferer Sinn verliehen. Schweikert spielt hier auf die Begrenztheit an, die mit der Schweiz assoziiert ist und die spätestens seit Nizons provokativen Behauptungen der schweizerischen »Enge« eine wichtige Metapher für die Schweiz bildet. Nizons Konzept hat die Diskussionen über die Schweizer Literatur so sehr gefärbt, dass es zwischenzeitlich auch zum Klischee geworden ist. Insofern kann es kein Zufall sein, dass Ruth Schweikerts Version des Kältetods gerade diesen Aspekt der Schweiz auf unübersehbare Weise hervorhebt. Allerdings verstößt Schweikerts Variante des Motivs gegen die herkömmliche Vorstellung der »Enge«. Erstens signalisiert der tödliche Unfall nicht Erstarrung sondern Erneuerung und Veränderung; nach Sarahs Tod und dem gemeinsam erlebten Trauma zieht Andreas zu Merete und sie beginnen einen neuen Lebensabschnitt als Paar. Zweitens stellt Schweikert mit ihren Roman Nizons These grundsätzlich infrage. Indem die Autorin eine Erzählung produziert, die in der Schweiz angesiedelt ist, bekannte Schweizer Motive miteinbezieht und auf bekannte Topoi der Diskussionen über die Schweizer Kunst anspielt, beweist sie, dass man weder physisch noch literarisch aus der Alpenheimat flüchten muss, um produktiv schreiben zu können. Die Unmöglichkeit, sich weder vorwärts noch rückwärts zu bewegen, erfährt auch Jo in Jennys Blütenstaubzimmer in schmerzlicher Weise, als sie nach dem –––––––— 24 25

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Stamm: Agnes (Anm. 18), S. 78. Peter von Matt: Schreiben und Sterben einer Autorin: Adelheid Duvanel. In: P.v.M.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München, Wien: Carl Hanser 2001, S. 298–310, hier S. 306. Vgl. auch P.v.M.: Zirkelexistenzen (Anm. 14), S. 96. Schweikert: Ohio (Anm. 9), S. 154.

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gescheiterten Besuch bei ihrer Mutter wieder nach Hause kommt und alles verändert vorfindet. Der Vater, der einst das bunte Leben eines Bohemiens führte, wohnt jetzt in einem netten Vorort, fährt ein richtiges Familienauto und hat das Rauchen aufgegeben. Jo kann sich mit der neuen Realität nicht abfinden und verlässt das Haus in der frühen Morgendämmerung. Hoffnungs- und aussichtslos zieht sie sich in den Park zurück, wo es zu schneien beginnt: Zwei alte Frauen sitzen wie ausgestopft dicht aneinandergedrängt auf einer Parkbank. [...] Ich weiß, ich störe sie. Aber ich bleibe trotzdem hier. Und sage ihnen nicht, daß ich zusehen will, wie der Schnee auf den Boden fällt. Solcher, der nicht haften bleibt und eine dicke weiche Schicht bildet, sondern schmilzt, und daß ich deshalb immer auf die nächste Flocke warte, auf den sekundenschnellen Augenblick, in dem sie auftrifft und noch nicht geschmolzen ist. Und gemeinsam mit ihnen hier warten werde, auf die weiße Schicht über dem Boden. Auf die Decke aus Schnee.27

Bei dieser Schlussszene von Jennys Roman kommt es zwar nicht zum Tod im Schnee, aber die Tradition, auf die die junge Autorin sich bezieht, ist deutlich. Die Vergänglichkeit des Lebens wird hier durch die Vergänglichkeit des Schnees abgebildet. Der Schnee, der in der Schweizer Literatur oft mit Stille und Frieden, aber auch manchmal mit Härte und Beständigkeit verbunden wird, wird bald schmelzen. Die Themen und Motive, die in den Texten der jungen Schriftstellergeneration vorkommen, scheinen auf den ersten Blick einen Wandel in der literarischen Landschaft anzuzeigen. Vor allem die Tatsache, dass diese Autorinnen und Autoren ihre Erzählungen außerhalb der Schweiz ansiedeln, hinterlässt den Eindruck, dass es hier um eine Ablehnung der Heimat und ihrer literarischen Traditionen geht. Doch wenn man näher hinschaut, so enthüllen die Texte ihre Verwandtschaft mit früheren Schweizer Texten und ihre indirekte Auseinandersetzung mit der Schweiz. Dass alle drei Autoren bewusst und absichtlich Motive der Schweizer Literaturgeschichte wie das des Kältetods aufgreifen, bedeutet, dass sie sich in eine Tradition stellen und nicht, dass sie mit dieser Tradition brechen. Ihr Verhältnis zur Tradition erweist sich allerdings als komplex und ambivalent und nicht als affirmativ. Das Motiv scheint in der Schweizer Gegenwartsliteratur alles andere als eingefroren zu sein, sondern erweist sich als taufrisch und wird durch Stamm, Schweikert und Jenny neu belebt.

III. Mythos Schweiz Wenn Reinachers Thesen zur Lage der zeitgenössischen Schweizer Literatur bei Stamm und Jenny problematisch erscheinen, dann scheinen sie bei Schweikerts Roman, der zwei Jahre nach Reinachers Analyse entstand, gar unzutreffend zu sein. Vor allem in dem Roman Ohio ist die Schweiz durchaus Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung. Bemerkenswert dabei ist, dass so viele der poli–––––––— 27

Jenny: Das Blütenstaubzimmer (Anm. 20), S. 139.

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tischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen, die in den 1980er und 1990er Jahren das Selbstverständnis der Schweizer im Inland sowie das Bild der Schweiz im Ausland ins Wanken gebracht haben, thematisiert und kritisch reflektiert werden. Schweikerts Erzählung fokussiert auf Andreas und Merete Lazzaroni, deren Beziehung langsam auseinandergeht und die sich die Frage stellen, wie und wodurch dieser Prozess angefangen hat. Ihre Beziehung ist allerdings mit anderen Beziehungen verquickt, mit der Beziehung von Andreas’ Eltern, zum Beispiel, zwischen dem Vater, der der Sohn italienischer Gastarbeiter ist, und der Mutter, die als Mädchen aus dem Osten vertrieben wurde. Ebenso weist die Geschichte noch weiter in die Vergangenheit zurück, auf Andreas’ Großeltern, die 1920 ihre Heimatdörfer in Italien verließen, um in einer Schweizer Kleinstadt Arbeit zu suchen. In Form einer Familiengeschichte schreibt Schweikert also auch zugleich ein Stück Schweizer Geschichte. So kommen wichtige Ereignisse für die Dekonstruktion und Rekonstruktion des schweizerischen Selbstverständnisses auch in Schweikerts Ohio vor und tragen zu einem relativierten Bild der Schweiz bei. Merete hatte sich den Jugendunruhen in Zürich in den frühen 80er Jahren angeschlossen, die der Unzufriedenheit mit den herrschenden sozialen und politischen Verhältnissen unter der jüngeren Generation Ausdruck gaben. Für Merete, wie für viele andere Teenager aus wohlhabendem Hause, boten die Jugendgruppen die Möglichkeit, die Selbstgefälligkeit der Elterngeneration infrage zu stellen.28 Die Bewegungen in den Schweizer Städten um diese Zeit enthüllten erhebliche Risse im idyllischen Heile-Welt-Bild der Schweiz. Dass die Autorin gerade diese hervorhebt, und zwar recht früh im Roman, bezeugt gleich von Anfang an ihre Auseinandersetzung mit den politischen, sozialen und kulturellen Realitäten ihrer Heimat. Auch das Klischee einer neutralen und humanitären Schweiz, die vom Zweiten Weltkrieg verschont blieb, ein Bild, das allmählich seit 1945, aber vor allem in den vielen Debatten in den 1990er Jahren, wesentlich revidiert wurde, wird in Schweikerts Roman kritisch reflektiert. Dies zeigt vor allem Almuts Vorstellung über die Schweiz. Almut, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester aus Breslau nach Waldshut an der süddeutschen Grenze umgezogen ist und das zweifache Trauma von Vergewaltigung einerseits und dem Tod der kleinen Schwester andererseits schwer überwinden kann, nimmt die Schweiz von jenseits der Grenze als eine ungestörte Idylle wahr: Von den beiden Dachkammern aus, die sie zu dritt bewohnten, Margarethe, Almut und die Mutter, sah man auf die andere Seite des Flusses. Dort lag die Schweiz mit ihren Seen, Feldern und Wäldern und den kleinen Städtchen dazwischen, die so hübsch und so intakt waren, daß sie sich wie die Kulisse zu einem Theaterstück ausnahmen, das seit Jahrhunderten ununterbrochen gespielt wurde.29

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Schweikert: Ohio (Anm. 9), S. 10f. Ebd., S. 45f.

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Almuts Vorstellungen von der Schweiz als heile Welt mögen dem Leser heute naiv vorkommen, doch hängen diese eng mit der Epoche zusammen. Von außen gesehen scheint die Schweiz 1953 ein friedliches, vom Krieg verschontes Land zu sein, vor allem im Vergleich zu der Desorientierung, der Zerstörung und der ungewissen Zukunft, die das Deutschland dieser Zeit charakterisieren. In ihrem Schreiben unterstreicht Schweikert allerdings gerade die Künstlichkeit dieses Images; die Schweiz erscheint so hübsch und so perfekt, dass sie Almut wie die »Kulisse zu einem Theaterstück« vorkommt. Auch wenn Almut ihre Sehnsüchte und Hoffnungen auf die Schweiz projiziert, so ist sie sich trotzdem bewusst, dass ihr idyllisches Bild der Schweiz ein inszeniertes ist, das nicht unbedingt mit der Realität zu vereinbaren ist. Das Leben in der Schweiz erweist sich denn auch als alles andere als idyllisch, es gibt tatsächlich eine große Diskrepanz zwischen dem Bild und der Realität. Die Heirat mit dem hübschen Michele ist für beide ein Kompromiss, das glückliche gemeinsame Familienleben eine Fassade, hinter der sich Micheles frustrierte Träume und Almuts unbewältigte Traumata verbergen. Trotzdem ist diese Realität nicht nur negativ zu betrachten. Wie Almut nach dem Tod ihres Mannes betont: »›Ich weiß, daß mein Mann schwul war‹ – sie sagte schwwuul, als bereite es ihr ein besonderes Vergnügen – ›trotzdem haben wir eine glückliche Ehe geführt.‹«30 Almut ist sich bewusst, dass ihr Verhältnis zu ihrem Mann kein perfektes war, aber sie akzeptierte ihn so, wie er war, und unter diesen Umständen konnten sie glücklich zusammen leben. Es muss kein perfektes Bild sein, so die Botschaft des Romans; mit relativierten und konsensfähigen Bildern, mit Kompromissen und Teillösungen könne man leben. Das schweizerische Selbstbild als Musterland wirtschaftlichen Erfolgs und internationaler Solidarität ist in jüngeren Jahren auch durch das Scheitern des Schweizer Konzerns Swissair ins Wanken gekommen, und das ist eine weitere Krise, die im Roman thematisiert wird. Die nationale Fluggesellschaft, die lange Zeit das Schweizer Selbstverständnis mit großem Erfolg verkörperte, geriet im September 2001 in so große finanzielle Schwierigkeiten, dass die Maschinen am Boden blieben. Im Roman wird dieses Ereignis zum Symbol für das Zerbröckeln eines Schweizer Mythos aufgewertet. Andreas beschreibt die ohnmächtigen Flugzeuge, die nicht mehr fliegen dürfen, als »kleine dumme Spatzen, [...], die sich für Adler gehalten, sich überfressen und aufgebläht hatten, bis sie endlich platzten«.31 Und seine Haltung gegenüber dem Untergang der Swissair spiegelt die Reaktion der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung wider, »ihre Bestürzung, ihre plötzliche Wut auf den Staat, die Banken und die verantwortlichen Manager«.32 Was bleibt von dem Bild einer effizienten, luxuriösen und zuverlässigen Fluggesellschaft, die in aller Welt als Bild der Schweiz gelten wollte? »Postkarten und Schlüsselanhänger, Bastelbögen und handliche Swissairflugzeuge aus Leichtmetall, Plüsch oder Plastik.«33 Diese –––––––— 30 31 32 33

Ebd., S. 142f. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd.

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kitschigen Spielzeuge deuten nicht mehr stolz auf die Stärke eines Nationalkonzerns, sondern metonymisch auf die Abwesenheit der Swissair und somit eines einheitlichen, nationalen Selbstverständnisses hin. Sie verdinglichen somit das Bild der Schweiz, das die Swissair repräsentierte: Es war und ist ein Klischee. Es sind aber nicht nur schweizerische Traumata, die in Ohio vorkommen, sondern auch auswärtige. Wichtig ist, dass die Schweiz in Schweikerts Roman nicht als autonome Insel dargestellt wird, sondern als ein Land, das durchaus in europäische und globale Verhältnisse verwickelt ist. So hätten die Attentate auf die Twin Towers in New York auch für die Schweiz eine Relevanz, und ebenso müsse man auf Besuch in Südafrika bedenken, dass Schweizer Banken während der Zeit der Apartheid die südafrikanische Regierung finanziell unterstützten.34 Was der Schweiz passiert, trifft auch das Ausland, und gleichermaßen führen globale Änderungen zu Wandlungen des Schweiz-Bildes. Überhaupt regt dieser Roman zum Nachdenken über Bilder an, und das Bild der Schweiz, das dabei entsteht, erweist sich als ein wesentlich differenziertes. In Schweikerts Ohio, so meine These, werden die Risse und Narben, die die Revisionen des gängigen Schweiz-Bildes in den letzten Jahren hinterlassen haben, zum sichtbaren Teil des Bildes selbst. Zwei verschiedene bildliche Motive werden in den Text eingeflochten, welche darauf hinweisen, wie sich das Image der Schweiz im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert hat. Erstens werden Micheles merkwürdige Fotografien beschrieben. Michele gefällt es nämlich, mit Bildern zu spielen. Er macht gerne Fotos von Menschen, inszenierte Fotos, in denen sie mit geschlossenen Augen aufgenommen werden: »›Damit Sie sich selber sehen können,‹ pflegte er ihnen zu sagen, ›wie sonst nur andere Sie sehen.‹«35 Diese künstlichen Bilder, in denen der Betrachtete auch zum Betrachter wird, sagen viel aus über die Funktion der Blicke und der Bilder im Roman. Der Betrachter hat die Möglichkeit, aus der Distanz ein erstarrtes Bild von sich selbst in einer Position der Machtlosigkeit zu betrachten. Durch einen merkwürdig doppelten Blick gewinnt der Betrachter Einsicht in sich selbst, er sieht das, was er normalerweise nicht sehen kann. So fungiert diese photographische Praxis als Metapher für die Selbstanalyse. Die Relevanz dieses Vorgangs für die Präsentation der Schweiz im Roman ist unübersehbar. Ruth Schweikerts Ohio kann als Porträt der heutigen Schweiz verstanden werden, und dies ist ebenfalls ein Bild der Schweiz mit geschlossenen Augen, wie sonst nur andere sie sehen. Es ist der Blick von außen, der klarsichtiger ist. Ähnlich wie Micheles eigenartige Fotografien stellt Schweikerts Porträt ihrer Heimat die Narben und Risse der jüngeren Vergangenheit bloß und veranschaulicht dabei die Zerbrechlichkeit und Schwäche der Schweiz. Das zweite bildliche Motiv, das im Roman Verwendung findet, hängt mit Meretes Leidenschaft für Paul Klees zerschnittene Bilder, über die sie auch ihre Dissertation schreibt, zusammen. Klee hat nämlich mehr als dreihundert seiner Bilder in kleinere Teile zerschnitten und diese wieder neu zusammengefügt und –––––––— 34 35

Vgl. hierzu S. 54, S. 58. Ebd., S. 62.

Unschweizerische Schweizerliteratur?

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als eigenständige Bilder ausgestellt. Ähnlich wie Klees Bilder, mit denen Merete arbeitet, zerschneidet und dekonstruiert dieser Roman das geschönte Image einer heilen Schweiz, wie es bis weit nach 1945 gepflegt wurde; Teile davon werden neu zusammengestellt und konfiguriert, sodass ein wesentlich differenzierteres oder auch fragmentierteres Image entsteht. Das neue Image der Schweiz bezieht Bruchstücke der vielen klischeehaften Repräsentationen der Schweiz mit ein, aber es stellt eben auch die Künstlichkeit derselben bloß. In diesem Prozess entsteht ein ganz neues Image der Schweiz, in dem allerdings das alte sichtbar bleibt. Ruth Schweikerts Ohio regt zum Nachdenken über das klischeehafte Bild der Schweiz an, das demontiert werden musste, damit das Land die Fehler der Vergangenheit konfrontieren und sie anerkennen konnte. Gleichzeitig konstruiert der Roman ein neues Bild der Schweiz, das zweifellos von den vielen Krisen und Skandalen der 1980er und 90er Jahre geprägt ist und die Spuren eines signifikanten Umdenkensprozesses trägt. Die Schweiz ist nicht das, was sie einmal schien, heißt es in diesem Roman, und Schweikert scheut sich nicht davor, sich zu diesem revidierten Bild ihrer Heimat zu bekennen. Betrachtet man die Romane Peter Stamms, Zoë Jennys und Ruth Schweikerts näher, so kann man Pia Reinachers Diagnose eines »tief greifenden Wandel[s]« in der jüngsten Generation der Schweizer Literatur schlicht nicht nachvollziehen, denn diese Autoren kehren ihrer helvetischen Heimat nur oberflächlich den Rücken. Ihre Literatur mag wohl indirekter mit dem Thema ›Schweiz‹ umzugehen als die eines Max Frisch oder eines Adolf Muschg oder sogar eines Thomas Hürlimann, doch bedeutet dies nicht, dass man ganz und gar von eine »neue[n] literarische[n] Identität« sprechen kann.36 Sie verwenden die Außenperspektive, um kritisches Licht auf ihre Heimat zu werfen und machen sich die literarischen Werkzeuge ihrer Vorgänger zunutze, um diese neu zu beleben. Durch ihre Literatur schreiben sie an und über die Schweiz – und sie schreiben sie neu.

–––––––— 36

Reinacher: Je Suisse (Anm. 1), S. 21.

Martin Zingg

Sprachgier und Sprachskepsis Über Jürg Laederach

Wer der Sprache miss-traut, kann der Sprache auch alles zu-trauen – und weiss natürlich, dass Sprache immer und bisweilen vor allem Auskunft gibt in eigener Sache: über die Art und Weise, wie sie funktioniert. Das eröffnet zahlreiche erzählerische Möglichkeiten, beispielsweise die, eine Biographie umzudeuten, abzufälschen, ein Leben anders ausgehen zu lassen, als behördliche Papiere es nahe legen. Bei Jürg Laederach, von dessen Werk im Folgenden die Rede sein wird, kann das dann so aussehen: Laederach Jürg, Sohn eines Isolationsspezialisten, Lehre bei einer im Gesicht scharlachfarbenen Schallfachfrau. Nebenbei Statist am Theater Basel. 1974 von einer freien Schauspielergruppe nach Giessen mitgenommen. 1975 in Zürich, wo er sich nicht durchsetzen konnte. 1978 Tournee durch Süd-Württemberg, 1981 Debüt im Zimmertheater Rottweil, wo er 1987 als erster Schweizer den Hamlet gab. Starker Akzent. Einwände der Kritik gegen Aussprache des Wortes »Dehnemarck«. Als Polonius umbesetzt. Weitere Einwände der Kritik gegen Todesszene. Seit 1988 Mitglied des Ensembles im Stadttheater Fürth, wo er in Thomas Bernhards frühem Stück »Erstickung« den Metternich spielte und sich selber zum Intendanten zu ernennen versuchte. Laederach, der ein einziges weiteres Mal auftrat (als Galomir in »Weh dem, der lügt«), diente der Basler Dramatik mehrmals als Thema.1

Oder, anderes Beispiel: Laederach Jürg, am 8. Mai 1932 in Luzern geboren, konvertierte, besuchte das HuldrychZwingli-Gymnasium in Zürich und studierte daselbst und in Bern Philosophie und Geschichte, beschäftigte sich daneben aber mit Bläsermusik und Dichtungen (an Papier und Rohren). Erstaufführung des »Feen-Scherzos« aus dem von ihm im Nachlass entdeckten und für Solosängerin umgeschriebenen Nonetts von Richard Wagner. Berüchtigte Verrisse und Polemiken. Öffentlicher Zusammenbruch der Sängerin, Interviews. Im Jahre 1979 wurde L. Damm- und Beckenspezialist im Hamburger Hafen, gewann zwei Mal die BinnenalsterRegatta im kleinen Zweier (Steuermann), löste eine Dauerpassagierkarte für Hansalinien und Fähren nordwärts und starb am 22. August 1988 in Bergen, wohin er sich zur Operation einer Geschwulst begeben hatte.2

Natürlich kann dieses Verfahren beliebig oft wiederholt werden. Biographische Notizen wie diese folgen letztlich einem tradierten und durchaus handlichen Muster, und dieses kann durch Variation und Ironie leicht blossgestellt werden. Laederach macht dies hier, er setzt aber zugleich Akzente, die nicht dem tradierten Muster folgen í er nutzt die Matrix und nimmt kleine Verschiebungen –––––––— 1 2

Jürg Laederach: Leben eines Spiegel-Sehers. In: Yvonne Böhler (Hg.): Der gespiegelte Blick. Zürich: Benziger 1990, S. 96í99, hier S. 96. Ebd., S. 99.

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Martin Zingg

vor, die bereits einiges von seinem Schreibverfahren verraten: Eine Neigung zum Kalauer etwa und zum überraschenden Schnitt, zur Übertreibung, zum ständigen Zerschlagen der eben erst sich bildenden Sinneinheit – und das alles bei nicht nachlassender Erkennbarkeit der lexikalischen Bedeutung. Vor dem Hintergrund der eben vorgestellten Texte nimmt sich die nun folgende biographische Notiz sehr banal aus. Denn diese nimmt keinerlei literarische Lizenzen in Anspruch í aber man zögert natürlich nun, eine solche biographische Notiz die ›richtige‹ zu nennen. Diese Notiz sieht so aus: Geboren ist Jürg Laederach 1945 in Basel. Schulen in Basel, dann Beginn eines Studiums der Mathematik an der ETH Zürich. Später Wechsel zur Universität Basel, wo er Romanistik, Anglistik und Musikwissenschaft studiert. Er lebt in Basel und publiziert Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays, zugleich ist er auch tätig als Übersetzer. Diverse Preise, verschiedene Mitgliedschaften, unter anderem bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. 1996 trennt er sich aus Protest gegen die Veröffentlichung von Peter Handkes serbienfreundlichen Texten zum Bosnienkrieg von seinem langjährigen Verlag Suhrkamp. Laederach spielt Saxophon, Klarinette und Klavier und tritt gelegentlich als Musiker mit einer Basler Jazzformation auf. Das sind Angaben, die den Autor als soziales Wesen verorten, ansässig in der Schweiz etc., aber sie verraten natürlich nichts über sein Werk. Um das Werk soll es im Folgenden gehen. Meine Anmerkungen dazu verstehe ich vor allem als Einladung, das Werk dieses ungewöhnlichen Autors wieder einmal hervorzunehmen. Es verdient, stärker als es bisher geschehen ist, eingebunden zu werden in den Diskurs über die aktuelle deutschsprachige Literatur. Das inzwischen sehr umfangreiche Werk von Laederach hat zwar durchaus eine Entwicklung, es hat sich über die Jahre immer wieder verändert, aber diese Veränderung ist letztlich eine Variation von ästhetischen Grundentscheidungen, die sich im Wesentlichen kaum verschoben haben. Diese lassen sich darum von sehr vielen Orten, lies: Texten, aus beschreiben. Was längst zu einem Gesamteindruck verklumpt ist, soll damit auf einzelne Quellen zurückgeführt werden. Sein Debüt als Schriftsteller gab Jürg Laederach 1974, vor etwas mehr als dreissig Jahren, im Suhrkamp Verlag mit dem Erzählungsband Einfall der Dämmerung. Der schmale Band enthält Texte von unterschiedlicher Länge: Parabeln, Märchen, Satiren, Aktennotizen, Erzählungen, die an Western erinnern wollen und dann doch keine sind, Spielanleitungen und nüchtern gehaltene Beschreibungen, die unvermittelt ins Groteske kippen. Es sind Geschichten mit meist harmlosen Anfängen – so manches will einem vertraut erscheinen, und schon kommt es vollkommen anders, schon brechen die Texte sehr überraschend ab und drängen in eine neue, unerwartete Richtung. Sprichwörter werden buchstäblich beim Wort genommen und behalten sozusagen das letzte Wort, bestimmte Wendungen lösen Assoziationen aus, die sich erzählend kaum mehr einbinden lassen. Es sind Prosatexte, die immer wieder und lustvoll aus allen Erwartungen ausscheren, die sie erst eben geschürt haben.

Sprachgier und Sprachskepsis

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Zusammengehalten werden viele Texte in diesem Erstling von einer Kunstfigur, die ›Hirse‹ heisst. Hirse kann buchstäblich alles. Hirse kann in jede Zeit, an jeden Ort, in jede mit Sprache benennbare und also durch Sprache herstellbare Situation hineingeraten. Zugleich stellt diese Figur durch ihren Auftritt viele diese Situationen erst her. Also kann sie auch in unterschiedlichen Textsorten auftreten und diese zugleich auch als solche kenntlich machen. Das kann eine Zeitungsmeldung sein, ein Lexikonartikel, ein Western, eine Moritat. Alles, so sieht es aus, ist Hirse vergönnt, und alles ist nur möglich durch Sprache. Der Preis für diese grenzenlose Verfügbarkeit ist natürlich der Verzicht auf vertraute, lebensweltlich beglaubigte Kausalitäten. Hirse ist eine unbeschränkt wandlungsfähige Gestalt, die jedes Attribut wieder abstreifen kann und wie eine Sonde in alle möglichen Situationen hineingehalten und hineinerzählt wird. Sie ist ständig von Auflösung bedroht, jederzeit kann ihr die Sprache den Boden unter den Füssen wegziehen und sie anderswo weitergehen lassen. Erst durch die Veranstaltung des Textes kommt also das zustande, was es im Text über Hirse zu lesen gibt. Hirse führt vieles vor, was Laederach in den folgenden Romanen und Erzählungen immer wieder aufgegriffen und variiert hat. Das mäandernde Erzählen gehört dazu, so gut wie die parodierfreudige, in ständiger Bewegung begriffene, nach allen Seiten hin ausschlagende, sich immerfort verzweigende, jederzeit zum Kalauer sprungbereite Sprache í sowie das Wissen um die ›Materialhaftigkeit‹ der sozialen und psychischen Wirklichkeit. Und es gehört dazu auch, dass in den Texten theoretische Überlegungen wie nebenher mitlaufen. Nicht als Gleitmittel, nicht als Bremsbelag, sondern als Spielmaterial und Selbstgespräch des Textes. Laederachs Texte denken immer auch über sich selber nach, und dieses Nachdenken biegen sie sofort in den Text zurück und machen es dem Erzählten gefügig – das natürlich kein lineares mehr sein kann. Das folgende Beispiel stammt aus Einfall der Dämmerung. Hirse wird hier nicht genannt í aber beim Lesen ist die Figur natürlich längst gegenwärtig, und es ist darum vorstellbar, dass Hirse hier als »stets schriftlich tätiger Mensch« charakterisiert wird. Gnahde Der Bündner Grosse Rat hat am Freitag das Begnadigungsgesuch eines stets schriftlich tätigen Menschen mit 940:16 Stimmen unerbittlich verworfen. Der schriftlich tätige Mensch war am schwarzen 13. Mai 1953 wegen unablässiger Verfälschung, hemmungslosem Plagiatentum und Satzteilnachahmung zu zwanzig Jahren schwerem Orthographiekerker verurteilt worden. Drei Millionen mehr oder weniger absichtliche Verschreibungen und Silbenverstümmelungen hatten zu dem nunmehr vor allem gehobenen Schichten exzessiv anmutenden Urteil geführt, das, nach den in klarer Mündlichkeit geäusserten Worten des Grossen Ratpräsidenten, »wäghä dr Anarkhie in Schprooch n Schriff wo mir uf khai Fall arläbä wenn« leider in seiner ursprünglichen Härte bestehen bleibt.3

Selbst in diesem wirklich sehr kurzen Text lässt sich der ungeklärte, buchstäblich prekäre Wirklichkeitsbezug des Dargestellten leicht erkennen. Allein schon ein –––––––— 3

Jürg Laederach: Gnahde. In: J.L.: Einfall der Dämmerung. Erzählungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 22.

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Parlament mit mindestens 956 Abgeordneten ist ausserhalb des kurzen Textes schwer vorstellbar, und vergeblich wird man in einem Gesetzbuch das Vergehen suchen, das Gegenstand dieser Sitzung hat werden können. 1977, drei Jahre nach dem Debüt, erscheint der erste Roman Im Verlauf einer langen Erinnerung. In einer Werkstatt-Notiz bemerkt der Autor: Der Roman ist nicht ganz mit den üblichen Matern des Romans geschrieben. Ich dachte von Anfang an an ein Thema mit Variationen. Der Problemkomplex Identitätsverlust oder Persönlichkeitsveränderung beim Schreiben hat mich lange schon fasziniert unter dem Aspekt, wie er sich literarisch umsetzen lasse, und nicht irgendwie, sondern optimal, nicht mit Mitteln einer trockenen psychographischen Abhandlung, sondern mit Anwendung verschiedener Schreibtechniken. Ich habe mich zu einem zusammenhängenden Zyklus von Abenteuergeschichten in vielen Gattungsspielen entschlossen.4

Der Roman setzt ein mit drei Sätzen, die ein ganzes Programm enthalten: »Mein Stachel ist, dass ich heissen muss. Nenn mich also bedingungslos Laederach. Zehn Minuten lang bin ich er.«5 Die Figur Laederach wird sehr bald schon abgelöst von einer Kunstfigur mit dem beziehungsreichen Namen »Keener«: diese beansprucht ein Eigenleben und löst sich, von Geschichte zu Geschichte vorstossend, allmählich ab von Laederach í das ist der Auftrag. Die Figur soll alles unternehmen, was in ihrer Macht steht, um sich von ihrem Schöpfer zu lösen. Keine einfache Sache, versteht sich. »Ein voller Einsatz der Körpersprache ist ausgeschlossen. Die Glieder, die bleiben, lehnen Artikulation ohnehin ab. Ich habe keine andere Wahl als Sprache.«6 In seiner luziden Besprechung hat Adolf Muschg wohl am genauesten die Folgen der Lektüre dieses »monströsen sprachlichen Schaltwerks« beschrieben und dabei gezeigt, wie man sich lesenderweise gerade durch und über die Widerstände gegen die zwanghafte Sprachlichkeit dieses Buches in diesem Buch verfängt. »Man befindet sich damit nämlich«, schreibt Muschg, »in der Gesellschaft von Laederachs Figuren, die Vorbehalte dadurch entkräften, dass sie selbst davon leben; sie praktizieren ihre eigene Widerlegung von einem Satz zum nächsten.«7 Jürg Laederach steht spätestens seit diesem Roman, seit 1977 also, im Ruf, ein eher schwieriger Autor zu sein. ›Schwierig‹ meint hier: Er schreibt keine gradlinigen Texte, seine Erzählungen und Romane haben keine leichthin nacherzählbare, angenehm rote Fabel, die ihnen den Rücken stärkt. Wer sich auf eine Lektüre einlässt, weiss keinen Moment lang, was alles noch möglich ist, worauf er oder sie gefasst sein muss. Laederach erzählt nicht nur keine Geschichte, er entwickelt auch keine Charaktere, keine handlungskonstituierenden Konflikte. Er schreibt quirlige Prosa, die sich von allen Seiten alimentieren und vorantreiben –––––––— 4 5 6 7

Jürg Laederach: Kurze Summe meines Romans mit dem Arbeitstitel: Reise ins Innere der Trauer. In: manuskripte 55 (1977), S.39–40, hier S. 39. Jürg Laederach: Im Verlauf einer langen Erinnerung. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 7. Ebd., S. 77. Adolf Muschg: Homunculus als Entdecker. Zu Jürg Laederach: Im Verlauf einer langen Erinnerung. In: Frankfurter Rundschau, 24.9.1977. Nachgedruckt in: A.M.: Besprechungen 1961í1979. Basel: Birkhäuser 1980, S. 112í114, hier S.112.

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lässt, von sprachlichen Möglichkeiten und dem alerten Misstrauen diesen gegenüber, von Assoziationen, von Theorien, Beobachtungen, und von der immer präsenten Lust, sich als Autor aus dem Spiel zu nehmen. Jedes seither erschienene Werk scheint diesen Ruf nur noch zu festigen und zu variieren. Mit dem Roman Das ganze Leben (1978) versucht Laederach zwar, was die Schraffur angeht, etwas anderes, Neues. Bob Hecht, Hauptfigur, sucht Arbeit und eine neue Beziehung zu seiner Frau Ann. Unterwegs zu seinem Glück muss er sich auch mal auslöschen. Am Ende betreibt er ein Schreibunternehmen und verfügt über einen Angestellten, die Schreibkraft Peyer, die immer zwei, drei Seiten hinter Robert Hecht hinterher schreibt. Eine längere Zusammenfassung will ich hier nicht riskieren, sie könnte kaum kürzer ausfallen als der Roman selbst; 300 Seiten umfasst er. Ich will hier auch keine Zusammenfassungen bündeln, aber hinweisen möchte ich. So auch auf den zweiten Erzählungsband í Das Buch der Klagen. Er erscheint 1980 und trägt den Untertitel Sechs Erzählungen aus dem technischen Zeitalter: in diesen Texten, die formal sehr verschieden sind, erzählt er í das ist nun sehr simpel resümiert, beinahe fahrlässig vereinfacht í zum ersten Mal auch davon, dass nicht so sehr die Dinge wirklich sind, sondern vor allem die Vorstellungen, die die Menschen sich von ihnen machen. 1980 liegen zwei Romane und zwei Erzählungsbände vor. Insgesamt hat Jürg Laederach bis heute fünf Romane veröffentlicht, zu den bereits erwähnten kommen hinzu Flugelmeyers Wahn (1986), Emanuel (1990) und Passion (1993). Fünf Erzählungsbände sind von ihm bisher erschienen, zwei habe ich schon genannt. Der wohl bekannteste Band trägt den programmatischen Titel 69 Arten den Blues zu spielen (1984), danach sind erschienen die Bände Vor Schrecken starr [1988] und Schattenmänner (1994). Gegen zwanzig Theaterstücke gibt es zudem, auch da nenne ich einige Titel: Wittgenstein in Graz, Ein milder Winter, Proper Operation, Tod eines Kellners, China, In Hackensack. Ein halbes Dutzend Hörspiele, drei Essay-Bände. Unter den Theaterstücken sei wenigstens Wittgenstein in Graz herausgegriffen, und zwar wegen der im Titel genannten Instanzen oder Grössen, die für Laederach lange sehr wichtig waren. Mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein und der Stadt Graz sind nämlich zwei wesentliche Quellen oder Antriebsfedern oder Referenzgrössen des Laederachschen Werkes benannt. Im Stück stossen sie aufeinander, und mittendrin steht der Autor, der sich damit auch selber, als Figur, auf die Bühne bringt. Mit Wittgenstein verbinden wir ja eine Sprachskepsis, die folgenreich auf das Verhältnis der via Sprache erkannten Wirklichkeit durchschlägt, so dass ›Wirklichkeit‹ auch sofort eine andere, von ihrer sprachlichen Vermittlung nicht trennbare Qualität erhält. Und in Graz, in der legendären ›Grazer Autorengruppe‹, ist Laederach schon sehr früh auf die Autoren und Autorinnen gestossen, die, lose versammelt um Alfred Kolleritsch, den Autor und Herausgeber der Literaturzeitschrift Manuskripte, eine eigene, von Sprachskepsis zeitweise nachhaltig infizierte Ästhetik entwickelt hatten. Autoren und Autorinnen wie Helmut Eisendle, Elfriede Jelinek, Peter Handke, Wolfgang Bauer, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Gert Jonke und andere gehörten dazu. Und diese wiederum

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bezogen sich natürlich auch auf die Wiener Gruppe um Konrad Bayer, Hans Carl Artmann, Gerhard Rühm etc. Anders herum verstanden heisst das auch: Nicht Max Frisch und nicht Friedrich Dürrenmatt markieren hier die Traditionslinie, in die oder gegen die Laederach sich stellt. Zur Nachbarschaft, in die er sich stellt, wären aus der Schweiz etwa Hermann Burger zu nennen, Urs Widmer, Reto Hänny, vielleicht Rolf Geissbühler und Urs Allemann sowie Friederike Kretzen. Unter den jüngeren Autoren zählen Dieter Zwicky und Michel Mettler sicher zu dieser Runde. Das literarische Umfeld wird auch erkennbar im umfangreichen Werk, das Laederach als Übersetzer geschaffen hat. Hier müssen die Autoren und Autorinnen genannt werden, von denen er Romane, Erzählungen und Theaterstücke übersetzt hat, denn auch die aus dem Französischen und aus dem Englischen übersetzten Werke geben Aufschluss über die literarischen Präferenzen dieses Autors. Übersetzt hat Laederach Werke von Harold Brodkey, Walter Abish, Frederick Barthelme, Maurice Blanchot, Michael Brodsky, Marguerite Duras, William H. Gass, Henri Michaux, John Hawkes, Grace Paley, Thomas Pynchon, Styles Sass, Gertrude Stein, Raymond Roussel und Michel Vinaver. Es sind lauter Schreibende, die ein delikates Verhältnis zur Sprache und zum Schreiben unterhalten, weshalb sich die eben präsentierte Aufzählung auch lesen lässt als präziser Hinweis auf das literarische Umfeld, in dem sich dieser Autor mit Vorliebe bewegt. Zurück zu den Texten. Zum Anfang einer Erzählung, die im Titel etwas verspricht, was mit der Schweiz zu tun haben könnte. Denn natürlich spielt die Schweiz, wie und woran immer man dieses Gebilde im Diskurs auch anfassen möchte, eine grosse Rolle bei diesem Autor. Wie eben alles eine Rolle spielen kann. Der Untergang der Schweiz, die Chaostheorie, das Warten auf einen Anruf, die Krankheit, eine Untergrundbahn, í alles, was auch Sprache ist. Im juranischen Element, so heisst die Erzählung. Sie ist 1995 erschienen, in der Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung, und später nie mehr publiziert worden, denn seither hat Laederach zwar da und dort noch literarische Texte publiziert, aber keinen Prosaband mehr herausgegeben. Dies ist ihr Beginn: Hier geschieht nichts. Hinter den einzelnen Tannen in Gruppen brennen sie wieder. Destillation abgeschlossen. Kolben bläst hüstelnd. Sie vergehen sich gegen das Gesetz des Verbots. Die beiden vordersten würden Tannenholz trinken, wenn sie könnten. Ich erzähle dir von einer Ehe samt Vorvergnügen. Ausser wahnhaften Erkrankungen zu zweit siehst du hysteriforme Erkrankungen, die sich von einem Ersterkrankten auf andere übertragen: Verzückungszustände, grosse hysterische Krampfanfälle, Visionen in Ekstasen, automatisches Predigen; die »chorea magna« des Mittelalters bestand in Prozessionen mit grotesken Verrenkungen der Glieder, alles wirkte ansteckend. Dies alles erzähle ich dir, und du sollst auftreten genau so gut. Dieser erste August war anders. Wir steckten die Raketen in leere Flaschen und zündeten sie an. Die Raketen blieben am Boden, die leeren Flaschen rasten in die Luft. Alle vollen Flaschen sahen zu. Die Gesichter hoben sich gegen den Himmel, senkten sich wieder. Alle sangen: So weit sind wir heruntergekommen. Wie du zu verschiedenen Teilen des eigenen Körpers ein Gefühl verschiedener Distanz hast, ungeachtet der realen Distanz, in der sie sich zum eigenen Körper befinden. Der Satz stimmt nicht, da die Körperteile den Körper ausmachen, also nicht in Distanz zu ihm sich befinden. Wenn Körper das ist, was zum Körper gehört, so kann sich auch die Fussspitze nicht in Distanz aufhalten, sondern gehört dazu; allenfalls liesse sich sagen, sie liege in einer gewissen Entfernung zum Rumpf.

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Wer sich konzentriert, sich also auf den Punkt bringt, wird deshalb die Fussspitzen weglassen. Das Weglassen kann ausgedehnt werden. Was gehört zum eigentlichen Körper, zu jenem, der sich konzentriert? Längst das Universum geschaffen, das in Distanzen rechnet, das in unmittelbar und weniger unmittelbar Dazugehörendes zerfällt. So fällt beim Körper ohnehin das meiste weg, da das Substantiv auch für Reste gilt. Gibst du uns aus deiner kleinen Zapfsäule was zu trinken? Leg den Schlauch in mein Glas und pump mir mal kräftig was. Beschimpfst du eine Institution, prüfst du oft nicht nach, ob die Beschimpfungen zutreffen. Du erhoffst dir da oben eine Geheimnissphäre und hoffst, in dieser selbst sei alles viel besser, als du schimpfst. Du hast also, noch während der Beschimpfung, bereits die Rettung des von dir beschimpften Gegenstands im Sinn, ahnst aber, dass du, drängest du nach da oben durch, alles beweisen könntest und recht gehabt hättest.8

Ich breche hier ab, willkürlich, nach gut einem Fünftel des Textes – und natürlich ist das nicht ganz in Ordnung, denn ein literarischer Text gibt sich immer nur als Ganzer zu verstehen. Was in dem Teil des Textes steht, den Sie nun nicht kennen, könnte ich Ihnen kaum zusammenfassen. Und es wäre wohl ebenso vergebliche Mühe, das nacherzählen oder gar resümieren zu wollen, was Sie eben gelesen haben. Das, wovon diese Prosa erzählt, ist nicht zu trennen von der Art, wie sie es tut. Die Geschichte scheint einen Moment lang so etwas wie Vertraulichkeit herstellen zu wollen, aber der Ansatz wird brüsk abgeschnitten. Der Text setzt ein mit der nicht eben ermutigenden Ankündigung, wonach hier nichts geschehe, aber dann ist immerhin die Rede von Menschen, die etwas brennen, wir können annehmen, es sei ein alkoholisches Getränk, vielleicht Absinth, und dem Titel folgend können wir vermuten, das Geschehen spiele im Jura. Und dann heisst es: »Ich erzähle dir von einer Ehe samt Vorvergnügen.« Aber schon der folgende Satz dämpft, ja blamiert alle Neugier, die Rede ist nun von »wahnhaften Erkrankungen«. Und: »Dies alles erzähle ich dir, und du sollst auftreten genau so gut.« Die vertrauliche Anrede bezieht uns ein weiteres Mal mit ein, aber nicht lange. Denn nun kommt ein essayistischer Einschub, der eine grundsätzliche Erwägung über Körper anstellt und zugleich ein sprachliches Problem in die Höhe hält í und auch alsbald wieder liegen lässt. Die Frage wird nicht beantwortet, der Text steuert in eine neue Richtung. Diese Richtung wird vorgegeben durch Assoziationen, und das heisst: Wer den Text liest, folgt der Assoziationsgewalt des Textes, der immer wieder Bezüge zur aussertextlichen Realität reklamiert, diese aber dann wieder dementiert, um neu vom Text aus zu handeln, und zwar sprachlich zu handeln, denn hier ist alles Sprache. Das heisst: Kein Angebot von Synthese, von Totalität, Verzicht auf jegliche Einheit und Einheitlichkeit und damit Versöhnung. Die von Mal zu Mal enttäuschte Sinnerwartung kann anstrengen, aber auch erheitern, denn jedes Mal, wenn sich über einige anschliessbare Wörter oder Wendungen oder Gedanken ein Sinnfeld aufzubauen scheint, erfolgt der semantische Schnitt. Hinzu kommt, dass Laederach, wie auch hier, seine Texte gerne mit naturwissenschaftlichen, mathematischen und psychologischen Theoremen unterfüttert und damit weitere, über die sprachliche Inszenierung hinausgehende Bedeutungsschichten schafft. –––––––— 8

Jürg Laederach: Im juranischen Element. Eine Erzählung. In: NZZ, 19.8.1995, S. 64.

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Ich hatte etwas über die Schweiz versprochen, Sie sind da noch nicht bedient worden, aber nicht etwa aus Materialmangel. Bei Laederach können Sie eine Unmenge über die Schweiz erfahren, aber ebenso viel erfahren Sie über New York oder über Georges Feydeau oder über die Arktis oder über den Kyber-Pass oder über Hölty, Hermann, Grossneffe des Dichters Ludwig Hölty, geboren am 4. November 18028 [sic!] zu Uelzen im Hannoverschen etc. Ihm ist alles primär Material, sprachliches, theoretisches, psychisches, visuelles, akustisches Material, auch die Schweiz, unter anderem die Schweiz und unter anderem der Mythos Schweiz í und dieses Material muss immer erst durch seine Bearbeitungsmaschinerie. Es muss arrangiert, montiert, in ein Säurebad gelegt werden. Woraus oft und fast wie von selbst ein Stück Satire wird. »Die grösste Satire«, heisst es im Roman Emanuel, im Untertitel Wörterbuch des hingerissenen Flaneurs, erschienen 1990 und 500 Seiten stark, die grösste Satire wäre ein totales Recording der Ära, ein Bandgerät, das mit sechs Sinnen registriert. Emanuel liesse es eine Woche laufen, und kein Satiriker könnte für den Rest des Jahrhunderts den Mund mehr auftun. Die Wirklichkeit schlägt sie alle. Auch Karl Kraus verlor das Match. Da seine Wirklichkeit verschollen ist, ist der Verlierer in die Rolle des Siegers gewachsen.9

Emanuel ist übrigens durchaus ein satirisches Buch. Erzählen besteht hier í deutlicher als in anderen Werken í im Verknüpfen, in der Montage von Material. Und dieses wird hier unablässig reflektiert: Dass wir der Sprache, ehe wir sie für unsere Mitteilungen zulassen, ein zu enges oder zu weites Kleid regelmässig schneidern, liefert uns, betrachten wir unser Vorgehen kritisch, von selbst und aus sich selbst Material für ihre Weiterentwicklung. Emanuel soll sich genau ausdrücken, Emanuel kann sich nicht wirklich genau ausdrücken. Es lässt sich ganz genau in der Sprache nur sagen, was die Sprache will, und doch muss anderes und mehr ausgedrückt werden, als die Sprache will. Diese Dialektik gilt es auszuhalten.10

Einen Text ganz anderer Art hat der Autor über seine Heimatstadt geschrieben, Rheinisches Requiem heisst dieser Text. Er stammt aus Laederachs wohl bestem Buch, dem Erzählungsband 69 Arten den Blues zu spielen, einem Kompendium der Kurzgeschichte in einem Band. Rheinisches Requiem Nun sich der Horizont mit Trauerfarbe überpinselt hat, kann ich mich aufstellen mitten auf die Mittlere Brücke, welche die bekannteste und auch die verlorenste Brücke Basels ist. Obschon die meisten da stehenden und da hinübergehenden Basler Menschen sie als die vertrauteste anschauen, dabei ist es die wohl unheimlichste und fremdeste. Und dient das ehemalige, in den Staub der städtischen Urvergangenheit zurückreichende Zollhäuschen auf der Brückenmitte tagsüber, wo alles lichtheiter und helligkeitstrunken und sonnentaumelnd zu sein hat, als Hintergrund für die jeden Aufgenommenen im Bild vereinsamenden grellen Farbfotografien, so gähnt um die verlorenste Brücke Basels, die in Basels Mitte steht und anzeigt, in der Mitte ist alles zutiefst vereinsamt und verloren, so gähnt, will ich sagen, um diese allerbeziehungsloseste Mittlere Brücke, die tief hinuntergeht in den Grundschlamm des an seinem Wasser-

–––––––— 9 10

Jürg Laederach: Emanuel. Wörterbuch des hingerissenen Flaneurs. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 418. Ebd., S. 33.

Sprachgier und Sprachskepsis

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grund menschenleeren Vater Rheins. Da gähnt, will ich sagen, die nächtlich wahnsinnigmachendste Leere um diese tiefentlegene Mittlere Brücke, vor der die Ufer, die soeben eng zusammengerückt sind in ihrem Kirchendunkel, jetzt zurückweichen, so dass einer, hat er sie von einer Basler Stadtseite aus betreten, sogleich auf der Brücke in die heftigste Heimwehkrankheit nach einer neuen und ganz anderen Stadt, als Basel es ist, als Basel es sein kann, verfällt. Die Krankheit schlägt ihre Pranken um ihn, während die verwaisten Ufer zurückweichen, ebensowenig von Fußgängern jemals heimgesucht wie der tiefe Wassergrund des Rheins, in dessen grünem Schlamm, wo die Skelette früher, im farblosen und brunnentiefen finsternisgeplagten Mittelalter in den Rheingrund mit einem Gewicht am Fuß versenkter Menschen, wo, sage ich, diese in ihren bleichen Gliedern noch lose zu einer Körpereinheit zusammengehaltenen Knochensortimente früher Ertränkter einen Lichtlosigkeitswalzer tanzen, dem es nicht mehr bis zur Tobsucht reicht, sondern durch dessen Poren das wohl sauberste Wasser von Vater Rhein allmählich in die Poren der nächtlichen Geisterknochen dieser Skelette dringt. Unendlich weit ist die kleine Stadt, die keine andere Stadt jemals sein kann oder jemals sein wird, von ihrer Mittleren und allervereinsamtesten Brücke zurückgewichen, tief in die Zonen jener Schwärze, wo sich die Füchse Gutes Grab sagen, niemals wurde tiefnachts von der Basler Mittleren Vereinsamten Brücke aus ein anderer Fuchs als ein »Gutes Grab« sagender erblickt. Aus ihrer fahlen Mitte heraus stösst die Stadt eine bis in den tiefsten Grund hineingestachelte Basel-Gondel ihres einsiedlerischen Ruderbundes, ihrer durchaus baslerisch, sage ich, tiefbaselhaft der abseitsstehenden Welt preisgegebenen und ihr zum Opfer dargebrachten Rudermännerbünde. Und langsam, bedächtig, sich kaum vorwärtsbewegend in der zähen, schwarzgrünen, dickflüssigen Strömung reinsten Wassers, so schwebt der Weidling über ihrer Rufstunde, der Dämmerung. Der unbemutterte Lichtlosigkeitswalzer zu den Klängen einer mit spanischer Trompete, Unterkieferkontrabass und Begräbnistrommel wirkenden, heimathilfeschreienden Kapelle. Und noch niemals bin ich und niemals werde ich über die in ihrer zentralen, ja zentralsten Lage bis ins Absurdeste vereinsamte Mittlere Brücke spätnachts gehen können, ohne dass der Weidling stillsteht über dem erleuchteten Rheinschlammgrund, genau über dem Ort des jetzt endgültig, mit Nietzsche zu sprechen, gottverlassenen Skelettewalzers, und ohne dass – Tausende von Kilometern trennen jetzt von Basel – eines der Skelette die Hand hochstreckte zu dem auf der als einziges Teil der Stadt noch übrigen Brücke Stehenden und mir in höchster entfleischter Geworfenheit des mittelalterlichknöchernen Todsünders still herauf bedeutet, winkend und walzernd: Komm, spring, zu uns, füll uns nach, sei du ein uns lieber Mitgestorbener nachts von der Brücke in das leutescheue, in Wirklichkeit aber von sovielen Leuten heimgesuchte Wasser, herunter mit dir, recht so, geklettert schon aufs Geländer, nun folg ihm nach, wo es tief wird.11

Ein melancholischer Text, ein Totentanz in Basel. – Wer mehr über unseren Autor und sein Schreiben wissen will, sucht möglicherweise Rat in seinen Poetikvorlesungen. Im Wintersemester 1986/87 hat Laederach als Gastdozent für Poetik an der Karl-Franzens-Universität in Graz Vorlesungen gehalten, die 1988 unter dem Titel Der zweite Sinn oder unsentimentale Reise durch ein Feld Literatur erschienen sind. Grossartige Beobachtungen über das System der Sprache finden sich darin, erhellende Anmerkungen über Joyce, Flaubert, Musil, Valéry, Nabokov, über ›langsame‹ und ›schnelle‹ Texte, über Chaos und Entropie, und das in köstlichen Digressionen und Assoziationen – über sich selber allerdings gibt Laederach auf den 280 Seiten wenig preis, und das Wenige relativiert er auch sogleich wieder. »Mit der Wahl«, so beginnt der Text, »mich mit dieser Vorlesung zu betrauen, haben Sie einen Fehlgriff getan. Man soll den Bock nicht –––––––— 11

Jürg Laederach: Rheinisches Requiem. In: J.L.: 69 Arten den Blues zu spielen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 301f.

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Martin Zingg

zum Gärtner, den Chaos-Forscher nicht zum Ordnungshüter bestellen.«12 Die Vorlesungen sind keine Endstation, wo sich das Werk dieses Autors endlich zu einigen handfesten Thesen beruhigt, wo er also gleichsam fassbar werden könnte – sie sind bloss eine Zwischenstation. Wo Laederach über sich selber zu sprechen vorgibt, redet er, man ahnt es bald einmal, möglicherweise über andere und anderes. Und wo er über andere zu sprechen scheint, steckt nicht selten mehr von ihm selber drin, als er zugibt. Mit einem Zitat aus seinem Nachruf auf Bohumil Hrabal, der 1997 gestorben ist, soll dieser Hinweis auf das Werk von Jürg Laederach abschlossen werden, hoffentlich rechtzeitig, bevor der vorliegende Hinweis den Charakter einer zu langen, zu sehr aus den Fugen geratenen Leseempfehlung angenommen hat, aber mit seiner tendenziellen Masslosigkeit würde dieser Hinweis dem hier vorgestellten Werk zumindest im äusseren Gestus wohl sehr nahe kommen. Und nun Laederach, der über Hrabal und auch ein bisschen von sich erzählt: Man könnte sein pausenloses Strömen mit Robert Walser vergleichen. Wie dieser reiht er krause Sujets fast übergangslos aneinander, bis die Erzählung beendet ist. Zu sagen, er habe Regeln gebrochen, ist nie möglich, da er alle Regeln selber schafft und verwirft, je nach Laune. Während Walser aber Gegenstände, materielle Objekte nur als Anker benützt, damit seine unendlich feine Wertsetzungs-Philosophie mit Ketten an die Wirklichkeit gebunden bleibt, von der sie grundsätzlich nicht viel wissen will, lässt er das materielle Objekt wuchern, setzt ihm die Beulen, Buckel, Monstrositäten auf die Haube, die dem Abweichungsgrad seines Textes von der Mittellinie entsprechen.13

Und ja, genau dieser »Abweichungsgrad« ist das Entzückende an diesem aussergewöhnlichen Werk.

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Jürg Laederach: Der zweite Sinn oder Unsentimentale Reise durch ein Feld Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 9. Jürg Laederach: Taubenfütterer und Giftmischer am kubistischen Bierhahn. Zum Tod des tschechischen Schriftstellers Bohumil Hrabal. In: Basler Zeitung, 5.2.1997, S. 41.

Teil VII

Mythos Irland

Siobhán Donovan

Ein keltisch-helvetisches Netz Mythen, Märchen und Magie in Gabrielle Alioths Kinderromanen

Zwischen Kulturen: Heimat und Heim In ihrem Brief an die Schweiz Liebe Schweiz (Februar 2006), aufgenommen in eine Sammlung von Briefen von Auslandsschweizern, zieht die seit 1984 in Irland lebende Basler Schriftstellerin Gabrielle Alioth Bilanz über ihr im Laufe der Zeit milder gewordenes Verhältnis zu ihrer Heimat, zur »Geographie meiner Vergangenheit, [zur] Landschaft meiner Kindheit«.1 Die Turbulenzen der letzten Jahre hätten das Schweizer Selbstbild und Ansehen im Ausland zwar angekratzt, doch gleichzeitig auch gestärkt, denn der Sonderfallstatus habe sich nun endgültig als trügerisch erwiesen und, so könnte man sagen, als Mythos entlarvt: »Du bist kein Sonderfall mehr, kämpfst wie viele um vieles, und in Deiner Verletzlichkeit bist Du toleranter geworden, freundlicher«.2 Rückblickend und aus der Außenperspektive einer ehemaligen Insiderin sehe man anders: »Vielleicht lässt sich das Beste der Schweiz am besten von aussen sehen«.3 Die Schweiz, der Heimatdiskurs, die helvetische Enge — wiederkehrende Themen bei der Generation der politisch engagierten Schweizer Schriftsteller — sind zwar oft Themen des essayistischen Schreibens Gabrielle Alioths, jedoch selten ihrer Fiktion. In ihren Essays interessiert sie die Schweiz als ihr Herkunftsort meist in Beziehung zu Irland, dem Land, in dem sie, »[e]inmal der Enge der Alpen vor dem Fenster und in den Köpfen entkommen« und mit der »Narrenfreiheit des Fremden« und dem erforderlichen Freiraum ausgestattet, zu schreiben anfing.4 Ihre Schweizer Heimat steht also stets in Opposition zu ihrer irischen Wahlheimat, ihrem »Heim«.5 Pia Reinachers These eines Paradigmenwechsels innerhalb der Schweizer Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts, laut der die Schriftsteller-Generation ab den achtziger Jahren sich für ihr Geburts–––––––— 1

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Gabriele Alioth: Liebe Schweiz. In: Madeleine Weishaupt (Hg.): »ich schreibe dir, weil ich nicht bei dir bin«. Briefe an die Schweiz. Nürnberg: Edition Knurrhahn im Thomas Rüger Verlag 2006, S. 12–14, hier S. 13. Ebd., S. 14. Das Abgedruckte »vieles und vieles« ist ein Satzfehler. Ich danke Gabrielle Alioth für diesen Hinweis. Ebd. Gabrielle Alioth: Postbabylonische Versprechen. Thesen aus dem freiwilligen Asyl [sic! Recte: Exil. Ich danke Gabrielle Alioth für diesen Hinweis]. In: Uwe Westphal, Fritz Beer (Hg.): Exil ohne Ende. Das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Essays, Biographien, Materialien. Gerlingen: Bleicher Verlag 1994, S. 99–102, hier S. 99. Gabrielle Alioth: Ausflug in die Heimat. In: Schritte ins Offene. Zeitschrift für Emanzipation, Glaube, Kulturkritik 2 (2004), Sonderheft Heimat: Ein schillernder Ort, S. 12–15, hier S. 15.

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land nicht mehr als »politische Kategorie« interessiere, sondern lieber über universelle, oft autobiografisch inspirierte Themen schreibe, ist zwar reduktiv, trifft aber in diesem Fall auf Gabrielle Alioth (die bei Reinacher keine Erwähnung findet) vielfach zu.6 Gabrielle Alioth, von 2005 bis 2006 Gastautorin (›Writer in Residence‹) der School of Languages and Literatures am University College Dublin,7 betont stets in ihren Schriften, Gesprächen und Lesungen den prägenden Einfluss, den die Kultur und Landschaft Irlands auf sie ausgeübt haben und weiterhin ausüben. Ihre Wurzeln sind zwar helvetisch, worauf sie auch stolz ist,8 aber mit der irischen Natur verbinde sie ein Gefühl der Geborgenheit und Zugehörigkeit: »Es hatte die ganze Nacht geregnet. Ich stand am Bach unten, [...]. Das Wasser glitzerte zwischen den braunen Ufern. Es heißt, jeder Mensch habe eine Landschaft, in die er gehöre, und ich war sicher, meine gefunden zu haben.«9 Im folgenden Frühling schlägt sie der Moosboden des Waldes so sehr in seinen Bann, dass es »unsinnig [war], nicht an Feen und Zauberer zu glauben«.10 Mit ihren zwei Fantasie-Romanen, dem 2001 erschienenen Das magische Licht und dem Folgeband Im Tal der Schatten aus dem Jahre 2002, legte Gabrielle Alioth ihr Debüt als Kinderbuchautorin vor.11 In diesen Werken wird der Leser mit zwei gegensätzlichen Welten, Umgebungen, Landschaften und Zeiten und mit »Feen und Zauberer[n]« konfrontiert. Alioths Faszination für vergangene Epochen (insbesondere das Mittelalter) zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Prosa,12 in der nicht nur Vergangenes und Gegenwärtiges, sondern auch Fantasie und Wirklichkeit oft nahtlos ineinander übergehen. Mit –––––––— 6

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Pia Reinacher: Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur. München: Nagel & Kimche 2003. Vgl. vor allem ihre Einführung: »Entlaufen. Schweizer Schriftsteller auf Glücksfahrt«, S. 7–65, hier S. 10. Dank der großzügigen Unterstützung des Kompetenzzentrums für Kulturaußenpolitik in Bern, und in freundlicher Zusammenarbeit mit Konsul Ernst Balzli von der Schweizerischen Botschaft in Irland. Gabrielle Alioth selbst habe ich aber natürlich vor allem zu danken: für die Lehrveranstaltungen mit Studenten und Kollegen, für ihre Anregung und die vielen ad hocDiskussionen. Mir wurde dadurch ein Einblick in ihren Schreibprozess gewährt. Vgl. Alioth: Ausflug in die Heimat (Anm. 5), S. 15: »[...] ich bin froh, dass der Baum vor dem Haus am Bahndamm noch steht, dort, wo meine eigenen Wurzeln sind«. Gabrielle Alioth: Vorwort. In: G.A.: Irland. Eine Reise durchs Land der Regenbogen. Mit Fotografien von Liza Stark. München: Sanssouci 2003, S. 5–7, hier S. 5. Ebd. Gabrielle Alioth: Das magische Licht. Zürich: Nagel & Kimche 2001; Gabrielle Alioth: Im Tal der Schatten. Zürich: Nagel & Kimche 2002. Der Narr (1990), Wie ein kostbarer Stein (1994) und Die stumme Reiterin (1998) spielen alle zum Teil im Mittelalter; der Irlandroman Die Arche der Frauen (1996) verwebt Handlungsstränge aus der Gegenwart, dem Zweiten Weltkrieg, der Jahrhundertwende um 1900 und der irischen Hungersnot um 1850; Die Erfindung von Liebe und Tod (2003) lässt die historische Entdeckung und Besiedlung von Neufundland (um 1620) in die Gegenwart hineinfließen; Der prüfende Blick (2007) ist im 18. Jahrhundert angesiedelt: ein biografischer Roman über das Leben und die Karriere der Malerin Angelika Kauffmann (1741–1807). Ihr zuletzt erschienener Roman Die Braut aus Byzanz (2008) handelt von den ersten zwei Jahren der Ehe zwischen der byzantinischen Prinzessin Theophanu und dem deutschen Kaiser Otto II. gegen Ende des ersten Millenniums (972–973).

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ihren zwei Jugendbüchern greift Alioth jedoch zeitlich noch weiter zurück, und zwar in die vorchristliche Zeit: genauer gesagt in die Zeit und Welt der mündlich überlieferten und erst von den irischen Mönchen im 12. Jahrhundert verschriftlichten irischen Mythen und Sagen. Aber auch hier wird ihre Vorliebe für Grenzverwischung und gegenseitige Durchdringung spürbar, denn der Leser wird nicht nur in die schillernde Welt der irisch-keltischen Mythologie eingeweiht, sondern ihm begegnen auf Schritt und Tritt vertraute Figuren und Motive, darunter die umstrittenste mythische Verkörperung der Schweiz in der legendären Gestalt Wilhelm Tells. Auch wenn die Helvetier ursprünglich (ca. 500 bis 400 vor Christus) keltischer Abstammung waren,13 und wenn mythologische Helden und Götter aller Kulturen sich gerne verwandeln und unterschiedliche Gestalten annehmen, ist Tells Platz innerhalb der irischen Mythologie eigentlich nicht dokumentiert.

Das magische Licht: Mythos oder Märchen? »Selbst auf dieser Insel am Rand Europas war ich noch das kleine Mädchen aus dem Haus am Bahndamm« — so Gabrielle Alioth in ihrem Aufsatz »Ausflug in die Heimat«.14 Das magische Licht spielt auf einer Insel am Rand Europas, einer mythischen Insel, die in einem »blaugrünen« Meer nicht weit von der Küste Irlands schwimmt,15 und im Haus eines kleinen Mädchens namens Georgina. Am Anfang gibt es zwei strikt getrennte und alternierende Handlungsstränge, die sich aber schnell verkoppeln und überlagern. Örtlich fixiert ist Georginas Haus zugegebenermaßen nicht, aber die Schweiz lässt sich leicht assoziieren, und die Familienkonstellation ihrer Protagonistin hat frappierende Gemeinsamkeiten mit derjenigen der Autorin.16 Autobiografische Rückschlüsse können gefährlich sein, aber Gabrielle Alioth vertritt den Standpunkt, dass jede fiktive Figur zum Teil autobiografisch ist, da ihr Schöpfer aus der unmittelbaren Umwelt bewusst oder unbewusst borgt, auch wenn vieles hier zwangsläufig umgestaltet wird.17 Im Fall ihrer Kinderromane gibt sie offen zu, dass Georgina viele eigene Züge trägt. Es ist der 30. April keines bestimmten Jahres, und die fast dreizehnjährige Georgina ist krank und deshalb nicht zur Schule gegangen. Als typisch pubertierendes Mädchen fühlt sich Georgina von ihrer Mutter unfair behandelt. Sie wünscht sich einen Hund, muss sich aber mit einem Meerschweinchen und einem Frosch zufrieden geben. In ihrem Schlafzimmer hängt eine vergrößerte –––––––— 13

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Gabrielle Alioth erinnert ihre jungen Leser im hilfreichen Glossar am Ende beider Bücher daran, dass sich die Kelten in den meisten Ländern in Mittel- und Westeuropa niederließen. Vgl. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 176f; Alioth: Im Tal der Schatten (Anm. 11), S. 201. Alioth: Ausflug in die Heimat (Anm. 5), S. 14. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 10. Beide haben zwei ältere Schwestern. Ich danke Gabrielle Alioth für diese biografische Information. Dies hat Gabrielle Alioth in den Veranstaltungen am UCD mehrmals betont.

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Luftaufnahme einer kleinen, geheimnisvollen irischen Insel. In ihrem Bücherregal steht u.a. ein altes Märchenbuch, in dem die vorherige Besitzerin mit Farbstift herumgemalt hat, und das Buch hat Georgina als Kleinkind weiter verwüstet, indem sie die Tiere aus einigen Märchen herausschnitt. Im Bücherregal ihrer Schwester steht ein irisches Sagenbuch, aber darin sind »nur Sagen, Geschichten von Göttern, Helden und Feen, die in Hügeln wohnen. Die Gestalten darin verwandeln sich wie im Märchen«.18 Auch wenn Georgina »schon lange keine Märchen mehr« liest,19 ist sie auf Irland und seine geheimnisvolle Insel neugierig. Dank eines versehentlichen Stichs mit einem irischen Schmuckstück in ihren Finger – die erste Dornröschen-Reminiszenz – gelingt ihr der Übergang aus ihrer langweiligen Alltagswelt in die entschwundene und verwunschene Welt der irischen Mythen. Ihr irisches Gegenüber ist Set(anta), ein junger Kriegergeselle, auch beinahe dreizehn, der gerade aus einem Boot gestiegen ist und über die Dünen auf den Wald zuläuft. Als wichtiger Held aus einem nordirischen Zyklus dürfte Setanta Georgina aus dem Sagenband ihrer Schwester bereits bekannt sein. Haben wir es hier mit einem Mythos oder einem Märchen zu tun? Es handelt sich um zwei benachbarte, aber dennoch unterschiedliche Gattungen mündlicher Tradierung mit klaren gattungsspezifischen Merkmalen. In seiner damals Aufsehen erregenden tiefenpsychologischen Studie The Uses of Enchantment. The Meaning and Importance of Fairy Tales (1975) — auf Deutsch: Kinder brauchen Märchen (1977) ʊ leugnet Bruno Bettelheim keinesfalls die Gemeinsamkeiten zwischen diesen zwei Genres wie das Erzählen von Entwicklungsgeschichten, Transformationserlebnisse, lehrhaften Inhalt, Bewältigung von Prüfungen und tiefenpsychologische Auslegungsmöglichkeiten, hebt aber die Eigenart beider Gattungen und erwartungsgemäß die Überlegenheit der Märchen im Hinblick auf die Kindererziehung hervor.20 Mythen seien spezifischer, direkter, didaktischer, aber meist pessimistischer, und weil mythische Helden in der Regel Übermenschen — »Idealpersönlichkeit[en]«21 — mit entsprechend unrealistisch hohen Anforderungen und Leistungen seien, würden sie keine Vorbilder bzw. Identifikationsfiguren für Kinder oder Erwachsene darstellen, sondern vielmehr der »Formung des Über-Ich« dienen.22 Märchen hingegen seien universeller, indirekter, auf den ersten Blick weniger didaktisch ausgelegt, aber insgesamt lebensbezogener und vor allem therapeutisch, denn die jungen Leser könnten sich mit den meist zu bewältigenden Nöten, Identitätskrisen, Loslösungsschwierigkeiten ihrer Märchenhelden identifizieren und zu eigenen Lösungen, schließlich zur Identitäts- und Sinnfindung gelangen.23 Hinzufügen müsste man aber auch, dass Mythen –––––––— 18 19 20

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Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 11. Ebd. Vgl. Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. Aus dem Englischen von Liselotte Mickel und Brigitte Weitbrecht. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, hier vor allem S. 31–51. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., vor allem S. 33.

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manchmal (immer noch) für wahr gehalten und infolgedessen mit Geschichte verwechselt werden, während Märchen dagegen eindeutig als Fiktion gelten. Sehr früh wird klar, dass Gabrielle Alioths Protagonisten gewissermaßen als moderne, einander ähnelnde und sich letztlich ergänzende Kindermärchenhelden aufzufassen sind.24 Beide sind tollpatschig und halten sich für Versager in den Augen anderer, beide befinden sich am Anfang des Abnabelungsprozesses vom Elternhaus und müssen sich bewähren, beide sind auf der Suche nach sich selbst und nach Lebensorientierung.25 Als Lehrling der strengen Kriegsmeisterin, Scathach, muss Set seine aus mehreren Elementen bestehende Reifeprüfung ablegen. Auf der bedrohlichen schwimmenden Insel wird er verschiedenen Gefahren und Versuchungen ausgesetzt, die er allein und unbewaffnet zu bewältigen hat, damit er in die Schule der Kriegskünste im Tal der Schatten in Alba (auf der Insel Skye, Teil des heutigen Schottlands) aufgenommen wird. Im Magischen Licht wird Georgina in diese vorchristliche, mythische Welt ungewollt hineinkatapuliert, um Set auf seinem Weg zu begleiten, aber auch um ihr eigenes Selbstbewusstsein zu stärken, sich zu bewähren. Gemeinsam und vertrauend auf die eigenen Kräfte, aber wie in allen Märchen nicht ohne übernatürliche Hilfe, die in diesem Fall von einem Zauberhund, dem so genannten »Druh« geleistet wird, überwinden sie etliche Konflikte. Nachdem Set am Anfang von einem zwielichtigen, Charon-ähnlichen Bootsmann zur schwimmenden Insel übergesetzt worden ist, steht an der Schwelle zur Unterwelt der magische, hilfsbereite Druh, der in positiver Umkehrung an das Ungeheuer Zerberos, den Wachhund der griechischen Unterwelt, erinnert. »Magnel« – die Welt der guten und schlechten Götter der irischen Mythologie – ist zu bestimmten Zeiten und durch bestimmte Übergänge einigen Sterblichen zugänglich. Wie in der griechischen Mythologie ist diese Anderswelt je nach Legende unterschiedlicher Prägung. Im Magischen Licht erweist sie sich als eine Art Schlaraffenland, ein Land der Verführung und der ewigen Jugend, das »Tír na nÓg« der irischen Mythologie, das auch ein Land der Amnesie ist. Dank der Schlagfertigkeit und Hartnäckigkeit Georginas (die Set »George« nennt und die sich im Tal der Schatten tatsächlich als Junge verkleiden muss),26 entkommen sie dem Reich des Todesgottes Balor, der sich zuerst als christusähnliches und feenhaftes Zwitterwesen, Fan, verstellt, und kehren in das Reich der Erinnerung zurück. Somit ist diese erste Prüfung Sets erfolgreich, wenn auch nicht allein, bestanden. Mit einem Kuss von Set, dem Dornröschen aber selbstverständlich kein Begriff ist, wird Georgina wie durch ein Wunder nach Hause transportiert und wacht in ihrem Bett auf, um festzustellen, dass sie gemessen an der Zeit der realen Welt nur einige Stunden weg war bzw. geträumt hat. Wie die Helden des romantischen Kunstmärchens kann Georgina bald Märchen und Wirklichkeit nicht mehr unter–––––––— 24 25 26

Erst gegen Ende wird ihnen klar, dass sie »Spiegelbild[er]« sind. Vgl. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 157. Vgl. Bettelheim: Kinder brauchen Märchen (Anm. 20), Einführung: »Das Ringen um den Sinn des Lebens«, S. 9–27. Anklänge an George, das burschikose Mädchen aus der Bestsellerserie The Famous Five der englischen Jugendbuchautorin Enid Blyton, sind beabsichtigt.

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scheiden: »[...] es klingt wie ein Märchen, wenn ich davon erzähle«.27 Im Blonden Eckbert (1797) z.B. kommt Bertha während der ersten Nacht bei der alten Frau in der Waldeinsamkeit alles wie »ein so wunderbares Gemisch vor«.28 Ihre Geschichte sei jedoch, das muss sie betonen: »kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag«.29

Im Tal der Schatten: glücklicher Ausgang mit unromantischem Schluss Die Verwebung der märchenhaften Thematik und Struktur in den mythologischen Handlungsstrang setzt sich im Tal der Schatten fort. Dieser Band handelt von Sets letzter großer Aufgabe als Kriegerschüler Scathachs: dem Wettkampf mit seinem Ziehbruder Ferdia, den er in einem Wutanfall tödlich verletzt. Von seiner Gewalttat entsetzt, entschließt er sich zu einer selbst auferlegten Buße: zu einem Leben fernab von aller Gesellschaft in der Wildnis. In der Alltagswelt wird Georgina von unruhigen Träumen, in denen ihr ein kranker, gefesselter Hund erscheint, geplagt. Ihr gelingt es während einer von ihrer Freundin Alexandra zu diesem Zweck herbeigeführten Séance wieder in die Welt Sets und des Druhs einzudringen, wo sie den niedergeschlagenen Set trifft: Er weiß, dass sich der Druh beim grausamen Schmied Culann im Norden Irlands befindet, und nach einer unheimlichen Überfahrt auf dem Todesschiff (das Ferdias Sarg zur Beerdigung nach Irland bringt), erreichen sie Culanns unheimliche Schmiede. Culann gibt den Druh, seinen Wachhund, nur weg, wenn jemand seinen Platz einnimmt, bis für ihn ein neuer Hund gefunden werden kann. In der Überzeugung, hier seinen Sühneakt vollbringen zu können, lässt sich Set wie ein Hund anketten. Nur in der wirklichen Welt kann der Druh durch Georginas Tiermedizin studierende Schwester geheilt werden. Ein Jahr lang bleibt Set beim Schmied, bis ein neuer Hund, beziehungsweise ein Drache, von Georgina und Sets Wagenlenker Laeg gefunden wird. Wie es sich für ein Märchen ziemt, geht die Geschichte gut aus: Der im Kampf tot geglaubte Freund lebt noch, sein vermeintlicher Tod war eine weitere Probe Scathachs, und weil Set in der Schmiede Demut gezeigt und Buße getan hat, hat er die Bewährungsprobe bestanden, und soll von nun an Cúchulainn heißen: der Hund Culanns. Georgina erlebt seine Freisprechung, seine Wiedervereinigung mit Ferdia und die Feier seines neuen Heldenstatus im Königshof mit, aber ihr Aufenthalt im mythischen Reich ist fast vorbei. Sie wacht bei ihrer Freundin in der Alltagswelt wieder auf. Ein glücklicher Ausgang also, aber ein durchaus unromantischer Schluss für diesen Roman im Stil eines romantischen Kunstmärchens. Um die Spannung aufrechtzuerhalten und weiterhin mit dem Leser zu spielen, bleiben viele ungelöste Fragen: Wird Cúchulainn-Set seine schwarzhaarige Auserwählte, –––––––— 27 28 29

Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 162. Ludwig Tieck: Der Blonde Eckbert. Der Runenberg. Die Elfen. Stuttgart: Reclam 1981, S. 4. Ebd., S. 11.

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Emer, vielleicht doch nicht heiraten? Werden sich Georgina und Set in einem dritten Band wieder sehen? Und Georginas Freundin will vor allem eines wissen: Was war denn in der sargähnlichen Kiste auf dem Todesschiff?30

Kunst der spielerischen Verwandlung »Dornröschen lässt grüßen« ist der augenzwinkernde Kommentar eines Rezensenten zu Georginas Fingerstich, und er fährt fort: »Dass man dabei zwischen Beltane – dem irischen Fest des Anfangs31 – und Dornröschens hundertjährigem Schlaf einen Faden spinnen kann, hätten wir uns nicht träumen lassen«.32 Aber Dornröschen ist nicht die einzige Märchenfigur, die grüßen lässt. Beide Jugendbücher wimmeln von expliziten und impliziten literarischen Bezügen auf Märchen und deutschsprachige Werke der Erwachsenenliteratur. Hier schöpft Gabrielle Alioth, die sich selbst als »Schriftstellerin zwischen zwei Ländern, zwei Sprachen, mit zwei Welten vertraut und zu keiner gehörig« charakterisiert,33 aus ihrem breiten literarischen Reservoir. Dabei handelt es sich um mehr als ein einfaches Zitieren. Einer der Reize des Schreibens besteht für sie darin, tradierte und vertraute Motive umzuformen, weiterzudenken, bereits existierende Geschichten und Stoffe zu aktualisieren, zu verwandeln, oder aus der Perspektive einer anderen Figur zu erzählen. In Das magische Licht und Im Tal der Schatten nimmt Alioth einen der berühmtesten Helden der irischen Mythologie, Cúchulainn-Setanta,34 und schreibt ihn neu um. Aus dem unbesiegbaren, legendären Helden göttlicher Abstammung macht sie einen sympathischen Märchenhelden.35 Kern dieser epischen Dichtung ist der berühmte Táin Bó Cuailnge (genannt An Táin), die Geschichte eines Kampfes um den legendären Braunen Bullen von Cooley. Der für seine übermenschlichen Kräfte bekannte und wegen seiner blutrünstigen Heldentaten gefürchtete siebzehnjährige Ulster-Krieger Cúchulainn, der wegen seiner Kräfte und seinem frühen Tod mit dem griechischen Achill verglichen werden kann, hält eigenhändig eine Invasion auf. Sein Name geht auf eine Heldentat als –––––––— 30 31 32 33 34

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Vgl. Alioth: Im Tal der Schatten (Anm. 11), S. 190. Gefeiert in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai. Siggi Seuss: Der unheimliche Wald. Ein spannendes Abenteuer in der irischen Sagenwelt. In: Süddeutsche Zeitung, 5.12.2001. Alioth: Ausflug in die Heimat (Anm. 5), S. 15. Es gibt im Grunde vier Hauptzyklen der keltischen Mythologie. Cúchulainn ist die legendäre Gestalt aus dem Ulster-Sagenkreis – eine der ältesten mythologischen Epen in einer Landessprache. Fionn Mac Cumhaill, dessen Sohn der Dichter Oisín (in Schottland: Ossian) war, ist der Titelheld des Fionn- oder Fenien-Zyklus. Diese zwei Zyklen sind die bekanntesten der gälisch-keltischen Mythologie. Vgl. auch das Glossar in Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 171; Alioth: Im Tal der Schatten (Anm. 11), S. 192. In patriotisch-nationalistischen Kreisen ist er auch ein gefeierter Nationalheld: In der Hauptpost Dublins steht ein Denkmal des sterbenden Helden, das den nationalistischen Osteraufstand von 1916 symbolisiert.

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Sechsjähriger zurück, als er in einem Akt der Selbstverteidigung den wilden Wachhund des Schmiedes Culann mit einem Stein aus einer Schleuder versehentlich tötete und sich in einer Geste der Versöhnung dem Schmied als vorübergehender Wachhund anbot. Der weise Schmied Culann wurde so zu seinem Lehrmeister.

Akkulturation und Intertextualität In ihrem Umgang mit den Quellen ging Alioth nach eigenen Angaben selektiv vor, griff im Wesentlichen auf Setantas Kindheits- und Jugendgeschichten zurück, straffte, strich und änderte vieles, und dichtete vor allem vieles dazu. Der Sagenheld ist unbezwingbar dank seines Bauchspeers Gae Bolga, seines Größenwahnsinns und übersteigerten Selbstbewusstseins, und einer unbeherrschten Raserei, die ihn im Wettkampf befällt und in einen rauschähnlichen mörderischen Zustand versetzt.36 Alioth hat ihren Set mit vielen dieser Eigenschaften ausgestattet – darunter dem unerklärlichen Wutanfall –, aber sie erlaubt sich starke Eingriffe in die Chronologie, zieht einiges vor and stellt anderes zurück,37 deutet Sets verschiedene Abenteuer und Bewährungsproben zu initiationsartigen Bestandteilen eines größeren Gesamterziehungsplanes seiner Kriegslehrerin Scathach um und macht aus dem guten Schmied und Lehrmeister Culann eine Verkörperung des Hässlichen und des Bösen innerhalb von Scathachs Erziehungsprogramm. Der Zweikampf mit seinem Jugendfreund Ferdia wird ebenfalls in die Bewährungsprobe eingebettet und infolgedessen zeitlich vorgezogen, und mit einem glücklichen, lebensbejahenden Ausgang versehen.38 Aus einem keltischen Mythos wird ein modernes Märchen, angepasst an ein jugendliches, nicht-irisches Zielpublikum. Aus übersetzungstheoretischer und rezeptionstheoretischer Sicht betrachtet haben wir es hier mit einem Akt der Vermittlung zwischen zwei Sprach- und Kulturräumen, mit einem Akkulturationsprozess zu tun. Der Empfänger — in der Regel der jugendliche deutschsprachige Leser ʊ bringt seine Märchenkenntnisse mit, aber vermutlich keine (oder bestenfalls minimale) Kenntnisse der irischen Mythologie. Es scheint, als –––––––— 36

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Vgl. die Beschreibung dieses sogenannten Zerrkrampfes des Knaben Setanta in der Übersetzung des Táins von Thomas Kinsella: The Táin. From the Irish Epic Táin Bó Cuailnge. Translated by Thomas Kinsella with Brush Drawings by Louis Le Brocquy. Oxford: Oxford University Press 2002, S. 77: »The Warp-Spasm overtook him: it seemed each hair was hammered into his head, so sharply they shot upright. You would swear a fire-speck tipped each hair. He squeezed one eye narrower than the eye of a needle; he opened the other wider than the mouth of a goblet. He bared his jaws to the ear; he peeled back his lips to the eyeteeth till his gullet showed. The hero-halo rose up from the crown of his head«. Diese Edition hat Alioth als Hauptquelle gedient. Der Set des Mythos tötet mit sechs Jahren den Hund; mit sieben Jahren wird er zur Kriegsschule von Scathach geschickt, wo er bereits anfängt, um Emer zu werben. Im Mythos ist dieser Kampf eine Episode in der Geschichte um den Viehraub von Cooley und wird von der bösen Königin Médhbh verordnet.

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wären nicht die ausgeschnittenen Tiere, sondern vielmehr die Charaktere aus ihrem Märchenbuch Georgina in die mythische Welt hinübergefolgt, auch wenn sie am Anfang des Romans vorgibt, keine Märchen mehr zu lesen.39 Gabrielle Alioth verwebt die Märchentopoi mit dem Mythos, bietet dem jungen Leser eine Art Eselsbrücke an, um ihm den Stoff näher zu bringen, dem Fremden ein Stück weit das Fremde zu nehmen und es einzubürgern, ihm – wie auch der Protagonistin – Identifikationsfiguren zu vermitteln. An den Wänden von Georginas Schlafzelt in der Schlaraffenland-Zeltstadt hängen seltsame Teppiche, die Verschiedenes abbilden: ein Mädchen in zerrissenen Kleidern, das Pfannen schrubbt. Seine beiden Schwestern sitzen in schönen Gewändern im Garten dahinter. Eine betrachtet sich im Spiegel, die andere liest ein Buch, und beide kommen Georgina bekannt vor. Auf dem Teppich daneben betrachten zwei Kinder ein Lebkuchenhaus. Georgina versucht sich an ihre Namen zu erinnern. Auf dem dritten Teppich liegt ein Mädchen auf einem Bett, das von Dornenranken umwachsen ist. Das Dach des Lebkuchenhauses ist mit Mandeln bedeckt und der Gartenzaun muss aus Schokolade sein. Georgina beschließt, noch ein Dessert zu holen.40

Oder hat man es hier vielleicht mit Phantombildern zu tun – mit einer Trostbildfantasie? Jedenfalls kann sich Georgina erst nach Verlassen der verführerischen Zeltstadt erinnern: »Die Figuren auf den Teppichen waren das Aschenputtel, Hänsel und Gretel und Dornröschen«.41 Aber lange bevor Hänsel und Gretel von Georgina explizit erwähnt werden und auch bevor Georgina sich mit ihnen identifiziert, wird der jugendliche Leser in Set und Georgina Züge des vertrauten solidarischen Geschwisterpaars erkannt haben: ihr Aussetzen im Wald durch die Mutter,42 den Hof in Magnel als Lebkuchenhaus mit dem Mordversuch des einäugigen (d.h. kurzsichtigen) Todesgottes Balor, die Selbstverteidigung der Kinder durch Sets Bogenpfeilschuss, die Rückkehr in das Elternhaus und somit in den Alltag. Im Tal der Schatten vermehren sich die Parallelen zu bekannten Märchen: Georgina kommt Emer, Sets Verlobte, wie Schneewittchen und dann Rotkäppchen vor, aber auch hier ist der jugendliche Leser ihr einen Schritt voraus und schlägt die Brücke schon viel früher.43 Mit den beiden Märchenhelden kann sich der intendierte jugendliche Leser mühelos identifizieren. Angekommen auf der Prüfungsinsel, ist Set leicht verunsichert, macht nach eigenem Geständnis »nichts als Fehler«,44 ist alles andere als eigenständig oder selbstsicher, geschweige denn größenwahnsinnig. Der irische mythische Paradeheld wird also auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, entmythologisiert, normalisiert, vielleicht sogar travestiert – auf jeden Fall märchen–––––––— 39 40 41 42 43

44

Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 11. Ebd., S. 124f. Ebd., S. 149. Die Väter beider Kinder spielen eine deutlich untergeordnete Rolle. Emers erste Erscheinung und Beschreibung in Alioth: Tal der Schatten (Anm. 11) ist auf S. 95: »Ihre Wangen sind weiß, ihre Lippen gerötet und sie hat so blaue Augen, so schwarzes Haar«; Georginas Erwähnung von Schneewittchen folgt auf S. 97; mit der Rotkäppchen-Anspielung ist es ähnlich. Vgl. S. 117, 121. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 16.

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haft gedeutet oder rezipiert: kurz, verwandelt. Von seiner Hilflosigkeit und seinen unbefriedigenden Antworten auf ihre vielen Fragen irritiert, hält ihn Georgina kurz nach Entdeckung des Druhs für »genauso kindisch wie die Jungen in ihrer Klasse«,45 und später kommt es zu einem charakteristischen Kinderstreit über Nebensächlichkeiten.46 Auch wenn er sie von den Ästen des Totenbaumes befreit und somit ihr Leben rettet, ist Georgina trotzdem insgesamt eindeutig die reifere der beiden – wie Gretchen in Humperdincks bei allen Altersgruppen beliebter Oper Hänsel und Gretel.47 Auf diesen vielleicht bekanntesten Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Grimmschen Märchens wird an zwei anderen Stellen im Magischen Licht angespielt: Die erste Anspielung findet sich in der Erdbeerenepisode auf der schwimmenden Insel, denn bei Humperdinck werden die Kinder, anders als im Grimmschen Original, von der Mutter in den Wald geschickt, um Erdbeeren zu sammeln, die sie dort auch aufessen. Die zweite Anspielung ist die Zeltstadt, die nicht nur durch ihre köstliche Tafel voller Gerichte aus der gutbürgerlichen Schweizerdeutschen Küche im Festzelt verführt, sondern auch durch die dort gespielte Musik.48 Wenn auch nicht explizit für Kinder komponiert, schimmert auch Mozarts Zauberflöte – fester Bestandteil jedes Opernrepertoires mit vielen Kindervorstellungen in der Vorweihnachtszeit – in den Romanen durch, und zwar in den harten Aufnahmeprüfungen, die Tamino/Set nur in Begleitung der mutigen Pamina/Georgina bestehen kann und deren Überwindung zur Einweihung in einen Bund und zur Selbsterkenntnis führt. Cathbad, der weise Druide am Königshof von Ulster, wird von allen geehrt. Er ist es, der Georgina im Tal der Schatten zu sich berufen hat, und nicht nur, wie sie denkt, um den Druh zu befreien, sondern um Set auf dem letzten und schwersten Stück seiner Prüfungsreise beizustehen. Er ist natürlich einer, der verschiedene Gestalten annehmen kann und dies auch tut, und der widersprüchliche Signale aussenden kann. Wenn er jedoch mit Kapuze und Kutte auftritt und vor allem wenn er seine Anrede zur Freisprechung Setantas auf der Versammlung am Königshof hält, wirkt er wie Sarastro feierlich, allwissend und gütig.49 Alioths schöpferische Verknüpfung mit Figuren aus dem deutschsprachigen Kulturgut für Kinder ist meist offenkundig,50 aber, wie oben ausgeführt, nie ohne Spannung für den jungen Leser. Aber aus ihrem Anspielungsreichtum, ihrem intertextuellen Spiel, geht deutlich hervor, dass sie mit ihren Kinderbüchern eine doppelte Leserschaft anspricht. Ihr verschlüsselter Streifzug durch die deutschsprachige Literatur und Kultur und ihre Bezüge auf die griechische –––––––— 45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 67. Ebd., Kapitel »Streit«, S. 113–117. Hänsel und Gretel (1893): Musik von Engelbert von Humperdinck, Libretto von seiner Schwester Adelheid Wette. Vgl. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), Kapitel »Die Zeltstadt«, S. 99–103. Vgl. Alioth: Im Tal der Schatten (Anm. 11), S. 177f. Zwei Figuren der internationalen Jugendliteratur werden sogar namentlich zitiert: »Manches von dem, was Set erzählt, kommt Georgina bekannt vor. Es erinnert sie an Bücher, Lederstrump, Winnetou«. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 48.

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Mythologie richten sich an den erwachsenen Leser. Das seltsame Schiff, das Ferdias Sarg von Schottland zu seiner Beerdigung im irischen Newgrange transportiert, lehnt sich an das Geisterschiff aus Wagners Fliegendem Holländer an; in der feindlichen Schmiede im tiefsten, stinkenden, raucherfüllten Tal, beinahe im Erdinneren so scheint es, wo Hämmern an der Tages- bzw. Nachtordung ist, ist nicht nur der Hort der Nibelungen zu erkennen, sondern auch die Hexenküche aus Goethes Faust I; Mephistos chamäleonartiges Wesen zeigt sich immer wieder, so etwa im Zwitterwesen Fan; Sets beabsichtigter Rückzug in die Wildnis hat selbstverständlich biblische Vorbilder, aber auch Bearbeitungen in der Literatur, u.a. im romantischen Kunstmärchen Peter Schlemihl, wo der Graue mephistophelischer Abstammung ist, und die Motive der Apfelbäume und der Schwäne sind Topoi aus anderen irischen und europäischen Sagen.

Verschleierter Tell-Mythos Eine weitere Gestalt, die grüßen lässt, und die den Rezensenten — auch den Schweizern darunter — gänzlich entgangen ist, ist der mythische Freiheitsheld und Tyrannenmörder Wilhelm Tell. Als es zum Zweikampf gegen Ferdia im Tal der Schatten kommt, hat sich Set schon längst als »der beste Bogenschütze unter Scathachs Schülern« ausgezeichnet,51 weshalb das Verfehlen seines Ziels im Bogenkampf besonders erniedrigend ist. Nichtsdestotrotz hängt er sich beim heimlichen Verlassen des Lagers seinen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen um.52 Der Leser weiß bereits aus dem Magischen Licht, dass Ferdia ihm Pfeilbögen aus Weidenruten und Schnüren gemacht hat, als er kleiner war,53 und die heimtückischste Versuchung in der Zeltstadt ist die der Waffen. Obwohl er sich darüber im Klaren ist, dass er die Prüfung auf der schwimmenden Insel bestehen muss, bevor er zur Waffenauswahl in Scathachs Waffenhalle zugelassen wird, lässt er sich von den Waffen in Fans/Balors Waffenzelt blenden. Fans Empfehlung eines Schwerts oder eines Speeres — beides Waffen, die er im Kampf gegen Ferdia auch benutzt — weist er zugunsten des Pfeilbogens und trotz Fans Warnung zurück.54 Georginas spöttische Abfertigung: »Ein Krieger mit einem Pfeilbogen!« stört ihn auch nicht sonderlich,55 denn während er auf dem Kampfplatz übt, hört er in seinem Kopf Scathachs Stimme mit ihren Anweisungen zur korrekten Bogennutzung, und wenn er an sein Schlafzelt zurückdenkt, kommen ihm die Bronzeplatten mit bekannten darauf abgebildeten Bogenschützen wie zur Bestätigung in den Sinn.56 Kurz: Beim Pfeilbogen handelt es sich offensichtlich um sein Wahrzeichen, was an sich nicht erstaunlich ist, da –––––––— 51 52 53 54 55 56

Alioth: Im Tal der Schatten (Anm. 11), S. 36. Ebd., S. 46. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 108. Ebd., S. 107í109. Ebd., S. 117. Ebd., S. 120f.

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der Bogen und die Schleuder (die der junge Set des Mythos zur Tötung des Hundes verwendet) als die ältesten bekannten Schusswaffen gelten.57 So weit, so gut, aber im Táin Bó Cuailnge ist der Speer das Kennzeichen Cúchulainns, nicht sein Bogen. Sein Speer »Gae Bolga« gilt als unfehlbar, und traditionelle Abbildungen von Cúchulainn zeigen ihn mit seinem Brustschild (den Alioths Set auch benutzt) und seinem Speer. Der Ausgang des Wettkampfes im Tal der Schatten scheint dies zu bestätigen, denn es ist dieser Speer, mit dem er seinen Ziehbruder (den besten Speerwerfer) besiegt. Sein Pfeilschuss misslingt gänzlich, geht an Ferdia vorbei und trifft stattdessen die Perücke von Ibor, dem königlichen Wagenlenker, einem kleinen Mann, »der stets mit seinen großen Taten prahlt« und der wegen seiner Perücke aus Hasenfell verhöhnt wird.58 Als die Perücke zu Boden rutscht, werden beide Figuren dem Hohn der Beistehenden ausgesetzt. Somit wird der Tell-Mythos, von Alioth subtil eingeführt, mit einem Schlag demontiert oder verulkt, da der irische Tell ebenso wie Ibor/Gessler bloßgestellt wird. Nun kann der Apfelschuss in anderen Legenden außerhalb der Schweiz belegt werden, aber ein gewisser Liam Teille, der die Kirsche auf dem Kopf seiner Tochter getroffen haben soll, und den Set als einen der Bogenschützen in seinem Schlafzelt zu sehen glaubt,59 ist selbstverständlich pure Einbildung – von Set – und ein weiteres Beispiel von Gabrielle Alioths Freude am Spiel mit den Verwandlungen, denn Liam Teille ist die irische Übersetzung des Namens von Wilhelm Tell.

Interkulturelle Bereicherung In Mythen und vor allem in Märchen sind Verwandlungsmotive allgegenwärtig. Das weiß Georgina, aber sie wird dennoch immer überrumpelt.60 Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Orte und Charaktere verwandeln sich häufig, verführen aufs Heimtückischste, geben ihre wahre Seite nicht sofort zu erkennen – entweder aus betrügerischen (wie im Falle Balors) oder aus pädagogischen Gründen (wie im Falle Cathbads). Und Verwandlung ist auch ein Lieblingsstilmittel Gabrielle Alioths. Nicht nur in ihren Kinderbüchern, vielfach auch in ihren Werken für Erwachsene hat sie Freude am Verwandeln, Umfunktionieren, am schöpferischen, spielerischen Umgang mit Quellen, bekannten Topoi, sogar Zeiten und Perspektiven. Im Roman Die Erfindung von Liebe und Tod (dem eine Umgestaltung der Pygmalion-Thematik zugrunde liegt) vertritt ein Physiker, Zuhörer bei einer Lesung der Schriftstellerin-Protagonistin, eine neue dynamische –––––––— 57

58 59 60

Vgl. hierzu Gabrielle Alioths »Kleines Lexikon der irischen Mythologie« auf ihrer Webseite: http://www.gabriellealioth.com/Kids/lexikon_kids.html (Zugriff am 31.12.2008). Es enthält gegenüber dem Glossar in den Bänden einige Ergänzungen. Alioth: Im Tal der Schatten (Anm. 11), S. 35. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 121, 149. »Die Gestalten darin [d.h. in den irischen Sagen, S. D.] verwandeln sich wie im Märchen«. Ebd., S. 11.

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Theorie zur Erklärung der Zeit: »Nichts vergeht [...], das Leben verändert seine Form, aber es besteht immer weiter«.61 Dies entspricht in etwa dem keltischen Glauben, der in diesem Roman und in den Kinderbüchern vertreten wird, nämlich dass die Zeit sich in Spiralen dreht.62 Der Kettenanhänger, an dem sich Georgina versehentlich sticht und so ihren Übergang in die mythologische Welt Sets herbeiführt, hat die Form eines Kleeblattes, das aus drei silbernen Drahtspiralen zusammengesetzt ist.63 In den irischen Kinderbüchern Gabrielle Alioths geht es um das zeitlose und zeitübergreifende Thema, das Mythen und Märchen gemeinsam haben: die Selbstwerdung, die Suche nach Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein, die Identitätssuche schlechthin. Aus der Außenperspektive in ihrem selbst gewählten irischen »Exil« verfügt Alioth über die »Narrenfreiheit des Fremden«, die ihr einen noch größeren dichterischen Freiraum erlaubt, weil sie für eine deutschsprachige und doppelte Leserschaft schreibt. Ihre märchenhafte Verwandlung zweier Nationalmythen — ihres irischen Heims und ihrer Schweizer Heimat — ist weniger eine Dekonstruktion als eine kreative Symbiose, die aus der »Reibung zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen« hervorgeht — einer Reibung, die »unser Verständnis für Kultur und Sprache erhöht«.64 Und nicht zuletzt ein Zeichen, dass Alioth Schweizerin, wenn auch Auslandsschweizerin, geblieben ist: »Denn auch wer die Heimat flieht, trägt etwas von ihr mit sich davon«.65

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Gabrielle Alioth: Die Erfindung von Liebe und Tod. München, Wien: Nagel & Kimche 2003, S. 28. Ebd., S. 73. Alioth: Das magische Licht (Anm. 11), S. 19, 27, 31f; vgl. auch den Eintrag im Glossar, S. 181. Alioth: Postbabylonische Versprechen (Anm. 4), S. 102. Alioth: Ausflug in die Heimat (Anm. 5), S. 15.