Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt: Saul Friedländer und Ruth Klüger [Annotated] 3484651733, 9783484651739

This book-series, initiated in 1992, has an interdisciplinary orientation; it is published in English and German and com

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Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt: Saul Friedländer und Ruth Klüger [Annotated]
 3484651733, 9783484651739

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Preface
1. Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt. Saul Friedländer und Ruth Klüger
2. Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen
3. Zwischen Geschichtswissenschaft und persönlichem Erinnerungstext: Saul Friedländer
4. Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt: Ruth Klüger
5. Fazit: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt – Saul Friedländer und Ruth Klüger
Backmatter

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Conditio Judaica 73 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Karolin Machtans

Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt: Saul Friedlnder und Ruth Klger Mit einem Vorwort von Alon Confino

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

n

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65173-9

ISSN 0941-5866

( Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul=ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf=ltigungen, >bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest=ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhalt

Preface (Alon Confino) ................................................................................ XI 1 Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt. Saul Friedländer und Ruth Klüger .......................................................... 1.1 Fragestellung und Schwerpunkte. Textauswahl ............................. 1.2 Ansatz und Aufbau ......................................................................... 1.2.1 Ansatz .................................................................................. 1.2.2 Aufbau ................................................................................. 2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen ................. 2.1 Funktionsweise autobiographischer und kollektiver Erinnerungsprozesse ....................................................................... 2.1.1 Das autobiographische Gedächtnis: Individuelle Erinnerung und Identität ...................................................... 2.1.2 Narrative Verfasstheit von Erinnerung und Identität. Ergebnisse der narrativen Psychologie ................................ 2.1.3 Kollektive Erinnerung und Identität .................................... 2.2 Literatur – Erinnerung – Identität ................................................... 2.2.1 Gedächtnis in der Literatur .................................................. 2.2.2 Gedächtnis der Literatur ...................................................... 2.2.3 Literatur als Medium des Gedächtnisses ............................. 2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung ...... 2.3.1 Wahrnehmung autobiographischer Texte in der Literaturwissenschaft ........................................................... 2.3.2 Wahrnehmung autobiographischer Zeugnisse in der Geschichtswissenschaft ....................................................... 3 Zwischen Geschichtswissenschaft und persönlichem Erinnerungstext: Saul Friedländer ..................................................................................... 3.1 Friedländers historiographischer Ansatz ........................................ 3.1.1 Entwicklung von Friedländers wissenschaftlichem Werk ... 3.1.2 Wahrnehmung historischer Ereignisse. Erinnerungen der Opfer – persönlicher Hintergrund des Historikers ...............

1 1 8 8 9 13 14 14 17 19 21 22 23 24 25 26 31 37 37 39 49

VI

Inhalt

3.1.2.1 Integration persönlicher Erinnerungen in die Geschichtsschreibung ............................................ 50 3.1.2.2 Persönlicher Hintergrund des Historikers .............. 51 3.1.3 Gegen ›erlösendes Abschließen‹ ......................................... 52 3.1.4 »Das Gesamtphänomen ist mir immer noch teilweise ein Rätsel«: Nazi Germany and the Jews .................................. 55 3.1.5 Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion. Friedländers Abgrenzung von postmodernen Diskursen .......................... 59 3.1.6 Ein ›deutsches Buch‹? Deutsche Erstausgabe und öffentliche Präsentation von Die Jahre der Vernichtung .... 64 3.1.7 Zusammenfassung ............................................................... 65 3.2 Quand vient le souvenir…(1978): Friedländers Erinnerungstext .... 67 3.2.1 Einleitung ............................................................................ 67 3.2.1.1 Textgenese. Publikationsgeschichte ....................... 67 3.2.1.2 Forschungsgeschichte. Verwendete Literatur ........ 70 3.2.1.3 Fragestellung und Schwerpunkte der Analyse. Gliederung ............................................................. 70 3.2.2 Quand vient le souvenir…: Faktizität .................................. 73 3.2.3 Das autobiographische Ich .................................................. 74 3.2.3.1 Von ›Pavel‹ zu ›Saul‹: Fragmente des Ichs ........... 75 3.2.3.2 Synthese: Kohärenz in der Disparatheit ................. 85 3.2.4 Individuelle Erinnerung und Identität .................................. 87 3.2.4.1 Quand vient le souvenir… als ›Abbild‹ autobiographischer Erinnerungsprozesse ............... 88 3.2.4.2 Erinnerung und Identität: Verschränkung der drei Erzählstränge. Funktion der Leerstellen ................ 96 3.2.5 Kollektive Erinnerung und Identität .................................... 100 3.2.6 »Suche der ganzen Menschheit«: Streben nach Einheit als ›allgemein-menschliches‹ Phänomen .................................. 110 3.2.7 »De l’obscurité monta vers nous la terre d’Israël«: Der autobiographische Schreibakt ....................................... 113 3.2.7.1 »Wissen und Erinnerung sind dasselbe…«: Annäherung an die persönliche Vergangenheit ..... 115 3.2.8 Positionierung als Wissenschaftler im autobiographischen Text ..................................................................................... 118 3.2.8.1 »Sich selbst in einen Zusammenhang stellen«: Geschichtsschreibung und persönliche Geschichte .............................................................. 118 3.2.8.2 Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine Interpretation historischer Ereignisse ............................................................... 119 3.2.8.3 Integration der Erinnerungen der Opfer ................. 121

Inhalt

VII

3.2.8.4 Hinterfragen eindeutiger Täter-OpferDichotomien .......................................................... 122 3.2.8.5 Ästhetische Darstellung des Holocaust .................. 124 3.3 »Allmählich, wenn die Erinnerung kommt, kommt auch das Wissen… Wissen und Erinnerung sind dasselbe…«: Friedländers Werk zwischen autobiographischem Projekt und Geschichtsschreibung .............................................................. 127 4 Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt: Ruth Klüger ............................................................................................ 133 4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays ............................................................................................. 133 4.1.1 Klügers Konzept von Autorschaft ....................................... 136 4.1.2 »Was uns ein geliebtes oder auch nur anregendes Buch sagt, ist nicht dasselbe wie das, was ›der Dichter uns sagen will‹«: Bedeutung des persönlichen Hintergrunds für die Rezeption literarischer Texte ................................... 138 4.1.2.1 Klügers Beschäftigung mit jüdischen Figuren in der Literatur ....................................................... 140 4.1.2.2 Klügers ›weiblicher Blick‹ auf Literatur ................ 141 4.1.3 Konstrukthaftigkeit der ›Erinnerung an Literatur‹ .............. 145 4.1.4 Vorläufigkeit und Subjektivität der Interpretation von Literatur: Der Essay als Form. Klügers Sprachduktus ........ 147 4.1.5 Fakten und Fiktion .............................................................. 150 4.1.5.1 Geschichtsschreibung und Literatur. Literatur als »Mittel der Wahrheitsfindung« .............................. 150 4.1.5.2 Autobiographie als »eine Art Zeugenaussage« ...... 154 4.1.6 An der Grenze zum ›Kitsch‹: Zur adäquaten Darstellung des Holocaust ...................................................................... 157 4.1.7 Zusammenfassung ............................................................... 161 4.2 Von weiter leben. Eine Jugend (1992) zu Still alive. A Holocaust girlhood remembered (2001): Klügers autobiographisches Projekt ............................................... 162 4.2.1 Einleitung ............................................................................ 162 4.2.1.1 Textgenese. Publikationsgeschichte ....................... 162 4.2.1.2 Forschungsgeschichte. Verwendete Literatur ........ 165 4.2.1.3 Fragestellung und Schwerpunkte der Analyse. Gliederung ............................................................. 167 4.2.2 Klügers autobiographisches Projekt: Faktizität ................... 169 4.2.3 Das autobiographische Ich .................................................. 171 4.2.4 Unabschließbares Identitätsprojekt: Auseinandersetzung mit der Funktionsweise autobiographischer Erinnerungsprozesse in weiter leben und Still alive. Sprachwechsel ...... 173

VIII

Inhalt

4.2.4.1 Inszenierung individueller Erinnerungsprozesse in weiter leben ........................................................ 174 4.2.4.2 Unabschließbarkeit des Identitätsprojekts: Von weiter leben zu Still alive ............................... 178 4.2.4.3 Größere Abgeschlossenheit: Von der ›Muttersprache‹ zur Zweitsprache ......................... 186 4.2.5 Autobiographie als ›Performanz des Selbstes‹: Das Nebeneinander beider ›autobiographischer Sprechakte‹ ..... 188 4.2.5.1 Verhältnis zur deutschen/österreichischen und amerikanischen Sprache und Kultur in weiter leben ........................................................ 189 4.2.5.2 Verhältnis zur deutschen/österreichischen und amerikanischen Sprache und Kultur in Still alive ............................................................ 191 4.2.5.3 Übersetzung des Selbstes ....................................... 194 4.2.5.4 Deutsch-jüdische Autorin? Österreicherin? Amerikanerin? Klügers Einordnung in die Literaturgeschichte ................................................. 197 4.2.6 Auseinandersetzung mit kollektiven Vergangenheitsversionen: Von weiter leben zu Still alive ........................... 198 4.2.6.1 weiter leben als Auseinandersetzung mit den bundesdeutschen Diskursen ................................... 199 4.2.6.2 Von weiter leben zu Still alive: Fortschreibung und kulturelle Übersetzung kollektiver Vergangenheitsversionen ....................................... 210 4.2.6.3 Still alive als kulturelle Übersetzung ..................... 215 4.2.7 Positionierung als Wissenschaftlerin im autobiographischen Projekt ................................................. 221 4.2.7.1 Selbstübersetzung: Deutungshoheit über das eigene autobiographische Projekt .......................... 222 4.2.7.2 Umgang mit literarischen Dokumenten ................. 223 4.2.7.3 Klügers ›weiblicher Blick‹ auf Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft ... 229 4.2.7.4 Autobiographie als »subjektivste Form der Geschichtsschreibung« .......................................... 232 4.2.7.5 »Eigentlich war es ein essayistisches Buch, mehr Kommentar als Handlung«: Der autobiographische Text als ›Essay‹ ................. 234 4.2.8 Ausblick: Unterwegs verloren. Erinnerungen ..................... 236 4.3 »Ich spreche heute zu Ihnen einerseits als Germanistin […], andererseits als praktizierende Autobiographin«: Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt ................. 243

Inhalt

IX

5 Fazit: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt – Saul Friedländer und Ruth Klüger .......................................................... 247 5.1 Friedländers und Klügers theoretische Überlegungen: Parallelen .. 247 5.2 Quand vient le souvenir… und weiter leben – Still alive ................ 248 5.3 Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt .............. 251 6 Literaturverzeichnis ................................................................................ 253 6.1 Friedländer ...................................................................................... 253 6.1.1 Textausgaben ....................................................................... 253 6.1.2 Interviews ............................................................................ 255 6.1.3 Sekundärliteratur ................................................................. 255 6.2 Klüger ............................................................................................. 256 6.2.1 Textausgaben ....................................................................... 256 6.2.2 Interviews ............................................................................ 260 6.2.3 Sekundärliteratur ................................................................. 260 6.3 Verwendete Primärliteratur ............................................................ 263 6.4 Filme ............................................................................................... 264 6.5 Sekundärliteratur ............................................................................ 265 Danksagung .................................................................................................. 287 Personenregister ........................................................................................... 289

Preface

Representations of the Holocaust have been informed in recent decades, among others, by three key narratives. A historical narrative has explored the unfolding of the persecution and extermination of the Jews between 1933 and 1945 in a specialized massive historiography, written very close to the documents, detailing aspects of the military, institutional, ideological, and political history of the Holocaust. A different scholarly narrative has focused on the construction of Holocaust remembrances after 1945 in commemorations, museums, literature, the arts, and others. And personal narratives of the experience of survivors have been recounted in memoirs and autobiographies. The intersection of these narratives has been insightful. Exploring an extreme historical event raises fundamental problems of how to access knowledge about the past. Important work on the limits and possibilities of Holocaust historical reconstruction, testimony, and collective memory has charted the relations between the personal stories of individuals and the collective narrative, the particular experience and broad social patterns, autobiography and historical reconstruction. It is the merit of Karolin Machtans’ book to illuminate the relations of Holocaust history, autobiography, and memory from a perspective that underscores their commingled and multidimensional influences. Machtans explores the work of two renowned scholars who also both wrote autobiographies about their Holocaust survival: Saul Friedländer, the Holocaust historian and author of Quand vient le souvenir (1978), and Ruth Klüger, the literary critic and author of weiter leben. Eine Jugend (1992). What emerges from Machtans’ book is the close connection between the scholarly and autobiographical work of Friedländer and Klüger, a connection that in important ways enriches our understanding of the Holocaust past, in particular, and of the way we understand personal and collective pasts, in general. Friedländer and Klüger wrote their autobiographies not principally as a vehicle to record their experiences during the Third Reich, but instead as a selfreflective memory process for the construction of personal identity. Although they come from different scholarly disciplines, their shared main point was not to recount what happened, but to reveal instead how they have come to recall what happened, and to explore the place of this individual memory within broader memory trends as well as within social and cultural context. They emphasize both the constructedness of memory as a fundamental component in knowing the past and the dependence of every interpretation on historical and

XII

Preface

literary evidence read in its specific context (as opposed to literary and philosophical approaches that see no »objective« measure to determine that one interpretation is more true than another). Memory, the process by which we remember the past, thus becomes not the opposite of history, but its accompaniment in the search for knowledge and interpretation of the past. This insight has fundamentally influenced their work. It means that an accurate description of the unfolding of events or of the characteristics of texts cannot simply carry its own interpretation. For Klüger, autobiography resembles »history writing in the I form,« (Geschichtsschreibung in der Ich-Form). Friedländer, after the publication of his autobiography, viewed as crucial the incorporation of personal testimonies into the historical narrative of the Holocaust, an approach he undertook in his two volumes Nazi Germany and the Jews. But Machtans’ scrupulous analysis reveals a more radical aspect of the relations between history, autobiography, and memory. Friedländer and Klüger view their own personal background as a determinant of their scholarly historical narrative. This is not at all obvious in a scholarly profession that is allergic to introducing personal considerations as justification for choices of method and interpretation. While the importance of the scholar’s personal background, education, and memories for determining a scholar’s interests, sensitivities, and even approaches is evident, it is a difficult topic to address. It is probably unavoidable – and desirable – that the personal is usually kept separated from the strictly professional in historical, literary, and other studies. The question, then, is not whether the personal is part of the professional but what is the best way to engage these relations insightfully. By crossing the disciplinary lines between literature and history, by mixing up autobiography, memory, and construction of the past, Friedländer and Klüger show in their autobiographical and scholarly work that memory is already embedded in the origins of the interpretive process. The result is that their work not only tells about the past; it evokes it. Their writing captures a certain historical sensation of the Holocaust past, which requires that one goes beyond the logical association of events into human elements of the period. Machtans’ study, written in clear, exacting prose, leaves readers and authors with profound insights and questions about the process of writing, of scholarship, and of memory. If for Klüger autobiography resembles »history writing in the I form,« then for Friedländer, in some sense, history writing is autobiography conducted with the toolkit of the historian. There is always a complicated mix between the private and the professional, the individual memory and experience, on the one hand, and scholarly procedures of identifying methods and theories, on the other. There is no clear-cut dichotomy between the scholar and the private person. We write the books that we are, be they autobiographies or scholarly studies, and the books write us in return. Alon Confino Department of History University of Virginia

1

Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt. Saul Friedländer und Ruth Klüger

1.1

Fragestellung und Schwerpunkte. Textauswahl

Die öffentliche Aufmerksamkeit aus Anlass des Erscheinens seines Opus Magnum Nazi Germany and the Jews machte deutlich, dass Saul Friedländer auch in Deutschland zu den anerkanntesten Historikern auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Judenverfolgung zählt.1 Die internationalen Würdigungen und Auszeichnungen, die Friedländer erhielt – darunter der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2007) und der Pulitzer-Preis (2008) –, betonen einstimmig den innovativen Charakter seines historiographischen Werkes: In Form von Briefen, Zeitungs- und Tagebuchausschnitten integriert Friedländer die Erinnerungen der Opfer, wechselt von der Ebene der Darstellung nationalsozialistischer Maßnahmen und Gesetze auf die des einzelnen Individuums und hebt auf diese Weise die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf das Leben der Betroffenen hervor. Durch den Wechsel der Analyseebenen – so hat es bereits Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1998 an Friedländer formuliert – gelingt es ihm, diese Auswirkungen nicht »thesenhaft hinzustellen«, sondern durch die narrative Struktur seines historiographischen Werkes zu evozieren.2 Über die Integration 1

2

Saul Friedländer: Nazi Germany and the Jews. Vol. I: The years of persecution, 1933–1939. New York: Harper Collins 1997. – Vol. II: The years of extermination, 1939–1945. New York: Harper Collins 2007 (Das Dritte Reich und die Juden. Bd I: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. München: Beck 2000 (1998). – Bd II: Die Jahre der Vernichtung 1939– 1945. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer. München: Beck 2006). – Aufschlussreich ist, dass die Übersetzung des zweiten Bandes vom Englischen ins Deutsche noch vor der Veröffentlichung der englischsprachigen Fassung erschienen ist. Ich werde hierauf in Kapitel 3.1.6 eingehen. Jan Philipp Reemtsma: Laudatio für Saul Friedländer anläßlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises. In: Saul Friedländer/Jan Philipp Reemtsma: Gebt der Erinnerung Namen. Zwei Reden. München: Beck 1999 (Beck’sche Reihe; 1308), S. 9–26, hier: S. 18. – Ähnlich urteilt Richard J. Evans in seiner Rezension anlässlich des Erscheinens des zweiten Bandes in englischer Sprache: »What raises ›The Years of Extermination‹ to the level of literature, however, is the skilled interweaving of individual testimony with the broader depiction of events. Friedlander never lets the reader forget the human and personal meanings of the historical processes he is

2

1 Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt

der Erinnerungen der Opfer hinaus ist es insbesondere der Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine Interpretation geschichtlicher Ereignisse, dessen Betonung Friedländers Herangehensweise von ›gängigen‹ historiographischen Ansätzen unterscheidet. Ruth Klügers Wahrnehmung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ist eng verknüpft mit ihrem autobiographischen Text weiter leben. Eine Jugend, der 1992 im Göttinger Wallstein-Verlag veröffentlicht und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Seither sind auch Klügers literaturwissenschaftliche Arbeiten einem breiteren Rezipientenkreis in deutscher Übersetzung zugänglich. Klügers literaturwissenschaftliche Essays zeichnen sich durch eine dezidiert weibliche Perspektive aus. Darüber hinaus untersucht sie die Darstellung jüdischer Figuren in der Literatur und setzt sich mit dem Verhältnis fiktionaler und faktualer Texte auseinander. Sowohl Friedländer als auch Klüger haben sich im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten wiederholt mit der Darstellung des Holocaust in Literatur und Geschichtsschreibung, den Grenzen der Darstellbarkeit und den Nachkriegsdiskursen beschäftigt. Über die thematischen Schwerpunkte hinaus sind es jedoch insbesondere die ihren geschichts- bzw. literaturwissenschaftlichen Arbeiten zugrundeliegenden theoretischen Annahmen, in denen – so die erste Hauptthese – beide wissenschaftliche Ansätze deutliche Parallelen aufweisen: 1. Die Deutung historischer Ereignisse ebenso wie die Interpretation literarischer Texte ist – so betonen beide – vom kulturellen Kontext und historischen Zeitpunkt bestimmt, in dem sie entsteht. Sowohl Klüger als auch Friedländer heben dabei den Einfluss des persönlichen Hintergrunds auf die wissenschaftliche Arbeit hervor und plädieren für die Kenntlichmachung der eigenen Position. 2. Eine allgemeingültige, abschließende Deutung historischer Ereignisse und literarischer Dokumente kann somit nicht existieren. Sowohl Klüger als auch Friedländer betonen vielmehr die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Interpretationen. 3. Trotz ihrer Betonung der Kontextabhängigkeit von Interpretationen, die eine Vielzahl möglicher Deutungen impliziert, gehen jedoch weder Friedländer noch Klüger so weit, den referentiellen Charakter von Sprache in Frage zu stellen und die Grenze zwischen fiktionalen und faktualen Texten aufzulösen.

describing.« – Richard J. Evans: Whose orders? The years of extermination. Nazi Germany and the Jews, 1939–1945. In: The New York Times, 24. Juni 2007.

1.1 Fragestellung und Schwerpunkte. Textauswahl

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Mit Klüger und Friedländer stehen damit zwei Wissenschaftler im Mittelpunkt meiner Studie, die sich von den Polen ihrer traditionell entgegengesetzten akademischen Felder – der Geschichtsschreibung und der Literaturwissenschaft – annähern: Beschäftigt sich der Historiker Friedländer in seinen theoretischen Überlegungen wiederholt mit den Grenzen historiographischer Darstellung und wendet sich gegen eine Einebnung der sich dem rationalen Verstehen entziehenden, nicht integrierbaren Anteile des historischen Geschehens in das historische Narrativ, befragt die Literaturwissenschaftlerin Klüger Literatur nach ihrer Aussage über die außertextuelle Wirklichkeit, besteht auf der Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion und geht sogar so weit, die Autobiographie als »Geschichtsschreibung in der Ich-Form« zu bezeichnen. Verfolgt Friedländer also einen geschichtswissenschaftlichen Ansatz, der über eine ›traditionelle‹, Faktentreue und größtmögliche Objektivität betonende Historiographie hinausgeht, geht Klüger in ihrem literaturwissenschaftlichen Ansatz einen Schritt hinter solche literaturtheoretischen Positionen zurück, die die Beziehbarkeit literarischer Texte auf eine außertextuelle Wirklichkeit im Sinne eines Derridaschen »Il n’y a pas de hors-texte«3 in Frage stellen. Sowohl Friedländer als auch Klüger haben zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer wissenschaftlichen Laufbahn einen autobiographischen Text verfasst. In beiden Fällen zeichnet sich das autobiographische Projekt4 – so meine zweite grundlegende These – durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität bezüglich der Funktionsweise individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse und der Grenzstellung autobiographischer Texte zwischen Fakten und Fiktion aus. 1978 erschien Friedländers Erinnerungstext Quand vient le souvenir..., der 1979 als Wenn die Erinnerung kommt ins Deutsche übersetzt wurde und bisher nicht zum Gegenstand einer eingehenden literaturwissenschaftlichen Analyse geworden ist.5 3 4

5

Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris: Éditions de Minuit 1967, S. 227. Hervorhebung im Original. Das Konzept von Identität bzw. Autobiographie als Projekt entlehne ich Rom Harré und seiner Betonung des prozesshaften, zukunftsorientierten Charakters von Identitätsentwürfen. – Rom Harré: Identity projects. In: Threatened identities. Ed. by Glynis M. Breakwell. Chichester, New York: Wiley 1983, S. 364–379. – Zum Konzept der Identität als Projekt, die sich im autobiographischen Schreibakt manifestiert, vgl. auch Wolfgang Kraus: »In dem Maße […], wie Identität zum Unabschließbaren wird, muß sie selbst zum – unabschließbaren – Projekt werden, Identität wird das Projekt.« – Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. 2. Aufl. Herbolzheim: Centaurus-Verlags-Gesellschaft 2000, S. 5 (Münchner Studien zur Kultur- und Sozialpsychologie; 8). Hervorhebung im Original. Saul Friedländer: Quand vient le souvenir…. Paris: Éditions du Seuil 1978. – Ders.: Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1979.

4

1 Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt

Ruth Klügers autobiographisches Projekt stellt eine Ausnahme dar: Neben der deutschen Version ihres Erinnerungstextes weiter leben. Eine Jugend existiert ein zweiter, amerikanischer Text. Still alive. A Holocaust girlhood remembered wurde von Klüger selbst ins Englische übertragen und 2001, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, veröffentlicht.6 Dabei handelt es sich nicht um eine Übersetzung im gängigen Sinne. Vielmehr unterscheidet sich die amerikanische Version, die Klüger als ›Paralleltext‹ bezeichnet, in entscheidenden Punkten vom deutschen Text und wird damit gleichzeitig zur Fortschreibung und kulturellen Übersetzung des deutschen Textes.7 Klügers autobiographisches Projekt lässt sich daher nur in seiner Gesamtheit – also in der Verlängerung und Ergänzung um die amerikanische Version – angemessen zur Kenntnis nehmen. Dies ist bislang innerhalb der deutschen Forschung nicht, innerhalb der US-amerikanischen Forschung nur in ersten Ansätzen geschehen.8 Seit kurzem existiert mit Unterwegs verloren. Erinnerungen (2008) außerdem eine erneute Fortschreibung von Klügers autobiographischem Projekt, auf die ich in einem Ausblick verweisen werde.9 Die Annäherung an die eigene Vergangenheit durch den autobiographischen Schreibakt unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Analyse historischer und literarischer Dokumente durch einen entscheidenden Aspekt: Die persönliche Vergangenheit ist nur über den Akt autobiographischen Erinnerns einzuholen. Autobiographisches Erinnern aber – so die Ergebnisse der Psychologie und Neurobiologie – bietet keinen Zugang zur persönlichen Vergangenheit, wie sie sich ›wirklich‹ zugetragen hat, ist niemals Rekonstruktion eines ›so Gewesenen‹. Autobiographisches Erinnern ist vielmehr eine Neuordnung und Interpretation der vergangenen Ereignisse, die an den Deutungsanspruch der Gegenwart angepasst werden und so permanenten Veränderungen unterliegen.10 Eine Vergangenheit außerhalb dieser Erinnerung – in Form von ›Dokumenten‹, wie sie der wissenschaftlichen Analyse zugrunde liegen – existiert nicht. Mark P. Freeman hat den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Analyse und der Annäherung an die persönliche Vergangenheit folgendermaßen formuliert: 6

7 8 9 10

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992. – Ruth Kluger [sic]: Still alive. A Holocaust girlhood remembered. New York: Feminist Press 2001. – Neben der amerikanischen Version liegt eine textgleiche britische Ausgabe vor, die sich jedoch in Titel und Klappentext von der New Yorker Ausgabe unterscheidet: Ruth Kluger [sic]: Landscapes of memory. A Holocaust girlhood remembered. London: Bloomsbury 2001. Ich beziehe mich in der vorliegenden Studie auf die amerikanische Version Still alive. Zum Konzept der ›kulturellen Übersetzung‹ innerhalb der gegenwärtigen Übersetzungswissenschaft vgl. Kapitel 4.2.6. Der Überblick über die Forschungslage zu Klügers und Friedländers autobiographischen Texten ist den jeweiligen Kapiteln (3.2 bzw. 4.2) vorangestellt. Ruth Klüger: Unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay 2008. Vgl. hierzu Kapitel 2.1.1.

1.1 Fragestellung und Schwerpunkte. Textauswahl

5

When we try to interpret something outside of ourselves, be it a text or a painting or a person, there is something there before us: words or splashed of paint or actions. But what really is there when the object of our interpretive endeavors is ourselves? Our pasts, you might answer, the history of our words and deeds. But are these pasts, these histories, suitably compared to that which exists outside ourselves? They are our pasts, our histories, and are in that sense inseparable from who is doing the interpreting, namely ourselves: subject and object are one.11

Die Frage des persönlichen Hintergrunds stellt sich damit in der Produktion des autobiographischen Textes in besonderer Weise: Der Autor/die Autorin ist zugleich Subjekt und Objekt der Darstellung, die Interpretation des eigenen Lebens ist untrennbar mit dem subjektiven, immer gegenwärtigen Blickwinkel verknüpft. Das Genre der Autobiographie ist gekennzeichnet durch seinen besonderen Referenzanspruch, der sowohl Produktion als auch Rezeption autobiographischer Texte leitet.12 Damit steht das Genre der Autobiographie an der Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung.13 Durch seine literarische Komposition gibt der autobiographische Text dabei sowohl Aufschluss über die ihm zugrundeliegenden Annahmen zur Funktionsweise von Erinnerungsprozessen als auch über die Einschätzung der (Un)Unterscheidbarkeit faktualer und fiktionaler Texte. Im Mittelpunkt meiner Analyse der autobiographischen Projekte von Klüger und Friedländer steht folgende Frage: Welche literarische Form wählen sie für die Annäherung an die persönliche Vergangenheit – zwei Wissenschaftler, die sich eingehend mit der Funktionsweise von Erinnerungsprozessen, der Abhängigkeit der Interpretation historischer und literarischer Dokumente von persönlichem, soziokulturellem und historischem Kontext sowie der (Un)Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion auseinander gesetzt haben? Ich vertrete dabei folgende Thesen: 1. Das autobiographische Projekt ist in beiden Fällen durch den Einsatz verschiedener literarischer Strategien als referentielles Genre gekennzeichnet, das auf ein außerhalb von ihm existierendes Autorensubjekt verweist. Damit grenzen sich beide Autoren auch in ihrem autobiographischen Projekt von theoretischen Positionen ab, die die Unterscheidbarkeit fiktionaler und faktualer Texte in Frage stellen. 2. Um auf ein außerhalb des Textes existierendes Autorensubjekt verweisen zu können, muss vorausgesetzt sein, dass das Konzept von Subjektivität gene11 12 13

Mark P. Freeman: Rewriting the self. History, memory, narrative. London, New York: Routledge 1993 (Critical psychology), S. 5. Hervorhebung im Original. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart: Metzler 2005 (2000) (Sammlung Metzler; 323), S. 2; S. 10. Ebd., S. 1.

6

1 Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt

rell nicht in Frage gestellt wird. In beiden autobiographischen Projekten geht es nicht um die Darstellung eines sich ›in Auflösung befindlichen Subjekts‹.14 Die einzelnen Fragmente innerhalb der Biographie werden vielmehr als Teile eines einzigen Ichs gekennzeichnet. Dem autobiographischen Schreibakt kommt dabei die Aufgabe zu, Kohärenz zu erzeugen, ohne die disparaten Fragmente jedoch in eine chronologisch erzählte Lebensgeschichte einzuebnen. 3. Weder Friedländer noch Klüger gehen dabei von dem naiven Verständnis aus, die eigene Lebensgeschichte durch den autobiographischen Text ›abbilden‹ zu können. Im Gegenteil: Ihre autobiographischen Texte zeichnen sich bezüglich der Funktionsweise von Erinnerungsprozessen und ihrer Rolle für die Ausbildung des persönlichen Identitätsentwurfs durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität aus.15 In der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erinnerungsprozess unterscheiden sie sich damit deutlich von frühen Tex14

15

Ich beziehe mich hier auf die Sprachtheorie Derridas mit ihrem Konzept der endlosen Sinnverschiebung (différance) und Wiederholung mit Sinnverschiebung (itérabilité). Für Derrida existiert keine stabile Bedeutung, auf die das sprachliche Zeichen verweist. Sprache bezieht sich vielmehr in einem unendlichen Prozess der Sinnverschiebung immer nur auf sich selbst. Die Identität des individuellen Subjekts muss in einem solchen Konzept in Frage gestellt werden: »Für die individuelle und kollektive Subjektivität bedeutet dies, daß sie auf keine Sinnpräsenz gegründet werden kann und sich im stets offenen, unabschließbaren Differenzierungsprozeß der Signifikanten auflöst. […] In der Differenz zwischen dem Nicht-Mehr und dem NochNicht verschwindet das Subjekt als undefinierbare, nicht-identifizierbare Erscheinung, deren begriffliche Basis zerbröckelt ist.« – Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen, Basel: Francke 2000 (UTB; 2176), S. 209ff. – Zu Derridas Konzepten der différance und itérabilité vgl. Derrida, De la grammatologie (wie Anm. 3). Christian Angerer beschreibt das »ästhetisch wirksame Primat der Erinnerung« als Kennzeichen der jüngeren KZ-Literatur folgendermaßen: »Autoren jüngerer Erinnerungsbücher über KZ-Erfahrungen machen sich die ›rekonstruktive Natur des Gedächtnisses‹ bewußt, und deshalb wird ihnen auch die literarische Formung der Erinnerungen, ihre Erzählung, Perspektivierung, Auswahl und Anordnung, zum Problem. Solche Fragen bestimmen die ästhetische Struktur der Texte. Es ist die Ausrichtung des Schreibens am selbstreflexiven Erinnerungsprozeß, woraus diese Bücher ihre authentische Wirkung beziehen. Authentizität meint hier die enge Bindung der Textgestalt an die persönliche Erinnerungsleistung und damit an die Rekonstruktions- und Interpretationsarbeit des Autors oder der Autorin. Für Inhalt und Form ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: Zum einen nehmen die Erinnerungen einen betont individuellen, ja privaten Charakter an, und zum anderen bewahrt ihre literarische Form das Bewußtsein, daß Erinnerungen ›Kunstprodukte‹ im psychologischen und im ästhetischen Sinn sind.« – Christian Angerer: ›Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung‹. Ruth Klügers ›weiter leben‹ im Kontext der neueren KZLiteratur. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 29 (1998), H. 1, S. 61–83, hier: S. 63.

1.1 Fragestellung und Schwerpunkte. Textauswahl

7

ten, denen es vor allem um die Dokumentation des Erlebten ging.16 Während Friedländer die Rolle von Erinnerung für die Konstituierung von Identitätsprojekten durch den Einsatz verschiedener literarischer Strategien innerhalb eines Textes inszeniert, ist es bei Klüger insbesondere die Existenz des zweiten, amerikanischen ›Paralleltextes‹, der die Gegenwärtigkeit und Unabschließbarkeit von Identitätsentwürfen betont. 4. Die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Erinnerung und Identität beschränkt sich nicht auf die Ebene des individuellen Identitätsentwurfs. Vielmehr rücken beide den Zusammenhang von Erinnerung und Identität auch auf kollektiver Ebene in den Blick – Friedländer in der Gegenüberstellung konkurrierender kollektiver Narrative, Klüger durch die Auseinandersetzung mit den deutschen Holocaust-Diskursen in weiter leben und insbesondere die kulturelle Übersetzung von weiter leben in den amerikanischen Kontext. 5. Am Beispiel des Umgangs mit historischen und literarischen Dokumenten zeige ich, dass sowohl Friedländer als auch Klüger in ihren autobiographischen Texten ihr Selbstverständnis als Wissenschaftler mitformulieren. In Friedländers Fall gilt dies insbesondere für die Betonung des persönlichen Hintergrunds des Historikers sowie die Reihung historischer Fakten und persönlicher Erinnerungen (›Wissen‹ und ›Erinnerung‹). Klügers Selbstverständnis als Literaturwissenschaftlerin – insbesondere ihr Verständnis von Autor- und Leserschaft, die Abhängigkeit der Deutung von Literatur vom persönlichen Hintergrund des Interpreten und die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch Literatur – manifestiert sich im Umgang mit literarischen Dokumenten im autobiographischen Text. Wissenschaftliches und autobiographisches Werk von Friedländer und Klüger sind also – so die dritte zentrale These – untrennbar miteinander verknüpft. Im abschließenden Kapitel wird es darum gehen, den Zusammenhang von wissenschaftlicher Auseinandersetzung und autobiographischem Projekt zusammenzufassen. In Friedländers Fall frage ich dabei nach dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und persönlicher Erinnerung. Besonderes Gewicht erhält in diesem Zusammenhang das seinem Erinnerungstext vorangestellte Zitat Gustav Meyrinks, das am Ende des Textes umgekehrt wird und dort noch stärker die Bedeutung der Erinnerung hervorhebt: »Allmählich, wenn die Erinnerung kommt, kommt auch das Wissen... Wissen und Erinnerung sind dasselbe...«.17 Klüger hat den Zusammenhang von wissenschaftlicher Auseinandersetzung und persönlicher Lebensgeschichte selber explizit formuliert:

16 17

Ebd. Vgl. S. 166f. der französischen Ausgabe; S. 188 der deutschen Übersetzung.

8

1 Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt Anfang der neunziger Jahre habe ich eine Autobiographie verfaßt, und seither gehen mir gewisse Überlegungen nicht mehr aus dem Kopf, die mit dem Schreiben und der Aufnahme subjektiver Zeugnisse zu tun haben und mit der Literatur, die an solche Zeugnisse angrenzt, darunter auch historische Fiktionen.18

Über eine umfassende Analyse des wissenschaftlichen und des autobiographischen Werkes Klügers und Friedländers hinaus geht es mir also vor allem darum zu zeigen, in welchem Maße autobiographisches Projekt und wissenschaftliche Analyse ineinandergreifen und vor dem Hintergrund des Holocaust in ihrer Gesamtheit zum ›Lebenswerk‹ werden.

1.2

Ansatz und Aufbau

1.2.1 Ansatz Sowohl den wissenschaftlichen Arbeiten von Friedländer und Klüger als auch der Analyse der autobiographischen Texte nähere ich mich aus einer interdisziplinären Perspektive: Neben den Erkenntnissen der Geschichts- und Literaturwissenschaft sind es insbesondere die Ergebnisse der aktuellen psychologischen und neurobiologischen Gedächtnisforschung, der narrativen Psychologie sowie der Sozialwissenschaften, die mir notwendige Modelle zur Beschreibung der literarischen Gestaltung der Funktionsweise individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse liefern.19 Um den Zusammenhang zwischen Literatur und Gedächtnis beschreibbar zu machen, orientiere ich mich an den vom Gießener Sonderforschungsbereich ›Erinnerungskulturen‹ formulierten Ergebnissen.20 Um Friedländers und Klügers Einschätzung der Autobiographie als referentielles Genre einzuordnen, das der ›Abbildung‹ von Erinnerungsprozessen in besonderer Weise Rechnung trägt, stütze ich mich außerdem auf die Hauptströmungen der literaturtheoretischen Autobiographieforschung sowie die Einschätzung autobiographischer Zeugnisse innerhalb der Geschichtswissenschaft. Für die Analyse von Klügers autobiographischem Projekt ziehe ich zudem die aktuellen Ergebnisse aus dem Bereich der Übersetzungswissenschaft heran, die der Analyse von Still alive als kulturelle Übersetzung des deutschen Textes vorangestellt sind.21 Nur ein interdisziplinärer Ansatz ist 18

19 20

21

Ruth Klüger: Wie wirklich ist das Mögliche? Das Spiel mit der Weltgeschichte in der Literatur. Drei Essays zur literarischen Behandlung von Geschichte (S. 143– 219). I.: Geschichten aus Geschichte machen. Historische Romane und Erzählungen. In: Dies.: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein 2006, S. 143–168, hier: S. 145. Vgl. hierzu die Verweise in Kapitel 2. Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005 (Media and cultural memory; 2). Vgl. Kapitel 4.2.6.3.

1.2 Ansatz und Aufbau

9

meines Erachtens der Komplexität des Gegenstandsbereichs angemessen und vermag Beschreibungskategorien zu liefern, die über eine ›intuitive‹ Annäherung an die Bereiche autobiographischer und kollektiver Erinnerung, den Zusammenhang von Erinnerung und Identität sowie die Grenzstellung der Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung hinausgehen.

1.2.2 Aufbau Kapitel 2 behandelt in einem ersten Teil (2.1) die Funktionsweise autobiographischen Erinnerns (2.1.1), die narrative Verfasstheit von Identität (2.1.2) sowie die Funktionsweise kollektiven Erinnerns (2.1.3). In einem zweiten Teil (2.2) geht es um den Zusammenhang von Literatur, Erinnerung und Identität: In Anlehnung an Erll/Nünning beschreibe ich dort die Funktion von Literatur als ›Abbild‹ von Erinnerungsprozessen (2.2.1), das ›Gedächtnis‹ der Literatur (2.2.2) sowie Literatur als ›Medium‹ des Gedächtnisses (2.2.3). Kapitel 2.3 beschäftigt sich mit der Grenzstellung der Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung: Stelle ich zunächst die Wahrnehmung des Genres in der Literaturwissenschaft dar (2.3.1), geht es anschließend um die Einschätzung autobiographischer Zeugnisse in der Geschichtswissenschaft (2.3.2). In Kapitel 3 analysiere ich das wissenschaftliche und autobiographische Werk Saul Friedländers. Kapitel 3.1 beschäftigt sich mit Friedländers historiographischem Ansatz. Ich beschreibe dort zunächst die Entwicklungslinie innerhalb seines geschichtswissenschaftlichen Werkes (3.1.1), um vor diesem Hintergrund die von Friedländer hervorgehobene Kontextabhängigkeit der Deutung historischer Ereignisse darzustellen (3.1.2). Im Anschluss hieran geht es um Friedländers Skepsis gegenüber einer Einordnung der nationalsozialistischen Judenvernichtung in ein übergeordnetes, ›erlösendes‹ Narrativ (3.1.3). Die Friedländers theoretischen Überlegungen zugrundeliegenden Annahmen werde ich am Beispiel seines Hauptwerks Nazi Germany and the Jews verdeutlichen, das ich als Synthese seiner theoretischen Überlegungen lese (3.1.4). Trotz seiner Ablehnung eines integrierenden historischen Narrativs betont Friedländer weiterhin die Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion, wie ich in der Abgrenzung seiner Überlegungen von postmodernen Diskursen in Kapitel 3.1.5 darstellen werde. Kapitel 3.1.6 beschäftigt sich mit der ungewöhnlichen Tatsache, dass der zweite Band von Nazi Germany and the Jews (The years of extermination) zunächst in seiner deutschen Übersetzung (Die Jahre der Vernichtung) und damit vor dem englischen ›Original‹ veröffentlicht wurde. In Kapitel 3.1.7 fasse ich meine Überlegungen zu Friedländers historiographischem Ansatz zusammen, um vor diesem Hintergrund seinen autobiographischen Text zu interpretieren.

10

1 Einleitung: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt

In Kapitel 3.2 analysiere ich Friedländers Erinnerungstext Quand vient le souvenir.... Ich gebe hier zunächst einen Überblick zur Textgenese und Publikationsgeschichte (3.2.1.1) sowie zur Forschungsgeschichte (3.2.1.2). In einem ersten Schritt meiner Analyse geht es um die Kennzeichnung von Friedländers Erinnerungstext in seiner Faktizität (Kapitel 3.2.2), um anschließend die Konstituierung des Ichs durch den autobiographischen Schreibakt zu untersuchen (Kapitel 3.2.3). In Kapitel 3.2.4 beschreibe ich die Abbildung autobiographischer Erinnerungsprozesse durch die narrative Struktur des Textes. Anschließend (Kapitel 3.2.5) untersuche ich die literarische Inszenierung kollektiver Erinnerungsprozesse und ihre Bedeutung für die Ausbildung einer kollektiven israelischen Identität. In Kapitel 3.2.6 geht es darum zu zeigen, auf welche Weise das Bedürfnis nach Kohärenz und Kontinuität in Friedländers Text als ›allgemein-menschliches‹ Phänomen gekennzeichnet wird. Ich werde dies insbesondere an der Bedeutung der Beschreibung Jerusalems sowie einer erneuten Lektüre des Textendes – dem Blick auf die Küste Israels – darstellen. Dies leitet mich über zu einer generellen Reflexion des autobiographischen Schreibprozesses (3.2.7). In Kapitel 3.2.8 schließlich geht es um die Positionierung des erinnernden Ichs als Wissenschaftler. Kapitel 3.3 beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Friedländers wissenschaftlichem und autobiographischem Werk. Kapitel 4 behandelt das wissenschaftliche und autobiographische Werk Ruth Klügers. In Kapitel 4.1 geht es um die Analyse ihres literaturwissenschaftlichen Ansatzes. Ich beschreibe hier zunächst Klügers Konzept von Autorschaft (4.1.1), um vor diesem Hintergrund die auch im Zentrum ihrer theoretischen Reflexionen stehende Betonung der Kontextabhängigkeit der Interpretation von Literatur darzustellen (4.1.2). Die Betonung der Vorläufigkeit und Konstrukthaftigkeit lässt sich ebenso auf Klügers Überlegungen zu Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung beziehen (4.1.3). In Kapitel 4.1.4 geht es darum zu zeigen, dass sich Klügers theoretische Annahmen zur Vorläufigkeit und Kontextabhängigkeit von Interpretation bereits auf formaler Ebene – durch die Wahl des literaturwissenschaftlichen Essays – manifestieren. Kapitel 4.1.5 stellt die von Klüger vorgenommene Unterscheidung faktualer und fiktionaler Texte dar, die insbesondere für das Genre der Autobiographie gilt. Vor diesem Hintergrund werde ich Klügers Überlegungen zu einer ›angemessenen‹ Darstellung des Holocaust beschreiben (4.1.6). In Kapitel 4.1.7 fasse ich meine Überlegungen zu Klügers literaturwissenschaftlichen und literarhistorischen Essays zusammen. In Kapitel 4.2 analysiere ich Klügers autobiographisches Projekt. Ich gebe hier zunächst einen Überblick zur Textgenese und Publikationsgeschichte (4.2.1.1) sowie zur Forschungsgeschichte (4.2.1.2). In einem ersten Schritt meiner Analyse (Kapitel 4.2.2) geht es darum zu zeigen, dass sowohl weiter

1.2 Ansatz und Aufbau

11

leben als auch Still alive als faktuale Texte gekennzeichnet sind, um anschließend die Konstituierung des autobiographischen Ichs zu untersuchen (4.2.3). Kapitel 4.2.4 beschäftigt sich mit der Inszenierung individueller Erinnerungsprozesse durch die Textstruktur sowie der Fortschreibung des autobiographischen Projekts durch die Existenz des amerikanischen ›Paralleltextes‹. In Kapitel 4.2.5 untersuche ich den zweiten Aspekt des von Klüger aufgemachten Bildes der ›Parallele‹ und lese die amerikanische Version als neben dem deutschen Text bestehenden ›autobiographischen Sprechakt‹,22 der ein anderes sprachlich-kulturelles Selbst konstituiert. Anschließend geht es darum zu zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Erinnerungsprozessen in Klügers autobiographischem Projekt sich ebenso auf die Ebene kollektiver Identitätsentwürfe bezieht (4.2.6). Dies gilt bereits für den deutschen Text, insbesondere aber für seine kulturelle Übersetzung in den amerikanischen Kontext. Abschließend geht es um die Positionierung des erinnernden Ichs als Literaturwissenschaftlerin (4.2.7). In einem Ausblick werde ich meine Überlegungen auf Klügers nach Fertigstellung der vorliegenden Studie erschienene Fortschreibung ihres autobiographischen Projekts – Unterwegs verloren. Erinnerungen – beziehen (4.2.8).23 Kapitel 4.3 beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Klügers literaturwissenschaftlichem und autobiographischem Werk. Im Fazit der Arbeit – Kapitel 5 – werde ich auf die meiner Studie zugrundeliegenden Hauptthesen zurückkommen. Es geht hier darum, in einem ersten Schritt die Parallelen zwischen Friedländers und Klügers geschichts- und literaturwissenschaftlichem Ansatz aufzuzeigen (5.1). Anschließend werde ich zusammenfassen, in welcher Weise sich auch ihre autobiographischen Projekte aufeinander beziehen lassen (5.2). Das abschließende Kapitel (5.3) beschäftigt sich mit den Parallelen von Klügers und Friedländers wissenschaftlichem und autobiographischem Werk – Parallelen, die umso aufschlussreicher sind, als sich beide – wie oben dargestellt – von zwei Polen her annähern: der traditionell auf objektiv-verifizierbare Fakten ausgerichteten Geschichtswissenschaft – und der Literaturwissenschaft, in deren Mittelpunkt die Beschäftigung mit fiktionalen Texten steht.

22

23

Meine Lektüre des deutschen und amerikanischen Textes als jeweils anderen ›autobiographischen Sprechakt‹ und ›Performanz des Selbstes‹ orientieren sich an den theoretischen Überlegungen zum Genre der Autobiographie von Roger J. Porter und Richard Poirier. – Vgl. dazu Roger J. Porter: »By using the term ›performance‹ I suggest that […] autobiographical identity is not merely represented but enacted in the process of writing […].« – Roger J. Porter: Self-same songs. Autobiographical performances and reflections. Lincoln: University of Nebraska Press 2002, S. xiii. – Richard Poirier: The performing self. Compositions and decompositions in the languages of contemporary life. New York: Oxford University Press 1971. Vgl. Anm. 9.

2

Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Memory is a central part of the brain’s attempt to make sense of experience, and to tell coherent stories about it. These tales are all we have of our pasts [...].1

So unterschiedliche Disziplinen wie die Individual- und Sozialpsychologie, die Neurobiologie und die Literaturwissenschaft stimmen mittlerweile darin überein, dass autobiographisches Erinnern niemals eine Rekonstruktion eines ›so Gewesenen‹ ist. Autobiographisches Erinnern ist vielmehr eine Neuordnung und Interpretation der vergangenen Ereignisse, die an den Deutungsanspruch der Gegenwart angepasst werden. Die Ereignisse der Vergangenheit werden im Akt autobiographischen Erinnerns ständig reorganisiert. In neueren Arbeiten innerhalb der Kognitions- und Sozialpsychologie wird zudem die Bedingtheit von Identität durch soziale und kulturelle Faktoren betont. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Autobiographie lässt sich eine parallele Entwicklung hin zur Betonung der Konstrukthaftigkeit autobiographischen Erinnerns erkennen: Hatten die hermeneutischen Ansätze Wilhelm Diltheys und Georg Mischs zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Identität von erinnerndem und erinnertem Ich hervorgehoben und den autobiographischen Text als Annäherung an ein hinter ihm stehendes Individuum verstanden, das sich im Akt autobiographischen Schreibens selbst zu erkennen vermag, betonen bereits Ansätze seit den 1950er Jahren dagegen den Kunstcharakter der Autobiographie, diskutieren ihre Abgrenzung von Nachbargattungen wie dem Roman, sehen das Spezifische des Genres in seinem ›Pakt‹ mit dem Rezipienten (Lejeune) oder gehen so weit, die Autobiographie als Genre gänzlich zu verwerfen (de Man).2 In der aktuellen theoretischen Diskussion rückt verstärkt der für den autobiographischen Text als konstitutiv erachtete Akt autobiographischen Erinnerns in den Vordergrund. Dabei werden Bezüge zu aktuellen Ergebnissen der Psychologie und der Neurobiologie hergestellt, ohne dass diese jedoch bislang in nennenswertem Umfang für die Analyse autobiographischer Texte genutzt werden. Betont wird der konstruktive, immer gegenwärtige Charakter jeglichen autobiographischen Erinnerns 1

2

Daniel L. Schacter: Searching for memory. The brain, the mind, and the past. New York: Basicbooks 1996 (Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999), S. 308. Den besten Überblick über die theoretische Diskussion zum Genre der Autobiographie liefert weiterhin Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 12), S. 19–103.

14

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

sowie die narrative Verfasstheit von Identität. Auffällig ist dabei, in welchem Maße die literaturwissenschaftliche Analyse der durch den literarischen Text inszenierten Erinnerungsprozesse – sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene – sich an einem alltagssprachlichen Gebrauch der verwendeten Termini orientiert. Die hinter Bezeichnungen wie ›individuelle Erinnerung‹, ›Erinnerung und Identität‹, ›kollektive Erinnerung‹ oder ›Literatur und Erinnerung‹ stehenden Konzepte werden nur in den seltensten Fällen ausgeführt.3 Anliegen meines theoretischen Einleitungskapitels ist es deshalb, die für die Textanalyse verwendeten Begrifflichkeiten und die ihnen zugrundeliegenden Konzepte zunächst einzugrenzen, um vor diesem Hintergrund den Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Literatur zu beschreiben.

2.1

Funktionsweise autobiographischer und kollektiver Erinnerungsprozesse

2.1.1 Das autobiographische Gedächtnis: Individuelle Erinnerung und Identität Sich als identisch wahrzunehmen bedeutet, ein über die Zeit kontinuierliches, kohärentes Selbst zu erzeugen.4 Dem Akt autobiographischen Erinnerns kommt dabei eine entscheidende Rolle zu: In der Erinnerung werden vergangene Ereignisse geordnet, interpretiert und an das zu erhaltende Selbstbild angepasst. Auf diese Weise wird das Selbst immer wieder neu konstruiert.5 3

4

5

Vgl. Astrid Erll/Ansgar Nünning: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein einführender Überblick. In: Dies. (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft (wie Kap. 1, Anm. 20), S. 1–9, hier: S. 1. Zur Definition des ›Selbstes‹ vgl. Kraus: »Das Selbst stellt die Gesamtwahrnehmung der eigenen Persönlichkeit dar und leitet sich ab aus der Unzahl höchst unterschiedlicher und zum Teil widersprüchlicher Selbste. Es verfügt über eine zeitliche Kontinuität und wird damit zum konstanten Bezugsrahmen der Reflexion, auch wenn sich einzelne Aspekte wandeln.« – Kraus, Das erzählte Selbst (wie Kap. 1, Anm. 4), S. 16. – Vgl. auch ders.: »Wenn das Subjekt sich selbst zum Gegenstand seiner Wahrnehmung macht, dann wird dieses sehr spezielle Objekt der Wahrnehmung mit dem Begriff des ›Selbst‹ benannt.« – Ebd., S. 122. Der Zusammenhang zwischen autobiographischer Erinnerung und Identität hat spätestens seit Endel Tulvings Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in ein prozedurales, ein semantisches und ein episodisches Gedächtnis einen festen Platz innerhalb der kognitionspsychologischen Gedächtnisforschung. Ordnete Tulving das autobiographische Gedächtnis eindeutig dem episodischen Gedächtnis zu, geben neuere Ansätze zu bedenken, dass autobiographische Erinnerung sich auch aus dem semantischen Gedächtnis speist. Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass autobiographische Gedächtnisinhalte sich durch ihren hohen Selbstbezug sowie eine besondere emotionale Bedeutung von anderen Gedächtnisinhalten unterscheiden. Vgl. hierzu Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinä-

2.1 Funktionsweise autobiographischer und kollektiver Erinnerungsprozesse

15

Innerhalb der psychologischen Gedächtnisforschung hat sich seit Ende der sechziger Jahre der Schwerpunkt weg von einer Untersuchung der Speicherungsfähigkeit des Gedächtnisses hin zur Betonung der Konstrukthaftigkeit autobiographischen Erinnerns verlagert. Bereits 1967 verglich der Kognitionspsychologe Ulric Neisser die Rekonstruktion der Vergangenheit durch die Erinnerung mit der Arbeit eines Paläontologen,6 der aus Knochenbruchstücken einen Dinosaurier zusammensetzt – ein Bild, das die Gegenwärtigkeit jedes autobiographischen Erinnerungsakts betont. In Anlehnung an Neisser formuliert Daniel L. Schacter: For the paleontologist, the bone chips that are recovered on an archeological dig and the dinosaur that is ultimately reconstructed from them are not the same thing; the full-blown dinosaur is constructed by combining the bone chips with other available fragments, in accordance with general knowledge of how the complete dinosaur should appear. Similarly, for the rememberer, the engram (the stored fragments of an episode) and the memory (the subjective experience of recollecting a past event) are not the same thing. The stored fragments contribute to the conscious experience of remembering, but they are only part of it. Another important component is the retrieval cue itself. [...] [T]he cue combines with the engram to yield a new, emergent entity – the recollective experience of the rememberer – that differs form either of its constituents.7

Auch die aktuelle neurobiologische Gedächtnisforschung bestätigt die These des konstrukthaften, gegenwärtigen Charakters autobiographischen Erinnerns. Das Gedächtnis wird hier nicht mehr als lokal zu verortender Speicher aufgefasst, sondern als »konditionierte Veränderungen der Übertragungseigenschaf-

6 7

res Lexikon. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2001 (Rororo. Rowohlts Enzyklopädie; 55636), S. 67–70. Ulric Neisser: Cognitive psychology. New York: Appleton-Century-Crofts 1967, S. 285. Schacter, Searching for memory (wie Anm. 1), S. 69f. Die deutsche Übersetzung, die aufgrund des neurobiologischen Fachvokabulars hier und im Folgenden angeführt sein soll, lautet folgendermaßen: »Für den Paläontologen sind die Knochenstücke, die bei einer archäologischen Ausgrabung gefunden werden, und der Dinosaurier, der am Ende von ihnen rekonstuiert wird, nicht dasselbe. Der vollständige Dinosaurier wird konstruiert, indem man die Knochenstücke mit anderen verfügbaren Fragmenten kombiniert und das allgemeine Wissen, das besagt, wie ein vollständiger Dinosaurier auszusehen hat, zugrunde legt. Entsprechend sind für den Erinnerer das Engramm (die eingespeicherten Fragmente einer Episode) und die Erinnerung (das subjektive Erlebnis der Vergegenwärtigung eines vergangenen Ereignisses) nicht dasselbe. Die gespeicherten Fragmente tragen zur bewußten Erfahrung des Erinnerns bei, aber sie sind nur ein Teil dieser Erfahrung. Ein anderer wichtiger Bestandteil ist der Abrufreiz selbst. […] Der Hinweisreiz verbindet sich mit dem Engramm zu einem neu entstehenden Ganzen – dem Erinnerungserlebnis des Erinnerers –, das sich von seinen beiden Bestandteilen unterscheidet.« – Ders., Wir sind Erinnerung (wie Anm. 1), S. 118.

16

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

ten im neuronalen ›Netzwerk‹«.8 Ablagerung wird zu einem »immer nur temporären und überdies gegenüber nachfolgender Information und gegenüber zwischenzeitlichem Informationsabruf anfälligen dynamischen Prozess«.9 Erinnerung an vergangene Ereignisse ist – so auch die Ergebnisse aus dem Bereich der Neurobiologie – sowohl von der ursprünglichen Einspeicherung als auch vom Moment des Abrufs abhängig: A neural network combines information in the present environment with patterns that have been stored in the past, and the resulting mixture of the two is what the network remembers. The same conclusion applies to people. When we remember, we complete a pattern with the best match available in memory; we do not shine a spotlight on a stored picture.10

Dabei bestimmen unsere vorhandenen Erfahrungen und Vorstellungen bereits die Auswahl und den Prozess der Kodierung und Speicherung neuer Erinnerungen – und damit den Charakter dessen, woran wir uns später erinnern. Mit fortschreitender Zeit verblassen die meisten Erinnerungen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass neue Erlebnisse gespeichert werden, die das ursprüngliche Engramm – die flüchtigen sowie dauerhaften Veränderungen im Gehirn, die aus der neuronalen Kodierung eines Erlebnisses resultieren – überlagern.11 Der zunehmende zeitliche Abstand bewirkt, dass die Neuronenverbindungen schwächer werden, Engramme vollständig verschwinden können. Es liegt also – anders als es das Proustsche Konzept der ›mémoire involontaire‹ nahelegt – nicht nur am fehlenden Abrufreiz, wenn uns der Zugang zu vergangenen Erlebnissen verschlossen bleibt.12 Dabei sind Erinnerungen an emotional hoch besetzte Ereignisse besonders dauerhaft. Wie vor allem die Arbeiten Antonio Damasios zeigen, spielen Emotionen sowohl bei der Enkodierung als auch beim Abruf von Erinnerungen eine entscheidende Rolle.13 Auch 8 9 10

11 12 13

Hans-J. Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005 (2002), S. 74. Ebd., S. 113. Schacter, Searching for memory (wie Anm. 1), S. 71. – »Ein neurales Netz verbindet die Informationen aus dem gegenwärtigen Kontext mit Mustern, die in der Vergangenheit eingespeichert worden sind, und die resultierende Mischung aus beiden ist das, was das Netz erinnert; gleiches gilt für Menschen. Wenn wir uns erinnern, vervollständigen wir ein Muster mit der besten Entsprechung, die im Gedächtnis vorrätig ist. Aber wir richten keinen Scheinwerfer auf ein eingespeichertes Bild.« – Ders., Wir sind Erinnerung (wie Anm. 1), S. 120f. Ders., Searching for memory (wie Anm. 1), S. 76. Zu Prousts Konzept der ›mémoire involontaire‹ siehe Kapitel 3.2.4.1. Antonio Damasio: Descartes’ error. Emotion, reason and the human brain. New York: G. P. Putnam 1994 (Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 2. Aufl. Berlin: List 2005 [1995] [List Taschenbuch; 60443]). – Ders.: The feeling of what happens. Body and emotion in the making of consciousness. New York: Harcourt Brace 1999 (Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. 5. Aufl. Berlin: List 2004 [2000]). Die indirekt zitierten Passagen orientieren sich an der deutschen Ausgabe.

2.1 Funktionsweise autobiographischer und kollektiver Erinnerungsprozesse

17

sogenannte ›Blitzlichterinnerungen‹ – emotional hoch besetzte Erinnerungen, die ein Wiedererleben vergangener Ereignisse in der Gegenwart suggerieren – sind jedoch keine ›fotografischen Fixierungen‹ des vergangenen Erlebnisses. Obwohl sie stärker und dauerhafter als andere, emotional weniger besetzte Erinnerungen sind, werden auch sie mit der Zeit schwächer.14 Auch traumatische Erinnerungen unterliegen – entgegen der vorherrschenden Annahme – Veränderungen. Obwohl sich traumatische Erinnerungen tatsächlich durch besondere Genauigkeit und Dauerhaftigkeit auszeichnen, sind auch sie nicht in die neuronalen Strukturen des Gehirns ›eingebrannt‹, sind keine ›naturgetreuen Abbilder‹ des Erlebnisses, sondern sind von zeitlich bedingten Veränderungen betroffen.15

2.1.2 Narrative Verfasstheit von Erinnerung und Identität. Ergebnisse der narrativen Psychologie Parallel zum sogenannten ›narrative Turn‹ innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften haben sich auch innerhalb der Psychologie Ansätze entwickelt, die sich zwar nicht als ›Schule‹ im engeren Sinne fassen lassen, sich jedoch durch die ihnen gemeinsame Betonung der narrativen Verfasstheit autobiographischen Erinnerns auszeichnen: Erst in der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte entsteht das, was gemeinhin als ›Selbst‹ bezeichnet wird.16 Dabei sind Identitätsprojekte immer nur vorläufig: Um die Kontinuität des Selbstes über die Zeit aufrechtzuerhalten, müssen die für die Selbstnarration relevanten Elemente stets neu an die Bedürfnisse der Gegenwart angepasst werden und unterliegen somit ständiger Neuordnung und Veränderung. Jérôme Bruner, der grundlegende Arbeit auf dem Gebiet der narrativen Psychologie geleistet hat, formuliert dies folgendermaßen: [T]here is no such thing as an intuitively obvious and essential self to know, one that just sits there to be portrayed in words. Rather, we constantly construct and reconstruct a self to meet the needs of the situations we encounter.17

Erzählungen – und damit Selbstnarrationen – unterliegen darüber hinaus kulturell ausgehandelten Formkriterien und sind losgelöst von ihrem sozialen Kontext nicht zu denken: Die Erzählung von Lebensgeschichten bedient sich be14 15 16

17

Ders., Descartes’ Irrtum (wie Anm. 13), S. 321. Ebd., S. 231–237. Vgl. hierzu insbesondere folgende Arbeiten: Robyn Fivush/Catherine A. Haden (Ed.): Autobiographical memory and the construction of a narrative self. Developmental and cultural perspectives. Mahwah/New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates 2003. – Jens Brockmeier/Donal Carbaugh (Ed.): Narrative and identity. Studies in autobiography, self, and culture. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Pub. Co. 2001 (Studies in narrativity; 1). Vgl. dazu Jérôme Bruner: Self-making narratives. In: Fivush/Haden (Ed.), Autobiographical memory (wie Anm. 16), S. 209–225, hier: S. 210.

18

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

reits existierender Erzählformen und Konventionen, die sowohl die formale als auch die inhaltliche Gestaltung der Selbstnarrationen bestimmen.18 Die Existenz solcher Regeln geben ein begrenztes ›Set‹ von möglichen Konstruktionsformen des Selbstes vor. Für den westlichen Kulturkreis zählen dazu etwa die Forderung, sich selbst als ein sich entwickelndes, veränderungsfähiges, gleichzeitig aber auch kohärentes und stabiles Ich zu erzählen.19 Es erstaunt daher kaum, dass die in verschiedenen Kulturkreisen entstehenden Lebensgeschichten signifikante Unterschiede in der Form und vor allem in der Betonung der Beziehung zwischen Individuum und sozialem Kontext aufweisen.20 Auch innerhalb des eigenen sozialen und kulturellen Kontextes ist die Selbstnarration immer abhängig vom jeweiligen Adressaten: Auf welche Weise wir vergangene Ereignisse erinnern, hängt davon ab, wie wir sie in Bezug auf unsere Gesprächspartner strukturieren. Hat sich eine bestimmte Version der Vergangenheit als besonders ›passend‹ herausgestellt, werden die Erinnerungen dementsprechend umgeformt. Erinnerungen sind aber nicht erst im Prozess des Abrufens vom jeweiligen Adressaten abhängig. Vielmehr wird bereits die Wahrnehmung von Ereignissen bei gemeinsamer Verbalisierung von Eltern und Kindern an die sozial und kulturell zur Verfügung stehenden Deutungsschemata angepasst. Mit anderen Worten: Die Verbalisierung von Erlebnissen formt nicht erst im Nachhinein die Erinnerung, sondern beeinflusst bereits ihre Enkodierung.21 Hatten frühere Ansätze die Existenz einer persönlichen Identität als einen zu erreichenden ›Reifezustand‹ beschrieben, betonen aktuelle Ansätze zur Funktionsweise autobiographischen Erinnerns dagegen die Unabschließbarkeit von Identitätsprojekten.22 Die Existenz einer einheitlichen, abgeschlossenen Lebensgeschichte ist also in höchstem Maße illusorisch. In der Hervorhebung des narrativen Charakters autobiographischer Erinnerung bieten sich die Ergebnis18

19 20

21 22

Kinder erlernen das Erzählen ihrer eigenen Lebensgeschichte in Gesprächen mit Erwachsenen, die ihnen signalisieren, welche Art der Selbstnarration sozial anerkannt und im gegenwärtigen sozialen Kontext ›passend‹ ist. Den Zusammenhang zwischen dem Entstehen autobiographischer Erinnerung und dem gemeinsamen Verfassen von Selbstnarrationen durch Eltern und Kinder beschreibt u. a. Catherine A. Haden: Joint encoding and joint reminiscing. Implications for young children’s understanding and remembering of personal experiences. In: Fivush/Dies. (Ed.), Autobiographical memory (wie Anm. 16), S. 49–69. Vgl. hierzu Kraus, Das erzählte Selbst (wie Kap. 1, Anm. 4), S. 176–179. Zum Zusammenhang von autobiographischer Erinnerung und kulturellem Kontext vgl. u. a. Michelle D. Leichtman/Qi Wang/David B. Pillemer: Cultural variations in interdependence and autobiographical memory. Lessons from Korea, China, India and the United States. In: Fivush/Haden (Ed.), Autobiographical memory (wie Anm. 16), S. 73–97. – Vgl. auch Kraus, Das erzählte Selbst (wie Kap. 1, Anm. 4), S. 171. Vgl. hierzu insbesondere Catherine A. Haden, Joint encoding and joint reminiscing (wie Anm. 18). Vgl. Kraus, Das erzählte Selbst (wie Kap. 1, Anm. 4), S. 4f.

2.1 Funktionsweise autobiographischer und kollektiver Erinnerungsprozesse

19

se der narrativen Psychologie in besonderer Weise zum Anschluss an literaturwissenschaftliche Fragestellungen an. Seit Anfang der 1980er Jahre beziehen sich die Überlegungen zur Konstruiertheit und Unabschließbarkeit nicht nur auf die individuelle Identitätsbildung, sondern werden analog für die soziale und kulturelle Verhandlung von Identitätsprojekten geltend gemacht. Ohne die intensiv geführte Diskussion im Detail nachzeichnen zu wollen, werde ich im Folgenden in Kürze die Ansätze skizzieren, die sich für die Analyse von Friedländers und Klügers autobiographischen Texten nutzbar machen lassen.

2.1.3 Kollektive Erinnerung und Identität Die Funktionsweise kollektiver Erinnerungsprozesse ist mit den an Maurice Halbwachs und Aby Warburg anschließenden Arbeiten von Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann und anderen in den Blick gerückt.23 Den verschiedenen Ansätzen zur Funktionsweise kollektiver Erinnerung sind dabei – analog zum autobiographischen Gedächtnis – zwei Grundannahmen gemeinsam: erstens die Betonung der Konstrukthaftigkeit kollektiver Erinnerung – und zweitens der Zusammenhang von kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität.24 Durch den Bezug auf vermeintlich geteilte Erinnerungen erschafft sich das Kollektiv eine gemeinsame Vergangenheit. Die Funktion dieser ›invented traditions‹ – um den Terminus Eric Hobsbawms zu verwenden – besteht darin, eine kollektive Identität auszubilden.25 Keine Auseinandersetzung mit der 23

24

25

Vgl. hierzu insbesondere die folgenden Arbeiten: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999 (Beck Kulturwissenschaft). – Dies./Dietrich Hart (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M.: Fischer-TaschenbuchVerlag 1991 (Fischer-Wissenschaft; 10724). – Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992 (Beck Kulturwissenschaft). – Ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 724). – Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris: F. Alcan 1925 (Travaux de l’année sociologique) (Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985 [1966] [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 538]). – Ders.: La mémoire collective. Deuxième édition revue et augmentée, Paris: Presses universitaires de France 1968 (1950) (Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1985 [1967] [Fischer Wissenschaft; 7359]). – Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire I–III. Paris: Gallimard 1984–1992 (Bibliothèque des histoires). Vgl. hierzu Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll/Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft (wie Kap. 1, Anm. 20), S. 149–178, hier: S. 159. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Ed.): The invention of traditions. Cambridge, New York: Cambridge University Press 1983. – Zur Konstrukthaftigkeit kollektiver Identitäten vgl. auch Benedict R. Anderson: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso 1983.

20

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Funktionsweise kollektiver Erinnerung kommt ohne den Verweis auf die Thesen Maurice Halbwachs’ aus, dessen Arbeiten erst seit Ende der 1970er Jahre weite Beachtung fanden. In seinem grundlegenden Werk Les cadres sociaux de la mémoire (1925) sowie der 1950 posthum erschienenen Essaysammlung La mémoire collective beschreibt er die Abhängigkeit individueller Erinnerung von dem sozialen Rahmen, in den das Individuum eingebunden ist. Autobiographische Erinnerung ist unabhängig von diesem sozialen Bezugsrahmen nicht zu denken.26 Kollektive an sich haben kein Gedächtnis – vielmehr bestimmen sie das Gedächtnis der ihnen zugehörigen Individuen. Durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv formen die Individuen andererseits das kollektive Gedächtnis der Gruppe. Individuelles und kollektives Gedächtnis bedingen sich also wechselseitig. Erinnerungen entstehen durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. Halbwachs’ These von der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung hebt ihn nicht nur deutlich von der Gedächtnisforschung seiner Zeit ab, sondern beeinflusst bis heute die wissenschaftliche Diskussion maßgeblich. Insbesondere im deutschen Sprachraum ist diese Diskussion von den Arbeiten Jan und Aleida Assmanns geprägt, die Halbwachs’ Thesen zum kollektiven Gedächtnis um das Konzept der institutionalisierten kulturellen Erinnerung ergänzen. Jan Assmann unterscheidet bekanntlich zwischen einem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis: Während das kommunikative Gedächtnis eine Zeitspanne von 80 bis 100 Jahren umfasst und sich auf die durch mündliche Weitergabe transportierte, veränderbare Deutung der unmittelbaren Vergangenheit bezieht, beschreibt das Konzept des kulturellen Gedächtnisses diejenigen Erinnerungen, die sich durch einen hohen Grad an institutioneller Geformtheit auszeichnen. Die entscheidende Neuerung liegt dabei in der Annahme, dass das kollektive Gedächtnis durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur bestimmt ist. Das kulturelle Gedächtnis erhält sich einerseits durch die von Halbwachs beschriebene individuelle Weitergabe von Erinnerungen, darüber hinaus aber vor allem durch Überlieferungen wie Texte, Bilder und Riten. Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis demnach bekanntlich als den jeder Gesellschaft und Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.27

Aleida Assmann lenkt den Blick verstärkt auf die Bedeutung kollektiver Erinnerung für die Interpretation gegenwärtiger politischer Ereignisse. Jedes historische Ereignis wird nur partiell erinnert. Bestimmend für die Auswahl und Deutung dieser Elemente ist der Zweck für die Interpretation gegenwärtiger Ereignisse. Kollektive Erinnerung verfährt dabei in zwei Richtungen: Einer26 27

Halbwachs, La mémoire collective (wie Anm. 23), S. 121. Assmann/Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis (wie Anm. 23), S. 15.

2.2 Literatur – Erinnerung – Identität

21

seits werden die Ereignisse der Vergangenheit in der Erinnerung durch die Bedürfnisse der Gegenwart geformt – andererseits wird durch die Vergangenheit gleichzeitig die Wahrnehmung der Gegenwart bestimmt.28 Inwiefern diese ›doppelte Wirkungsweise‹ des kollektiven Gedächtnisses die Wahrnehmung aktueller politischer Konflikte bestimmt, wird insbesondere die Analyse der Bedeutung kollektiver Erinnerungen für die israelische Selbstwahrnehmung in Friedländers Erinnerungstext zeigen.

2.2

Literatur – Erinnerung – Identität

Der Zusammenhang von Literatur und Erinnerung ist Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Analysen. Die verwendeten Begrifflichkeiten verweisen in den meisten Fällen jedoch – wie einleitend erwähnt – auf ein eher intuitives Verständnis von Erinnerungsprozessen. Eine genaue Definition der benutzen Termini und eine Verbindung zu den Ergebnissen der psychologischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bleiben zumeist aus.29 In der Analyse von Friedländers und Klügers autobiographischen Projekten stütze ich mich dagegen auf die oben dargestellten Ergebnisse aus der Kognitions- und Sozialpsychologie und der Neurobiologie, insbesondere auf die Überlegungen zur Gegenwärtigkeit und Konstrukthaftigkeit des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses. 2005 erschien mit dem von Ansgar Nünning und Astrid Erll herausgegebenen Sammelband Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven eine erste systematische Überblicksdarstellung einer ›erinnerungskulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft‹, die eine wertvolle, handhabbare Grundlage zur Analyse des Zusammenhangs von Literatur und Erinnerung liefert.30 Ich orientiere mich in meiner Überblicksdarstellung an der von Erll/Nünning vorgeschlagenen Dreiteilung des Zusammenhangs von Literatur und Erinnerung als 1. Gedächtnis in der Literatur, 2. Literatur als Gedächtnis und 3. Literatur als Medium des Gedächtnisses: 1. Gedächtnis in der Literatur bezeichnet die Inszenierung individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse durch den Einsatz verschiedener literarischer Strategien (2.2.1). 2. Literatur als Gedächtnis beschreibt die Erinnerung von Literatur ›an sich selbst‹, die durch Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung tradiert wird (2.2.2). 3. Literatur als Medium des Gedächtnisses schließlich lenkt den Blick auf die Rolle von Literatur bei der Ausbildung bzw. Modifikation des kollektiven 28 29 30

Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 23), S. 41f. Vgl. Erll/Nünning, Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 1. Vgl. Erll/Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft (wie Kap. 1, Anm. 20).

22

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Gedächtnisses: Indem literarische Texte den öffentlichen Diskurs mitformen, werden sie selbst zum Medium der Erinnerung (2.2.3).31

2.2.1 Gedächtnis in der Literatur Literarische Texte bilden durch eine ›Mimesis des Erinnerns‹ die Funktionsweise von Erinnerungsprozessen ab.32 Dies gilt sowohl für die Repräsentation individueller als auch kollektiver Erinnerung. Dabei ist zu fragen, durch welche literarischen Verfahren die Funktionsweise von Erinnerung im Text inszeniert wird. Gerade der Rückgriff auf das literaturwissenschaftliche Analyseinstrumentarium macht die Untersuchung von ›Gedächtnis in der Literatur‹ damit zu einem spezifisch literaturwissenschaftlichen Beitrag innerhalb der interdisziplinären Gedächtnisforschung: Sie [die Literaturwissenschaft, K. M.] ist diejenige Disziplin, die kulturelle Äußerungsformen (vom autobiographischen Text über die Gedenkrede bis hin zum Historienfilm) einer ›Lektüre‹ zu unterziehen vermag und die Strategien und Rhetoriken aufzeigt, die bestimmte gedächtnisbezogene Effekte erzeugen.33

Die literarischen Strategien zur Abbildung von Erinnerungsprozessen sind vielfältig und lassen sich nur am konkreten Einzelfall demonstrieren. Auf der Ebene individueller Erinnerung sind es insbesondere die Trennung von erinnerndem Ich und erinnertem Ich, die auf die Gegenwärtigkeit jeglichen Erinnerns verweist und einem naiven Verständnis von gegenwärtigem und erinnertem Ich als Einheit entgegensteht.34 Grundlegend für die Differenzierung zwischen einem gegenwärtigen Ich, das sich erinnert, und einem Ich, das erinnert wird, ist die Existenz verschiedener Zeitebenen. Erwecken rückblickendchronologisch erzählte Lebensgeschichten den Anschein, als existiere ein vergangenes Ich außerhalb des Erzählakts, lenken dagegen komplexer gestaltete Texte durch den Wechsel zwischen den Zeitebenen von erinnertem und 31 32

33 34

Dies., Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 2ff. Basseler und Birke weisen darauf hin, dass der Ausdruck ›Mimesis des Erinnerns‹ in dem Sinne zu verstehen ist, dass Erinnern »nicht wirklich nachgeahmt« wird, sondern »lediglich verschiedene Erinnerungsprozesse literarisch ›inszeniert‹ und damit eine Mimesis-Illusion erzeugt werden« kann. – Michael Basseler/Dorothee Birke: Mimesis des Erinnerns. In: Erll/Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft (wie Kap. 1, Anm. 20), S. 123–148, hier: S. 123f. Hervorhebung im Original. Erll/Nünning, Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 5. In der Unterscheidung zwischen ›erinnerndem‹ und ›erinnertem Ich‹ (in Abgrenzung zur Bezeichnung als ›erzählendes‹ versus ›erlebendes Ich‹, wie sie Stanzel vornimmt) soll hier und im Folgenden hervorgehoben sein, dass es sich bei der Annäherung an die persönliche Vergangenheit immer um einen gegenwärtigen Akt handelt, das ›erinnerte Ich‹ nicht außerhalb des autobiographischen Erinnerungsaktes des ›erinnernden Ichs‹ besteht. – Vgl. hierzu Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 6. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1995 (1979) (UTB; 904), S. 274–279.

2.2 Literatur – Erinnerung – Identität

23

erinnerndem Ich den Blick auf die Tatsache, dass das erinnerte Ich im Akt des Erzählens erst entsteht. Zusätzlich wird durch eine ›Rhetorik der Erinnerung‹ – Formulierungen wie »Ich erinnere mich, dass...« – der Akt des Erinnerns explizit als solcher gekennzeichnet.35 Wechsel zwischen den Zeitebenen der Gegenwart und der Vergangenheit thematisieren dabei nicht nur die Bestimmtheit des Erinnerungsakts durch die Gegenwart, sondern ebenso – andersherum – die Wahrnehmung der Gegenwart vor dem Hintergrund der Vergangenheit. Vergangene Ereignisse werden darüber hinaus durch den Tempuswechsel ins Präsens bis in die Gegenwart hinein verlängert. Wie inzwischen auch von neurobiologischer Seite bestätigt wurde, handelt es sich dabei zumeist um emotional besonders einprägsame Ereignisse, die in der Gegenwart ›aufblitzen‹. Auf der Ebene kollektiver Erinnerungen sind es insbesondere multiperspektivische Erzählverfahren, die auf die Existenz konkurrierender Vergangenheitsversionen verweisen und diese einander so gegenüberstellen (vgl. hierzu meine Analyse von Friedländers Erinnerungstext in Kapitel 3.2.5).

2.2.2 Gedächtnis der Literatur Der Begriff ›Gedächtnis der Literatur‹ stammt von Renate Lachmann und lässt sich zur Bezeichnung intertextueller Beziehungen zwischen literarischen Werken verwenden: »Durch den Bezug auf vorgängige Texte, auf Gattungen, Formen, Strukturen, Symbole und Topoi ›erinnert‹ Literatur an sich selbst«.36 Für die vorliegende Studie von besonderem Interesse ist die institutionalisierte Form der Erinnerung an Literatur in Form von Kanonbildung und Literaturgeschichtsschreibung: Literaturgeschichten bilden nicht ab, wer im Laufe der Jahrhunderte was wie für wen geschrieben hat, sondern sie konstruieren aktiv bestimmte Versionen einer literarischen Vergangenheit. Damit handelt es sich bei der Literaturgeschichtsschreibung um eine Art konstruktiven Erinnerungsakt. Literaturwissenschaftler/innen wählen aus, gewichten und tilgen, und sie konfigurieren ihre so gewonnenen Daten durch verschiedene Anordnungsstrategien zu kontingenten, d. h. in der jeweiligen Form nicht-notwendigen, Geschichten […].37 35

36

37

Die Formulierung ›Rhetorik der Erinnerung‹ entlehne ich Martin Löschniggs Aufsatz zur Untersuchung der Erinnerungshaftigkeit in Charles Dickens’ David Copperfield. – Martin Löschnigg: ›The prismatic hues of memory‹. Autobiographische Modellierung und die Rhetorik der Erinnerung in Dickens’ David Copperfield. In: Poetica 31 (1999), S. 175–200. Erll/Nünning, Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 2. – Vgl. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. Erll/Nünning, Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 3. Hervorhebung im Original. – Zur theoretischen Diskussion der Kanonbildung vgl. insbesondere Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Wei-

24

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Die Betonung der Konstrukthaftigkeit von Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung wird für die Analyse von Klügers literaturwissenschaftlichem Ansatz eine maßgebliche Rolle spielen.

2.2.3 Literatur als Medium des Gedächtnisses Das Konzept von Literatur als ›Medium des Gedächtnisses‹ beruht auf der Annahme, dass Literatur Erinnerungsprozesse nicht nur abbildet, sondern vielmehr selbst an der Ausbildung und Reformulierung kollektiver Gedächtnisprozesse beteiligt ist: »Die Kodierung von Vergangenheitsversionen – von der Lebenserfahrung bis zur Nationalgeschichte – ist ohne literarische Formen undenkbar«.38 Dies gilt speziell für ein Grenzereignis wie den Holocaust, dessen Überlieferung maßgeblich von den literarischen Zeugnissen Überlebender geprägt worden ist. Der Zusammenhang von Gedächtnis und Literatur lässt sich für die Analyse von Friedländers und Klügers autobiographischen Projekten in zweierlei Hinsicht nutzbar machen: Sowohl Klüger als auch Friedländer setzen sich – erstens – kritisch mit der Funktionsweise kollektiver Erinnerungsprozesse auseinander und formen – zweitens – in ihrer Auseinandersetzung mit bestehenden Vergangenheitsversionen den Erinnerungsdiskurs selber mit. Beide autobiographische Projekte sind somit gleichzeitig gedächtnisreflektierend und gedächtnisbildend.39 Das von Erll entwickelte Konzept ›kollektiver Texte‹ beschreibt den prägenden Einfluss, den literarische Texte auf Deutungen der Vergangenheit und Identitätskonzepte der jeweiligen Erinnerungskultur haben – eine Überlegung, die sich auf Klügers literaturwissenschaftliche Arbeit beziehen lässt:40 Literatur als Zirkulationsmedium des kollektiven Gedächtnisses beruht auf einer geradezu paradoxalen Aneignungsweise von Literatur: Der literarische Text wird als

38 39

40

mar: Metzler 1998 (DFG Symposien. Germanistische Symposien-Berichtsbände; 19). – Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002. – Gerhard Kaiser/Stefan Matuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Heidelberg: Winter 2001 (Jenaer Germanistische Forschungen; 9). – Theoretische Überlegungen zum Entstehen von Literaturgeschichten liefern u. a. Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹. Stuttgart: Metzler 1992. – Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Meitingen: Verlag Literatur und Wissenschaft 1993 (Literatur+Wissenschaft; 1). Erll/Nünning, Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 6. Vgl. dazu Astrid Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Dies./Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft (wie Kap. 1, Anm. 20), S. 249–276. Ebd., S. 262.

2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

25

Literatur wahrgenommen […]. Doch zugleich erfolgt eine Zuschreibung von Referenzialität.41

Die Rolle von Literatur als ›Medium des Gedächtnisses‹ beschränkt sich jedoch nicht auf die Prägung kollektiver Erinnerungsprozesse. Wie insbesondere die Analyse von Klügers autobiographischem Projektes zeigen wird, wirkt Literatur in ebenso entscheidendem Maße auf die Ausbildung individueller Erinnerung und Identität ein. Literatur liefert Deutungsrahmen, in die persönliche Ereignisse eingeordnet werden: Literarischen Werken entstammen Modelle und Schemata, die die Begegnung mit der Wirklichkeit präformieren, die Vorstellungen von Vergangenheit formen und die persönlichsten Erinnerungen mitprägen. Gerade bei der Wahrnehmung und Erinnerung von individueller Lebenserfahrung spielt Literatur damit eine zentrale Rolle.42 Literarisches Wissen strukturiert auf diese Weise die Wahrnehmung der außerliterarischen Welt.43 Darüber hinaus orientiert sich das Erzählen der persönlichen Lebensgeschichte an bestehenden literarischen Konventionen. Auch in dieser Hinsicht ist Literatur maßgeblich an der Organisation der eigenen Lebensgeschichte beteiligt.

2.3

Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

Der Terminus ›Autobiographie‹ verweist auf ein nur scheinbar leicht zu erfüllendes Vorhaben: das Schreiben des eigenen Lebens.44 Das im 19. Jahrhundert vorherrschende Verständnis der Autobiographie als ›Geburtsstätte‹ des modernen Individuums dokumentiert ein Verständnis des Zusammenhangs von autobiographischem Schreiben und Individuum, das dem heutigen Rezipienten fremd erscheinen muss. Aktuelle Ansätze innerhalb der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung betonen vielmehr die Erinnerungshaftigkeit der Texte sowie die Konstruiertheit jeglicher Identität. Die Funktion autobiographischen Erinnerns – und hier weisen aktuelle Arbeiten innerhalb der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung unübersehbare Parallelen zur psychologischen und neurobiologischen Gedächtnisforschung auf – besteht in der (Re-)Konstruktion eines über die Zeit bestehenden, identischen Ichs. Für kein anderes literarisches Genre ist daher der Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Literatur so bestimmend wie für die Autobiographie.45 Der dem autobiographischen Schreibakt zugrundeliegende Zusammenhang von Erinnerung und Identität ist bereits von Augustinus formuliert worden: »Und doch, sieh, ich begreife die Kraft meines Gedächtnisses nicht, wo ich doch ohne es 41 42 43 44 45

Ebd., S. 264. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 259. Vgl. dazu Neumann, Literatur, Erinnerung, Identität (wie Anm. 24), S. 172. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 12), S. 8. Ebd., S. 12.

26

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

über mich selbst nichts sagen könnte«.46 Der autobiographische Schreibakt stellt also eine Konstruktion der Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart dar, die in ihrem Ziel, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, entsprechenden Formkriterien folgt und zudem durch das Medium der Sprache bestimmt ist. Entsprechend formuliert Martina Wagner-Egelhaaf in ihrer einschlägigen Studie zur Autobiographie: Autobiographische Erinnerung, also das Sicherinnern zum Zwecke der Niederschrift einer Autobiographie, ist immer ein Willensakt, ein Versuch, der Erinnerung die Vergangenheit abzuverlangen. In dieser Sicht ist Erinnerung Rekonstruktion; und bedenkt man, in welchem Maß die autobiographische Rekonstruktion ihren eigenen Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten folgt, etwa den Erfordernissen des autobiographischen Diskurses oder dem Wunsch, ein Lebensganzes darzustellen, wo ein Leben im Rückblick vielleicht eher unübersichtlich erscheint, kann man durchaus auch von ›Konstruktion‹ sprechen – Er-innerung also nicht als Nachinnenholen eines einstmals innen Gewesenen, im Verlauf des Lebens aber der Innerlichkeit Entschwundenen, will sagen Vergessenen, sondern Er-innerung als Geste der Verinnerung eines (so) niemals innen Gewesenen.47

Autobiographische Texte geben damit – entgegen ihrer gängigen Rezeption – nicht nur Auskunft über die erinnerten Inhalte, sondern vielmehr über die ihnen zugrundeliegenden Annahmen über die Funktionsweise von Erinnerungsprozessen. Darüber hinaus verweist die Komposition des persönlichen Erinnerungstextes auf die ihm zugrundeliegende Einschätzung des Genres der Autobiographie: Zentral ist dabei die Frage, ob und durch welche literarischen Mittel der autobiographische Text als faktuales, auf eine außertextuelle Referenzebene verweisendes Genre gekennzeichnet wird. Im Folgenden wird es um die Grenzstellung der Autobiographie zwischen ›persönlicher Geschichtsschreibung‹ und Literatur, zwischen Fakten und Fiktion gehen.

2.3.1 Wahrnehmung autobiographischer Texte in der Literaturwissenschaft Grundlegend für die Wahrnehmung der Autobiographie als referentieller Text, der auf eine außertextuelle Realität verweist, ist zunächst die Annahme, dass die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Texten generell möglich ist.48 Voraussetzung hierfür wiederum ist die Annahme einer erkenntnistheoretischen Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion. Ohne an dieser Stelle im Einzelnen die Positionen innerhalb der literaturtheoretischen Diskussion um die (Un)Unterscheidbarkeit von faktualen und fiktionalen Texten nach46

47 48

Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und hg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 2792), S. 269. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 12), S. 13. Ebd., S. 1.

2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

27

zeichnen zu wollen, sei hervorgehoben, dass sich die Bezeichnung der Autobiographie als referentieller Text und ihre Abgrenzung vom Roman an einer Unterscheidbarkeit zwischen Fakten und Fiktion orientiert, wie sie sich – trotz der kontroversen Diskussion des Oppositionspaars innerhalb der Literaturtheorie – in einschlägigen literaturwissenschaftlichen Lexika findet.49 So definiert etwa Gero von Wilpert Fiktion als die »Schilderung eines nicht wirklichen Sachverhalts in einer Weise, die ihn als wirklich suggeriert, ohne indessen einen nachprüfbaren Bezug zur außerdichterischen Wirklichkeit zu behaupten«.50 Für die Autobiographie lässt sich der Anspruch auf Referentialität, der sowohl Produktion als auch Rezeption des Genres leitet, bereits aus der Genrebezeichnung ableiten, die zudem die Identität von erinnerndem und erinnertem Ich impliziert.51 Die Existenz der Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Fakten und Fiktion lässt sich exemplarisch an den gegensätzlichen Positionen Philippe Lejeunes und Paul de Mans nachzeichnen – zwei Positionen, die bis in die Gegenwart die theoretische Autobiographiediskussion maßgeblich beeinflussen. Während Lejeune den aus einem ›Pakt‹ zwischen Autor und Leser resultierenden Referenzcharakter autobiographischer Texte für gattungskonstitutiv erachtet, stellt de Man die Unterscheidbarkeit faktualer und fiktionaler Texte generell und damit die Autobiographie als eigenes Genre in Frage. Lejeune bezeichnet die Autobiographie explizit als referentielles Genre: Par opposition à toutes les formes de fiction, la biographie et l’autobiographie sont des textes référentiels: exactement comme le discours scientifique ou historique, ils prétendent apporter une information sur une ›realité‹ extérieure au texte, et donc se soumettre à une épreuve de vérification. [...] Tous les textes référentiels comportent donc ce que j’appellerai un ›pacte référentiel‹ [...].52 49

50 51 52

Frank Zipfel unterscheidet die Adjektive ›fiktional‹ und ›fiktiv‹ folgendermaßen: »Fiktiv wird […] ähnlich wie Fiktion u. a. mit frei erfunden umschrieben und bezieht sich auf die Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten. Die Bestimmung von fiktional lautet nach Duden auf einer Fiktion beruhend. So werden […] Texte, in denen Fiktives dargestellt wird, als fiktional bezeichnet.« – Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt 2001 (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften; 2), S. 19. Hervorhebung im Original. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte und erweiterte Aufl. Stuttgart: Kröner 2001 (1955), S. 298. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 12), S. 8. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris: Éditions du Seuil 1975 (Poétique) (Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. von Günter Niggl. 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag ergänzte Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 214–257), S. 36. Hervorhebung im Original. – In der deutschen Übersetzung lautet die Passage folgendermaßen: »[G]enau wie die wissenschaftliche oder historische Rede geben sie [autobiographische Texte, K. M.] vor, eine Information über eine außerhalb des Textes liegende ›Realität‹ zu geben

28

2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Die Autobiographie definiert Lejeune als »[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité«.53 Gattungskonstitutives Kriterium ist für Lejeune die Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur.54 Dieser ›Identitätsvertrag‹ – der ›autobiographische Pakt‹ – wird durch den Eigennamen des Autors besiegelt.55 Damit bietet, so Lejeune, »le texte lui-même [...] à son extrême lisière ce terme dernier, le nom propre de l’auteur, à la fois textuel et indubitablement référentiel«.56 Der ›Lektürekontrakt‹ kommt dabei nicht nur durch die Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist zustande, sondern entsteht – um die Bezeichnung Gérard Genettes zu gebrauchen – zusätzlich durch sogenannte ›paratextuelle Signale‹: verlags- und drucktechnische Aufmachung, Titel einschließlich Untertitel (hierzu gehören bei Genette auch Gattungsbezeichnungen), Widmung, Motto, Vorwort, Klappentext und Fußnoten.57 De Man vertritt in seinem 1979 erschienenen Aufsatz »Autobiography as de-facement« eine Lejeune entgegengesetzte Position:58 Zwar scheint die Autobiographie über eine ›einfachere‹ Form der Referentialität zu verfügen als

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und sich somit einer Prüfung der Verifizierbarkeit zu unterziehen. […] Alle referentiellen Texte enthalten also implizit oder explizit das, was ich einen ›referentiellen Pakt‹ nennen werde […].« – Lejeune, Der autobiographische Pakt (wie Anm. 52), S. 244. Hervorhebung im Original. Lejeune, Le pacte autobiographique (wie Anm. 52), S. 14. Hervorhebung im Original. – In der deutschen Übersetzung wird die Autobiographie definiert als »[r]ückblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt« – Lejeune, Der autobiographische Pakt (wie Anm. 52), S. 215. Hervorhebung im Original. Ders., Le pacte autobiographique (wie Anm. 52), S. 15. – »Erzähler und Figur sind Gestalten, auf die sich, im Inneren des Textes, das Subjekt der Aussage und das Subjekt des Ausgesagten beziehen; der Autor, am Rande des Textes durch seinen Namen vertreten, ist also der Bezugsträger, auf den durch den autobiographischen Pakt das Subjekt der Aussage verweist.« – Ders., Der autobiographische Pakt (wie Anm. 52), S. 216f. Hervorhebung im Original. Ders., Le pacte autobiographique (wie Anm. 52), S. 35. Hervorhebung im Original. – Ders., Der autobiographische Pakt (wie Anm. 52), S. 243f. Hervorhebung im Original. Ders., Le pacte autobiographique (wie Anm. 52), S. 35. – So biete »[d]er Text selbst […] an seinem äußersten Rande diesen letzten Begriff, den Eigennamen des Autors, der zugleich textgebunden und unzweifelhaft referentiell ist«. – Ders., Der autobiographische Pakt (wie Anm. 52), S. 243. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Éditions du Seuil 1982. Paul de Man: Autobiography as de-facement. In: Modern Language Notes 94 (1979), H. 5, S. 919–930 (Autobiographie als Maskenspiel. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 [Aesthetica; 682], S. 131–146).

2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

29

die Fiktion, »seems to belong to a simpler mode of referentiality, of representation, and of diegesis«: Referenz auf die Identität des erzählenden Subjekts, für die der Eigenname bürgt.59 Doch, so fragt de Man, »are we so certain that autobiography depends on reference, as a photograph depends on its subject or a (realistic) picture on its model?«60 De Man stellt vielmehr die umgekehrte These auf: We assume that life produces the autobiography as an act produces its consequences, but can we not suggest, with equal justice, that the autobiographical project may itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of self-portraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium? And since the mimesis here assumed to be operative is one mode of figuration among others, does the referent determine the figure, or is it the other way round: is the illusion of reference not a correlation of the structure of the figure, that is to say no longer clearly and simply a referent at all but something more akin to a fiction which then, however, in its own turn, acquires a degree of referential productivity? [...] It appears, then, that the distinction between fiction and autobiography is not an either/or polarity but that it is undecidable.61

Autobiographie ist für de Man daher keine Gattung oder Textsorte, sondern eine ›Lese- und Verstehensfigur‹ (›a figure of reading or of understanding‹), die prinzipiell für jeden Text gilt, der durch einen auktorialen Eigennamen gekennzeichnet ist: This specular structure is interiorized in a text in which the author declares himself the subject of his own understanding, but this merely makes explicit the wider claim to authorship that takes place whenever the text is stated to be by someone and assumed to be understandable to the extent that this is the case. Which amounts to saying that any book with a readable title-page is, to some extent, autobiographical. But just as we seem to assert that all texts are autobiographical, we should say that, by the same token, none of them is or can be.62

Eine formale Definition des Genres Autobiographie, wie Lejeune sie durch die Formulierung eines Paktes zwischen Autor und Rezipienten formuliert, ist deshalb für de Man nicht haltbar. In eine ähnliche Richtung wie de Man gehen gegenwärtige Ansätze, die betonen, dass jede Annäherung an eine vermeintliche Wirklichkeit – und damit an die persönliche Lebensgeschichte – immer fiktional ist. Eine solche Einschätzung manifestiert sich in der Bezeichnung der Autobiographie als ›Autofiktion‹.63 59 60 61 62 63

De Man, Autobiography as de-facement (wie Anm. 58), S. 920. Ebd. Ebd., S. 920f. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 921f. Hervorhebung im Original. Claudia Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – novelle autobiographie – double autobiographie – aventure du texte. Hildesheim, Zürich, New York:

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2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Um es an dieser Stelle explizit hervorzuheben: Die Annahme einer Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion impliziert nicht, dass fiktionale Texte in keinem Bezug zur Wirklichkeit stehen: Fiktive Welten sind stets in der ein oder anderen Art oder Weise auf die wirkliche Welt bezogen. Geschichten, die in keiner Relation zu unserer Wirklichkeitskonzeption stehen, könnten wir weder erzählen noch verstehen, wir könnten sie uns nicht einmal vorstellen. [...] Auch eine unwahrscheinliche Phantasie-Welt bleibt auf die reale Welt bezogen.64

Auch enthält die Unterscheidung von faktualen und fiktionalen Texten Überlebender (die in der Praxis in dieser Eindeutigkeit ohnehin nicht aufrechtzuerhalten ist) kein implizites Werturteil, indem etwa erstere der außertextuellen Wirklichkeit ›näher kommen‹. Für die Erinnerungstexte Überlebender ist der Verweis auf die Realität des Holocaust gerade durch den Einsatz fiktionaler Mittel überzeugend in den Arbeiten von Eva Lezzi, Susanne Düwell, Sue Vice und anderen in den Blick gerückt worden und wird weder von Friedländer noch von Klüger in Frage gestellt. Maßgeblich für die Analyse ihrer autobiographischen Projekte ist vielmehr, dass beide dennoch auf der Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion bestehen. Friedländers und Klügers autobiographische Texte sind daher nach zwei Seiten hin abzugrenzen: Einerseits unterscheiden sie sich durch die Thematisierung des eigenen Schreib- und Erinnerungsprozesses deutlich von frühen Texten Überlebender, denen es um die Dokumentation des Geschehenen ging. Auf der anderen Seite jedoch gehen Friedländer und Klüger weder in ihren theoretischen Überlegungen noch in ihren autobiographischen Projekten so weit, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion aufzulösen – und unterscheiden sich damit andererseits von Autoren wie Georges-Arthur Goldschmidt, Raymond Federman oder Georges Perec, deren Texte Düwell treffend unter den Titel Fiktion aus dem Wirklichen fasst.65

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Olms 2002 (Passagen; 1). – Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 12), S. 5. Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (wie Anm. 49), S. 82f. – Zum Erzählen tatsächlicher Geschehnisse mit den Mitteln fiktionalen Erzählens vgl. ebd., S. 168– 171. Vgl. hierzu die Beschreibung der von Susanne Düwell analysierten Texte: »Diese Texte sind in starkem Maße von poetologischen und theoretischen Reflexionen geprägt und schreiben sich in die Problemkonstellation des Erinnerungsdiskurses nach der Shoah ein. Sie knüpfen an eine Historiographie an, die den Konstruktionscharakter aller Formen von Vergangenheitsrepräsentation hervorhebt, so dass evident wird, dass sich Schreiben wiederum nur auf Texte und die Ebene der Darstellung beziehen kann, nicht auf die Ereignisebene. Diesem Befund wird nicht nur Rechnung getragen, sondern der Konstruktionscharakter der Texte wird darüber hinaus betont, indem der spezifisch ästhetische Fiktionalitätscharakter des Schreibens hervorgehoben wird, der sich in einer Selbstreflexion des sprachlichen Materials niederschlägt. [...] Die lückenhafte bzw. fehlende Erinnerung wird analogisch erfunden durch die Relationierung der individuellen Lebensgeschichte mit der kollektiven Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung. [...] Die Reflexion auf die Undarstellbarkeit wird zum

2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

31

Neben Ansätzen, die im Anschluss an de Man die sprachliche Verfasstheit des autobiographischen Schreibakts betonen und die Grenze zwischen faktualen und fiktionalen Texten generell in Frage stellen, rückt die aktuelle literaturwissenschaftliche Diskussion zur Autobiographie, wie sie insbesondere seit Ende der 1980er Jahre geführt wird, verstärkt den für den autobiographischen Text als konstitutiv erachteten Akt autobiographischen Erinnerns in den Vordergrund. Dabei stellen etwa die Arbeiten von Paul John Eakin und James Olney Bezüge zu aktuellen Ergebnissen der Psychologie sowie Neurobiologie her, wenn sie den konstrukthaften, immer gegenwärtigen Charakter autobiographischen Erinnerns sowie die narrative Verfasstheit von Identität betonen.66 Solche interdisziplinären Ansätze werden jedoch bislang nicht in nennenswertem Umfang für die Analyse autobiographischer Texte genutzt. Darüber hinaus finden Fragen nach der in autobiographischen Texten reflektierten (sozio)kulturellen sowie geschlechtlichen Differenz verstärkte Aufmerksamkeit.

2.3.2 Wahrnehmung autobiographischer Zeugnisse in der Geschichtswissenschaft Die Inanspruchnahme autobiographischer Zeugnisse hat in der traditionellen, sozial- und politikwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft eine lange Tradition – trotz der immer wieder formulierten Skepsis gegenüber der Subjektivität und mangelnden Glaubwürdigkeit der Quellen.67 Bereits Wilhelm Dilthey definierte die Autobiographie als »höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt« und als »direkteste[n] Ausdruck über die Besinnung des Lebens«.68 Das Verhältnis von ›Geschichte‹ und ›Gedächtnis‹ – und mit ihm grundlegende Fragen an das Selbstverständnis der Disziplin – wird insbesondere mit dem Aufkommen von Sozialgeschichtsschreibung und Oral History in den 1960er und 1970er Jahren verstärkt diskutiert. Die Positionen reichen dabei von der strikten Gegenüberstellung von ›Geschichte‹ und ›Gedächtnis‹, wie sie etwa von Halbwachs oder

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Motor des Schreibens, die Abwesenheit des Darzustellenden wird in immer neuen Wendungen umkreist und tritt letztlich an die Stelle der fehlenden autobiographischen Referenzebene. [...] Statt den Text der Erinnerung zu schreiben, wird die Ersetzung der Erinnerung durch Erfindung inszeniert, so dass die Erwartungen an autobiographische Texte subvertiert werden.« – Susanne Düwell: ›Fiktion aus dem Wirklichen‹. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld: Aisthesis-Verlag 2004, S. 7f. Paul J. Eakin: How our lives become stories. Making selves. Ithaca: Cornell University Press 1999. – James Olney: Memory and narrative. The weave of life-writing. Chicago: University of Chicago Press 1998. Dagmar Günther: ›And now for something completely different‹. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25–61, hier: S. 26. Ebd.

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2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Nora formuliert wurde, bis hin zu Positionen, die – wie Patrick Hutton – die Identität von Geschichte und Gedächtnis betonen. Innerhalb der englischen und angloamerikanischen Nationalismusforschung sind es insbesondere das von Hobsbawm/Ranger entwickelte Konzept der ›invented traditions‹ sowie Benedict Andersons Bezeichnung von Nationen als ›imagined communities‹, die die Konstrukthaftigkeit von Nationalgedächtnissen hervorheben.69 Der traditionellen Historiographie galten autobiographische Zeugnisse lange Zeit als unzuverlässige Quellen.70 So formulierte etwa David Bankier noch 1992, persönliche Zeugnisse sollten nur herangezogen werden, um einem historischen Narrativ, das auf weniger subjektiven Quellen basiert, Farbe zu verleihen.71 Andere Historiker – unter ihnen Raul Hilberg und Peter Novick – stehen den Erinnerungen von Zeitzeugen als historischer Quelle ebenfalls skeptisch gegenüber.72 Aber auch dort, wo sie als Dokumente für die historiographische Darstellung genutzt werden, erfüllen sie weiterhin vor allem zwei Funktionen: erstens die Schilderung vergangener Lebensverhältnisse – und zweitens Auskunft zu geben über Lebenslinien und Stationen des privaten und öffentlichen Bereichs (Freundschaft, Liebe, Familie etc.).73 Auf diese Weise dienen autobiographische Zeugnisse vor allem der Illustration bereits bekannter Sachverhalte. Die Gegenwärtigkeit dieser Zeugnisse, die ihnen zugrundeliegenden Annahmen zur Funktionsweise von Erinnerungsprozessen und ihre Aussage über Prozesse der Subjektkonstitution werden zumindest in der traditionellen Geschichtsschreibung in den allermeisten Fällen außer acht gelas-

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Siehe Anm. 25. Vgl. hierzu Lutz Niethammer: Diesseits des ›Floating Gap‹. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs. In: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hg. von Kristin Platt und Mihan Dabag. Opladen: Leske und Budrich 1995, S. 25–50. – Einen hilfreichen Überblick über die sich wandelnde Wahrnehmung der Zeugnisse von Überlebenden gibt Tony Kushner: Holocaust testimony, ethics, and the problem of representation. In: Poetics Today 27 (2006), H. 2, S. 275–295. David Bankier: The Germans and the Final Solution. Public opinion under Nazism. Oxford: Blackwell 1992 (Jewish society and culture), S. 118; 124. Zitiert nach Kushner, Holocaust testimony (wie Anm. 70), S. 286. Vgl. hierzu Peter Novick: »[I]t is held that survivors’ memories are an indispensable source that must be preserved [...]. In fact, those memories are not a very useful historical source. Or, rather, some may be, but we don’t know which ones.« – Peter Novick: The Holocaust and collective memory. The American experience. London: Bloomsbury 2000 (orig.: The Holocaust in American life. Boston: Houghton Mifflin 1999), S. 275. – Vgl. außerdem Raul Hilbergs Skepsis sowohl gegenüber den Quellen der Oral History als auch gegenüber ›memoir literature‹, die einen Zugang zum Forschungsgegenstand des Historikers – »the past in its pristine state« – nicht liefern können. – Raul Hilberg: Sources of Holocaust research. An analysis. Chicago: I. R. Dee 2001, S. 71. Günther, ›And now for something completely different‹ (wie Anm. 67), S. 37.

2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

33

sen.74 Dagmar Günther beschreibt die Funktion autobiographischer Zeugnisse folglich als »Fakten- und Praktikensteinbruch«.75 Ähnliche Kritik an der Reduktion von Tagebüchern und anderen autobiographischen Quellen auf die Dokumentation historischer Fakten sind von literaturwissenschaftlicher Seite formuliert worden: Analog zu Friedländer argumentiert James E. Young, dass der Wert der Zeugnisse nicht nur darin besteht, dass durch sie die Auswirkungen der historischen Ereignisse auf das Leben der Betroffenen nachvollziehbar werden, sondern sie darüber hinaus Aufschluss über die Wahrnehmung und Reaktionen der Opfer zur Zeit des Geschehens und damit letztendlich über den Verlauf der historischen Ereignisse geben: [O]nce we take into account the eye-witnesses’ voices, their literary construal or misconstrual of events, and their reflexive interpretations of experience, we understand more deeply why and how the victims responded to the unfolding events. By recognizing the role their own narratives may have played in their lives, we acknowledge that their ongoing narrative grasp of events was very much a part of the historical reality itself. Attempting to disentangle them after the fact, as if we could separate the fact of the victims’ experiences from their own apprehension of these experiences, is to negate part of the historical reality itself.76

Anders als in der traditionellen Geschichtsschreibung verhält sich die Einschätzung autobiographischer Quellen innerhalb der Oral History und der Sozialpsychologie.77 In unterschiedlichen Studien wird betont, dass lebensge74

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Eine Ausnahme stellt Johannes Frieds Arbeit Der Schleier der Erinnerung dar, die einleitend die neurobiologischen Voraussetzungen autobiographischen Erinnerns reflektiert. – Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München: Beck 2004. – Mit der Konstrukthaftigkeit der ihrer Studie zugrundeliegenden autobiographischen Zeugnisse setzt sich auch Myriam Gebhardt explizit auseinander. – Myriam Gebhardt: Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932. Stuttgart: Steiner 1999 (Studien zur Geschichte des Alltags; 16). Günther, ›And now for something completely different‹ (wie Anm. 67), S. 61. James E. Young: Between history and memory. The uncanny voices of the historian and survivor. In: Passing into history. Nazism and the Holocaust beyond memory. In honor of Saul Friedländer on his sixty-fifth birthday. Ed. by Gulie Ne’eman Arad. Bloomington: Indiana Univ. Press 1997 (History and Memory. Studies in Representation of the Past; 9,1/2), S. 47–58 (Zwischen Geschichte und Erinnerung. Über die Wiedereinführung der Stimme der Erinnerung in die historische Erzählung. In: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. von Harald Welzer. Hamburg: Hamburger Ed. 2001, S. 41–62, hier: S. 55). Vgl. dazu Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 51f. – Zu nennen sind hier u. a. folgende Arbeiten: Alexander von Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000), H. 1, S. 5–29. – Angela Keppler: Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995 (1994) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft;

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2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

schichtliche Interviews keinen Zugang zur Vergangenheit liefern, sondern lediglich Aufschluss darüber geben können, auf welche Weise die vergangenen Ereignisse zu einem bestimmten Zeitpunkt der Gegenwart erinnert werden. Vergangenheit wird hier also explizit als erinnerte Vergangenheit gekennzeichnet. So formuliert etwa Harald Welzer in der Einleitung zu Opa war kein Nazi, es handle sich hierbei um »keine Studie über die Vergangenheit, sondern eine über die Gegenwart«.78 Dem Vorwurf der Subjektivität autobiographischer Quellen begegnet etwa Alexander von Plato mit dem Einwand, dass es den mentalitätsgeschichtlichen Studien gerade nicht um möglichst exakte Erinnerungen an die historischen Ereignisse geht, sondern um die Subjektivität dieser Erinnerungen.79 Es geht also um die Verarbeitung, nicht um die Dokumentation der historischen Ereignisse. Die vermeintlich größere Objektivität schriftlicher Quellen schätzt von Plato kritisch ein: Die Reduktion auf schriftliche Quellen allein ist […] in der Gefahr, Subjekte zu vernachlässigen auf eine scheinpositivistische Weise, denn nahezu alle Quellen der Historiographie sind subjektiv oder von Subjekten geschrieben, die in Interessenkonstellationen leben und arbeiten.80

Gegenüber den Anfängen der Oral History sieht von Plato eine positive Entwicklung: Hatte man die lebensgeschichtlichen Interviews zunächst hauptsächlich zu Illustrationszwecken eingesetzt, werden sie heute als eigenständige Quelle genutzt. Innerhalb der Oral History und der Sozialpsychologie entwickelt sich außerdem ein wachsender Austausch mit Vertretern aus dem Bereich der Kognitionspsychologie und der Neurobiologie. So veranstalteten Harald Welzer, Alexander von Plato und Almuth Leh im Januar 2000 eine Tagung unter dem Titel »Der Zeitzeuge als natürlicher Feind der historischen Zunft?«. Unter den Tagungsbeiträgen, die im Anschluss in einem Band der Zeitschrift BIOS versammelt wurden (1/2000), findet sich u. a. ein Artikel des Neurobiologen Hans-Joachim Markowitsch.81 Auch die Beiträge von Harald Welzer

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1132). – Vgl. Kristin Platt/Mihran Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis (wie Anm. 70). – Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis (wie Anm. 76). Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: ›Opa war kein Nazi‹. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 2002 (Fischer. Die Zeit des Nationalsozialismus; 15515), S. 12. Alexander von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft (wie Anm. 77), S. 8. Ebd., S. 25. Hans-J. Markowitsch: Die Erinnerung der Zeitzeugen aus der Sicht der Gedächtnisforschung. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000), H. 1, S. 30–50, hier: S. 47. – Markowitsch formuliert die Möglichkeiten und Grenzen autobiographischer Quellen als Zeugnisse für die Geschichtswissenschaften folgendermaßen: »Es gibt damit eine Reihe die Gedächtnisfähigkeit ungünstig beeinflussender Faktoren, von denen angenommen werden muß, daß gerade Zeitzeugen ihnen mit gewisser Wahrscheinlichkeit ausgesetzt waren. […] Trotz dieser pessimistischen Sicht sollten Zeitzeugenbefragungen nicht aufgegeben werden. Man sollte sich nur der Bedingungen bewußt sein, die während ihres (erstmaligen) Erle-

2.3 Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung

35

weisen eindeutige Bezüge zur neurobiologischen Gedächtnisforschung auf. Dabei interessieren den Sozialpsychologen naturgemäß die Abhängigkeit der individuellen Erinnerung vom sozialen Rahmen besonders: Zusammengefasst läßt sich sagen, daß Zeitzeugenerzählungen als adressatenbezogene Konstruktionen aufgefasst werden müssen, in denen biographische Erfahrungen nach ihrer sozialen und emotionalen Bedeutsamkeit, nach narrativen und normativen Erfordernissen und nach Maßgabe nachträglichen Wissens jeweils neu figuriert und präsentiert werden. […] Was mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews erhoben wird, ist, wie ein Erzähler seine Auffassung von der Vergangenheit einem Zuhörer zu vermitteln versucht. Das ist – zumindest sozialpsychologisch – auch die viel interessantere Frage als die nach einer historischen Wahrheit: Denn wir finden hier Material über das Fortwirken von Geschichte in aktuellen sozialen Prozessen, d. h. über die Bedeutung einer jeweiligen Vergangenheitsmodulation für die Gegenwart.82

Hier besteht also ein wachsendes Bewusstsein für die Gegenwärtigkeit autobiographischer Erinnerungsprozesse. Der Austausch mit der neurobiologischen und kognitionspsychologischen Gedächtnisforschung ist dabei sicherlich sehr fruchtbar. Anzumerken bleibt jedoch, dass die künstlerische Gestaltung der autobiographischen Zeugnisse, die nicht nur durch Erinnerungen, sondern immer auch durch Genreerwartungen geformt ist, kaum zur Kenntnis genommen wird.83 Was bereits den Umgang mit Tagebuchzeugnissen bestimmt, gilt in noch größerem Maße für die spezifische Gestaltung literarischer Autobiographien: Literarisch komplex gestaltete autobiographische Texte werden in fast allen Fällen im selben Maße wie Ausschnitte aus Tagebüchern lediglich zur Illustration eigener Thesen herangezogen – der literarische Text in seiner Gesamtheit gerät so aus dem Blick. Dies ist besonders für solche literarischen Erinnerungstexte problematisch, die weit über die Schilderung des persönlichen

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bens, während möglicher nachfolgender ›Reproduktionen‹ und während des aktuellen Abrufs herrschten. Hinzu kommt der Wandel der Zeit, in dem sich auch Individuen verändern: Diese Veränderungen finden sich auf der psychischen oder der Verhaltensebene, aber auch mit zunehmendem Alter in nicht unbeträchtlichem Maße in Abbauvorgängen auf der Hirnebene, die der ungestörten neuralen Repräsentation von Informationen entgegenwirken.« – Ebd., S. 46f. Harald Welzer: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000), H. 1, S. 51– 63, hier: S. 60. Vgl. hierzu Mary Chamberlain und Paul Thompson: »Any life story, whether a written autobiography or an oral testimony, is shaped not only by the reworkings of experience through memory and re-evaluation but also always at least to some extent by art. Any communication has to use shared conventions not only of language itself but also the more complex expectations of ›genre‹: of the forms expected within a given context and type of communication.« – Mary Chamberlain/Paul Thompson: Introduction. Genre and narrative in life stories. In: Dies. (Ed.): Narrative and genre. London: Routledge 1998 (Routledge studies in memory and narrative; 1), S. 1–22. Ich verdanke diesen Hinweis Tony Kushner.

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2 Erinnerung – Identität – Literatur: Theoretische Grundlagen

Schicksals hinausgehen und durch den Einsatz komplexer literarischer Strategien ein Bewusstsein für die Differenz von erinnerndem und erinnertem Ich, die Funktionsweise autobiographischer Erinnerung und damit die Konstruiertheit jeglicher autobiographisch verhandelter Identität erkennen lassen. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen zur Prozesshaftigkeit individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse, zur narrativen Verfasstheit von Identität, zum Zusammenhang von Erinnerung und Literatur und zur Grenzstellung der Autobiographie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung werde ich im Folgenden Friedländers und Klügers wissenschaftliche Ansätze sowie ihre autobiographischen Projekte analysieren.

3

Zwischen Geschichtswissenschaft und persönlichem Erinnerungstext: Saul Friedländer

3.1

Friedländers historiographischer Ansatz

Saul Friedländer gilt als einer der international renommiertesten Historiker auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Er graduierte 1955 am Institut d’Études Politiques in Paris, um anschließend sein Studium der Geschichtswissenschaften am Graduate Institute of International Studies in Genf fortzusetzen, wo er 1963 promovierte. Seither hat Friedländer seine Tätigkeit als Historiker an verschiedenen Universitäten ausgeübt – am Graduate Institute of International Studies in Genf, als Professor für moderne europäische Geschichte an der Tel Aviv University, an der Hebrew University in Jerusalem und der University of California in Los Angeles. Friedländers Opus Magnum Nazi Germany and the Jews (Das Dritte Reich und die Juden) wird zu Recht als Synthese von Friedländers theoretischen Überlegungen gewertet. Bereits im ersten Band – The years of persecution (Die Jahre der Verfolgung) entwickelt Friedländer sein Konzept des ›Erlösungsantisemitismus‹ und rückt verstärkt die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus in den Blick. Der zweite Band – The years of extermination (Die Jahre der Vernichtung) – erschien im Herbst 2006 zur Frankfurter Buchmesse. Bemerkenswert ist, dass die deutsche Übersetzung damit vor der englischen Fassung veröffentlicht wurde (vgl. hierzu Kapitel 3.1.6). Friedländers wichtigste theoretische Essays sind inzwischen gesammelt in deutscher Übersetzung erhältlich, zudem erschienen kürzlich seine Beiträge am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, an dem er im Wintersemester 2006/07 als Gastprofessor lehrte.1 Im Mittelpunkt von Friedländers wissenschaftlicher Arbeit steht die Frage nach der adäquaten Darstellung des Holocaust. Dabei kommen der Integration von Erinnerung in die Geschichtsschreibung sowie der Betonung des persönli1

Saul Friedländer: Nachdenken über den Holocaust. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe; 1788). – Ders.: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen 2007 (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien; 2). – Der erste Band enthält außerdem ein Gespräch zwischen Friedländer und Martin Doerry, der zweite einen Zusammenschnitt aus verschiedenen Gesprächen und Interviews mit Friedländer während seiner Zeit am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

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3 Saul Friedländer

chen Hintergrunds des Historikers für seine wissenschaftliche Arbeit eine entscheidende Rolle zu. Friedländers historiographischer Ansatz unterscheidet sich in diesen Punkten wesentlich von traditioneller, politik- und sozialgeschichtlich orientierter Geschichtsschreibung. Friedländer verlässt außerdem immer wieder das übliche Terrain des Historikers. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt der Bedeutung kollektiver Erinnerung für die Wahrnehmung aktueller politischer Konflikte. Darüber hinaus widmet er sich in seinen theoretischen Essays der künstlerischen Darstellung des Holocaust in Literatur und Film.2 Die Gliederung meiner Überlegungen zu Friedländers wissenschaftlicher Arbeit orientiert sich an folgenden Thesen: 1. Innerhalb von Friedländers historiographischem Werk ist eine deutliche Entwicklungslinie – von der traditionellen Geschichtsschreibung über die Psychohistorie hin zur Integration der Erinnerungen der Opfer und des persönlichen Hintergrunds des Historikers – vorhanden. In einem ersten Schritt (3.1.1) werde ich die wesentlichen Etappen von Friedländers historiographischem Werk nachzeichnen. 2. Vor diesem Hintergrund geht es in einem zweiten Schritt (3.1.2) darum, die beiden für Friedländers historiographisches Werk zentralen Annahmen darzustellen: erstens die Integration der Erinnerungen der Überlebenden in seine Geschichtsschreibung – und zweitens die Kenntlichmachung des persönlichen Hintergrunds des Historikers. Die Wahrnehmung historischer Ereignisse – so betont Friedländer damit – ist immer abhängig von der jeweiligen Perspektive. 3. Sowohl die Integration der Erinnerungen als auch der selbstreflexive Kommentar des Historikers zielen darauf ab, die vermeintlich ›eindeutige‹ Kausalität und Linearität der historiographischen Darstellung des Holocaust zu unterbrechen. Friedländer verwehrt sich so einer letztendlichen, ›objektiven‹ Deutung und hebt die Unabschließbarkeit historischer Narrative hervor (3.1.3). 2

Vgl. hierzu auch meine Beiträge in der Zeitschrift Exil sowie in dem von Martin L. Davies und Claus-Christopher W. Szejnman herausgegeben Band How the Holocaust looks now. – Karolin Machtans: History and memory. Saul Friedländer’s historiography of the Shoah. In: How the Holocaust looks now. International perspectives. Ed. by Martin L. Davies and Claus-Christopher Szejnman. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2007, S. 199–207. – Dies.: Saul Friedländers Erinnerungstext im Kontext seines historiographischen Ansatzes. In: Exil 26 (2006), H. 1, S. 52–70. – Vgl. auch Steven E. Aschheim: On Saul Friedländer. In: Arad (Ed.), Passing into History (wie Kap. 2, Anm. 76), S. 11–46. – Die von Aschheim betonte Nähe Friedländers zu postmodernen Ansätzen lässt sich meines Erachtens jedoch so nicht aufrecht erhalten. Vgl. hierzu Kapitel 3.1.5 der vorliegenden Arbeit.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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4. Friedländers Opus Magnum Nazi Germany and the Jews lässt sich als Synthese von Friedländers geschichtstheoretischen Überlegungen lesen. In Kapitel 3.1.4 wird es darum gehen, die narrative Struktur seines Hauptwerks zu untersuchen. 5. In seiner Betonung einer trotz historischer Analyse verbleibenden ›Undurchsichtigkeit‹ (›opaqueness‹) des Holocaust sowie der Hervorhebung des Einflusses des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine Deutung der Ereignisse ist Friedländer wiederholt in die Nähe einer postmodernen Geschichtsschreibung gerückt worden. Eine solche Zuordnung greift jedoch in dieser Konsequenz zu weit: Zwar verweist Friedländer wiederholt auf postmoderne Theoretiker wie Jean-François Lyotard und Maurice Blanchot und betont die Vorzüge ›postmoderner Diskurse‹ in ihrer Annäherung an den ›undurchsichtigen‹ Charakter des Holocaust. Gleichzeitig hebt er jedoch explizit die Existenz einer außerhalb des historischen Narrativs bestehenden, außertextuellen Wirklichkeit hervor, die vor und unabhängig von diesem Narrativ existiert – und der es sich so weit wie möglich anzunähern gilt. Friedländers Position ist also vielmehr im Spannungsfeld zwischen der Verweigerung gegenüber einer alles integrierenden Deutung und der expliziten Betonung der Notwendigkeit zur Faktentreue zu verorten (3.1.5). 6. Abschließend werde ich der besonderen Tatsache nachgehen, dass der zweite Band – The years of extermination – zwar auf Englisch verfasst, jedoch zuerst in seiner deutschen Übersetzung veröffentlicht wurde (3.1.6). Im Kontext der öffentlichen Präsentation des Bandes in Lesungen und der Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche frage ich hier zum einen, inwieweit sich der zweite Band als ›deutsches Buch‹ bezeichnen lässt – zum anderen, inwieweit die ›Rede‹ in der Paulskirche in ihrer formalen Gestaltung auf Friedländers theoretische Überlegungen verweist.

3.1.1 Entwicklung von Friedländers wissenschaftlichem Werk Friedländers frühe historiographische Werke lassen sich noch in den Rahmen traditioneller Geschichtsschreibung einordnen: 1963 erscheint Hitler et les Etats-Unis (1939–1941), eine Auseinandersetzung mit der Außenpolitik des Hitler-Regimes gegenüber den USA.3 Ein Jahr später liegt mit Pie XII et le IIIe 3

Saul Friedländer: Hitler et les États-Unis 1939–1941. Paris: Éditions du Seuil 1965 (1963) (Auftakt zum Untergang. Hitler und die Vereinigten Staaten 1939–1941. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1965). – Vgl. hierzu Robert Eaglestone: »Friedländer’s early work as a historian displays a model Rankean rigour.« – Robert Eaglestone: The Holocaust and the postmodern. Oxford, New York: Oxford University Press 2004, S. 174. – Eaglestones Überblick über die Entwicklung von Friedländers Gesamtwerk ist besonders aufschlussreich, da er den Versuch unternimmt, Friedländers

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3 Saul Friedländer

Reich. Documents eine Untersuchung des Verhaltens der Katholischen Kirche im ›Dritten Reich‹ vor, in der Friedländer seine größtmögliche Nähe zu den verarbeiteten Dokumenten betont: L’attitude du pape Pie XII envers le Reich hitlérien et les raisons de son silence devant l’extermination systématique des juifs d’Europe font l’objet de questions angoissantes et de polémiques passionnées. Face à un tel problème, l’historien peut difficilement prétendre à une parfaite objectivité. Pourtant, malgré la confusion créée dans les esprits par les accusations et les réfutations les plus diverses et, quelquefois, les plus étranges, une possibilité d’investigation honnête demeure: s’en tenir, autant que possible, aux documents.4

So trägt die Untersuchung den bezeichnenden Untertitel »Documents« (»Eine Dokumentation«). Friedländers frühe Werke weisen noch nicht auf seine spätere, eingehende Auseinandersetzung mit dem persönlichen Hintergrund des Historikers und dessen Einfluss auf die historiographische Darstellung hin. Friedländers eigener Hintergrund wird lediglich in der Widmung des Buches deutlich: »À la mémoire de mes parents, tués à Auschwitz«.5 Seine persönlichen Erfahrungen mit dem Katholizismus in Frankreich, die seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rolle des Vatikans und der katholischen Kirche im ›Dritten Reich‹ entscheidend beeinflussen, bleiben dagegen unerwähnt.6 Hatte Friedländer sein Interesse an psychologischen Faktoren in der Einleitung zu Hitler et les États-Unis bereits formuliert, ist es die Biographie Kurt Gersteins (1967), in der dieses Interesse erstmals in den Mittelpunkt der Analyse rückt.7 Es ist die Ambiguität Gersteins, die Friedländer herausfordert:

4

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autobiographischen Text in den Kontext des Gesamtwerks einzuordnen. Einen ähnlich differenzierten Überblick über die Entwicklung von Friedländers Werk bis zum Erscheinen des ersten Bandes von Nazi Germany and the Jews liefert Steven E. Aschheim, On Saul Friedländer (wie Anm. 2). Saul Friedländer: Pie XII et le IIIe Reich. Documents. Paris: Éditions du Seuil 1964 (L’histoire immédiate), S. 9. Hervorhebung im Original. – »Das Verhalten Papst Pius’ XII gegenüber dem Hitlerreich und die Gründe seines Schweigens zu der systematischen Vernichtung der europäischen Juden haben zu beklommenen Fragen und leidenschaftlicher Polemik geführt. Angesichts eines solchen Problems kann der Historiker schwerlich völlige Objektivität für sich in Anspruch nehmen. Aber trotz der Verwirrung der Geister durch die verschiedensten und manchmal sonderbarsten Anklagen und Wiederlegungen bleibt eine Möglichkeit redlichen Forschens: daß man sich möglichst an die Dokumente hält.« – Ders.: Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation. Vom Autor durchgesehene Ausg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965 (Rowohlt Paperback; 43), S. 9. Hervorhebung im Original. »Dem Gedenken meiner in Auschwitz ermordeten Eltern«. Vgl. zu diesem Punkt Aschheim, On Saul Friedländer (wie Anm. 2), S. 13. Die Einleitung zu Hitler et les États Unis ist folgendermaßen betitelt: »Les fondements psychologiques du National-Socialisme et leur influence sur la politique étrangère de Hitler«. – Friedländer, Hitler et les États-Unis (wie Anm. 3), S. 9–35. – Ders.: Kurt Gerstein ou l’ambiguité du bien. Tournai: Casterman 1967 (Vie et témoignages) (Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten. Neuaufl. München: Beck 2007 [1967] [Beck’sche Reihe; 1789]).

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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Gerstein trat der SS bei, um sich auf diesem Weg gegen die nationalsozialistische Judenvernichtung einzusetzen. Er wurde 1945 von französischer Seite festgenommen und beging Selbstmord. 1950 wurde er nachträglich freigesprochen. Das Paradoxe liegt für Friedländer in der Tatsache, dass Gerstein für seine Handlungen verurteilt wurde, während die deutsche Bevölkerung in ihrer Passivität als unschuldig eingestuft wurde. In den siebziger Jahren gewinnt die Psychohistorie zunehmenden Einfluss auf Friedländers Geschichtsschreibung. Friedländer, nach dessen Ansicht die Motivation der Täter durch konventionelle Historiographie nicht hinreichend zu erklären ist, beschäftigt sich in L’antisémitisme nazi. Histoire d’une psychose collective (1971) mit tiefenpsychologischen Erklärungsmustern.8 Bereits kurze Zeit später formuliert er jedoch mit Histoire et psychoanalyse. Essai sur les possibilités et les limites de la psychohistoire (1975) selber die Grenzen der Psychohistorie, betont allerdings weiterhin die Notwendigkeit ihrer Verknüpfung mit traditioneller Geschichtsschreibung. Nur in der Verbindung der historischen Daten mit einer Analyse der dem Nationalsozialismus zugrundeliegenden psychologischen Faktoren ist es – so Friedländer – möglich, sich dem Holocaust auf wissenschaftlicher Ebene zu nähern.9 Die Beschäftigung mit der psychologischen Dimension des Nationalsozialismus wird Friedländers Arbeit weiterhin maßgeblich bestimmen. Die dem Nationalsozialismus zugrundeliegende psychologische Tiefenstruktur, die seine Faszination für die Massen ausmachte, untersucht Friedländer in seinem vielbeachteten Essay Reflets du nazisme (1982), der 1984 unter dem Titel Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus erstmals in Deutschland erschien und 1986 in einer von Friedländer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt wurde.10 Dort vertritt er eine provokante These: Anhand von Textund Filmbeispielen des von ihm ausgemachten ›neuen Diskurses‹ über den 8 9

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Ders.: L’antisémitisme nazi. Histoire d’une psychose collective. Paris: Éditions du Seuil 1971 (L’histoire immédiate). Ders.: Histoire et psychoanalyse. Essai sur les possibilités et les limites de la psychohistoire. Paris: Éditions du Seuil 1975, S. 122. – In der überarbeiteten deutschen Version von Kitsch und Tod wird Friedländer wenige Zeit später die Grenzen der Psychohistorie noch deutlicher formulieren: »Wohl ist die psychohistorische Erforschung des Nazismus zu einer eigenständigen Disziplin geworden – was ganz nach einer Antwort auf den Vorwurf aussieht. Doch läßt sich nicht leugnen, daß dieser Ansatz enttäuscht hat, infolge der übertriebenen schematischen Anwendung von Begriffen, die genauso abgenützt wie allgemein sind: bestenfalls erscheint er artifiziell. (Meine eigene Studie zum nazistischen Antisemitismus wirft dieselben Probleme auf.)«. – Ders.: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Vom Autor durchgesehene und erweiterte Ausgabe. München: Deutscher TaschenbuchVerlag 1986 (dtv; 10621). Die deutschen Zitate orientieren sich an der um ein weiteres Vorwort ergänzten Neuausgabe von 2007 (1999). – Ders.: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Erweiterte Ausg. Frankfurt a. M.: FischerTaschenbuch-Verlag 2007 (1999) (dtv; 17968), S. 119. Ders.: Reflets du nazisme. Paris: Éditions du Seuil 1982 (Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus [wie Anm. 9]).

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Nationalsozialismus arbeitet er Strukturen heraus, die sowohl die Faszination dieser neuen Werke erklären als auch gleichzeitig Aufschluss über die Suggestionskraft des Nationalsozialismus selbst geben – ein ›Widerschein des Nazismus‹ in der künstlerischen Auseinandersetzung mit ihm: »[C]e qui vient d’être dit pour les reflets du nazisme me paraît vrai pour le nazisme en soi«.11 Die Entwicklung dieses ›neuen Diskurses‹, dem Friedländer so unterschiedliche Autoren wie Joachim Fest, George Steiner, Hans Jürgen Syberberg und Rainer Werner Fassbinder zuordnet, zeichnet sich seit Ende der sechziger Jahre ab. Die Anziehungskraft des Nationalsozialismus beruht, so Friedländer, nicht nur auf seiner explizit propagierten Doktrin, sondern vielmehr auf seiner emotionalen Anziehungskraft. Genau dieser emotionale Bereich ist es, an den auch die Werke des ›neuen Diskurses‹ appellieren. Eine Analyse der Strukturen, die die Faszination dieser Werke ausmachen, so Friedländers These, gibt gleichzeitig Aufschluss über die psychologische Dimension der Faszination, die der Nationalsozialismus ausübte: [G]râce à leurs reflets d’aujourd’hui, des éléments qu’une approche directe n’avait pas, jusqu’ à présent, mis au jour sont révélés non pas tant par ce que les uns ou les autres ont voulu dire, mais par ce qui est dit en dehors d’eux, malgré eux. [...] Il en est ainsi de la remontée d’une fascination souvent perçue dans tel film ou tel roman: d’une œuvre à l’autre ses composantes esthétiques paraissent être les mêmes; tout naturellement, la question se pose: ces composantes de la fascination ne sont-elles qu’une élaboration de l’auteur ou du cinéaste d’aujourd’hui, ou les distinguera-t-on, de manière identique, dans le nazisme même?12

Was aber macht diesen Reiz, die Anziehungskraft des Nationalsozialismus und auch der Werke des ›neuen Diskurses‹ aus? Es ist, so Friedländer, der Gegensatz von ›Kitsch‹ und ›Tod‹, von Harmonie und Zerstörung – das gleichzeitige Verlangen nach restloser Unterwerfung und der Auslöschung aller Macht. ›Kitsch‹ entsteht aus der Sehnsucht nach Harmonie, Vereinfachung, ist »le retour à une inspiration romantique dégradée, à une esthétique dépouillée de la force et de la nouveauté qui furent les siennes, il y a cent cinquante ans, à la 11

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Ders., Reflets du nazisme (wie Anm. 10), S. 81. – »[W]as über die Werke gesagt wurde, in denen sich der Nationalsozialismus widerspiegelt, das kann auch über den Nationalsozialismus selbst konstatiert werden […].« – Ders., Kitsch und Tod (wie Anm. 9), S. 82. Ders., Reflets du nazisme (wie Anm. 10), S. 15f. Hervorhebung im Original. – »Elemente, die ein direkter Zugriff bisher nicht zu fassen bekam, werden durch ihren Widerschein in der Nachgestaltung erkennbar, das heißt nicht so sehr durch das, was der Nachgestaltende ausdrücken wollte, als vielmehr durch das, was ungewollt und ohne sein Zutun zum Ausdruck kommt. […] So verspürt man in manchen Filmen oder Romanen das Aufkommen einer schwer definierbaren Faszination: ihre ästhetischen Komponenten scheinen von Werk zu Werk immer die gleichen zu sein, also stellt sich ganz natürlich die Frage, ob die Komponenten dieser Faszination bloß Elaborate des Autors sind oder ob man sie nicht auch im Nazismus selbst finden kann.« – Ders., Kitsch und Tod (wie Anm. 9), S. 25f. Hervorhebung im Original.

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veille de l’essor de la modernité«.13 In der Verbindung der Ästhetik des Kitsches mit der von Vernichtung und Tod wird ein ›fasziniertes Erschauern‹ hervorgerufen: »La juxtaposition de ces deux éléments contraires représente le fondement d’une certaine esthétique religieuse et, selon moi, le soubassement aussi bien de l’esthétique nazie que de la nouvelle évocation du nazisme«.14 Die Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit und der Rückgriff auf archaische Mythen sind im Nationalsozialismus ebenso zentral wie die Todesthematik. In welchem Maße sich die Verbindung von Kitsch und Tod, Rührung und Entsetzen nicht nur in der Ästhetik des Nationalsozialismus selbst, sondern auch im ›neuen Diskurs‹ über ihn finden lässt, verdeutlicht Friedländer unter anderem an Passagen aus Speers Erinnerungen und Syberbergs Hitler, ein Film aus Deutschland.15 Das ›faszinierte Erschauern‹ entsteht durch die Verbindung von Szenen aus Hitlers Alltagsleben, die ihm das Image des ›kleinen Mannes‹ verleihen, mit dem Bild eines Machthabers, dessen letztendliches Ziel die totale Vernichtung ist. In dieser Verbindung des gutbürgerlichen Glücks, der Harmonie – als Projektionsfläche der damaligen Wunschvorstellungen – mit der unbewussten Sehnsucht nach Zerstörung und Tod liegt, so Friedländer, der Grund für die Zustimmung und den Aufopferungswillen für Hitler bis zuletzt. Indem die Werke des ›neuen Diskurses‹ die im Nationalsozialismus wirkenden Mechanismen abbilden, geben sie zwar einerseits Einblick in seine psychologische Dimension – andererseits aber laufen sie Gefahr, weniger distanzierte Reflexion als vielmehr dieselbe Faszination auszulösen, was Friedländer in der deutschen Ausgabe folgendermaßen formuliert: Die Aufmerksamkeit verlagert sich schrittweise von der Evokation des Nazismus selbst, vom Grauen und Schmerz […] zu wollüstiger Beklemmung und hinreißenden Bildern, Bildern, die man unentwegt weitersehen will. Das Ergebnis mag ein Meisterwerk sein, aber ein Meisterwerk, bei dem man das Gefühl haben kann, daß es in der falschen Tonart steht: mitten in der Meditation erhebt sich ein Verdacht auf Selbstgefälligkeit und Sympathie für das Dargestellte. Eine Grenze ist überschritten worden, und ein Gefühl von Unbehagen kommt auf: Dies ist ein Merkmal des neuen Diskurses.16

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Ders., Reflets du nazisme (wie Anm. 10), S. 26. – »das Zurück zu einer verflachten Romantik, zu einer Ästhetik ohne die Energie und Erneuerungskraft, die sie vor hundertfünfzig Jahren, am Vorabend des Aufbruchs in die Moderne, noch besaß«. – Ders., Kitsch und Tod (wie Anm. 9), S. 35. Ders., Reflets du nazisme (wie Anm. 10), S. 23. Hervorhebung im Original. – »Die Kurzschlußverbindung oder Juxtaposition dieser beiden gegensätzlichen Elemente bildet die Grundlage einer gewissen religiösen Ästhetik und ebenso […] das Fundament sowohl der Nazi-Ästhetik als auch der heutigen Evokation des Nazismus.« – Ders., Kitsch und Tod (wie Anm. 9), S. 33. Hervorhebung im Original. Albert Speer: Erinnerungen. Frankfurt a. M.: Ullstein 1969. – Hans J. Syberberg: Hitler, ein Film aus Deutschland. Drehbuch: Hans J. Syberberg. Deutschland/Großbritannien/Frankreich 1978. Friedländer, Kitsch und Tod (wie Anm. 9), S. 29.

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Diese Gefahr besteht – so Friedländer – auch in der gegenwärtigen literarischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust weiter.17 Es ist seine Sorge um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die nicht nur Friedländers Tätigkeit als Historiker bestimmt, sondern ihn darüber hinaus immer wieder veranlasst, öffentlich Stellung zu beziehen. In den letzten Jahrzehnten hat Friedländer seine Position wiederholt explizit formuliert und damit die bundesdeutschen Diskurse mit geprägt – sei es in der Diskussion zwischen Funktionalisten und Intentionalisten, dem Historikerstreit oder in seinem vielbeachteten Briefwechsel um die ›Historisierung des Nationalsozialismus‹ mit Martin Broszat. Ohne hier im Einzelnen auf die hinreichend bekannten Debatten eingehen zu wollen, sollen im Folgenden die wesentlichen Positionen Friedländers skizziert werden, die maßgeblich zum Verständnis seiner Interpretation des Nationalsozialismus und speziell der nationalsozialistischen Judenvernichtung beitragen. Friedländers Interpretation des Nationalsozialismus basiert auf zwei Grundannahmen: erstens der expliziten Betonung der Singularität der nationalsozialistischen Judenverfolgung und insbesondere der ›Endlösung‹ – und zweitens der Hervorhebung der zentralen Rolle Hitlers innerhalb des nationalsozialistischen Systems. Friedländers Betonung der Singularität der nationalsozialistischen Judenverfolgung resultiert aus seiner Überzeugung, dass sie sich in kein globales Interpretationsmuster einordnen lässt – weder in den Rahmen eines ›deutschen Sonderwegs‹ oder als letzte Konsequenz eines traditionellen Antisemitismus, noch in Faschismus- oder Totalitarismustheorien.18 Zwar stellt auch Friedländer die Bedeutung des nationalen Hintergrunds, der Kontinuität des Nationalismus, des Anti-Marxismus in Deutschland und des allgemein anwachsenden Antisemitismus nicht in Frage. Gerade den besonderen, absoluten Charakter des nationalsozialistischen Antisemitismus und insbesondere der Judenvernichtung vermögen diese Deutungsmuster jedoch nicht erschöpfend zu erklären.19 Es ist der ideologisch motivierte Vernichtungswahn der Nationalsozialisten, der sie von anderen Genoziden unterscheidet und den Friedländer später in seinem Konzept des ›Erlösungsantisemitismus‹ fassen wird (vgl. Kapitel 3.1.4).20 So muss er Interpretationen, die der ideologischen Komponente der nationalsozialistischen Judenvernichtung keinen zentralen Platz zuweisen, notwendigerweise kritisch gegenüber stehen – was seine Intervention 17

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Reflets du nazisme sei deshalb dasjenige seiner Bücher, das er – in aktualisierter Form – noch einmal schreiben würde. – Karolin Machtans: Interview mit Saul Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton. Saul Friedländer: Some aspects of the historical significance of the Holocaust. Jerusalem: Institute of Contemporary Jewry 1977 (The Philip M. Klutznick international lecture), S. 7–12. – Ders.: From anti-semitism to extermination. A historiographical study of Nazi policies toward the Jews and an essay in interpretation. In: Yad Vashem Studies 16 (1984), S. 1–50, hier: S. 4–16. Ders., The years of persecution (wie Kap. 1, Anm. 1), S. 2f. Ders., Some aspects (wie Anm. 18), S. 11f.

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gegenüber funktionalistischen Deutungsansätzen erklärt.21 Die Hauptunterschiede zwischen Intentionalisten und Funktionalisten sind bereits ausreichend dokumentiert worden: Der Betonung der direkten Beziehung zwischen Ideologie und Umsetzung politischer Entscheidungen in einem System, in dem die Rolle des Führers von zentraler Bedeutung ist, steht der Ansatz der Funktionalisten entgegen, die das nationalsozialistische System als Abfolge teils unkoordinierter, chaotischer Entscheidungen auffasst, die schließlich zur Endlösung führten – ein Gegensatz, der sich insbesondere an der Interpretation der nationalsozialistischen Judenpolitik manifestiert.22 Obwohl Friedländer den Ergebnissen der Funktionalisten durchaus wertvolle Einsichten in die innere Funktionsweise des nationalsozialistischen Systems zuerkennt und in ihrer Betonung der Dynamik innerhalb des Systems – im Gegensatz zur einseitig hervorgehobenen, zentralen Rolle Hitlers – den Vorteil sieht, die Verantwortlichkeit der einzelnen Individuen herausheben zu können, wendet er ein, dass das nationalsozialistische System in allen wichtigen Entscheidungen von Hitler abhängig war.23 Im Zentrum des Historikerstreits steht – so Friedländer – die Diskussion um die Vergleichbarkeit oder Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen und damit die Zentralität der Judenvernichtung innerhalb des historischen Narrativs. Für ihn liegt daher die wesentliche Bedeutung des Historikerstreits über seine politischen Kontroversen um eine ›neue deutsche Identität‹ hinaus in einer Verschiebung des Fokus innerhalb der geschichtswissenschaftlichen

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Ebd., S. 37. – Ders., From anti-semitism to extermination (wie Anm. 18), S. 16–27. Zur Unterscheidung der Positionen von Intentionalisten und Funktionalisten, die insbesondere an der Interpretation der nationalsozialistischen Judenpolitik deutlich werden, vgl. Friedländer: »For the intentionalists, there is a direct relationship between ideology, planning and policy decisions in the Third Reich.[…] The functionalist position, on the other hand, implies that there is no necessary relationship between the ideological basis and the political initiatives of the Nazis. It holds that decisions are functionally linked to each other and to a given state of the political context, that through the constant interaction of various semi-autonomous agencies the role of the supreme decisionmaker may sometimes be quite limited, and that his decisions often take on the aspect of planned policy only from the vantage of hindsight. […] For the intentionalists there is, first of all, continuity between the ideology of the 1920s and the final extermination. […] For the functionalists, most of the basic tenets of the intentionalist position are improbable. Let us recall, first of all, the common denominator of all functionalist interpretations: the Nazi system was to a great extent chaotic, and major decisions were often the result of the most diverse pressures, without any imperative central planning, forecasting, or clear orders given from the top indicating the aim and means of execution of a given policy. Within the functionalist mode of interpretation, the existence of a strong antiSemitic ideology is not denied, but its link to policies is considered to be indirect at most.« – Ebd., S. 16–27. Ders., The years of persecution (wie Kap. 1, Anm. 1), S. 3.

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Auseinandersetzung mit dem Holocaust.24 In den emotional aufgeladenen Diskussionen des Historikerstreits um die Interpretation und Darstellung des Nationalsozialismus stellt Friedländer einen deutlichen Trend zur ›Historisierung‹ fest: Die Vertreter einer ›Historisierung‹, so Friedländer, fordern die Integration des Nationalsozialismus in eine übergeordnete deutsche Geschichtsschreibung. Friedländer sieht hierin die Gefahr, die Singularität des Nationalsozialismus und speziell der ›Endlösung‹ aufzuheben.25 Die Frage der Integration des Nationalsozialismus in ein übergeordnetes historisches Narrativ wird zu einem der zentralen Diskussionspunkte des Briefwechsels zwischen Friedländer und Broszat.26 Bereits ein Jahr vor dem Historikerstreit hatte Broszat sein »Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus« veröffentlicht, in dem er sich für eine Veränderung des methodologischen Zugangs zum Nationalsozialismus aussprach.27 Nach Broszats Ansicht sei es den Historikern trotz der immer größer werdenden Zahl detaillierter Untersuchungen bislang nicht gelungen, eine angemessene Form der Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus zu finden. Vielmehr bestimme noch immer eine moralische Distanziertheit des Historikers die Geschichtsschreibung. Mit wachsendem zeitlichen Abstand sei es – so Broszat – dagegen notwendig, den Nationalsozialismus ebenso wie jede andere Epoche zu analysieren und in den Geschichtsverlauf zu integrieren. Dies könne nur durch die Verminderung der selbstauferlegten Distanzierung des Historikers gegenüber dem Nationalsozialismus erreicht werden. ›Historisierung‹ im Sinne Broszats, so dagegen Friedländer, zielt darauf ab, die Distanz zum Objekt der historischen Studie zu überwinden und den Nationalsozialismus wie jede andere historische Periode zu analysieren. Im Gegensatz zu einer traditionellen Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, in 24

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Ders.: Reflections on the historicization of National Socialism. In: Ders.: Memory, history and the extermination of the Jews of Europe. Bloomington: Indiana University Press 1993, S. 64–84, hier: S. 64. – Zur Analyse des Historikerstreits vgl. insbesondere Dan Diner (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1987 (Fischer; 4391). – Zu Friedländers Einschätzung des Historikerstreits siehe außerdem Saul Friedländer: West Germany and the burden of the past. The ongoing debate. In: The Jerusalem Quarterly 42 (1987), S. 3–18. Ebd., S. 9. Dieser öffentliche Briefwechsel – je drei Briefe – wurde in der Oktoberausgabe 1988 der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte abgedruckt. – Saul Friedländer/Martin Broszat: Um die ›Historisierung‹ des Nationalsozialismus. Ein Briefwechsel. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4 (1988), S. 339–372. Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus. In: Merkur 39 (1985), S. 373–385. Der Artikel wurde in die von Hermann Graml und Klaus-Dietmar Henke herausgegebene Sammlung von Broszats Essays aufgenommen: Hermann Graml/Klaus-D. Henke (Hg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat. 2. Aufl. München: Oldenbourg 1987 (1986), S. 159–173.

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deren Zentrum die ideologischen, politischen und kriminellen Aspekte des ›Dritten Reiches‹ stehen, betone Broszat in seiner Auseinandersetzung mit dem Alltagsleben unter der NS-Herrschaft die Kontinuität sozialer Strukturen und Prozesse, die bereits vor 1933 existierten. Obwohl er den von Broszat formulierten Zielen einer ›Historisierung‹ – uneingeschränkte Erforschung des Nationalsozialismus ohne methodologische Restriktionen – durchaus zustimmt, läuft, so Friedländer, ein solcher Ansatz dennoch Gefahr, in der Betonung von Kontinuitäten des alltäglichen Lebens und sozialer Prozesse die kriminelle Dimension des nationalsozialistischen Regimes aus dem Blick zu verlieren. Zwar stellt auch Friedländer die Kontinuitäten aus der Zeit vor der Machtergreifung Hitlers in verschiedenen Bereichen nicht in Frage, doch lässt sich in ihrer Betonung die Spezifik des ›Dritten Reiches‹ nicht fassen. Der besondere Charakter des Nationalsozialismus, so Friedländers zentraler Einwand, zeigt sich nicht in Kontinuitäten, sondern vielmehr in den Neuerungen und der Radikalisierung, die seit der Machtergreifung Hitlers eingeführt wurden. Die Darstellung von Kontinuitäten lässt sich vielmehr integrieren, ohne die traditionelle zeitliche Periodisierung 1933–1945 zu relativieren und damit die wesentlichen politischen, ideologischen und moralischen Aspekte zu vernachlässigen.28 Die Konzentration auf das alltägliche Leben der Deutschen im ›Dritten Reich‹ führt – so Friedländer weiter – zu einer Verdrängung der ›Endlösung‹ aus dem Zentrum der Darstellung: Die nationalsozialistischen Verbrechen, die der ›normalen‹ Bevölkerung in vielen Fällen in ihrem gesamten Ausmaß erst nach Ende des Krieges vollständig bewusst waren, müssen – folgt man diesem mangelnden Bewusstsein in der Darstellung – in einer solchen Analyse des alltäglichen Lebens der deutschen Bevölkerung notwendigerweise einen marginalen Platz einnehmen.29 Die von Broszat eingeforderte Annäherung des Historikers an den Nationalsozialismus bezeichnet Friedländer deshalb als »janusköpfiges Unternehmen«: Dem durchaus nachvollziehbaren Ziel Broszats, durch die Auflösung der Distanzierung des Historikers die Alltagsgeschichte in den Blick zu bekommen und auf diese Weise die distanzierenden Reaktionen der Deutschen zu durchbrechen, steht das Problem der Wahrnehmung des Alltags unter nationalsozialistischer Herrschaft in seiner ›Normalität‹ gegenüber.30 Eine objektive Grenze, bis zu der die ›Einfühlung‹ in die Situation der deutschen Bevölkerung stattfinden soll und kann, lässt sich nicht festlegen, hängt vielmehr vom subjektiven Standpunkt des Historikers ab – wie überhaupt die Beschäftigung mit der Alltagsgeschichte der Deutschen allgemein ein Problem ungelöst lassen muss: Die Alltagserfahrungen der Opfer finden in der Betonung der ›Normalität‹ des alltäglichen Lebens, wie sie von 28 29

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Friedländer, Reflections on the historicization (wie Anm. 24), S. 69. Ders.: Martin Broszat and the historicization of National Socialism. In: Ders., Memory, history and the extermination of the Jews of Europe (wie Anm. 24), S. 85– 101, hier: S. 91. Friedländer/Broszat, Um die ›Historisierung‹ des Nationalsozialismus (wie Anm. 26), S. 371.

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Broszat eingefordert wird, keinen Platz. Friedländer äußert daher starke Bedenken gegenüber der Forderung, der Nationalsozialismus solle – zum Zeitpunkt des Briefwechsels vier Jahrzehnte nach Kriegsende – vom historiographischen Standpunkt aus so behandelt werden wie jede andere Epoche.31 Aufgrund der zu großen zeitlichen Nähe ist ein ›neutraler‹ Umgang des Historikers mit dem Nationalsozialismus eine Illusion. Dem Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers, der generell für die Darstellung historischer Ereignisses gültig ist, kommt für die Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus durch die Generation der Zeitzeugen zudem besondere Bedeutung zu, da er zu einem unterschiedlichen Fokus in der Interpretation des ›Dritten Reiches‹ und insbesondere der ›Endlösung‹ führt: Während die Betrachtung des alltäglichen Lebens im Nationalsozialismus für deutsche Historiker von größter Bedeutung sein mag, ist dieser Aspekt für nichtdeutsche Historiker, die sich um die detailliertere Erforschung und Interpretation der politischen und ideologischen Aspekte des ›Dritten Reiches‹ bemühen, möglicherweise von weit geringerem Interesse.32 Die Zentralität, die den nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere der ›Endlösung‹ in diesem Kontext zukommt, hängt also nicht von den Fakten ab, sondern vielmehr von der Position des Historikers, seinem persönlichen Hintergrund.33 Die Bedeutung, die Friedländer dem Einfluss des persönlichen Hintergrunds sowohl jüdischer als auch nichtjüdischer Historiker in der Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus zuweist, lässt sich an seiner Auseinandersetzung mit Broszats Gegenüberstellung von ›rationaler‹ Geschichtsschreibung und ›mythischer‹ Erinnerung nachzeichnen. Broszat hatte zwischen der ›rationalen‹ (deutschen) Geschichtswissenschaft und den zur ›Geschichtsvergröberung‹ neigenden, ›mythischen‹ Erinnerungen der jüdischen Opfer unterschieden – eine Passage, die hier in ihrer vollen Länge zitiert sein soll: Deutsche Historiker und Geschichtsstudenten, das möchte ich meinem ›Plädoyer‹ expressis verbis hinzufügen, müssen verstehen, daß es von Opfern der NSVerfolgung und ihren Hinterbliebenen sogar als eine Einbuße ihres Anrechts auf ihre Form der Erinnerung empfunden werden kann, wenn eine nur noch wissenschaftlich operierende Zeitgeschichtsforschung mit akademischer Arroganz das Frage- und Begriffsmonopol in bezug auf die NS-Zeit beansprucht. Der Respekt vor den Opfern der Naziverbrechen gebietet, dieser mythischen Erinnerung Raum zu lassen. Hier gibt es auch kein Vorrecht der einen oder anderen Seite. Ob das Nebeneinander von wissenschaftlicher Einsicht und mythischer Erinnerung eine fruchtbare Spannung darstellt, hängt allerdings auch davon ab, ob letztere eigenständige Wahrheiten und produktive Bilder zu vermitteln vermag oder ob sie nur aufbaut auf einer mit der Zeit eingetretenen Vergröberung des Historischen, auf dem Vergessen der den Zeitgenossen noch vertrauten Einzelheiten und Imponderabilien der Geschichte. Zu den Problemen einer auf mehr rationales Begreifen ausgehenden jüngeren deutschen Historikergeneration gehört sicher auch, daß sie es mit einer solchen gegenläufigen, 31 32 33

Friedländer, Reflections on the historicization (wie Anm. 24), S. 74. Ebd., S. 80f. Ebd., S. 81.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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geschichtsvergröbernden Erinnerung unter den Geschädigten und Verfolgten des NS-Regimes und ihren Nachkommen zu tun hat.34

Friedländer dagegen betont, dass die persönliche Involviertheit keinesfalls nur Historiker betrifft, die der Opfergruppe zuzurechnen sind, sondern ebenso deutsche Wissenschaftler – zumal die engagiertesten Vertreter auf deutscher Seite nicht der nachfolgenden, sondern in den meisten Fällen der HJGeneration angehörten: Sie stellen dem rationalen Diskurs der deutschen Geschichtswissenschaft die mythische Erinnerung der Opfer gegenüber. Mißverstehen Sie mich nicht: Ich vermag mich gut in solche schwierigen Lagen einzufühlen, aber würden Sie mir nicht zustimmen, daß dieser deutsche Hintergrund bei der Darstellung der NS-Zeit ebenso viele Probleme bereitet wie in anderer Weise jener der Opfer? […] Warum sollen Ihrer Meinung nach Historiker, die zur Gruppe der Verfolger gehören, fähig sein, distanziert mit dieser Vergangenheit umzugehen, während die zur Gruppe der Opfer gehörenden das nicht können?35

Friedländer betont vielmehr die Unmöglichkeit einer distanzierten Neutralität jedes Historikers und bezeichnet den Übergang zu einer ›rein wissenschaftlichen‹, ›neutralen‹ Geschichtsschreibung als »erkenntnistheoretische Illusion«: Was ich deutlich zu machen versuche, ist der Umstand, daß wir unauflösbar verfangen sind in einem Netz aus persönlichen Rückerinnerungen, allgemeiner gesellschaftlicher Konditionierung, angeeignetem fachlichen Wissen – und ständiger Versuche kritischer Distanzierung. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, daß jeder Historiker schon definitionshalber mit solchen kontextuellen Problemen konfrontiert ist; bei begrenzten Forschungen vermag er sie einigermaßen zu bewältigen. Kommt es aber zur Gesamtdeutung, zumal in einem solch extremen Falle wie dem unseren, kann ich mir nicht recht vorstellen, wie unsere Generation sich dieses Kontextes einfach entledigen könnte […].36

Zwei für Friedländers folgende theoretische Überlegungen wesentliche Argumente klingen im Briefwechsel mit Broszat bereits an und werden im weiteren Verlauf seine wissenschaftliche Arbeit maßgeblich bestimmen: erstens die Integration der Erinnerungen von Zeitzeugen in die Geschichtsschreibung – und zweitens der Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine geschichtswissenschaftliche Arbeit.

3.1.2 Wahrnehmung historischer Ereignisse: Erinnerungen der Opfer – persönlicher Hintergrund des Historikers Seit Ende der 1980er Jahre rückt die Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Erinnerung und Geschichtsschreibung endgültig in den Mittelpunkt von 34 35 36

Friedländer/Broszat, Um die ›Historisierung‹ des Nationalsozialismus (wie Anm. 26), S. 343. Ebd., S. 347. Ebd., S. 367.

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3 Saul Friedländer

Friedländers theoretischen Essays. Im Folgenden werde ich zunächst Friedländers Konzept der Integration der Erinnerungen der Opfer in die Geschichtsschreibung darstellen, um anschließend seine Überlegungen zur Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers für seine wissenschaftliche Arbeit zu erläutern. 3.1.2.1 Integration persönlicher Erinnerungen in die Geschichtsschreibung Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und Erinnerung hat eine lange Tradition (vgl. hierzu die einleitenden Überlegungen in Kapitel 2.3.2). Die weitaus häufiger vertretene These ist dabei die einer eindeutigen Opposition zwischen ›Geschichte‹ und ›Erinnerung‹, wie sie sich etwa bei Halbwachs, Nora oder Yerushalmi findet. Geschichte, so Halbwachs, setzt da an, wo die Erinnerung durch den zeitlichen Abstand zum Geschehen verschwindet.37 Nora betont ebenfalls die Opposition von Erinnerung und Geschichtsschreibung und stellt dabei die lebendige Gegenwärtigkeit des Gedächtnisses der Rekonstruktivität der Geschichtsschreibung gegenüber.38 Auch Friedländer stellt den Unterschied zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung nicht in Frage: The previous remarks are not intended to imply that the distinction between public memory and historiography is nonexistent or unwarranted. Indeed the process involved in the molding of memory is, theoretically at least, antithetical to that involved in the writing of history.39

Die umfassende Interpretation vergangener Ereignisse jedoch – und in diesem Punkt unterscheidet sich Friedländers Position deutlich vom gängigen Diskurs – verlangt nach einer Verbindung beider Pole in einem Bereich, den Friedländer in Anlehnung an Amos Funkenstein als ›historisches Bewusstsein‹ (›historical consciousness‹) bezeichnet: However, it is my view that in the representation of a recent past or a past considered to be of cardinal relevance for the identity of a given group, such an opposition is far from clear-cut. […] [T]he representation of a recent and relevant past has to be imagined as a continuum: the constructs of public-collective memory find their place at one pole, and the ›dispassionate‹ historical inquiries at the opposite pole. The closer one moves to the middle ground, that is, to an attempt at general interpretation of the group’s past, the more the two areas – distinct in their extreme forms – become intertwined and interrelated. This middle ground may be defined as a specific category, that of ›historical consciousness‹. […] ›Historical consciousness‹ is the necessary conjunction of both extremes in any significant attempt at understanding, explicating, and representing the yesterday that affects the shaping of today.40 37 38 39 40

Halbwachs, La mémoire collective (wie Kap. 2, Anm. 23), S. 66. Nora (Hg.), Les lieux de mémoire (wie Kap. 2, Anm. 23), Bd I, S. 13. Saul Friedländer: Introduction. In: Ders., Memory, history and the extermination of the Jews of Europe (wie Anm. 24), S. vii–xiv, hier: S. viii. Ebd.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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Die Verbindung von Erinnerung und Geschichtsschreibung gilt, so Friedländer, für jedes zeitgeschichtliche Ereignis, das sich dadurch auszeichnet, dass Zeitzeugen noch am Leben sind.41 Eine Darstellung des Holocaust muss also die Analyse historischer Daten mit den Erinnerungen der Opfer verbinden – und dies nicht im Sinne einer Illustration der historischen Analyse durch die ›mythische Erinnerung‹ der Opfer, sondern aufgrund der Tatsache, dass ohne eine Integration dieser persönlichen Erinnerungen in die Geschichtsschreibung ein umfassendes Verständnis des Wirkens der nationalsozialistischen Gesetze und Maßnahmen – und damit letztendlich des Verlaufs der Geschichte – nicht möglich ist. So formuliert Friedländer in der Einleitung zu The years of persecution: In many works the implicit assumptions regarding the victims’ generalized hopelessness and passivity, or their inability to change the course of events leading to their extermination, have turned them into a static and abstract element of the historical background. It is too often forgotten that Nazi attitudes and policies cannot be fully assessed without knowledge of the lives and indeed of the feelings of the Jewish men, women, and children themselves. Here, therefore, at each stage in the description of the evolving Nazi policies and the attitudes of German and European societies as they impinge on the evolution of those policies, the fate, the attitudes, and sometimes the initiatives of the victims are given major importance. Indeed, their voices are essential if we are to attain an understanding of this past. For it is their voices that reveal what was known and what could be known; theirs were the only voices that conveyed both the clarity of insight and the total blindness of human beings confronted with an entirely new and utterly horrifying reality. The constant presence of the victims in this book, while historically essential in itself, is also meant to put the Nazis’ actions into full perspective.42

3.1.2.2 Persönlicher Hintergrund des Historikers Persönliche Erinnerung aber spielt nicht nur auf der Ebene der zu integrierenden Erinnerungen der Opfer eine entscheidende Rolle, sondern ist durch den persönlichen Hintergrund des Historikers bereits untrennbar in den Prozess der Geschichtsschreibung verwoben. Der Hintergrund des Historikers, so betont Friedländer, bestimmt dabei in entscheidendem Maße die Interpretation des Nationalsozialismus: Most historians of my generation, born on the eve of the Nazi era, recognize either explicitly or implicitly that plowing through the events of those years entails not only excavating and interpreting a collective past like any other, but also recovering and confronting decisive elements of our own lifes. This recognition does not generate any agreement among us about how to define the Nazi regime, how to interpret its internal dynamics, how to render adequately both its utter criminality and its utter ordinariness, or, for that matter, where and how to place it within a wider historical context.43 41 42 43

Ebd., S. vii. Friedländer, The years of persecution (wie Kap. 1, Anm. 1), S. 2. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 1.

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3 Saul Friedländer

Der Einfluss des persönlichen Hintergrunds gilt dabei – wie Friedländer bereits im Dialog mit Broszat ausgeführt hat – ebenso für deutsche Historiker. Die historiographische Darstellung von Ereignissen, die Teil der persönlichen Erinnerung des Historikers sind, stellt damit die größte Herausforderung dar. Gleichzeitig aber bietet die persönliche Involviertheit des Historikers die Möglichkeit zu Einsichten, die ohne sie nicht zugänglich wären.44 Friedländer hebt hervor, dass für seine Generation der Historiker ein ›rationaler‹ Zugang zum Schreiben der Geschichte des Nationalsozialismus ausgeschlossen ist – und knüpft mit dem psychoanalytischen Begriff der ›Übertragung‹ in seiner Bedeutung für die Geschichtsschreibung an die Überlegungen Dominick LaCapras an, der die subjektive Position des Historikers für seine Interpretation betont: [T]he extreme character of the events and the indeterminacy surrounding their historical significance create even for the professional historian a field of projections, of unconscious shapings and reshapings, of an authentic transferential situation.45

Komplexen Gefühlen wie Scham, Schuld und Selbsthass auf Seiten der Opfer stehen persönliche Verflechtungen auf Seiten der Täter gegenüber.46 Der Freudsche Begriff des ›Durcharbeitens‹ bedeutet für den Historiker, eine Balance zwischen den durchbrechenden Emotionen und der abwehrenden ›Abstumpfung‹ (›distancing numbness‹) zu finden. ›Abwehrreaktionen‹ lassen sich in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus immer wieder beobachten. Friedländer verweist in diesem Zusammenhang auf das Phänomen der ›Abspaltung‹ in der Diskussion um die Historisierung des Nationalsozialismus, die nicht integrierbare Aspekte kurzerhand aus der Diskussion verdrängte.47 Eine solche ›Abspaltung‹ führt sowohl auf Seiten der deutschen als auch der jüdischen Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus zu einer immer größeren Fragmentierung und Konzentration auf Einzelaspekte. Ein übergeordneter Deutungsrahmen des Holocaust fehlt.48 Der Historiker muss sich dieser Abwehrmechanismen bewusst werden und sie überwinden.

3.1.3 Gegen ›erlösendes Abschließen‹ Friedländer geht aber noch einen Schritt weiter und formuliert die Hauptaufgabe des Historikers als Verweigerung gegenüber einer abschließenden, inte44 45 46 47 48

Ebd. Ders.: Trauma and transference. In: Ders., Memory, history and the extermination of the Jews of Europe (wie Anm. 24), S. 117–137, hier: S. 123. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125f. »The ›Final Solution‹ in its epoch has not yet found its historian; and the problem cannot be reduced to a mere technical issue. […] For almost fifty years now, despite so much additional factual knowledge, we have faced surplus meaning or blankness with little interpretive or representational advance. This evaluation applies also to my own work.« – Ebd., S. 129f.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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grierenden Interpretation des Nationalsozialismus. Es gilt, eine Art der historiographischen Darstellung zu finden, die sich einem ›erlösenden Abschließen‹ (›redemptive closure‹) gegenüber den Aspekten des Holocaust verweigert, die sich nicht einordnen lassen: [I]t [working through, K. M.] entails, for the historian, the imperative of rendering as truthful as possible an account as documents and testimonials will allow, without giving in to the temptation of closure. Closure in this case would represent an obvious avoidance of what remains indeterminate, elusive, and opaque.49

Die ›unbestimmbaren‹, nicht integrierbaren Aspekte der ›Endlösung‹ sieht Friedländer verantwortlich für das trotz des zeitlichen Abstands und der Fülle wissenschaftlicher Untersuchungen weiterhin bestehende ›Unbehagen‹ (›uneasiness‹) des Historikers, sich einer abschließenden Interpretation des Nationalsozialismus zu nähern. Dieses ›Unbehagen‹ resultiert – so Friedländer – aus einer Blockade des Verständnisses gegenüber dem Charakter der nationalsozialistischen Verbrechen, die einen fundamentalen Tabubruch darstellen und sich dem rationalen Zugang verweigern.50 Die nationalsozialistische Massenvernichtung ist in diesem Sinne von Dan Diner treffend mit dem Begriff der ›Gegenrationalität‹ gefasst worden, die sich dem auf rationale Integration ausgerichteten, intuitiven menschlichen Verstehen versperren muss.51 Ein weiteres Problem für das menschliche Verstehen und damit für die wissenschaftliche Annäherung an den Nationalsozialismus stellt die Gleichzeitigkeit von Vernichtung und alltäglichem Leben des Großteils der deutschen Bevölkerung im und nach dem Krieg dar:

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Ebd., S. 131. Vgl. dazu ders.: »The very disappearance of these psychological (or sociobiological) barriers concerning the ›scientific‹ mass killing of other human beings represents, it seems to me, the first and foremost issue for which our usual categories of interpretation are insufficient«. – Ders.: The Shoah in present historical consciousness. In: Ders., Memory, history and the extermination of the Jews of Europe (wie Anm. 24), S. 42–63, hier: S. 49. Vgl. dazu Dan Diner: »Das Ereignis Auschwitz rührt an Schichten zivilisatorischer Gewißheit, die zu den Grundvoraussetzungen zwischenmenschlichen Verhaltens gehören. Die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeutet so etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation, deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetzt; ein utilitaristisch geprägtes Vertrauen, das eine gleichsam grundlose Massentötung, gar noch in Gestalt rationaler Organisation, schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung der Täter ausschließt. Ein sozial gewachsenes Vertrauen in Leben und Überleben bedingende gesellschaftliche Regelhaftigkeit wurden ins Gegenteil verkehrt. Regelhaft war die Massenvernichtung – Überleben hingegen dem bloßen Zufall geschuldet.« – Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1988 (Fischer; 4398), S. 7f.

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3 Saul Friedländer The total dissonance between the apocalypse that was and the normality that is makes adequate representation elusive, because the human imagination stumbles when faced with the fundamental contradiction of apocalypse within normality.52

Die Vernichtung der europäischen Juden stellt somit ein ›Grenzereignis‹ (›event at the limits‹) dar, das nicht undarstellbar ist, jedoch gängige Formen der Repräsentation herausfordert: The extermination of the Jews of Europe is as accessible to both representation and interpretation as any other historical event. But we are dealing with an event which tests our traditional conceptual and representational categories, an ›event at the limits‹.What turns the ›Final Solution‹ into an event at the limits is the very fact that it is the most radical form of genocide encountered in history: the willful, systematic, industrially organized, largely successful attempt totally to exterminate an entire human group within twentieth-century Western society.53

Einer Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, die sich diesem ›Grenzereignis‹ nähern will, müsste es darum gehen, den ›Überschuss‹ des Nationalsozialismus in ihre Struktur aufzunehmen, zu implizieren, dass eine letztendliche, alles abschließende, umfassende Deutung nicht existiert. Friedländer beschreibt die narrative Struktur einer solchen Geschichtsschreibung folgendermaßen: Wesentlich für die Vermeidung eines ›erlösenden Abschließens‹ (›redemptive closure‹) ist erstens die Integration der Erinnerungen der Opfer in die Geschichtsschreibung – und zweitens die Sichtbarkeit der Position des Historikers innerhalb der historiographischen Darstellung. Der selbstreflexive Kommentar des Historikers kann der Analyse vorangestellt oder in die Textstruktur eingeflochten werden: »The commentary should disrupt the facile linear progression of the narration, introduce alternative interpretations, question any partial conclusion, withstand the need for closure«.54 Sowohl die Integration der Erinnerungen der Überlebenden als auch der selbstreflexive Kommentar des Historikers haben also zum Ziel, die chronologische Repräsentation der historischen Ereignisse zu unterbrechen. Auf diese Weise ist es möglich, eine vermeintlich eindeutige Kausalverkettung der historischen Ereignisse zu hinterfragen und alternative Interpretationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Nur so lässt sich eine abschließende, allgemeine Gültigkeit beanspruchende Interpretation vermeiden. Eine Alltagsgeschichte aus Sicht der deutschen Bevölkerung würde durch die entgegengesetzten Erinnerungen der Opfer aufgebrochen und auf diese Weise relativiert. Die ›Juxtaposition‹ der Erinnerungen der deutschen Bevölkerung und der der Opfer macht die Integration der Alltagsgeschichte in die 52 53

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Friedländer, The Shoah in present historical consciousness (wie Anm. 50), S. 51. Ders.: Introduction. In: Ders. (Ed.): Probing the limits of representation. Nazism and the ›Final Solution‹. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1992, S. 1–21, hier: S. 2f. Ders., Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 132.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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Geschichtsschreibung, gegen die Friedländer im Briefwechsel mit Broszat zuvor Bedenken geäußert hatte, durchaus sinnvoll: In der Aneinanderreihung widersprüchlicher Deutungen verwehrt sich der historiographische Text so der Form eines ›Masternarrativs‹ und trägt gerade auf diese Weise zu einem tieferen Verständnis des Nationalsozialismus bei.

3.1.4 »Das Gesamtphänomen ist mir immer noch teilweise ein Rätsel«:55 Nazi Germany and the Jews Wie Friedländer seine theoretischen Überlegungen in der eigenen historiographischen Darstellung des Holocaust zusammenführt, lässt sich an seinem Hauptwerk Nazi Germany and the Jews nachvollziehen. Unmittelbarer Auslöser für die Entstehung der Bände war – so Friedländer – der Briefwechsel mit Broszat, insbesondere dessen Vorwurf, jüdischen Historikern wäre aufgrund des ›mythischen‹ Charakters ihrer Erinnerungen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung letztendlich nicht möglich.56 In der dem ersten Band vorangestellten Einleitung erläutert Friedländer seine Skepsis gegenüber globalen Interpretationsansätzen und hebt die besondere Rolle Hitlers innerhalb des nationalsozialistischen Systems hervor, ohne jedoch in rein ›intentionalistische‹ Deutungsansätze zurückzufallen.57 Bereits hier führt er zudem sein innovatives Konzept des ›Erlösungsantisemitismus‹ ein, der Hitler und seine Eliten leitete: [I]t is different, albeit derived, from other strands of anti-Jewish hatred that were common throughout Christian Europe, and different also from the ordinary brands of German and European racial anti-Semitism. It was this redemptive dimension, this synthesis of a murderous rage and an ›idealistic‹ goal, shared by the Nazi leader and the hard core of the party, that led to Hitler’s ultimate decision to exterminate the Jews.58

Mit seinem Konzept des ›Erlösungsantisemitismus‹ grenzt Friedländer sich entschieden von einem ›eliminatorischen Antisemitismus‹ im Sinne Daniel J. Goldhagens ab, der die deutsche Bevölkerung ergriff.59 55 56 57 58 59

Dieter Kassel: Das Gesamtphänomen ist mir ein Rätsel. Gespräch mit Saul Friedländer. Deutschlandradio Kultur, 10. Oktober 2006. Machtans, Interview mit Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton. Friedländer, The years of persecution (wie Kap. 1, Anm. 1), S. 3. Ebd. Zu Goldhagens Konzept eines ›eliminatorischen Antisemitismus‹ vgl. Daniel J. Goldhagen: Hitler’s willing executioners. New York: Alfred A. Knopf 1996, S. 80–128 (Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler 1996, S. 45–161). Friedländer grenzt sich folgendermaßen von Goldhagens Konzept eines ›eliminatorischen Antisemitismus‹ ab: »It seems, however, that the majority of Germans, although undoubtedly influenced by various forms of traditional anti-Semitism and easily accepting the segregation of the Jews, shied away from

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3 Saul Friedländer

Die entscheidendste Neuerung von Friedländers Geschichtsschreibung ist jedoch in der narrativen Struktur zu suchen, die beide Bände bestimmt: Durch den vorangestellten selbstreflexiven Kommentar sowie die Integration der Stimmen der Opfer, die in Form von mündlichen Erinnerungen, Briefen und Zeitungsausschnitten die Darstellung der nationalsozialistischen Maßnahmen und Gesetze immer wieder unterbrechen, wird einer vermeintlich abgeschlossenen Deutung des Holocaust in Form eines ›Masternarrativs‹ entgegengewirkt. Diese Brechungen ermöglichen es nicht nur, den Blick zu schärfen für die unterschiedliche, gegensätzliche Wahrnehmung der Ereignisse durch die Opfer und damit ihren Stimmen Raum zu geben. Das Verfahren der ›Juxtaposition‹ von historischen Daten und Reaktionen der Opfer verfolgt vielmehr darüber hinaus das Ziel, ein ›Gefühl der Entfremdung‹ zu erzeugen, das der Wahrnehmung der Opfer im ›Dritten Reich‹ entspricht: That sense of estrangement seems to me to reflect the perception of the hapless victims of the regime, at least during the thirties, of a reality both absurd and ominous, of a world altogether grotesque and chilling under the veneer of an even more chilling normality.60

Den Wechsel der Analyseebenen behält Friedländer auch im zweiten Band bei. Dabei ist die Herausforderung an die Darstellung im zweiten Band noch größer – muss sich doch mit dem Kriegsbeginn die Analyse der Judenverfolgung auf den gesamten europäischen Raum ausweiten. Als Ordnungsprinzip dient Friedländer die chronologische Abfolge der Ereignisse, die er parallel in den verschiedenen Ländern verfolgt. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Kontrast im Umgang mit den Juden zwischen den einzelnen Ländern hervorzuheben. Unterbrochen wird auch im zweiten Band die Darstellung der nationalsozialistischen Maßnahmen durch die Stimmern der Täter, Zuschauer und vor allem der Opfer. Die Auswahl und Bandbreite der Zeugnisse, deren Verfasser die unterschiedlichsten persönlichen Hintergründe hatten, begründet Friedländer in der Einleitung folgendermaßen: »These diaries and letters were written by Jews of all European countries, all walks of life, all age groups, either living under direct German domination or within the wider sphere of persecution«.61 Dabei unterscheiden sich die Verfasser der Tagebücher, denen Friedländer durch den gesamten Band folgt, nicht nur durch ihre Herkunft und ihre politischen und religiösen Einstellungen, sondern auch durch den Ton, der ihre Aufzeichnungen charakterisiert: »Whereas Klemperer’s prose had the light ironic touch of his revered Voltaire, Kaplan’s diary writing [...] carried something of the emphatic style of biblical Hebrew«.62 Die Notwendigkeit

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widespread violence against them, urging neither their expulsion from the Reich nor their physical annihilation.« – Friedländer, The years of persecution (wie Kap. 1, Anm. 1), S. 4. Ebd., S. 5. Ders., The years of extermination (wie Kap. 1, Anm. 1), S. xxiv. Ebd., S. 63.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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des kritischen Umgangs mit den Tagebuchauszügen hebt Friedländer explizit hervor – ohne jedoch die Skepsis von Historikern wie Raul Hilberg oder Peter Novick zu teilen: Of course the diaries have to be used with the same critical attention as any other document, especially if they were published after the war by the surviving author or by surviving family members. Yet, as a source for the history of the Jewish life during the years of persecution and extermination, they remain crucial and invaluable testimonies.63

Nach Friedländers eigenen Aussagen liegt die fast ausschließliche Beschränkung auf Tagebücher in seinem Anliegen begründet, solche Zeugnisse zu wählen, die durch den geringen zeitlichen Abstand zum Geschehen eine größtmögliche Authentizität aufweisen, um von vornherein dem Vorwurf der ›Subjektivität‹ der Quellen im Sinne einer ›mythischen Erinnerung‹ vorzubeugen.64 Wie im ersten Band illustrieren die Stimmen der Opfer deren Wahrnehmung, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt – eine Wahrnehmung, die durch die Unmittelbarkeit der Tagebucheinträge und durch die Tatsache, dass ihren Aufzeichnungen kontinuierlich gefolgt wird, für den Rezipienten in hohem Maße nachvollziehbar wird. In der Einleitung zum zweiten Band formuliert Friedländer außerdem noch deutlicher das Ziel der Integration der Stimmen der Opfer. Es geht nicht nur darum, die Wahrnehmung der Opfer nachvollziehbar zu machen, sondern außerdem darum, einer ›objektiven‹, wissenschaftlich-distanzierten Geschichtsschreibung entgegenzuwirken – womit Friedländer die zentrale Prämisse seines historiographischen Ansatzes explizit hervorhebt: Up to this point the individual voice has been mainly perceived as a trace, a trace left by the Jews that bears witness to and confirms and illustrates their fate. But in the following chapters the voices of diarists will have a further role as well. By its very nature, by dint of its humanness and freedom, an individual voice suddenly arising in the course of an ordinary historical narrative of events such as those presented here can tear through seamless interpretation and pierce that (mostly involuntary) smugness of scholarly detachment and ›objectivity‹. Such a disruptive function would hardly be necessary in a history of the price of wheat on the eve of the French Revolution, but it is essential to the historical representation of mass extermination and other sequences of mass suffering that ›business as usual historiography‹ necessarily domesticates and ›flattens‹.65

Die Stimmen der Opfer – so verdeutlicht das Zitat – dienen nicht der Illustration der dargestellten Fakten, sondern sind um ihrer selbst Willen in die Darstellung der Fakten integriert.66 63 64 65 66

Ebd., S. xxivf. Machtans, Interview mit Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton. Friedländer, The years of extermination (wie Kap. 1, Anm. 1), S. xxvf. Dabei ist Tony Kushner zuzustimmen, dass auch Friedländers Integration der Tagebuchauszüge immer nur Ausschnitte präsentieren und somit letztendlich die Gesamtstruktur der einzelnen Tagebücher nicht berücksichtigen kann: »Yet by main-

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3 Saul Friedländer

In wiefern auch der persönliche Hintergrund des Lesers von Bedeutung ist, hebt Friedländer in der Einleitung zu The years of extermination erstmals explizit hervor: »Each of us perceives the impact of the individual voice differently, and each person is differently challenged by the unexpected ›cries and whispers‹ that time and again compel us to stop in our tracks [...]«.67 Indem Friedländer weitgehend auf eine Kommentierung der Tagebuchauszüge verzichtet, lässt er diesen unterschiedlichen Reaktionen Raum und evoziert auf diese Weise durch die narrative Struktur auch auf der Ebene des Rezipienten die Abhängigkeit der Wahrnehmung historischer Ereignisse vom persönlichen Hintergrund. Der ständige Wechsel der Darstellung von Gesetzen und Maßnahmen der politischen Führung, ihrer Umsetzung durch die Täter und den Reaktionen der Opfer ermöglicht es, Einsicht zu geben in die Organisation des nationalsozialistischen Systems, aber auch in die individuellen Entscheidungsrahmen der Täter und die Auswirkungen dieser Entscheidungen auf das persönliche Leben der Opfer. Gleichzeitig wird durch die Betonung des Handlungsspielraums der Täter die Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen in den Vordergrund gestellt und so der Wahrnehmung des Nationalsozialismus als entindividualisierter, bürokratischer Maschinerie vorgebeugt.68 Dabei ist es gerade der nüchterne Ton der Beschreibung der nationalsozialistischen Maßnahmen, der in eklatantem Kontrast zu den Stimmen der Opfer steht. Durch diesen Kontrast erhält die Darstellung besonderes emotionales Gewicht, lässt den Leser – durch die Beschreibung oft alltäglicher Grausamkeiten – verstört zurück und versperrt sich so einer Einebnung des Gefühls der Fassungslosigkeit in das historische Narrativ. Friedländer äußert sich hierzu in der Einleitung zum zweiten Band folgendermaßen: »In this book I wish to offer a thorough historical study of the extermination of the Jews of Europe, without eliminating or domesticating that initial sense of disbelief«.69

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taining throughout a strong emphasis on chronology, powered by a sensitive and nuanced intentionalism, the use of testimony is still kept in relative harness. [...] [I]ts disruptive function is still restrained by chronology. One gets to know the favoured diarists well, especially the remarkable Victor Klemperer. But we do not fully get to grips with their own chronologies and imperatives to write and record. Their silences, for example, are almost inevitably passed over, and the diaries only brought into use when they relate to the wider narrative.« – Tony Kushner: Friedlander and the use of testimony. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf der Konferenz »Nazi Germany and the Jews«, 14.–15. Juni 2008 in Brighton, S. 8. – Eine Gesamtdarstellung der Vernichtung der europäischen Juden kann jedoch meines Erachtens kaum mehr leisten als dies. Eine sicherlich wünschenswerte Entwicklung innerhalb der Geschichtsschreibung des Holocaust, die formale Gestaltungskriterien der Tagebücher im Detail berücksichtigt, wäre – so auch Kushner – nur in der Konzentration auf wenige Quellen zu leisten. Friedländer, The years of extermination (wie Kap. 1, Anm. 1), S. xxvi. Vgl. dazu Reemtsma, Laudatio für Saul Friedländer (wie Kap. 1, Anm. 2), S. 16–19. Friedländer, The years of extermination (wie Kap. 1, Anm. 1), S. xxvi.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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Durch die narrative Struktur seines Hauptwerks gelingt es Friedländer, gleichzeitig eine Interpretation der geschichtlichen Ereignisse zu geben und seine theoretischen Prämissen der Vermeidung eines ›erlösenden Abschließens‹ zu illustrieren. So lässt sich Friedländers Opus Magnum in seiner Integration der militärischen, bürokratischen und ideologischen Aspekte nicht nur inhaltlich als »summa of Holocaust research of the last generation« (Alon Confino) bezeichnen, sondern bezieht seine Wirkung vor allem aus der Tatsache, dass es gleichzeitig die Unmöglichkeit einer abschließenden, ›objektiven‹ Darstellung durch seine Struktur evoziert.70 Anders formuliert: Friedländers Opus Magnum ist gleichzeitig der Versuch, sich den historischen Fakten so weit wie möglich zu nähern, und Aussage über die Grenzen einer solchen Annäherung und Darstellungbarkeit – »a book built on its own contradiction: describing the past as history and setting at the same time the limits to that describing«.71

3.1.5 Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion: Friedländers Abgrenzung von postmodernen Diskursen Dennoch: Auch wenn die Integration persönlicher Erinnerungen und des selbstreflexiven Kommentars des Historikers in die Geschichtsschreibung darauf abzielen, einem ›erlösenden Abschließen‹ in Form eines gültigen ›Masternarrativs‹ entgegenzuwirken, ist es selbst einer solch neuen Form historiographischer Darstellung – so Friedländer – nicht möglich, sich den unbewussten ›Tiefenerinnerungen‹ (›deep memory‹) der Opfer anzunähern. Friedländer zitiert eine Passage aus Art Spiegelmans Comic Maus, die das unvermittelte Wiederauftauchen solcher ›Tiefenerinnerung‹ abbildet und dadurch das Scheitern illustriert, die Erfahrung der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung in ein kohärentes Selbstnarrativ zu integrieren: ›It is enough stories for today, Richieu‹, says Art Spiegelman’s survivor father, in the very last line of the second book of Maus: the dying father is adressing his son

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Vgl. hierzu auch Alon Confino: »This other story is able, first, to capture the elusive historical sensation of disbelief because disbelief, too, was part of the way things were. The historiographical body of work largely banished from the story of the Holocaust the strangenesses of the period instead of integrating them into the narration of how things were. [...] [M]y point is that the historian ought to elucidate the strangeness of the past, not to attempt to overcome it, and this is exactly what Friedländer does. By telling this other story, The Years of Extermination is able, second, to bring the problems of Holocaust representation into the historical narrative.« – Alon Confino: Narrative form and historical sensation in The years of extermination. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf der Konferenz »Nazi Germany and the Jews«, 14.–15. Juni 2008 in Brighton, S. 2. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 4.

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3 Saul Friedländer Artie with the name of the younger brother, Richieu, who died in the Holocaust some forty-five years before. Deep memory.72

Hervorragendes Beispiel für die Verweigerung gegenüber einem ›erlösenden Abschließen‹ ist – so Friedländer weiter – Claude Lanzmanns Film Shoah (1985):73 In no recent work of art is this lack of closure as obvious as in Claude Lanzmann’s film Shoah. Each individual testimony remains a story unresolved. The overall narration is neither linear nor circular; it is a spiral recoiling upon itself, then moving into new territory through succession of forays.74

Friedländer betont, dass der Zugang zur Vergangenheit immer nur durch den stets gegenwärtigen Akt des Erinnerns möglich ist, der durch Lanzmanns Darstellungsverfahren in den Blick rückt: A common denominator appears: the exclusion of straight, documentary realism, but the use of some sort of allusive or distanced realism. Reality is there, in its starkness, but perceived through a filter: that of memory (distance in time), that of spatial displacement, that of some sort of narrative margin which leaves the unsayable unsaid.75

Nur durch narrative Formen, die sich der Integration des Holocaust in gängige Erzählmuster versperren und sich damit einem letztendlichen Abschließen verweigern, ist es möglich, sich einem Verständnis der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung anzunähern. Dies gilt – so Friedländer – sowohl für die künstlerische als auch für die historiographische Darstellung des Holocaust. Autobiographisches sowie kollektives Erinnern jedoch zielen letztendlich immer darauf ab, ein kohärentes, kontinuierliches Selbst zu konstruieren und neue Erfahrungen in bereits bestehende Deutungsmuster zu integrieren. Trotz seiner Überlegungen zu einer Geschichtsschreibung, die sich einer abschließenden Deutung verweigert, formuliert Friedländer deshalb Zweifel daran, dass die ›Tiefenerinnerung‹ der Opfer auch nach dem Verschwinden der letzten Zeitzeugen weiter bestehen wird. ›Tiefenerinnerung‹ ist, so Friedländer in Anlehnung an Lawrence Langer, auf die Jahre des Holocaust konzentriert und unterscheidet sich damit von der ›gewöhnlichen Erinnerung‹ (›common memory‹) der Nachkriegszeit, die immer bestrebt ist, das Ich als kohärente Einheit wiederherzustellen.76 Mit der Zeit, so fürchtet Friedländer, 72

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Friedländer, Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 119. – Vgl. dazu Art Spiegelman: Maus II. A survivor’s tale. And here my troubles began. New York: Pantheon Books 1991. Es existiert eine Textversion des Films: Claude Lanzmann: Shoah. The complete text of the acclaimed Holocaust film. New York: Da Capo Press 1995. Friedländer, Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 121f. Ders., Introduction. In: Ders. (Ed.), Probing the limits (wie Anm. 53), S. 17. Hervorhebung im Original. »Individual common memory, as well as collective memory, tends to restore or establish coherence, closure, and possibly a redemptive stance, notwithstanding the

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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wird es zu einer Integration des ›Grenzereignisses‹ kommen, werden Widersprüche aufgehoben, integriert werden: »Thus, if we make allowance for some sort of ritualized form of commemoration, already in place, we may foresee, in the public domain, a tendency toward closure without resolution, but closure nonetheless«.77 Die ›Tiefenerinnerung‹ der Opfer lässt sich, so Friedländer im Verweis auf Maurice Blanchot, vielleicht durch keine narrative Form abbilden – weder durch innovative Formen historiographischer Darstellung noch durch experimentelle Formen künstlerischer Annäherung: However, I would venture to suggest that even if new forms of historical narrative were to develop, or new modes of representation, and even if literature and art were to probe the past from unexpected vantage points, the opaqueness of some ›deep memory‹ would probably not be dispelled. ›Working through‹ may ultimately signify, in Maurice Blanchot’s words, ›to keep watch over absent meaning‹.78

Sprache mit ihrem ›erlösenden‹, integrierenden Charakter mag generell ein unzulängliches Instrument sein, um das Unerklärliche auszudrücken, und verweist damit jede Form narrativer Darstellung in ihre Grenzen. Friedländer zitiert in diesem Zusammenhang Jean-François Lyotards Metapher von Auschwitz als einem Erdbeben, das alle Messinstrumente zerstört hat: ›The silence that surrounds the phrase ›Auschwitz was the extermination camp‹ is not a state of mind (état d’âme), it is a sign that something remains to be phrased which is not, something which is not determined‹.79

So sieht Friedländer auf der einen Seite in der Offenheit postmoderner Ansätze, insbesondere in ihrer Betonung des Undurchsichtigen, Unverständlichen einen Zugang zum Phänomen des Nationalsozialismus, der traditionelle historische Narrative in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit herausfordert: An argument could obviously be made for the necessity of ideological ambiguity and aesthetic experimentation in the face of events which seem to escape usual categories of representation. […] [T]he very openness of postmodernism to what cannot yet be formulated in decisive statements, but merely sensed, directly relates to who-

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resistance of deep memory at the individual level. The question remains whether at the collective level as well an event such as the Shoah may, after all the survivors have disappeared, leave traces of a deep memory beyond individual recall, which will defy any attempts to give it meaning.« – Ders., Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 119. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. – Friedländer bezieht sich hier auf die englische Ausgabe von Maurice Blanchots L’écriture du désastre. – Maurice Blanchot: The writing of the disaster. Lincoln: University of Nebraska Press 1986 (orig.: L’écriture du désastre. Paris: Gallimard 1980), S. 42. Friedländer, Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 131. Hervorhebung im Original.

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3 Saul Friedländer ever considers that even the most precise historical renditions of the Shoah contain an opaqueness at the core which confronts traditional historical narrative.80

In der Betonung der Abhängigkeit der Wahrnehmung historischer Ereignisse vom jeweiligen Betrachter und in der daraus resultierenden Verweigerung gegenüber einem die Unvereinbarkeit der Perspektiven von Opfern und Tätern auflösenden ›Masternarrativ‹ ist Friedländers Nähe zu postmodernen Denkern wie Lyotard nicht zu übersehen.81 Auf der anderen Seite ist es jedoch gerade diese Offenheit gegenüber einer Vielfalt konkurrierender Narrative, die postmoderne Ansätze für Friedländer problematisch machen: [I]t is precisely the ›Final Solution‹ which allows postmodernist thinking to question the validity of any totalizing view of history, of any reference to a definable metadiscourse, thus opening the way for a multiplicity of equally valid approaches. This very multiplicity, however, may lead to any aesthetic fantasy and once again runs counter to the need for establishing a stable truth as far as this past is concerned.82

Hatte er die Grenzen des postmodernen Diskurses im Rahmen künstlerischer Darstellung bereits in Reflets du nazisme deutlich formuliert, setzt er sich in der Einleitung zu Probing the limits of representation mit den Grenzen der postmodernen Ästhetik innerhalb der Geschichtsschreibung auseinander. Für Friedländer bestehen die historischen Fakten außerhalb ihrer Darstellung. Ohne eine Unterscheidung zwischen ›Wirklichkeit‹ (›reality‹) und ›Wahrheit‹ (›truth‹), so Friedländer, gäbe es keine Unterscheidung zwischen fiktionalen Texten und Geschichtsschreibung: [N]otwithstanding the importance one may attach to postmodern attempts at confronting what escapes, at least in part, established historical and artistic categories of representation, the equivocation of postmodernism concerning ›reality‹ and ›truth‹ – that is, ultimately, its fundamental relativism – confronts any discourse about Nazism and the Shoah with considerable difficulties. […] How, indeed, can one not wish to ascertain the distinction between fiction and history when extreme events such as the Shoah are concerned?83 80 81

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Ders., Introduction. In: Ders. (Ed.), Probing the limits (wie Anm. 53), S. 4f. In der Betonung des ›Opaquen‹, das das menschliche Verstehen übersteigt, sieht Eaglestone zu Recht die Nähe Friedländers zu Derrida: »The intellectual trajectory of Friedländer’s career makes his work closer to Derridian deconstruction than he suggests. Deconstruction concerns the relationship between what can be discussed, the text, and the ›exorbitant‹ which lies outside the text but forms its context. In Friedländer’s work, this exorbitant is the ›Final Solution‹ and the binding memory of it [...].« – Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3), S. 191. Friedländer, Introduction. In: Ders. (Ed.), Probing the limits (wie Anm. 53), S. 5. Ebd., S. 20. – Analog dazu betont er in »Trauma and transference«: »Any deconstructionist approach would necessarily demand a primacy of the rhetorical dimension in the analysis of the historical text and the impossibility of establishing any direct reference to some aspects at least of the concrete reality that we call the Shoah. Moreover, it would exclude any ongoing quest for a stable historical representation.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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Dies impliziert – wie die obigen Beispiele gezeigt haben – nicht, dass Friedländer fiktionalen Texten ihre Referenz auf die Wirklichkeit abspricht, im Gegenteil: Solche Werke können dem ›opaquen‹ Charakter der Judenvernichtung näher kommen als faktuale Texte. Es bedeutet allerdings – und dies ist für Friedländers Überlegungen entscheidend – dass er die Grenze zwischen Fakten und Fiktion explizit aufrecht erhält. Friedländer bezieht sich auf die Überlegungen Hayden Whites, die zwar die Existenz historischer Fakten nicht in Frage stellen, in der Betonung der narrativen Verfasstheit der Darstellung historischer Ereignisse jedoch kein objektives Kriterium außerhalb des sprachlichen Diskurses gelten lassen, das darüber entscheidet, welches Narrativ ›wahrer‹ ist als ein anderes.84 Für Friedländer dagegen ist es die Bedeutung historischer Ereignisse selbst, die die sprachliche Darstellung bestimmt – und nicht die sprachliche Form, die die Bedeutung der Ereignisse erst konstruiert: White’s theses are, in my opinion, open to additional critique and, all in all, appear untenable when their corollaries are considered within the present context. For instance, what would have happened if the Nazis had won the war? No doubt there would have been a plethora of pastoral emplotments of life in the Third Reich and of comic emplotments of the disappearance of its victims, mainly the Jews. How, in this case, would White (who clearly rejects any revisionist version of the Holocaust) define an epistemological criterion for refuting a comic interpretation of these events, without using any reference to ›political effectiveness‹? […] [I]t is the reality and significance of modern catastrophes that generate the search for a new voice and not the use of a specific voice which constructs the significance of these catastrophes.85

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85

Obviously, the achievement of a total stability of this history and of some totalizing interpretation is neither possible nor desirable. However, coming closer to significant historical linkage seems to me to be necessary [...]«. – Ders., Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 131. Vgl. ders., Introduction. In: Ders. (Ed.), Probing the limits (wie Anm. 53), S. 6. – Auch für Hayden White existieren allerdings Entscheidungskriterien dafür, welches historische Narrativ ›angemessen‹ ist – diese jedoch basieren auf moralischen und ästhetischen Kriterien. – Vgl. hierzu Hayden White: Metahistory. London: Johns Hopkins University Press 1973, S. 433. – Vgl. auch Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3), S. 169. – Vgl. außerdem folgende Arbeiten von White: Ders.: Tropics of discourse. Essays in cultural criticism. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1978 (Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: KlettKotta 1986 [Sprache und Geschichte; 10]) – Ders.: The content of the form. Narrative discourse and historical representation. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1987 (Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1990 [Fischer; 7417]. – Ders.: Historical emplotment and the problem of truth. In: Friedländer (Ed.), Probing the limits (wie Anm. 53), S. 37–53. Friedländer, Introduction. In: Ders. (Ed.), Probing the limits (wie Anm. 53), S. 10. Hervorhebung im Original.

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So steht Friedländers historiographischer Ansatz permanent im Spannungsfeld zwischen dem Anliegen einerseits, eine alles integrierende, abschließende Deutung des Nationalsozialismus zu vermeiden, um auf diese Weise einer ›tieferen Wahrheit‹ Raum zu geben – und der Notwendigkeit andererseits, sich den historischen Ereignissen in der wissenschaftlichen Darstellung so weit wie möglich zu nähern. Obwohl Friedländer selbst eine der innovativsten Formen historiographischer Darstellung des Holocaust geschaffen hat, ist er sich des Dilemmas, von dem jede Repräsentation des Holocaust betroffen ist, eindeutig bewusst: Auf der einen Seite integriert Sprache das Neue in immer schon bestehende Formen und Kategorien. Auf diese Weise löst sich der ›opaque‹ Charakter, durch den sich die ›Endlösung‹ von anderen Verbrechen unterscheidet, auf. Auf der anderen Seite bleibt trotz der Unangemessenheit traditioneller Formen der Geschichtsschreibung die Notwendigkeit bestehen, ein zuverlässiges historisches Narrativ zu schaffen. Dieses Spannungsfeld sei abschließend in Friedländers eigenen Worten beschrieben: [O]n the one hand, our traditional categories of conceptualization and representation may well be insufficient, our language itself problematic. On the other hand, in the face of these events we feel the need of some stable narration; a boundless field of possible discourses raises the issue of limits with particular stringency.86

3.1.6 Ein ›deutsches Buch‹? Deutsche Erstausgabe und öffentliche Präsentation von Die Jahre der Vernichtung Der zweite Band von Friedländers Opus Magnum Das Dritte Reich und die Juden ist, wie einleitend erwähnt, zwar auf Englisch verfasst, jedoch zunächst in seiner deutschen Übersetzung veröffentlicht worden – eine ungewöhnliche Tatsache, die wie in Klügers Fall die Frage von Übersetzung und Adressatenkreis explizit in den Blick rückt. Anders als Klüger, die ihren autobiographischen Text selber in der deutschen ›Muttersprache‹ verfasst hat, hat Friedländer Die Jahre der Vernichtung wie auch die Mehrzahl seiner übrigen wissenschaftlichen Abhandlungen jedoch auf Englisch geschrieben. Die Erstveröffentlichung auf Deutsch ist dabei der schnellen Arbeit des Beck-Verlags zu verdanken, der den Band zur Frankfurter Buchmesse veröffentlichen wollte und aus diesem Grund sogar die Recherche nach den – von Friedländer übersetzten – Originaldokumenten übernahm.87 Von einer beabsichtigten ›Rückkehr in die deutsche Sprache‹ lässt sich also bei Friedländer nicht im selben Sinne sprechen wie bei Klüger. Und doch stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Übersetzung ins Deutsche im Hinblick auf den Rezipientenkreis in 86

87

Ebd., S. 5. – Vgl hierzu Eaglestone: »Again here, the idea that a ›historicalscientific‹ truth (historical linkages) and a different form of truth, as a disruptive disclosure, emerges.« – Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3), S. 187. Machtans, Interview mit Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton.

3.1 Friedländers historiographischer Ansatz

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besonderem Maße: Indem Friedländers zweiter Band zunächst in seiner deutschen Übersetzung veröffentlicht wurde, wendet er sich an das deutsche Lesepublikum in dessen eigener Sprache. Analog zu Klügers autobiographischem Text ließe sich Friedländers Werk in diesem Sinne ebenfalls als ›deutsches Buch‹ bezeichnen: als Angebot und Herausforderung zur Auseinandersetzung an die Deutschen. Diese Tatsache wird zudem durch die zahlreichen Lesungen und Interviews unterstützt, die Friedländer im Rahmen der Veröffentlichung des zweiten Bandes gab – auf Deutsch. Die Wirkung des zweiten Bandes in Deutschland muss außerdem nunmehr im Kontext der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Friedländer gesehen werden. Bezieht man Friedländers Dankesrede in die Betrachtung mit ein, so wird deutlich, dass sich sein Hauptwerk zwar in erster Linie an die Deutschen wendet – die Personen jedoch, mit denen sein Lebenswerk in permanenter Auseinandersetzung steht, seine in Auschwitz ermordeten Eltern sind. Die Dankesrede, die Friedländer am 15. Oktober 2007 in der Paulskirche hielt, war keine ›Rede‹ im üblichen Sinne. Vielmehr ließ Friedländer seine Eltern selbst zu Wort kommen, indem er Ausschnitte aus ihren letzten Briefen zitierte. Indem Friedländer in der Paulskirche seine Eltern und Verwandten zum deutschen Publikum sprechen ließ, erzielte er nicht nur eine außerordentliche emotionale Wirkung bei den Zuhörern, sondern evozierte darüber hinaus die Prämissen seiner wissenschaftlichen Annäherung an den Holocaust, ohne diese explizit zu benennen: Gerade durch den Verzicht auf theoretische Überlegungen und die Beschränkung auf die Briefe der Familienangehörigen tritt die Aussagekraft der Stimmen der Opfer hervor. Über das Gewicht dieser Stimmen hinaus ist es jedoch vor allem die Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers für seine wissenschaftliche Analyse, die Friedländer mit dem besonderen Format seiner Dankesrede vor Augen führte: Die emotionale Betroffenheit, die die Briefausschnitte bei den Zuhörern in der Paulskirche auslöste, vermag einen Bruchteil der Erschütterung erahnen lassen, die der Verlust für das damalige Kind bedeutete – ein Verlust, der, wie Friedländer es selber formuliert, für ihn »absolut prägend war, lebenslang«.88 Diese persönlichste Geschichte, die bis in die engsten Familienstrukturen hineinreicht – so verdeutlicht Friedländers ›Rede‹ in der Paulskirche –, ist es, die bis in die Gegenwart seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und speziell der Judenverfolgung bestimmt.

3.1.7 Zusammenfassung Im Mittelpunkt von Friedländers wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Holocaust stehen folgende Annahmen: Die Interpretation historischer Ereignisse besteht niemals unabhängig vom persönlichen Kontext des Histori88

Saul Friedländer: ›Der Judenhaß steckt tiefer, als man denkt‹. Gespräch mit Martin Doerry. In: Ders., Nachdenken über den Holocaust (wie Anm. 1), S. 168–179, hier: S. 172.

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kers. Eine objektive, allgemeingültige Deutung des Holocaust kann damit nicht existieren. Friedländer verdeutlicht die Kontextabhängigkeit der Interpretation historischer Ereignisse in seiner eigenen Geschichtsschreibung durch das Voranstellen eines Kommentars, in dem er seine eigenen Grundannahmen offen legt. Die Abhängigkeit der Deutung historischer Ereignisse vom Kontext des Betrachters hebt Friedländer zusätzlich durch den Wechsel der Analyseebenen von der Darstellung nationalsozialistischer Maßnahmen und Gesetze über die Ebene der Täter zu den Auswirkungen auf das Leben der Opfer hervor. Dabei kommt den Erinnerungen der Opfer ein entscheidender Stellenwert zu. Trotz der breiten Kenntnis der historischen Fakten des Holocaust verbleibt ein ›Überschuss‹, der sich nicht mit rationalen Kriterien fassen lässt. Eine Darstellung des Holocaust – und dies gilt sowohl für die Geschichtsschreibung als auch die künstlerische Annäherung – muss diesen ›Überschuss‹ in die Struktur aufnehmen, um so ein ›erlösendes Abschließen‹ (›redemptive closure‹) zu verhindern. Innerhalb von Friedländers eigener Geschichtsschreibung wird diesem ›erlösenden Abschließen‹ durch die Integration der Erinnerungen der Opfer und des selbstreflexiven Kommentars des Historikers entgegengewirkt. Obwohl Friedländer sich gegen eine abschließende, alles integrierende Deutung des Holocaust ausspricht, geht er dennoch nicht so weit, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion aufzulösen. Historische ›Wirklichkeit‹ besteht außerhalb des historischen Narrativs und wird von ihm nicht erst erzeugt. Friedländers theoretische Überlegungen zur Darstellung des Holocaust stehen damit im Spannungsfeld zwischen dem Anliegen einerseits, die nicht integrierbaren Anteile des Holocaust durch die Stuktur zu evozieren – und der Notwendigkeit, sich dem historischen Geschehen dennoch so weit wie möglich zu nähern. Vor diesem Hintergrund werde ich im nun folgenden Teil Friedländers autobiographischen Text analysieren. Folgende Fragen werden dabei meine Analyse leiten: 1. Wie manifestiert sich Friedländers Bestehen auf der Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion durch die Wahl des Genres der Autobiographie? Anders formuliert: Mit welchen literarischen Mitteln wird der autobiographische Text als faktualer Text gekennzeichnet, der auf eine außerhalb von ihm bestehende Referenzebene verweist? 2. Auf welche Weise wird durch die Textstruktur reflektiert, dass die persönliche Vergangenheit immer nur über den Akt der Erinnerung zugänglich ist – das Einholen der Vergangenheit also immer vom gegenwärtigen Standpunkt des Erinnerers abhängig und damit permanent fortschreibbar ist, eine ›objektive‹, abgeschlossene Deutung der persönlichen Lebensgeschichte – analog zur Geschichtsschreibung – also nicht existieren kann? 3. Auf welche Weise fließen Friedländers theoretische Annahmen in den autobiographischen Text ein bzw. werden hier bereits angedacht?

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

3.2

Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

3.2.1

Einleitung

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3.2.1.1 Textgenese. Publikationsgeschichte Friedländers autobiographischer Text schließt im Kontext seines wissenschaftlichen Werkes an eine Entwicklungslinie an, die – von der bereits in Pius XII zwar nicht formulierten, jedoch deutlich durch die persönliche Geschichte motivierten Beschäftigung mit der Rolle der katholischen Kirche über Kurt Gerstein bis zu Histoire et psychoanalyse – das immer größer werdende Bedürfnis erkennen lässt, sich der persönlichen Vergangenheit zuzuwenden.89 Der autobiographische Text entstand vor Friedländers Briefwechsel mit Broszat und damit vor seiner eingehenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Erinnerung und Geschichtsschreibung.90 Der Versuch, seine Erinnerungen an die Kindheit im Exil zu verschriftlichen, schlug – so die Aussage Friedländers – jahrelang fehl.91 Aufschlussreich ist, dass dieses Scheitern an ein konkretes Ereignis geknüpft ist, dessen Nie-

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Machtans, Interview mit Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton. Vgl. hierzu auch Eaglestone: »This ›incessant confrontation with the past‹ […] begins a turn in his work away from ›documentary history‹ traditionally understood (that is, a conception of history as a judgement producing truth as correspondence to the past) to a different understanding of the sort of truth to which writing history aspires, one which comes from or discloses the work of memory, the ethical existential truth.« – Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3), S. 175. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf das von mir geführte Interview mit Saul Friedländer im Februar 2005. – Karolin Machtans: Interview mit Saul Friedländer am 7. Februar 2005 an der University of California/Los Angeles. Diese Aussage ist in Quand vient le souvenir... folgendermaßen formuliert: »Il me fallut très longtemps avant de retrouver le chemin de mon propre passé. Des événements mêmes, je ne pouvais chasser le souvenir, mais voulais-je en parler ou encore prendre la plume pour les décrire que je me trouvais frappé d’une étrange paralysie« (98f.). – »Es hat sehr lange gedauert, bis ich den Weg zu meiner eigenen Vergangenheit wiederfand. Die Erinnerung an die Ereignisse selbst konnte ich nicht vertreiben, doch wenn ich davon sprechen wollte oder wenn ich zur Feder griff, war ich jedes Mal wie gelähmt« (108). – Ich zitiere im Folgenden – wie einleitend angemerkt – aus der französischen Erstausgabe, füge aber zur besseren Lesbarkeit die entsprechende Passage der deutschen Übersetzung als Anmerkung ein. Die deutsche Übersetzung zitiere ich in der gebundenen Ausgabe von 2007. – Saul Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. 3. Aufl. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe; 1253). Seitenverweise finden sich dem entsprechenden Zitat nachgestellt in Klammern. Bei indirekten Bezügen auf bestimmte Passagen gebe ich in Klammern zunächst die Seitenzahl der französischen und dann der deutschen Ausgabe an (frz./dtsch.).

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derschrift nicht gelingt: Es handelt sich um den Moment der Flucht aus dem Internat Saint-Béranger in das Krankenhaus von Montluçon, wo er seinen Eltern zum letzten Mal begegnet. Friedländer plante aus diesem Grund zunächst, seinem Erinnerungstext den Titel ›Le portail‹, das Tor, zu geben – die Szene der letzten Begegnung mit seinen Eltern sollte die erste Szene des autobiographischen Textes werden.92 Im Rückblick, so Friedländer, gelangte er zwar bis zum Tor von Saint-Béranger – die Erinnerung an den weiteren Weg und das letzte Zusammentreffen mit seinen Eltern jedoch versagte. Als es ihm schließlich doch gelingt, die Erinnerungen niederzuschreiben, ist es der Verleger der Éditions du Seuil, von dessen Seite eine ernüchternde Rückmeldung kommt: Der Text sei »tot« – man »spüre nichts« von den damaligen Emotionen. 1975 wendet Friedländer sich an Claude Lanzmann – mit der Bitte um einen Dialog, durch den, so die Hoffnung, ein Text entstehen soll, der die Erinnerungen in angemessenerer Form darstellt. Lanzmanns Zusage zum Austausch nimmt er schließlich jedoch nicht an. Es ist ein Besuch im Kloster von Sept Fons, der ihn veranlasst, einen ehemaligen Freund aus Saint-Béranger in einem Brief über die Hintergründe seines damaligen Verstecks im Internat der Sodalität aufzuklären. Seit dem Schreiben dieses Briefes, so Friedländer, schien plötzlich das ›Tor‹ geöffnet, der Zugang zur Erinnerung und ihrer schriftlichen Formulierung möglich. Der Text entsteht – zu einem großen Teil in Genf geschrieben, die Ebene der Tagebucheinträge in Jerusalem. Die Tatsache, dass Friedländer seinen persönlichen Erinnerungstext auf Französisch verfasst, ist umso bemerkenswerter, als Tschechisch und Deutsch die Sprachen seiner ersten sechs Lebensjahre sind. Das Französische bezeichnet Friedländer jedoch »am ehesten als [s]eine Muttersprache«, betont allerdings wiederholt die Bedeutung des Deutschen in seiner Familie.93 Friedländers Erinnerungstext wird schließlich 1978 unter dem Titel Quand vient le souvenir... bei den Éditions du Seuil in Paris veröffentlicht.

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Machtans, Interview mit Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton. Dies., Interview mit Friedländer am 7. Februar 2005 an der University of California/Los Angeles. – Vgl. dazu auch Friedländers Aussagen im Interview mit Klaus Pokatzky in Die Zeit vom 16. Mai 1986. – Klaus Pokatzky: Pavel, Paul, Shaul. Erfahrungen mit der deutschen Verdrängung. Ein Historiker aus Tel Aviv in Berlin. In: Die Zeit, 16. Mai 1986. – Zur Bedeutung des Deutschen äußerst Friedländer sich im Interview mit Martin Doerry folgendermaßen: »Mein Vater hat ja noch in der österreichisch-ungarischen Armee gedient. Die Verwurzelung meiner Familie in der deutschen Kultur war schon deutlich. […] [A]ls ich nach Israel kam, wohnte ich eine kurze Zeit bei meinem Onkel in einem Dorf, das ganz deutsch geprägt war. Und binnen weniger Wochen ist mir das Deutsche ganz zurückgekommen, ebenso wie das Tschechische, das ich hier und da dort hörte. Es gibt also noch diese kulturelle Identifizierung, eine wenn auch tiefliegende Schicht.« – Friedländer, ›Der Judenhaß steckt tiefer, als man denkt‹ (wie Anm. 88), S. 169.

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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Die Übersetzungen des Textes ins Englische und Deutsche hat Friedländer lediglich gegengelesen, nicht selber verfasst.94 Der Veröffentlichung der englischsprachigen Version unter dem Titel When memory comes geht eine für die Rezeption des Textes äußerst aufschlussreiche Verhandlungsgeschichte voraus: Der amerikanische Viking-Verlag erklärt sich zwar bereit, den Text zu publizieren – jedoch nur, wenn Friedländer sich auf die Geschichte der Kindheitserlebnisse beschränken, also die Zeit nach der Ankunft in Israel und die Ebene der Tagebucheinträge auslassen würde. Friedländer lehnt ab – aus guten Gründen: Würde doch eine solch reduzierte Fassung den Text seiner Hauptaussage, der gegenwärtigen Suche nach Identität und der Bedeutung von Erinnerung in diesem Prozess, berauben. Die englische Übersetzung wird schließlich 1979 bei Farrar, Straus, Giroux in New York veröffentlicht. An die vom Viking-Verlag eingeforderte Beschränkung des Textes auf das Kindheitsschicksal lässt sich ein weiteres Detail der Rezeptionsgeschichte anschließen: Die hebräische Version von Friedländers Erinnerungstext wurde in Israel mehreren Offiziersjahrgängen bei ihrer Abschiedszeremonie als Geschenk mit auf den Weg gegeben. Friedländers Lebensgeschichte als ›zionistische Erfolgsgeschichte‹? Auch diese Rezeption beschränkt die Textaussage auf das Kindheits- und Jugendschicksal mit seinem ›erlösenden‹ Ende, dem Blick auf die Küste Israels, der ein gelungenes Identitätsprojekt als Jude und Israeli im Land des Ursprungs vorzuzeichnen scheint. Die deutsche Ausgabe Wenn die Erinnerung kommt erschien zuerst 1979 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. Erst 1998 – dem Jahr der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Friedländer anlässlich des Erscheinens von Die Jahre der Verfolgung – wurde sein autobiographischer Text neu aufgelegt.95 Die Neuauflage bei Beck ist also eng an die Wahrnehmung Friedländers als Historiker in der deutschen Öffentlichkeit geknüpft. Zeitgleich mit dem Erscheinen des zweiten Bandes – Die Jahre der Vernichtung – wurde eine weitere Neuauflage seines Erinnerungstextes angekündigt, die inzwischen sowohl in gebundener als auch broschierter Ausgabe erhältlich ist.96 94

95

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Zur deutschen Erstausgabe der Deutschen Verlags-Anstalt vgl. Kap. 1, Anm. 5. – Saul Friedländer: When memory comes. Translated from the French by Helen R. Lane. New York: Farrar, Straus, Giroux 1979. Zur positiven Aufnahme des ersten Bandes von Das Dritte Reich und die Juden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit vgl. insbesondere Volker Ullrich: Stillschweigendes Einverständnis. Saul Friedländers großes Buch über die Verfolgung der Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1939. In: Die Zeit, 26. März 1998. – Ulrich Herbert: Hitlers Wut und das Weggucken der Deutschen. Saul Friedländers großartiges Buch über die ersten Jahre der Judenverfolgung im Dritten Reich. In: Süddeutsche Zeitung, 25. März 1998. – Vgl. auch Walter Laqueur: Nazi-Deutschland und Juden vor Kriegsbeginn. Eine umfassende Darstellung von Saul Friedländer. In: Neue Zürcher Zeitung, 10./11. Mai 1997. Siehe Anm. 91.

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3 Saul Friedländer

3.2.1.2 Forschungsgeschichte. Verwendete Literatur Im Bereich der literaturwissenschaftlichen Forschung hat Friedländers Erinnerungstext bislang wenig Beachtung gefunden.97 Die Analyse der Textstruktur wird hier – wenn sie überhaupt Gegenstand der Untersuchung ist – zumeist auf die Differenz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich beschränkt, um hiervon ausgehend die Spezifik des ›Kinderblicks auf die Shoah‹ herauszuarbeiten, dem der Stellenwert eines eigenen Genres zugewiesen wird.98 Im Folgenden soll nicht in Frage gestellt werden, dass es sich bei der Annäherung an die persönliche Vergangenheit um einen zentralen Aspekt und zudem den Auslöser der autobiographischen Textproduktion handelt. Ausgehend vom persönlichen Schicksal jedoch rücken durch die komplexe Textstruktur weitaus generellere Fragen in den Blick, die im Folgenden kurz skizziert sein sollen. 3.2.1.3 Fragestellung und Schwerpunkte der Analyse. Gliederung Quand vient le souvenir… als ›Erinnerungstext‹ zu lesen bedeutet, ihn nicht lediglich als Versuch der (Re)Konstruktion vergangener Ereignisse aus der Per97

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Ausnahmen bilden folgende Arbeiten: Sidra DeKoven-Ezrahi: See under: memory. Reflections on ›When memory comes‹. In: Arad (Ed.), Passing into history (wie Kap. 2, Anm. 76), S. 364–375. – Eva Lezzi-Noureldin: Erinnerung als Identitätssuche. Zu Saul Friedländers autobiographischer Auseinandersetzung mit der Shoah. In: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Hg. von Richard Faber und Barbara Naumann. Würzburg: Königshausen und Neumann 1995, S. 43–66. – Frithjof Trapp: Auswege aus traumatischen Blockaden. Zu Saul Friedländers ›Wenn die Erinnerung kommt‹. In: Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels. Hg. von Pierre Béhar und Michel Grunewald. Bern u. a.: Lang 2005, S. 443–456. – Auch Eakin widmet Friedländers Erinnerungstext ein Kapitel. – Paul J. Eakin: Saul Friedländer and the children of Tulsa ›who wanted to speak and could not‹. In: Ders., Fictions in autobiography. Studies in the art of self-invention. Princeton: Princeton University Press 1986, S. 235–255. Auch Sue Vice verweist wiederholt auf Friedländers Erinnerungstext. – Sue Vice: Children writing the Holocaust. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2004, S. 13–20. – Die Arbeiten von James E. Young und Hans R. Vaget sind als Überblicksdarstellungen zu Friedländers historiographischem und autobiographischem Werk zu werten. – Hans R. Vaget: Saul Friedländer und die Zukunft der Erinnerung. In: Das Judentum im Spiegel seiner kulturellen Umwelten. Symposium zu Ehren von Saul Friedländer. Hg. von Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel. Neckargemünd: Edition Mnemosyne 2002 (Gegensatz; 5), S. 11–32. – Young, Between history and memory (wie Kap. 2, Anm. 76). – Der Vergleich zwischen Friedländers Erinnerungstext und dem autobiographischen Werk Georges-Arthur Goldschmidts von Chryssoula Kambas beschränkt sich auf inhaltliche Aspekte der Darstellung des Exilschicksals und lässt die Textstruktur weitestgehend unberücksichtigt. – Chryssoula Kambas: Als Kind verboten werden. Autobiographie und Erinnerung bei Georges-Arthur Goldschmidt und Saul Friedländer. In: Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Hg. von Wolfgang Asholt. Osnabrück: Secolo 1999, S. 81–106. Vgl. hierzu etwa Lezzi-Noureldin, Erinnerung als Identitätssuche (wie Anm. 97), S. 53.

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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spektive des erinnernden Ichs wahrzunehmen. Vielmehr gibt der Text Aufschluss über die ihm zugrundeliegenden Annahmen zur Funktionsweise autobiographischen und kollektiven Erinnerns und ihrer Bedeutung für die Ausbildung spezifischer – individueller wie kollektiver – Identitätsprojekte. In der Kennzeichnung als faktualer Text verweist Friedländers autobiographisches Projekt darüber hinaus auf die ihm zugrundeliegenden Annahmen zur Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion. Der Titel und das dem Text vorangestellte Zitat Gustav Meyrinks rücken darüber hinaus allgemeine Fragen nach Prozessen von Erinnerung und der Wahrnehmung von ›Wirklichkeit‹ in den Blick, die durch den Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ bezeichnet werden.99 Meine Analyse von Friedländers Erinnerungstext orientiert sich an folgenden Thesen: 1. Quand vient le souvenir... ist durch den Einsatz paratextueller Signale und narrativer Strategien als faktualer Text gekennzeichnet (3.2.2). 2. Um auf ein außerhalb des Textes existierendes Subjekt verweisen zu können, muss – wie einleitend erwähnt – vorausgesetzt sein, dass es sich auch im autobiographischen Text nicht um die Darstellung eines sich ›in Auflösung befindlichen‹ Subjekts handelt. Vielmehr geht es um die Darstellung des Bedürfnisses nach Kohärenz, das gerade wegen der zahlreichen Brüche innerhalb der Biographie besteht (3.2.3). Wird also zum einen die Disparatheit der einzelnen Lebensabschnitte deutlich durch den wiederholten Wechsel des Vornamens gekennzeichnet (3.2.3.1), wird zum anderen das Herstellen von Kohärenz explizit als Ziel des autobiographischen Schreibakts formuliert (3.2.3.2). 3. Dabei wird jedoch nicht von der naiven Annahme ausgegangen, die persönliche Vergangenheit, wie sie sich ›wirklich‹ zugetragen hat, ließe sich im Akt des Erinnerns einholen. Vielmehr wird durch die Struktur des Textes die Funktionsweise individueller Erinnerungsprozesse und ihre Bedeutung für das persönliche Identitätsprojekt inszeniert (3.2.4). In einem ersten Schritt untersuche ich die Abbildung autobiographischer Erinnerungsprozesse durch die Textstruktur (3.2.4.1). In einem zweiten Schritt geht es um den Zusammenhang von Erinnerung und Identität (3.2.4.2). Dabei wird zu zeigen sein, dass das Schreiben der persönlichen Geschichte – analog zur wissenschaftlichen Geschichtsschreibung – immer als vom gegenwärtigen 99

Vgl. hierzu auch die Einschätzung Trapps, der zu dem Ergebnis kommt, dass »Friedländer nicht allein die Komplexität und Widersprüchlichkeit geschichtlicher und sozialer Tatbestände zu vergegenwärtigen sucht, sondern dass er die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Erkennens überhaupt, also ein dem Erkennen vorgelagertes Problem, zum Thema erhebt.« – Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 453. Hervorhebung im Original.

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3 Saul Friedländer

Standpunkt des erinnernden Ichs bestimmt und zudem als unabschließbar gekennzeichnet ist. 4. Erinnerung als identitätskonstituierende Eigenschaft spielt jedoch nicht nur auf der Ebene des persönlichen Ichs eine Rolle in Friedländers Text, sondern auch auf der Ebene kollektiver Erinnerung und ihrer Bedeutung für die Ausbildung der jüdisch-israelischen Identität (3.2.5). Durch das Ineinandergreifen der drei Zeitebenen des Textes wird die Eindeutigkeit dieses kollektiven Identitätsprojekts von Beginn an hinterfragt. Dem offiziellen israelischen Narrativ wird zudem die Perspektive der Palästinenser gegenübergestellt. Auf diese Weise wird die Konstrukthaftigkeit vermeintlich eindeutiger historischer Narrative in den Blick gerückt. 5. Über die Bedeutung von Erinnerung für die Konstitution persönlicher und kollektiver Identitätsprojekte hinaus wird die Suche nach Identität außerdem als ›allgemeinmenschliches‹ Phänomen dargestellt (3.2.6). Dabei kommt der Lokalisierung der Tagebucheinträge in Jerusalem, dem ›Ort des Ursprungs‹, eine entscheidende Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang werde ich die vermeintliche ›Ankunft‹ in Israel, die das Ende des Textes bildet, einer Relektüre unterziehen. 6. Diese Relektüre leitet mich über zu generellen Überlegungen zum autobiographischen Schreibakt und zum Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹, den ich mit Blick auf das Zitat aus Meyrinks Golem beleuchten werde (3.2.7). 7. Abschließend geht es darum zu zeigen, auf welche Weise sich das erinnernde Ich im autobiographischen Projekt als Wissenschaftler positioniert, Friedländers theoretische Überlegungen in den persönlichen Erinnerungstext einfließen bzw. hier bereits angedacht werden (3.2.8). Dabei wird es um die Abhängigkeit der Deutung historischer Ereignisse vom persönlichen Hintergrund und Kontext (3.2.8.1), den Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine Geschichtsschreibung (3.2.8.2), die Integration der Erinnerungen der Opfer (3.2.8.3), das Hinterfragen eindeutiger Täter-Opfer-Dichotomien (3.2.8.4) sowie die ästhetische Darstellung des Holocaust gehen (3.2.8.5). Kapitel 3.2.8 leitet mich über zur Synthese von Friedländers Erinnerungstext und seiner geschichtswissenschaftlichen Arbeit, die ich wiederum an das dem Text vorangestellte Zitat Gustav Meyrinks – »Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe...« und dessen Umkehrung: »Allmählich, wenn die Erinnerung kommt, kommt auch das Wissen... Wissen und Erinnerung sind dasselbe...« anknüpfe.

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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3.2.2 Quand vient le souvenir…: Faktizität Friedländers Erinnerungstext ist als faktualer, auf ein außerhalb von ihm existierendes Subjekt verweisender Text gekennzeichnet. Dies geschieht zunächst durch den Einsatz paratextueller Signale. So findet sich im Klappentext der französischen Ausgabe eine Auflistung verschiedener Lebensdaten des erinnerten Ichs, um daran anschließend auf die Identität zwischen erinnerndem Ich und Autor zu verweisen: »Trente ans plus tard, Saul Friedländer rassemble ces souvenirs qui enracinent son identité […]. Le fil minutieusement reconstitué ne se rompra plus«. Im Klappentext der englischsprachigen Ausgabe von 2003 heißt es entsprechend: »Distinguished historian Saul Friedländer recalls his childhood during the Holocaust in this unforgettable memoir«.100 Auch der Klappentext der deutschen Auflage von 2007 geht in dieselbe Richtung: »Der Autor, 1932 in Prag als Kind deutschsprachiger Juden geboren, berichtet, wie die Familie nach Frankreich flüchtete […]«. Direkt im Anschluss finden sich dort biographische Informationen über Friedländer, durch die der Text eindeutig zugewiesen wird: »Saul Friedländer ist Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv und an der University of California, Los Angeles. Für sein Werk erhielt er 1998 den Geschwister-Scholl-Preis, 2007 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels«. Auch das Foto auf dem Umschlag, das Friedländer als Kind in Prag zeigt, verweist durch die Anmerkung im Klappentext der Ausgabe von 1998 auf das hinter ihm stehende Autorensubjekt: »Umschlagabbildung: Foto aus dem Besitz des Autors«. Diese Aufnahme ist ebenfalls auf dem Rückumschlag der neuesten Auflage abgedruckt – zusammen mit einem aktuellen Foto Friedländers, das noch eindeutiger die Verbindung zwischen dem damaligen Kind und dem renommierten Historiker schafft. Auf der Ebene des Textes ist es zunächst die letztendliche Namensidentität zwischen erinnerndem Ich und Autorensubjekt, durch die der ›autobiographische Pakt‹ hergestellt wird (zu den Namenswechseln hin zu ›Saul‹ vgl. Kapitel 3.2.3). Die Anlage des Textes als Tagebuch fungiert als weiteres Kennzeichen von Referentialität: Das Tagebuch, das sich durch seine in mehr oder weniger regelmäßigen zeitlichen Abständen verfassten, durch ein Datum gekennzeichneten Einträge auszeichnet, verweist auf eine außertextuelle Wirklichkeit und dient damit als Rezeptionssignal für einen faktualen Text.101 Eine solche Wahrnehmung der Tagebucheinträge als ›authentisches Zeugnis‹ manifestiert sich durch den auf der Ausgabe von Farrar, Straus, Giroux (1991) abgedruckten Auszug aus der Rezension von Amos Elon, die so ihrerseits zum paratextuellen Signal wird. Dort heißt es:

100 101

Saul Friedländer: When memory comes. Translated from the French by Helen R. Lane. Madison: The University of Wisconsin Press 2003. Françoise Simonet-Tenant: Le journal intime. Genre littéraire et écriture ordinaire. Paris: Nathan 2001 (Collection 128. Littérature; 257), S. 12.

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3 Saul Friedländer In this harrowing, deeply moving memoir – one part the Gothic tale of a Jewish orphan alone in Nazi-occupied France preparing to become a Catholic priest, the other part the diary he kept many years later in Jerusalem – Friedländer undertakes an evocative journey into his past that is likely to leave many a reader shaken.102

Ein Tagebuch außerhalb des Textes – so Friedländer im persönlichen Gespräch – existierte jedoch nicht.103 Darüber hinaus sind es die eingefügten Ausschnitte aus den Briefen der Eltern, die dem Text Authentizität verleihen. Dass diese in den Text eingefügten Briefe tatsächlich als historische Dokumente wahrgenommen werden, verdeutlicht ein Blick auf die von Jean-François Mavel eingerichtete Website zu den Lagern Gurs und Rivesaltes: Dort finden sich Ausschnitte aus den Briefen von Friedländers Vater, die Friedländers autobiographischem Text entnommen und auch so gekennzeichnet sind: »Ces lettres sont extraites de l’ouvrage de Saul Friedländer ›Quand vient le souvenir…‹«.104

3.2.3 Das autobiographische Ich Um auf ein außerhalb des Textes existierendes, schreibendes Subjekt verweisen zu können, muss – um es zu wiederholen – auch innerhalb des autobiographischen Textes ein Ich bestehen, das trotz (oder wegen) der Fragmente innerhalb seiner Biographie dennoch in seinem Bestreben dargestellt wird, Kohärenz und Kontinuität zwischen den disparaten Lebensabschnitten zu erzeugen. Es wird im Folgenden zunächst darum gehen, die durch die wechselnden Namen ausgedrückten und durch die formale Untergliederung des Textes in drei Teile mit Unterkapiteln verstärkten Brüche in der Biographie des Ichs nachzuzeichnen (3.2.3.1). Dabei soll deutlich werden, dass die verschiedenen Namen für eine temporäre Zugehörigkeit zu einem spezifischen soziokulturellen Kontext stehen, die Namenswechsel den unvermittelten Übergang zu einem neuen Abschnitt markieren. Dennoch wird der autobiographische Text – zweitens – gleichzeitig zum ›Abbild‹ des Bestrebens nach Kohärenz und Kontinuität (3.2.3.2). Kohärenz entsteht dabei nicht durch das Ausblenden einzelner Lebensabschnitte oder das Einebnen des Lebenslaufs in eine chronologische Darstellung, sondern gerade in der Wahrnehmung seiner Disparatheit. Nicht nur durch die Verknüpfung der Erzählebenen, sondern auch im Zusammenlaufen der Namen in die endgültige Form ›Saul‹ zeigt sich diese Suche nach Synthese. Durch die Namenswechsel wird so einerseits der Blick auf die Fragmentierung des Ichs gelenkt. Gleichzeitig aber werden diese Fragmente zusammengeführt und verweisen damit auf 102 103 104

Saul Friedländer: When memory comes. Translated by the French by Helen R. Lane. New York: Farrar, Straus, Giroux 1991. Meine Hervorhebung. Machtans, Interview mit Friedländer am 7. Februar 2005 an der University of California/Los Angeles. Vgl. dazu http://perso.orange.fr/jean-francois.mavel/janfriedlander.htm (August 2008).

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ein Konzept des Selbstes, dessen identitätskonstituierende Eigenschaft gerade in der Anerkennung der Disparatheit der eigenen Biographie besteht. 3.2.3.1 Von ›Pavel‹ zu ›Saul‹: Fragmente des Ichs Die einzelnen Abschnitte in der Biographie des erinnernden Ichs werden durch den mehrfachen Wechsel des Vornamens – von Pavel/Paul über Paul-Henri, Paul-Henri Marie, Shaul und Saül schließlich zu Saul – gekennzeichnet. Dabei verweist die Umkehrung des biblischen Namenswechsels von Paul zu Saul offensichtlich nicht nur auf die tatsächlichen Wechsel des Vornamens, die außerhalb des Textes stattgefunden haben. Vielmehr gilt auch für den autobiographischen Text, dass Namen im Textensemble eine Funktion erfüllen, die der von fiktiven Namen gleichkommt: »Mag der Name im täglichen Leben auch bedeutungslos geworden sein, in der Dichtung ist er interpretationsheischend, zeichenhaft«.105 Trotz dekonstruktivistischer Proklamation der Auflösung des Subjekts, die in der Literatur etwa bei Nathalie Sarraute (Tropismes)106 durch die Auslöschung des Namens abgebildet wird, zeigt die bestehende Existenz literarischer Namen, dass die alte, mythische Vorstellung von der untrennbaren Einheit von Namen und Namensträger, von Bezeichnendem und Bezeichnetem, die Goethe bekanntlich mit einem »vollkommen passende[n] Kleid«, der »Haut selbst«107 verglichen hat, zumindest in der Literatur weiterhin gültig ist.108 Innerhalb des Textgefüges erhalten Namen ihre verweisende, bezeichnende Funktion zurück.109 Dabei erfüllen Eigennamen verschiedene Aufgaben: Sie identifizieren das bezeichnete Subjekt zunächst als solches 105

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Iris Denneler: Von Namen und Dingen. Erkundungen zur Rolle des Ich in der Literatur am Beispiel von Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Max Frisch, Gottfried Keller, Heinrich von Kleist, Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, Vladimir Nabokov und W. G. Sebald. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001, S. 15f. – Vgl. dazu auch Friedhelm Debus: »Die real-authentischen Namen gehören also zu den literarischen Namen, wenn sie in ein Werk integriert sind.« – Friedhelm Debus: Namen in literarischen Werken: (Er)Findung – Form – Funktion. Stuttgart: Steiner 2002 (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz; 2002, 2), S. 35. – Vgl. auch Dieter Lamping: Der Name in der Erzählung. Zur Poetik des Personennamens. Bonn: Bouvier 1983 (Wuppertaler Schriftenreihe Literatur; 21), S. 26. Nathalie Sarraute: Tropismes. Paris: Éditions de Minuit 1957. »[D]er Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn herhängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.« – Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe. Bearbeitet von Siegfried Scheibe. Bd I (1811). Berlin: Akademie-Verlag 1970–1974, S. 407. Vgl. dazu Denneler, Von Namen und Dingen (wie Anm. 105), S. 7. Ebd., S. 162.

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und grenzen es von anderen ab.110 Darüber hinaus schreiben sie ihm auf verschiedene Weise Eigenschaften zu. Ohne hier auf die Kategorisierung von Namen eingehen zu wollen, wie Hendrik Birus und andere sie vorgenommen haben, sollen zwei Funktionen genannt sein, die für die Analyse der Namenswechsel in Friedländers Text eine besondere Rolle spielen: 1. Namen schreiben das Ich in einen bestimmten soziokulturellen Kontext ein – Pavel/Pavliček ist Tscheche, Paul-Henri eindeutig Franzose, Paul-Henri Marie unverwechselbar Katholik.111 2. Andere Namen – und dies gilt offensichtlich für den Namenswechsel von Paul zu Saul – verweisen auf Figuren oder Personen außerhalb des Textes und verbinden den neuen Namensträger mit diesem vergangenen Namen und seiner Geschichte. »Der Habitus eines gelebten Lebens«, so formuliert es Walter Benjamin, »ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet«.112 Shaul verweist über die Zuordnung zum jüdischisraelischen Kollektiv hinaus gleich auf zwei biblische Vorgänger: Der Wechsel von Paul zu Shaul lässt unmissverständlich die biblische Bekehrungsgeschichte anklingen – Shaul ist gleichzeitig aber auch der Name des ersten Königs von Israel, der wider seinen Willen berufen wird und sich der Magie zuwendet. Formal werden die Einschnitte in der Biographie des erinnerten Ichs durch die Untergliederung des Textes in drei Teile mit nummerierten Unterkapiteln unterstrichen. Pavel, der Name der ersten sechs Lebensjahre in Prag, steht nicht nur für die Identität als Tscheche, sondern – so betont das erinnernde Ich – verweist 110

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Vgl. dazu Debus: »Die Grundfunktion des Namens, gleich welcher Art, ist in Namengebung und Namenverwendung die der Identifizierung. Ein Name benennt die Einzelperson, das Einzelobjekt, er ist Eigenname. Über ihn wird der Namenträger als Individuum identifiziert, durch ihn tritt er gleichsam ins Da-Sein.« – Debus, Namen in literarischen Werken (wie Anm. 105), S. 74. – Vgl. dazu auch Denneler: »In ihrer spezifisch mimetischen Eigenschaft bezeugen sie [die Eigennamen, K. M.] bis heute Existenz, Individualität, idealiter die Identität von Namensträger und Wort.« – Denneler, Von Namen und Dingen (wie Anm. 105), S. 159. Vgl. dazu Hendrik Birus’ Ausführungen zu klassifizierenden Namen: »Die klassifizierenden Namen ordnen ihre Träger aufgrund von religiös, national, sozial oder aber einfach literarisch bedingten Namengebungskonventionen einer bestimmten Gruppe zu.« – Hendrik Birus: Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings ›Nathan der Weise‹. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1978 (Palaestra; 270), S. 37. Die berühmte Passage lautet im Original in voller Länge folgendermaßen: »Bin ich der, der W. B. heißt, oder heiße ich bloß einfach W. B.? Das sind zwei Seiten einer Medaille, aber die zweite ist abgegriffen, die erste hat Stempelglanz. Die erste Fassung macht es einsichtig, dass der Name Gegenstand einer Mimesis ist. Freilich ist es deren besondere Natur, sich nicht am Kommenden, sondern immer nur am Gewesenen, das will sagen: am Gelebten, zu zeigen. Der Habitus eines gelebten Lebens: das ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet.« – Walter Benjamin: Das Passagenwerk. Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd V. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972ff., S. 1038.

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gleichzeitig auf den hohen Assimilationsgrad der Familie, in der sich alle als ›Deutsche‹ (14/10) fühlten. Jüdische Bräuche hatten in der Familie keinerlei Bedeutung. Dennoch: Hinweise auf ihre jüdische Herkunft und die Frage nach der Bedeutung des Judentums für den Vater werden gleich zu Beginn des Textes reflektiert. Dass dem Vater, der mehrere Jahre bei seinem Onkel in Lemberg verbrachte, das Judentum nicht ganz gleichgültig gewesen sein kann, zeigen die Exlibris seiner Bücher: ein Judenstern im Hintergrund, auf den ein Klavier, eine Partitur von Chopin und ein Winkelmaß eingraviert sind (14f./11). Die Familie der Mutter, Tochter eines Textilfabrikbesitzers, fühlte sich zumindest zeitweilig vom Zionismus angezogen. Während Pavel mit dem Judentum zu Hause kaum in Berührung kommt, sein Wissen um die jüdischen Einrichtungen in Prag angelesen ist und von späteren Besuchen der Stadt stammt, kommen die Erinnerungen an das christliche Prag dagegen aus der Kindheit. So beschreibt das erinnernde Ich die kulturelle Zugehörigkeit der Familie folgendermaßen: »Somme toute, nous étions des représentants typiques de la bourgeoisie juive assimilée d’Europe centrale« (16).113 Die starke Prägung durch die Stadt der Kindheit besteht bis in die Schreibgegenwart.114 Mit dem Entschluss zur Flucht wird die erste Phase seiner Kindheit, für die der Name Pavel steht, abrupt unterbrochen – symbolisiert durch die Abfahrt des Zuges: »Ce départ fut le terme d’une première étape« (37).115 Auf der Flucht in Frankreich wird Pavel zu Paul. Im jüdischen Kinderheim Montmorency bei Paris ist er nicht nur das erste Mal von seinen Eltern getrennt, sondern wird zum ›Goi‹ unter Juden: An ihm, dem Kind aus assimilierter Familie, dem die religiösen Bräuche vollkommen fremd sind, rächen sich die gläubigen Juden. So wird er zum doppelt Ausgegrenzten, zum »juif au deuxième degré« (48). Anschließend wird Paul im Internat Saint-Béranger untergebracht. Der vollständige Bruch mit allem, was seine Identität in den Jahren der Kindheit in Prag ausgemacht hat, ist symbolisiert durch das Durchschreiten des Eingangstors und den erneuten Namenswechsel. Dabei betrifft dieser zweite Namenswechsel auch den Familiennamen und dient so als Verweis auf die endgültige Trennung von den Eltern: En franchissant le portail de Saint-Béranger, le pensionnat de la Sodalité où j’allais vivre désormais, je devenais un autre: Paul-Henri Ferland, ensemble sans équivoque

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»Kurz, wir waren typische Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums Europas« (12). »Que je m’en souvienne ou non, je captais tous les signes de cette ville; la moindre cité baroque suscite encore immédiatement en moi un écho puissant qui ne saurait provenir que de ces impressions de mon enfance« (24). – »Ob ich mich nun bewußt daran erinnere oder nicht, ich nahm alle Zeichen dieser Stadt in mir auf; noch die unscheinbarste Barockstadt ruft sofort ein starkes Echo in mir wach, das nur von diesen Kindheitseindrücken herrühren kann« (22). »Mit dieser Abreise fand ein erstes Kapitel sein Ende« (36).

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3 Saul Friedländer auquel on ajouta encore Marie au moment de mon baptême, pour un surcroît d’authenticité […] (77).116

Verstärkt wird die Unvereinbarkeit des bisherigen mit dem nun bevorstehenden Leben als Paul-Henri, später Paul-Henri Marie Ferland darüber hinaus durch die Reflexion des erinnernden Ichs, die die Unfreiwilligkeit der Konversion hervorhebt. Im Gegensatz zur Konversion Erwachsener, bei der es sich um eine bewusste Entscheidung handelt, vollzieht sich für Paul-Henri ein kompletter Bruch mit seinen ersten zehn Lebensjahren: »[I]l n’y avait pas de synthèse possible entre celui que j’avais été et celui que je devais être« (78).117 Die Trennung von den Eltern sowie die Konfrontation mit dem strengen Katholizismus haben schwerwiegende psychische Folgen für den Jungen. Formal wird der Bruch in seiner Biographie durch das Ende des ersten Teils markiert. Dass die Trennung von den Eltern endgültig ist, ist für den Rezipienten spätestens an dieser Stelle eindeutig: Ihren letzten Brief werfen sie einem Quäker aus dem Deportationszug zu (87/95). Der zweite Teil des Textes beschreibt die Jahre in der katholischen Sodalität und endet mit dem Wiederentdecken der jüdischen Wurzeln. Nach der Taufe und der ersten Kommunion in Montluçon kommt Paul-Henri Ferland zunächst in das ländliche Internat Montneuf im Departement Indre – ein weiteres Tor, das er durchschreitet (91/99). Bereits zu Beginn des Kapitels nimmt das erinnernde Ich vorweg, dass er hier in Montneuf einen Tiefpunkt erreichen wird. Die eingeschobene Reflexion des erinnernden Ichs unterstreicht die symbolische Funktion der Namenswechsel, die er als adäquaten Ausdruck einer wahrhaftigen, tiefen Verwirrung bezeichnet: ›Paul-Henri‹. Je n’arrivais pas à m’habituer à ce nom. Chez moi, j’avais été ›Pavel‹ ou plutôt ›Pavliček‹, le diminutif habituel, ou encore ›Gagl‹, sans compter une kyrielle de petits noms affectueux. Puis, de Paris à Néris, j’étais devenu ›Paul‹, ce qui, pour un enfant, était tout de même autre chose. Paul, je me sentais plus exactement comme ›Pavliček‹, mais ›Paul-Henri‹ était bien pire encore: j’avais franchi une ligne, j’étais passé de l’autre côté. Paul aurait pu être tchèque et juif, mais Paul-Henri ne pouvait être que français et résolument catholique […] (92).118 116

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»Als ich das Tor von Saint-Béranger, dem Internat der Sodalität, durchschritt, wo ich nun künftig leben sollte, wurde ich ein anderer: Ich hieß nun Paul-Henri Ferland – ein Name von zweifelsfreier Herkunft, dem bei meiner Taufe außerdem noch Marie hinzugefügt wurde; alles sollte wohl besonders echt erscheinen […]« (84). »[Z]wischen dem, was ich gewesen war, und dem, was ich werden sollte, war keine Synthese möglich« (84). »›Paul-Henri‹. Ich konnte mich einfach nicht an diesen Namen gewöhnen. Zu Hause hatte man mich ›Pavel‹, häufiger noch in der gewöhnlichen Koseform ›Pavliček‹ oder auch ›Gagl‹ genannt, ganz abgesehen von vielen anderen Kosenamen. Dann in Paris und Néris war daraus ›Paul‹ geworden, was für ein Kind schon nicht mehr dasselbe ist. Als Paul fühlte ich mich schon nicht mehr ganz wie ›Pavliček‹, doch ›Paul-Henri‹ war weitaus schlimmer: Ich hatte eine Linie überschritten, war

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Dabei – so deutet das erinnernde Ich bereits an dieser Stelle an – wird es nicht bei diesen Namensänderungen bleiben: »[P]ar la suite, je devins ›Shaul‹, en débarquant en Israël, puis ›Saul‹ […]« (92).119 Nachdem er auf einem Spaziergang absichtlich in das eiskalte Wasser eines Baches watet, erkrankt er schwer. Die lange Krankheit, die beinahe tödlich verläuft, nimmt in der Erinnerung den Stellenwert eines Wendepunkts ein. Nicht nur die wiederholte explizite Bezeichnung als solcher, sondern auch die Positionierung in der Mitte des Gesamttextes verstärken diese Funktion. Das Eintauchen in den Bach lässt sich dabei zunächst als Bad im Fluss Lethe lesen und betont damit das Verlangen, die schmerzhaften Erinnerungen an den Verlust der Eltern zu löschen. Das Motiv der Krankheit als Vorstufe zur Genesung, als Läuterung vor dem endgültigen Schritt in eine neue, gottgelenkte Welt knüpft darüber hinaus nicht nur an die Autobiographie des Augustinus an, sondern verweist außerdem auf die biblische Bekehrungsgeschichte des Saul auf seinem Weg nach Damaskus: Saul, erblindet, nachdem ihn Jesus gerufen hat, kann sich erst von seinem Krankenlager erheben, als Hananius ihm seine Bestimmung – die Bekehrung zum Christentum – erläutert.120 Auch bei Augustinus stehen Genesung und Bekehrung in engem Zusammenhang.121 Die Genesung fungiert auch in Friedländers Text keinesfalls nur als Ende einer körperlichen Krankheit, sondern ist explizit als Aufbruch in ein neues Leben gekennzeichnet: »Au bout de trois ou quatre semaines de maladie, ma respiration redevint normale et la fièvre commença à baisser. Je guérissais. […] Bref,

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auf die andere Seite gewechselt. Paul hätte Tscheche und Jude sein können, ein Paul-Henri jedoch konnte nur Franzose und Katholik sein […]« (100). »Bei meiner Ankunft in Israel wurde ich zu ›Shaul‹, dann […] wurde daraus ›Saul‹« (100). »Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen und nahm Speise zu sich und stärkte sich« (Apostel 9, 17–19). Vgl. dazu folgende Passage bei Augustinus: »So war ich krank und quälte mich; heftiger als sonst klagte ich mich an, dabei drehte und wendete ich mich in meiner Fessel, um sie ganz zu sprengen. Schon war sie leichter geworden, aber sie hielt mich noch fest. […] Ich warf mich unter einem Feigenbaum zur Erde, ich weiß nicht, wie. Ich unterdrückte nicht länger meine Tränen. Ströme brachen hervor aus meinen Augen: ein Opfer, das du gern annimmst. Und dann redete ich lange mit dir, nicht genau mit diesen Worten, wohl aber in diesem Sinn: ›Und du, Herr, wie lange noch? Wann, Herr, wird dein Zorn ein Ende haben? Vergiß jetzt unsere alten Sünden!‹ Denn ich spürte: Nur sie hielten mich auf. Bemitleidenswerte Worte stieß ich aus: ›Wie lange noch, wie lange noch, diese ›Morgen, ja morgen‹? Warum nicht sofort? Warum soll meine Schande nicht in dieser Stunde enden?‹ Dies sagte ich und weinte, bittere Zerknirschung im Herzen. Und da, plötzlich, höre ich die Stimme aus dem Nachbarhaus, wie die eines Kindes, ich weiß nicht, ob eines Jungen oder eines Mädchens, die im Singsang ausruft und oft wiederholt. ›Nimm und lies, nimm und lies!‹!« – Augustinus, Bekenntnisse (wie Kap. 2, Anm. 46), S. 217ff.

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en ce mois d’avril 1943, je revivais« (103).122 Paul-Henri fühlt sich wohl, hat sich verändert – die Erinnerung an die Eltern ist in den Hintergrund gerückt. Er beginnt, in der Messe zu ministrieren und empfindet dabei erstmals kein Unwohlsein mehr, verdoppelt seine Frömmigkeit. Die Übergangsphase ist beendet – er ist nun ›reif‹ für ein Leben als Jesuit in Saint-Béranger und kehrt nach Montluçon zurück. Die strengen religiösen Regeln und Bräuche, der auf die Minute genau eingeteilte Tagesablauf, die widerspruchsfreie Eindeutigkeit des absoluten Glaubens schrecken ihn nun nicht mehr ab, sondern vermitteln ihm das, was er braucht: Ruhe, Sicherheit und Verwurzelung. Es ist das katholische Christentum mit seiner Betonung der Nächstenliebe, seiner starken Symbolik und vor allem der zentralen Stellung der Mutterfigur der Maria, die dem Jungen dies zu geben vermag. In welchem Maße die Religion als Ersatz für die mütterliche Nähe fungiert, wird bereits durch die Fieberträume während der Krankheit vorweggenommen: La panique me saisit, la vraie. Je me mis à courir d’un wagon à l’autre [...]. [J]e hurlais d’épouvante et, ne serait-ce qu’ à cause du croup, je suffoquais. Mais soudain, par miracle, c’était la délivrance: au bout du couloir, ma mère qui s’était mise à ma recherche, apparaissait (98).123

So ist es die Verehrung der Jungfrau Maria, die die größte Anziehungskraft des Katholizismus für den Jungen ausmacht: »Auprès de la statue de plâtre au doux visage, à longue robe blanche et ceinture bleu ciel, la tête couronné d’étoiles en fer-blanc, je retrouvais quelque chose de la présence maternelle« (114).124 Der erneute Namenswechsel symbolisiert durch den Zusatz ›Marie‹, den er bei der Taufe erhält, damit nicht nur eindeutig die Zugehörigkeit zum Katholizismus, sondern vor allem die Ersatzfunktion, die die Religion anstelle der leiblichen Mutter einnimmt. Schon bald fühlt Paul-Henri sich dazu berufen, Priester zu werden, ist vollständig in das Leben Saint-Bérangers integriert. Am Ende des zweiten Kapitels von Teil 2 fasst das erinnernde Ich den durch die ›Bekehrung‹ zum Katholizismus ausgelösten Bruch mit seinem bisherigen Lebenslauf in folgendem Satz zusammen: »Paul Friedländer avait disparu; Paul-Henri Ferland était un autre« (115).125 122

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»Nach drei oder vier Krankheitswochen wurde meine Atmung wieder normal, und das Fieber sank. Ich genas. […] Kurz, in diesem Monat April 1943 begann ich von neuem zu leben« (113). »In panischer Angst lief ich von einem Waggon zum anderen [...]. Ich schrie vor Entsetzen, und – vielleicht war auch nur die Diphterie schuld daran – ich erstickte. Doch plötzlich kam wie durch ein Wunder die Erlösung: Am Ende des Ganges tauchte meine Mutter auf, die nach mir suchte« (107). »Bei der Gipsfigur mit ihrem sanften Gesicht, dem langen weißen Gewand und dem himmelblauen Gürtel, auf dem Haupt die Sternenkrone aus Weißblech, fand ich so etwas wie mütterliche Nähe« (127). »Paul Friedländer war verschwunden; Paul-Henri Ferland war ein anderer« (128).

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Es bleibt jedoch nicht bei dieser ›eindeutigen‹ Identität als Katholik. Um seine Bindung an den katholischen Glauben zu festigen, wird er vorzeitig gefirmt und feiert Kommunion. Seine Zukunft als Jesuit scheint vorgezeichnet. Die Reise zu einem Jesuitenpater in St. Etienne aber fungiert als erneuter Wendepunkt im Leben des Jungen – eine Rückwendung zur eigenen Vergangenheit, die über den symbolischen Kauf zweier Bücher vorbereitet wird: Et voilà que, sans m’en rendre compte, je captais tout naturellement les injonctions du passé: un lien ténu se recréait, que je ne percevais même pas. [...] En entrant dans la petite librairie, je redécouvris d’un coup la senteur familière du papier imprimé et des couvertures poussiéreuses. Ce n’étaient pas les exemplaires somptueux de la bibliothèque paternelle, mais des livres tout de même (127f.).126

Von dem Jesuitenpater erfährt er erstmals von der Judenvernichtung und dem Schicksal seiner Eltern. Ohne dass er sie genau definieren könnte, ist eine Verbindung zum Judentum wieder hergestellt: [U]n lien était rétabli, une identité émergeait, confuse certes, contradictoire peutêtre, mais désormais reliée à un axe central qui ne pouvait faire de doute: d’une manière ou d’une autre, j’étais juif – quelle que fût, dans mon esprit, la signification de ce terme (129).127

Wodurch genau das Verlangen nach ›Rückkehr‹ ausgelöst worden ist, vermag das erinnernde Ich auch rückblickend nicht abschließend zu beantworten: D’où venait donc ce besoin d’un retour, le retour vers un groupe décimé, humilié, misérable? [...] Quel est le travail secret qui, pendant ce voyage, se fit en moi? Quel est l’instinct qui, sous la loyauté acquise, fit surgir la loyauté profonde? Obscure rupture suscitée par l’étonnante découverte de Saint-Étienne (130).128

Zurück in Saint-Béranger bittet er, ihn nicht mehr bei seinem ›Leihnamen‹ zu nennen. Der erneute Namenswechsel ist – dies ist entscheidend – erstmals frei gewählt und knüpft in der Rückkehr zu seinem ›richtigen‹ Namen – »le nom qui était le mien« (130/146) – an seine Vergangenheit an. Auch der wiederge126

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»Ohne mir dessen bewußt zu sein, gehorchte ich wie von selbst den Befehlen der Vergangenheit: Ein zartes Band entstand von neuem, und ich merkte es nicht einmal. [...] Als ich die kleine Buchhandlung betrat, erkannte ich sofort den vertrauten Geruch von bedrucktem Papier und staubigen Einbänden wieder. Zwar waren das hier nicht die prächtigen Exemplare der väterlichen Bibliothek, aber es waren Bücher« (143). »[E]ine zwar noch unklare, vielleicht widersprüchliche Identität tauchte auf, die jedoch nunmehr wieder einen sicheren Bezugspunkt hatte: Auf die eine oder andere Weise war ich Jude – was dies auch immer in meiner Vorstellung bedeutete« (145). »Woher kam dieses Verlangen nach Rückkehr, Rückkehr zu einer dezimierten, erniedrigten, elenden Gruppe? [...] Welche Verwandlung geschah auf der Reise in meinem Inneren? Welcher Instinkt war es, der unter den Banden erworbener Treue eine tiefinnere Treue hervorbrechen ließ? Unergründlicher Bruch, ausgelöst durch die erstaunliche Entdeckung in Saint-Etienne« (145).

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wählte Familienname stellt eine Verbindung her – auf doppelte Weise: ›Friedländer‹ verbindet ihn nicht nur mit dem jüdischen Kollektiv allgemein, sondern speziell mit dem deutschsprachigen. Mit dem Verweis auf den Umzug zu seinem Vormund endet der zweite Teil des Textes – und mit ihm der Lebensabschnitt als Katholik in der Sodalität. Paul zieht zur Familie seines Vormunds in eine kleine französische Provinzstadt. Die Beschreibung der Stadt, die Unbeweglichkeit und Verwurzelung, die sie ausstrahlt, bildet den Kontrast zu der wiederholten Fragmentierung innerhalb der Identität des erinnerten Ichs, zur Welt der Kindheit in Prag, aber auch, so deutet das erinnernde Ich an, zu der Welt, der er nun begegnen soll – eine Vorausdeutung auf die innere Zerrissenheit, die sich immer deutlicher artikulieren wird. Er fühlt sich vollständig entfremdet. Zwischen der Familie seines Vormunds, typische Vertreter des Ostjudentums, und der Welt der Sodalität gibt es keine Berührungspunkte, und auch zu seiner Familie bildet sie in ihrer religiösen Emotionalität das absolute Gegenteil (138f./154ff.). Um eine »makellose jüdische Identität« (140/157) zu erhalten, nimmt Paul ab jetzt an den religiösen Festen und Gebeten teil. Dabei verläuft der Wechsel zur neuen Identität als Jude keinesfalls fließend: Seine Weigerung, beim Seder-Abend Fleisch zu essen (es ist Karfreitag), ist dafür nur ein Beispiel (141/158). Den Sommer 1946 verbringt er in einem zionistischen Jugendlager im Jura. Die Begegnung mit der jüdischen Kultur dort löst bei ihm ein Gefühl der Unzugehörigkeit aus: [M]algré ce que j’avais éprouvé à La Souterraine en entendant les chants yiddish ou hébraïques, je ne me sentais pas à l’aise. Tandis qu’à la lueur des flammes, qui lentement baissaient, on pouvait voir les visages de mes compagnons comme illuminés de l’intérieur par cette musique familière, cette musique de la maison et de l’enfance qui, tout naturellement, menait aux nouveaux airs d’Eretz-Israël, je fredonnnait avec les autres, en percevant vaguement qu’à ma nature profonde on ajoutait un masque étranger (148).129

Dieses Gefühl ist jedoch zunächst sehr vage: »Ce qu’était cette nature profonde, j’aurais été bien incapable de le dire« (148).130 Außerhalb der Schule besucht Paul die Versammlungen kommunistischer Jugendverbände. Ein missglückter Versuch, Exemplare der ›Humanité‹ zu verkaufen, reicht aus, sich vom Kommunismus zu entfernen. So bleibt der Zionismus als Sinngeber im Leben des Jugendlichen: »Restait le sionisme. J’en fis, à cette époque, la 129

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»[T]rotz allem, was ich in La Souterraine empfunden hatte, wenn ich dort jiddische oder hebräische Lieder hörte – fühlte ich mich nicht wohl dabei. Während im Schein der langsam verlöschenden Flammen die Gesichter meiner Kameraden durch diese vertraute Musik wie von innen heraus erleuchtet wurden, diese Musik ihres Zuhauses und ihrer Kindheit, die ganz von selbst zu den neuen Liedern von Erez Israel hinüberführte, sang ich mit den anderen und empfand dabei undeutlich, daß meinem innersten Wesen eine fremde Maske übergestülpt wurde« (166). »Was dieses innerste Wesen jedoch eigentlich ausmachte, hätte ich absolut nicht sagen können« (166).

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grande affaire de ma vie« (152).131 Als mit dem Beschluss der UN die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat besiegelt wird und die Kämpfe beginnen, wird ihm immer deutlicher, dass er nicht länger in Paris bleiben kann. Wiederum war sein Lebensweg anders geplant, schien die Zukunft vorgezeichnet. An das Abitur am Lycée Henry IV sollte der Besuch der École Normale anschließen. Paul jedoch fasst den Entschluss, nach ›Erez Israel‹ auszuwandern. Neben der Begeisterung für das ›Projekt Israel‹ ist dieser Entschluss – so das erinnernde Ich – jedoch ebenso durch seine Einsamkeit motiviert: »Partir en ›Eretz‹, c’était joindre mon destin personnel à un sort commun, c’était aussi un rêve de communion et de communauté, c’était dissoudre mes anxiétés particulières dans l’élan d’un groupe«.132 Paul fälscht seinen Pass und schreibt sich beim Betar – der Menachem Begins Irgun nahestehenden Jugendorganisation – mit seiner Forderung nach den beiden Ufern des Jordan (160f./180) ein.133 Die letzten Wochen in Paris bis zur Abreise werden rückblickend im Wechsel mit Abschnitten der Bahnfahrt nach Marseille geschildert, die die Brüche seines Lebenswegs symbolisieren: Ainsi, les grands voyages en train divisaient ma brève existence en domaines distincts, séparés par de profondes cassures: le voyage de Prague à Paris, celui de Paris à Néris, celui de Montluçon à Saint-Étienne, puis le retour de ma ville de province à Paris. Et voici que j’étais en route pour Marseille d’où commencerait la plus grande des aventures (150).134

Nach seiner Ankunft in Israel wechselt er seinen Namen zu Shaul (Saul). Mit dem Wechsel des Namens von Paul zu Shaul ist auf der einen Seite die umgekehrte ›Bekehrung‹ vom Christen zum Juden vollzogen, die Zugehörigkeit zum jüdisch-israelischen Kollektiv scheinbar eindeutig. Doch verweist das erinnernde Ich sogleich auf die Geschichte Shauls, des ersten Königs Israels, der wider seinen Willen berufen wurde: Pour moi […] qui avais changé mon nom de Paul en Shaul (Saul) en arrivant dans le pays, l’histoire de ce premier roi d’Israël, racontée avec tant de force contrôlée dans ›Le livre de Samuel‹, devint l’image même du tragique: appelé contre son gré, puis 131 132

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»Blieb noch der Zionismus. Ich machte damals die große Sache meines Lebens daraus« (171). »Nach ›Erez‹ zu gehen, hieß mein persönliches Schicksal an das Los einer Gemeinschaft zu binden, hieß von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft zu träumen, hieß in der Begeisterung einer Gruppe persönliche Ängste zu verlieren« (181f.). Der Betar (auch Beitar) ist eine jüdische Jugendorganisation, die 1923 in Riga von Ze’ev Jabotinsky gegründet wurde, der dem revisionistischen Flügel der zionistischen Bewegung angehörte. Die Mitglieder des Betar waren im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 maßgeblich an den Kämpfen beteiligt. »So teilten die Bahnreisen mein kurzes Leben in verschiedene, schroff voneinander getrennte Abschnitte: die Reise von Prag nach Paris, die Reise von Paris nach Néris, dann von Montluçon nach Saint-Etienne, später die Rückkehr aus meiner Provinzstadt nach Paris. Und nun war ich auf dem Weg nach Marseille, wo das größte Abenteuer beginnen würde« (168).

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3 Saul Friedländer abandonné de tous, même de Dieu qui ne lui répond pas, Shaul, à la veille de sa plus grande épreuve, en est réduit à recourir à la sorcellerie pour apprendre de la nécromancienne d’Ein Dor quel sera son destin (20).135

Damit vereint der Name Shaul in sich gleichzeitig den erlösenden, bekehrenden Aspekt und antizipiert die sich von nun an immer deutlicher artikulierenden Anzeichen innerer Zerrissenheit und Entwurzelung. So endgültig und eindeutig, wie die Berufung des biblischen Saulus zum Christentum verläuft, wird – so erfahren wir damit bereits auf den ersten Seiten des Textes – umgekehrt die Zugehörigkeit von Shaul zum jüdisch-israelischen Kollektiv nicht sein. Im Gegenteil: Wie wenig eindeutig seine neue Identität als Israeli ist, wird bereits durch die Wahl seiner Lektüre deutlich. In den Pausen im Internat von Ben Shemen liest Shaul – jedoch keine hebräische Literatur, sondern Eugène Fromentins Dominique: »[J]e croyais affirmer ainsi, pour moi seul, la pérennité d’une culture qui restait à mes yeux la seul à compter véritablement« (20).136 Auch während seines Militärdienstes in Jaffa sind es Werke der französischen, nicht der hebräischen Literatur, die er liest und die ihm verdeutlichen, wie sehr er – so die bewusst ungeschickte Metapher des ›Fisches im Sand‹ – gespalten ist: Il ne me serait pas venu à l’idée de lire un roman ou une poésie en hébreu, bien que ma nouvelle langue me fût devenue aussi familière que le français, car le peu que je connaissais de cette littérature me convainquit que je n’y trouverais rien. Mais, bien davantage, c’était l’autre culture, celle que m’apportaient mes livres à moi, français pour l’essentiel, qui me manquait comme l’eau à un poisson sur le sable, métaphore mauvaise en elle-même mais adaptée, me semble-t-il, à la situation que j’essaie de décrire (63).137 135

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»So wurde […] für mich, der ich bei meiner Ankunft in Israel meinen Namen Paul in Shaul geändert hatte, die Geschichte des ersten Königs von Israel, die mit so viel gebändigter Kraft im Buch Samuel erzählt wird, zum Inbegriff des Tragischen: Gegen seinen Willen berufen, dann von allen verlassen, sogar von Gott, der ihm nicht mehr antwortet, nimmt Saul am Abend vor der großen Prüfung zur Zauberei Zuflucht, um von der Hexe von Ein Dor sein Schicksal zu erfahren« (17). – Zur Berufung des Königs Saul wider Willen und seinem Aufsuchen der Totenbeschwörerin in Endor vgl. I. Buch Samuel, 3–28. »Ich glaubte so für mich ganz allein den Fortbestand einer Kultur geltend zu machen, der einzigen Kultur, die in meinen Augen wirklich zählte« (18). – Das erinnernde Ich bezieht sich hier auf Eugène Samuel Auguste Fromentin: Dominique. Texte présenté et commenté par Anne-Marie Christin. Paris: Imprimerie Nationale 1988 (1862). Auch in Dominique spielt – wie bei Proust – die Auseinandersetzung mit Prozessen autobiographischer Erinnerung eine entscheidende Rolle. Vgl. dazu insbesondere Jacques Monge: Un précurseur de Proust. Fromentin et la mémoire affective. In: Revue d’histoire littéraire de la France. Oktober–Dezember 1961, S. 564–588. »Obgleich mir meine neue Sprache inzwischen ebenso vertraut geworden war wie das Französische, wäre ich nie auf die Idee gekommen, einen Roman oder ein Gedicht in Hebräisch zu lesen, denn das wenige, was ich von dieser Literatur kannte,

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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Der Vergleich seines Verhältnisses zu den in Israel geborenen Freunden, den ›Sabras‹, mit der Bewunderung Tonio Krögers für Hans Hansen und Inge Holm verdeutlicht außerdem, dass sich die neue, israelische Identität nicht einfach ›annehmen‹ lässt. Dabei bietet sich ein Vergleich zum Namen Tonio Krögers an: Dem Zwiespalt, der in der Kombination von südländischem Vornamen und bürgerlich-norddeutschem Nachnamen bereits angelegt ist, entspricht die Verbindung des hebräischen Vornamens Shaul mit dem deutschsprachigen Nachnamen Friedländer.138 3.2.3.2 Synthese: Kohärenz in der Disparatheit Es ist der Aufenthalt in Schweden 1954, jener außerhalb der Zeit stehende Lebensabschnitt, der schließlich als Auslöser der Hinwendung zur Vergangenheit fungiert – in dreifacher Hinsicht: als Aufforderung, sich mit der nationalsozialistischen Geschichte auseinanderzusetzen, als Auslöser für die Zuwendung zur persönlichen Vergangenheit und als neue Begegnung mit dem Judentum. Die Lektüre der Schriften Martin Bubers machen dem erinnerten Ich bewusst, was bislang nur in vagen Andeutungen Ausdruck fand – den Unterschied zwischen seiner Identität als Jude und der als Israeli: [J]e sentis poindre pour la première fois une nette différence entre mon israélité, qui me parut, pour un temps au moins, superficielle et presque vide de signification, et une judéité dont certains aspects me semblaient, dans ce cadre inhabituel, dotés soudain d’une dimension nouvelle, mystérieuse, puissante et magnifique (100).139

Gleichzeitig öffnet der Aufenthalt in Schweden den Zugang zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Dabei ist ein genauerer Blick auf die Positionierung des Schweden-Aufenthalts aufschlussreich: Die Passage schließt unmittelbar an die Abkehr von der eigenen Vergangenheit (»[D]’une manière ou d’une autre, j’allais me laisser mourir« (96)140) an und steht damit direkt vor der Genesung und endgültigen Hinwendung zum Katholizismus. Als Klammer in der Textmitte setzt der Zugang zur persönlichen Vergangenheit

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ließ mich zu der Überzeugung kommen, sie könne mir nichts geben. Um so mehr vermißte ich jene andere Kultur, die ich in meinen eigenen Büchern, vor allem den französischen Büchern fand, ja sie fehlte mir wie das Wasser dem Fisch im Sand – eine in sich selbst unzulängliche Metapher, aber wohl der Situation angemessen, die ich zu beschreiben versuche« (67). – Zur Lektüre der Werke des französischen Kanons und der Wahl der Metapher des ›Fisches im Sand‹ vgl. auch Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 449. Zur Namenswahl bei Thomas Mann vgl. Debus, Namen in literarischen Werken (wie Anm. 105), S. 47. »[N]och stärker fühlte ich zum ersten Mal den klaren Unterschied zwischen meinem Status als Israeli, der mir zumindest vorübergehend überflüssig und fast sinnentleert erschien, und dem Status als Jude, der mir in diesem ungewöhnlichen Rahmen in einigen Punkten plötzlich eine neue, geheimnisvolle, starke und wunderbare Dimension zu erhalten schien« (109). »Irgendwie ließ ich mich langsam sterben« (105).

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3 Saul Friedländer

also genau dort ein, wo auf der ersten Zeitebene die Abwendung von der ursprünglichen, mit den Eltern verbundenen Identität begonnen hat. Damit steht das Bedürfnis nach Hinwendung zur eigenen Lebensgeschichte an zentraler Stelle im Text – eine Hinwendung durch den autobiographischen Schreibakt, dessen Funktion als Mittel der Kohärenzerzeugung zwischen den einzelnen biographischen Fragmenten – »[u]n besoin de synthèse, de cohérence profonde qui désormais n’exclut plus rien« (108) – das erinnernde Ich an anderer Stelle explizit reflektiert.141 Weder geht es dabei – so die Aussage des Zitats – um die Einebnung der unvereinbaren Anteile des Ichs, »des fragments d’existence, disparates, incompatibles, coupés de toute réalité, sans continuité aucune, comme ces éclats d’acier que portent parfois les rescapés des grandes batailles« (105)142 –, noch um die Darstellung eines ›dezentrierten Subjekts‹. Die Unvereinbarkeit der einzelnen Lebensabschnitte stellt die Identität des Subjekts nicht in Frage – die Brüche sind vielmehr als Anteile ein und desselben Subjekts gekennzeichnet. Das erinnernde Ich fasst dies folgendermaßen zusammen: Comme il me paraît étrange aujourd’hui d’évoquer ce lointain point de rupture! Estce bien de moi qu’il s’agit? J’imagine que s’il pouvait y avoir un juif collectif, il se poserait la même question: suis-je le même aujourd’hui que le juif d’il y a trentecinq ans? Oui, c’est bien moi; c’est bien nous. Les fissures sont là, malgré les apparences: tout a changé et pourtant rien n’a changé (97).143

Dies wird auch auf linguistischer Ebene deutlich: So ist der letztendliche Name ›Saul‹, der auf das außerhalb des Textes bestehende Autorensubjekt verweist, als größtmögliche Synthese der Fragmente des Selbstes zu lesen – »un compromis entre le ›Saül‹ qu’exige le français et le ›Paul‹ que j’avais été« (92).144 ›Saul‹ verweist gegenüber ›Shaul‹ nicht mehr auf die Zugehörigkeit zum israelischen Kollektiv und rückt näher an den ursprünglichen Namen ›Paul‹ heran, der jedoch nicht wieder gewählt wird. Damit wird auf der Ebene der persönlichen Geschichte deutlich, was bereits Friedländers Überlegungen gegen ein ›erlösendes Abschließen‹ innerhalb der Geschichtsschreibung bestimmte: Auch die persönliche Geschichte lässt sich nicht als chronologische Darstellung aufeinander folgender Lebensabschnitte 141 142

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»Das Verlangen nach Synthese, nach innerer Kohärenz, die nichts mehr außer acht läßt« (120). »[S]ich widersprechende, beziehungslose, völlig realitätsferne Bruchstücke eines Lebens [...], jenen Metallsplittern gleich, die manchmal die Überlebenden großer Schlachten in sich tragen« (116). »Wie merkwürdig es mir heute vorkommt, diesen fernen Wendepunkt in Erinnerung zu rufen! Bin das tatsächlich ich? Gäbe es einen Kollektivjuden, so würde er sich wohl dieselbe Frage stellen: Bin ich heute noch derselbe Jude wie jener vor fünfunddreißig Jahren? Ja, ich bin es wirklich; wir sind es wirklich. Die Risse sind da, obwohl man sie nicht sieht: Alles ist verändert, und doch ist nichts verändert« (106). »[A]ls Kompromiß zwischen der französischen Schreibweise ›Saül‹ und dem ›Paul‹, der ich einst gewesen war, wurde daraus ›Saul‹« (100).

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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schreiben. Zwar greifen die einzelnen Abschnitte ineinander (vgl. die Überlegungen im folgenden Kapitel), sind jedoch gleichzeitig durch die Namenswechsel und die formale Gestaltung des Textes in ihrer Unvereinbarkeit gekennzeichnet. Einer ›Geschichtsschreibung des Ichs‹ muss es folglich darum gehen, die unvereinbaren Anteile der Biographie als solche zu kennzeichnen und nicht in eine vermeintlich kausal verkettete Lebensgeschichte zu integrieren. Eine eindeutige, abgeschlossene Identität wird also auch auf der Ebene der ›persönlichen Geschichtsschreibung‹ als illusorisch entlarvt.145 Ich komme hierauf in den Überlegungen zum autobiographischen Schreibakt (Kapitel 3.2.7) zurück. Die persönliche Vergangenheit kann dabei nur über den Akt autobiographischen Erinnerns eingeholt werden. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, die Abbildung der Funktionsweise autobiographischer Erinnerungsprozesse und des Zusammenhangs von Erinnerung und Identität durch die Textstruktur darzustellen. Dabei wird die vermeintlich ›erfolgreiche‹ Bewegung der persönlichen ›Bekehrungsgeschichte‹ von Paul zu Saul durch die Komposition des Textes von vornherein hinterfragt.

3.2.4 Individuelle Erinnerung und Identität Dass die Annäherung an die persönliche Vergangenheit nur über den Akt der Erinnerung zugänglich ist, wird durch verschiedene literarische Strategien im Text aufgerufen – so etwa durch die Betonung der Bedeutung von Kindheitserinnerungen, des Zusammenhangs von Emotionen und Erinnerung, der Gegenwärtigkeit sogenannter ›Blitzlichterinnerungen‹ oder – im Verweis auf das Proustsche Konzept der ›mémoire involontaire‹ – der (Un)Möglichkeit des exakten Wiedererlebens der persönlichen Vergangenheit. Durch die deutliche Differenz zwischen erinnerndem Ich der Tagebucheinträge und erinnertem Ich der Vergangenheit wird der Akt autobiographischen Erinnerns zudem als immer gegenwärtiger gekennzeichnet: Erinnertes Ich und erinnerndes Ich bilden 145

Friedländer selbst formuliert dies im Interview mit Martin Doerry folgendermaßen: »Ich fühle mich nirgendwo wirklich zu Hause. […] Ich fühle mich nicht in Amerika zu Hause, auch nicht in Frankreich, nicht in der Schweiz, und, wissen Sie, auch nicht in Israel. Obwohl ich heutzutage sowohl Amerikaner als auch Israeli bin. Wenn Sie das Land oder die Kultur als Zentrum nehmen, dann bin ich nirgendwo oder überall ein bißchen zu Hause.« – Friedländer, ›Der Judenhaß steckt tiefer, als man denkt‹ (wie Anm. 88), S. 168. – Auch die jüdische Religion biete ihm keine ›Heimat‹ – das Bewusstsein, Jude zu sein, entstand erst in der Konfrontation mit Auschwitz. ›Identität‹ besteht vielmehr – so Friedländer weiter – aus »mehreren Schichten, horizontol und vertikal«. –Ebd., S. 169. Wollte man einen »eigentlichen Kern« dieser ›Identität‹ ausmachen, so sei dieser in den Jahren der Vernichtung zu suchen: »Diese Jahre haben mich fast mein gesamtes Leben beschäftigt, und die Identität steckt dort«. – Ders.: ›Das Primärgefühl der Fassungslosigkeit bewahren‹. Saul Friedländer im Gespräch. In: Ders., Den Holocaust beschreiben (wie Anm. 1), S. 96–120, hier: S. 100.

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3 Saul Friedländer

keine Einheit – vielmehr wird deutlich, dass es sich bei dem erinnerten Ich stets um eine (Re)Konstruktion handelt, die niemals unabhängig vom erinnernden Ich der Schreibgegenwart existiert. In einem ersten Teil wird es um die Analyse der dem Text zugrundeliegenden Annahmen zur Funktionsweise individueller Erinnerung gehen (3.2.4.1). Der zweite Teil behandelt den Zusammenhang von Erinnerung und Identität, der insbesondere durch die Verschränkung der drei Erzählstränge hervorgehoben wird (3.2.4.2). 3.2.4.1 Quand vient le souvenir... als ›Abbild‹ autobiographischer Erinnerungsprozesse Erinnerung und Wissen Dem Einfluss der Kindheit kommt bei der Ausbildung des Selbstes besonderes Gewicht zu. Das erinnernde Ich beschreibt diesen Einfluss mit folgenden Worten: Plus le temps passe et plus je sens que c’est bien là, dans ce cadre initial, que s’est formé l’essentiel de moi-même, malgré les bouleversements extrêmes qui vinrent par la suite. Il est désormais banal de parler de l’influence décisive des premières années et pourtant on s’étonne chaque fois de découvrir à quel point reste indélébile l’empreinte de cette phase presque oubliée (37).146

Auffällig ist dabei die Bildhaftigkeit der Kindheitserinnerungen, die mit den Ergebnissen der Neurobiologie übereinstimmt:147 Des images banales me reviennent à l’esprit: Rochlitz à nouveau, avec des fleurs de givre, le matin au réveil; le crissement de la neige sous les semelles […]. Rochlitz encore: des montagnes aux pentes douces, couvertes de forêts de sapins et – autre image d’hiver – ma mère se retourne, des skis sur l’épaule, svelte et belle, un grand sourire et un visage étincelant dans le froid (23).148

In der Evokation des Kindheitsparadieses geht das Bild über eine Darstellung der persönlichen Vergangenheit hinaus. Vielmehr verweisen die Harmonie und die durch die Beschreibung der Natur evozierte Ursprünglichkeit und Dauer 146

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»Je mehr die Zeit vergeht, um so deutlicher empfinde ich, daß sich in dieser Welt meiner ersten Kindheit mein eigentliches Ich geformt hat, trotz der ungeheuren Veränderungen, die später folgen sollten. Es klingt heute banal, ständig vom entscheidenden Einfluß der ersten Jahre zu sprechen, und trotzdem stellt man immer wieder erstaunt fest, wie unauslöschlich sich diese fast vergessene Phase eingeprägt hat« (36). Vgl. dazu Schacter, Searching for memory (wie Kap. 2, Anm. 1), S. 23. »Alltägliche Bilder tauchen vor mir auf: wieder Rochlitz, die Fenster morgens beim Erwachen mit Eisblumen bedeckt; das Knirschen des Schnees unter den Schuhsohlen […]. Noch einmal Rochlitz; Berge mit sanften Hängen, mit Tannenwäldern bedeckt und – ein anderes Winterbild – meine Mutter, schlank und schön, die Skier über den Schultern, dreht sich lächelnd um und wendet mir ihr in der Kälte strahlendes Gesicht zu« (21).

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auf den generellen Stellenwert von Kindheitserinnerungen. Folgt man Richard N. Coe, dann dient die Kindheit als Fluchtpunkt, stellt in der Erinnerung das ›absolut Andere‹ dar, das sie unvereinbar vom Erwachsenendasein trennt. Der nostalgische Rückblick auf die verlorene Kindheit ist immer auch zu lesen als eine Sehnsucht nach den Ursprüngen.149 Das erinnernde Ich formuliert dies folgendermaßen: »Reste, quand le regard se porte au-delà de la ligne, une incoercible nostalgie« (38).150 Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Textpassagen, die die Dominanz der Kindheitserinnerungen über ein später erworbenes Wissen hervorheben. So heißt es über die Erinnerungen an den Vater: »[L]e bouleversement total qui allait bientôt survenir ne changea rien à l’image initiale et, quand je pense à lui, je revois tout naturellement le personnage réservé de cette première époque« (14).151 An anderer Stelle formuliert das erinnernde Ich die Dominanz früher Erinnerungen über gegenwärtiges Wissen allgemeiner: »Mon image du passé est comme une terre assoiffée d’eau: qu’une goutte tombe, incontinent elle disparaît, qu’un torrent coule, le voici absorbé« (108).152 Emotionen und Erinnerung Ob Erinnerungen überdauern, hängt in entscheidendem Maße von der Intensität der Emotionen ab, mit denen sie enkodiert werden (vgl. S. 16). In Friedländers Erinnerungstext wird der Zusammenhang von Emotionen und Erinnerung unter anderem durch die literarische Inszenierung der Funktionsweise von Deck- und Beobachtererinnerungen hervorgehoben. Im Gegensatz zu den harmonischen Bildern der Zeit vor der Flucht sind Erinnerungen an emotional stark belastende Ereignisse durch Deckerinnerungen ersetzt, die im Text explizit als solche benannt werden. Der psychoanalytische Begriff der Deckerinnerung beschreibt wiederholt auftretende, häufig sehr detaillierte Erinnerungen an scheinbar unbedeutende Erlebnisse der frühen Kindheit. Ihre Funktion besteht in der Überdeckung und Ersetzung abgewehrter, aus der Erinnerung verdrängter Erfahrungen.153 Wiederholt wird auf solche Deckerinnerungen verwiesen, denen kein reales Ereignis zugrunde liegt – die aber eine innere 149 150 151

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Richard N. Coe: When the grass was taller. Autobiography and the experience of childhood. New Haven: Yale University Press 1984. »Blickt man über diese Grenze zurück, so bleibt nur eine unwiderstehliche Sehnsucht« (38). »Die grundlegende Veränderung, die bald darauf unser Leben erschütterte, tat diesem Bild der ersten Jahre keinen Abbruch. Und wenn ich an meinen Vater denke, so sehe ich stets jene zurückhaltende Figur meiner ersten Kindheitsjahre vor mir« (11). »Mein Bild der Vergangenheit gleicht dem ausgedörrten Boden: Fällt ein Tropfen darauf, ist er sofort verschwunden, ergießt sich ein Strom, wird er aufgesogen« (120). Vgl. dazu Pethes/Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung (wie Kap. 2, Anm. 5), S. 113.

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Realität fassen und damit der emotionalen Wirklichkeit des erinnerten Ichs näher kommen. Wie deutlich das Kind unbewusst den bevorstehenden Verlust der vertrauten Welt antizipiert, macht folgende Deckerinnerung deutlich: Wieder und wieder schleicht sich das erinnerte Ich abends zum Salon, um durch das Schlüsselloch den Vater zu beobachten und sich so zu vergewissern, dass er nicht verschwunden ist (21/19). Andere Erinnerungen werden aus einer scheinbaren Außenperspektive geschildert. In solchen sogenannten ›Beobachter-Erinnerungen‹ wird die eigene Vergangenheit aus der Distanz wahrgenommen. Dies gilt für emotional in hohem Maße schmerzhaft besetzte Ereignisse, die eine identifizierende, vergegenwärtigende Erinnerung nicht zulassen – wie die Verabschiedung der Mutter bei ihren wöchentlichen Besuchen in Montmorency: [T]oute la tristesse que peut ressentir un enfant se concentre en une scène d’une parfaite banalité: par un après-midi d’été, un petit garçon de sept ans est assis en face de sa mère, sous une tonnelle de café à Montmorency. Deux verres de limonade sont posés devant eux et, malgré la chaleur, il ne sont pas vides. Dans une heure environ, la mère va repartir. Rien de plus (49).154

Die zweite Passage solch distanzierter Selbstbeschreibung erhält ihren Stellenwert zusätzlich durch ihre zentrale Platzierung im Text. Es handelt sich um die letzte Begegnung Paul-Henris mit seinen Eltern, zu denen er aus der unerträglichen Atmosphäre des Internats von Saint-Béranger flieht. In der Erinnerung ist die emotionale Distanz zum Ereignis nicht nur durch die Außenperspektive des erinnernden Ichs ausgedrückt, sondern wird durch die Bezeichnung des erinnerten Ichs als »un enfant« zusätzlich verstärkt. So heißt es über den endgültigen Abschied: Tout a été emporté par la catastrophe et par le temps. Ce que mon père et ma mère éprouvèrent à ce moment-là a disparu avec eux; ce que je sentis a sombré dans l’oubli et, de tout ce déchirement, il ne reste qu’une vignette de ma mémoire, l’image d’un enfant descendant la rue de la Garde, dans le sens inverse à celui que, peu avant, il avait pris, sous une paisible lumière d’automne, entre deux religieuses vêtues de noir (85).155

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»Und so ist all die Traurigkeit, derer ein Kind fähig ist, in einer ganz alltäglichen Szene eingefangen: An einem Sonntagnachmittag in Montmorency sitzt ein kleiner siebenjähriger Junge in der Gartenlaube eines Cafés seiner Mutter gegenüber. Zwei Gläser mit Limonade stehen auf dem Tisch, doch trotz der Hitze sind sie noch nicht leer. In ungefähr einer Stunde wird die Mutter fahren. Das ist alles« (50f.). »Die Katastrophe und die Zeit haben alles hinweggespült. Was mein Vater und meine Mutter in jenem Moment empfanden, ist mit ihnen verschwunden; was ich fühlte, geriet in Vergessenheit, und von diesem ungeheuren Schmerz ist nur ein Bild in meiner Erinnerung geblieben: Im sanften Herbstlicht geht ein Kind zwischen zwei schwarzgekleideten Nonnen die Rue de la Garde hinunter, die es kurz zuvor in entgegengesetzter Richtung entlanggeeilt ist« (92).

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Wie einleitend erwähnt, handelt es sich bei dieser Szene um die Erinnerung, deren Verschriftlichung Friedländer lange Zeit nicht möglich war. Andere emotional hoch besetzte Erinnerungen dagegen werden ›wiedererlebt‹ und verweisen so auf die Gegenwärtigkeit von Erinnerungen. Unter dem Stichwort ›Gegenwärtigkeit von Erinnerungen‹ verstehe ich im Folgenden jedoch nicht nur das Hineinreichen vergangener Erlebnisse in die Gegenwart des erinnernden Ichs, sondern ebenso – andersherum – die Funktion gegenwärtiger Ereignisse für das Auslösen von Erinnerungsprozessen (›Trigger‹). Gegenwärtigkeit von Erinnerungen Die unvermittelte Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart wird zunächst durch die Abbildung sogenannter ›Blitzlichterinnerungen‹ inszeniert. Sind die Erzählebenen von erinnertem und erinnerndem Ich normalerweise durch die Verwendung verschiedener Tempora deutlich voneinander getrennt, wird durch den Einsatz des Präsens auf der Ebene des erinnerten Ichs diese Distanz aufgehoben. Durch den Tempuswechsel wird ein – wie Endel Tulving es formuliert – Wiedererleben von Dingen, die in der Vergangenheit geschehen sind, abgebildet.156 So heißt es etwa über die Ankunft in Paris: Me voici réveillé et pris de panique. Tout dans cette chambre est nouveau, insolite, terrifiant même, et mes parents sont partis. […] Je dévale en sanglots l’escalier et essaie de dire quelque chose au monsieur à l’habit râpé. Celui-ci comprend-il le tchèque? Comment pourrait-il le comprendre? (41f.)157

Ausgelöst werden die Erinnerungen durch Sinneseindrücke. Literarische Texte, in deren Mittelpunkt das Thema der Erinnerung steht, haben schon früh beschrieben, was seit den 1990er Jahren auch durch die Ergebnisse der neurobiologischen Gedächtnisforschung bestätigt wird: Sensorische Eindrücke spielen sowohl in der Enkodierung als auch beim Abruf von Erinnerungen eine entscheidende Rolle. Das bekannteste literarische Beispiel hierfür ist sicher die Madeleine-Szene im Combray-Teil von Prousts À la recherche du temps perdu.158 Auch in de Fromentins Dominique, auf den in Friedländers Text gleich zwei Mal verwiesen wird, spielen sensorische Reize als Erinnerungsauslöser eine maßgebliche Rolle. Die Flucht nach Paris etwa ist durch den Geruchssinn in der Erinnerung verankert: 156 157

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Vgl. dazu Endel Tulving: Elements of episodic memory. New York: Oxford University Press 1983 (Oxford psychology series; 2), S. 127. »Ich wache auf, von Panik ergriffen. Alles in diesem Zimmer ist neu, ungewohnt, ja angsterregend, und meine Eltern sind weg. […] Schluchzend stürze ich die Stufen hinunter und versuche dem Mann im abgetragenen Anzug etwas zu sagen. Versteht er Tschechisch? Wie sollte er es verstehen können?« (41f.) Marcel Proust: À la recherche du temps perdu I: Du côté de chez Swann. Édition présentée et annotée par Antoine Compagnon. Paris: Gallimard 2003 (1913) (Folio classique; 1924), S. 44ff.

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3 Saul Friedländer Je n’oublierai pas le passage de la ›frontière‹ entre le Protectorat et le Reich. Ils s’étaient mis à quatre pour tout fouiller, même mon cartable et mon plumier; ils dévissèrent mon stylo à point de verre. L’odeur de leurs paletots de cuir! (41)159

Auch akustische und visuelle Eindrücke spielen eine entscheidende Rolle im Erinnerungsprozess – die Geräusche einer Schneiderstube etwa lösen die Erinnerung an die Küche der Großmutter aus (142f./160), während das Hitlerreich sich auf das Bild zweier Wachsoldaten reduziert, »pas de visages, mais deux casques« (35).160 Es ist jedoch der Geschmackssinn, der in der Auseinandersetzung mit der Funktionsweise individueller Erinnerung in Friedländers Text eine besondere Rolle spielt. Das in den Tee getauchte Gebäck aus Prousts Recherche wird bei Friedländer zu Getränken, an die die Erinnerungen an die Mutter gebunden sind. So heißt es über die Prager Cafébesuche: [E]lle me prenait la main et m’emmenait au café Slavia, tout à côté de l’école, boire un immense chocolat chaud. On bavardait de tout et de rien. C’est à ce moment-là, quelques mois à peine avant notre départ, que je découvris à quel point j’aimais ma mère (33).161

In Paris ist es die gemeinsam mit der Mutter getrunkene Erdbeermilch, die dem erinnernden Ich unvergesslich bleibt: Paris, […] c’était surtout, souvenir intense entre tous – et qui, plus tard, en viendra pour moi à symboliser la félicité –, un goût de milk-shake aux fraises, de ces milkshakes que je buvais avec ma mère, perché sur un immense tabouret dans un milkbar du boulevard des Italiens (42).162

Bei den sonntäglichen Besuchen der Mutter in Montmorency wird die gemeinsame Erdbeermilch schließlich zur Limonade, die in zwei Gläsern unausgetrunken auf dem Tisch der Gartenlaube nachbleiben und so die Einsamkeit des Jungen symbolisieren. Die Rückkehr in die Milchbar, in der das erinnernde Ich im Pariser Exil mit seiner Mutter gemeinsam die Erdbeermilch trank, ist als unmittelbarer Verweis auf Prousts Konzept der ›mémoire involontaire‹ zu lesen. Wesentlich hierfür ist die von Proust vorgenommene Gegenüberstellung von ›mémoire volontaire‹ 159

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»Ich werde den Augenblick, als wir die ›Grenze‹ zwischen dem Protektorat und dem Reich überquerten, nie vergessen. Zu viert begannen sie alles zu durchwühlen, sogar meinen Schulranzen und mein Schreibetui; sie schraubten den Füllfederhalter mit der Glasspitze auf. Der Geruch ihrer Ledermäntel!« (41) »[…] keine Gesichter, nur zwei Helme« (34). »Sie nahm mich an der Hand und führte mich ins Café Slavia, gleich neben der Schule, wo ich eine riesige Tasse Schokolade trank. Wir schwatzten über alles mögliche. Damals, nur wenige Monate vor unserer Abreise, entdeckte ich, wie sehr ich meine Mutter liebte« (32). »Paris, […] das war vor allem der Geschmack von Erdbeermilch, die ich, auf einem riesigen Hocker sitzend, mit meiner Mutter in der Milchbar am Boulevard des Italiens trank, eine intensive Erinnerung, die später für mich zum Symbol des Glücks werden sollte« (42f.).

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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und ›mémoire involontaire‹: Ist nach Proust die Vergangenheit nur der durch einen unerwarteten, sensorischen Reiz ausgelösten ›mémoire involontaire‹ zugänglich, bleiben wesentliche Elemente dem bewussten Versuch, die Vergangenheit einzuholen – der ›mémoire volontaire‹ – verschlossen.163 Durch den Genuss des in den Tee getauchten Gebäcks eröffnet sich für Marcel der Zugang zur Erinnerung an die Kindheit in Combray, die zuvor auf die allabendliche Angst vor der Trennung von der Mutter reduziert war.164 Während Marcel die Wirkung, die der Geschmack der Madeleine auslösen wird, nicht vorhersieht, betritt Paul bewusst die Milchbar auf dem Boulevard des Italiens. Hier bestellt er den ehemaligen Lieblingsshake. Im Gegensatz zu Marcel, der von der durch den Geschmack der Madeleine ausgelösten körperlichen Sensation förmlich überwältigt wird, trinkt Paul die Erdbeermilch in der angespannten Erwartung, dass ihr Genuss eine Wirkung haben, Erinnerungen hervorrufen wird: Le serveur versa la boisson mousseuse dans un haut verre, du même geste dégagé et élégant qu’à l’époque. Va-t-il me donner une paille? J’aspire. C’est bien le même goût sucré et, sur les bords du verre, les boules irisées éclatent, comme dans le temps (141f.).165

Doch der Versuch, sich der eigenen Vergangenheit durch das bewusste Aufsuchen des Ortes zu nähern, schlägt fehl – die gesuchte Erinnerung stellt sich nicht ein: Et pourtant ce milk-shake, s’il appelle les souvenirs, n’éveille pas ce que je cherche… Non, vraiment pas ce que je cherche… Et je reste ainsi, désemparé devant cette boisson fraîche, agréable en cette première chaleur printanière, alors que tout autour de moi, lentement, coule la clarté poussiéreuse d’un beau jour d’avril (142).166 163

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Prousts Konzept der ›mémoire involontaire‹ ist jedoch nicht dahingehend misszuverstehen, vergangene Ereignisse würden in der Erinnerung so abgebildet, wie sie sich ursprünglich zugetragen haben. Erinnerung entsteht vielmehr aus dem Vergleich zweier Bilder, von denen eins der Vergangenheit, das andere der Gegenwart entstammt. – Vgl. dazu Schacter, Searching for memory (wie Kap. 2, Anm. 1), S. 28. – Zu Prousts Konzept von Erinnerung vgl. auch Roger Shattuck: Prousts binoculars. A study of memory, time, and recognition in À la recherche du temps perdu. New York: Random House 1963. Vgl. hierzu insbesondere Proust, À la recherche du temps perdu I: Du côté de chez Swann (wie Anm. 158), S. 43–47. Marcel bezeichnet dort die ›mémoire volontaire‹ als ›mémoire de l’intelligence‹ – »les renseignements qu’elle donne sur le passé ne conservent rien de lui« (43). »Mit der gleichen lässig-eleganten Geste wie damals goß der Mann hinter der Theke das schaumige Getränk in ein hohes Glas. Wird er mir einen Strohhalm geben? Ich ziehe daran. Genau der gleiche zuckrige Geschmack, und wie damals zerplatzen schillernde Blasen am Rand des Glases« (159). »Und doch, wenn dieser Milk-Shake auch Erinnerungen weckt, so ruft er doch nicht das zurück, was ich suche... Nein, das, was ich suche, wirklich nicht... Und so

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Folgt man den Überlegungen Prousts, dass sich der Zugang zur Vergangenheit nur über die unbewusste ›mémoire involontaire‹ herstellen kann, wird deutlich, dass Pauls bewusster Versuch, den Erinnerungsvorgang auszulösen, fehlschlagen muss.167 Darüber hinaus bietet sich im Abgleich mit der Proustschen Madeleine-Szene eine weitere Interpretation an: Eröffnet der Geschmack des in den Tee getunkten Madeleine-Gebäcks endgültig den Zugang zur Kindheitswelt von Combray, so lässt sich die doppelte Verneinung in Friedländers Text dahingehend deuten, dass der Zugang zur Welt der Kindheit durch die Erinnerung niemals umfassend sein kann, nur in disparaten, immer durch die Gegenwart gefilterten Erinnerungsfragmenten zugänglich ist. Über die sensorischen ›Trigger‹ hinaus sind es insbesondere die Kategorien Raum und Zeit, die den Abruf von Erinnerungen auslösen und somit als Bindeglied zwischen der Zeitebene des erinnernden und der des erinnerten Ichs fungieren.168 Bei seiner ersten Rückkehr nach Prag 1967 besucht das erinnernde Ich das Haus seiner Kindheit in Bubenec: Tout était à sa place, si je puis dire: chaque porte, chaque mur, chaque coin. C’est de là que ma mère arriva un soir que j’étais malade avec une bassine d’eau chaude et des compresses; c’est là que je dormais et voici la salle à manger (37).169

Andere Erinnerungen werden durch bestimmte Zeitpunkte in der Gegenwart hervorgerufen. Vom Jom Kippur des Tagebucheintrags im September 1977 etwa blendet das erinnernde Ich zurück zum Beginn des Krieges am KippurTag 1973, von wo aus die Assoziationen ihn zum Angriff der französischen Widerstandskräfte auf Montluçon im August 1944 führen (116ff./129ff. – Zur Interpretation dieses Wechsels zwischen den Zeitebenen siehe Kapitel 3.2.8.4). Dabei verläuft die Bewegung der Erinnerungsprozesse, die durch den Wechsel der Erzählebenen ausgedrückt wird, keinesfalls nur in eine Richtung: Erinnerung an die Vergangenheit wird nicht nur durch die Gegenwart ausgelöst, sondern bestimmt andersherum die Wahrnehmung der Gegenwart.

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sitze ich verwirrt vor dem kühlen Getränk, das bei dieser ersten frühlingshaften Hitze so angenehm erfrischt, und um mich herum fließt sanft das staubige Licht eines schönen Apriltages« (159). Trapp deutet die doppelte Verneinung als Hinweis auf den Gegenstand der Suche des erinnernden Ichs: »Die Antwort liegt auf der Hand, ohne dass sie direkt angesprochen werden müsste. Er sucht nach der emotionalen Nähe zu den Eltern: Vorbedingung für die Konstitution von Identität.« – Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 451. Zur Funktion von Zeit und Raum als ›Scharniere‹ zwischen den Zeitebenen vgl. Basseler/Birke, Mimesis des Erinnerns (wie Kap. 2, Anm. 32), S. 125–134. »Alles war sozusagen am gleichen Platz, jede Tür, jede Mauer, jeder Winkel. Von dort her war meine Mutter eines Abends, als ich krank war, mit einer Schüssel heißen Wassers und Umschlägen gekommen; dort hatte ich geschlafen, und da war das Eßzimmer« (37).

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Erinnerndes und erinnertes Ich Die Gegenwärtigkeit von Erinnerung wird außerdem durch die Gegenüberstellung von erinnerndem Ich der Schreibgegenwart und erinnertem Ich der Vergangenheit inszeniert. Durch eine ›Rhetorik der Erinnerung‹ sind Ereignisse deutlich als Rekonstruktionen aus der Gegenwart gekennzeichnet. Formulierungen wie »à ma mémoire« (14), »quand je pense à« (14) oder »Moi qui me rappelle« (15) betonen, dass persönliche Vergangenheit nur durch den Filter der Erinnerung einzuholen ist.170 Dabei werden die Unzuverlässigkeit – »pour autant que ma mémoire soit fidèle« (15) – und das gänzliche Verschwinden von Erinnerungen – »je ne garde pas le moindre souvenir de« (15f.) – thematisiert.171 Über die explizite Kennzeichnung der Erinnerungsakte hinaus sind es insbesondere die zahlreichen Kommentierungen und Vorausdeutungen, die den Wissensvorsprung des erinnernden Ichs markieren. So wechselt etwa die Perspektive vom erinnerten zum erinnernden Ich, wenn die Abreise aus Prag folgendermaßen kommentiert wird: »La sœur de mon père restait sur place: nous ne la revîmes pas« (37).172 Und auch in der Beschreibung der jiddischen Lieder im Kinderheim von La Souterraine wird der nachträgliche Wissensvorsprung des erinnernden Ichs implizit mitformuliert: »[M]ême un enfant comme moi, si étranger, sentit […] la nostalgie, la beauté, la mélancolie qui émanaient de ces chants yiddish, du monde qu’ils exprimaient, d’un monde qui, en ce moment même, était en train de sombrer à jamais« (72).173 In welchem Maße der Akt des Erinnerns durch die Perspektive des erinnernden Ichs bestimmt wird, zeigen solche Ereignisse, die erst im Rückblick ihren Verweischarakter erhalten. So heißt es im Zusammenhang mit der Beerdigung des Schuldirektors in Prag: »On me dit que le cercueil, en métal, devait entrer dans un four où il serait chauffé à blanc, ce qui réduirait le cadavre en cendres. Que l’explication ait été exacte ou non, j’entendis, pour la première fois, parler d’un four crématoire et j’en fus bouleversé« (22f.).174 Vergangenheit wird so deutlich als Rekonstruktion vom gegenwärtigen Standpunkt des erinnernden Ichs gekennzeichnet, womit eine vermeintlich ›natürlich gegebene‹ Linearität und Kausalität der eigenen Biographie in Frage 170 171 172 173

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»In der Rückerinnerung« (10); »wenn ich an […] denke« (11); »Ich erinnere mich« (12). »soweit ich mich erinnern kann« (12); »doch erinnere ich mich nicht im geringsten an« (12). »Die Schwester meines Vaters blieb in Prag. Wir haben sie niemals wiedergesehen« (36). »[S]ogar ich – so fremd mir dies alles war – spürte, wie viel Sehnsucht, Schönheit, Melancholie von diesen jiddischen Liedern ausging, von jener Welt, deren Ausdruck sie waren und die in diesem Augenblick für immer unterging« (77). »Man sagte mir, daß der Metallsarg in einen Ofen komme, wo er bis zur Weißglut erhitzt werde, so dass die Leiche zu Asche verbrenne. Ob die Erklärung nun richtig war oder nicht, ich hörte auf jeden Fall zum ersten Mal von einem Krematorium und war bestürzt« (20).

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gestellt werden. Wie fremd dabei dem erinnernden Ich teilweise die eigenen Verhaltensweisen sind, wird durch das Einfügen eigener Briefe illustriert. Wie die Briefe der Eltern, auf die ich später zurückkommen werde, fügt das erinnernde Ich die eigenen Briefe als ›Dokumente‹ der einstigen Sichtweise ein, die er aus der Schreibgegenwart bestenfalls mit Befremden wahrnimmt: »Ce n’est pas sans un frisson que je relis la lettre que j’écrivis, le 15 mai 1945, à Mme M. de L. [...]. J’avais alors douze ans at demi et voici ce que j’étais devenu [...]« (121).175 Durch das Einfügen dieser Briefausschnitte bei gleichzeitiger Betonung der Distanz wird eine ungebrochene Identität einmal mehr in Frage gestellt. Tagebuchstruktur Die Gegenwärtigkeit der Erinnerung wird darüber hinaus durch die formale Anlage des Textes als Tagebuch hervorgehoben, durch die er sich von konventionellen, chronologisch erzählten Autobiographien unterscheidet. Die Markierung der einzelnen Tagebucheinträge durch Daten bindet den Akt des Erinnerns an einen spezifischen Zeitpunkt. Auf diese Weise wird von vornherein einem naiven Verständnis vorgebeugt, erinnerndes Ich der Gegenwart und erinnertes Ich der Vergangenheit würden eine Einheit bilden, der Zugang zur Vergangenheit, wie sie ›wirklich war‹, sei über die Erinnerung einzuholen. Tagebucheinträge sind zudem prinzipiell beliebig weiterführbar und verweisen damit auf die Vorläufigkeit und Unabschließbarkeit von Identitätsprojekten. Dadurch ist das gegenwärtige Identitätsprojekt immer schon als vorläufiges gekennzeichnet. 3.2.4.2 Erinnerung und Identität: Verschränkung der drei Erzählstränge. Funktion der Leerstellen Es greift jedoch zu kurz, wollte man die Komplexität des Friedländerschen Erinnerungstextes auf die zwei Erzählstränge des erinnernden Ichs der Tagebucheinträge und des erinnerten Ichs der Exilvergangenheit bis zur Ankunft in Israel beschränken. Diese beiden Zeitebenen werden vielmehr durch einen dritten Erzählstrang ergänzt, der von Beginn an die Erzählung des Exilschicksals mit seiner scheinbar ›erlösenden‹ Ankunft in Israel unterbricht und damit die ›gelungene‹ Identitätskonstruktion des erinnerten Ichs als Jude und Israeli konterkariert. Alle drei Erzählstränge sind durch eine deutliche Bewegung hin auf einen Höhepunkt gekennzeichnet, die auf der Ebene des persönlichen Ichs Ankunft, Einheit und Eindeutigkeit verspricht. Durch die Verschränkung der Erzählstränge jedoch wird die Vorläufigkeit dieser ›gelungenen Identitätsprojekte‹ in den Blick gerückt. Im Folgenden wird es darum gehen zu erläutern, in 175

»Nicht ohne Schaudern lese ich den Brief wieder, den ich am 25. Mai 1945 an Madame M. de L. schrieb, die auch meine Patin war. Ich war damals zwölfeinhalb Jahre alt, und das hier war aus mir geworden [...]« (134f.).

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welchem Maße die immer gegenwärtige Konstruiertheit von Erinnerung und Identität sowie die Unabschließbarkeit von Identitätsprojekten durch das Ineinandergreifen der drei Erzählstränge literarisch inszeniert wird. Die erste Textebene beschreibt das Exilschicksal des erinnerten Ichs von Prag über die verschiedenen Stationen in Frankreich. Diese erste Ebene endet mit der Ankunft unmittelbar nach der Staatsgründung 1948 vor der Küste Israels. Symbolisch könnte der bevorstehende Neubeginn kaum deutlicher inszeniert sein als durch den Verlust der Uhr des Vaters, der auf die endgültige Abkehr von der Vergangenheit und einen Neubeginn in Israel verweist: Ainsi, le souvenir le plus cher de mon enfance disparaissait au moment où j’approchais d’Israël, à l’aube d’une vie nouvelle. Symboliquement, ce qui marquait le temps d’alors n’était plus; symboliquement tout était recommencement (170).176

Der erste Erzählstrang – und mit ihm der gesamte Text – endet mit dem ›erlösenden‹ Blick auf die Küste Israels. Die Symbolik dieser Ankunft wird unterstrichen durch die deutliche Retardierung des Erzähltempos. Die Zeit scheint stillzustehen, als sich das Schiff der Küste nähert: On n’entendait qu’un très faible clapotis de vagues et les machines aussi semblaient fonctionner en sourdine; le bateau glissait doucement vers la côte. Quelques toussotements troublaient le silence. Alors, à l’avant, le ciel pâlit et la première lumière de l’aube dessina les contours des dunes et des orangeraies. De l’obscurité monta vers nous la terre d’Israël (171).177

Die Retardierung des Erzähltempos und die stimmungshafte Atmosphäre von Ursprung und Ewigkeit werden zum Symbol der persönlichen Identitätssuche, die bevorstehende Ankunft in Israel zur Ankunft auch auf persönlicher Ebene: Die zukünftige Eindeutigkeit des persönlichen Identitätsprojekts – als Jude und Israeli im Land des Ursprungs – scheint endgültig vorgezeichnet. Die erste Zeitebene wird jedoch von Beginn an durch eine zweite Textebene unterbrochen, die die Zeit nach der Ankunft in Israel bis in die sechziger Jahre umfasst. Die zweite Zeitebene schildert also parallel zum ersten Erzählstrang die immer größer werdende Verunsicherung über die eigene Identität und formuliert zusätzlich immer deutlicher die Zweifel an der ›Eindeutigkeit‹ des nationalen israelischen Narrativs. Auf diese Weise konterkariert die zweite Zeitebene von Beginn an die Lektüre des ersten Erzählstrangs als ›Erlösungsgeschichte‹ und stellt damit eine in der Art des Bildungsromans ›gelungene‹, 176

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»So verschwand das teuerste Andenken aus meiner Kindheit in dem Augenblick, als ich mich Israel näherte, am Anfang eines neuen Lebens. Was symbolisch die Zeit von einst angezeigt hatte, existierte nicht mehr: Symbolisch war alles ein Neubeginn« (191f.). »Nichts als das schwache Klatschen der Wellen war zu hören, und auch die Maschinen schienen nur gedämpft zu arbeiten; sanft glitt das Schiff der Küste zu. Manchmal unterbrach ein Husten die Stille. Dann wurde der Himmel vor uns immer blasser, und im ersten Morgenlicht zeichneten sich die Dünenketten und Orangenhaine ab. Vor uns aus der Dunkelheit tauchte die Erde Israels auf« (192).

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auf ein Ziel zulaufende Identitätsbildung in Frage. Auf der persönlichen Ebene artikulieren sich die Zweifel an der Eindeutigkeit der Identität als jüdischer Israeli durch die wiederholt betonte Herkunft aus der europäischen, speziell der französischen Kultur und ein immer stärker werdendes ›Unbehagen‹, das die Zugehörigkeit zum jüdisch-israelischen Kollektiv betrifft. Den Zweifeln auf der persönlichen Ebene entspricht der immer kritischer werdende Blick auf das Projekt der zionistischen Staatsgründung, der Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird (3.2.5). Der zweite Erzählstrang endet mit dem Aufenthalt bei seinem Onkel in Schweden, dem – um es zu wiederholen – sowohl in der (Wieder)Begegnung mit der eigenen jüdischen Identität als auch in der Konfrontation der eigenen Vergangenheit die Funktion eines Wendepunktes zukommt. Anders als der erste endet der zweite Erzählstrang jedoch nicht uneingeschränkt positiv: Auf die Schilderung des neuen Bewusstseins für die jüdische Identität folgt das Interview mit Dönitz 1962, der seine Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen ablehnt. Beschränkt man sich jedoch auf die Ebene des persönlichen Identitätsprojekts, ist auch der zweite Erzählstrang von einer Bewegung hin zu einem Neuanfang – der neu entdeckten jüdischen Identität – gekennzeichnet. Neben der ersten Zeitebene (des Verfolgungsschicksals bis hin zur Ankunft an der Küste Israels) und der zweiten Ebene (der Zeit nach der Ankunft in Israel) existiert eine dritte Zeitebene: die Tagebucheinträge des erinnernden Ichs der Schreibgegenwart. Auch die Tagebucheinträge der Erzählgegenwart, die den Zeitabschnitt vom 5. Juni bis zum 27. Dezember 1977 umfassen, laufen auf einen Höhepunkt hinaus: den offiziellen Besuch des damaligen ägyptischen Präsidenten Sadat in Israel.178 Die Beschreibung dieses Besuchs ist in einer für die Tagebucheinträge ungewöhnlich emotionalen Atmosphäre gehalten. So heißt es im Tagebucheintrag vom 19. bis zum 21. November 1977: Pendant quelques jours, à cent mètres de chez moi, les drapeaux ont flotté l’un à côté de l’autre: les trois couleurs égyptiennes et l’étoile de David bleue sur fond blanc. Les badauds se sont dispersés; moi, dernier badaud, je reste et je regarde… […] Au loin les collines paraissent marquées d’un trait plus vif qu’à l’ordinaire; malgré la saison, l’air a la douceur du printemps; dans toute la ville, on sent monter une atmosphère d’allégresse, les premiers tressaillements d’une joie inconnue jusqu’alors, d’une joie nouvelle… (145).179

Doch wie der zweite Erzählstrang enden auch die Tagebucheinträge nicht mit einem dem ersten Erzählstrang vergleichbaren ›erlösenden‹ Blick. An die 178 179

Vgl. hierzu Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 448. »Ein paar Tage lang haben hundert Meter von uns entfernt Seite an Seite die beiden Fahnen geflattert: die drei ägyptischen Farben und der blaue Davidsstern auf weißem Grund. Die Schaulustigen haben sich zerstreut; ich, der letzte, bin noch da und schaue... […] Die Hügel in der Ferne scheinen sich deutlicher als gewöhnlich abzuzeichnen; trotz der Jahreszeit ist die Luft mild wie im Frühling; man spürt, wie sich in der ganzen Stadt eine freudige Atmosphäre ausbreitet, spürt die ersten Schauder einer bisher unbekannten Freude, einer neuen Freude...« (163).

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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hoffnungsvolle Schilderung der Annäherung zwischen Israel und Ägypten schließen sich Reflexionen des erinnernden Ichs an, die den zuvor konstruierten Höhepunkt in seiner uneingeschränkten Hoffnung auf Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn relativieren: Sowohl im Eintrag vom 5. als auch vom 10. Dezember 1977 formuliert das erinnernde Ich deutliche Zweifel an der Fähigkeit Israels, einen Frieden mit den arabischen Nachbarstaaten akzeptieren zu können, und sieht Kontroversen um die besetzten Gebiete voraus (153f.; 157). Die Einbettung des Interviews mit Dönitz (zweite Zeitebene) in den Tagebucheintrag vom 24. Oktober 1977 (dritte Zeitebene) verdeutlicht, dass die Trennung der Erzählebenen, die ich hier vorgenommen habe, nur der Verdeutlichung dient. Tatsächlich sind die Zeitebenen miteinander verwoben, unterbrechen einander, fordern den Rezipienten gerade durch die fehlende Kommentierung auf, sie miteinander in Bezug zu setzen. Diese Wechsel zwischen den Erzählebenen und die Beziehbarkeit von Passagen, die auf den ersten Blick unabhängig voneinander an unterschiedlichen Stellen im Text auftauchen, stellen ein wesentliches Strukturierungsmerkmal des Friedländerschen Textes dar und lassen sich durch Wolfgang Isers Konzept der Leerstellen beschreiben: Leerstellen treten dort auf, wo einzelne Textsegmente unvermittelt aneinander gereiht werden.180 Um die inhaltliche Kohärenz des Textes herzustellen, ist es notwendig, die einzelnen Fragmente im Rezeptionsvorgang aufeinander zu beziehen und so die einzelnen Handlungsstränge zusammenzufügen. In der Beziehbarkeit der einzelnen Segmente – ausgelöst durch die Aussparungen im Text – besteht dabei die eigentlich interessante Funktion der Leerstellen: Verschiedene Perspektiven, die an unterschiedlichen Stellen des Textes auftauchen, werden so – unverbunden und ohne Kommentierung – miteinander in Kontrast gesetzt. Die jeweils nicht formulierte Perspektive ist dennoch im Blickpunkt des Rezipienten enthalten und nimmt auf diese Weise die Funktion einer Leerstelle ein, steuert trotz ihrer Abwesenheit die Wahrnehmung im Rezeptionsvorgang. Fehlende Kommentierungen einander widersprechender, teils ausschließender Perspektiven verlangen damit vom Rezipienten ein kritisches Inbezugsetzen. Die scheinbar unverbundenen Fragmente des Textes werden somit gerade im Fehlen von Verbindungen und Übergängen aufeinander beziehbar – mehr noch: Sie erhalten ihre vollständige Bedeutung erst in der Kontextualisierung durch den Rezipienten.181 Das Ineinandergreifen der Erzählebenen wird im Druckbild der deutschen Version von Friedländers Erinnerungstext zusätzlich dadurch abgebildet, dass das Ende der Tagebucheinträge – das im französischen Original durch Asterisken gekennzeichnet 180

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Iser begreift Leerstellen im Text als Unbestimmtheitsstellen, die die Interaktion zwischen Text und Leser herausfordern. – Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl. München: Fink 1994 (1976) (UTB; 636), S. 302. Zum Einsatz von Leerstellen vgl. auch Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 450.

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wird – nicht eindeutig festzulegen ist. Der Wechsel zwischen den Tagebucheinträgen und den Zeitebenen des erinnerten Ichs wird lediglich durch eine Leerzeile markiert, die sich nicht von den Absätzen unterscheidet, die sich innerhalb ein und derselben Erzählebene finden. Gegenwärtige Reflexionen und die Erinnerung an die Vergangenheit fließen so ineinander. Indem durch die Wahl des autobiographischen Schreibakts zum einen der Versuch nachgezeichnet wird, sich selbst als ein über die Zeit kohärentes Ich zu erzählen, zum anderen aber dieser Versuch von Beginn des Textes an durch die Verschränkung der drei Erzählstränge konterkariert wird, wird die Unabschließbarkeit persönlicher Identitätsprojekte in den Blick gerückt. Dabei bestimmt die gegenwärtige Perspektive in entscheidendem Maße die Wahrnehmung der Vergangenheit. Andersherum beeinflusst die Vergangenheit ebenso die Wahrnehmung gegenwärtiger Ereignisse, die durch vergangene Erfahrung immer schon vorstrukturiert ist. Die persönliche Lebensgeschichte lässt sich – so die intensive Auseinandersetzung mit der Funktionsweise autobiographischer Erinnerungsprozesse in Quand vient le souvenir... – nur als selbstreflexiver ›Erinnerungstext‹ schreiben. Quand vient le souvenir... ist jedoch keinesfalls nur als Annäherung an die persönliche Vergangenheit zu lesen, sondern gibt ebenso Aufschluss über die ihm zugrundeliegenden Annahmen zur Funktionsweise kollektiver Erinnerungsprozesse und ihrer Bedeutung für die Ausbildung der (jüdischisraelischen) kollektiven Identität. Auch die Gegenüberstellung konkurrierender Perspektiven wird durch den Einsatz von Leerstellen strukturiert.

3.2.5 Kollektive Erinnerung und Identität Kollektive Erinnerung – so meine Überlegungen im einleitenden Theoriekapitel – ist eine Übereinkunft über die Auswahl und Interpretation von Ereignissen der Vergangenheit, die als konstituierend für eine Gruppe angesehen werden und demnach erinnert werden müssen. Entscheidend für die Funktionsweise des kollektiven Gedächtnisses ist somit, dass historische Ereignisse nicht ›an sich‹ erinnert werden, sondern vielmehr ihre Bedeutung für die Identität der sozialen Gruppierung. Analog zum Akt autobiographischen Erinnerns auf der Ebene des persönlichen Individuums hat kollektive Erinnerung also die Funktion, ein kohärentes kollektives Selbst zu schaffen. Kollektive Erinnerung beschränkt sich aber keinesfalls auf die Bewahrung von Vergangenheit. Vielmehr bestimmt sie in entscheidendem Maße die Wahrnehmung der Gegenwart. Dabei fungiert Erinnerung immer selektiv: Historische Ereignisse werden nicht als Ganzes erinnert, sondern unterliegen der Auswahl und Reduktion. Die Auswahl der erinnerten Ereignisse ist zweckgerichtet: Sie ist bestimmt durch das als gültig anerkannte, zu erhaltende Selbstbild des Kollektivs. Im Folgenden wird es um zweierlei gehen: erstens den Zusammenhang von individueller

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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und kollektiver Erinnerung – und zweitens die Bedeutung kollektiver Erinnerung für die Herausbildung der israelischen kollektiven Identität. Wiederholt wird in Friedländers Erinnerungstext auf die Bedeutung der Holocaust-Erfahrung für die Konstituierung des kollektiven Gedächtnisses der Israelis und die daraus resultierende Wahrnehmung des Nahost-Konflikts verwiesen. Nachdem das erinnerte Ich nach Ankunft in Israel das Projekt der zionistischen Staatsgründung zunächst uneingeschränkt positiv aufnimmt, machen sich spätestens seit dem Krieg 1967 deutliche Zweifel bemerkbar. Obwohl das erinnernde Ich betont, dass ihm die nahe Vergangenheit, d. h. der Holocaust, auch weiterhin als Rechtfertigung für die israelische Staatsgründung gilt, gerät andererseits die Perspektive der Palästinenser in den Blick, deren kollektive Erinnerung notwendigerweise ein ganz anderes historisches Narrativ ausbildet. Durch die Gegenüberstellung zweier sich ausschließender historischer Narrative – des israelischen und des palästinensischen – wird verdeutlicht, dass dasselbe historische Geschehen, in diesem Fall die Staatsgründung Israels, unterschiedlich interpretiert und damit zur Grundlage für die Konstituierung konkurrierender kollektiver Identitäten wird.182 182

Saul Friedländer: Arabes et Israéliens. Un premier dialogue. Paris: Éditions du Seuil 1974. – Ders.: Réflexions sur l’avenir d’Israël. Paris: Éditions du Seuil 1969. – Die Bedeutung des Holocaust für die israelische Selbstwahrnehmung im IsraelPalästina-Konflikt, die Rolle der zionistischen Historiographie, die die Geschichte des jüdischen Volkes als Verfolgungsgeschichte schreibt, in der der Holocaust den Höhepunkt darstellt, sowie die kritischen Gegenpositionen der ›neuen Historiker‹ sind in den letzten Jahren durch die Arbeiten von Moshe Zimmermann, Dan Diner, Barbara Schäfer und anderen in den Blick gerückt. – Moshe Zimmermann: Mythen der Verfolgung im israelischen Alltag. In: Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis (wie Kap. 2, Anm. 76), S. 296–320. – Ders.: Vom Jischuw zum Staat. Die Bedeutung des Holocaust für das kollektive Bewusstsein und die Politik in Israel. In: Deutschland, Israel und der Holocaust. Zur Gegenwartsbedeutung der Vergangenheit. Hg. von Bernd Faulenbach und Helmuth Schütte. Essen: Klartext Verlag 1998 (Geschichte und Erwachsenenbildung; 7), S. 45–53. – Ein Infragestellen der Kausalverbindung Holocaust – zionistische Staatsgründung hätte – so Zimmermann – eine Auflösung der eindeutigen Täter-Opfer-Dichotomie zur Folge: »[B]eginnt man in Israel, über Sinn und Kontinuität des Mythos von den wenigen gegen die vielen nachzudenken, so gerät nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und vor allem die übliche Gegenüberstellung von Tätern und Opfern in ein kritisches Licht.« – Ders., Mythen der Verfolgung im israelischen Alltag, S. 301. Eine Geschichtsschreibung, die das tradierte Selbstbild vom zahlenmäßig unterlegenen Opfer erhalten will, zielt – so Zimmermann weiter – darauf ab, die zionistische Interpretation fest im kollektiven Gedächtnis Israels zu verankern und muss die direkte Kausalverbindung zwischen der Judenvernichtung im Holocaust und der israelischen Staatsgründung betonen. Dies geschieht u. a. durch das Begehen von offiziellen Feiertagen, die fest mit der Erinnerung an die Vernichtungserfahrung der Juden verbunden sind. Die Erinnerung an den Holocaust, so Zimmermann, bezieht sich dabei zum Einen auf das vergangene Ereignis. Gleichzeitig aber dient sie der Rechtfertigung der unnachgiebigen Haltung Israels im IsraelPalästina-Konflikt. – Ebd., S. 311. – Auf die Gefahr der Reduktion der palästinen-

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Durch den Wechsel zwischen persönlicher Erinnerung und Darstellung des jüdisch-arabischen Konflikts wird darüber hinaus die wechselseitige Bedingtheit von individuellem und kollektivem Gedächtnis im Sinne Halbwachs’ vermittelt. Der Zusammenhang von individuellem und kollektivem Gedächtnis ist für Friedländers Text insofern bedeutsam, als nicht nur die Wahrnehmung gegenwärtiger politischer Ereignisse in ihrer Abhängigkeit von der eigenen, persönlichen Vergangenheit dargestellt wird, sondern – andersherum – auch die persönliche Erinnerung durch gegenwärtige Ereignisse ausgelöst wird. Die beständige Präsenz der Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung wird in unterschiedlicher Form im Text aufgerufen. So werden etwa Szenen aus Claude Lanzmanns Film Shoah unvermittelt in den Text eingefügt und evozieren gerade durch die fehlende Kommentierung das unfassbare Ausmaß der Judenvernichtung (110f./122f.). Unvermittelte Wechsel von der Zeitebene der Vergangenheit auf die der Schreibgegenwart verdeutlichen darüber hinaus die Kontinuität des Holocaust. Das erinnernde Ich übersetzt einen Brief des Vaters und zieht dabei explizit die Verbindung zur Gegenwart, die weiterhin von der Angst vor Verfolgung geprägt ist: Pendant toute la soirée d’hier j’ai traduit et recopié ces lettres. Je ne puis me détacher de cette dernière phrase: ›il faut que nous arrivions à survivre‹… Une lettre de juin 1939. Trente-huit ans ont passé depuis, presque jour pour jour, et toujours la même angoisse: il faut que nous arrivions à survivre… (45).183

Der persönliche Lebenslauf wird wiederholt in Bezug zu dem der Eltern gesetzt. Auch die gegenwärtige Situation der eigenen Familie wird vor dem Hintergrund der Verfolgungserfahrung gedeutet:

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sischen Position auf antisemitische Motive, die den territorialen Konflikt zwischen beiden Parteien außer acht lässt, verweist Dan Diner: Israel und das Trauma der Massenvernichtung. Über Elemente jüdischer Deutungsmuster im Palästinakonflikt. In: Die Verlängerung von Geschichte. Deutsche, Juden und der Palästinakonflikt. Hg. von Dietrich Wetzel. Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik 1983, S. 25– 42. Zur israelischen Selbstwahrnehmung im Israel-Palästina-Konflikt vgl. außerdem Karin Joggerst: Zur politischen Bedeutung von Erinnerungskultur im israelisch-palästinensischen Konflikt. Unter: http://www.weltpolitik.net/regionen/ naherosten/1067.html (2002). – Einen Überblick über die der zionistischen Historiographie entgegenlaufenden Deutungsansätze und deren Wahrnehmung innerhalb der akademischen Forschung in Israel und in der israelischen Öffentlichkeit gibt der von Barbara Schäfer herausgegebene Band. – Barbara Schäfer (Hg.): Historikerstreit in Israel. Die ›neuen‹ Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Frankfurt a. M., New York: Campus 2000. »Während des ganzen gestrigen Abends habe ich diese Briefe übersetzt und abgeschrieben. Ich komme nicht von diesem letzten Satz los: ›Wir müssen noch das Ende aller dieser Finsternisse miterleben...‹ Ein Brief vom Juli 1939. Seitdem sind fast auf den Tag genau achtunddreißig Jahre vergangen, und immer noch die gleiche Angst: Wir müssen überleben...« (45).

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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Depuis douze ans, je fais des calculs, instinctivement, sans le vouloir. Quand Éli a eu six ans, je me suis dit: ›Voici l’âge où j’ai quitté Prague, l’âge où je suis parti à Montmorency; son existence est encore bonne.‹ Quand il a eu dix ans, je n’ai pu m’empêcher de penser qu’à dix ans… J’ai refait le même raisonnement avec David, puis avec la petite Michal; Michal a sept ans maintenant et tout va bien… Mais, Éli approche de ses dix-huit ans et, dans quelques mois, ce sera l’armée, l’anxiété quotidienne, les informations sans cesse commentées, le tressaillement imperceptible quand retentit la sonnerie du téléphone… (144).184

Die Geschichte des jüdischen Kollektivs verschränkt sich auf diese Weise unlösbar mit der persönlichen Geschichte. Die Textbeispiele zeigen, in welchem Maße die Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung im Bewusstsein verankert ist – und in der Gegenwart unvermittelt wieder aufgerufen wird. Die Holocaust-Erfahrung wird damit zum Hintergrund, vor dem die Ereignisse des privaten und öffentlichen Lebens gedeutet werden. Der einzige Ausweg aus der beständigen Bedrohung durch Verfolgung und Vernichtung ist – so das zionistische Narrativ – die Rückkehr nach ›Erez Israel‹, die Gründung eines eigenen Staates. Diese Perspektive fließt zunächst – chronologisch betrachtet – wiederholt in den Text ein. Bereits kurz nach seiner Rückkehr zum Judentum überzeugen die Worte des Gruppenleiters im zionistischen Sommerlager von Châlain den Jungen: Pendant l’une de ces veillées, l’un des moniteurs, Sigi, prit la parole. Il éclaira les événements récents sous un angle pour moi nouveau: la passivité des victimes. Pourquoi cette passivité? Nulle part nous n’étions chez nous, nulle part nous ne trouvions d’appui. Mais c’était bien fini: jamais plus nous n’irions comme un troupeau de moutons à l’abattoir! Et pour cela, il nous fallait un État. Dans le cadre d’un État, nous pourrions prendre notre destin en main; dans le cadre d’un État seulement, nous pourrions répondre à la violence par la force… (148).185

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»Seit zwölf Jahren stelle ich instinktiv und ohne es zu wollen Berechnungen an. Als Eli sechs Jahre alt war, sagte ich mir: ›Nun ist er so alt wie ich damals, als ich Prag verließ, als ich nach Montmorency kam; sein Leben ist noch in Ordnung.‹ Als er zehn Jahre alt war, mußte ich unwillkürlich daran denken, daß ich mit zehn Jahren... Dieselben Überlegungen habe ich bei David, dann bei der kleinen Michal angestellt; Michal ist jetzt sieben Jahre alt, und alles geht gut... Doch Eli nähert sich dem achtzehnten Lebensjahr, und in einigen Monaten kommt der Militärdienst, die tägliche Angst, Nachrichten, die man immer wieder kommentiert, das unmerkliche Zittern beim Klingeln des Telefons...« (162). »An einem jener Abende ergriff Sigi, einer unserer Gruppenleiter, das Wort. Er erklärte die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit unter einem für mich ganz neuen Blickwinkel: der Passivität der Opfer. Warum diese Passivität? Nirgendwo waren wir zu Hause, nirgendwo fanden wir Hilfe. Doch das war nun ein für allemal vorbei: Nie wieder würden wir uns wie Schafe zum Schlachthaus führen lassen! Und deshalb brauchten wir einen Staat. Im Rahmen eines Staates würden wir unser Schicksal in die Hand nehmen können; nur im Rahmen eines Staates würden wir Gewalt mit Gewalt beantworten können...« (166f.).

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Im Internat identifiziert das erinnerte Ich seine persönliche Situation mit dem Schicksal des jüdischen Kollektivs und setzt die Botschaft von Châlain unmittelbar um: Dès le second soir, peu après que je me fus endormi, mon lit, dont les boulons avaient été dévissés, sécroula sous moi. J’avais été surpris; je décidai de ne plus l’être une seconde fois. Ne fallait-il pas abandonner notre rôle de victimes, ne fallaitil pas répondre à la violence par la force, même si l’État juif n’était encore qu’un rêve? Sans hésitation aucune, j’identifiai ma situation personnelle à celle de la communauté: j’étais prêt à affronter nos ennemies, les armes à la main! Ainsi fut fait. Le lendemain soir, dès que le surveillant éteignit les lumières, je fixai une pierre, préparée d’avance, au bout de ma ceinture et lorsque l’ennemi approcha de mon lit en rampant, je frappai de toutes mes forces (149).186

So eindeutig, wie sich die Situation dem erinnerten Ich darstellt, ist sie selbstverständlich nicht – eine Bewertung, die wiederum durch die fehlende Kommentierung und Relativierung durch das erinnernde Ich beim Rezipienten herausgefordert wird. Auch die Worte des zionistischen Jugendgruppenleiters sind bereits relativiert – durch eine Passage, die zwar chronologisch nachgestellt, im Textverlauf jedoch vorangestellt ist und damit seine oben zitierten Worte von vornherein konterkariert. Bereits im Tagebucheintrag vom 5. Juli 1977 nämlich berichtet das erinnernde Ich von seinem 1973 durchgeführten Geschichtsseminar, in dem er mit den israelischen Studierenden Parallelen zionistischer Jugendorganisationen zu nationalistischen rechten Jugendbewegungen in Europa herausarbeitete: Nous reconnaissions les liens entre le Wandervogel allemand et telle tendance du sionisme, l’extrême gauche notamment – ce qui peut étonner. Nous nous penchions aussi sur les avatars d’une droite nationaliste du cru qui, elle aussi, au début des années trente, prônait un culte de la jeunesse, sur le modèle du fascisme italien; ce n’étaient que des groupes de faible importance, ces Bironim d’Aba Achimeir, mais leur mouvement était calqué sur les plus fanatiques de ceux que connaissaient l’Europe à cette époque (45f.).187

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»Schon am zweiten Abend, kurz nachdem ich eingeschlafen war, brach das Bett unter mir zusammen, da man die Schrauben gelockert hatte. Ich hatte mich überrumpeln lassen. Ein zweites Mal sollte mir das nicht mehr passieren. Mußten wir nicht unsere Rolle als Opfer aufgeben, mußten wir nicht Gewalt mit Gewalt beantworten, selbst wenn der jüdische Staat bisher noch ein Traum war? Ohne zu zögern, identifizierte ich meine persönliche Lage mit der Gemeinschaft: Ich war bereit, unseren Feinden mit der Waffe in der Hand entgegenzutreten! Und so geschah es. Sobald der aufsichtsführende Lehrer am nächsten Abend das Licht gelöscht hatte, nahm ich einen Stein, den ich schon vorher am Ende meines Gürtels befestigt hatte, und als sich der Feind meinem Bett näherte, schlug ich mit aller Kraft zu« (167). »Wir stellten Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen ›Wandervogel‹ und bestimmten zionistischen Richtungen, vor allem der extremen Linken, fest – was erstaunen mag. Wir befaßten uns auch mit dem Wandel einer nationalistischen ein-

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Diese Perspektive, die scheinbar ›nebenbei‹ in der Analogsetzung von zionistischer Linken und nationaler europäischer Rechten die Eindeutigkeit des zionistischen Narrativs hinterfragt und ihre Brisanz zudem durch den Zeitpunkt der Schreibgegenwart – 1977 – erhält, lässt die oben zitierte Perspektive des Jugendgruppenleiters von vornherein in kritischem Licht erscheinen. Auf der Ebene des erinnerten Ichs der ersten und zweiten Erzählebene ist jedoch zunächst alles ›eindeutig‹. Er zögert nicht, sich beim Betar einzuschreiben, der seinen Anspruch auf ein Staatsgebiet unter Einschluss der Gebiete östlich des Jordans offen formuliert. In seinem Abschiedsbrief lässt er seine Paten wissen: Lorsque vous serez en possession de ce mot, j’aurai déjà quitté la France pour…la Palestine. […] Qui aurait pu s’attendre à cela? Certainement pas moi, il y a quelque temps encore; mais les derniers événements ont réveillé dans mon âme un sentiment qui y dormait depuis longtemps, celui que j’étais juif. Et voilà ce que je veux prouver en partant combattre aux côtés de tous les juifs qui meurent en Palestine… (164).188

Auch nach seiner Ankunft in Israel unmittelbar nach der Staatsgründung wird die Eindeutigkeit des zionistischen Narrativs zunächst nicht in Frage gestellt. Zwar klingt das Problem der Verdrängung der Palästinenser bereits an, stellt aber zumindest anfangs die Rechtmäßigkeit der israelischen Staatsgründung nicht in Frage. Vielmehr wird diese explizit durch die Vernichtungserfahrung gerechtfertigt: Il m’arrivait, assez souvent, de passer des soirées à déambuler avec quelques camarades dans les rues de Jaffa. Autours de nous, des rues aux noms arabes, des maisons arabes, mais les Arabes, eux, étaient partis: la guerre. A leur place, des Bulgares, des Roumains, des Nord-Africains, la nouvelle immigration juive, l’Israël de demain sans doute. […] Dans l’ensemble, cependant, je ne me posais pas encore trop de questions […] (63).189

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heimischen Rechten, die ihrerseits zu Beginn der dreißiger Jahre den Kult der Jugend nach dem Modell des italienischen Faschismus gepredigt hatte; diese sogenannten ›Bironim‹ von Aba Achimeir waren ziemlich unbedeutende Gruppen gewesen, doch folgten sie ganz genau dem Muster der fanatischsten Bewegungen, die damals in Europa existierten« (46). »Wenn Sie diese Zeilen in den Händen halten, habe ich Frankreich schon verlassen und bin auf dem Weg nach Palästina. […] Wer hätte das erwartet? Ich selbst vor einiger Zeit noch ganz gewiß nicht; doch die letzten Ereignisse haben in meiner Seele etwas geweckt, das dort seit langem schlief, das Gefühl, Jude zu sein. Und das will ich im Kampf Seite an Seite mit all jenen Juden beweisen, die in Palästina sterben...« (185). »Ziemlich oft bummelte ich abends mit einigen Kameraden durch die Straßen von Jaffa. Überall arabische Straßennamen, arabische Häuser, doch die Araber selbst waren nicht mehr da: der Krieg. An ihrer Stelle die neuen jüdischen Einwanderer, Bulgaren, Rumänen, Nordafrikaner, das Israel von morgen. […] Im großen und ganzen stellte ich mir jedoch noch nicht allzu viele Fragen […]« (67f.).

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Nach und nach jedoch wird die Haltung des erinnerten Ichs gegenüber einer solch ›eindeutigen‹ Geschichtsschreibung entschieden kritischer. Die Problematik der israelischen Wahrnehmung wird durch die nur scheinbar unvermittelten Wechsel zwischen den Erzählebenen betont. Indem die literarische Strategie des Einsatzes von Leerstellen den Blick für unterschiedliche Wahrnehmungen schärft, wirkt der Text über seine gesamte Länge einer vermeintlichen Eindeutigkeit kollektiver Narrative entgegen. So schließt sich etwa an das Bild der arabischen Arbeiter auf ihrem Weg in den jüdischen Teil Jerusalems der Wechsel auf die Erzählebene des erinnerten Ichs an, die die Reise der Mutter und ihrer Brüder 1937 nach Palästina schildert. Gerade in ihrem unvermittelten Anschluss an das Bild der arabischen Arbeiter in Jerusalem erhält diese Passage ihr Gewicht: Den Onkel Hans stießen, so der dem erinnerten Ich überlegene, nachträgliche Wissensstand des erinnernden Ichs, das israelische Unverständnis der arabischen Position ab (31/29). Das vorangestellte, ›nebenbei‹ beschriebene Bild der arabischen Arbeiter erhält so besondere Aufmerksamkeit: Außerhalb ihrer Funktion als Arbeiter im jüdischen Teil der Stadt haben sie als Individuen scheinbar keinerlei Bedeutung, werden ohnehin zu üblichen Tageszeiten kaum wahrgenommen. Ohne Kommentierung werden diese beiden Segmente aneinander gereiht – die gegenseitige Beziehbarkeit der Passagen sowie eine kritische Einordnung bleibt erneut dem Rezipienten überlassen.190 Darüber hinaus wird die kritische Perspektive auf die vermeintliche Eindeutigkeit der öffentlichen israelischen Position vor allem durch die Reihung jüdischer und arabischer identitätsstiftender Symbole geschaffen, die die Jahrtausende alten Ansprüche beider Konfliktparteien auf denselben Ort symbolisieren: Hier, en fin de journée, je suis allé jusqu’au Mur avec Éli pour assister à la prière du Kol Nidrè. […] Des projecteurs disposés sur les toils environnants illuminaient le Mur, et un oiseau, qui peut-être nichait à l’accoutumée dans un de ses interstices, effrayé sans doute par l’ampleur inhabituelle des voix, voletait le long de la paroi, se heurtant de temps à autre aux énormes pierres du temple d’Hérode. Je remarquai alors que lorsqu’il faisait entièrement sombre, la coupole de la mosquée d’Omar tournait au vert foncé et celle d’Al Aqsa devenait bleue, un bleu de nuit (116f.).191 190

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Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Passage findet sich auch bei Trapp, der die Reihung des Bildes der arabischen Arbeiter und die Beobachtungen von Onkel Hans als »nicht misszuverstehende[n] Kommentar zur aktuellen politischen Diskussion in Israel« bezeichnet. – Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 454f. »Gestern abend bin ich mit Eli zur Klagemauer gegangen, zum Kol Nidre-Gebet. […]. Scheinwerfer beleuchteten von den Dächern der umliegenden Gebäude herab die Mauer, und ein Vogel, der vielleicht in einer der Mauerspalten nistete und wohl durch das ungewöhnlich laute Stimmengewirr erschreckt war, flatterte an der Mauer entlang und stieß von Zeit zu Zeit gegen die riesigen Steine des Herodestempels. Da bemerkte ich, daß, wenn es ganz dunkel wird, sich die Kuppel der

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Und an anderer Stelle heißt es: Pérennité du monde juif, mais pérennité du monde arabe aussi – face à face maintentant. Confrontation où tout s’imbrique, confrontation où tout change sans cesse, mais où tout demeure immobile, confrontation faite de paradoxes, de volte-face et de fidélités séculaires à la fois (39).192

So muss eine Geschichtsschreibung, die sich einer Akzeptanz des gegenläufigen palästinensischen Narrativs verweigert, für das erinnernde Ich immer problematischer werden. Nach anfänglicher Begeisterung für die Staatsgründung machen sich wiederholt Zweifel bemerkbar, die er zunächst nicht einordnen kann: Y eut-il un véritable changement dans ma vision des choses lors des trois années qui suivirent, celles de mon service militaire? L’enthousiasme des débuts commença à s’effriter, sans aucun doute, pour faire place, petit à petit, à une vision contradictoire – sans pour autant que les véritables dilemmes de notre situation m’apparussent (62).193

Trotz der aufkommenden Zweifel verteidigt er auch nach dem Sechs-TageKrieg – wenn auch mit Bedenken – in der Öffentlichkeit weiterhin die Haltung der israelischen Seite. Doch im Laufe der Jahre wird ihm klar, dass es nicht um eine Annäherung im Konflikt, ein Verständnis für die Gegenseite geht, sondern die ›Unbeweglichkeit zum Prinzip‹ geworden ist. Er distanziert sich öffentlich von der unnachgiebigen Haltung Israels. Dabei geht das erinnernde Ich nicht so weit, die israelische Staatsgründung in Frage zu stellen oder die Verantwortung für den Israel-Palästina-Konflikt ausschließlich der israelischen Position zuzuschreiben. Dies wird zum einen dadurch deutlich, dass das erinnernde Ich dem israelischen Vokabular verhaftet bleibt – so etwa in der Bezeichnung der Kriege als ›Unabhängigkeitskrieg‹ oder ›Jom-Kippur-Krieg‹194 – zum anderen durch explizite Äußerungen des erinnernden Ichs: »[P]our beaucoup, moi compris, le passé encore proche restait et reste toujours une massive justification« (64).195 Liest man die Positionierung des erinnernden

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Omar-Moschee dunkelgrün färbt, während die Kuppel der Al-Aksa-Moschee blau, tiefblau wie die Nacht wird« (129f.). »Ewiger Fortbestand der jüdischen Welt, aber auch ewiger Fortbestand der arabischen Welt – beide jetzt unmittelbar miteinander konfrontiert. Eine Konfrontation, bei der alles miteinander verkettet ist, sich alles unaufhörlich ändert und doch alles unbeweglich bleibt, eine Konfrontation aus Paradoxien, Kehrtwendungen und jahrhundertelanger Treue« (39). »Begann ich in den drei folgenden Jahren, den Jahren meiner Militärzeit, die Dinge grundlegend anders zu sehen? Die Begeisterung der ersten Zeit hatte sich zweifellos langsam gelegt und machte nach und nach einer widersprüchlichen Sicht Platz – ohne daß mir deswegen die eigentliche Problematik unserer Situation aufgegangen wäre« (66). Vgl. dazu Lezzi-Noureldin, Erinnerung als Identitätssuche (wie Anm. 97), S. 61. »[V]ielen, auch mir, diente und dient die nahe Vergangenheit immer noch als massive Rechtfertigung« (68).

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Ichs jedoch im zeitlichen Kontext, so zeigt sich, wie kritisch seine Einschätzung der israelischen Seite im aktuellen Konflikt ist. Die Überlegungen des erinnernden Ichs in den abschließenden Tagebucheinträgen nach dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Sadat verdeutlichen, dass die Kompromissfähigkeit der israelischen Seite davon abhängt, ob man sich vom Selbstbild des permanent von Feinden bedrohten Volkes lösen kann. Eine Loslösung von diesem Selbstbild kommt – so die Bedenken des erinnernden Ichs – einer Aufgabe der Identität gleich: Mais, arrivons-nous à croire à la paix? Parvenons-nous à envisager notre avenir dans une perspective de paix? Depuis le début de son histoire, ce peuple s’est vu seul et environné d’ennemis, ne pouvant faire confiance qu’en son dieu, puis en son destin. Depuis des siècles, le malheur et la catastrophe ont toujours paru être la plus immédiate des éventualités, sans que pour autant disparaisse la confiance en une ultime délivrance. A cette vision du monde et de l’avenir, notre identité est liée. Se peut-il que du jour au lendemain ces attitudes quasi ataviques disparaissent? (153)196

Und wenig später formuliert er seine Zweifel an der Kompromissfähigkeit der jüdischen Israelis noch deutlicher: Les initiatives de paix vont faire éclater au grand jour les contradictions cachées de notre société: volonté de règlement, certes, mais ambitions territoriales aussi; volonté de compromis, mais croyance en un droit particulier et décisif à la terre d’EretzIsraël; volonté de normalisation, mais inaptitude peut-être à admettre la normalité (157).197

Indem der Blick auf den gleichzeitigen Anspruch von Israelis und Palästinensern auf dasselbe Land gelenkt wird, wird die ›Eindeutigkeit‹ des zionistischen Narrativs in Frage gestellt. Immer deutlicher werden die Zweifel an der Position Israels, die die territoriale Vertreibung der Palästinenser durch die Erfahrung des Holocaust rechtfertigt. Ohne explizit zu kommentieren oder politische Überlegungen zu formulieren, rückt durch den Einsatz der verschiedenen literarischen Strategien die Selbstwahrnehmung der jüdischen Israelis als perma196

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»Doch können wir wirklich an den Frieden glauben? Können wir unsere Zukunft im Licht des Friedens sehen? Seit Anbeginn seiner Geschichte hat sich dieses Volk stets allein und von Feinden umgeben gesehen, nur auf Gott und später auf sein Schicksal bauend. Seit Jahrhunderten scheint alles direkt in Unglück und Katastrophe zu führen, ohne daß jedoch das Vertrauen in eine letzte Befreiung geschwunden wäre. An diese Sicht der Welt und der Zukunft ist unsere Identität gebunden. Ist es möglich, daß dieses fast atavistische Verhalten von einem Tag zum anderen verschwindet?« (172) »Durch die Friedensbemühungen werden die verborgenen Widersprüche unserer Gesellschaft offen zum Ausbruch kommen: Zwar wird eine Regelung gewünscht, doch hat man auch Gebietsansprüche; zwar ist man bereit zum Kompromiß, doch glaubt man auch daran, auf das Land Erez Israel ein besonderes, unumstößliches Anrecht zu haben; zwar wünscht man eine Normalisierung, doch möglicherweise ist man unfähig, die Normalität anzuerkennen« (176).

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nent bedrohtes Volk und die daraus resultierende Eigen- und Fremdwahrnehmung im Israel-Palästina-Konflikt in den Vordergrund. In der Illustration der Bedeutung der kollektiven Erinnerung von Vernichtung und Verfolgung für die Konstitution des israelischen Selbstbilds wird nicht nur die Rolle von Erinnerung für die Konstitution kollektiver Identitäten hervorgehoben, sondern darüber hinaus ihr Einfluss auf die Wahrnehmung aktueller politischer Konflikte verdeutlicht. Durch die durch den gesamten Text angedeutete, jedoch bewusst offengelassene, kritische Kontrastierung der Ansprüche beider Konfliktparteien wird eine Entwicklung innerhalb der Wahrnehmung des erinnernden Ichs gegenüber der des erinnerten Ichs vorweggenommen, die die Rezeption der auf einen ›erlösenden Neuanfang‹ hin konzipierten Bewegung des ersten Handlungsstrangs auch auf der Ebene des kollektiven israelischen Identitätsprojekts von Anfang an relativiert und hinterfragt. Indem die literarische Strategie des Einsatzes von Leerstellen den Blick für unterschiedliche Wahrnehmungen schärft, wirkt der Text über seine gesamte Länge der Annahme vermeintlicher Eindeutigkeit entgegen – ein Verfahren, das auch auf der Ebene historiographischer Darstellung typisch für Friedländer ist. Strukturell könnte der Kontrast zwischen der Hoffnung des erinnerten Ichs auf den Neubeginn in ›Erez Israel‹ und dem kritisch-fragenden Blick auf die Zukunft des Staates kaum deutlicher arrangiert sein als auf den letzten Seiten des Textes, auf denen die mit der Bahnfahrt verknüpften Träume und Erwartungen von den beiden letzten Tagebucheinträgen unterbrochen werden. Während das erinnerte Ich sich bereits an Deck der ›Altalena‹ befindet und sich in gespannter Erwartung der Küste Israels nähert, reflektiert der letzte, eingeschobene Tagebucheintrag in ungewohnter Deutlichkeit die aktuelle politische Situation des Landes und seine möglicherweise verpasste Chance auf einen dauerhaften Frieden: Plus d’une fois, ces temps-ci, j’en suis venu à me demander si une chance, unique peut-être, n’est pas sur le point de nous échapper. […] S’il faut un jour reprendre les armes, non plus pour défendre ce qui, coûte que coûte, doit être défendu, mais parce que nous n’aurons pas su, en temps opportun, accepter le compromis, ce qui aujourd’hui n’est que conjoncture sera devenu alors l’essence même des plus graves dilemmes, l’essence même d’une tragédie (167).198

198

»Mehr als einmal habe ich mich in letzter Zeit gefragt, ob wir nicht dabei sind, eine vielleicht einzigartige Chance zu verpassen. […] Wenn wir eines Tages wieder zu den Waffen greifen müssen – nicht mehr, um das zu verteidigen, was um jeden Preis verteidigt werden muß, sondern weil wir es zum richtigen Zeitpunkt nicht verstanden haben, den Kompromiß zu akzeptieren –, dann wird das, was heute nur zufällige Verknüpfung ist, zum eigentlichen Inhalt schwerster Konflikte, zum eigentlichen Inhalt einer Tragödie geworden sein« (188).

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3.2.6 »Suche der ganzen Menschheit«: Streben nach Einheit als ›allgemein-menschliches‹ Phänomen Doch mehr als um eine politische Bewertung der Ereignisse geht es um das Aufzeigen der Funktionsweise von Erinnerung und die dem Akt des Erinnerns zugrundeliegende Suche nach Einheit generell, die nicht nur den individuellautobiographischen und den kollektiven Akt des Erinnerns bestimmt, sondern ein ›allgemein-menschliches‹ Phänomen darstellt. Die Ebene der Tagebucheinträge endet folgendermaßen: Parfois, quand je pense à notre histoire, non pas celle de ces dernières années, mais à son cours tout entier, je vois se dessiner un perpétuel va-et-vient, une recherche de l’enracinement, de la normalisation et de la sécurité, toujours remise en cause, à travers les siècles, et je me dis que l’État juif aussi n’est peut-être qu’une étape sur la voie d’un peuple venu à symboliser, en sa particulière destinée, la quête incessante, toujours hésitante et toujours recommencée, de toute l’Humanité (167, meine Hervorhebung, K. M.).199

Indem das erinnernde Ich der abschließenden Tagebucheinträge die Bedeutung von Erinnerung und die Suche nach den Anfängen über den persönlichen und den kollektiven Akt des Erinnerns hinaus auf eine allgemeine Ebene ausweitet, wird das Streben nach Kohärenz und Kontinuität am Ende des Textes als übergreifendes, anthropologisches Phänomen eingeordnet, das die gesamte Menschheit bestimmt. Die ›allgemein-menschliche‹ Suche nach Einheit und Ursprung lässt sich am deutlichsten an dem Stellenwert nachvollziehen, den die Beschreibung Jerusalems und seiner religiösen Bewohner im Text einnimmt. Jerusalem als Ursprungsort göttlichen Wirkens symbolisiert ewigen Fortbestand, Zeitlosigkeit – in den Worten Sidra DeKoven Ezrahis: »the bedrock of the collective self«.200 Die kurzen Verweise in den Tagebucheinträgen dienen nicht der Beschreibung des konkreten Ortes, sondern beschwören vielmehr den mythischen, ›ewigen‹ Charakter der Stadt herauf. Damit steht diese ›andere Seite‹ Jerusalems in deutlichem Gegensatz zur Banalität des israelischen Alltags. Die Dualität von Bedeutsamem und Alltäglichem, von Wesentlichem und Vergänglichem, von Heiligem und Profanem ist bildlich in den zwei Gesichtern Jerusalems gefasst: Der erste Eindruck der Stadt mit seinen baufälligen Vorstadtvierteln, den Gebäuden aus Beton und der billigen, 199

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»Wenn ich manchmal an unsere Geschichte denke – nicht die Geschichte dieser letzten Jahre, sondern an ihren gesamten Verlauf – sehe ich durch die Jahrhunderte hindurch ein ewiges Kommen und Gehen, ein stets wieder in Frage gestelltes Streben nach Verwurzelung, Normalisierung, Sicherheit, und ich sage mir, daß auch der jüdische Staat vielleicht nur eine Etappe auf dem Weg eines Volkes ist, dessen besonderes Schicksal die unaufhörliche, immer wieder unterbrochene, immer wieder neu begonnene Suche der ganzen Menschheit symbolisiert« (189, meine Hervorhebung). Sidra DeKoven Ezrahi: Booking passage. Exile and homecoming in the modern Jewish imagination. Berkeley: University of California Press 2000, S. 4.

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aggressiven Reklame ist ernüchternd, selbst die Via Dolorosa ist nur eine Geschäftsstraße –»[p]artout, en apparence, le règne du toc et de la pacotille, partout le commerce du sacré semble avoir vidé le sacré de sa substance« (158).201 Dem alltäglichen, vergänglichen Jerusalem aber wird eine zweite Seite gegenübergestellt – Jerusalem als Entstehungsort der drei großen monotheistischen Weltreligionen, Jerusalem als Ursprungsort der Mythen. Es ist dieses mythische Jerusalem, das das erinnernde Ich als Ort seiner Wanderungen und des Verfassens seiner Erinnerungen wählt. Die wiederholt beschriebenen Farben, Licht und Nebel verleihen dem Ort seinen besonderen Charakter: Il y a des soirs où la ville soudain disparaît sous une épaisse couche de brouillard ou de nuages. Dans le halo orange des réverbères, on voit filer des pans de brume, en bousculade effilochée, comme si quelque grande nouvelle les attirait vers un invisible lieu de rassemblement, très loin à l’est. Temps propice au mystère et aux rêveries (139).202

An diesem Ursprungsort der Legenden scheint alles einer tieferen Bedeutung, dem Wesentlichen, zuzustreben – einer Bedeutung, die über das Alltägliche hinaus auf einen höheren Sinn, eine höhere Wahrheit verweist. Jerusalems Steine, Hügel, Licht und Wind strahlen etwas ›nicht Fassbares‹ aus, eine Beständigkeit, die das Vergängliche überdauert. Vor diesem Hintergrund werden die alltäglichen Dinge zu einem ›Schattenspiel‹. Beständigkeit wird auch von den religiösen Bewohnern Jerusalems verkörpert: Je croise des hassidim affublés de leurs caftans de soie noire et de leurs grands chapeaux à bords fourrés. A leurs yeux, nos remous politiques ne signifient rien, l’État ne signifie rien. Un jour, le Messie viendra; que ce soit demain ou dans deux milles ans, peu importe. Leur foi est inébranlable et l’essentiel est d’arriver à temps pour la prière, près du Mur. Tout le reste… (39).203

Die Präsenz der Ewigkeit in der Gegenwart wird nicht nur durch die jüdischen Gläubigen verkörpert. Im Zusammenhang der konkurrierenden jüdischen und palästinensischen Narrative habe ich bereits auf das Nebeneinander moslemi201 202

203

»Überall regiert offensichtlich Schund und Ramsch, überall scheint der Handel mit dem Heiligen das Heilige seiner eigentlichen Substanz entleert zu haben« (177). »An manchen Abenden verschwindet die Stadt plötzlich unter einer dichten Nebeloder Wolkenschicht. Im gelb-roten Lichtschein der Straßenlaterne hasten Nebelfetzen dicht gedrängt vorüber, als triebe irgendeine große Neuigkeit sie zu einem unsichtbaren Versammlungsort sehr weit im Osten. Günstiger Moment für Rätselhaftes und für Träumereien« (156). »Chassidim mit Kaftanen aus schwarzer Seide und pelzbesetzten Hüten kommen mir entgegen. In ihren Augen ist unser politisches Hin und Her ohne Bedeutung, der Staat ist ohne Bedeutung. Eines Tages wird der Messias kommen; ob morgen oder in zweitausend Jahren, was bedeutet das schon. Ihr Glaube ist unerschütterlich, rechtzeitig zum Gebet an der Mauer zu sein, ist für sie das Wichtigste. Alles übrige...« (38f.).

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scher und jüdischer identitätsstiftender Symbole verwiesen. Auch für das Christentum ist Jerusalem religiöser Ursprungsort. Auf seinem Gang durch die Altstadt begegnen dem erinnernden Ich Mönche, in deren Blicken das ›unbewegliche Antlitz der Zeit‹ zu entdecken ist. Das Nebeneinander der verschiedenen religiösen Gruppen lässt ihre Gläubigkeit in einem übergeordneten Kontext erscheinen. Die Rückkehr nach Jerusalem symbolisiert die Rückkehr zu den Wurzeln des Heiligen generell – eine Rückkehr, die die Suchbewegung abschließt und der Vergänglichkeit der Menschheit entgegengesetzt wird. Jerusalem als Symbol der Einheit und Ewigkeit, das im Kontrast zur Diaspora des Exils steht, hat in der jüdischen Literatur eine lange Tradition. DeKoven Ezrahi weist in ihrem grundlegenden Werk Booking passage darauf hin, dass es sich dabei um einen imaginierten Ort handelt, dem seine identitätsstiftende Bedeutung erst aus der Gegenwart zugeschrieben wird.204 Der Akt literarischen Schreibens wird – so DeKoven Ezrahi – zum Ersatz für die tatsächliche Präsenz am heiligen Ort: »Writing the exile thus becomes more than a response to displacement […]; it becomes in itself a form of repatriation, of alternative sovereignity«.205 Legenden über Jerusalem entstehen dort, wo die Einheit mit dem Ursprungsort nicht vorhanden ist und man sich ihm – als abwesendem Ort – im Schreiben annähert. Schreiben ist in diesem Sinn also bedingt durch die Exilsituation: The modern, not unlike the romantic, discourse on home, exile, and return captures the intensified longing for a place of origin as ultimate reference or antecedent – the presumption of a paradise whose loss or absence preserves a kind of negative space.206

Die literarische Inszenierung Jerusalems bedeutet zum Einen also eine Rückkehr zu den (kollektiven) Wurzeln – zum Anderen aber entsteht das Narrativ gerade durch die Abwesenheit, das Noch-Nicht-Erreichen des ersehnten Ortes. Erst die Ankunft in Jerusalem schließt diese Suche ab. Die physische Ankunft am Ursprungs- und Zielort des Schreibens aber macht die literarische Annäherung überflüssig: »If exile is narrative, then to historicize the end of the narrative is to invite a form of epic closure that threatens the storytelling of the enterprise itself«.207 In diesem Kontext lässt sich die Aussage des erinnernden Ichs einordnen, Jerusalem – Stadt der Geschichte und der Ewigkeit – sei keine Stadt der Sagen: »Il n’y a pas, ici, de Golem qui parcoure les ruelles sombres. C’est à croire que les légendes ne sauraient croître à la 204

205 206 207

Vgl. dazu DeKoven Ezrahi: »Recovery is an interpretative strategy that assigns special meaning in the present to an act or event in the past.« – Dies., Booking passage (wie Anm. 200), S. 4. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14.

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source de toutes les légendes ou que tout, ici, doit concourir à l’essentiel« (139f.).208 Die Überlegungen DeKoven Ezrahis zum teleologischen Schreiben des jüdischen Exils führen mich zu einer erneuten Lektüre des Endes von Friedländers Erinnerungstext. Der Text endet – wie beschrieben – mit dem erlösenden Blick auf die Küste Israels. Hatte ich diese Passage im Rahmen der Analyse des individuellen Identitätsprojekts zunächst als Hoffnung auf einen Neuanfang in Israel gedeutet, so soll sie nun zu den abschließenden Überlegungen zum autobiographischen Schreibakt überleiten.

3.2.7 »De l’obscurité monta vers nous la terre d’Israël«: Der autobiographische Schreibakt Das Ende von Friedländers Erinnerungstext beschreibt genau genommen nicht die Ankunft in Israel, sondern verbleibt im Blick auf die Küste. Die Hoffnung auf einen Neuanfang in Israel, auf eine eindeutige Identität als Jude im Land des Ursprungs besteht so lediglich im Moment der bevorstehenden, nicht aber der tatsächlichen Ankunft in Israel. Mit der Ankunft dagegen erweist sich die Eindeutigkeit des Identitätsprojekts als trügerisch, vorläufig.209 Der Blick auf die Küste Israels symbolisiert damit das Verlangen nach Einheit bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, diese Einheit zu erreichen. Übertragen auf den autobiographischen Schreibakt bedeutet dies: Es ist die Suche, das Streben nach Einheit des Ichs, nicht ihr Erreichen, die den eigentlichen Gegenstand autobiographischen Schreibens ausmacht. Entsprechend beschreibt das erinnernde Ich im abschließenden Tagebucheintrag vom 27. Dezember den autobiographischen Schreibakt mit folgenden Worten: »En réalité, cette quête, cette incessante confrontation avec le passé, pendant des mois, est devenu, en elle-même, raison suffisante et entreprise nécessaire« (166).210 Die Bedeutung von Sprache und Schreiben für die ›persönliche Geschichtsschreibung‹ steht bereits im Mittelpunkt der Reflexionen über den Aufenthalt in Schweden. Der Tagebucheintrag vom 17. September 1977 beginnt mit der Feststellung des erinnernden Ichs, er sei zunächst fest entschlossen gewesen, den Ereignissen der Kindheit, die durch die Gegenwart in den Hintergrund gerückt waren, mit Gleichgültigkeit zu begegnen: »[T]oute résonance était 208

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»Es gibt hier keinen Golem, der durch düstere Gäßchen eilt. Man könnte meinen, daß Sagen am Ursprungsort aller Legenden nicht gedeihen können oder daß alles hier in dieser Stadt dem Wesentlichen zustreben muß« (156f.). DeKoven Ezrahi beschreibt die Ankunft am Ort des Ursprungs als »banishment from the garden the moment when myth becomes history«. – Dies., Booking passage (wie Anm. 200), S. 9. »In Wirklichkeit ist diese Suche, diese stetige Konfrontation mit der Vergangenheit im Laufe der Monate selbst ein ausreichender Grund und eine notwendige Aufgabe geworden« (187f.).

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étouffée« (99).211 Dass dies nicht funktionieren kann, formuliert das erinnernde Ich an anderer Stelle selbst als rhetorische Frage: »Suffirait-il de nier le passé, de le nier sans hésitation aucune pour que ce passé disparût, à jamais?« (135)212 Doch die Sprache als Medium der Erinnerungen versagt über Jahre: »Des événements mêmes, je ne pouvais chasser le souvenir, mais voulais-je en parler ou encore prendre la plume pour les décrire que je me trouvais frappé d’une étrange paralysie« (98f.).213 In welchem Maße der Zugang zur eigenen Vergangenheit untrennbar mit ihrer Versprachlichung zusammenhängt, wird durch das Zusammentreffen mit den geistig behinderten Kindern von Tulsa hervorgehoben. Schon äußerlich weist Tulsa Ähnlichkeit auf mit Montneuf, wo das erinnernde Ich seinen Tiefpunkt erreichte. In Tulsa trifft er die Kinder, die sich nicht mitteilen können – »ceux qui voulaient parler et ne le pouvaient pas, ceux qui désespérément cherchaient à établir un lien et ne savaient que répéter un nom, pendant des heures, ou encore, chanter toujours la même chanson ponctuée de hochements de tête« (99).214 Die Verbindung zur eigenen Situation wird vom erinnernden Ich explizit hervorgehoben: »Je compris alors ce que signifiait un monde intérieur fermé pour toujours...« (99).215 Die verschlossene Welt der Kinder wird für ihn »un lancinant symbole [...] au plan personnel, une véritable provocation« (101).216 Am Beispiel von Arne und Bert führt er die Möglichkeit einer Erlösung durch Sprache vor Augen, die im entscheidenden Moment wieder in die Sprachlosigkeit und damit ins Leiden zurückfällt. Auch in der Begegnung mit den Kindern von Tulsa öffnet der Aufenthalt in Schweden also Tore – »des portes qui ne se refermeraient plus« (103)217: Es gilt, sich der persönlichen Vergangenheit durch den autobiographischen Schreibakt zuzuwenden. Der autobiographische Schreibakt wird einerseits in seiner Notwendigkeit beschrieben: 211 212 213

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»[J]edes Echo wurde unterdrückt« (108). »Genügte es, die Vergangenheit einfach zu verleugnen, sie ohne Zögern zu verleugnen, damit sie für immer verschwand?« (152) »Die Erinnerung an die Ereignisse selbst konnte ich nicht vertreiben, doch wenn ich davon sprechen wollte oder wenn ich zur Feder griff, um sie zu beschreiben, war ich jedesmal wie gelähmt« (108). »Kinder, die sprechen wollten und es nicht konnten, Kinder, die sich verzweifelt bemühten, eine Verbindung herzustellen und doch immer nur stundenlang einen Namen wiederholen konnten oder ununterbrochen dasselbe Lied sangen und rhythmisch dazu mit dem Kopf nickten« (109). »Ich begriff damals, was es bedeutete, wenn eine innere Welt für immer verschlossen ist...« (109). – Zur Parallele zwischen dem erinnerten Ich und den Kindern von Tulsa vgl. Eakin, Saul Friedländer and the children of Tulsa (wie Anm. 97), S. 247. Eakin bezeichnet die Situation der Kinder dort als »extreme nightmare version of the isolation that Friedländer has always feared for himself«. »zum quälenden Symbol [...], ja rein persönlich zur echten Provokation« (110f.). »Tore […], die sich nie wieder schließen würden« (113).

3.2 Quand vient le souvenir… (1978): Friedländers Erinnerungstext

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Écrire donc, il le faut. Écrire c’est retracer les contours du passé d’un trait moins éphémère peut-être que le reste, c’est tout de même conserver une présence, c’est pouvoir raconter également qu’il y eut un enfant qui vit sombrer un monde et en renaître un autre aussi (126).218

Andererseits aber werden Zweifel an der Möglichkeit der Darstellbarkeit der persönlichen Geschichte formuliert, die durch die Erinnerung und die Verschriftlichung als doppelt vermittelt gekennzeichnet ist: Je ressens parfois, quand je feuillette ces pages, un profond découragement: jamais je n’exprimerai ce que je voulais dire; ces lignes, souvent malhabiles, sont bien loin, je le sais, de mes souvenirs et ceux-ci ne recouvrent que des fragments épars de l’existence de mes parents, de ce que fut leur monde, de ce que fut le temps même de mon enfance. […] Faut-il continuer? (125f.)219

Damit werden die Grenzen des Wissens um die eigene Vergangenheit auf den letzten Seiten von Friedländers Erinnerungstext explizit hervorgehoben. In welchem Maße das Wissen um die persönliche Vergangenheit immer nur durch Erinnerung vermittelt sein kann, sollen die abschließenden Überlegungen zum Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ verdeutlichen, die an das Zitat aus Meyrinks Golem anknüpfen und wiederum die Bedeutung der Schrift/des Schreibens für die Annäherung an die persönliche Geschichte hervorheben. 3.2.7.1 »Wissen und Erinnerung sind dasselbe…«: Annäherung an die persönliche Vergangenheit In der deutschen Übersetzung, die sich am Originalzitat von Meyrink orientiert, heißt es: »Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung« – und weiter: »Wissen und Erinnerung sind dasselbe...« Am Ende von Friedländers Text wird dieses Zitat umgekehrt und betont damit in noch stärkerem Maße die zentrale Bedeutung der Erinnerung für das Einholen der Vergangenheit: »Allmählich, wenn die Erinnerung kommt«, heißt es nun dort, »kommt auch das Wissen... Wissen und Erinnerung sind dasselbe...« (188).220 218

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»Ich muss es also aufschreiben. Schreiben bedeutet, die Konturen der Vergangenheit mit Linien nachzuzeichnen, die weniger vergänglich sind als alles übrige, Schreiben bedeutet, das Dasein eines Menschen festzuhalten, bedeutet, von einem Kind erzählen zu können, das seine Welt untergehen und eine andere entstehen sah« (141). »Wenn ich in diesen Seiten blättere, fühle ich mich manchmal zutiefst entmutigt. Niemals werde ich das zum Ausdruck bringen, was ich eigentlich sagen möchte; ich weiß, diese Zeilen sind sehr weit von meinen Erinnerungen entfernt, und diese wiederum sind nur einzelne Fragmente aus dem Leben meiner Eltern, nur Teile dessen, was ihre Welt, was meine Kindheit war. […] Soll ich weiterschreiben?« (140) Die Originalpassage bei Meyrink lautet folgendermaßen: »Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens noch den des Todes. Sie treiben daher wie

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Diese Umkehrung des Zitats ist es, die Friedländers Erinnerungstext den Titel gibt und damit die Rolle der ›Erinnerung‹ für das ›Wissen‹ um die persönliche Vergangenheit als zentrales Thema des Textes kennzeichnet. Durch die Wahl des Titels und das dem Text vorangestellte Zitat Meyrinks erhalten zudem die Varianten der Golem-Sage am Ende des ersten Kapitels von Teil 1 besonderes Gewicht und lassen sich auf übergeordneter Ebene ebenfalls als Reflexion des autobiographischen Schreibakts lesen. Wie Eakin überzeugend argumentiert, ist es die Schrift, die den Golem sowohl erschafft als auch zerstört: Lors de la création du robot, le rabbin et ses aides s’étaient placés aux pieds de la statue de glaise allongée sur le sol et ils avaient récité les formules magiques du livre Yetsirah, le livre de la création; cette fois-çi, c’est derrière la tête du Golem qu’ils se postèrent et les phrases du livre Yetsirah furent lues à l’invers. Quand le dernier mot s’envola dans le silence, le Golem redevint un simple tas d’argile (26).221

Dabei ist es der Verweis auf die ›umgekehrte Reihenfolge‹, der diese Passage mit dem Textende verknüpft und somit den Blick auf den Zusammenhang zwischen der Auslöschung des Golems und dem titelgebenden Meyrink-Zitat lenkt. Während die Umkehrung der Worte aus dem Buch Jetzirah die Auslöschung des Golems bedeutet, lässt sich – so Eakin – die Umkehrung des Meyrink-Zitats als Verweis auf das Anliegen jedes autobiographischen Erinnerungs- und Schreibakts lesen: die Erzeugung von Kohärenz und Kontinuität durch die ›Erinnerungsschrift‹.222 Allerdings werden bereits durch den Titel

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Spreu im Sturm. Im Talmud steht: ›Ehe Gott die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die geistigen Leiden des Daseins und der Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese strich Gott aus dem Buche der Lebenden.‹ Du aber g e h s t einen Weg und hast ihn aus freiem Willen beschritten – wenn du es jetzt auch selbst nicht mehr weißt: du bist berufen von dir selbst. Gräm dich nicht: allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. W i s s e n u n d E r i n n e r u n g s i n d d a s s e l b e .« – Gustav Meyrink: Der Golem. Mit acht Lithographien von Hugo Steiner-Prag. Leipzig: K. Wolff 1915, S. 91. Hervorhebung im Original. »Bei der Schaffung des Golem hatten sich der Rabbiner und seine Gehilfen zu Füßen der auf dem Boden ausgestreckten Lehmfigur aufgestellt und magische Formeln aus dem Buch Jetzirah, dem Buch der Schöpfung, aufgesagt. Dieses Mal nun stellten sie sich am Kopfende auf, und die Sätze aus dem Buch Jetzirah wurden in umgehrter Reihenfolge gelesen. Als das letzte Wort in der Stille verklungen war, zerfiel der Golem wieder zu einem simplen Haufen Ton« (24). – Vgl. hierzu Eakin: »In the second version, Friedländer’s favourite, language, inversion, decreation, and loss of identity are again the central features of the story of the creature’s destruction.« – Eakin, Saul Friedländer and the children of Tulsa (wie Anm. 97), S. 238. »The epigraph from Meyrink, whose phrasing Friedländer inverts significantly in his title, may lead us to wonder about the nature of the spell that his re-creation of the past is designed to perform. The words of the epigraph seem to promise the ad-

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des französischen Originals Zweifel am Gelingen eines solchen Identitätsprojekts deutlich: Anders als in der deutschen Übersetzung fordert die Ellipse »Quand vient le souvenir...« zur Ergänzung durch die zweite Satzhälfte – »la connaissance vient aussi, progressivement...« (166f.) – auf.223 Durch die Aussparung verweist der französische Titel damit zwar einerseits auf die Rolle der Erinnerung für das Einholen der persönlichen Geschichte, die durch die Gleichsetzung (»Wissen und Erinnerung sind dasselbe«) am Textende unterstrichen wird. Andererseits aber wird durch die Aussparung der zweiten Satzhälfte die Möglichkeit einer umfassenden, abschließenden Annäherung an die persönliche Vergangenheit – und damit des ›Wissens‹ um sie – von vornherein hinterfragt. So reflektiert Friedländers persönlicher Erinnerungstext – analog zur wissenschaftlichen Geschichtsschreibung – einerseits die Notwendigkeit des autobiographischen Schreibens zur Erzeugung von Kohärenz und Identität, gleichzeitig aber die Grenzen einer letztendlichen Annäherung an die Lebenswirklichkeit, wie sie sich dem erinnerten Ich darstellte – und damit das Anliegen, dem Einebnen der disparaten Erfahrungen in ein kohärentes Selbstnarrativ entgegenzuwirken. Auch auf der Ebene ›persönlicher Geschichtsschreibung‹ geht es also darum, ein abgeschlossenes, ›eindeutiges‹ Narrativ zu vermeiden. In welchem Maße Friedländers komplex gestalteter Erinnerungstext über eine Darstellung des persönlichen Verfolgungsschicksals hinausgeht, sollen die vorangegangenen Überlegungen deutlich gemacht haben. Zwar bildet auch in Friedländers Text der Holocaust das zentrale autobiographische Moment. Ausgehend hiervon jedoch reflektiert er in besonderem Maße den eigenen Erinnerungs- und Schreibprozess als immer konstruierten, prozesshaften. Dabei ist die Reflexion des Zusammenhangs von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ konstitutiv. Nur in diesem weitesten Sinne ist Quand vient le souvenir... als ›Erinnerungstext‹ zu lesen. Auf den Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ werde ich in den anschließenden Überlegungen zur Positionierung als Wissenschaftler im autobiographischen Text sowie in der abschließenden Synthese von Friedländers autobiographischem und wissenschaftlichem Werk zurückkommen.

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vent of wholeness and identity, while language in these versions of the legend acts instead as the exorcism of a threat, deconstituting a created being into a mass of clay.« – Ebd., S. 239. Hervorhebung im Original. Vgl. hierzu auch Eaglestone: »Yet the fact that this [knowledge, K. M.] is absent is stressed by the presence of the ellipses. But knowledge does not come, or does not come necessarily. This leads one to read it as a critique of knowledge which cannot fill or compare with memory: memory underlies both historical knowledge and succeeds it.« – Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3), S. 177.

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3.2.8 Positionierung als Wissenschaftler im autobiographischen Text Friedländer formuliert sein Selbstverständnis als Historiker in seinem autobiographischen Text explizit mit. Besonderes Gewicht erhalten dabei erstens der Zusammenhang von wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und persönlicher Geschichte (3.2.8.1), zweitens die Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers für seine Interpretation historischer Ereignisse (3.2.8.2), drittens der Wechsel der Erzählebenen von der Darstellung historischer Hintergrundinformationen zu ihren Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen (3.2.8.3), viertens die kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich eindeutigen Täter-Opfer-Dichotomien (3.2.8.4) und fünftens Fragen der ästhetischen Darstellung des Holocaust (3.2.8.5). Dabei geht es im Folgenden darum zu zeigen, dass Friedländers theoretische Annahmen nicht so sehr explizit in seinen autobiographischen Text einfließen als vielmehr durch die Textstruktur evoziert werden. 3.2.8.1 »Sich selbst in einen Zusammenhang stellen«: Geschichtsschreibung und persönliche Geschichte Vier Jahre nach seinem Aufenthalt in Schweden wendet sich das erinnerte Ich 1961 seiner Laufbahn als Historiker zu. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Höhepunkt des zweiten Erzählstrangs – dem Jahr bei seinem Onkel in Schweden – die Funktion eines Wendepunkts zu (vgl. S. 85): Die nationalsozialistische Judenverfolgung steht ab da im Mittelpunkt seiner geschichtswissenschaftlichen Arbeit. Inwieweit die persönliche Erfahrung und die wissenschaftliche Tätigkeit als Historiker unbewusst ineinander greifen, soll folgendes Textbeispiel verdeutlichen: 1938 hört das erinnerte Ich eine Rede Hitlers im Radio. Die Erinnerung beschränkt sich jahrelang auf die Wiederholungen und Alliterationen dieser Rede, die er nicht einordnen kann. Erst als er sich als Historiker eingehend mit diesem Zeitabschnitt befasst, stößt er auf ein Dokument, in dem er die damals gehörte Rede wiederzuerkennen glaubt: »Ce que j’avais entendu, et ne pouvais plus oublier, c’était la répétition incantatoire du mot Tausend comme le halètement de quelque monstrueuse locomotive« (32).224 Das Beispiel rückt zweierlei in den Blick: Die wissenschaftliche Tätigkeit dient nicht nur der Einordnung der eigenen Vergangenheit, sondern wird unbewusst durch die persönlichen Erfahrungen gelenkt. Der Blick des Historikers ist – wie die Hitlerrede demonstriert, die nicht durch ihren Inhalt, sondern ihren Klang in der Erinnerung verblieben ist – durch die persönliche Vergangenheit für psychologische Faktoren in besonderem Maße geschärft. Es ist also der Zusammenhang zwischen persönlicher Lebensgeschichte und der Geschichte des europäischen 224

»Was ich gehört hatte und nicht mehr vergessen konnte, war die beschwörende Wiederholung des Wortes ›tausend‹, vergleichbar dem Keuchen einer grässlichen Lokomotive« (30).

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Judentums, speziell der nationalsozialistischen Judenverfolgung, die Friedländers Tätigkeit als Historiker motiviert und bestimmt. In welchem Maße die persönliche Vergangenheit und die Wahl der beruflichen Laufbahn miteinander verschränkt sind, kommentiert das erinnernde Ich zudem explizit. In der Beschäftigung mit der Judenverfolgung und -vernichtung geht es darum, die eigene Vergangenheit »in einen logischen Zusammenhang zu stellen« (150): »A travers le prisme changeant des témoignages, des récits, des documents d’archives, j’essayai de ressaisir le sens d’une époque et de rétablir la cohérence d’un passé, le mien« (134, meine Hervorhebung, K. M.).225 Das erinnerte Ich wird also – so formuliert es Eakin treffend – nicht nur zum Historiker des Holocaust, sondern ebenso zum Historiker seiner selbst.226 Für ihn besteht der einzige Ausweg darin, sich an die erforderliche Ordnung und unvermeidliche Vereinfachung zu klammern, die die Arbeit des Historikers charakterisieren (134/150). In dieser Selbstreflexion klingen Friedländers spätere theoretische Überlegungen zur Geschichtsschreibung an, die ich in Kapitel 3.1 unter dem Stichwort ›erlösendes Abschließen‹ (›redemptive closure‹) diskutiert habe: Geschichtsschreibung – nicht zuletzt durch ihren sprachlichen Charakter – ordnet die Ereignisse der Vergangenheit in bereits existierende Formen und Deutungsschemata und ebnet damit die nicht integrierbaren Anteile – den ›Überschuss‹ – ein. Geschichtsschreibung erzeugt nachträglich einen kausalen Zusammenhang, der den Ereignissen der Vergangenheit im Moment des Geschehens nicht inhärent ist. Die Erzeugung von Kohärenz durch die Geschichtsschreibung ist dabei analog zur Kohärenzerzeugung durch den autobiographischen Schreibakt zu lesen, wobei Friedländers Erinnerungstext – ebenso wie sein historiographisches Werk – durch die formale Gestaltung eine lineare, kausale Verkettung der persönlichen bzw. der kollektiven Geschichte in Frage stellt. 3.2.8.2 Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine Interpretation historischer Ereignisse Indirekt klingt der Zusammenhang von persönlicher Geschichte und professioneller Tätigkeit bereits an entscheidener Stelle auf der ersten Zeitebene an: Der Jesuitenpater in St. Etienne klärt das erinnerte Ich nicht nur über das Schicksal seiner Eltern auf, sondern liest ihm außerdem aus der Autobiographie eines französisch-jüdischen Historikers und dessen erster Konfrontation mit dem Antisemitismus vor. In dieser Begegnung sieht das erinnernde Ich eines der ›wesentlichen Teile eines bisher zusammenhanglosen Puzzlespiels‹ (129/144), die sich auf einmal ineinanderfügen – und deutet damit die Parallele zwischen 225

226

»Augenzeugenberichte, Erzählungen, Archivdokumente vermittelten mir ein vielfältiges Bild, mit dessen Hilfe ich versuchte, den Sinn einer Epoche zu begreifen und die Vergangenheit, nämlich meine eigene Vergangenheit, in einen logischen Zusammenhang zu stellen« (150). Vgl. Eakin, Saul Friedländer and the children of Tulsa (wie Anm. 97), S. 246.

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der eigenen Laufbahn und der des französisch-jüdischen Historikers an, dessen Name ihm nicht bekannt ist. Der Einfluss des persönlichen Hintergrunds des Historikers auf seine Interpretation geschichtlicher Ereignisse wird vom erinnernden Ich auch explizit formuliert. Im Kontext der Rückkehr nach Deutschland anlässlich des Interviews mit dem ehemaligen Großadmiral und Oberbefehlshaber der deutschen Marine Dönitz reflektiert das erinnernde Ich das ambivalente Verhältnis zum Land der ehemaligen Verfolger, um anschließend die generelle Prägung der eigenen Sichtweise durch die persönliche Vergangenheit im Bild des Prismas zu fassen: A cette époque seulement, aux alentours de la trentaine, je compris à quel point le passé façonnait désormais ma vision des choses, à quel point l’essentiel m’apparaissait à travers un prisme particulier, que jamais ne pourrait être éliminé. Mais, fallait-il l’éliminer? (135)227

Was hier auf der Ebene der eigenen Lebensgeschichte anklingt, verweist auf die allgemeine Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers für seine Interpretation historischer Ereignisse und steht damit der ›neutralgleichgültige[n] Haltung‹ traditioneller Geschichtsschreibung entgegen. Über die explizite Reflexion hinaus wird die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom jeweiligen Kontext außerdem durch solche Passagen hervorgehoben, in denen historische Hintergrundinformationen in den Text einfließen. Diese Erläuterungen dienen zum einen der Positionierung des erinnernden Ichs als Experte auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Die Passagen gehen jedoch über eine neutrale Schilderung des historischen Hintergrunds hinaus. So wird die Kollaboration der französischen Regierung an den beginnenden Deportationen ausländischer Juden aus Frankreich aus der Perspektive der Regierung unter Laval folgendermaßen geschildert: Pour essayer de sauver les juifs français, Laval demanda que la première vague des déportations n’inclût que les juifs étrangers, approuvant, pour sa part, la participation active des forces de police françaises dans l’opération prévue; Laval, par ailleurs, suggéra que les Allemands déportassent les enfants aussi (70).228

Die Auswirkungen der historischen Fakten, die hier aus der ›pragmatischen‹ Perspektive der französischen Regierung dargestellt werden, werden direkt im Anschluss durch den Wechsel auf die Ebene des persönlichen Ichs in aller Konsequenz deutlich: Die Eltern sehen die einzige Lösung in der Trennung 227

228

»Erst damals, als ich um die Dreißig war, begriff ich, in welchem Maße meine Sicht der Dinge von der Vergangenheit geformt wurde, wie sehr ich das Wesentliche durch ein besonderes Prisma sah, das sich niemals beiseite schieben ließ. Doch mußte man es denn beiseite schieben?« (151) »Um die französischen Juden zu retten, forderte Laval, daß bei der ersten Deportationswelle nur ausländische Juden erfaßt werden sollten, und sagte seinerseits eine aktive Beteiligung der französischen Polizei bei der geplanten Operation zu; Laval schlug übrigens den Deutschen vor, auch Kinder zu deportieren« (75).

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von ihrem Kind, bringen ihn in einem jüdischen Kinderheim unter. Von dort werden in den kommenden Tagen die ersten Kinder deportiert (72f./78f.). 3.2.8.3 Integration der Erinnerungen der Opfer Der Wechsel der Darstellungsebene von der Perspektive der französischen Regierung auf die des persönlichen Ichs verdeutlicht, dass sich die Bedeutung der nationalsozialistischen Maßnahmen und Gesetze erst durch die Darstellung ihrer Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen einschätzen lässt. Dies geschieht unter anderem durch die Integration zahlreicher wörtlich zitierter Passagen aus Briefen der Eltern. Die Beschreibung des gescheiterten Fluchtversuchs der Eltern über die Schweizer Grenze etwa wechselt von der Ebene der offiziellen Maßnahmen auf die des persönlichen Schicksals. Die Juxtaposition von historischen Fakten und den Auswirkungen dieser Fakten auf das Leben des erinnerten Ichs entspricht dabei dem Wechsel der Ebenen in Nazi Germany and the Jews. Die kommentarlose Reihung nationalsozialistischer Maßnahmen und der Reaktionen der eigenen Familie verdeutlicht darüber hinaus die Wahrnehmung, die Friedländer in der Einleitung zu The years of persecution als »total blindness« bezeichnet hat. So heißt es über den Herbst 1938: »La guerre semblait proche, puis Munich survint, avec ses quelques mois de ›répit‹ qui, pour les juifs, allaient être ceux d’une débâcle croissante. Mais nous, nous ne bougions toujours pas« (32).229 Auch aus dem Abstand gelingt es dem erinnernden Ich nicht, die Wahrnehmung der Eltern nachzuvollziehen: Je les contemple de loin, de très loin, et je me demande: quel aveuglement les a ainsi menés, d’erreur en erreur, jusqu’au terme? Quel obscur destin? Je’essaie de comprendre, de me mettre à leur place, d’imaginer ce que j’aurais fait, mais je ne puis… (54)230

Auch die eingefügten Briefe der Eltern können letztendlich keine Auskunft über die Gründe für ihre Wahrnehmung und ein Verständnis für ihr Verhalten liefern. Im Aufrechterhalten dieses Unverständnisses aber vollzieht sich die eigentliche Annäherung, die gerade nicht in der Einebnung in eindeutige Erklärungsmuster besteht: Durch die Andeutung des historischen Hintergrunds, vor allem aber durch das Wissen des Rezipienten über die weitere Entwicklung erzeugen die den Maßnahmen der Nationalsozialisten gegenübergestellten Reaktionen der Eltern – um Friedländers Ausdruck zu zitieren – ein Gefühl der ›Entfremdung‹, das der Wahrnehmung der Eltern entspricht. Ihre letzten einge229

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»Der Krieg schien nahe zu sein, dann kam München und jene wenigen Monate des ›Aufschubs‹, die für die Juden Monate einer wachsenden Katastrophe werden sollten. Wir aber rührten uns immer noch nicht« (30). »Ich betrachte sie aus der Ferne, aus sehr weiter Ferne, und frage mich: Welche Verblendung hat sie so von Irrtum zu Irrtum dem Ende entgegengeführt? Welch blindes Schicksal ? Ich versuche zu begreifen, mich an ihre Stelle zu versetzen, mir vorzustellen, was ich getan hätte, doch es gelingt mir nicht…« (57).

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fügten Briefe illustrieren auf beklemmende Weise die Sinnlosigkeit der bis zuletzt bestehenden Hoffnung auf Rettung: Kontrastiert mit dem Bericht einer Augenzeugin, die ihren gescheiterten Fluchtversuch über die Schweizer Grenze beobachtet hat, scheinen die Eltern trotz des Wissens um ihre Überführung nach Rivesaltes weiterhin auf eine Intervention der französischen Regierung zu hoffen. Die Schrift ihres letzten Briefes schließlich, verfasst im Zug, der sie deportiert, verlöscht – Symbol des ihnen bevorstehenden Schicksals. Die Worte der Eltern erhalten durch den gesamten Text gerade durch die fehlende Kommentierung ihr emotionales Gewicht – ein Verfahren, das ebenso Nazi Germany and the Jews bestimmt. In diesem Sinne lässt sich die Anordnung der Dokumente auf der Ebene der persönlichen Familiengeschichte strukturell als Vorläufer zu Friedländers Opus Magnum bezeichnen. 3.2.8.4 Hinterfragen eindeutiger Täter-Opfer-Dichotomien Die wissenschaftliche Tätigkeit des erinnernden Ichs zeichnet sich durch eine äußerst kritische Haltung gegenüber vermeintlich eindeutigen Täter-OpferDichotomien aus, wie der Vergleich zionistischer Jugendorganisationen mit nationalistischen rechten Jugendbewegungen in Europa als Seminarthema gezeigt hat (vgl. S. 104). Auf der Ebene des persönlichen Ichs wird das Hinterfragen eindeutiger Täter-Opfer-Dichotomien an verschiedenen Beispielen deutlich. So wird etwa das Bedürfnis beschrieben, der ›starken‹ Seite zuzugehören. Die eigenen Geschichten über den ›Wucherer Abraham‹ kommentiert das erinnernde Ich rückblickend folgendermaßen: Ainsi, à mon échelle, j’étais devenu un renégat: conscient de mes origines, je me sentais néanmoins à l’aise dans la communauté de ceux qui pour les juifs n’avaient que mépris et, incidemment, j’attisais ce mépris. J’éprouvais le sentiment, non formulé bien qu’évident, d’être passé à la compacte et invincible majorité, de ne plus appartenir au camp des persécutés mais, en puissance, à celui des persécuteurs (114).231

Von besonderem Interesse für die kritische Hinterfragung vermeintlich eindeutiger Täter-Opfer-Dichotomien ist eine weitere Textpassage, die durch den unvermittelten Übergang von der Ebene der Tagebucheinträge zur Ebene des erinnerten Ichs eine Analogie erzeugt, die erst bei genauer Lektüre sichtbar wird. Ausgehend vom Datum des Tagebucheintrags – der 22. September, das Jom-Kippur-Fest 1977 – werden die Erinnerungen an das Jom-Kippur-Fest 1973 ausgelöst. Der Tagebucheintrag endet mit den Angriffen der syrischen 231

»So war ich also auf meine Weise zum Abtrünnigen geworden: Obwohl ich mir meiner Herkunft bewußt war, fühlte ich mich dennoch in der Gemeinschaft jener wohl, die für die Juden nur Verachtung hatten, und gelegentlich schürte ich selbst noch diese Verachtung. Ich hatte das zwar unausgesprochene, doch deutliche Gefühl, zur unbesiegbaren, geschlossenen Mehrheit übergetreten zu sein, nicht mehr zum Lager der Verfolgten, sondern dem der Verfolger zu gehören« (126). – Vgl. hierzu auch Trapp, Auswege aus traumatischen Blockaden (wie Anm. 97), S. 452.

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und ägyptischen Streitkräfte auf Israel (118/131). Der anschließende Wechsel auf die Ebene des erinnerten Ichs geschieht nur scheinbar unvermittelt. Auch hier geht es um einen Angriff – den Angriff der französischen Widerstandskräfte (der ›Fifis‹) auf Montluçon, die sich Gefechte mit den Deutschen liefern. Die damalige Sichtweise des erinnerten Ichs ist von der konservativen Sodalität geprägt, die die Aktivitäten der Résistance ablehnt. Problematisiert wird die eigene Sichtweise im Rückblick durch die Erinnerung an zwei Mitschüler, die wegen ihrer politischen Gesinnung – beide Sympathisanten der französischen Linken – von den Klassenkameraden verhöhnt werden. Wiederum ist der Rückblick auf die eigene, unreflektierte Haltung kritisch: »Comme nous nous sentions bien entre nous et comme j’étais heureux de pouvoir, moi aussi, du sein de la chaleur fraternelle, regarder ce proscrit d’un œil méprisant!« (119)232 Aufschlussreich ist dabei die Bewunderung des erinnerten Ichs für die ›starke‹ Seite, die deutsche Wehrmacht: Au cours des combats de Montluçon, nous nous gaussions tous de l’incapacité des ›fifis‹ de prendre la caserne. Pendant l’une des récréations, Michel, un ›petit‹, un Montluçonnais de dix ans au visage tout rond, n’y tint plus: ›Mais ce sont des Français tout de même!‹ s’écria-t-il, et il se mit à sangloter. On le couvrit de sarcasmes: je me joignis aux autres. Pensez donc, ces ›fifis‹ de rien contre la Wehrmacht! (119f.)233

Im Rückblick werden die beiden Mitschüler für das erinnernde Ich durch ihren Mut und ihre Unabhängigkeit zu ›Helden‹. Ausgehend vom persönlichen Beispiel – dem eigenen Verhalten, dessen Ungerechtigkeit im Nachhinein zur Gewissensbelastung wird – wird zweierlei verdeutlicht: zum einen die Abhängigkeit der persönlichen Einschätzung vom mehrheitlichen Kollektiv – und zum anderen die Wandelbarkeit solcher Einschätzungen. Liest man vor diesem Hintergrund der persönlichen Geschichte den scheinbar unvermittelten, durch die Assoziation des Angriffs verknüpften Wechsel von der Tagebuchebene zur Ebene des erinnerten Ichs erneut, so erscheint der Angriff der syrischen und ägyptischen Streitkräfte 1973 auf Israel in einem anderen Licht. Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht nicht darum, die Wahrnehmung des Angriffs auf Israel mit der im Rückblick als ungerechtfertigt beurteilten Wahrnehmung der angreifenden französischen Widerstandskräfte gleichzusetzen. Jedoch wird durch die über die Assoziation des Angriffs geschaffene Analogiebildung in 232

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»Wie wohl wir anderen uns fühlten, und wie glücklich ich war, daß ich zu der brüderlichen Gemeinschaft gehörte und diesen Geächteten mit verachtungsvollem Blick betrachte konnte« (133). »Im Verlauf der Kämpfe in Montluçon machten wir uns alle darüber lustig, daß es den ›Fifis‹ nicht gelang, die Kaserne einzunehmen. In einer Pause konnte Michel, einer der ›Kleinen‹, ein zehnjähriger Junge aus Montluçon mit rundem Gesicht, nicht mehr an sich halten: ›Aber das sind doch auch Franzosen!‹ schrie er und fing an zu schluchzen. Wir fielen mit sarkastischen Bemerkungen über ihn her – ich machte da keine Ausnahme. Man stelle sich nur vor, die ›Fifis‹, diese Schlappschwänze gegen die Wehrmacht!« (133)

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den Blick gerückt, dass die Wahrnehmung der Täter-Opfer-Dichotomie vom Standpunkt und Kontext abhängt und daher – wie im Fall der gewandelten Einschätzung der eigenen Position – einer kritischen (Selbst)Überprüfung bedarf. Durch die Reihung der scheinbar zusammenhanglosen Angriffssituationen wird durch die Textstruktur der Blick des Rezipienten für die Vielschichtigkeit nur vermeintlich eindeutiger Positionen und Täter-OpferDichotomien geschärft. 3.2.8.5 Ästhetische Darstellung des Holocaust Hatte Friedländer die filmische Montagetechnik Claude Lanzmanns in seinen theoretischen Überlegungen als positives Beispiel einer ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust hervorgehoben, die sich einem ›erlösenden Abschließen‹ verweigert, so wird die Wirkung des Films in Quand vient le souvenir... durch die Textstruktur selbst evoziert, anstatt sie explizit zu kommentieren. Dabei resultiert Lanzmanns Verweigerung gegenüber einer abschließenden Interpretation des Holocaust – so Friedländer – aus drei Faktoren: erstens der deutlich als solcher gekennzeichneten Gegenwärtigkeit der Erinnerungen, zweitens der räumlichen Distanz zum Geschehen und drittens einer Distanz, die durch die Narration selbst entsteht.234 Durch seine Struktur inszeniert Friedländers Text seinerseits die für ihn wesentlichen Aspekte der Montagetechnik Lanzmanns: Die Gegenwärtigkeit der Erinnerungen und ihre räumliche Distanz wird durch den Verweis auf den Zeitpunkt und den Ort der Filmszenen hervorgehoben. Dabei brechen die Ausschnitte an entscheidenden Stellen ab und lassen so – wie Friedländer es in seinen Überlegungen zu Lanzmann formuliert hat – das ›Unsagbare ungesagt‹. Durch den wiederholten Perspektivwechsel innerhalb der Passage in Friedländers Text – von dem SSOffizier zu den jüdischen Frisören in Treblinka und den Vorsitzenden des Judenrats in Theresienstadt schließlich über das Schicksal einer Kindergruppe aus Białystock zurück zum SS-Offizier aus Treblinka – wird die Lanzmanns Film zugrundeliegende Reihung der Interviews abgebildet. Dabei wird zugleich die provokante, keinesfalls unumstrittene Interviewtechnik inszeniert, wenn an die Zusammenfassung der Filmszenen Lanzmanns Fragen wörtlich zitiert werden: ›Mais, dites-nous, monsieur, du point de vue de l’organisation, n’était-il pas difficile de tuer dix-huit mille personnes par jour sans trop laisser de traces?...‹ (110) – ›Dites-moi, monsieur, demande Claude à l’officier de Treblinka, lesquels brûlaient donc plus vite, les corps des hommes ou ceux des femmes?‹ Et, posément, l’officier se met à expliquer (111).235 234 235

Vgl. S. 60 der vorliegenden Arbeit. »›Aber, sagen Sie, war es vom organisatorischen Gesichtspunkt her nicht schwierig, täglich 18000 Menschen zu töten, ohne zu viele Spuren zu hinterlassen?...‹« (122) – »›Wer verbrannte eigentlich schneller‹, fragte Claude den Offizier von

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Indem Friedländer die Montagetechnik Lanzmanns in seinem Erinnerungstext inszeniert, bildet er ab, was er in seinen späteren theoretischen Überlegungen als Verweigerung gegenüber abschließender Interpretation ausgeführt hat, die durch eine Juxtaposition konkurrierender Perspektiven verhindert wird. Auch Friedländers theoretische Überlegungen zu den Grenzen der ästhetischen Darstellbarkeit des Holocaust, die er in seinen Essays Reflets du nazisme (Kitsch und Tod) und »Trauma and transference« sowie der Einleitung zu Probing the limits of representation formuliert hat, fließen in seinen persönlichen Erinnerungstext ein. Joachim Fests Hitler, eine Karriere – insbesondere die Marginalisierung der Judenvernichtung – kommentiert das erinnernde Ich explizit: »Montée fulgurante, énergie titanesque, chute luciférienne: tout y est. Quant à l’extermination, quelques mots en passant, à peine. Une ombre sans conséquence à ce grandiose tableau« (136).236 In der Konzentration auf Hitler und der Faszination, die er ausübte, läuft – so das erinnernde Ich – Fests Film Gefahr, die Verantwortlichkeit der Massen auszublenden und sich zudem derselben faszinierenden Darstellungsmechanismen zu bedienen, die die nationalsozialistische Inszenierung Hitlers kennzeichnete: Pour qui ne sait pas, il reste la puissance et la gloire, suivies d’une véritable vengeance des dieux; ou encore les longs appels dans la nuit devant la Feldherrnhalle, illuminée par la lumière des milliers de flambeaux, drapée des étendards à croix gammée: – Felix Alfahrth! – Present! – Andreas Bauriedl! – Present! Pour qui ne sait pas, il reste la communion mystique avec la révolution brune et ses martyrs (136).237

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Treblinka, die Leichen der Männer oder die Leichen der Frauen?‹ Und bedächtig beginnt der Offizier mit der Erklärung« (123). »Blitzschneller Aufstieg, titanische Kraft, luziferischer Sturz: alles ist da. Über die Judenvernichtung nur ein paar Worte am Rande. Ein unwichtiger Schatten auf diesem grandiosen Gemälde« (152). »Wer nichts weiß, der sieht nur die Macht und den Ruhm und danach die Rache der Götter; oder vielleicht noch die langen Appelle vor der mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Feldherrnhalle, die eingetaucht war in das Licht Tausender von Fackeln: Felix Alfarth [sic]! Hier! Andreas Bauriedl! Hier!

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Die Wahrnehmung des Films als Dokumentation historischer Fakten verstärkt dabei die Gefahr, die Erinnerungen an die Zeit zu verfälschen – eine Gefahr, die durch die Position der Passage im direkten Anschluss an das Interview mit Dönitz und sein Ehrenwort, von nichts gewusst zu haben, noch verstärkt wird: »Ainsi se transformaient au fil des années les témoignages, ainsi s’effriteraient les souvenirs« (136).238 Während das Interview mit Dönitz für die historische Analyse aufgrund seiner Inexaktheit keinen Nutzen hat, wie Friedländer in der Einleitung zu Hitler et les États-Unis betont, kommt seinen Beteuerungen, von nichts gewusst zu haben, als Aussage über die Funktionsweise individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse entscheidende Bedeutung zu.239 Erinnerungen allein – so ist der anschließende Kommentar des erinnernden Ichs zu verstehen – reichen nicht aus, bedürfen im Gegenteil des Wissens um die historischen Ereignisse: »Pour qui ne sait pas, il reste la communion mystique avec la révolution brune et ses martyrs« (136).240 So ist diese Passage auf übergeordneter Ebene als Kommentar zum Verhältnis von ›Wissen‹ und ›Erinnerung‹ in der Annäherung an die nationalsozialistische Vergangenheit einzuordnen: Weder die reine Dokumentation der historischen Fakten (das ›Wissen‹), noch der alleinige Rückgriff auf Zeugnisse (die ›Erinnerung‹) können eine Annäherung an das Geschehen leisten. Notwendig ist vielmehr die Verbindung von beiden.241 Auch in dieser Hinsicht lässt sich Friedländers autobiographischer Text als Vorwegnahme seiner theoretischen Prämissen und ihrer Umsetzung in Nazi Germany and the Jews lesen. Diese Überlegungen leiten mich über zur abschließenden Synthese von Friedländers autobiographischem und geschichtswissenschaftlichem Werk.

238 239

240 241

Wer nichts weiß, der sieht hier nur die mystische Verbundenheit mit der braunen Revolution und ihren Märtyrern« (152f.). »So werden im Laufe der Jahre die Zeugnisse verformt, so zerbröckeln die Erinnerungen« (153). »Un entretien prolongé et un échange de lettres avec l’ex-grand-amiral Dönitz nous ont confirmé dans l’opinion que les témoignages écrits après la fin de la guerre [...] n’ajoutent que peu de choses à la compréhension des événements qui nous intéressent et peuvent souvent fausser les tentatives d’évaluation objectives; dans le cas de l’ex-grand-amiral, nous avons constaté, sans aucun doute possible, que certains des faits dont il nous fit part étaient inexacts [...].« – Friedländer, Introduction. In: Ders., Hitler et les États-Unis (wie Anm. 3), S. 34. »Wer nichts weiß, der sieht hier nur die mystische Verbundenheit mit der braunen Revolution und ihren Märtyrern« (153). Vgl. hierzu Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3), S. 177.

3.3 Sein Werk zwischen autobiographischem Projekt u. Geschichtsschreibung

3.3

127

»Allmählich, wenn die Erinnerung kommt, kommt auch das Wissen... Wissen und Erinnerung sind dasselbe...«: Friedländers Werk zwischen autobiographischem Projekt und Geschichtsschreibung

Wie die Überlegungen in Kapitel 3.2.7 und 3.2.8 gezeigt haben, bestimmt der Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ Friedländers Erinnerungstext in dreierlei Hinsicht: ›Wissen‹ über die eigene Vergangenheit ist – erstens – nur über den Akt autobiographischer Erinnerung möglich. Die Gleichsetzung von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ am Ende des Textes (»Wissen und Erinnerung sind dasselbe«) impliziert dabei, dass ›Wissen‹ (als Kenntnis der ›Fakten‹) über die persönliche Vergangenheit immer nur ›Erinnerung‹ (als erlebte Wirklichkeit) sein kann.242 Dabei werden – zweitens – die Grenzen dieser Annäherung an die persönliche Vergangenheit deutlich: Auch die Erinnerung liefert letztendlich keinen Zugang zur erlebten Wirklichkeit, wie sie sich dem Kind darstellte, ist vielmehr in ihrer Gegenwärtigkeit und Vorläufigkeit gekennzeichnet. Dies wird bereits durch die Ellipse im Titel vorweggenommen, der die Möglichkeit einer Annäherung an die persönliche Vergangenheit, wie sie ›wirklich war‹, von vornherein in Frage stellt. Die Diskrepanz zwischen ›Wissen‹ und ›Erinnerung‹ wird besonders deutlich in der Kontrastierung von persönlicher Erinnerung mit den in den Text eingefügten eigenen Briefen: Die Sichtweise des erinnerten Ichs wird hier in Form von ›Dokumenten‹ eingefügt, durch die die Distanz hervorgehoben wird, die sich auch durch Erinnerung nicht überbrücken lässt. Dies gilt ebenso für die eingefügten Briefe der Eltern. Gerade im Aufrechterhalten der Distanz gegenüber den nicht integrierbaren Anteilen der persönlichen Geschichte aber besteht die Paralle zu Friedländers Geschichtsschreibung. Und noch in einem dritten Sinne ist der Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹ für den autobiographischen Text relevant: Die historischen Hintergrundinformationen, die in den Text eingefügt sind, liefern zwar ›Wissen‹, geben Aufschluss über die historischen Fakten, wie sie sich zugetragen haben, und sind zum Abgleich der Erinnerungen und damit zur Einordnung der persönlichen Lebensgeschichte notwendig. Zugang zur erlebten Wirklichkeit gibt dieses ›Wissen‹ um die historischen Fakten jedoch nicht. Auf der anderen Seite sind – wie die Überlegungen zum Interview mit Dönitz und zu Fests Hitler, eine Karriere gezeigt haben – auch die Erinnerungen allein nicht ausreichend, um Zugang zum historischen Geschehen zu geben. Vor diesem Hintergund soll es abschließend darum gehen, Friedländers autobiographisches und sein historiographisches Werk in Bezug zu setzen. In der Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Erinnerung (1.) und der Verweigerung gegenüber einem integrierenden, ›erlösenden‹ Narrativ (2.) 242

Zur Gegenüberstellung von historischen Fakten und erlebter Wirklichkeit vgl. den Ansatz von Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Anm. 3).

128

3 Saul Friedländer

besteht eine enge Verbindung zwischen Friedländers Geschichtsschreibung und seinem autobiographischen Projekt, die zudem durch die formale Gestaltung unterstrichen wird. Sowohl die Geschichtsschreibung als auch das autobiographische Projekt stehen damit im Spannungsfeld (3.) zwischen dem Bedürfnis, sich der Vergangenheit anzunähern – und dem Anliegen, ein vereinfachendes, abschließendes Narrativ zu vermeiden. 1. Im Mittelpunkt von Friedländers historiographischem Ansatz stehen – um es abschließend zu wiederholen – die Integration der persönlichen Erinnerungen der Opfer und die Auseinandersetzung mit der Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers für seine wissenschaftliche Arbeit. Diesen Einfluss des persönlichen Hintergrunds auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung, den Friedländer mit dem Freudschen Begriff der ›Übertragungssituation‹ beschreibt, gilt es, in einem selbstreflexiven Kommentar offen zu legen. Die Wahrnehmung historischer Ereignisse wird auf diese Weise in ihrer Gegenwärtigkeit und Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext gekennzeichnet. Damit geht Friedländer über eine traditionelle, auf vermeintlich ›objektiven‹ Fakten beruhende Geschichtsschreibung hinaus. Sowohl die Integration der Erinnerungen der Zeitzeugen als auch der selbstreflexive Kommentar des Historikers haben zum Ziel, die chronologische Darstellung der Ereignisse zu unterbrechen und auf diese Weise einem ›erlösenden Abschließen‹ entgegenzuwirken. Eine solch abschließende Deutung ist, so Friedländer, gerade für die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung nicht möglich, die als ›Grenzereignis‹ das rationale Verstehen übersteigt. Eine Darstellung des Holocaust muss deshalb den verbleibenden ›Überschuss‹ durch ihre Struktur ausdrücken. Das größtmögliche Verständnis der nationalsozialistischen Judenvernichtung besteht damit gerade in der Akzeptanz der Unmöglichkeit einer letztendlichen Deutbarkeit. Friedländers Erinnerungstext unterscheidet sich – so hat meine Interpretation gezeigt – deutlich von chronologisch erzählten Autobiographien, die in der Einheit von erinnerndem und erinnertem Ich die Möglichkeit einer Annäherung an die persönliche Vergangenheit, wie sie ›wirklich war‹, implizieren. Im Mittelpunkt von Friedländers Erinnerungstext dagegen steht die Auseinandersetzung mit der Funktionsweise individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse, mit der Bedeutung dieser Erinnerungsprozesse für die Herausbildung einer immer nur vorläufigen, unabschließbaren Identität sowie mit dem über das persönliche und das kollektive Schicksal hinausgehenden Bedürfnis nach Kohärenz und Kontinuität als ›allgemein-menschliches‹ Phänomen. Im Zentrum steht dabei der Zusammenhang von ›Erinnerung‹ und ›Wissen‹. Durch den Einsatz komplexer literarischer Strategien entsteht ein vielschichtiges Textgefüge, das die wechselseitige Bedingtheit von immer gegenwärtiger Erinnerung an die Vergangenheit und – andersherum – den Einfluss dieser Erinnerungen auf die Wahrnehmung der Gegenwart evoziert und das persönli-

3.3 Sein Werk zwischen autobiographischem Projekt u. Geschichtsschreibung

129

che Identitätsprojekt in seiner Unabschließbarkeit kennzeichnet. Auch auf persönlicher Ebene wird so demonstriert, dass ein abschließendes, ›erlösendes‹ Selbstnarrativ die Komplexität des sich immer neu konstituierenden Selbstes nicht angemessen darstellen kann. Auch formal – durch die unvermittelten Wechsel der Analyseebenen, die dadurch entstehenden Leerstellen und die dem Leser überlassene Kommentierung – weisen sein Hauptwerk Nazi Germany and the Jews und sein autobiographischer Text deutliche Parallelen auf. Damit öffnet sich nicht nur sein autobiographischer Text formalen Gestaltungskriterien, die weit über die chronologisch erzählter Erinnerungstexte hinausgehen – sondern auch Friedländers historiographisches Werk unterscheidet sich maßgeblich von anderen Gesamtdarstellungen des ›Dritten Reiches‹. Insbesondere der zweite Band weist dabei durch die leitmotivisch aufgenommene Verfolgung der Schicksale der Tagebuchschreiber/-innen formale Kriterien auf, die man – wie es Confino treffend formuliert – intuitiv literarischen Texten zuschreiben würde.243 Eine explizite Auseinandersetzung mit der Erinnerungshaftigkeit und den literarischen Gestaltungskriterien der in die historiographische Darstellung eingefügten persönlichen Zeugnisse findet sich zwar in Nazi Germany and the Jews nicht. In der Reflexion der Gegenwärtigkeit autobiographischer und kollektiver Erinnerungen geht Friedländers autobiographischer Text damit über seine historiographische Darstellung hinaus. Der Stellenwert aber, den persönliche Erinnerungen in Friedländers historiographischem Werk einnehmen, stellen eine Ausnahme innerhalb der Geschichtsschreibung dar und sind im Kontext seiner persönlichen Lebensgeschichte zu sehen. Nur die Verbindung von historischem ›Wissen‹ (in Form von historischen Fakten) und ›Erinnerung‹ (an die Auswirkung dieser Fakten auf das persönliche Leben) – so die erste Aussage des Meyrink-Zitats für Friedländers historiographische Arbeit – vermag eine Annäherung an die nationalsozialistische Judenverfolgung und vernichtung zu leisten. Aber noch in einem zweiten Sinn lässt sich das Meyrink-Zitat auf Friedländers historiographische Arbeit beziehen: Nicht nur die Deutung historischer Fakten ist – wie Friedländer wiederholt ausgeführt hat – vom persönlichen Hintergrund des Historikers abhängig und damit untrennbar in den Prozess der Geschichtsschreibung verwoben. Vielmehr ist bereits die

243

»The historical narrative of The Years of Extermination has qualities of a literary narrative. The ruptures and breaks are devices we associate with works of fiction, and that we usually see as anomalous in historical studies. The reader is alerted to the narrative of dislocation, characterized by moving from one scene to another, by the ubiquitous double space that separates the scenes. This is not a tight monograph (think by comparison of studies by Browning, Burleigh, Evans, Kershaw, or any other monograph on the period). It is a loosely jointed narrative bounded by strict chronology and the overarching plot of Nazi policies and ideology of extermination.« – Confino, Narrative form and historical sensation (wie Anm. 70), S. 4.

130

3 Saul Friedländer

Wahrnehmung historischer Dokumente – also des ›Wissens‹ – vom eigenen Hintergrund abhängig. In der persönlichen Lebensgeschichte stellt sich die Frage des Zusammenhangs von ›Wissen‹ und ›Erinnerung‹ in besonderem Maße: ist doch hier das ›Objekt‹ der Auseinandersetzung – die eigene Vergangenheit – nur über die persönlichen Erinnerungen einzuholen. Die Reflexion der Funktionsweise individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse und ihre Bedeutung für die Ausbildung von Identität stehen folglich im Zentrum von Friedländers Erinnerungstext und werden durch den Einsatz verschiedener literarischer Strategien – Wechsel der Zeitebenen, Leerstellen, Tagebuchstruktur – inszeniert. Analog zur Geschichtsschreibung der Verfolgung und Vernichtung der Juden lässt sich Quand vient le souvenir... als ›Geschichtsschreibung des Ichs‹ bezeichnen. Durch die Integration historischer Fakten und die unkommentierten Wechsel zu den Auswirkungen dieser Fakten auf das Leben der Opfer ist Friedländers Erinnerungstext auf persönlicher Ebene als Vorläufer seiner wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu sehen. Dominiert in Quand vient le souvenir... die Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Erinnerungsprozessen, also die ›Erinnerung‹ über das ›Wissen‹, ist Friedländers wissenschaftliche Geschichtsschreibung – um im Bilde des Meyrink-Zitats zu bleiben – dem nachprüfbaren Wissen verpflichtet. Seine Aussagekraft erhält jedoch auch Friedländers Opus Magnum erst aus der Verbindung von beiden Polen: dem akribisch genau recherchiertem Wissen – und der Erinnerung der Opfer und des Historikers selbst. Friedländers intensive Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von ›Wissen‹ und ›Erinnerung‹ prägt damit sowohl sein wissenschaftliches wie auch sein autobiographisches Werk. 2. Sowohl der autobiographische Schreibakt als auch die Geschichtsschreibung zielen generell darauf ab, die Vergangenheit in bereits bestehende Deutungsmuster zu integrieren. Es ist seine Skepsis gegenüber einem abschließenden, ›erlösenden‹ Narrativ, die sowohl die Komposition von Friedländers persönlichem Erinnerungstext als auch die seines späten historiographischen Werkes kennzeichnet. In Nazi Germany and the Jews werden die nicht integrierbaren Anteile, der ›opaque‹ Charakter, der sich dem menschlichen Verstehen entzieht, insbesondere durch die Juxtaposition einander ausschließender Perspektiven und die fehlende Kommentierung solcher Zeugnisse evoziert, die ihr emotionales Gewicht aus dem Kontrast zwischen ihrem Inhalt und dem Wissen des Rezipienten erhalten. Einen ähnlichen Einsatz von unkommentierten Brüchen verfolgt Friedländer in seinem persönlichen Erinnerungstext, in dem die Funktion der Leerstellen außerdem durch den Wechsel zwischen den Zeitebenen verstärkt wird. In Quand vient le souvenir... wird die Unmöglichkeit eines letztendlichen Zugangs zur eigenen Lebensgeschichte (dem ›Wissen‹) durch die Erinnerung zudem durch die Ellipse im Titel und das Textende – dem Verbleib im Blick auf die Küste Israels, nicht ihr Erreichen – symbolisiert.

3.3 Sein Werk zwischen autobiographischem Projekt u. Geschichtsschreibung

131

Nicht das Abschließen des – persönlichen und historischen – Narrativs ermöglicht also die größtmögliche Annäherung an die – persönliche und kollektive – Geschichte. Größtmögliche Annäherung besteht in beiden Fällen in der Einsicht, dass eine alles integrierende Deutung nicht möglich ist. 3. Obwohl Friedländer in seinem wissenschaftlichen Werk die Abhängigkeit historischer Narrative von Erinnerungen und dem persönlichen Hintergrund des Historikers hervorhebt und sich einem ›erlösenden Abschließen‹ verweigert, formuliert er dennoch die Notwendigkeit, sich den historischen Fakten so weit wie möglich anzunähern: In a sense, what is suggested here is the simultaneous acceptance of two contradictory moves: the search for ever-closer historical linkages and the avoidance of a naive historical positivism leading to simplistic and self-assured historical narrations and closures.244

Das Verlangen nach Annäherung an die Vergangenheit bei gleichzeitigem Vermeiden eines letztendlichen Abschließens gilt ebenso für Friedländers autobiographischen Text: Wird einerseits durch die Komposition des Textes, insbesondere durch die Betonung der Gegenwärtigkeit und Unabschließbarkeit von Identitätsentwürfen, hervorgehoben, dass sich auch die persönliche Geschichte nicht als integrierendes, abgeschlossenes Selbstnarrativ schreiben lässt, wird dennoch durch die Wahl des Genres des autobiographischen Textes und seiner Kennzeichnung als auf eine außertextuelle Wirklichkeit verweisender, faktualer Text das Ziel des autobiographischen Schreibakts – die Annäherung an die persönliche Vergangenheit (›Wissen‹), um auf diese Weise Kohärenz zu erzeugen – unterstrichen. So stehen sowohl Friedländers Geschichtsschreibung als auch sein autobiographisches Projekt im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach ›Wissen‹ und dem Bewusstsein, dass eine abgeschlossene, ›eindeutige‹ Interpretation nicht möglich ist, will man den verbleibenden ›Überschuss‹ nicht in ein vereinfachendes Narrativ einebnen.

244

Friedländer, Trauma and transference (wie Anm. 45), S. 131.

4

Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt: Ruth Klüger

4.1

Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

Ruth Klüger, die in New York und Berkeley studierte, wo sie 1967 promovierte, ist in den germanistischen Fachkreisen der USA seit langem bekannt: Ihre Tätigkeit als ›Auslandsgermanistin‹ führte sie unter anderem an die University of Virginia, als erster weiblicher Chair of the Department of German an die Princeton University und schließlich zurück an die University of California/Irvine. Als Gastprofessorin war sie darüber hinaus am Smith College, an der Universität Göttingen und der Universität Wien tätig. Von 1978–1986 war sie Herausgeberin des German Quarterly und ist aktives Mitglied zahlreicher germanistischer Organisationen.1 In Deutschland dagegen ist Klügers Wahrnehmung als Literaturwissenschaftlerin eng mit dem Erscheinen ihres autobiographischen Werkes verknüpft: Erst im Anschluss an den großen Erfolg von weiter leben. Eine Jugend (1992) wurden auch Klügers literarhistorische und theoretische Essays einem breiteren Publikum in deutscher Übersetzung zugänglich. Seither hat Klüger sich auch im deutschen Sprachraum einen Namen als Literaturwissenschaftlerin gemacht. Von 1988 bis 1990 leitete sie das kalifornische Studienzentrum an der Georg-August-Universität in Göttingen, wo sie einige Monate im Jahr lebt. Zahlreiche Vorlesungen und Vorträge brachten sie seither an verschiedene deutsche Universitäten. Lesern/-innen der Frankfurter Anthologie ist sie zudem als Interpretin zahlreicher Gedichte bekannt. Klügers literaturwissenschaftliche Essays sind von einer dezidiert weiblichen Perspektive geprägt. Dabei untersucht sie die Darstellung weiblicher Figuren in der Literatur, Frauen als Leserinnen von Literatur und – in der Forderung nach einer alternativen Literaturgeschichte – Frauen als Autorinnen. Darüber hinaus hat Klüger sich seit den 1980er Jahren wiederholt mit der literarischen Darstellung jüdischer Figuren beschäftigt. Wie Friedländer hat Klüger sich eingehend mit den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung des Holocaust auseinandergesetzt. In diesem Kontext beschäftigt auch sie sich mit 1

Einen umfassenden Überblick über Klügers akademischen Werdegang liefern Helga Kraft und Dagmar C. G. Lorenz. – Helga Kraft/Dagmar C. G. Lorenz: Ruth Angress Kluger. The writer and scholar on her 75th birthday. In: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature and Culture 22 (2006), S. 62–73.

134

4 Ruth Klüger

dem Phänomen des Kitsches. Wesentlich für die vorliegende Studie ist insbesondere ihre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion, dem sie verschiedene Essays gewidmet hat. Dabei sind die Überlegungen zum Genre der Autobiographie von besonderem Interesse. In den letzten Jahren hat Klüger sich zudem der Darstellung alter Menschen in der Literatur zugewandt. 1994 erschienen Klügers Essaybände Katastrophen. Über deutsche Literatur und Frauen lesen anders, 1996 folgte die Veröffentlichung der Bonner Poetik-Vorlesung Von hoher und niedriger Literatur sowie der Band Über ›Knigges Umgang mit Menschen‹. In der Reihe Wiener Vorlesungen im Rathaus erschienen die Essays Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen (2000), Schnitzlers Dramen. Weiber, Mädeln, Frauen (2001) sowie ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹ – Alte Menschen in der Dichtung (2004). Seit Anfang 2006 liegt der Band Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur (2006) vor, 2007 erschien der Band Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik, eine Sammlung verschiedener Gedichtinterpretationen, die zum größten Teil erstmals in Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie abgedruckt wurden.2 Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, Klügers literaturwissenschaftliche Essays zur Illustration der ihnen übergeordneten theoretischen Annahmen heranzuziehen. Ausgehend von Klügers Konzept von Autorschaft orientiert sich meine Darstellung an folgenden Thesen: 1. Klüger stellt die Bedeutung eines hinter dem Text stehenden Autorensubjekts nicht in Frage. Ihr Verständnis der Beziehung zwischen Autor, Text und Leser lässt sich am ehesten durch ein sprachhandlungstheoretisch fundiertes Modell beschreiben, mit dem sie sich explizit von theoretischen Denkrichtungen wie dem New Criticism und dem Dekonstruktivismus abgrenzt (4.1.1). 2. Dabei geht Klüger nicht von der naiven Annahme aus, eine vom Autor intendierte Textaussage ließe sich im Lesevorgang ›entschlüsseln‹. Vielmehr ist Interpretation für Klüger maßgeblich durch den persönlichen Hintergrund sowie den soziokulturellen und historischen Kontext des Rezipien2

Ruth Klüger: Katastrophen. Über deutsche Literatur. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1997 (1994) (dtv; 12364). – Dies.: Frauen lesen anders. Essays. 4. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002 (1996) (dtv; 12276). – Dies.: Von hoher und niedriger Literatur. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 29–67. – Dies.: Knigges ›Umgang mit Menschen‹. Eine Vorlesung. Göttingen: Wallstein 1996 (Göttinger Sudelblätter). – Dies.: Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen. Wien: Picus Verlag 2000 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 73). – Dies.: Schnitzlers Dramen. Weiber, Mädeln, Frauen. Wien: Picus Verlag 2001 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 79). – Dies.: ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹. Alte Menschen in der Dichtung. Wien: Picus Verlag 2004 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 104). – Dies., Gelesene Wirklichkeit (vgl. Kap. 1, Anm. 18). – Dies.: Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Göttingen: Wallstein 2007.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

135

ten bestimmt (4.1.2). Dies impliziert, dass Werke ihre Bedeutung immer wieder neu erhalten, allgemeingültige, abgeschlossene Interpretationen nicht möglich sind. Hierin liegt eine entscheidende Parallele zu Friedländers Geschichtsschreibung. Interpretationsansätzen, die im Bezug auf werkimmanente Kriterien allgemeingültige, vom Rezipienten unabhängige Aussagen literarischer Texte formulieren und damit die Kontextabhängigkeit der Interpretation außer acht lassen, muss Klüger folglich kritisch gegenüber stehen. Auch Klüger plädiert – wie Friedländer – für eine Kenntlichmachung des persönlichen, kulturellen und historischen Kontextes, in dem eine Interpretation entsteht. Die Bedeutung des persönlichen Hintergrunds für die Deutung von Literatur werde ich exemplarisch an Klügers Analyse jüdischer Figuren in der Literatur (4.1.2.1) sowie ihrer spezifisch ›weiblichen Lesart‹ nachvollziehen (4.1.2.2). 3. Die Abhängigkeit der Interpretation und Wertung von Literatur von soziokulturellem Kontext und historischem Zeitpunkt gilt auf übergeordneter Ebene ebenso für den Bereich, den ich in den einleitenden theoretischen Überlegungen als ›Erinnerung an Literatur‹ bezeichnet habe: Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung. Durch den Einbezug von Texten und Autoren, insbesondere Autorinnen, die von Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft bislang marginalisiert wurden, fordert Klüger eine Öffnung des literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs ein und rückt auf diese Weise die Konstrukthaftigkeit von Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung in den Blick (4.1.3). 4. Die Vorläufigkeit der Interpretation von Literatur manifestiert sich darüber hinaus bereits auf formaler Ebene durch die von Klüger gewählte Form des Essays, der sich in besonderem Maße zur Darstellung ihrer theoretischen Überlegungen eignet (4.1.4). Einer vermeintlich ›objektiven‹ Wissenschaftssprache setzt Klüger zudem einen Idiolekt entgegen, der durch seinen wortgenauen Umgang mit der Alltagssprache gekennzeichnet ist.3 Klügers Sprachduktus fungiert dabei als Abgrenzung von solchen Denkrichtungen, die die Beziehbarkeit von Literatur auf eine außertextuelle Wirklichkeit und die Abhängigkeit der Deutung vom persönlichen Hintergrund des Interpreten in Frage stellen – und wird so zur Kunstform. 5. Auch Klüger stellt – wie Friedländer – weder den Verweischarakter von Sprache noch die Unterscheidbarkeit von faktualen und fiktionalen Texten in Frage (4.1.5). Damit grenzt sie sich explizit von dekonstruktivistischen 3

Marcel Reich-Ranicki beschreibt Klügers wissenschaftlichen Schreibstil folgendermaßen: »Sie bietet in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen, was man nicht hoch genug schätzen kann: Klarheit und Leichtigkeit, Präzision und Eleganz.« – Marcel Reich-Ranicki: Liebhaberin der Stille. Ein Gruß an Ruth Klüger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Oktober 2001.

136

4 Ruth Klüger

Ansätzen ab. Literatur, die sich mit (Zeit)Geschichte auseinandersetzt, steht – so Klüger – an der Schnittstelle von »Lebens- und Leseerfahrung«.4 Die Frage nach den Grenzen fiktionaler Darstellung von historischem Material erhält dabei im Kontext des Holocaust besonderes Gewicht. 6. Klügers Beschäftigung mit den Grenzen der ästhetischen Darstellbarkeit des Holocaust ist eng verknüpft mit ihrer Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion. Dabei bezieht sie ihre Definition von ›Kitsch‹ sowohl auf die ästhetische als auch die wissenschaftliche Annäherung an den Holocaust (4.1.6).

4.1.1 Klügers Konzept von Autorschaft Kaum ein Konzept innerhalb der Literaturtheorie wird so stark diskutiert wie das des Autors.5 Obwohl das Konzept ›Autor‹ innerhalb der literaturwissenschaftlichen Praxis – dies ist gerade in jüngster Zeit an der Diskussion um Günter Grass erneut deutlich geworden – weiterhin als zentraler Bezugspunkt fungiert, ist die literaturtheoretische Diskussion keinesfalls von der gleichen Selbstverständlichkeit geprägt: »Wer sich hier auf den Autor beruft«, so formulieren es Fotis Jannidis u. a. in ihrer Einleitung, »setzt sich dem Verdacht der theoretischen Naivität aus«.6 Besonderen Einfluss innerhalb der angloamerikanischen Literaturwissenschaft zwischen 1940 und 1970 übte der New Criticism aus, dessen Vertreter sich vom vorherrschenden Biographismus innerhalb der Literaturwissenschaft ihrer Zeit abgrenzten und für eine Interpretation literarischer Texte plädierten, die sich auf rein textimmanente Kriterien stützt. Die Intention des Autors – so der programmatische Titel des von William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley verfassten Aufsatzes »The intentional fallacy« – hat für die Interpretation dort keine Relevanz.7 Auch Klüger geht keinesfalls von der naiven Annahme aus, der vom Autor intendierten Textaussage ließe sich durch die Interpretation annähern. Jedoch räumt sie dem hinter dem Text stehenden Autorensubjekt ein ›Mitspracherecht‹ in der Deutung des eigenen Werkes ein. In ihrer Dankrede zur Verlei4 5

6 7

Klüger, Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 7 (Vorwort). Eine Zusammenstellung zentraler theoretischer Positionen zur Autorschaft liefert der von Fotis Jannidis u. a. herausgegebene Band Texte zur Theorie der Autorschaft. – Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000 (Reclams Universal-Bibliothek; 18058). – Vgl. auch Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen, Basel: Francke 1998. – Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 71). Fotis Jannidis u. a.: Einleitung. Autor und Interpretation. In: Ders. u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (wie Anm. 5), S. 7–29, hier: S. 8. Vgl. hierzu William K. Wimsatt/Monroe C. Beardsley: The intentional fallacy. In: William K. Wimsatt: The verbal icon. Studies in the meaning of poetry. Lexington: University of Kentucky Press 1954, S. 3–18.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

137

hung des Grimmelshausen-Preises etwa versetzt Klüger den Dichter des Simplicissimus mit folgenden Worten an ihren Küchentisch: »Wenn ich Probleme mit Autoren habe, gerate ich leicht in eine Diskussion mit ihnen, und ehe man sich’s versieht, ist aus der einseitigen Auseinandersetzung eine Beschwörung geworden, und die Dichter […] lassen sich auf deine Reden ein«.8 In der Betonung der Autorintention grenzt Klüger sich explizit von theoretischen Ansätzen ab, die – wie Roland Barthes – das Konzept ›Autor‹ grundsätzlich in Frage stellen.9 Wie zu zeigen sein wird, gilt dies insbesondere für ihre Überlegungen zum Genre der Autobiographie.10 Klügers Positionierung innerhalb der theoretischen Diskussion um den Stellenwert des Autors lässt sich am ehesten mit einem sprachhandlungstheoretisch fundierten Modell der Beziehung von Autor, Text und Leser beschreiben. In Anlehnung an Konrad Ehlich formuliert Frank Zipfel die zerdehnte Sprachhandlungssituation als Spezifikum der Sprachhandlungsform Text. Die kommunikationstheoretischen Modellen zugrundeliegende Unterscheidung zwischen Sender, Nachricht und Empfänger lässt sich analog auf die Sprachhandlungsform Text übertragen – mit einem entscheidenden Unterschied: Autor (Sender) und Leser (Empfänger) sind sowohl räumlich als auch zeitlich voneinander getrennt und lediglich durch den Text miteinander verbunden.11 Autor und Leser stehen so in einer »zerdehnten Sprechsituation«.12 Grundlegend für ein solches sprachhandlungstheoretisches Modell ist die Existenz eines außerhalb des Textes existierenden Autorensubjekts: »Texte sind […] von einem Autor mit einer gewissen Illokutionsabsicht produzierte Sprachhandlungen komplexer Struktur, die vom Rezipienten gemäß der im oder am Text angezeigten Illokutionsabsicht rezipiert werden (sollen)«.13 Der Text wird in diesem Modell zum »Kommunikationsangebot«.14 Klügers Verständnis von Autorschaft wird zudem an ihrem Umgang mit dem eigenen autobiographischen Projekt deutlich: Wiederholt hat sie sich in Essays und auf Vorträgen zu weiter leben und Still alive geäußert und sich auf 8 9

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12 13 14

Ruth Klüger: Grimmelshausens weibliches Ich. Dankrede zum GrimmelshausenPreis 1993. In: Dies., Frauen lesen anders (wie Anm. 2), S. 185–190, hier: S. 187. Barthes stellt dem empirischen Autorsubjekt den ›scripteur‹ gegenüber, der vor dem und außerhalb des Textes nicht existiert, und proklamiert bekanntlich den ›Tod des Autors‹. – Vgl. hierzu Roland Barthes: Œuvres complètes. Hg. von Éric Marty. Bd 2. Paris: Éditions du Seuil 1966–1973, S. 491–495 (Der Tod des Autors. In: Jannidis u. a. [Hg.], Texte zur Theorie der Autorschaft [wie Anm. 5], S. 185–193). Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Kap. 1, Anm. 12), S. 10. Konrad Ehlich: Zum Textbegriff. Text – Textsorten – Semantik. Linguistische Modelle und maschinelle Verfahren. Hg. von Annely Rothkegel und Barbara Sandig. Hamburg: Buske 1984 (Papiere zur Textlinguistik; 52), S. 9–25, hier: S. 18. Zitiert nach Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (wie Kap. 2, Anm. 49), S. 35. Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (wie Kap. 2, Anm. 49), S. 39. Ebd. Ebd., S. 37.

138

4 Ruth Klüger

diese Weise als Autorin an der Interpretation ihres eigenen Werkes beteiligt.15 Damit distanziert sie sich von Positionen wie etwa der Umberto Ecos, die die Relevanz des Autors in der Deutung seines eigenen Werkes in Frage stellen.16 Aus dem obigen Zitat der Grimmelshausen-Preis-Rede wird jedoch gleichzeitig deutlich, dass Klüger die ›Kommunikation‹ zwischen Autor/-in und Leser/-in nicht als einseitige begreift. Im Gegenteil: Zentral für Klügers literaturwissenschaftlichen Ansatz ist die Betonung der Rolle des persönlichen und soziokulturellen Hintergrunds des Interpreten für seine Lektüre, um den es im folgenden Kapitel gehen wird.

4.1.2 »Was uns ein geliebtes oder auch nur anregendes Buch sagt, ist nicht dasselbe wie das, was ›der Dichter uns sagen will‹«:17 Bedeutung des persönlichen Hintergrunds für die Rezeption literarischer Texte Die Bedeutung literarischer Texte wird in der ›zerdehnten Sprachhandlungssituation‹ ausgehandelt, die zwischen Autor und Leser besteht. Klüger formuliert dies folgendermaßen: »Die Autoren sprechen eine Sprache, wir eine andere, sie sind gesättigt von ihren, wir von unseren Erfahrungen, sie werfen uns mit ihren Büchern ein Seil zu und ziehen an dessen einem Ende, wir am anderen, zwischen uns ist die Spannung«.18 In ihrer Betonung der Abhängigkeit des literaturwissenschaftlichen Zugangs vom persönlichen und soziokulturellen Hintergrund des Interpreten distanziert Klüger sich von rein ›werkimmanenten‹ Ansätzen. In Bezug auf die Interpretation von Schnitzlers Texten formuliert sie dies explizit: »Hier wie dort ist es die verflossene Zeit, die uns die Augen geöffnet hat, so daß wir die damaligen Diskussionen gewissermaßen 15

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Vgl. hierzu insbesondere Ruth Klüger: Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. von Magdalene Heuser. Tübingen: Niemeyer 1996 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 85), S. 405–410. – Dies., Wie wirklich ist das Mögliche? (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 145f. – Dies., ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹ (wie Anm. 2), S. 41–52. Eco, der sich in der Konzentration auf die ›intentio operis‹ von rein leserorientierten Interpretationstheorien absetzt, betont die Unabhängigkeit der Interpretation vom empirischen Autor und damit seine Irrelevanz für das Textverständnis. Vgl. hierzu Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. In: Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (wie Anm. 5), S. 279–294. Jannidis u. a. orientieren sich an Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose. Aus dem Englischen von Hans G. Holl. München: Hanser 1996, S. 75–98 (orig.: Interpretation and overinterpretation. Umberto Eco with Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose. Ed. by Stefan Collini. Cambridge, New York: Cambridge University Press 1992). Klüger, Katastrophen (wie Anm. 2), S. 7 (Vorwort). Ebd. Hervorhebung im Original.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

139

besser verstehen als ihr Autor. Mit einer werkimmanenten Interpretation ist Schnitzlers Buch und seinen Lesern nicht gedient«.19 Auch Klüger plädiert – wie Friedländer – für das Kenntlichmachen des Hintergrunds des Interpreten: »Ich meine, es gehört zum Job des Kritikers, seinen oder ihren Standort anzugeben, eben deshalb, weil wir ja aus unserer Lebenserfahrung heraus und in die Lebenserfahrung der Leser hineininterpretieren, nicht aus einer Leere in eine andere«.20 Die Aussage eines Textes ändert sich demnach abhängig vom Kontext, in dem er interpretiert wird: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft sind, anders als die der Naturwissenschaften, abhängig von unseren Lebensumständen«.21 Aufgabe des Interpreten ist es, die Gültigkeit eines Textes für die Gegenwart zu erkennen und »Zusammenhänge« zwischen Text und Lesern herzustellen: Die sogenannte Sekundärliteratur ist eingebettet in die Kontexte, in denen gelesen wird, und die können sich derart ändern, daß wir oft schlicht nicht verstehen, warum unsere Großeltern so und nicht anders auf ein Werk reagiert haben. [...] Will sagen, der Kritiker oder Literaturwissenschaftler kommt aus seinem eigenen Milieu, er beschreibt nicht nur die Kurve des Gedichts, sondern er liefert seine eigenen Lebensumstände, die privaten wie die historischen mit – die manchmal anders sind als was sich der Dichter gedacht hat, aber gültig, wenn sie seinen Zeitgenossen sinnvoll vorkommt. [...] Die Aufgabe der Kritiker ist demnach Vermittlung.22

In welchem Maße der Zugang zu Literatur vom persönlichen Hintergrund des Rezipienten bestimmt wird und Literatur auf diese Weise immer im Zusammenhang mit der persönlichen Lebensrealität steht, lässt sich insbesondere an Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays nachvollziehen, die sich mit der Darstellung jüdischer Figuren und einer spezifisch weiblichen Lesart literarischer Texte beschäftigen.23 Die Kontextabhängigkeit des institutionalisierten Umgangs mit Literatur wird darüber hinaus an Klügers Plädoyer für eine alternative Literaturgeschichte von Frauen deutlich. 19

20 21

22 23

Dies.: ›Die Ödnis des entlarvten Landes‹. Antisemitismus im Werk jüdischösterreichischer Autoren. In: Dies., Katastrophen (wie Anm. 2), S. 60–83, hier: S. 71f. Dies.: Über Lyrik reden. Dankansprache zum Preis der Frankfurter Anthologie. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben (wie Anm. 2), S. 228–241, hier: S. 237. Dies.: Fakten und Fiktionen. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 68–93, hier: S. 84. – Eine frühere Fassung des Essays wurde als Vortrag auf dem 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt a. M. gehalten und 2000 unter dem Titel »Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen« veröffentlicht. Der Essay »Fakten und Fiktionen« wurde von Klüger durch den Nachtrag zum Fall Koeppen– Littner ergänzt. Vgl. S. 148f. der vorliegenden Studie. Dies., Über Lyrik reden (wie Anm. 20), S. 230f. Auch Klügers Beschäftigung mit der Darstellung alter Menschen in der Literatur, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehe, ist vor dem Hintergrund ihres eigenen Älterwerdens zu lesen. Vgl. dazu Klüger, ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹ (wie Anm. 2).

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4.1.2.1 Klügers Beschäftigung mit jüdischen Figuren in der Literatur Klügers Überlegungen zur Darstellung jüdischer Figuren in der deutschen und österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sind im Essayband Katastrophen zusammengefasst. Den Einfluss ihrer eigenen Lebensgeschichte auf die Auswahl und Interpretation der Texte betont Klüger dort bereits im Vorwort: Schließlich steckt in mir die Empörung und Nostalgie der Nachzüglerin, die von jenen 200 Jahren zwischen Aufklärung und Endlösung, als die Juden teilhatten am deutschen Kulturleben, nur noch einen letzten Zipfel erwischen konnte, und ich ziehe kräftig an diesem Zipfel eines Seils, unter dem sich der Abgrund der jüdischen Katastrophe auftut.24

An zahlreichen Beispielen weist sie nach, wie sehr die Zeichnung jüdischer Figuren in der Literatur – auch nach 1945 – von Stereotypen geprägt ist. Negatives Vorbild jeder literarischen Darstellung von Juden ist, so Klüger, Shakespeares Zeichnung des Shylock – »ein Mann, der nichts im Kopf hat als Geld und Haß, […] der seinem Feind kaltblütig und öffentlich das Herz aus dem Leib schneiden würde«.25 Klüger verdeutlicht die Ausblendung von Antisemitismus und nationalsozialistischer Judenverfolgung sowie die Zuspitzung antisemitischer Stereotype unter anderem an den Romanen von Alfred Andersch, Günter Grass sowie Rainer Werner Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod. So urteilt sie über die Darstellung jüdischer Figuren in der deutschen Nachkriegsliteratur zusammenfassend: Sogar in den besten dieser Werke versagen die Autoren, wenn sie etwas spezifisch Jüdisches zu beschreiben suchen. Kitsch und Pornographie setzen sich durch, Sentimentalität oder Brutalität, schon immer die beiden Seiten derselben Münze. Zusammengenommen ergibt sich ein Bild, in dem es nicht um die Erinnerung an die deutschen Juden geht, sondern eher um die Abwehr dieser Erinnerung und um die Wiederbelebung einer Legende, nämlich der vom Shylock, Opfer und Täter, und seiner Feinde, den braven Christen im Umkreis des wackeren Antonio, die man ja nicht als Antisemiten bezeichnen darf, da sie so freundlich zu Shylocks Tochter Jessica waren. Neue Alpträume, alte Gespenster!26

Die Darstellung jüdischer Figuren in der Literatur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts ist ebenfalls von antisemitischen Stereotypen geprägt. Die Zeichnung des Trödeljuden in Büchners Woyzeck etwa vereint in sich die Vorurteile seiner Zeit: »der todbringende Jude, der Geldjude und die erotischen und phallozentrischen Phantasien«.27 Auch in den Märchen der 24 25 26 27

Klüger, Katastrophen (wie Anm. 2), S. 7f. (Vorwort). Dies.: Gibt es ein ›Judenproblem‹ in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Dies., Katastrophen (wie Anm. 2), S. 9–38, hier: S. 9. Ebd., S. 35f. Dies.: Die Leiche unterm Tisch. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Dies., Katastrophen (wie Anm. 2), S. 84–107, hier: S. 85.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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Romantik werden Juden als geldgierig und hinterhältig gezeichnet.28 Im Realismus – so etwa bei Gustav Freytag und Wilhelm Raabe – dienen Juden als Projektionsfläche nicht nur eines traditionellen christlichen Antisemitismus, sondern auch der Ängste gegenüber der anbrechenden Moderne und der Gefahr einer gesellschaftlichen Angleichung der Juden.29 Im frühen 20. Jahrhundert sind es die Werke Thomas Manns, die Klüger einer erneuten Lektüre hin auf eine stereotype Zeichnung jüdischer Figuren unterzieht.30 Sie geht jedoch nicht so weit, den literarischen Wert der besprochenen Werke aus diesen Gründen in Frage zu stellen. Gerade aufgrund ihres persönlichen Hintergrunds aber ist es Klüger nicht möglich, die stereotyp-negative Darstellung jüdischer Figuren in der Literatur zu übersehen. Vielmehr geht es ihr darum, die »moralischen und ästhetischen Widersprüchlichkeiten« zu erkennen und sich mit ihnen auseinander zu setzen.31 4.1.2.2 Klügers ›weiblicher Blick‹ auf Literatur Auch dem Essayband Frauen lesen anders ist ein Vorwort Klügers vorangestellt, in dem sie den Einfluss des persönlichen Hintergrunds auf ihre Interpretation von Literatur explizit in den Blick rückt: Ich ärgere mich leichter als männliche Leser über die Trivialisierung und Stereotypisierung von Frauen, kein Wunder. Ich vermute, daß dahinter nicht nur eine gutgemeinte Verkennung meinesgleichen steckt, sondern auch gewisse Hoheitsansprüche, die mit Nationalismus und Herrenmenschentum zu tun haben.32

Dass Bücher unterschiedlich auf Männer und Frauen wirken, sollte, so Klüger, angesichts der Überwindung ausschließlich werkimmanenter Interpretationsansätze allgemein anerkannt sein – ist es doch seit den Erkenntnissen der Rezeptionsästhetik Konsens, dass Texte von verschiedenen Rezipientengruppen unterschiedlich rezipiert werden. Dies gilt im besonderen Maße auch für das biologisch und sozial verhandelte Geschlecht: »Wie sollte es denn anders sein, als daß Frauen und Männer, die weitgehend anders leben und mit anderen Erwartungen erzogen werden (ja, auch noch im Westen!) anders lesen?«33 Literatur existiert nicht – so Klüger in Abgrenzung zu einer »nur sprachbezogenen« Literaturtheorie – unabhängig von ihrem Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang.34 Für Klüger sind inhaltliche Beurteilungskriterien von Kunst nicht unerheblich und können den ästhetischen entgegenlaufen, wie sie 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., S. 86–95. Ebd., S. 95ff. Dies.: Thomas Manns jüdische Gestalten. In: Dies., Katastrophen (wie Anm. 2), S. 40–59. Dies., Die Leiche unterm Tisch (wie Anm. 27), S. 104. Dies., Frauen lesen anders (wie Anm. 2), S. 7 (Vorwort). Ebd., S. 83f. Ebd., S. 85.

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am eigenen, weiblichen Unbehagen bei der Betrachtung des Raub der Sabinerinnen mit seiner Verherrlichung männlicher Gewalt an Frauen ausführt: Als Frauen stehen wir vor diesem Prunk und dieser Pracht, wo unseresgleichen zu Gegenständen erniedrigt wird, und verdrängen unsere Beklemmung, um unser Kunstverständnis nicht zu kompromittieren. Manchmal sind die Opfer so gemalt, daß sie ihre Erniedrigung zu genießen scheinen, eine Übertünchung, die die Sache noch verschlimmert. Nun will ich das Gemälde beileibe nicht aus der Galerie entfernen und möchte auch weiterhin über seine technischen Vollkommenheiten belehrt werden; nur möchte ich außerdem die Inhaltsfrage stellen. Denn es liegt doch auf der Hand, daß Männer und Frauen ein solches Sujet unterschiedlich betrachten, und wir hegen gerechte Zweifel, wenn die Experten uns versichern, daß das Gemälde mit erotischen Machtansprüchen nur minimal zu tun habe.35

Die Rezeption von Gewaltakten in der Kunst verhält sich abhängig vom Geschlecht also notwendigerweise unterschiedlich. Dies gilt im selben Maße für die Literatur. Zwar hält Klüger Shakespeares Othello, Büchners Woyzeck und Schillers Kabale und Liebe für »Meisterwerke der Literatur«, jedoch keinesfalls für deren »schönste[-] Liebesgeschichten«: »So würde eine Frau sie auf Anhieb kaum nennen. Wird doch in jeder von ihnen die Geliebte vom Geliebten umgebracht, und zwar auf recht brutale Weise, erdrosselt von Othello, erstochen von Woyzeck, vergiftet bei Schiller«.36 Im Gegenzug fragt Klüger, ob wohl andersherum männliche Rezipienten ihre Auswahl von Kleists Penthesilea oder Hebbels Judith mit ebensolcher Beunruhigung aufnehmen würden. Die Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt gegenüber Frauen aus weiblicher Perspektive als ›schön‹ zu empfinden, deutet auf eine Rezeptionshaltung hin, die sich an der männlichen Lesart orientiert. Dass weibliche Leserinnen lernen, Literatur »wie Männer« zu rezipieren, hängt nicht zuletzt vom Kanon ab: Von Caesars ›Gallischem Krieg‹ bis zu Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ und Grass’ ›Katz und Maus‹ bestimmt männliches Handeln und Denken, männliche Erotik und männlicher Ehrgeiz, was als klassisches Lesematerial, von der ersten Lateinstunde bis zum germanistischen Oberseminar, in Frage kommt.37

Während das Interesse weiblicher Leserinnen für den Männerblick innerhalb der Literatur vorausgesetzt wird, gilt eine umgekehrte Identifikation als »Zeitverschwendung«. Eine Revision des literarischen Kanons wäre deshalb zu leisten.38 Weibliche Figuren in der Literatur in ihrer Rolle als Verführte, Vergewaltigte, Entmündigte bieten sich für Frauen nur schwerlich zur Identifikation an. Dieses »Unbehagen« fehlt den männlichen Rezipienten, die eine solche Darstellung von Frauen in der Literatur »eher als Selbstbestätigung hinnehmen, ihnen die Herablassung des Mitleids angedeihen lassen und sie daher 35 36 37 38

Ebd., S. 86. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd., S. 89. Ebd., S. 89f.

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gerne mögen«.39 Eine Auseinandersetzung der Rezipientinnen mit der Reduktion weiblicher literarischer Figuren, die sich bereits in der Sprache manifestiert, bleibt zumeist aus, was Klüger für einen Fehler hält: Spät habe ich gelernt, mir meine Betroffenheit als Frau beim Lesen und Zuhören einzugestehen. Das heißt nicht, daß ich alle Literatur, die nach Frauenfeindlichkeit schmeckt, ablehne. Das kann ich mir nicht leisten. Im Gegenteil: Meistens finde ich mich damit ab, denn, ähnlich wie beim Antisemitismus, würde ich mir zuviel entgehen lassen, wollte ich alle Werke beiseite schieben, in denen über Juden, beziehungsweise Frauen, geringschätzig geurteilt wird. Nur nehme ich nicht mehr kritiklos hin, was der Kritik bedarf.40

Unterschiedliche Lesegewohnheiten von Frauen und Männern manifestieren sich früh. Bereits Jugendbücher unterscheiden in ihren Inhalten deutlich zwischen weiblichen und männlichen Lesern/-innen. Ähnliches lässt sich für den Bereich der Trivialliteratur für Erwachsene bestätigen. Während der Büchermarkt auf dieser Ebene den unterschiedlichen Interessen von Männern und Frauen Rechnung trägt, marginalisieren dagegen Literaturwissenschaft und (männliche) Literaturkritik den spezifisch ›weiblichen Blick‹ auf Literatur weiterhin, setzen trotz der Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik noch immer einen »geschlechtslosen idealen Leser« voraus, der sich »bei näherem Hinsehen immer als Mann entpuppt«.41 Diese »männliche[-] Normierung« kommt, so reflektiert Klüger abschließend, möglicherweise auch in der Wahl des Titels ihres eigenen Essays zum Tragen: »Männer lesen anders« schlägt sie deshalb als Alternative vor – und unterstreicht mit einem Blick auf den gegenwärtigen Stand des Literaturkanons und der Literaturkritik: »Die Synthese läßt einstweilen auf sich warten«.42 Wie eine dezidiert weibliche Lesart sich auf die Lektüre auswirkt, demonstriert Klüger an den übrigen Essays des gleichnamigen Bandes, in denen sie so unterschiedliche Genres wie die Unterhaltungsliteratur des 20. Jahrhunderts, die Kinderbücher Erich Kästners sowie die ›klassischen‹ Texte der Literaturgeschichte, insbesondere Kleist (Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn), Stifter (Das alte Siegel) und Schnitzler (Therese), einer Relektüre unterzieht.43 Dabei werden die fiktiven literarischen Frauenfiguren zu sozialen Rollenmus39 40 41 42 43

Ebd., S. 92. Ebd., S. 96. Ebd., S. 99. Ebd., S. 103. Vergleiche dazu insbesondere folgende Aufsätze von Klüger: Kind und Sklavin. Zur Frauenrolle im Unterhaltungsroman. In: Dies., Frauen lesen anders (wie Anm. 2), S. 9–34. – Korrupte Moral. Erich Kästners Kinderbücher. In: Ebd., S. 63–82. – Schnitzlers ›Therese‹. Ein Frauenroman. In: Ebd., S. 35–62. – Die Hündin im Frauenstaat. Kleists Penthesilea. In: Ebd., S. 129–155. – Die andere Hündin. Kleists Käthchen. In: Ebd., S. 157–176. – Ehebruch in der heilen Welt. Stifters ›Altes Siegel‹. In: Ebd., S. 191–219.

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tern außerhalb der Texte in Beziehung gesetzt.44 In ihrem Bezug zur ›Lebenswirklichkeit‹ bietet sich Klügers Analyse weiblicher Figuren damit zum Anschluss an sozialkritische Fragestellungen an – Frauenbilder als Ausdruck männlicher Bedürfnisse und Ängste, als Kritik patriarchalischer Strukturen oder als Vorbild für weibliche Selbstverwirklichung.45 Klügers Analyse beschränkt sich jedoch nicht auf realistisch-mimetisch konzipierte Frauenfiguren: Schnitzlers Therese etwa liest sie gerade nicht als Geschichte eines Einzelschicksals, sondern exemplarisch als »Absinken« der österreichischen Gesellschaft.46 In Kleists Käthchen – um ein weiteres Beispiel nicht-realistischer Frauenfiguren zu nennen – arbeitet sie die Darstellung homoerotischer Momente und fließender Geschlechtergrenzen heraus.47 Immer aber scheinen der die Lektüre motivierende persönliche Hintergrund sowie der Zusammenhang von Literatur und außertextueller Wirklichkeit hindurch. Den Zusammenhang von persönlichem Hintergrund, außertextueller Wirklichkeit und Lektüre formuliert Klüger in diesem Kontext folgendermaßen: »Eine Herabsetzung als Frau trifft mich genauso wie eine Herabsetzung als Jüdin, ob sie nun auf der Straße, in der Literatur oder in der von Kollegen verfaßten Sekundärliteratur stattfindet«.48 Dabei lässt sich Klügers Aussage über das Werk Gertrud Kolmars – »Einsame, Verachtete spielen eine entscheidende Rolle [...], sind vielleicht ihr eigentlichstes Thema«49 – auch auf ihre eigenen Essays beziehen: Für Klügers literaturwissenschaftliches Werk ist die Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Ausgrenzung und Unterdrückung zentral. Auf den Zusammenhang von Literatur und außertextueller Wirklichkeit werde ich in Kapitel 4.1.5 zurückkommen. Eng verknüpft mit ihren Überlegungen zum Einfluss des persönlichen Kontextes des Interpreten auf seine 44

45 46

47

48 49

Zur Beziehbarkeit literarischer Frauenfiguren auf die außertextuelle Wirklichkeit vgl. Vera Nünning/Ansgar Nünning: Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse. In: Dies. (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004 (Sammlung Metzler; 344), S. 1–32, hier: S. 7. Vgl. auch Marion Gymnich: Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung. In: Ebd., S. 122–142, hier: S. 125f. Vgl. hierzu Gymnich, Konzepte literarischer Figuren (wie Anm. 44), S. 126. Vgl. hierzu die Charakterisierung der Therese aus Schnitzlers gleichnamigem Roman: »Oft gebraucht und dann beiseite geschoben, vernachlässigt aber selbst nicht immer verläßlich, oft bitter aber niemals rebellisch, halb resigniert, nie ganz ohne Hoffnung, planlos und gescheit, keineswegs unschuldig und doch den Verhältnissen nicht gewachsen, spiegelt sie eine ganze Skala von österreichischen Lebenshaltungen. Und wird zum Exempel.« – Klüger, Schnitzlers ›Therese‹ (wie Anm. 43), S. 52. »Wenn diese Frauen- und Mädchengestalten Ausdruck der männlichen Psyche sind, dann legt man am besten keinen vom Realismus hergeleiteten Maßstab an sie an.« – Dies., Die andere Hündin (wie Anm. 43), S. 160. Dies., Frauen lesen anders (wie Anm. 2), S. 96. Dies.: Außenseitertier. Zu Gertrud Kolmar: Die Kröte. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben (wie Anm. 2), S. 87ff., hier: S. 88.

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Lektüre ist Klügers Betonung der Konstrukthaftigkeit des institutionalisierten Umgangs mit Literatur, wie sie sich in Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung manifestiert.

4.1.3 Konstrukthaftigkeit der ›Erinnerung an Literatur‹ Mit dem konstrukthaften Charakter der ›Erinnerung an Literatur‹, wie ich einleitend die Tradierung von Werken und Autoren in Anlehnung an Erll/Nünning bezeichnet habe, beschäftigt sich Klüger in ihrem Essay »Gegenströmung: Schreibende Frauen. Entwurf einer alternativen Literaturgeschichte«.50 Klüger vertritt die These, dass die bestehende Literaturgeschichtsschreibung die besonderen Schaffensbedingungen literarisch tätiger Frauen nicht berücksichtigt. So war etwa für die literarische Tätigkeit von Frauen das aufkommende protestantische Bürgertum, aus dem die Mehrzahl der männlichen Literaten und Philosophen stammte, gerade nicht förderlich. Im Gegenteil: Den schreibenden Frauen ist vielmehr gemeinsam, dass sie einem anderen sozialen Kontext entstammten als die Männer. Klüger verfolgt diese These zurück bis ins Mittelalter. Hatte die Nonnenkultur Frauen Raum zur Ausübung literarischer Tätigkeit gegeben, brachte die Reformation für schreibende Frauen – anders als für Männer – keine Verbesserung mit sich: Einer Frau, die literarischen Ehrgeiz oder Talent hatte, boten sich im dreizehnten Jahrhundert bessere Chancen als im siebzehnten, vor der Reformation bessere als nach der Reformation. Von dem geistigen Fortschritt, von dem uns die Schulbücher melden, kann für Frauen nicht die Rede sein. Wenn wir von der Reformation als einer Bewegung sprechen, die den menschlichen Intellekt befreite und den geistigen Horizont der Menschen erweiterte, so heißt Mensch hier für das ganze Jahrhundert ›Mann‹ und nicht beide Geschlechter.51

In der Neuzeit und noch bis ins neunzehnte Jahrhundert war bekanntlich Mädchen der Zugang zu einer lateinischen Ausbildung und damit zu jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit versagt. Literarische Tätigkeit, die dennoch ausgeübt wurde, ist – so Klügers These – zumeist eng geknüpft an die Zugehörigkeit zu einer sozialen Außenseiterposition.52 Zwar veränderte sich das Frauenbild in der zunehmend aufgeklärten Gesellschaft – eine maßgebliche Veränderung von Erziehungsmethoden, Familienstrukturen und vor allem der Selbsteinschätzung der Frau und ihrer gesellschaftlichen Rolle hatten diese Veränderungen jedoch nicht zur Folge. Dabei scheint die Zugehörigkeit zur katholischen Minderheit eine literarische Tätigkeit zu befördern, wie Klüger am Beispiel von Sophie von la Roche, Bettina Brentano von Arnim, Annette von 50 51 52

Dies.: Gegenströmung. Schreibende Frauen. Entwurf einer alternativen Literaturgeschichte. In: Dies., Frauen lesen anders (wie Anm. 2), S. 220–234. Ebd., S. 221f. Ebd., S. 226.

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Droste-Hülshoff und Marie von Ebner-Eschenbach erläutert.53 Der Marie von Ebner-Eschenbachs Werken eigenen Sozialkritik stellt Klüger das literarische Schaffen von Frauen wie Caroline Schlegel-Schelling und Dorothea Schlözer entgegen, die protestantischen Gelehrtenkreisen entstammten, in denen man sich weiterhin an den Erwartungen an die Rolle der Frau nach lutherischem Verständnis orientierte – Vorstellungen, die die Romane der Autorinnen bestimmten und, so Klüger, das kreative Schaffen begrenzten.54 Zwar gingen diese Frauen einer für die Zeit um 1800 bemerkenswerten literarischen Tätigkeit nach, jedoch, so Klüger, mag die aus dem lutherischen Idealbild der Frau resultierende gesellschaftliche Norm »den letzten Durchbruch zu unkonventionellem und originellem Schaffen« protestantischer Frauen verhindert haben.55 Die Rolle jüdischer Frauen im literarischen Leben ihrer Zeit, die sich insbesondere in den von ihnen gegründeten Berliner Salons manifestierte, könnte, so mutmaßt Klüger, ebenfalls aus ihrer Zugehörigkeit zu einer in Auflösung und Assimilation begriffenen Minderheit resultieren. Darüber hinaus verweist sie auf das Ansehen, das Schrift und Schriftgelehrsamkeit seit jeher im Judentum spielt. Auch im zwanzigsten Jahrhundert, in dem soziale und religiöse Normen weitgehend unbedeutend werden, ist es auffällig, dass eine große Zahl anerkannter Autorinnen katholischen und jüdischen Kreisen entstammt. Klüger nennt in diesem Zusammenhang unter anderem Ingeborg Bachmann, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Elisabeth Langgässer und Ilse Aichinger. Der Erfolg schreibender Frauen scheint – so schlussfolgert Klüger – generell anderen Bedingungen zu unterliegen als der ihrer männlichen Zeitgenossen. Eine Literaturgeschichte von Frauen lässt sich folglich nicht einfach als Ergänzung in die bestehende, von männlichen Autoren dominierte einschreiben: Man müßte davon ausgehen, daß die kulturellen Bedingungen für weibliches Schaffen anderen Gesetzen unterliegen und daher derart anders verlaufen, daß man den Frauen nicht einfach ein Kämmerchen im geräumigen Hause einer allgemeinen Geistesgeschichte einräumen und annehmen kann, daß sie unter ähnlichen Voraus53 54

55

Ebd., S. 229ff. Klüger grenzt das Werk von Marie von Ebner-Eschenbach folgendermaßen von ihren protestantischen Zeitgenössinnen ab: »Ihr Werk, in der Rezeption immer wieder sentimentalisiert, ist bestimmt auch heute noch eines der unterschätztesten des deutschen Realismus. Sie schrieb mit unbestechlicher Härte über Eheprobleme, Klassenunterschiede, über Gewalttätigkeit gegen Frauen und Kinder, und über selbstverschuldete und unverschuldete Unmündigkeit. Das Hausfrauenethos, das die protestantische Frauenliteratur so oft belastet, ist bei ihr nicht zu finden«. – Ebd., S. 231. Ebd. – Klüger gibt allerdings selber zu bedenken, dass die von ihr vorgenommenen Einteilungen notwendigerweise nur pauschal und verallgemeinernd sein können und merkt an, dass die von ihr konstatierte Konformität der Romane protestantischer Frauen auf einem persönlichen Werturteil beruht, das sich durch andere Lesarten widerlegen ließe.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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setzungen geschrieben haben wie ihre männlichen Zeitgenossen. […] Die Unterschiede in Schaffensbedingungen und Denkstrukturen sind radikaler, als man annehmen möchte.56

Klüger plädiert aus diesem Grund für den Entwurf einer alternativen Geistesund Literaturgeschichte von Frauen. In der Analyse der spezifischen Literaturproduktion und -rezeption von Frauen steht Klüger in der Tradition einer feministischen Literaturwissenschaft, in deren Zentrum literaturgeschichtliche und interpretatorische Fragen stehen. Dabei lenkt sie immer wieder den Blick auf Autorinnen, deren Werk lange Zeit kaum Beachtung fand – wie etwa das der verfolgten Dichterinnen Rose Ausländer, Hilde Domin und Mascha Kaléko.57 Die Konstrukthaftigkeit der ›Erinnerung an Literatur‹ hebt Klüger außerdem durch ihre Beschäftigung mit marginalisierten Genres wie der Unterhaltungsliteratur hervor, deren Analyse sie neben die Interpretation ›klassischer‹ Werke stellt. Und noch ein weiterer Aspekt von Literatur als ›Medium der Erinnerung‹ rückt dadurch in den Blick: Sind diese Werke zwar literarisch nicht ›anspruchsvoll‹, prägen sie doch die Wahrnehmung der Wirklichkeit einer breiten Leserschaft entscheidend (vgl. hierzu Erlls Konzept ›kollektiver Texte‹, S. 24f.). In welchem Maße Klüger die Vorläufigkeit der Interpretation von Literatur bereits durch die Wahl der Form des Essays für ihre literaturwissenschaftlichen Überlegungen hervorhebt, sollen die folgenden Überlegungen verdeutlichen. Gleichzeitig betont die Form des Essays – in Abgrenzung zu ›streng wissenschaftlichen‹ Abhandlungen – die Subjektivität des Ausgesagten.

4.1.4 Vorläufigkeit und Subjektivität der Interpretation von Literatur: Der Essay als Form. Klügers Sprachduktus Klüger hat ihr literaturwissenschaftliches Werk in Form von theoretischen und literarhistorischen Essays veröffentlicht. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um ausgearbeitete Vorträge, die oft nur durch die notwendigsten Fußnoten ergänzt wurden. Bereits die Genrebezeichnung verweist auf den offenen, vorläufigen Charakter der Textform: Ein ›Essay‹ ist der ›Versuch‹ einer Annäherung an den Gegenstand, der keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Dauer erhebt, sich dem Gegenstand vielmehr assoziativ von verschiedenen Seiten her nähert – in der Definition Adornos:

56 57

Ebd., S. 233f. Vgl. hierzu exemplarisch dies.: Drei blaue Klaviere. Die verfolgten Dichterinnen Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Gertrud Kolmar. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben (wie Anm. 2), S. 174–197. – Dies.: Mein Schlüssel hat das Haus verloren. Die verfolgten Dichterinnen Rose Ausländer, Mascha Kaléko und Hilde Domin. In: Ebd., S. 198–227.

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Seiner Form ist deren eigene Relativierung immanent: er muß so sich fügen, als ob er immer und stets abbrechen könnte. Er denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet.58

Durch den Verzicht auf eine systematische Analyse des Gegenstands und den betont subjektiven Gestus unterscheidet sich der Essay damit von streng wissenschaftlichen Abhandlungen, die auf der ›objektiven‹ Verifizierbarkeit ihrer Aussagen basiert. Die offene, vorläufige, subjektive Form des Essays kommt Klügers theoretischen Annahmen damit entgegen: Bereits formal dokumentiert sich so ihre Skepsis gegenüber einem dauerhaften ›Wahrheitsanspruch‹, wird so die Kontextabhängigkeit und Unabschließbarkeit der Interpretation von Literatur betont. In einer als »Statt Anmerkung« betitelten ›Fußnote‹ zu ihrem Essay »Gegenströmung: Schreibende Frauen« äußert sie sich dazu folgendermaßen: Dieser Text ist das Resultat von Überlegungen, die sich im Laufe einer vieljährigen Beschäftigung mit der deutschen Literatur eingestellt haben. Daher sind sie nicht im eigentlichen Sinne ›Forschungsergebnis‹. Die Tatsachen, auf die sie sich beziehen [...], sind anderen Kennern der deutschen Literatur ebenso bekannt wie mir und lassen sich überdies in gängigen Nachschlagewerken überprüfen. Es scheint mir daher unangebracht, die hier vorgelegten Gedanken, die zum Nachdenken und Widerspruch reizen sollen, mit einem ›Apparat‹ zu verunstalten.59

Klügers Umgang mit ihren bereits veröffentlichten Essays unterstreicht die hier betonte Vorläufigkeit von Interpretationen. So ergänzt sie etwa den Essay »Dichter und Historiker. Fakten und Fiktion« für den Band Gelesene Wirklichkeit um folgenden Nachtrag: Über den Entstehungszusammenhang des Buchs von Koeppen über den Juden Jakob Littner gibt es neue Erkenntnisse […]. Als ich das Buch zuerst las, hielt ich es gewissermaßen für unanständig, daß ein Schriftsteller aus dem Tätervolk seiner jüdischen Romanfigur kritische Bemerkungen über die Juden und versöhnliche Worte über die Deutschen in den Mund legt. Als sich herausstellte, daß es sich um ein Plagiat handelt und der eigentliche Autor der Überlebende Jakob Littner war, hatte ich keinen Grund, diesem Zeugen sein Recht auf Selbstkritik und auf eine im Frieden ausgestreckte Hand abzustreiten. […] Obwohl der Text fast derselbe ist, sind diese beiden Bücher, und damit auch mein früheres wie mein späteres Urteil ein gutes Beispiel dafür, daß Text und Kontext in der Literatur verschränkt sind. R.K. im Januar 2006 60 58

59 60

Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders., Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958 (Bibliothek Suhrkamp; 47), S. 9–49, hier: S. 35. – Zur Geschichte und Theorie des Essays vgl. insbesondere Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999 (Sammlung Vandenhoeck). – Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zur Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin: Akademie-Verlag 1995. Klüger, Gegenströmung (wie Anm. 50), S. 234. Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 93. – Klüger bezieht sich hier auf neue Erkenntnisse zu Wolfgang Koeppens Bearbeitung der Erinnerungen Jakob

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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Klügers Sprachduktus zeichnet sich durch den kunstvollen und wortgenauen Umgang mit der Alltagssprache aus. Dem »wissenschaftlich verfremdend[en]«61 ›Jargon‹ der Literaturwissenschaft setzt sie gut verständliche Essays entgegen, die die Zugänglichkeit von Literatur, gerade auch der ›Klassiker‹, explizit hervorheben. So heißt es in der Interpretation zu Goethes Gedicht Urworte. Orphisch: »Über kein anderes Goethe-Gedicht ist mehr geschrieben worden als über dieses [...]. Und doch ist kaum ein anderes so leicht zu verstehen«.62 Das Beharren auf der Benennbarkeit auch komplexer Sachverhalte verweist jedoch keinesfalls auf einen ›naiven‹ Zugang zum behandelten Material. Im Gegenteil: Klügers Essays zeichnen sich durch ein außerordentlich breites literatur- und kulturwissenschaftliches Wissen aus. Der betont ›naive‹, alltagssprachliche, gleichzeitig aber in seiner Hinterfragung alltäglicher Wortverwendungen zur genauen Lektüre herausfordernde Sprachduktus wird vielmehr zur Kunstform – zu einem wissenschaftlichen Idiolekt, der die Subjektivität des Ausgesagten hervorhebt. Gültigkeit erhält das im Essay Ausgesagte damit nicht zuerst durch nachprüfbare Bezüge, sondern durch den Verweis auf das hinter ihm stehende, schreibende Subjekt. Es ist die – wie Adorno es formuliert hat – »einzelmenschliche Erfahrung«, nicht der vermeintlich objektive, verifizierbare wissenschaftliche Beleg, der für die ›Wahrheit‹ des Ausgesagten bürgt.63 Objektiv-wissenschaftliche, vom interpretierenden Subjekt unabhängige Aussagen – so macht damit bereits Klügers Sprachduktus deutlich – lassen sich nicht machen. Sowohl durch diesen Sprachduktus als auch durch seine offene, vorläufige Form eignet sich der Essay in besonderem Maße als Medium für Klügers theoretische und literarhistorische Überlegungen.

61 62 63

Littners. Die Erinnerungen Littners erschienen in der Bearbeitung von Koeppen zunächst 1948 unter Littners Namen (Aufzeichnungen aus einem Erdloch). 1992 dann veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag den Text erneut – dieses Mal erschien er als ›Roman‹ unter Koeppens Namen mit dem Titel Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Inzwischen liegen die Originalaufzeichnungen Littners in Buchform vor (Mein Weg durch die Nacht). Klüger bezeichnet Koeppens Bearbeitung nach einem Vergleich mit Littners Originalaufzeichnungen als ›Plagiat‹. – Vgl. dies.: Der Dichter als Dieb? Der Fall Littner – Koeppen. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 135–142. – Vgl. auch Jakob Littner: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption. Hg. von Roland Ulrich und Reinhard Zachau. Berlin: Metropol 2002 (Bibliothek der Erinnerung; 8). – Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Roman. Mit einem Nachwort von Alfred Estermann. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2002. Ruth Klüger: Lanzmanns ›Shoah‹ in New York. In Dies., Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 9–27, hier: S. 11. Dies.: Die Pforte entriegeln. Zu Goethe: Urworte. Orphisch. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben (wie Anm. 2), S. 25ff., hier: S. 25. »Das Maß solcher Objektivität ist nicht die Verifizierbarkeit behaupteter Thesen durch ihre wiederholte Prüfung, sondern die in Hoffnung und Desillusion zusammengehaltene einzelmenschliche Erfahrung.« – Adorno, Der Essay als Form (wie Anm. 58), S. 49.

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Charakteristisch für Klügers Essays sind die zahlreichen intertextuellen Verweise, der Einsatz von Gedichtauszügen sowie die wiederholten Hinweise auf Ambivalenzen und bislang marginalisierte Aspekte im Gesamtwerk verschiedener Autoren/-innen.64 Im Hinblick auf Klügers autobiographische Texte ist auch die Gespenstermotivik zu nennen. Die Betonung der Kontextabhängigkeit der Interpretation von Literatur, die eine Vielzahl möglicher Deutungen zulässt, führt jedoch auch Klüger – analog zu Friedländer – nicht so weit, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion in Frage zu stellen. Eine solche Grenze ist – so Klüger – vorhanden und leitet damit von vornherein die Lektüre. Im Folgenden werde ich Klügers Unterscheidung von faktualen und fiktionalen Texten an ihrer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und Literatur nachvollziehen und in diesem Kontext insbesondere ihre Zuordnung des Genres der Autobiographie zur Geschichtsschreibung hervorheben.

4.1.5 Fakten und Fiktion In ihrem Essay »Fakten und Fiktionen« sowie den unter dem Titel »Wie wahr ist das Mögliche? Das Spiel mit Weltgeschichte in der Literatur« im Essayband Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur (2006) veröffentlichten Beiträgen setzt Klüger sich mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion und den Unterschieden von Literatur und Geschichtsschreibung auseinander.65 Dabei grenzt sie sich explizit von literaturtheoretischen Positionen ab, die den Referenzcharakter von Sprache und damit die Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion grundsätzlich in Frage stellen. Von besonderem Interesse sind diese Überlegungen für die vorliegende Studie deshalb, weil Klüger sich in diesem Kontext mit dem Genre der Autobiographie beschäftigt, die sie zwar in einem Grenzbereich zwischen Literatur und Historiographie ansiedelt, sie jedoch der Geschichtsschreibung zurechnet. 4.1.5.1 Geschichtsschreibung und Literatur. Literatur als »Mittel der Wahrheitsfindung« »Historiographie und Literatur gehen ihre eigenen Wege«, konstatiert Klüger.66 Doch obwohl Geschichtsschreibung und Literatur in ihrer extremsten Ausformung – Klüger stellt hier der »penible[n] Dokumentarforschung« die sprachliche Abstraktion des späten Rilke gegenüber – kaum unterschiedlicher 64

65 66

Vgl. hierzu exemplarisch Klügers Gedichtanalysen in Gemalte Fensterscheiben, etwa den Humor und die Selbstironie bei Schiller (S. 30ff.) und Morgenstern (S. 74ff.) oder die Auseinandersetzung mit dem Prozess des Sterbens bei Heine (S. 44ff.) Klüger, Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 93. Ebd.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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sein könnten, überschneiden sie sich in einem Bereich: Die Schnittstelle entsteht dort, wo Geschichte zur Grundlage von Literatur wird, wie Klüger u. a. am Beispiel der Dramen Schillers (Die Jungfrau von Orleans, Don Carlos, Maria Stuart, Die Räuber, Kabale und Liebe), Goethes Egmont, Kleists Michael Kohlhaas, Büchners Dantons Tod und Peter Weiss’ Ermittlung verdeutlicht. Der Dichter, dessen Werk historische Ereignisse zugrunde liegen, kann diese zwar gestalten, sich »gewisse Freiheiten« nehmen.67 Jedoch sind seiner Darstellung Grenzen auferlegt, kann er nicht beliebig erfinden, wird seine Interpretation immer mit dem bereits vorhandenen Wissen des Rezipienten über das historische Geschehen abgeglichen. »Die historischen Fakten, wenn sie überhaupt verwendet werden«, so Klüger, »ändern die Spielregeln: Man muß sie ernst nehmen«.68 An anderer Stelle formuliert sie noch deutlicher: »Wer über Wirkliches schreibt, kann sich nicht über Wirkliches hinwegsetzen«.69 Wie für Friedländer besteht auch für Klüger eine außerhalb des sprachlichen Zeichensystems existierende Referenzebene, die sie als »Wirkliches« bezeichnet und auf die sich Sprache bezieht. Für Klüger ist die Annahme eines »wahrhaftigen Sprechens« Voraussetzung jeglicher menschlicher Kommunikation: »Das ganze Gewebe unseres Umgangs miteinander, einschließlich des schriftlichen Umgangs, bricht zusammen, wenn wir diese Annahme fallen lassen«.70 Damit grenzt Klüger sich entschieden von dekonstruktivistischen Ansätzen ab, die die Bezugnahme von Sprache auf eine außersprachliche Wirklichkeit in Frage stellen und damit die Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion aufheben. So steht sie dem angloamerikanischen Dekonstruktivismus der Yale Critics im Umkreis von de Man ablehnend gegenüber, deren theoretische Annahmen, so Klügers Deutung, durch die Verdrängung geschichtlicher Ereignisse motiviert ist: Was und wieviel Literatur mit der Wirklichkeit zu tun haben soll, war eine Frage in den Nachkriegsjahren, auf die die Antwort lautete: so wenig wie möglich, am wenigsten mit der aktuellen oder jüngst vergangenen Wirklichkeit. Es sei naiv, so wurde uns als Studenten eingeschärft, daß eine Romanszene so nicht hätte stattfinden können, denn nicht-sprachliche und nicht-literarische Maßstäbe kämen für die Literatur nicht in Frage. Literatur sei sprachliches Konstrukt, nie und nimmer zu messen an den Tatsachen, die zufällig ihr Ausgangspunkt sein mögen. [...] Alles war festgelegt, die Fakten waren die Fakten, und die Dichtung war beschränkt aufs rein Menschliche, und etwas später aufs rein Textliche, mit dem Dekonstruktivismus, den ein belgischer Kritiker, der selbst einiges zu verschleiern hatte, mit großem Erfolg an amerikanischen Universitäten einführte. Und wenn man jetzt zurückschaut, so kann man nicht umhin zu fragen, ob das alles nicht eine Flucht vor der Geschichte war […].71

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Ebd., S. 74f. Ebd., S. 72. Ebd., S. 75. Dies., Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 406. Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 82f.

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Einer solchen Literaturtheorie, »derzufolge alle Literatur nur sprachbezogen ist«,72 setzt Klüger ein als ›naiv‹ beurteiltes Lesebedürfnis nach Identifikation entgegen, das »die Welt nicht außer acht [läßt], die außerhalb des Werkes liegt«.73 Für sie ist Literatur ein »Mittel der Wahrheitsfindung«: »Literatur interpretiert die Welt. Ich weiß, daß es ganze Kreise gibt, die dies bestreiten. Ich aber nicht«.74 So beschäftigen sich die Essays des Bandes Gelesene Wirklichkeit mit dem Bereich, wo »Lebens- und Leseerfahrung sich überschneiden«, Literatur der Deutung der Wirklichkeit dient und so »über die Wirklichkeit hinaus zur Wahrheit« wird.75 Geschichtsschreibung und Literatur entsprechen einander insofern, als auch der Historiker immer nur Interpretationen der geschichtlichen Ereignisse liefern kann. Beiden dient das historische Ereignis als »Rohmaterial, dem sie eine Interpretation, eine Form angedeihen lassen«.76 Dabei wird in der Deutung der Fakten immer interpretiert, denn, so Klüger, das »reine Faktum gibt es ja für den menschlichen Verstand nicht«.77 Dies impliziert jedoch keine Auflösung der Grenze zwischen Fakten und ihrer Deutung: »Kein Faktum und kein Ding ist, bei Lichte besehen, schatten- oder deutungslos. Nur verwechseln sollte 72 73

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Dies., Frauen lesen anders (wie Anm. 2), S. 85. Dies.: Wien als Fluchtpunkt. Dankesrede zur Entgegennahme des Bruno-KreiskyPreises. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 94–103, hier: S. 98. – Klügers Einschätzung des Dekonstruktivismus orientiert sich dabei jedoch an einem Verständnis, das Eaglestone als »very ›American literary critical reading‹« bezeichnet. – Eaglestone, The Holocaust and the postmodern (wie Kap. 3, Anm. 3), S. 191. – Dass etwa gerade die Arbeiten von Derrida durch die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Holocaust motiviert ist, gerät so aus dem Blick. Vgl. hierzu exemplarisch Derridas eigene Stellungnahmen im Interview mit David Bankier: »Die Shoah, oder der Holocaust, hat unsere Erfahrung der Welt derart absolut beeinflusst, dass sie sich nicht ohne weiteres als separates Thema definieren lässt. […] Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass sich meine gesamte bisherige Arbeit im Namen der ›Dekonstruktion‹ durch etwas wie ›nach Auschwitz‹ reduzieren oder zusammenfassen lässt […]. Dies wäre weder korrekt noch seriös. Und doch glaube ich, dass diese Arbeit, die ich auf mich genommen habe oder die sich mir auferlegt hat, weder die gleiche Form noch die gleiche Dringlichkeit gehabt hätte, wenn die großen Themen westlicher Rationalität, westlicher Philosophie oder westlicher Metaphysik in Europa nicht derart in Frage gestellt worden wären, zunächst durch den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und dann spezifischer durch ein Ereignis wie den Holocaust.« – Jacques Derrida: Einzigartigkeit, Verjährung, Vergebbarkeit. Aus dem Französischen von Moshe Ron. Interviewer: Dr. Michal Ben-Naftali, 8. Januar 1998 in Jerusalem. In: Fragen zum Holocaust. Interviews mit prominenten Denkern und Forschern. Hg. von David Bankier. Göttingen: Wallstein 2006, S. 114–138, hier: S. 114f. Marita Pletter: Der Pazifik hat die richtige Farbe. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Ruth Klüger über Auschwitz, über das Judentum, über das Schreiben. In: Die Zeit, 03. März 1995. Klüger, Gelesene Wirklichkeit (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 7 (Vorwort). Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 84. Ebd., S. 85.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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man das eine nicht mit dem anderen, das Ding nicht mit der Deutung«.78 Der Unterschied zwischen Literatur und Geschichtsschreibung besteht in der Freiheit gegenüber dem zu interpretierenden Rohmaterial, die – so Klüger in Anlehnung an Lejeune – aus einem unterschiedlichen ›Kontrakt‹ des Geschichtsschreibers und des Romanciers mit dem Rezipienten resultiert: Die Autoren behandeln dasselbe historische Ereignis, der Romancier eventuell sogar mit mehr Einfühlung als der Historiker, doch die Verträge, die sie mit uns abschließen, sind verschieden, die Versprechen, die sie einlösen wollen, sind anders. Der Unterschied geht von dem Unterschied zwischen Phantasie und Tatsachen aus.79

Dem Dichter kommt dabei im Umgang mit dem geschichtlichen Material eine weitaus größere Freiheit zu als dem Historiker. In ihrer Verpflichtung zur Faktentreue nähern sich Geschichtsschreibung und Literatur jedoch in der Beschäftigung mit Grenzereignissen wie dem Holocaust an: Wenn die geschichtlichen Gegebenheiten dem Publikum so sehr unter die Haut gehen wie bei der ›jüngsten Vergangenheit‹ – die sich beharrlich weigert, älter zu werden –, dann wirkt es beleidigend, wenn die Fiktion zu sehr vom Geschehen abweicht. Durch die Wahl des Stoffes haben Schriftsteller oder Filmemacher dem Publikum versprochen, sich weitgehend an Überliefertes zu halten.80

Die Frage, ob Literatur der Geschichte zu dienen hat oder die geschichtlichen Fakten der literarischen Verarbeitung lediglich als ›Stoff‹, als Vorlage dienen sollen, beantwortet Klüger zugunsten der Faktentreue. Literatur, die sich mit geschichtlichen Ereignissen auseinandersetzt, ist für Klüger eine »Form der Wirklichkeitsbewältigung«, steht also im Dienst der Geschichtsschreibung, nicht andersherum: »Wo sich Literatur oder Film der Geschichte nur bedienen, sie sozusagen kannibalisieren, da verkommt sie zum Kitsch«.81 Entschieden verwehrt sich Klüger einer Auflösung der Grenze zwischen faktualen und fiktionalen Texten: »Gewöhnlich beweisen wir, daß wir zurechnungsfähig sind, indem wir diese Unterscheidungen vornehmen, indem wir der Wirklichkeit nicht mißtrauen und umgekehrt das Märchen nicht für Wirklichkeit halten«.82 Dabei impliziert die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Texten für Klüger keine Abwertung der letzteren – im Gegenteil: Der Wert der Fiktion besteht in der Deutung des historischen Geschehens. Die Dichtung »fügt hinzu, was den Fakten fehlt«, ist »Ergänzung der Wirklichkeit«.83 Auch fiktive Formen der Annäherung an den Holocaust haben deshalb ihre Berechtigung:

78 79 80 81 82 83

Ebd., S. 93. Ebd., S. 87. Ebd., S. 85. Ebd., S. 92. Dies., Wie wirklich ist das Mögliche? (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 214. Ebd., S. 219.

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Es ist eine menschliche Erfahrung gewesen und ein Stück Geschichte und sollte genauso gut wie die Kreuzzüge auch von späteren Generationen behandelt werden können, auf was für eine Weise auch immer, in jeder Form als Kunst, weil Kunst uns das Leben in irgendeiner Weise interpretiert. […] Insofern sollte nichts, was geschehen ist, ausgeschlossen sein.84

Klüger selbst weist in ihrem Essay »Dichten über die Shoah« auf die literarische Form hin, die sie wählen würde, wenn sie einen fiktionalen Text über den Holocaust schreiben würde. Dieser aber wäre deutlich in seiner Fiktionalität gekennzeichnet: »Wenn ich eine frei erfundene Geschichte zum Thema der jüdischen Katastrophe schreiben müßte, so würde ich keinen realistischen Rahmen wählen. Ich würde eine Gespenstergeschichte erfinden«. Ich werde hierauf in Kapitel 4.2.6.2 zurückkommen.85 Problematisch wird die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion dort, wo die Grenze fließend ist, wie Klüger am Beispiel des ›Dokudramas‹ in Film und Fernsehen darstellt. Das ›Dokudrama‹, die Dramatisierung historischer Ereignisse, wie sie etwa in Filmen wie Steven Spielbergs Schindlers Liste oder Oliver Hirschbiegels Der Untergang vorliegt, birgt in der Kombination von Archivmaterial, gestellten Szenen und reiner Fiktion die Gefahr, als »Tatsachenbericht« rezipiert zu werden: Das Bildmaterial, besonders aus historischen Archiven, hat eine Überzeugungskraft, die sich auf das fiktionale Material ausweitet. Es eröffnen sich so ganz neue Möglichkeiten, ein Publikum zu beeinflussen. Und plötzlich ist der Abstand zwischen Geschichte und Fiktion geschrumpft. Wenn wir uns gegen solche Vereinnahmungen wehren wollen, so helfen uns ästhetische Werturteile nicht weiter, sondern nur der außerästhetische Begriff der Lüge.86

Die Angemessenheit fiktionaler Darstellung historischer Ereignisse lässt sich deshalb nur im Einzelfall beurteilen. 4.1.5.2 Autobiographie als »eine Art Zeugenaussage«87 Autobiographie ist, so Klüger, die »subjektivste Form der Geschichtsschreibung« – Autobiographie ist »Geschichte in der Ich-Form«.88 Die subjektive 84

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Dies.: »…›ein deutsches Buch‹ ist ja ein bißchen zwiespältig…«. Ein Gespräch mit Ruth Klüger. In: Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), H. 1, S. 31–54, hier: S. 51. In diesem Kontext äußert Klüger sich durchaus positiv über verschiedene filmische Strategien von Schindlers Liste. – Ebd., S. 48ff. Dies.: Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord. In: Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Hg. von Gertrud Hardtmann. Gerlingen: Bleicher 1992, S. 203–221, hier: S. 220. Dies., Wie wirklich ist das Mögliche? (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 193. – Steven Spielberg: Schindlers Liste. Drehbuch: Steven Zaillian. USA u. a. 1993. – Oliver Hirschbiegel: Der Untergang. Drehbuch: Bernd Eichinger. Deutschland/Italien/Österreich 2004. Klüger, Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 409. Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 85f.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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Form der Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit verweist die Autobiographie an die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Roman. Jedoch – und hierin unterscheidet sich Klügers Einschätzung deutlich von der in jüngerer Zeit konstatierten Auflösung der Grenze zwischen Fakten und Fiktion innerhalb der theoretischen Autobiographiediskussion, wie sie im Terminus der ›Autofiktion‹ zum Ausdruck kommt – gehört die Autobiographie »eindeutig zur Geschichte«.89 Klügers Ausführungen zum Gattungsstatus der Autobiographie orientieren sich dabei an Lejeune, wenn sie betont, dass die Zuordnung eines Textes zum Genre der Autobiographie von (para)textuellen Signalen bestimmt wird: Ein Buch, jedes Buch, hat ein Umfeld, es tritt mit einem ganz bestimmten Gewand vor die Öffentlichkeit, es bietet sich seinen Lesern als eine, und keine andere, Gattung Text an. Meist ersehen wir aus der Titelseite, womit wir es zu tun haben, doch können die entscheidenden Signale auch im Text gegeben werden.90

Die Zugehörigkeit eines Textes zum Genre der Autobiographie kann nicht durch einen Abgleich mit biographischen Daten des Autors erfolgen, sondern wird durch seinen ›Pakt‹ mit dem Rezipienten festgelegt: Die Frage ist also nicht, ob und wie viel vom eigenen Leben die Autorin (oder der Autor) in ihrem (seinem) Buch verarbeitet hat – denn das kann er oder sie sowohl in dem einen wie in dem anderen Genre. Eine Autobiographie muß vom Anspruch, nicht vom Inhalt her, definiert werden, als ein Buch, in dem Autor und Erzähler nicht zu unterscheiden sind.91

Das Zustandekommen des autobiographischen Paktes hängt dabei wesentlich vom Glauben der Leser an die Wahrheit der Aussagen im Text ab. Glauben sie den Aussagen nicht, »so zweifeln sie nicht nur an meinem Text, sondern an mir als Menschen, da ich ja beides bin: Ich bin die, die (be)schreibt und die, die (be)geschrieben wird«.92 An dieser Stelle wird bereits die von Klüger angenommene Identität von Autor/-in und erzählender Protagonistin deutlich. Entgegen der Skepsis innerhalb der Literaturwissenschaft, die Person des Autors in die Textbetrachtung einzubeziehen, formuliert Klüger: »Die Autobiographie ist ein Werk, in dem Erzähler und Autor zusammenfallen, eins sind«.93 Weiter heißt es: »In der Autobiographie sagt uns die Autorin ausdrücklich, daß keine Distanz sie (oder ihn) von der erzählenden Hautperson trennt«. Zwar erkennt Klüger die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich an, die sich aus dem Filter der Erinnerung ergibt. Ein Unterschied zwischen Autorin und Erzählerin dagegen besteht für Klüger – dies wird bereits aus dem vorangehenden Zitat deutlich – nicht: »Ich meine, zwischen der Erzählerin und der 89 90 91 92 93

Ebd., S. 86. Dies., Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 406f. Ebd., S. 408. Ebd., S. 407. Ebd.

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Autorin besteht keine Distanz, sie sind identisch, und darin unterscheidet sich eben die Autorin eines Romans von der einer Autobiographie«.94 Christa Wolfs Kindheitsmuster ordnet Klüger demnach dem Genre des autobiographischen Romans zu und begründet dies mit der Distanz, die durch die Fiktionalisierung des Namens der Protagonistin entsteht: »Wenn Christa Wolf in ›Kindheitsmuster‹ die Heldin Nelly nennt, so lese ich das als Signal von Seiten der Autorin: Gebt acht. Diese Figur hat zwar eventuell manches mit mir gemeinsam, doch ich erkläre sie ausdrücklich als nicht mit mir identisch«.95 In der Autobiographie sind Erzähler und Autor insofern identisch, als der Erzähler »das Erzählte als objektiv wahr ausgibt«.96 Der Einsatz literarischer Mittel – etwa der Wechsel des Personalpronomens von ›ich‹ zur ›er‹ wie bei Jan Philipp Reemtsma oder die Bezeichnung des erinnerten Ichs als ›das Mädchen‹ wie bei Cordelia Edvardson – bietet dabei gegenüber der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung besondere Gestaltungsmöglichkeiten. Die Betonung der Subjektivität des Erlebten, wie sie das Genre der Autobiographie vermittelt, bezieht sich jedoch immer auf eine außerhalb dieser subjektiven Wahrnehmung bestehende Wirklichkeit: »Die objektive Wirklichkeit, in der das subjektiv Erlebte stattgefunden hat, wird dadurch […] nicht in Frage gestellt«.97 Es ist also die Frage nach dem Wahrheitsgehalt, die für den Roman und die Autobiographie unterschiedlich zu beantworten ist: Wenn eine Autobiographin etwas erzählt, was nicht stattgefunden hat, so lügt sie (oder, im besten Fall, irrt sie sich), während der Romancier erfinden darf, wie und wo er will, selbst wenn sein Roman eine autobiographische beziehungsweise eine historische Grundlage hat.98

Autobiographie wird so zur »Zeugenaussage«: »Ich meine, Autobiographie hat die Funktion einer Zeugenaussage, und von den Zeugen eines Unfalls erwartet die Polizei, daß sie Gesehenes und Imaginiertes auseinanderhalten können«.99 Diese Einschätzung der Autobiographie sieht Klüger selbst begründet in ihren persönlichen Erfahrungen der »enormen Wirklichkeiten des Holocaust«, auf die ich in meiner Schlussbetrachtung zurückkommen werde.100 Thema ihres eigenen autobiographischen Projekts ist nicht die postmoderne Fragmentierung und Zersplitterung des Ichs, wie sie in Abgrenzung zur gegenwärtigen Diskussion zum Genre der Autobiographie formuliert: [W]as die Autobiographie betrifft, so wird die Integrität des Subjekts angezweifelt, das sich in verschiedenen Funktionalitäten immer neu definiere. Das führt zu ganz 94 95 96 97 98 99 100

Ebd., S. 409. Ebd., S. 407. Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 88. Ebd., S. 89. Dies., Wie wirklich ist das Mögliche? (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 146. Ebd. Dies., Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 409.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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anderen Folgerungen als denen einer postulierten Zeugenschaft. [...] Das ist ein Diskurs, der meine Fragen nicht zuläßt.101

Aus diesem Grund, so Klüger, stehen für sie die Kategorien ›Autor‹ und ›Erzähler‹ nicht in Frage. Die ›Zeugenaussage‹ ist jedoch immer subjektiv und zudem den Prozessen autobiographischer Erinnerung unterworfen: »[I]nsofern als Erinnerung ungenau ist, beeinflußt von Wünschen und Verdrängungen, erwarten wir keine absolute Gleichsetzung von Erinnerung und Wirklichkeit«.102 In welchem Maße der ›Filter der Erinnerung‹ die Autobiographie in das ›Grenzdorf‹ zwischen Geschichtsschreibung und Literatur verweist, mögen Klügers Überlegungen zu Louis Begleys autobiographischen Roman Lügen in Zeiten des Krieges verdeutlichen, die die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion als fließende kennzeichnen: Die Erinnerung an die Kindheit überwindet die Unerträglichkeit der Kindheit, indem sie sich eine Kindheit zurechtbastelt. Es ist das Paradox dieses Romans, daß er fiktive Elemente gebraucht und braucht, um dem Gedächtnis einen Weg zum Ausdruck zu bahnen. Solche Bastler sind im Grunde alle geworden, die über die Vergangenheit nachdenken. Man erfindet Neues mit Hilfe des Gewesenen. Begley erinnert uns daran, daß diese Produkte der Erinnerung nicht mit der Vergangenheit identisch sind und sein können, weil sie, die Erinnerungsprodukte, ja in unseren Köpfen verankert sind.103

Ihren eigenen Erinnerungstext grenzt sie dennoch explizit vom Roman ab und beharrt damit auf der Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion: Von meinem Erinnerungsbuch habe ich [...] immer wieder behauptet, es sei, wie alle Autobiographien, ein Stück Geschichte und nicht zu verwechseln mit einem Roman. Beim Schreiben habe ich der Versuchung widerstanden, hier und da schönzufärben oder gar anschauliche Anekdoten zu erfinden. Trotzdem wird dieses Buch manchmal als ein Roman vorgestellt, und das von freundlichen Menschen, die es mit dieser Bezeichnung als literarisch hochwertig loben wollen. Aber ›Roman‹ bezeichnet eine Gattung und ist kein Werturteil. Ich berichtige das dann gewöhnlich, indem ich sage: ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹, im Sinne von: ›Ich wollte, ich hätte das alles nur erfunden und es wäre mir als Kind nicht so ergangen.104

4.1.6 An der Grenze zum ›Kitsch‹: Zur adäquaten Darstellung des Holocaust Wird die Grenze zwischen Fakten und Fiktion überschritten und Imaginiertes als Wirklichkeit ausgegeben, wird die Aussage zur Lüge, zu ›Kitsch‹. Bei Wilkomirskis fingierter Holocaust-Autobiographie handelt es sich um eine 101 102 103 104

Ebd., S. 405f. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 407. Dies., Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 2), S. 57. Dies., Geschichten aus Geschichte machen (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 145f.

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solche Lüge, denn der autobiographische Pakt, der zwischen Leser und Autor geschlossen wird, basiert auf gefälschten Tatsachen: Many readers asked themselves what had possessed them, for reading the book again, they knew they had been reading lies, that is, kitsch […]. […] The truth of an autobiography is that author and narrator are one. In reading fiction, on the other hand, we must always assume a narrator who is not identical with the author. Lies are not fiction. Kitsch masquerading as truth is eminently plausible – until you recognize its pseudo-plausibility.105

Eine Veränderung des ›Paktes‹ zwischen Autor und Leser verändert damit gleichzeitig den ästhetischen Wert des Textes.106 Passagen, die aufgrund ihrer Schilderung erlebten Leidens besonderes Mitgefühl erzeugen, werden unter dem Vorzeichen der Fiktion zu Kitsch. Auch für Klüger ist – wie für Friedländer – die Angemessenheit künstlerischer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung nicht durch normative Festschreibung auf bestimmte Genres zu beurteilen. Im Gegenteil – die Ratlosigkeit, mit der sich sowohl die künstlerische wie auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung angesichts der Judenvernichtung konfrontiert sieht, bedarf gerade des künstlerischen Experiments, solange es sich nicht als einzig angemessene Form der Darstellung versteht: Die oft aufgeworfene Frage, ob man den Holocaust ›ästhetisieren darf‹, wird irrelevant […]. Die Holocaust-Literatur ist im Schnittpunkt zwischen dem einmaligen und dem wiederholbaren Massenverbrechen angesiedelt. Sie mag Gedicht, Fiktion, Drama, Berichterstattung und was es sonst noch gibt, sein. Aber ob sie ›schön‹ oder grässlich ist, ist Nebensache, solange sie uns hilft, die ›Wahrheit‹ zu verstehen, nämlich wer wir wirklich sind.107

Vielmehr sollte eine Bewertung der Angemessenheit ästhetischer Annäherung an den Holocaust auf der Abgrenzung zwischen ›Kunst‹ und ›Kitsch‹ beruhen. Klüger nähert sich einer Definition von Kitsch in ihrem Essay »Von hoher und niedriger Literatur«.108 Ihre Definition von ›Kitsch‹ orientiert sich an den Überlegungen Hermann Brochs und basiert – dies ist wesentlich – auf der 105

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Dies.: Kitsch and Art. Broch’s Essay ›Das Böse im Wertsystem der Kunst‹. In: Hermann Broch. Visionary in exile. The 2001 Yale Symposium. Hg. von Paul M. Lützeler u. a. Rochester, Woodbridge: Camden House 2003 (Studies in German literature, linguistics, and culture), S. 13–20, hier: S. 19f. Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 91. Dies.: Was ist wahr? Kann man ›schöne Literatur‹ über den Holocaust schreiben? Welchen Anspruch erheben die jüngst erschienenen Romane und Erzählungen über KZ und Verfolgung? In: Die Zeit, 12. September 1997. Dies., Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 2). Im ersten Teil des Essays (»Der Gartenzwerg und das goldene Kalb«, S. 5–27) definiert Klüger das Phänomen des Kitsches, um diese Überlegungen im zweiten Teil (»Missbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch«, S. 29–44) auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung und der künstlerischen und historiographischen Auseinandersetzung mit ihr zu beziehen.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

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Auflösung der Grenze zwischen Fakten und Fiktion. Kitsch ist das Gegenteil der Kunst: »Der Kitsch ist die Lüge, die Kunst ist die Wahrheit«.109 Der Unterschied zwischen ›niedriger‹ Kunst und Kitsch liegt in dem ›Pakt‹ mit dem Rezipienten: Triviale Unterhaltung gibt sich als solche zu erkennen – »während der Kitsch vorgibt, er wolle wie die Kunst eine Bewußtseinserweiterung und -bereicherung erzielen«.110 Kitsch unterläuft »Sinn und Zweck menschlicher Kommunikation«.111 Er zielt ab auf eine sentimentale Bespiegelung der eigenen Gefühle: Es geht nicht um die Auseinandersetzung mit dem dargestellten Gegenstand, sondern um Lustgewinn. Einer angemessenen, kritischen Annäherung, die durch den Einsatz von »Phantasie und Einfühlung« Nachdenken auslöst, stellt Klüger die »Verkitschung« der Ereignisse entgegen.112 Will man sich über die Grenzen der Darstellbarkeit des Holocaust verständigen, ist also zwischen diesen beiden Polen zu unterscheiden, ohne von vornherein bestimmte Genres auszuschließen. Klüger bezieht ihre Definition von ›Kitsch‹ dabei auf so unterschiedliche Bereiche wie die stereotype Verwendung der Alltagssprache, die Ausstellung vermeintlicher ›Dokumente‹ in KZ-Gedenkstätten sowie den (wissenschaftlichen) Umgang mit den Erinnerungen der Überlebenden: Die Verweigerung gegenüber echter Annäherung an den Holocaust verbirgt sich bereits hinter einem Vokabular, das die ›Unvergleichbarkeit‹ und ›Unsagbarkeit‹ der nationalsozialistischen Judenvernichtung postuliert. Solche »Kitschwörter« dienen, so Klüger, lediglich einer »sentimentale[n] Flucht vor der Realität« und verleihen der Vergangenheit einen »Heiligenschein seiner Unsagbarkeit«, der die Auseinandersetzung mit dem Judenmord durch eine »Kitsch-Aura« verstellt.113 Von einem solchen Sprachgebrauch grenzt sich Klüger nicht nur durch den Idiolekt ihrer literaturwissenschaftlichen Essays, sondern ebenso – wie zu zeigen sein wird – ihres autobiographischen Werkes ab. Auch die in KZ-Gedenkstätten ausgestellten Reliquien wie Kinderschuhe, die sich in besonderer Weise dazu eignen, Sentimentalität beim Betrachter zu erzeu109

110 111 112 113

Dies., Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 2), S. 46. – Vgl. Hermann Broch: Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches. Ein Vortrag. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd 6. Zürich: Rhein-Verlag 1952–1961, S. 295–309. – Zur gegenwärtigen Diskussion des Phänomens des Kitsches siehe insbesondere Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen: Niemeyer 2002 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 112). Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 2), S. 48. Ebd., S. 34. Ebd., S. 61. »Unter den ungefähr 50 Millionen Menschen, die im Krieg umgekommen waren, hatten eben auch eine beträchtliche Zahl Juden daran glauben müssen. So sah es damals für die meisten Deutschen und viele andere Europäer aus. Fünfzig Jahre später heißt es, der Holocaust sei einzigartig und unvergleichbar. Die erstere Ansicht hatte zumindest den Vorteil, daß man sich nicht hinter Wörtern wie ›unvorstellbar‹ und ›unaussprechlich‹ verschanzte.« – Ebd., S. 32.

160

4 Ruth Klüger

gen, bezeichnet Klüger als ›Kitsch‹.114 In ihrer Ästhetisierung werden die Kinderschuhe zum Kunstwerk, dem es in seiner Reduktion des Menschen nicht um eine wirkliche Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen geht. Auf diese Weise verkommen die ausgestellten Kinderschuhe zum »Kitschwerk«.115 Wie wenig sich auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an den Bedürfnissen der Opfer orientiert und von wirklichem Interesse an ihrer Geschichte geleitet wird, verdeutlicht Klüger an der sich über die Jahrzehnte verändernden Haltung gegenüber den Opfern im USamerikanischen Holocaust-Diskurs. Auch diese Haltung ordnet Klüger dem Bereich des ›Kitsches‹ zu: Entgegen der verbreiteten Überzeugung, die Überlebenden hätten erst in späteren Jahren aufgrund verdrängter Traumata über ihre Erlebnisse sprechen können, betont Klüger, dass nach Kriegsende von Seiten der Opfer durchaus das Bedürfnis bestand, sich mitzuteilen. Es fehlte jedoch die Bereitschaft, ihnen zuzuhören, was schließlich zu einem Verdrängen des Erlebten führte.116 Insbesondere in den USA wurden die Opfer zudem mit der Versicherung amerikanischer Juden konfrontiert, sie selber hätten sich in dieser Lage zur Wehr gesetzt – Phantasien, die Klüger in ihrer Realitätsferne und Selbstbestätigung ebenfalls als ›Kitsch‹ bezeichnet. In der Gegenwart hat sich dieses Verhältnis umgekehrt: Eine immer größer werdende Zahl von OralHistory-Projekten sammelt eine unüberschaubare Menge an Videointerviews mit Überlebenden, die – nach eigenen Aussagen – der Bewahrung der Erinnerungen der Überlebenden dienen soll. Klüger steht diesen Projekten, die für die eigenen Bedürfnisse instrumentalisiert werden, skeptisch gegenüber: Eine immer größer werdende Gemeinde von Shoah-Beflissenen gibt Anstoß zu dem bissigen Wortspiel ›There is no business like Shoah business‹. Und diese Gemeinde braucht uns. Heute gelten wir als stellvertretende Märtyrer (stellvertretend für die Toten) und werden mit Ehrfurcht behandelt, allerdings eben auch mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht, zwei Seiten derselben Münze. Sterbende werden so behandelt, Krebskranke und Krüppel, nämlich mit einer Distanz, die sowohl negative wie auch positive Vorzeichen zulässt.117

Einer Auseinandersetzung mit den Geschichten der Opfer dienen diese Projekte nicht – im Gegenteil: Indem sie die Opfer zu Märtyrern stilisieren, wird eine Distanz aufrechterhalten, die jede Annäherung an die Vergangenheit verhindert. Klüger selbst hat sich von keiner der Oral-History-Projekte aufnehmen lassen: Man wird nicht zum Zeugen, sondern zum Rohmaterial. Der denkende Mensch, der dahinter steckt und sein Leben bewältigt, ist nebensächlich. Unsere Fähigkeit, Ge114

115 116 117

Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches. 2., vermehrte und verbesserte Aufl. München: Fink 1971 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; 17). Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 2), S. 65. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58.

4.1 Überlegungen zu Klügers literarhistorischen und theoretischen Essays

161

schehenes von Erinnertem zu unterscheiden, wird in Frage gestellt. Wir sind dann nur noch Dokumente, lebende Dokumente, die andere lesen und deuten müssen. Es entsteht eine Art von Zuhören, die sich völlig deckt mit ihrem Gegenteil, dem Nichtzuhörenwollen.118

Noch deutlicher wird Klügers Kritik, wenn es um den Umgang mit diesen Videozeugnissen geht. In der Analyse der Gestik und Mimik wird der Inhalt der Aussagen vernachlässigt, die Betroffenen auf diese Weise entmündigt: Wenn ich etwas sage oder schreibe, so möchte ich doch nicht, daß man das Gesagte, statt es zu erwägen, sogleich hinterfragt. Darin liegt doch eine Abwertung des Menschen, der ich bin und der vielleicht mehr über die Schwierigkeiten des Erinnerns nachgedacht hat als der Frager«.119

Auch Klügers autobiographisches Projekt ist – wie ich in Kapitel 4.2.7 zeigen werde – als Verweigerung gegenüber der Vereinnahmung als ›Dokument‹ der Interpretation durch andere zu lesen.

4.1.7 Zusammenfassung Folgende Annahmen stehen im Mittelpunkt von Klügers literaturwissenschaftlichem Ansatz: Klüger stellt das Konzept des Autors nicht in Frage. Im Gegenteil – durch Verweise auf das hinter dem Text stehende Autorensubjekt sowie die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen autobiographischen Text innerhalb ihrer literaturwissenschaftlichen Essays grenzt sie sich von solchen Positionen ab, die für eine rein ›werkimmanente‹ Interpretation literarischer Texte plädieren. Gleichzeitig betont sie jedoch die Abhängigkeit jeder Lektüre von persönlichem Hintergrund und Kontext des Rezipienten sowie vom historischen Zeitpunkt, wie sich an ihrer Auseinandersetzung mit jüdischen Figuren in der Literatur sowie ihrer Lektüre aus einem spezifisch weiblichen Blickwinkel nachvollziehen lässt. Eine allgemein gültige, abschließende Deutung – dies lässt sich analog zu Friedländers Überlegungen für die Geschichtsschreibung lesen – existiert nicht. Die Subjektivität und Vorläufigkeit der Interpretation und Bewertung von Literatur wird zudem durch Klügers Auseinandersetzung mit der Konstrukthaftigkeit von Kanonbildung und Literaturgeschichtsschreibung deutlich – insbesondere durch ihre Beschäftigung mit marginalisierten Autoren/-innen und Genres. Die Form des Essays eignet sich in seiner Betonung der Vorläufigkeit und Subjektivität des Ausgesagten in besonderem Maße zur Vermittlung von Klügers theoretischen Annahmen. Dies wird durch ihren wissenschaftlichen Idiolekt unterstrichen. Trotz der Betonung der Kontextabhängigkeit und Unabschließbarkeit von Interpretation geht jedoch auch Klüger nicht so weit, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion aufzulösen. Dies wird insbesondere in ihren Ausführungen zum Genre der Autobiographie deut118 119

Ebd., S. 59. Ebd., S. 59f.

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4 Ruth Klüger

lich, die Klüger als »Geschichte in der Ich-Form« bezeichnet. Auch Klüger hebt allerdings die Rolle von Erinnerung hervor: Im autobiographischen Schreibakt lässt sich der persönlichen Vergangenheit nur über diese annähern. In der Auseinandersetzung mit der Holocaust-Erfahrung kommt dem Phänomen des ›Kitsches‹ besondere Relevanz zu. Analog zur Analyse von Friedländers Erinnerungstext orientiere ich mich auch in der Interpretation von Klügers autobiographischem Projekt an folgenden Leitfragen: 1. Mit welchen literarischen Mitteln werden Klügers autobiographische Texte in ihrer Faktizität gekennzeichnet – wie verweist das autobiographische Projekt damit auf die von Klüger postulierte Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion? 2. Mit welchen literarischen Mitteln wird die Annäherung an die persönliche Vergangenheit in ihrer Erinnerungshaftigkeit abgebildet – mit welchen literarischen Strategien also wird das autobiographische Projekt in seiner Unabschließbarkeit und damit die Interpretation der eigenen Lebensgeschichte in ihrer Vorläufigkeit und Abhängigkeit vom gegenwärtigen Standpunkt des erinnernden Ichs gekennzeichnet? 3. Auf welche Weise fließen Klügers theoretische Annahmen in ihr autobiographisches Projekt ein bzw. werden hier bereits angedacht?

4.2

Von weiter leben. Eine Jugend (1992) zu Still alive. A Holocaust girlhood remembered (2001): Klügers autobiographisches Projekt

4.2.1

Einleitung

4.2.1.1 Textgenese. Publikationsgeschichte Klügers deutscher Erinnerungstext entstand in erheblichem zeitlichen Abstand zum Kriegsende 1945. Schreibanlass war, so Klüger, ihr Unfall in Göttingen.120 Der Text ist den Göttinger Freunden gewidmet: »Den Göttinger Freun120

Klüger äußert sich zum Entstehungszeitpunkt ihres deutschen Textes folgendermaßen: »Erst nach diesem Unfall […] und auch schon vorher durch Gespräche mit Deutschen, die ich in Göttingen kennenlernte, kam mir das Bedürfnis, es zu versuchen.« – Klaus Naumann im Gespräch mit Ruth Klüger: ›Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien‹. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 6 (1993), S. 37–45, hier: S. 37.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

163

den... ein deutsches Buch«. Zur Wahl der Sprache und des Publikums äußert Klüger sich folgendermaßen: Ich habe das Buch auf deutsch geschrieben. Das war eine bewußte Wahl, denn ich hätte auch auf englisch schreiben können. Dann hätte ich aber für ein ganz anderes Publikum geschrieben. Ich schrieb es tatsächlich als Auseinandersetzung mit den Deutschen.121

Die Veröffentlichungsgeschichte von weiter leben. Eine Jugend ist bereits ausreichend dokumentiert worden: Verschiedene Verlage lehnten die Veröffentlichung des Manuskripts ab – unter ihnen der Suhrkamp-Verlag, der Klügers Text trotz der Fürsprache durch Martin Walser als »nicht literarisch genug« einstufte.122 Weiter leben wurde schließlich 1992 im Göttinger WallsteinVerlag veröffentlicht und hatte in Deutschland bekanntlich außergewöhnlich großen Erfolg.123 Dabei ist im Anschluss an die Überlegungen von Stephan Braese und Holger Gehle wiederholt die Frage gestellt worden, ob die vorbehaltlos positive Aufnahme des Textes nicht Kennzeichen einer vereinnahmenden Rezeption ist und darauf verweist, dass der von Klüger eingeforderte, kritische Dialog nicht stattgefunden hat.124 Weiter leben wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die amerikanische Version Still alive. A Holocaust girlhood remembered erschien – in Klügers eigener Übertragung – erst 2001, nach dem Tod von Klügers Mutter. Ihr ist der amerikanische Text gewidmet. Die Einordnung des Verhältnisses von Klügers deutschem und amerikanischem Erinnerungstext bereitet offensichtlich Probleme. Zum einen ist Still alive in der Titelangabe als englische Übersetzung des deutschen Textes ausgewiesen: »[Weiter Leben. English]« – eine Angabe, die durch den Klappentext bestätigt wird: »[p]ublished here in English for the first time«. Diese An121

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Ebd., S. 38. – Vgl. hierzu auch Klüger: »Diese Widmung als ›deutsches Buch‹ ist ja ein bißchen zwiespältig. Zunächst ist es ein deutsches Buch, weil es auf deutsch geschrieben ist, was ja nicht selbstverständlich war.« – Klüger, »…›ein deutsches Buch‹ ist ja ein bißchen zwiespältig…« (wie Anm. 84), S. 39. Zur Publikationsgeschichte vgl. u. a. Sascha Feuchert (Hg.): Ruth Klüger, ›weiter leben‹. Stuttgart: Reclam 2004 (Reclams Universal-Bibliothek. Erläuterungen und Dokumente; 16045), S. 139. Klüger erhielt in den letzten Jahren – in chronologischer Reihenfolge – u. a. folgende Preise und Auszeichnungen: den Grimmelshausen-Preis 1993, den Niedersachsen-Preis 1994, den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 1994, den AndreasGryphius-Preis 1995, den Heinrich-Heine-Preis 1997, den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik 1998, den Prix de la Shoah 1998, den Preis der Frankfurter Anthologie 1999, den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck 1999, den BrunoKreisky-Preis 2002 sowie den Preis der Stadt Wien für Publizistik (2004). Klüger ist außerdem Trägerin der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen (2003), der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts (2005) und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Vgl. dazu Stephan Braese/Holger Gehle (Hg.): Ruth Klüger in Deutschland. Bonn: H. Gehle 1994 (Kassiber; 1).

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4 Ruth Klüger

gaben implizieren, dass es sich bei Still alive um eine möglichst wortgetreue Übersetzung handelt.125 Einige Zeilen darüber wird dagegen betont, dass Still alive eine ›spätere Version‹ des deutschen Textes darstellt: »An earlier version of this book was published in German in 1992 as weiter leben: Eine Jugend, copyright © 1992 by Wallstein Verlag, Göttingen, Germany«. Das Vorwort Lore Segals geht in eine ähnliche Richtung, wenn sie Still alive nicht als Übersetzung, sondern als ›englische Version‹ von weiter leben bezeichnet: »The book before us is Ruth Klüger’s English version of her acclaimed autobiography weiter leben: Eine Jugend, published in Germany in 1992« (11). Wenn sie jedoch kurze Zeit später auf den Bedeutungsverlust des englischen Titels verweist, der entscheidende Nuancen des deutschen weiter leben nicht aufnimmt (12), übersieht sie, worauf bereits der veränderte amerikanische Titel hindeutet: Still alive ist gerade keine möglichst wortgetreue Übertragung des deutschen ›weiter leben‹, der amerikanische Text insgesamt keine ›gängige‹ Übersetzung des deutschen Textes. Vielmehr handelt es sich – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – um eine Fortschreibung und kulturelle Übersetzung des deutschen Ausgangstextes. Klüger selbst bezeichnet die amerikanische Version ihres Erinnerungstextes im Epilog von Still alive explizit nicht als Übersetzung – gleichzeitig jedoch auch nicht als vollständig anderen Text: »What you have been reading is neither a translation nor a new book: it’s another version, a parallel book, if you will […]. […] I have written this book twice« (210). Die explizite Verknüpfung des amerikanischen, von ihr selbst übersetzten Textes mit dem deutschen weiter leben fordert die Leser/-innen zum Abgleich beider Versionen heraus und stellt die Besonderheit von Klügers autobiographischem Projekt dar.126 Das Bild der Parallele verweist dabei auf zweierlei: erstens auf den – zeitlichen – Abstand zwischen beiden Texten, durch den die amerikanische Version zur Fortschreibung des deutschen Erinnerungstextes wird – und zweitens auf das gleichzeitige Existieren zweier ›autobiographischer Sprechakte‹, die seit dem Erscheinen von Still alive nun nebeneinander bestehen.

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Im Klappentext der in Großbritannien publizierten, textgleichen Ausgabe Landscapes of memory wird der englische Text ebenfalls als ›klassische‹ Übersetzung des deutschen Textes gekennzeichnet: »On publication in Germany, where it is a bestseller, Landscapes of Memory sparked renewed discussion about the Holocaust.« – Ruth Kluger: Landscapes of memory. London: Bloomsbury 2003. Auch andere – wie etwa Primo Levi, Jorge Semprún und Jean Améry – haben ihre Erfahrungen immer wieder neu beschrieben. Bei den Übersetzungen ihrer Texte handelt es sich jedoch nicht um selber verfasste, sondern ›klassische‹, möglichst wortgenaue Übertragungen in die Zielsprache. Das autobiographische Werk George-Arthur Goldschmidts ließe sich unter dem Aspekt der Selbstübersetzung am ehesten mit dem von Klüger vergleichen – allerdings läuft hier der Vorgang der Übersetzung genau andersherum: von der Zweitsprache, in der das ›Original‹ verfasst ist, in die deutsche Erstsprache. Vgl. hierzu Anm. 171 und Anm. 183.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

165

In Hinblick auf die Interdependenzen von Klügers wissenschaftlichem und autobiographischem Werk ist entscheidend, dass Klügers intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion sich an das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte anschließt. 4.2.1.2 Forschungsgeschichte. Verwendete Literatur Klügers deutscher Erinnerungstext ist in den letzten Jahren von der literaturwissenschaftlichen Forschung aus verschiedenen Blickwinkeln zur Kenntnis genommen worden. Die Mehrzahl der Analysen konzentriert sich dabei auf die inhaltlichen Aspekte des Textes – die feministische Perspektive auf den Holocaust127 sowie die Konstituierung des autobiographischen Ichs als Jüdin128 und Tochter.129 Auch zur Funktion der Gedichte in weiter leben liegen einzelne Arbeiten vor.130 Eine Auseinandersetzung mit individuellen Erinnerungspro127

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Klügers feministische Perspektive steht u. a. im Mittelpunkt folgender Arbeiten: Irene Heidelberger-Leonard: Eine weibliche Autobiographie nach Auschwitz? Zu ›weiter leben. Eine Jugend‹ von Ruth Klüger. In: Das erdichtete Ich – eine echte Erfindung. Studien zu autobiographischer Literatur von Schriftstellerinnen. Hg. von Heidy Margrit Müller. Aarau, Frankfurt a. M., Salzburg: Sauerländer 1998 (Reihe Literaturwissenschaft; 2), S. 187–200. – Andrea Hammel: Gender, individualism and dialogue. Jakov Lind’s ›Counting my steps‹ and Ruth Klüger’s ›weiter leben‹. In: Dies./Silke Hassler/Edward Timms (Ed.): Writing after Hitler. The work of Jakov Lind. Cardiff: University of Wales Press 2001, S. 177–192. Die jüdische Perspektive in weiter leben ist Gegenstand u. a. folgender Arbeiten: Irene Heidelberger-Leonard: Jüdische und deutsche Nicht-Identität? Zu Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Germanistik. Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Hg. von Ludwig Jäger. Weinheim: Beltz Athenäum 1995, S. 339–351. – Eva Lezzi: Ruth Klüger: ›weiter leben. Eine Jugend‹ (1992). In: Dies.: Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001 (Literatur und Leben; 57), S. 228–280. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist Gegenstand der Untersuchung von Anna Callenholm: Die Mutter-Tochter-Beziehung in Ruth Klügers ›weiter leben. Eine Jugend‹. In: Text im Kontext 6. Beiträge zur sechsten Arbeitstagung schwedischer Germanisten in Göteborg 23.–24. April 2004. Hg. von J. Alexander Bareis und Izabela Karhiaho. Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis 2005, S. 233–240. Zur Analyse der Gedichte in weiter leben vgl. Katja Schubert: Zeitvertreib und Zauberspruch. Zu den Gedichten in ›weiter leben‹ von Ruth Klüger. In: Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 18 (2002), S. 109–121. – Claudia Liebrand: ›Das Trauma der Auschwitzer Wochen in ein Versmaß stülpen‹ oder: Gedichte als Exorzismus. Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien. Hg. von Ariane Huml und Monika Rappenecker. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 237–248. – Aus einer – meines Erachtens problematischen – poststrukturalistischen Perspektive argumentiert Neva Šlibar: Anschreiben gegen das Schweigen. Robert Schindel, Ruth Klüger, die Postmoderne und Vergangenheitsbewältigung. In: Jenseits des Diskurses. Literatur und Sprache in der Postmoderne. Hg. von Albert Berger und Gerda Eli-

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4 Ruth Klüger

zessen in weiter leben findet sich bei Christian Angerer und Irmela von der Lühe.131 Mit dem Einfluss der bundesdeutschen Diskurse auf weiter leben beschäftigen sich insbesondere Irene Heidelberger-Leonard und Pascale R. Bos – zwei Arbeiten, die ich für meine Analyse kollektiver Erinnerungsprozesse in Kapitel 4.2.6 heranziehe.132 Die Existenz des amerikanischen ›Paralleltextes‹ und seine Implikationen für das autobiographische Projekt Klügers sind von der literaturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland bisher kaum zur Kenntnis genommen worden.133 Lediglich in der US-amerikanischen Forschung finden sich ausführlichere Ansätze, Still alive als kulturelle Übersetzung des deutschen weiter leben zu rezipieren. Zu nennen sind hier die Arbeiten von Erin McGlothlin und Caroline Schaumann, auf die ich mich im Folgenden wiederholt beziehen werde.134 Auch Andrea Hammel plädiert für einen vergleichenden Ansatz.135 In den meisten Fällen der nach 2001 erschienenen Arbeiten jedoch wird die amerikanische Version von Klügers Erinnerungstext auch weiterhin als ›klassische‹, möglichst wortgetreue Übersetzung gelesen. Dabei lässt sich Klügers autobiographisches Projekt – so die den folgenden Überlegungen übergeordnete These – nur in seiner Gesamtheit angemessen zur Kenntnis nehmen.

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sabeth Moser. Wien: Passagen-Verlag 1994, S. 337–356. – Auf einem ähnlichen theoretischen Ansatz basiert die Analyse Phil Langers. – Phil Langer: Schreiben gegen die Erinnerung? Autobiographien von Überlebenden der Shoah. Hamburg: Krämer 2002. Angerer, ›Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung‹ (wie Kap. 1, Anm. 15). – Irmela von der Lühe: Das Gefängnis der Erinnerung. Erzählstrategien gegen den Konsum des Schreckens in Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Hg. von Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1997 (Literatur, Kultur, Geschlecht. Kleine Reihe; 10), S. 29–45. Irene Heidelberger-Leonard: Ruth Klüger, ›weiter leben. Eine Jugend‹. München: Oldenbourg 1996 (Oldenbourg-Interpretationen; 81). – Pascale R. Bos: GermanJewish literature in the wake of the Holocaust. Grete Weil, Ruth Klüger, and the politics of address. New York: Palgrave Macmillan 2005. Eva Lezzi geht in ihrem 2006 erschienenen Aufsatz lediglich kurz auf die Unterschiede zwischen beiden Texten ein. – Eva Lezzi: Ruth Klüger. Literarische Authentizität durch Reflexion. Weiter leben – Still alive. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Schmidt 2006, S. 286–292. Vgl. Erin McGlothlin: Autobiographical re-vision. Ruth Klüger’s ›weiter leben‹ and ›Still alive‹. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 3 (2004), S. 46–70. – Caroline Schaumann: From ›weiter leben‹ (1992) to ›Still alive‹ (2001). Ruth Klüger’s cultural translation of her ›German book‹ for an American audience. In: The German Quarterly 77 (2004), S. 324–339. Andrea Hammel: The destabilisation of personal histories. Rewriting and translating autobiographical texts by German-Jewish survivors. In: Comparative Critical Studies 1 (2004), H. 3, S. 295–308.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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4.2.1.3 Fragestellung und Schwerpunkte der Analyse. Gliederung Im Folgenden wird es deshalb darum gehen, weiter leben und Still alive als Teile eines einzigen autobiographischen Projekts zu begreifen. Dabei betrachte ich den amerikanischen Text – ausgehend von Klügers Bild der Parallele – sowohl als Verlängerung des deutschen Textes als auch als zeitgleich neben ihm bestehenden ›autobiographischen Sprechakt‹, der eine andere ›autobiographische Persona‹ konstituiert.136 Das Bild der Parallele lässt sich außerdem auf die Ebene kollektiver Identitätsprojekte beziehen – als Verlängerung, aber auch als gleichzeitige Existenz der Erinnerungen in einem anderen kulturellen Kontext. Meine Analyse orientiert sich dabei an folgenden Thesen: 1. Sowohl weiter leben als auch Still alive sind eindeutig als referentielle Texte gekennzeichnet, die auf ein außerhalb des Textes existierendes Autorinnensubjekt verweisen. Dabei frage ich, durch welche literarischen Mittel die Faktizität des autobiographischen Textes erzeugt wird (4.2.2). 2. Auch in Klügers autobiographischem Projekt geht es nicht darum, ein sich ›in Auflösung befindliches‹ Subjekt darzustellen. Vielmehr sind auch hier die einzelnen Abschnitte innerhalb der Biographie als – disparate, widersprüchliche – Anteile eines einzigen Ichs gekennzeichnet (4.2.3). 3. Die Betonung der Referenz auf eine außertextuelle Wirklichkeit basiert jedoch auch in Klügers Fall nicht auf der naiven Annahme, vergangene Ereignisse so abbilden zu können, wie sie sich ereignet haben. Auch ihr autobiographisches Projekt ist vielmehr von der Auseinandersetzung mit der Funktionsweise individueller Erinnerungsprozesse und ihrer Bedeutung für das persönliche Identitätsprojekt bestimmt (4.2.4). Dies gilt bereits für die deutsche Version weiter leben. Es ist jedoch die Existenz des zweiten, im zeitlichen Abstand von neun Jahren entstandenen amerikanischen Textes, die in besonderem Maße die Unabschließbarkeit autobiographischer Projekte in den Blick rückt. Im zweiten Kapitel wird es daher zunächst um die Analyse der literarischen Strategien gehen, die der Inszenierung von Erinnerungshaftigkeit im deutschen Text dienen (4.2.4.1). In einem zweiten Schritt werde ich die Fortschreibung des autobiographischen Projekts durch den amerikanischen ›Paralleltext‹ analysieren, die sich besonders deutlich an der veränderten Auseinandersetzung mit dem Tod des Vaters und des Bruders und dem Verhältnis zur Mutter nachvollziehen lässt, deren Tod der Fertig136

Meine Lektüre des deutschen und amerikanischen Textes als jeweils anderen ›autobiographischen Sprechakt‹ und ›Performanz des Selbst‹ orientiert sich – um es zu wiederholen – an den theoretischen Überlegungen zum Genre der Autobiographie von Roger J. Porter und Richard Poirier. Vgl. Kap. 1, Anm. 22.

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4 Ruth Klüger

stellung von Still alive unmittelbar vorausgeht (4.2.4.2). Dabei zeichnet sich der amerikanische Text insgesamt durch eine größere Abgeschlossenheit aus, die vor allem durch den stark veränderten Epilog von Still alive entsteht. Die größere Abgeschlossenheit des amerikanischen Textes resultiert außerdem aus dem Wechsel von der deutschen Muttersprache in die englische Zweitsprache, den ich in einem dritten Schritt untersuchen werde (4.2.4.3). 4. Geht es in den Überlegungen zur Prozesshaftigkeit des autobiographischen Projekts darum, die amerikanische Version als Verlängerung des deutschen weiter leben zu lesen, analysiere ich im folgenden Kapitel den zweiten Aspekt des Bildes der Parallele: das Nebeneinander, d. h. die synchrone Existenz beider Versionen, wie sie sich für den Rezipienten darstellt (4.2.5). Ich vertrete dabei die These, dass Klügers zwei parallele Erinnerungstexte auf der Ebene des persönlichen Ichs zwei unterschiedliche ›autobiographische Sprechakte‹ darstellen, die zwei verschiedene ›autobiographische Personae‹ konstituieren. Von besonderer Bedeutung ist dabei der jeweilige kulturelle Rahmen, in den sich das Ich einschreibt. Ich frage dabei vor allem, in welchem Verhältnis sich das erinnernde Ich zur deutschen/österreichischen und amerikanischen Sprache und Kultur im jeweiligen Text positioniert. Wie zu zeigen sein wird, ist bereits der einzelne Text als Ablehnung eindeutiger Festlegung des Ichs zu lesen. Inwieweit Klügers autobiographisches Projekt in seiner Gesamtheit als Verweigerung gegenüber endgültiger Einordnung zu verstehen ist, wird jedoch erst deutlich, wenn man die beiden Versionen als nebeneinander bestehende ›autobiographische Sprechakte‹ eines Ichs rezipiert. Identität wird nicht durch den einen oder den anderen Text konstituiert, sondern durch die gleichzeitige Existenz zweier autobiographischer Texte, deren Abgleich Klüger explizit herausfordert. In diesem Zusammenhang verstehe ich den Akt der Selbstübersetzung als Metapher: als die von Klüger selbst vorgenommene Übertragung des eigenen Ichs in eine andere Sprache und Kultur. Übersetzung wird somit bereits auf individueller Ebene zum übergeordneten Thema. Gleichzeitig stellt die Existenz zweier explizit miteinander verknüpfter Texte eine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Nationalliteratur in Frage (4.2.5.4). 5. Die Fortschreibung und Übersetzung des autobiographischen Projekts betrifft jedoch nicht nur die individuelle, sondern auch die Ebene kollektiver Identitätsentwürfe (4.2.6). Bereits weiter leben ist als Auseinandersetzung mit den bundesdeutschen Diskursen zu lesen und verweist dabei auf die Abhängigkeit kollektiver Erinnerung von bestehenden Kontexten. In welchem Maße kollektive Erinnerungsprozesse jedoch vom jeweiligen historischen Zeitpunkt und kulturellen Kontext abhängen, wird vor allem deutlich, wenn man den amerikanischen Text als kulturelle Übersetzung von weiter leben liest. Klüger hat ihren amerikanischen Text in Auseinandersetzung mit einem vollständig anderen kulturellen Kontext verfasst als ihr ›deut-

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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sches Buch‹: Sie wendet sich nun – so die explizite Adressierung im Epilog von Still alive – an ihre amerikanischen Studenten und ihre Kinder (210). Zum ›amerikanischen Buch‹ wird Still alive dabei vor allem durch die veränderte Kontextualisierung des Holocaust: Indem die spezifisch amerikanischen Diskurse in den Blick rücken, wird deutlich, in welchem Maße auch kollektive Narrative an das jeweilige Selbstbild angepasst werden und somit Prozessen permanenter Um- und Neuschreibung unterliegen. Eine allgemeingültige, objektive, über die Zeit bestehende Deutung historischer Ereignisse – so die Aussage der nebeneinander bestehenden ›Paralleltexte‹ – existiert nicht. Kapitel 4.2.6 gliedert sich in zwei Teile: In einem ersten Schritt werde ich mit Blick auf die bereits existierende Sekundärliteratur kurz zusammenfassen, inwiefern weiter leben als Antwort auf die bundesdeutschen Diskurse zu lesen ist (4.2.6.1). In einem zweiten Schritt analysiere ich – basierend auf den aktuellen Ansätzen innerhalb der Übersetzungswissenschaft, die die Kontextabhängigkeit und Unabschließbarkeit von Übersetzungen betonen – die amerikanische Version als kulturelle Übersetzung des deutschen Erinnerungstextes (4.2.6.2). 6. In einem letzten Kapitel wird es um die Positionierung des autobiographischen Ichs als Wissenschaftlerin gehen (4.2.7). Die zugrundeliegenden Annahmen zu Autorschaft sowie zur Kontextabhängigkeit der Interpretation literarischer Texte manifestieren sich dabei sowohl durch den Akt der Selbstübersetzung als auch durch den Umgang mit literarischen Dokumenten im autobiographischen Text. 7. Nach Fertigstellung der vorliegenden Studie erschien Klügers autobiographischer Band Unterwegs verloren. Erinnerungen (2008).137 Im abschließenden Kapitel werde ich einen Ausblick auf die erneute Fortschreibung des autobiographischen Projekts geben und Fragestellungen formulieren, die sich an meine Analyse von weiter leben und Still alive anschließen lassen (4.2.8).

4.2.2 Klügers autobiographisches Projekt: Faktizität Durch den Einsatz paratextueller Signale verweist auch Klügers autobiographisches Projekt explizit auf eine außerhalb des Textes bestehende Wirklichkeit. So heißt es etwa im Klappentext der Taschenbuchausgabe: »Ruth Klüger erzählt ihre Kindheit und Jugend. Mit unbestechlicher Klarheit und souveräner Menschlichkeit berichtet sie vom Grauen der Vernichtungslager und vom ›weiter leben‹«.138 Auf der amerikanischen Ausgabe ist unter anderem ein 137 138

Klüger, Unterwegs verloren (wie Kap. 1, Anm. 9). Dies.: weiter leben. Eine Jugend. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1994 (dtv; 11950).

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Zitat Walter Laqueurs abgedruckt, das den Text eindeutig zuordnet: »This powerful memoir deals with the postwar life of Ruth Kluger in Germany and America as much as her earlier life in the camps«. Innerhalb des Textes verweisen sowohl der selbstgewählte Name Ruth als auch der Familienname auf den Autorinnennamen. Auffällig ist, dass in der amerikanischen Version Still alive der Bezug auf eine außerhalb des Textes bestehende Referenzebene noch deutlicher hervorgehoben wird. Anders als in weiter leben stimmen die Namen in Still alive mit den realen Namen der außerhalb des Textes existierenden Personen überein. So wird der Freund Christoph aus weiter leben in Still alive explizit als Martin Walser benannt, die Schwester wird von Ditha zu Susi, auch die Freundinnen tragen in Still alive ihre realen Namen.139 Der persönlichere, referentiellere Charakter wird zusätzlich unterstrichen durch die Ersetzung des verallgemeinernden ›man‹ des deutschen Textes durch das ›ich‹ der amerikanischen Version.140 1995 wurde Binjamin Wilkomirskis gefälschte Holocaust-Autobiographie Bruchstücke veröffentlicht, die eine hitzige Debatte auslöste, in der auch Klüger sich zu Wort gemeldet hat.141 Damit fällt die Diskussion um den Wahrheitsanspruch autobiographischer Texte und ihre Referentialität – und damit die grundsätzliche Frage des Genres – in die Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung von Klügers deutschem und amerikanischem Erinnerungstext, wie McGlothlin begründet hervorhebt. Die amerikanische Version Still alive ist in diesem Kontext als Antwort auf die anhaltende Diskussion um die Frage des Verweischarakters autobiographischer Texte auf eine außertextuelle Wirklichkeit zu lesen, die im Bereich der Holocaust-Literatur von besonderer Relevanz ist.142 Die Autobiographie unterscheidet sich vom Roman – um Klügers Definition zu wiederholen – durch ihren ›Wirklichkeitsanspruch‹. Autobiographisches Schreiben, insbesondere über den Holocaust, kommt einer ›Zeugenaussage‹ gleich. Eine solche ›Zeugenaussage‹ bedarf eines Ichs als Zentrum, das im Falle der Autobiographie auf die hinter dem Text stehende Autorin verweist. Neben dem ›referentiellen Pakt‹ muss also die Existenz eines einzigen Ichs vorausgesetzt sein, das die disparaten Erfahrungen zusammenhält. 139 140 141

142

Vgl. Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 326. Ebd. Vgl. dazu Ruth Klüger: Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In: Süddeutsche Zeitung, 30. September 1998. – Dies., Fakten und Fiktionen (wie Anm. 21), S. 90f. – Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag 1998. – Vgl. hierzu McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 48f. Vgl. dazu McGlothlin: »Appearing as it does after the crisis initiated by the Wilkomirski controversy, Klüger’s second autobiographical text can be viewed as a reaffirmation of the autobiographical pact with the reader whereby she, as author and narrator, explicitly attests to the authenticity of her experience.« – Ebd., S. 49f.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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4.2.3 Das autobiographische Ich Die disparaten Erfahrungen von erinnerndem Ich der Schreibgegenwart und erinnertem Ich der Vergangenheit werden in weiter leben durch ihre durchgängige Bezeichnung als ›ich‹ zusammengehalten. Auch bei Klüger wird damit kein ›dezentriertes Subjekt‹ dargestellt. Identität entsteht vielmehr in der Anerkennung der Zugehörigkeit der disparaten Erfahrungen zu einem einzigen Ich.143 Erinnertes Ich der Vergangenheit und erinnerndes Ich der Gegenwart werden als verschiedene Stadien desselben Ichs gekennzeichnet: »Da war ich nicht mehr acht Jahre alt, sondern schon so, wie ich jetzt bin […]« (7). Zwar wird – wie ich im folgenden Kapitel darstellen werde – gerade die durch die Erinnerung entstehende Distanz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich auch in Klügers autobiographischem Projekt zum poetologischen Konzept. Wechsel des Namens oder des Personalpronomens, wie sie etwa Cordelia Edvardson oder – in anderem Kontext – Christa Wolf und Jan Philipp Reemtsma als literarisches Mittel der Distanzerzeugung zwischen erinnerndem und erinnertem Ich dienen, finden jedoch in weiter leben keinen Einsatz. Zwar habe sie, so Klüger, beim Schreiben Distanz, sogar Befremden gegenüber dem damaligen Kind empfunden und hätte es gern in ein »objektiviertes Anderes, Fremdes, ein Sie statt einem Ich« eingeschlossen. Dies war ihr jedoch nicht möglich: Aber da sprang sie gleich […] an mir hoch und ließ mich wissen, daß sie für mich ›das alles durchgestanden‹ hätte, damit ich erwachsen und alt und objektiv und distanziert werden könne. Und wollte nicht draußen gelassen werden. Da nahm ich sie mit, in das Ich meines Buches.144

Der Zuschreibung einer ›zerstörten‹ oder ›gestohlenen‹ Kindheit verwehrt sich das erinnernde Ich folglich entschieden.145 So lautet die Passage in Still alive, die sich als Antwort auf die Rezeption von weiter leben lesen lässt: People say pityingly, ›You didn’t have a childhood. You lost your childhood.‹ But I say, this, too, was childhood, I grew up, and I learned something, as every child does who grows up. Who grows older. I would have learned differently and better and would have learned different and better things under other, more normal cir143

144

145

Klüger selbst hat dies in Bezug auf weiter leben folgendermaßen formuliert: »Kein Thema jedoch ist ein fragmentiertes, zersplittertes Ich.« – Dies., Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 410. Dies.: Zeugensprache. Koeppen und Andersch. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Hg. von Stephan Braese u. a. Frankfurt a. M., New York: Campus 1998 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts; 6), S. 173–181, hier: S. 174. Ich beziehe mich hier auf den Titel von Eva Lezzi (Zerstörte Kindheit) sowie die Bewertung von Marcel Reich-Ranicki: »›Eine Jugend‹ lautet der Untertitel, doch ist die Rede von einem jüdischen Mädchen, dem man die Kindheit gestohlen und die Jugend geraubt hat.« – Marcel Reich-Ranicki: Vom Trotz getrieben, vom Stil beglaubigt. Rede auf Ruth Klüger aus Anlass der Verleihung des GrimmelshausenPreises. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Oktober 1993.

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cumstances. And I wish it had been different. I would give a lot if I could look back on a different childhood. But it was as it was. And, I repeat, this, too, was childhood (122).

Die Einheit von beiden wird nicht nur durch die durchgängige Verwendung des Personalpronomens ›ich‹, sondern auch durch den Vornamen Ruth erzeugt, der – nachdem er vom erinnerten Ich zum Rufnamen gewählt worden ist – durchgängig beibehalten wird und ebenso das erinnernde Ich der Erzählgegenwart bezeichnet.146 Widersprüchliche Haltungen sind dabei nicht als Hinweis auf ein ›gespaltenes Ich‹ zu lesen, sondern im Gegenteil als identitätskonstituierende Eigenschaft des Ichs: als Verweigerung gegenüber vereinfachender Einordnung. Dies geschieht durch die Gegenüberstellung einander widersprechender Beurteilungen desselben Sachverhalts. So heißt es über Theresienstadt bekanntlich zunächst, sie habe es »geliebt«, um dieser Aussage wenig später entgegen zu setzen, sie habe Theresienstadt »gehasst« (102f.). An anderer Stelle entgegnet das erinnernde Ich auf die Aufforderung, sich die KZ-Nummer vom Arm entfernen zu lassen: »Sollten die nicht analysieren, warum der Anblick einer solchen Nummer sie so aggressiv stimmt?« (235) Doch auch die gegenteilige Aufforderung, die Nummer nicht zu verdecken, wird abgewehrt: Warum nicht? Man kann ja Verschiedenes wollen zu verschiedenen Zeiten. Warum die Vorschriften, die doch, wie jede Form von Zwang, suspekt sein sollten? Es ist wie mit angeheirateten Namen, wenn man geschieden ist: Manche wollen sie loswerden, manche wollen sie behalten. Die Wahl, scheint mir, ist moralisch neutral (236).

Das Prinzip der Verweigerung gegenüber eindeutiger, endgültiger Festlegung beschränkt sich nicht auf den deutschen Text. Vielmehr strukturiert es Klügers gesamtes autobiographisches Projekt: Die Existenz zweier ›autobiographischer Sprechakte‹, die in ihrer Unterschiedlichkeit nebeneinander bestehen und auf diese Weise zu einem Abgleich beider Versionen herausfordern, lese ich in diesem Kontext als Verlängerung der Verweigerung gegenüber festschreibender Vereinnahmung. Äußerlich manifestiert sich die nicht festschreibbare Zugehörigkeit am Stifterschen Motiv der Wohnungseinrichtung. Gleich zu Beginn bezeichnet das erinnernde Ich sich als »eine, die leicht was fallen läßt, mit oder ohne Absicht, auch Zerbrechliches, Geschirr und Liebschaften, nirgendwo lange tätig ist und oft auszieht, aus Städten und Wohnungen« (7). So ist es ihre Freundin Anneliese, die ihre wechselnden Wohnungen »einrichtet« (256). In ihrem Essay zum Innendekor bei Stifter deutet Klüger den Unterschied zwischen »Menschen, die sich einrichten können, und solche[n], denen es mißlingt«, als Ausdruck ihrer Unzugehörigkeit – Menschen, die leben, »wo sie nicht geboren wurden, oder Vergangenheit und Gegenwart sind durch einen Riß getrennt«, keine Einheimischen, die »aus einer Tradition kommen und 146

Einzige Ausnahme ist der während der Flucht mit den falschen Papieren angenommene Name.

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diese mit relativ geringer Anstrengung weiterreichen können«.147 Beide Aspekte – die unerledigte persönliche Vergangenheit und das Leben dort, wo man nicht geboren wurde – sind kennzeichnend für das erinnernde Ich. Ich werde hierauf in den folgenden Überlegungen sowie in Kapitel 4.2.5 zurückkommen. Die Existenz eines einzigen Ichs wird dennoch nicht in Frage gestellt. Identität entsteht – wie bei Friedländer – in der Anerkennung der Zugehörigkeit der disparaten Lebensabschnitte zu einem Ich. Das erinnernde Ich in weiter leben formuliert dies folgendermaßen: »Nur an meinen Unversöhnlichkeiten erkenn ich mich, an denen halt ich mich fest« (279). Wie Friedländer stellt auch Klüger die Möglichkeit einer chronologisch nacherzählbaren Lebensgeschichte in Frage, indem sie die sich formal an ›klassischen‹ Autobiographien orientierende Einteilung in aufeinander folgende, abgeschlossene, an Orte gebundene Kapitel durch Einschübe des erinnernden Ichs, Vor- und Rückgriffe sowie Reflexionen von vornherein hinterfragt. Auch Klüger geht also nicht davon aus, das vergangene Ich im autobiographischen Schreibakt ›einholen‹ zu können. Zentral für ihr autobiographisches Projekt ist vielmehr die Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Erinnerungsprozessen, die ich im folgenden Kapitel zunächst auf der Ebene des persönlichen Ichs untersuchen werde.

4.2.4 Unabschließbares Identitätsprojekt: Auseinandersetzung mit der Funktionsweise autobiographischer Erinnerungsprozesse in weiter leben und Still alive. Sprachwechsel Klüger selbst hat weiter leben als »Erinnerungsbuch« bezeichnet: »Es ist ja so, daß wir die Vergangenheit überhaupt nicht haben im Sinne von: in den Händen halten, außer in der Erinnerung. Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung«.148 Das Anliegen des autobiographischen Textes – so formuliert es das erinnernde Ich – ist, durch die Erinnerungen »zur eigenen Vergangenheit durchzudringen« (32) und auf diese Weise der persönlichen Geschichte näherzukommen. Persönliche Vergangenheit und Erinnerung sind also untrennbar miteinander verbunden: »Ich denke dann, die wollen mir mein Leben nehmen, denn das Leben ist doch nur die verbrachte Zeit, das einzige, was wir haben, das machen sie mir streitig, wenn sie mir das Recht des Erinnerns in Frage stellen« (73). Dass der Vorgang autobiographischen Erinnerns dabei die Vergangenheit nicht ›abbildet‹, formuliert Klüger durch das Bild des ›Filters der

147 148

Ruth Klüger: Der eingerichtete Mensch. Innendekor bei Adalbert Stifter. In: Dies., Katastrophen (wie Anm. 2), S. 108–132, hier: S. 126. Naumann im Gespräch mit Klüger (wie Anm. 120), S. 38.

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Erinnerung‹, »der die dazwischenliegenden Jahre mit dem Damals vermischt und eine Vergegenwärtigung erschwert«.149 Die Funktionsweise autobiographischer Erinnerungsprozesse wird in weiter leben sowohl explizit kommentiert als auch durch den Einsatz verschiedener literarischer Strategien und Motive – insbesondere das des Gespenstes – inszeniert und hinterfragt und steht damit bereits im Mittelpunkt des deutschen Erinnerungstextes (4.2.4.1).150 Die Unabschließbarkeit des persönlichen Identitätsprojekts lässt sich jedoch erst gänzlich beschreiben, wenn man die amerikanische Version von Klügers Erinnerungstext als Verlängerung des autobiographischen Projekts begreift (4.2.4.2). 4.2.4.1 Inszenierung individueller Erinnerungsprozesse in weiter leben Es sind die Gespenster, die ihr »ein Bein gestellt« und damit – um im Stifterschen Bild zu bleiben – das ›Innendekor‹ des erinnernden Ichs durcheinander gebracht haben: »Es war, als hätten Einbrecher alles durcheinandergeworfen, die sorgfältig verpackten alten Papiere aus hinterster Ecke hervorgeholt [...] und uralte Gegenstände, von denen man glaubt, man hätte sie längst in den Müll geworfen, wieder ans Tageslicht gezerrt« (276). Dabei liegt in der Akzeptanz der ›Unordnung‹, d. h. der Unmöglichkeit, die Erfahrungen in eine einheitliche Lebensgeschichte zu integrieren, die eigentliche Annäherung an das eigene Ich: »Nach und nach merkt man, daß in dem anscheinend heillosen Chaos mehr vom eigenen Ich steckt als in den früheren, scheinbar geordneten Verhältnissen« (276). Es ist die Anerkennung der Disparatheit der einzelnen Anteile des Ichs, die zumindest die Möglichkeit eines Zur-Ruhe-Kommens anklingen lassen: »Jetzt könnten sie [die Gespenster, K. M.]« – so das erinnernde Ich am Textende vorsichtig im Konjunktiv – »mich in Ruhe lassen und mir weiteres Umziehen ersparen« (284). Über die Erinnerung an die Toten hinaus sind die ›Gespenster‹ – so betont Klüger in ihrer Interpretation von Peter Huchels Soldatenfriedhof – gleichermaßen Ausdruck der eigenen Projektionen und Ängste, der eigenen unverarbeiteten Vergangenheit: »Geht der Spuk da nicht von den Köpfen der Davongekommenen aus, die den Krieg und seine Opfer zurücknehmen, ungeschehen machen möchten? Sind die wahren Unfertigen, Unvollendeten die Bewohner der durch die Toten unheimlich gewordenen Stadt [...]?«151 Sie beginnt, sich mit ihren Gespenstern auseinanderzusetzen. In diesem Prozess kommt der Beschäftigung mit der Funktionsweise autobiographischer Erinnerungsprozesse eine entscheidende Rolle zu. Erinnerungen sind – wie in Friedländers Erinnerungstext – zunächst durch eine ›Rhetorik der Erinnerung‹ explizit als solche gekennzeichnet. Das erin149 150 151

Klüger, Von hoher und niedriger Literatur (wie Anm. 2), S. 54. Vgl. hierzu Angerer, ›Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung‹ (wie Kap. 1, Anm. 15). Ruth Klüger: Nachkriegsspuk. Zu Peter Huchel: Soldatenfriedhof. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben (wie Anm. 2), S. 112ff., hier: S. 113f.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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nernde Ich ist sich der Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerungen bewusst. So heißt es im Zusammenhang mit dem Halbbruder: »Ja, und das ist schon alles. Das andere ist Hörensagen« (20), und auch die Erinnerung an das Kindermädchen wird in ihrer Begrenztheit hervorgehoben: »Wieder muß ich sagen, das ist alles« (56). Zeitpunkte werden fehlerhaft erinnert – »Die Erinnerung spült zurück. Die meisten von uns, die den Judenstern getragen haben, meinen, sie hätten ihn schon viel früher tragen müssen. Auch ich irre mich da, muß nachschlagen« (48). Einige Erinnerungen werden mit Vorbehalt formuliert – »Ich glaube mich zu erinnern, daß Frühling und Sommer 1943 strahlende Jahreszeiten in Theresienstadt gewesen sind« (100) –, andere Ereignisse sind gänzlich in Vergessenheit geraten: »Ich erinnere mich übrigens nicht an den Kriegsausbruch« (29). Zudem betont das erinnernde Ich die Rolle der Phantasie – dort, wo die Erinnerung nicht mehr greift. So heißt es über die Mutter: »[I]n ihrem Kopf müssen die unheimlichsten Bilder spuken, teils erdachte, teils erinnerte [...]« (95). Die Vorläufigkeit und Flüchtigkeit von Erinnerungen fasst das erinnernde Ich im Bild des ›unerase‹-Programms im Computer: »Gelöschtes kann wieder aufgerufen werden, weil die elektronischen Impulse noch auf der Festplatte oder der Diskette auffindbar sind, solange nicht darübergeschrieben wurde« (271). An anderer Stelle ruft sie eine andere, wohlbekannte Gedächtnismetapher auf: Benjamins Bild des Grabens vom gegenwärtigen Standpunkt aus, das in sich sowohl die Intentionalität des Erinnerns als auch die Zufälligkeit des Ergebnisses vereint.152 Der Zugang zu diesen Gedächtnisbrocken, so wird auch in weiter leben betont, ist immer nur vom Standpunkt der Gegenwart aus möglich: »Hier in Göttingen, wo ich diese Gedächtnisbrocken im Jahre 1989 ausgrabe [...]« (157). Trotz der Betonung der Gegenwärtigkeit ist das Bild der ›Gedächtnisbrocken‹ entscheidend, das impliziert, dass einzelne Erinnerungsfragmente auch nachträglich noch in ihrer ursprünglichen Form zugänglich sind. Auffällig in diesem Kontext ist dabei auch bei Klüger die Betonung der Dauer und Dominanz der Kindheitserinnerungen, die sich gegenüber späterer Veränderung hartnäckig zu versperren scheinen: »[M]an rüttelt umsonst an den in der Kindheit geprägten Bildern« (27).153 Damit rückt 152

153

Die entsprechende Passage aus Walter Benjamins Berliner Chronik lautet folgendermaßen: »Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. […] [G]ewiß bedarf es, um Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich […]. Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche […].« – Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bde I–VII. Unter Mitwirkung von Thoedor W. Adorno und Gershom Scholem. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972–1989. Bd VI: Fragmente vermischten Inhalts, Autobiographische Schriften, S. 486f. Vgl. dazu auch Andrea Krauß: Dialog und Wörterbaum. Geschichtskonstruktionen in Ruth Klügers ›weiter leben. Eine Jugend‹ und Martin Walsers ›Ein springender Brunnen‹. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen

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– analog zu Friedländer – auch in Klügers Text der Zusammenhang von ›Wissen‹ und ›Erinnerung‹ in den Blick: Weder gelingt es, das nachträglich erworbene Wissen über den gewaltsamen Tod des Vaters in Auschwitz zu verdrängen, noch lässt es sich mit der Kindheitserinnerung in ein einheitliches Bild fassen, verbleibt als Phantasie: »Ich sehe meinen Vater in der Erinnerung höflich den Hut auf der Straße ziehen, und in der Phantasie sehe ich ihn elend verrecken, ermordet von den Leuten, die er in der Neubaugasse begrüßte, oder doch von ihresgleichen. Nichts dazwischen« (27). Ein einheitliches Bild von ihrem Vater, eins, das in »einen geistigen Rahmen passt und nicht in ein Dutzend Momentaufnahmen zersplittert« (27), existiert nicht: Ich erzähle diese Kindereien, weil sie alles sind, was ich von ihm habe, und obwohl ich sie beim besten Willen nicht zusammenbringe mit seinem Ende; weil ich mich, ohne in ein falsches Pathos zu geraten, nicht umstellen kann auf das, was ihm geschehen ist. Aber auch nicht loslösen kann. Für mich war mein Vater der und der. Daß er schließlich nackt im Giftgas krampfhaft nach einem Ausgang suchte, macht alle diese Erinnerungen belanglos bis zur Ungültigkeit. Bleibt das Problem, daß ich sie nicht durch andere ersetzen und auch nicht löschen kann. Ich bring’s nicht zusammen, da klafft etwas (26f.).

Das erinnernde Ich vergleicht diese Unvereinbarkeit der Erinnerung an den Vater und später erworbenem Wissen um seine (vermeintlichen) Todesumstände mit jener Zeichnung, die man sowohl als Ente oder als Geldbörse sehen kann, aber nicht als beides gleichzeitig […]. Keine Notwendigkeit hält diese disparaten Vaterfragmente zusammen, und so ergibt sich keine Tragödie daraus, nur hilflose Verbindungen, die ins Leere stoßen oder sich in Rührseligkeit erschöpfen (28).

So ist das Gedächtnis ein »Gefängnis« (27), lassen gerade die klarsten Erinnerungen eine Annäherung an das wirkliche Geschehen nicht zu, »weil sie sich auf nichts einlassen, was außerhalb ihrer selbst liegt, und den auf ein später entwickeltes Urteil und weiteres Wissen gegründeten Gedanken stur ihre eigene Beschränktheit entgegensetzen und daher auch keine kommensurablen Gefühle aufkommen lassen« (28).154 Zu fassen bekommt sie den Vater durch ihren Erinnerungstext nicht: »Mein Vater ist zum Gespenst geworden. Unerlöst geistert er. Gespenstergeschichten sollte man schreiben können« (28). Auf das Motiv des Gespenstes werde ich im Kontext der sich wandelnden Auseinandersetzung mit dem Vater und dem Bruder zurückkommen (Kapitel 4.2.4.2). Der eigene Erinnerungstext kann folglich nichts anderes leisten, als die Diskrepanz zwischen späterem Wissen und der Erinnerung bewusst zu machen, anstatt sie in eine ›lückenlose‹ Geschichte zu integrieren und damit – um Friedländers Ausdruck zu gebrauchen – den ›Überschuss‹ einzuebnen: »Ich

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Literatur nach 1989. Hg. von Barbara Bäßlich und Olaf Hildebrand. Berlin: Schmidt 2006, S. 69–85, hier: S. 76. Vgl. hierzu von der Lühe, Das Gefängnis der Erinnerung (wie Anm. 131), S. 30ff.

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kann’s nicht besser machen und versuche vor allem, dieses, wie mir scheint unlösbare Dilemma am Beispiel meiner eigenen Unzulänglichkeit zu demonstrieren« (28).155 Die Gegenwärtigkeit von Erinnerungsprozessen wird auch in weiter leben durch die deutliche Trennung von erinnerndem Ich der Gegenwart und erinnertem Ich der Vergangenheit inszeniert, durch die eine unvermittelte Annäherung an die Kindheitsperspektive von vornherein als illusorisch entlarvt wird. Die geschilderten Erinnerungen an die Vergangenheit werden reflektiert, unterbrechen als Paranthese den Textfluss und markieren auf diese Weise die Distanz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich. Besonders deutlich wird der Abstand zwischen beiden in den Passagen, in denen der Blick von außen auf sich selbst größtmögliche Distanz erzeugt und so die Funktionsweise von ›Beobachtererinnerungen‹ abbildet – wie etwa in der Szene der Selektion: »Und ich sehe mich gebückt an der Barackenwand entlanglaufen. Warum gebückt? Um mich kleiner zu machen, um das bißchen Schatten auszunutzen?« (130) Unvermittelte Tempuswechsel ins Präsens heben zudem eine klare Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Durch dieses Verfahren wird sowohl die Bedeutung gegenwärtiger Auslöser (›Trigger‹) auf die Erinnerungen als auch – andersherum – der Einfluss vergangener Erfahrungen auf die Wahrnehmung der Gegenwart hervorgehoben. Deutlichstes Beispiel hierfür ist die Einordnung des Unfalls in Göttingen als erneute Verfolgung in Deutschland: Seine Fahrradampel, ich war stehengeblieben, um ihn ausweichen zu lassen, er versucht aber gar nicht, um mich herumzukommen, er kommt gerade auf mich zu, schwenkt nicht, macht keinen Bogen, im letzten Bruchteil einer Sekunde springe ich automatisch nach links, er auch nach links, in dieselbe Richtung, ich meine, er verfolgt mich, will mich niederfahren, helle Verzweiflung, Licht im Dunkel, seine Lampe, Metall, wie Scheinwerfer über Stacheldraht, ich will mich wehren, ihn zurückschieben, beide Arme ausgestreckt, der Anprall, Deutschland, ein Augenblick wie ein Handgemenge, den Kampf verlier ich, Metall, nochmals Deutschland, was mach ich denn hier, wozu bin ich zurückgekommen, war ich je fort? (271f., Hervorhebung im Original)

Durch die Inszenierung solcher ›Blitzlichterinnerungen‹ wird zudem auf den Zusammenhang von Emotionen und Erinnerung verwiesen: Es sind emotional besonders besetzte Szenen, die durch die Schilderung im Präsens bis in die Gegenwart hinein verlängert werden. So heißt es über den Moment der Flucht: »Das Gehöft, auf dem wir über Nacht verstaut werden sollten, lag auf einer kleinen Anhöhe. Der verlöschende Funke Energie züngelt, sprüht, wird zum Feuerwerk, schlägt Räder im Hirn. Wir sechs machen kehrt, laufen die Straße hinunter« (168). 155

Vgl. hierzu dies.: »Mit der Irreversibilität der Kindheitsbilder erfährt sie zugleich die Unmöglichkeit gestaltenden, deutenden Erzählens über das eigene Leben. Die als Gefängnis empfundenen Kindheitsbilder […] erlauben keine Geschichte, nicht einmal ein vom Ende her strukturierbares Erzählen.« – Ebd., S. 32.

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Bevor ich im Folgenden auf die Verlängerung des autobiographischen Projekts durch den amerikanischen Paralleltext eingehe, soll ein Vergleich der verschiedenen Textausgaben von weiter leben illustrieren, dass bereits innerhalb der deutschen Version Erinnerung in ihrer Veränderlichkeit und damit das autobiographische Projekt als unabschließbares gekennzeichnet wird. Der zweite Teil der Erstausgabe von 1992 endet mit dem oben zitierten Moment der Flucht. Die Taschenbuchausgabe von 1994 dagegen ist durch folgende Angabe ergänzt, die – kursiv gedruckt und mit Seitenverweis – den Charakter einer Fußnote erhält: Nachdem dieses Buch erschienen war, erhielt ich Nachricht von der auf S. 153 erwähnten Vera. Sie hatte eine Rezension gelesen und hoffte, ich sei’s. […] Vera war mit anderen Frauen von Christianstadt nach einem langen, qualvollen Marsch in überfüllte Züge verfrachtet und nach Bergen-Belsen transportiert worden. (Nicht Flossenbürg, wie ich, einem unverläßlichen Nachschlagewerk folgend, irrtümlich angenommen hatte, s. S. 76 f.) Dort wurden die Überlebenden schließlich von den Engländern befreit (169, Hervorhebung im Original).

Durch die Ergänzung des ursprünglichen Textes wird deutlich, dass Erinnerung, indem sie kommuniziert wird, Veränderungen unterworfen ist. Anstatt die fehlerhafte ursprüngliche Version für die Neuauflage zu korrigieren, wird sie erhalten, durch die nachträgliche Anmerkung ergänzt und so die Prozesshaftigkeit von Vergangenheitsversionen in den Blick gerückt. 4.2.4.2 Unabschließbarkeit des Identitätsprojekts: Von weiter leben zu Still alive Im Folgenden wird es darum gehen, exemplarisch am Umgang mit dem Tod des Vaters und des Bruders sowie insbesondere am veränderten Verhältnis zur Mutter nachzuvollziehen, inwiefern sich die Existenz zweier in zeitlichem Abstand verfasster Texte als ›Abbild‹ der Prozesshaftigkeit autobiographischer Identitätsprojekte lesen lässt. Die Erinnerung an die Familienmitglieder beschränkt sich dabei nicht auf eine Erinnerung an die Toten, sondern ist untrennbar verwoben mit der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Erinnerung an den Vater Das Verhältnis zum Vater wird bereits in weiter leben als unabgeschlossenes beschrieben. Die letzte gemeinsame Szene mit ihm, ein Essen im Familienkreis nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis, ist dem erinnernden Ich zum Sinnbild dieser Unabgeschlossenheit geworden: Ruth wird dem Vater in ihrem Verlangen nach Aufmerksamkeit zu aufdringlich. Er verprügelt sie vor den Augen der besten Freundin. Die Bedeutung dieser Szene liegt nicht so sehr in der begangenen Ungerechtigkeit als vielmehr darin, dass sie das letzte bewusste Zusammentreffen mit dem Vater darstellt – eine Ungerechtigkeit, die nicht mehr aufgelöst werden kann: »Das ist der letzte starke Eindruck, den er hinter-

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lassen hat […]. Unkorrigierbar sind die aus der Erinnerung gespeisten Gefühle. Ist es nicht etwa so, daß ich ihm seinen Tod verüble, weil das geschlagene Kind keine Gelegenheit mehr hatte, sich mit ihm zu versöhnen?« (30) Bis in die Gegenwart dauert die Bestrebung an, es dem Vater recht zu machen – ausgedrückt durch das wiederholte »Siehst du« und die Botschaften des Vaters, die bis in die Gegenwart hineinreichen. So heißt es etwa im Zusammenhang mit dem von ihm erlernten Schachspiel: Es gab sogar Wochen […] in denen ich ein wenig […] besessen davon war, mir auch Schachbücher anschaffte und Meisterspiele studierte. Dahinter stand dieses an den Vater gerichtete: ›Siehst du, du hast deine Zeit doch nicht verschwendet. Nichts hab ich vergessen, sogar noch dazugelernt hab ich, wenn ich’s auch halt nicht so gut kann, wie du es erwartet hast.‹ Dieses ›Siehst du‹. Neulich hab ich sogar versucht, gegen einen Computer zu spielen, und dachte wieder einmal an ihn: diese Computerspiele, das hätte er unter Umständen noch erleben können (25).

Dass die Auseinandersetzung mit der Beziehung zum Vater bis in die Schreibgegenwart des amerikanischen Paralleltextes von Unabgeschlossenheit bestimmt ist, die dort noch stärker betont wird, wird deutlich, wenn man die Ergänzung dieser Passage in Still alive zum Vergleich heranzieht. Dort erscheint ihr das Gespenst des Vaters bei ihren Besuchen in Wien, um ihr den Weg zu weisen (32). An anderer Stelle heißt es im Zusammenhang mit der Schreibmaschine, die in der deutschen Textfassung lediglich der Illustration der Unberechenbarkeit des Vaters dient, in Still alive: There, you see, […], who needs a worthless old typewriter? Look what I have instead: here a laptop, there a PC. […] [L]ast year I even gave one of these things to your great-granddaughter […]. (Is my life running circles round me? For all my many moves, shall I live forever in the Lindengasse in Vienna and give a computer to a child because I couldn’t play with my father’s manual typewriter? Everything to do with him is unfinished; nothing was ever resolved.) (33)

Die Ungelöstheit, die durch das Motiv des Gespenstes hervorgehoben wird, resultiert vor allem aus der Ungewissheit über die genauen Umstände seines Todes. Nachdem der Vater wegen einer illegal durchgeführten Abtreibung verraten, im Gefängnis inhaftiert und schließlich durch die Initiative der Mutter freigelassen wird, muss er das Land verlassen, geht zunächst nach Italien. Da die übrigen Familienmitglieder die Reichsfluchtsteuer nicht aufbringen können, müssen sie in Wien bleiben. Von Italien flieht der Vater weiter nach Frankreich, wo er im Lager von Drancy interniert und schließlich – so die jahrzehntelange Annahme des erinnernden Ichs – nach Auschwitz deportiert wird. Bis in die Schreibgegenwart von weiter leben dauert die Beschäftigung mit dem Tod des Vaters an: »Wo kein Grab ist, hört die Trauerarbeit nicht auf. Oder wir werden wie Tiere und leisten gar keine. Mit Grab meine ich nicht eine Stelle auf einem Friedhof, sondern das Wissen um das Sterben, den Tod eines Nahestehenden« (94). Die Unmöglichkeit eines Abschließens mit dem Tod des Vaters wird – und hierin liegt eine der entscheidenden Veränderungen

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des amerikanischen Textes – durch das veränderte Wissen über die Todesumstände des Vaters noch stärker betont:156 Nach der Veröffentlichung von weiter leben in Frankreich erhält das erinnernde Ich von einer französischen Leserin die Information, dass der Vater aus Drancy nicht nach Auschwitz, sondern nach Litauen oder Estland deportiert wurde. Durch diese Information wird nach Jahren auf einmal die Gewissheit, die zumindest über den Todesort des Vaters zu bestehen schien, erschüttert: I should be relieved that he didn’t die that ultimate nightmare of a death, in a crowded gas chamber, that it was a different, and perhaps a slightly lesser, nightmare. But now my mental furniture has to be rearranged, and it feels as if I am running through my house in the dark, bumping into things. How did they die then? I know so little about who he was, and now I don’t even know this final, inalterable fact (40, Hervorhebung im Original).

Ein Abschließen mit der Geschichte der Ermordeten ist nicht möglich: »These stories have no end. As long as we live and care, they have no end. […] So here are the two versions, the one with which I have lived for more than half a century, and the other still new and undigested« (40). »Vom Gespenst meines Bruders will ich erzählen«: Erinnerung an den Bruder Auch in der Erinnerung an den Bruder unterscheidet sich die amerikanische Version deutlich von der deutschen. Wird die Unabgeschlossenheit des Verhältnisses zum Vater durch das veränderte Wissen um die Umstände seines Todes in Still alive noch verstärkt, zeichnet sich der Umgang mit dem Tod des Bruders dagegen durch eine größere Abgeschlossenheit aus, die in engem Bezug zum Älterwerden des erinnernden Ichs steht.157 Der Bruder ist noch vor ihrer Ankunft in Theresienstadt nach Riga deportiert und dort erschossen worden. Wiederum ist es die Ungewissheit über die genauen Todesumstände, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen: »Ich kannte die Tatsache, aber nicht die konkreten Einzelheiten, und gerade die plagten mich« (95). In Still alive ist die andauernde Präsenz des Gespenstes des Bruders in der Gegenwart der 1950er Jahre im Gedicht »Halloween and a ghost« gefasst.158 Hier erscheint dem erinnerten Ich der Bruder zu Halloween an der Haustür, zusammen mit den anderen Kindern: »Dead boys shouldn’t walk the streets. / Real ghosts shouldn’t wear real sheets. / The heart may break of tricks and can’t give treats« (81). In der zweiten Strophe wird er zum permanent Abwesenden und ist gerade durch diese Abwesenheit immer präsent – beson156 157 158

Vgl. Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 327f. Ebd., S. 327. Für eine eingehende Analyse des Motivs des Gespenstes und insbesondere der Gedichte in Still alive als Stadien der Trauerarbeit vgl. den Aufsatz von Catherine Smale: ›Ungelöste Gespenster‹? Ghosts in Ruth Klüger’s autobiographical project. In: Modern Language Review 104 (2009) (im Erscheinen).

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ders eindringlich gefasst im Bild der im Computer gelöschten »Schriftgespenster« (Yoko Tawada): You are the skipped sentence in the book I’m reading. You are the kitchen knife that slips into the thumb. Memory: the autonomous twitch of an aching muscle. You are the word that is always mistaped And, erased, defaces the page. (81)159

Gewissheit über die genauen Todesumstände des Bruders erhält das erinnerte Ich während eines Essens mit Kollegen aus Princeton – ausgerechnet von dem eingeladenen Gastredner, dessen Beschreibung eindeutig auf Friedländer verweist: ›Aber wenn alles gesagt und erklärt ist, so bleibt immer noch ein Rest, den wir nicht verstehen, etwas, das nicht zu vereinbaren ist mit der menschlichen Psyche, wie wir sie zu kennen glauben‹, sagte der Gast, ein gebürtiger Tscheche. ›Zum Beispiel der Tod eines Transports in Riga.‹ (96f.).160

Es ist der Anschluss an diese Passage, der den Umgang mit dem Tod des Bruders in beiden Versionen erheblich voneinander unterscheidet. In weiter leben liegt der Akzent auf der Unmöglichkeit eines Abschließens mit der Ermordung der Angehörigen: »Unübersteigbarer Stacheldraht zwischen uns und den Toten. Ich hatte schon früher versucht, sie in Bilder und Worte zu bannen. […] Sie ließen sich nicht bannen« (97). Eine Aussöhnung mit den Toten gelingt nicht. Dabei geht die Verweigerung von den Toten aus, wie die dritte Strophe des eingefügten Gedichts »Jom Kippur« verdeutlicht: »Und ihr helft uns nicht und bleibt uns entzogen, / Ihr verweigert Versöhnung zur Jahreswende, / Und ihr stoßt von euch unsre Münder und Hände, / Wie unreine Tiere aus Synagogen« (98). Die Passage endet mit der Resignation und Verweigerung des erinnernden Ichs: Wenn ich euch nicht versöhnen kann, dann laßt es bleiben. Ich kann nicht eure Gräber mit euch schaufeln. Wer nicht mit euch starb, muß anders und zu einem anderen Zeitpunkt sterben. Ich hadere mit ihnen […]: ›Den Eintrittspreis zahl ich nicht, noch nicht‹, und jedes Mal wenn ich schwerkrank war und mich wieder erholte, trotzig, ›Noch immer nicht‹ (98f., Hervorhebung im Original). 159

160

Die Präsenz als verschwundene, verdrängte Textpartikel (»Schriftgespenster«) beschreibt Yoko Tawada folgendermaßen: »Jeder Buchstabe ist der Rücken einer Person. Er kann sich jeder Zeit umdrehen. Ein Autor, der glaubt, sein eigener Text müßte ihm bis zum letzten Buchstaben vertraut sein, täuscht sich: Wenn ein Buchstabe sich umdreht, wird ein fremdes Gesicht sichtbar.« – Yoko Tawada: Verwandlungen. Prosa, Lyrik, Szenen & Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag C. Gehrke 1998, S. 251. In Still alive ist die Anspielung auf Friedländer durch den Verweis auf sein Versteck in Frankreich noch deutlicher – vgl. S. 83.

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In Still alive dagegen fehlt die Metapher des Stacheldrahts zwischen den Lebenden und den Toten, das Zurückziehen der Toten – das Gedicht ist vollständig ausgespart. Die Passage ist ersetzt durch die Erläuterung des Schuldgefühls, selber überlebt zu haben, während dem Bruder das Leben genommen wurde: »So throughout the years I felt that I had something which he should have, too, that one of us was the other’s shadow, and I was never quite sure which was which« (83). Erst das eigene Älterwerden lässt sie mit dem Tod des Bruders abschließen: Then one day I woke up to the fact that it would have been his seventieth birth-year. And I said to him, with the logic of our long, one-sided relationship: ›Even if you had lived, it would be essentially over by now. Granted you didn’t have the years that were due you, but they would be used up by now. I can go into my own old age and no longer feel that I am feeding off a patrimony of time that was meant for both of us. Good-bye, brother‹ (83).

Die größere Ruhe im Umgang mit dem Schicksal des Bruders geht – und auch hierin unterscheidet sich die amerikanische Version von der deutschen – dabei von ihr selber aus, die aktive Rolle der Gespenster bleibt unberücksichtigt. Die Verabschiedung vom Bruder weist also auf eine Loslösung hin, die – analog zu Klügers Deutung der Gespenster als Projektionen der eigenen Ängste und unverarbeiteten Vergangenheit – auf ein Abschließen-Können von ihrer Seite her verweist. In diesem Prozess andauernder Trauerarbeit kommt dem eigenen Älterwerden eine entscheidende Rolle zu.161 Diese größere Abgeschlossenheit gilt – neben dem Verhältnis zum Bruder – vor allem auch für die veränderte Auseinandersetzung mit der Mutter. Das Verhältnis zur Mutter Obwohl weiter leben bereits kurz nach dem Erscheinen außerordentlich erfolgreich war und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, hat Klüger – wie einleitend erwähnt – die Übersetzung des Textes ins Englische aus Rücksicht auf die Mutter bis zu deren Tod hinausgezögert. Alma Hirschel, so heißt es in Still alive, hatte trotz ihrer Ablehnung von allem, was mit der deutschen Kultur in Verbindung stand, aus der Schweiz eine Kopie des Erinnerungstextes ihrer Tochter erhalten und war durch die sie betreffenden Passagen stark verletzt: »Even though she was an impatient and infrequent reader, my mother easily found all the passages that were critical of her and was badly hurt. All her neighbours, she said, now knew she was a bad mother« (210). Klüger beschließt, die englische Version des Textes erst nach dem Tod ihrer Mutter zu veröffentlichen: »I just let it go and promised myself not to publish it in English until after her death. Let it appear in French, in Czech, even in Japanese, but

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Zum Einfluss des eigenen Alters auf den veränderten Umgang mit den ›Gespenstern‹ vgl. Klüger, Wien als Fluchtpunkt (wie Anm. 73), S. 102.

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not in English. I owed her that much« (210).162 Klüger beginnt die amerikanische Version ihres Erinnerungstextes in den letzten Tagen vor dem Tod ihrer Mutter und beendet Still alive kurz nach ihrem Begräbnis im Jahr 2000. Die Widmung der amerikanischen Fassung lautet folgendermaßen: »In memory of my mother Alma Hirschel 1903–2000«. Zahlreiche Passagen, die das Verhältnis des erinnernden Ichs zur Mutter beschreiben, sind in der Übersetzung wörtlich ins Englische übertragen worden. Andere Passagen unterscheiden sich jedoch deutlich durch veränderte Bewertungen der Mutter. Insgesamt wirkt die Auseinandersetzung mit ihr in Still alive dadurch versöhnlicher, gelassener.163 Der veränderte Epilog schließlich gibt dem amerikanischen Text einen vollständig anderen Rahmen. Bereits in Klügers deutschem Erinnerungstext – dies ist Gegenstand verschiedener Arbeiten – nimmt die Auseinandersetzung mit der Beziehung zu ihrer Mutter einen breiten Raum ein. Das Verhältnis der Mutter zu ihrer Tochter in weiter leben ist von Abhängigkeit und Kontrolle geprägt. Die unberechenbaren Wechsel von Zärtlichkeiten und Zurechtweisungen, das Gefühl, es ihr nicht recht machen zu können sowie die permanente Betonung der eigenen Überlegenheit von Seiten der Mutter sind nahezu unverändert in Still alive übernommen. Das Beschneiden der Freiheiten ihrer Tochter, die Kontrolle, ihre Eifersucht – all dies sind Merkmale ihrer »Erziehung zur Abhängigkeit« (58), die sich bis in die Schreibgegenwart von Still alive nicht verändert hat. Dabei wird die Mutter nicht nur negativ gezeichnet: Eine bemerkenswerte Tatsache ist ihre Fürsorge für Ditha (Susi) – eine flüchtige Spielgefährtin Ruths aus Wien, die als Waise allein nach Theresienstadt deportiert wird und sich ihnen in Auschwitz auf Aufforderung der Mutter anschließt: Das ist nun das Allerbeste und das Allerungewöhnlichste, was ich von meiner Mutter erzählen kann: Sie hat in Auschwitz ein Kind adoptiert. Sie hat dieses Mädchen mit völliger Selbstverständlichkeit und ohne jegliches Aufheben als zu uns gehörend betrachtet und sie mitversorgt, bis ein Onkel aus St. Louis sich nach dem Krieg meldete und Ditha noch vor uns auswandern konnte (154).

Doch selbst ihre großzügigsten Handlungen sind nicht berechenbar: Ohne ersichtlichen Grund lehnt die Mutter Ditha später ab, verwehrt ihr den Zutritt in ihr Haus – Resultat ihres Verfolgungswahns, der sie glauben lässt, Ditha wolle sie in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen. Am Ende des deutschen Textes söhnt die Mutter sich zwar unvermittelt mit Ditha aus. Das erinnernde Ich jedoch bezweifelt die Gültigkeit dieser Aussöhnung: Ich trau dem Frieden nicht, doch Ditha ist selig, fängt auch leider gleich an, meine Mutter herumzukommandieren. Ich misch mich ein, bin plötzlich wieder die Jüngere, die auch mitreden will. Alles ist, wie schon lange nicht. Alles ist wieder offen 162 163

Zur veränderten Auseinandersetzung mit der Mutter vgl. auch McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 52ff. Zu dieser Einschätzung kommt auch Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 326.

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und unfertig, und ich muß Schluß machen, sonst stimmt morgen auch das nicht mehr (283).

In Still alive dagegen ist die Ablehnung Susis (wie Ditha dort heißt) durch die Mutter im Präteritum geschildert – eine vorübergehende Episode, deren positive Auflösung durch den Tod der Mutter nun Gültigkeit hat: »In the end, old age did what reason had failed to achieve, and my mother was friends with Susi once more. She welcomed her visits, and nobody heard a harsh or downputting word from her anymore« (124).164 Die insgesamt positivere Darstellung der Mutter lässt sich durch einen Abgleich weiterer Passagen verdeutlichen. So kommentiert das erinnernde Ich etwa die Weigerung der Mutter, ihre Tochter mit einem der Kindertransporte nach England zu schicken, noch in weiter leben: »Ich glaube, das hab ich ihr nie verziehen. Der andere Mensch, der ich geworden wär, wenn ich nur ein Wort hätte mitreden können, wenn sie mich nicht einfach als ihr Eigentum behandelt hätte« (62), während die Passage in der amerikanischen Fassung abgeschwächt als Frage formuliert ist: »But I never forgot that brief glimpse of another life which would have made me a different person. What kind of person? Who knows? Should she have asked my opinion? Not have treated me exclusively as her property?« (57)165 Die Aussage, ihr die damalige Entscheidung nicht verzeihen zu können, ist ausgespart. An anderer Stelle wird das Verzeihen in Still alive im Gegensatz zur deutschen Version explizit betont. So lautet die Schilderung der ersten Nacht in Auschwitz, in der die Mutter ihr vorschlägt, sich gemeinsam am elektrischen Stacheldraht das Leben zu nehmen, in weiter leben folgendermaßen: »Ich frage mich, ob ich ihr diesen schlimmsten Abend meines Lebens je verziehen habe« (114). In Still alive dagegen ist diese Passage durch folgende Worte ergänzt: »Of course I have: but who can count the sparks in the ashes?« (97)166 Auch die stärkere Betonung positiver Eigenschaften – »she liked to give« (77) – sowie ein größeres Verständnis für das Verhalten der Mutter verstärken den Eindruck, dass das Verhältnis zu ihr in der Erinnerung gelassener, großzügiger geworden ist. Selbst ihre Kontrolle wird in Still alive mit Humor geschildert: »She did it to the end of her life, but it got to be funny when she was in her nineties and I in my sixties« (187f.). Die Geschichte des erinnerten Ichs endet sowohl in weiter leben als auch in Still alive mit dem Verlassen der Mutter: [D]as Ende dieser Geschichte ist im kleinen Haus in Forest Hills, das Wohnzimmer voll verstreuter Sachen, mein schlechtes Gewissen, das mich versäumen ließ, mir die richtigen Papiere zu beschaffen, und die Enttäuschung meiner Mutter, daß sie das Haus für nichts und wieder nichts gekauft hatte, da ich jetzt doch nicht mehr bei ihr wohnen würde. […] Nach meiner Abfahrt hat sie meine Papiere gelesen, meine Briefe weggeworfen, weiß Gott was mit den Büchern angestellt, so daß fast alles 164 165 166

Ebd., S. 327. Ebd. Ebd.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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verlorenging, was von meinem bisherigen Ich in New York geblieben war: Am Ende war diese Trostlosigkeit, in den Zimmern, in den Menschen. Am Ende war dieser Verrat (266f., Hervorhebung im Original).167

Wie sehr die eigene Lebensgeschichte immer auch die Geschichte der Beziehung zur Mutter ist, die fortgeschrieben wird und sich insbesondere durch den Tod der Mutter maßgeblich verändert, soll der abschließende Blick auf das hinzugefügte dritte Kapitel des Epilogs von Still alive verdeutlichen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter im letzten Kapitel steht die Mutter-Tochter-Beziehung damit nicht nur – wie in weiter leben – am Ende der Geschichte des erinnerten Ichs, sondern wird bis in die Schreibgegenwart des erinnernden Ichs hinein verlängert. Der Epilog endet hier mit den Gedanken des erinnernden Ichs unmittelbar nach dem Tod der Mutter. Die Mutter, so hebt das erinnernde Ich hervor, ist eines natürlichen Todes gestorben: »I felt a sense of triumph, because this had been a human death, because she had survived and outlived the evil times and had died in her own good time […]« (211). Gleichzeitig verweist die Beschäftigung mit dem Verlust der Mutter auf den übergeordneten Stellenwert, der der Auseinandersetzung mit dem Tod in Klügers autobiographischem Projekt generell zukommt. So lautet der erste Satz von weiter leben: »Der Tod, nicht Sex war das Geheimnis, worüber die Erwachsenen tuschelten, wovon man gern mehr gehört hätte« (7). In Still alive schließt sich der Kreis: Das letzte Gedicht dort trägt den Titel »Talking to the angel of death« (209f.). Der Todesengel wird als Begleiter durch die Lebensjahre beschrieben: als Chauffeur im Lager »who drove the trucks with the naked corpses« (209), als »suicide angel« ihrer Teenager-Jahre, als »angel of the slaughter in Vietnam« (209) in den sechziger Jahren. In der letzten Strophe begrüßt sie ihn: »I welcomed him without being in a hurry« (209). Doch Still alive endet nicht mit dem Begräbnis der Mutter. Den Abschluss bildet vielmehr – ähnlich wie bei Friedländer – ein ›erlösendes‹ Bild: Beschrieben wird die Liebe der Mutter zu ihrer vierjährigen Urenkelin Isabela, mit der sie sich in vielerlei Hinsicht auf einer Ebene befindet und die den Verlust der geliebten Großmutter mit Erschrecken aufnimmt. Das erste Mal in ihrem Leben ist sie mit der Macht der unwiederbringlich ablaufenden Zeit konfrontiert, »the terror of time, the invisible thief with the force of a hurricane« (214). Der Epilog endet mit der Beschreibung einer Fotografie von Urgroßmutter und Enkelin, deren Deutung durch das erinnernde Ich die Kontinuität der Generationen und das Stillstehen der Zeit in den Blick rückt: I look at a snapshot of the two of them gleefully rubbing noses, a smile of total affinity on both their faces, the girl who’ll be a woman of the twenty-first century, and the woman who was a girl in the early 1900s, sharing some genes, sharing affection. On one side, the child whose mind hadn’t reached maturity, on the other, the old adult who had once lost a teenage son to anonymous murderers and whose mind had gone 167

Vgl. dazu die entsprechende Passage in Still alive (202).

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beyond ripeness. More than ninety years between them, but whenever they were together, chatting and touching, they met in a present that miraculously stood still for them, time frozen in space and space made human. Perhaps redeemed (214).

Vor diesem Hintergrund erhält das Ende von Still alive eine Bedeutung, die über den Tod der Mutter und damit über die persönliche Geschichte hinausgeht: Es ist das Bild der (vorsichtig formulierten) Erlösung vom Vergänglichen, die dem amerikanischen Text – und mit ihm dem gesamten autobiographischen Projekt – einen vollständig anderen Rahmen verleiht. So endet Klügers autobiographisches Projekt ähnlich wie Friedländers Erinnerungstext mit einem Stillstehen der Zeit, das dem Tod entgegengesetzt wird.168 4.2.4.3 Größere Abgeschlossenheit: Von der ›Muttersprache‹ zur Zweitsprache Der abgeschlossenere Charakter von Still alive beschränkt sich nicht auf inhaltliche Aspekte. Es ist vielmehr der Wechsel in die englische Zweitsprache, durch den sich die Fortschreibung des autobiographischen Projekts von der deutschen Version unterscheidet. Die Tatsache, dass Klüger ihren Erinnerungstext zunächst auf Deutsch verfasst hat, stellt eine Ausnahme dar: Die weitaus größere Zahl jüdischer Überlebender deutschsprachiger Herkunft hat – wie Friedländer – ihre Erinnerungen in der im Exil erlernten Zweitsprache verfasst. Die Wahl der deutschen Sprache als Ausdrucksmittel der persönlichen Lebenserinnerungen hat umso mehr Gewicht, als sie gleichzeitig die Sprache der Täter ist. Jahrelang hat das erinnernde Ich die deutsche Erstsprache verdrängt, sich so vor der aufkommenden Erinnerung geschützt: »For many years I had refused to have anything to do with the language, the two countries (Austria and Germany), or their people« (205). Die hier beschriebene Bindung von Erinnerungen an die Sprache, in der sie enkodiert und abgerufen werden, werden von den Ergebnissen der Psycholinguistik bestätigt: Wird die Muttersprache verdrängt, sind ebenso wenig die an sie gebundenen Erinnerungen zugänglich.169 Jacqueline Amati-Mehler u. a. bezeichnen die Fremdsprache in diesem Sinne treffend als »›safety barrier‹ against the tumult of primitive emotions that would immediately have been evoked by the words of

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Klüger selbst hat die Ewigkeit als »Herkunftsort der Seele« bezeichnet. – Ruth Klüger: Wiener Neurosen. Eine Rede. In: Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), H. 1, S. 21–29, hier: S. 21. Vgl. dazu Robert W. Schrauf/David C. Rubin: On the bilingual’s two sets of memory. In: Fivush/Haden (Ed.), Autobiographical memory (wie Kap. 2, Anm. 16), S. 121–145, hier: S. 129 und S. 138. – Vgl. auch Jacqueline Amati-Mehler/ Simona Argentieri/Jorge Canestri: The babel of the unconscious. Mother tongue and foreign tongues in the psychoanalytic dimension. Madison: International University Press 1993 (orig.: Babele dell’inconscio. Lingua madre et lingue straniere nella dimensione analitica. Milano: Raffaele Cortina Editore 1990), S. xi.

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[the] mother tongue«.170 Die Fremdsprache wird so – in Klügers Worten – zum »Schild gegen den Andrang der Erinnerung«.171 Erst mit dem Beginn des Germanistikstudiums 1962 in Berkeley entsteht die Bindung an die deutsche Sprache neu. Sie wird zum Auslöser der Erinnerungen, die – so das erinnernde Ich – »auf mich eindrangen, einschlugen, dadurch, daß ich wieder anfing, deutsch zu sprechen, durch meine Seminararbeiten auch mühsam lernte, es zu schreiben, jeder Satz wie hinter sieben Schleiern […]« (66). Doch auch in ihrem Beruf als Germanistin umgeht sie zunächst die Konfrontation mit der deutschen Gegenwartssprache, mit der die persönliche Vergangenheit verbunden ist: »I taught Middle High German, wrote about the baroque epigram, and had some clever things to say about certain aspects of eighteenth-century literature. Nothing contemporary« (205). Die Besuche in Europa sind sporadisch und kurz. Erst Ende der achtziger Jahre beginnt sie, sich mit dem Deutschland der Gegenwart auseinander zu setzen: »But in the late eighties I realized that I had an unfinished business with a past that’s an ongoing story. Something pulled me back« (205). Dabei benennt das erinnernde Ich dieses »something« gleich als die deutsche Sprache: »For language is the strongest bond between an individual and a place« (205).172 Der Unfall in Göttingen wird zur Konfrontation mit der deutschen, der deutschsprachigen Vergangenheit – in der Beschreibung des Unfalls in Still alive noch nachdrücklicher formuliert durch den Wechsel ins Deutsche: At the last fraction of a second he is chasing me, wants to injure me, and despair hits like lightning: I crash into metal and light, like floodlights over barbed wire. I want to push him away with both arms outstretched, but he is on top of me, bike and all.

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Amati-Mehler/Argentieri/Canestri, The babel of the unconscious (wie Anm. 169), S. 2. Klüger, Lanzmanns ›Shoah‹ in New York (wie Anm. 61), S. 24. – Auch Goldschmidt verweist in dem von ihm selbst auf Deutsch verfassten Nachwort zur deutschen Übersetzung von Un jardin en Allemagne auf den Zusammenhang von Sprache und Erinnerung. Über die Tatsache, dass er den Text auf Französisch – und nicht in der deutschen Muttersprache – verfasst hat, äußert er sich folgendermaßen: »Eine Erzählung wie Ein Garten in Deutschland hätte in der Muttersprache (das Deutsche) wegen der erlebten Vergangenheit und der Erfahrung der Trennung nicht so entstehen können, wie sie eben im Französischen entstanden ist, ja sie wäre wahrscheinlich gar nicht entstanden. Erst die Übertragung (diesmal im freudschen Sinne des Wortes) in eine Sprache, in welcher die Erinnerung alles erfinden mußte, ohne es erlebt zu haben, machte das Schreiben an diesem Buch möglich.« – Georges-Arthur Goldschmidt: Seine eigenen Texte übersetzen? Deutsches Nachwort des Verfassers. In: Ders., Ein Garten in Deutschland. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (1988) (Suhrkamp Taschenbuch; 1925) (orig.: Un jardin en Allemagne. Paris: Éditions du Seuil 1986), S. 183–187, hier: S. 184. – Zum Vorgang der Übersetzung bei Goldschmidt vgl. Anm. 183. Vgl. hierzu wie auch zum Unfall als Auslöser der – deutschen – Erinnerungen McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 50ff.

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Germany, Deutschland, a moment like hand-to-hand combat. I am fighting for my life, Deutschland once more, why did I return, or had I never left? (206)

Klüger hat die emotionale Verbindung von deutscher Erstsprache mit den Erinnerungen an die persönliche Vergangenheit u. a. in der Dankesrede zum BrunoKreisky-Preis formuliert. Dort begründet sie ihre Wahl der deutschen Sprache für ihren Erinnerungstext zu einem Zeitpunkt, zu dem ihr das Englische insbesondere schriftlich geläufiger war als das Deutsche, folgendermaßen: Die deutsche Sprache, latent im Gehirn, hat mich gewählt, nicht umgekehrt. Wenn man sich intensiv auf die Kindheit besinnt, dann sinniert man in der Sprache der Kindheit, und das war natürlich für mich das wienerische Hochdeutsch. Ich war in der Erinnerung kopfüber in dieses flackernde, gefährdete Zuhause der späten dreißiger, der frühen vierziger Jahre getaucht. Dank der vielen Jahre meines zweiten Lebens in Amerika gab es oft Unsicherheiten bei der Wortwahl, und immer griff ich auf das Kind zurück, das ich gewesen war, und wenn dieses kleine Mäderl mir eifrig nickend versicherte: ›Dieser Satz trifft’s, diese Formulierung sitzt‹, dann glaubte ich ihr und schrieb getrost weiter.173

Die Rückkehr zur englischen Zweitsprache dagegen, in der Still alive verfasst ist, schafft eine größere emotionale Distanz zum Geschehen.174 Sigmund Freud hat den Verlust der Erstsprache im Exil folgendermaßen beschrieben: »It is – one can only say: the loss of language in which one lived and thought and which one will never be able to replace with another, for all one’s effort at empathy«.175 Die Abgeschlossenheit, die Still alive von weiter leben unterscheidet, resultiert also nicht nur aus dem größeren zeitlichen Abstand, sondern ebenso aus der Rückkehr von der emotional hoch besetzten deutschen Erstsprache in die englische Zweitsprache. Durch die Verlängerung des autobiographischen Projekts um den amerikanischen ›Paralleltext‹ – die größere Abgeschlossenheit der Erinnerung an Bruder und Mutter, die veränderte, weiterhin unabgeschlossene Erinnerung an den Vater – wird hervorgehoben, dass eine abgeschlossene, letztendlich gültige Version der persönlichen Geschichte nicht existiert.

4.2.5 Autobiographie als ›Performanz des Selbstes‹: Das Nebeneinander beider ›autobiographischer Sprechakte‹ Ging es im vorangehenden Kapitel darum, die amerikanische Version auf der Ebene des persönlichen Ichs als Fortschreibung des deutschen Textes zu lesen, um auf diese Weise die Prozesshaftigkeit und Unabschließbarkeit von Erinne173 174 175

Klüger, Wien als Fluchtpunkt (wie Anm. 73), S. 101. Amati-Mehler/Argentieri/Canestri, The babel of the unconscious (wie Anm. 169), S. 51. Unveröffentlichter Brief Sigmund Freuds an Raymond de Saussure, 1938. Zitiert nach ebd., S. vii.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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rungs- und Identitätsprojekten in der Betonung des Nacheinanders beider autobiographischer Texte hervorzuheben, betrachte ich in den nun folgenden Überlegungen den zweiten Aspekt des von Klüger aufgemachten Bildes der ›Parallele‹: das gleichzeitige Existieren beider Texte nebeneinander. Ich begreife Klügers zwei autobiographische Texte im Folgenden also als zwei nebeneinander bestehende ›autobiographische Sprechakte‹ – als ›Performanz‹ eines jeweils anderen autobiographischen Selbstes. Dabei besteht der entscheidende Unterschied zwischen beiden ›autobiographischen Personae‹ in der Einbettung in zwei unterschiedliche sprachliche und kulturelle Kontexte. Während andere identitätskonstituierende Merkmale des erinnernden Ichs (Frau, Jüdin) – in Still alive beibehalten werden, rückt durch die Existenz des amerikanischen ›Paralleltextes‹ bereits auf persönlicher Ebene in den Blick, dass Identität immer auch in Abhängigkeit vom jeweiligen kulturellen Kontext konstituiert wird. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht deshalb die Frage nach der Selbstpositionierung des erinnernden Ichs gegenüber der deutschen/österreichischen Sprache und Literatur auf der einen Seite und der amerikanischen Sprache und Kultur auf der anderen Seite. In einem ersten Schritt werde ich zeigen, dass sich das erinnernde Ich bereits im einzelnen Text keinem kulturellen Kontext eindeutig zurechnen lässt (4.2.5.1/4.2.5.2). Die Verweigerung gegenüber der Zuordnung zu einem einzigen sprachlich-kulturellen Kollektiv wird jedoch noch deutlicher, wenn man die nebeneinander bestehenden Texte als ›autobiographische Sprechakte‹ eines einzigen Subjekts wahrnimmt. In einem zweiten Schritt frage ich, welche Schlussfolgerungen sich aus der Existenz zweier nebeneinander bestehender, unterschiedlicher ›autobiographischer Sprechakte‹ ziehen lassen. Wie oben angedeutet, lese ich die Existenz zweier Paralleltexte als Verlängerung der Verweigerung gegenüber einer eindeutigen Festschreibung, die bereits den deutschen Text bestimmte (vgl. Kapitel 4.2.1). Identität entsteht vielmehr im ›Zwischenraum‹ beider Texte. Ich verstehe dabei den Akt der Selbstübersetzung in diesem Kapitel zunächst wörtlich: als Übersetzung des Selbstes in einen anderen sprachlichen und kulturellen Kontext (4.2.5.3). 4.2.5.1 Verhältnis zur österreichischen/deutschen und amerikanischen Sprache und Kultur in weiter leben Zum ›deutschen Buch‹ wird weiter leben nicht nur durch die Auseinandersetzung mit den spezifisch bundesdeutschen Diskursen, die Gegenstand des folgenden Kapitels (4.2.6.1) sein werden. Ein ›deutsches Buch‹ ist weiter leben auch auf persönlicher Ebene – durch die Auseinandersetzung mit der deutschen/österreichischen Sprache und Kultur. Das Verhältnis zur deutschen und österreichischen Sprache und Kultur ist ambivalent. Das erinnernde Ich benennt Wien explizit als den Ort ihrer Herkunft und verweigert sich damit einer Festlegung auf den Status der HolocaustÜberlebenden: »[W]as immer ihr denken mögt, ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien« (138). Herkunft ist dabei jedoch nicht gleichzuset-

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zen mit einer nostalgischen Bindung an den Ort der Kindheit: »Heimatgefühl« (39) und »Vaterlandsliebe« (40) sind dem erinnerten Ich frühzeitig abhanden gekommen. Wien ist die Stadt, aus der ihr »die Flucht nicht gelang« (17), bis »ins Mark hinein judenkinderfeindlich« (67), »heimatlich unheimlich« (67) zugleich. Es ist die Sprache, die sie an den Ort ihrer Herkunft bindet: »Wien läßt sich nicht abstreifen, man hört es an der Sprache […]. Wien ist ein Teil meiner Hirnstruktur und spricht aus mir […]« (138). Diese Bindung muss in dem Moment problematisch werden, als sich die eigene Sprache nicht von der Sprache der Verfolger abgrenzen lässt: »Keine Sprache zu beherrschen als die der Verächter dieses Volkes. Keine Gelegenheit haben, eine andere zu lernen« (103). Unmittelbar nach Ende des Krieges wird das erinnerte Ich erstmals mit dem Land der Täter konfrontiert. Mit den Papieren einer deutschen Familie – ihrer »falsche[n] Identität« (179), wie das erinnernde Ich betont – gelangt sie mit ihrer Mutter und Schwester nach Süddeutschland. In Straubing werden sie ohne Unterschied als deutsche Flüchtlinge aufgenommen, sind »Landsleute« (182). Besteht auf der einen Seite die Erinnerungsdifferenz zur selben Generation der Deutschen, die Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird, wird hier die Zugehörigkeit zu den Deutschen in der Distanz gegenüber der eigenen Vergangenheit als KZ-Häftling wahrgenommen: [I]ch ging etwas einkaufen, und plötzlich war da ein Zug von KZ-Häftlingen, die mitten durch die Stadt gingen […]. Und ich am Straßenrand. Ich hatte ›uns‹ noch nie von außen gesehen. Was mich von denen trennte, waren nur einige Wochen, nach jahrelanger Gemeinsamkeit. […] Ich war ein deutsches Kind geworden […] (182f.).

»[U]nbeabsichtigt und ungewollt« (202) entwickelt sich eine Beziehung zum Land der ehemaligen Verfolger: »Durch die Verzögerung [der Ausreise in die USA, K. M.] und gleichzeitig mit der Ungeduld wuchs […] eine zunehmende Verbundenheit mit Deutschland, deutscher Sprache, deutschen Büchern, auch mit deutschen Menschen« (202). Die Nachkriegszeit in Bayern, so die Reflexionen des erinnernden Ichs, »sind dafür verantwortlich, daß ich den Angelhaken einer mir gemäßen, weil im Selbstkonflikt befangenen Kultur geschluckt habe, die mich später wieder an Land zog« (219). Die Beziehung zu den USA, in die das erinnerte Ich mit ihrer Mutter einwandert, ist ebenfalls ambivalent: Heißt es in der Erinnerung an den Moment der Ankunft noch, sie seien endlich von Auswanderern zu Einwanderern geworden, wird die Bezeichnung New Yorks als »Einwandererstadt« gleich darauf mit folgenden Worten eingeschränkt: »Eine Einwandererstadt ist eine Stadt, wo die Einheimischen es verstehen, sich die Einwanderer auf Armeslänge vom Leibe zu halten« (223). Der »Kulturschock« (237) resultiert zu einem großen Teil aus der Konfrontation mit der englischen Fremdsprache – eine Erfahrung, der zahlreiche Einwanderer in ihren Erinnerungen Ausdruck verliehen haben.176 Dabei verändert sich das Verhältnis zur neuen Sprache mit der 176

Auf den Verlust der Erstsprache durch die Emigration sei – in anderem Kontext – stellvertretend auf die Darstellung Eva Hoffmans verwiesen, deren Erinnerungen

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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Zeit: Kippt das Englische anfangs noch leicht ins Deutsche um, verfasst das erinnerte Ich bereits in ihrer Zeit am Hunter College englische Gedichte, beschäftigt sich intensiv mit der englischsprachigen Literatur. Obwohl das erinnernde Ich ihren Wohnsitz in Kalifornien als »Heimat« bezeichnet, verweist die Beschreibung von Orange County direkt im Anschluss darauf, dass eine eindeutige kulturelle Zuordnung des erinnernden Ichs als ›Amerikanerin‹ nicht nur auf sprachlicher Ebene problematisch ist.177 Die deutsche Sprache wird verdrängt, bis das erinnerte Ich 1962 ein Germanistikstudium in Berkeley beginnt. Dabei ist es die direkte Verbindung zur persönlichen Vergangenheit, ihre Gedichte aus Auschwitz, die ihr – über die Empfehlung eines »prominenten Germanisten« (Heinz Politzer), dessen Exil-Gedichte im selben Band veröffentlicht wurden – die Assistentenstelle für die Doktorandenlaufbahn verschafft. So wird sie zur »Auslandsgermanistin«: »Wenn ich gut gelaunt bin, sehe ich eine poetische Richtigkeit, wenn nicht Gerechtigkeit, darin, daß gerade von diesen Gedichten der Weg zu meinem passenden-unpassenden Beruf geführt hat. Daß sich da ein Ring geschlossen hat« (200). Es ist der Aufenthalt in Göttingen Ende der 1980er Jahre, der zur endgültigen Konfrontation mit der deutschsprachigen Vergangenheit wird. Die Verbindung zur deutschen/österreichischen Sprache und Kultur wird in weiter leben insbesondere über die Literatur aufgerufen, auf die in zahlreichen Anspielungen und Verweisen Bezug genommen wird.178 Das weiterhin ambivalente Verhältnis zur deutschen Sprache lässt sich jedoch am Sprachduktus des erinnernden Ichs verdeutlichen: Zeichnet dieser sich zwar einerseits durch einen kunstvollen Umgang mit der Alltagssprache aus, der auf eine große Vertrautheit mit der deutschen Erstsprache verweist, signalisiert diese Sensibilität gleichzeitig die Wahrnehmung der eigenen ›Muttersprache‹ aus einer kritischen Distanz. 4.2.5.2 Verhältnis zur österreichischen/deutschen und amerikanischen Sprache und Kultur in Still alive Während das als Jugendliche in New York erworbene Englisch in weiter leben über die anfänglichen Sprachbarrieren hinaus kaum explizit thematisiert wird, wird es in Still alive schließlich zur Sprache der autobiographischen Erinne-

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den bezeichnenden Titel Lost in translation. A life in a new language tragen: »[T]he problem is that the signifier has become severed from the signified. The words I learn now don’t stand for things in the same unquestioned way they did in my native tongue. […] It [the word ›river‹, K. M.] has no accumulated associations for me, and it does not give off the radiating haze of connotation. It does not evoke. […] It is the loss of a living connection«. – Eva Hoffman: Lost in translation. A life in a new language. New York: E. P. Dutton 1989, S. 106f. Zur Beschreibung von Orange County vgl. S. 280ff. Es sind dabei in der Mehrzahl österreichische Autoren, auf die verwiesen wird – so unter anderem auf Schnitzler (19), Werfel (19), Zweig (19), Roth (19), Stifter (65) und Bernhard (65).

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rungen und damit zum Ausdrucksmittel des Ichs. Das Erlernen der Zweitsprache ist auch dort untrennbar mit der Literatur verknüpft: [I]t was in New York that I learned to speak English and memorized Shakespeare’s sonnets and wrote English sentences and even verse. That’s a kind of empowerment, as today’s buzzword has it. I haven’t lived in New York for decades, but when I visit the city, the very pavement reminds me that New York freed me from the incompetent silence of otherness by teaching me to understand its language – an English, by the way, which shared with my native Viennese German an insolent humor and an aggressive, colorful verbiage (200).

Sie beginnt, ihre ersten englischen Gedichte zu verfassen, die in Still alive an die Stelle der deutschen Gedichte aus weiter leben treten. Die Verweise auf die deutsche und österreichische Literatur werden in Still alive größtenteils durch Verweise auf englische und amerikanische Werke und Autoren/-innen ersetzt.179 Die Zugehörigkeit des erinnernden Ichs zum amerikanischen Kollektiv wird zudem durch das Aufrufen identitätsstiftender Symbole der amerikanischen Gegenwartskultur betont.180 Die Kennzeichnung als ›Amerikanerin‹ erfolgt außerdem durch den veränderten Gebrauch der Personalpronomina. So heißt es über die Ankunft der amerikanischen Truppen in Straubing: »The long nightmare, the seven lean years since Hitler’s army invaded my homeland […] were suddenly over. We had arrived« (148).181 Die Passage über Orange County ist in Still alive ausgespart. Es ist zudem insbesondere der idiomatische Umgang mit der englischen Zweitsprache, durch den die Zugehörigkeit zum amerikanischen Kollektiv signalisiert wird – eine Zugehörigkeit, die nicht zuletzt durch den Autorinnennamen Ruth Kluger unterstrichen wird, der – anders als bei Friedländer – den deutschen Umlaut nicht beibehält.182 Bereits auf persönlicher Ebene wird Still alive so zum ›amerikanischen Buch‹, das erinnernde Ich – stärker als in weiter leben – als ›autobiographische Persona‹ gezeichnet, zu deren identitätskonstituierenden Merkmalen das der Amerikanerin hinzukommt. Obwohl sich die amerikanische Version durch ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem amerikanischen kulturellen Kontext, insbesondere der Sprache, auszeichnet, wird auf der anderen Seite der Einfluss der deutschen Erstsprache deutlich hervorgehoben. Dies geschieht erstens durch explizite Kommentare des erinnernden Ichs: »Vienna taught me to speak and read, but little else. (Still, isn’t that all that is needed for a life of the mind?)« (25) An anderer 179

180 181 182

So finden sich in Still alive den einzelnen Teilen vorangestellt u. a. Gedichte von Adrienne Rich, W. H. Auden und Maya Angelou. Ich werde hierauf in Kapitel 4.2.7 zurückkommen. – Vgl. hierzu auch McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 58. Vgl. hierzu Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 330. Ebd., S. 335. Zu Klügers idiomatischem Umgang mit der englischen Zweitsprache vgl. McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 47f.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

193

Stelle heißt es: »Vienna is a part of me – that’s where I acquired consciousness and acquired language […]« (112). Dabei ist die – sprachliche – Bindung an Wien, die Stadt ihrer Muttersprache, auch in Still alive keinesfalls eindeutig. Auflösen jedoch lässt sie sich nicht: I understand this language, but I don’t like it. I speak it, but I wouldn’t have chosen it. I am hooked on it, and it’s the reason I go back for visits, though I have no relatives or friends of relatives, only a few new friends […]. I get depressed after a while and clutch my American passport, eyeing the taxis that will take me to the train station or the airport. But it is the city where I learned to speak, listen, and read, all the basics for a human life. I remain its reluctant child (59f.).

Zweitens wird der Einfluss der deutschen Erstsprache auf Still alive dadurch hervorgehoben, dass der deutsche Text sichtbar als Grundlage dient, zahlreiche Passagen möglichst wortgetreu übersetzt wurde. In diesem Sinn ist der deutsche Text ›Original‹.183 Von der innerhalb der Übersetzungspraxis weiterhin 183

Klüger weist jedoch darauf hin, dass Freunde in der englischen Version den wienerischen Tonfall vermissen. – Klüger, Wien als Fluchtpunkt (wie Anm. 73), S. 101. – Auch Goldschmidt hebt hervor, dass jede Übersetzung, so wortgetreu sie auch sein mag, bereits durch »den anderen Sprachklang, durch die anderen Sprachvorstellungen« ein anderer Text wird. – Georges-Arthur Goldschmidt: Über die Flüsse. Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 2003 (2001) (Fischer; 15699) (La traversée des fleuves. Paris: Éditions du Seuil 1999), S. 7 (Vorwort). Eine Selbstübersetzung seiner anderen Texte war ihm – so Goldschmidt noch im deutschen Nachwort zu Ein Garten in Deutschland – nicht möglich: »Wollte man sich selbst übersetzen, müßte man sich mit der Gewissenhaftigkeit, dem Respekt und der Genauigkeit behandeln, die doch immer entweder nur dem Texte eines anderen zukommen oder einem ›Work in Progress‹, wo alles erst werden muß. Es wäre nur Anmaßung, den eigenen Text zu übersetzen, wie man den Text eines anderen übersetzen würde. Anmaßung im doppelten Sinn: Auf der einen Seite stünde man vor dem eigenen Text als einem endgültigen und unantastbaren, denn beim Übersetzen darf weder interpretiert noch verschönert werden. Auf der anderen Seite wäre man doch immer versucht, in der Zielsprache einen anderen, einen neuen Text zu schreiben – und entfernte sich mehr und mehr vom Ausgangstext.« – Ders., Seine eigenen Texte übersetzen? (wie Anm. 171), S. 183f. Interessanterweise übersetzt Goldschmidt den einzigen Text, den er im Untertitel explizit als Autobiographie bezeichnet, schließlich doch selbst. Dabei verläuft der Übersetzungsvorgang hier genau andersherum als bei Klüger: Goldschmidt hat La traversée des fleuves auf Französisch, in seiner sogenannten »Lebenssprache«, verfasst und von dort selber in die deutsche »Muttersprache« übersetzt. Der Zugang zur deutschen Sprache war dabei nur über die französische Sprache möglich: »Das Französische, die Sprache der Befreiung und des Widerstands, hat mir das Deutsche zurückgeschenkt, wieder verfügbar und wie unversehrt. Die Sprache blieb erhalten, gerettet, wieder brauchbar gemacht wurde sie durch die andere Sprache, die Sprache der Aufnahme und der Rettung, die auch das Menschenbild bewahren konnte. Daher aus derselben Hand die deutsche Fassung des französischen Textes.« – Ders., Über die Flüsse (wie Anm. 183), S. 8.

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vorherrschenden Tendenz, Texte möglichst ›getreu‹ zu übersetzen, unterscheidet sich Klügers Übertragung des eigenen Textes jedoch deutlich: Wiederholt reflektiert das erinnernde Ich in Still alive den bleibenden Einfluss der deutschen Erstsprache sowie die sprachlich-kulturellen Besonderheiten und Bedeutungsdifferenzen zwischen beiden Sprachen. Damit wird der Akt der Selbstübersetzung eindeutig als solcher gekennzeichnet.184 Indem sie die sprachliche und kulturelle Andersartigkeit nicht auflöst (›domestiziert‹, um den Ausdruck Lawrence Venutis zu gebrauchen),185 betont sie bereits auf linguistischer Ebene, dass die vollständige Integration (Über-Setzung) des autobiographischen Selbstes in die amerikanische Kultur nicht möglich ist. Eine vollkommene Assimilation an die Zweitsprache käme – so die Überlegungen Michael Cronins – einer Aufgabe der (sprachlich-kulturellen) Identität gleich: When a speaker does make the transition to the other language in a successful translation of the language self, what is the relation between distance and assimilation? If the speaker of a foreign language is taken to be a native speaker of that language, after the initial feeling of self-congratulation, is there a sense of acting under false pretences, of pretending to be another and so losing one’s identity?186

Das Erlangen einer ›neuen‹ Identität als Amerikanerin, die die Herkunft und damit die persönliche Geschichte außer acht lässt, ist – dies wird durch den Einfluss des Deutschen auf den amerikanischen Text hervorgehoben – weder möglich noch angemessen. 4.2.5.3 Übersetzung des Selbstes Bereits im einzelnen Text wird so deutlich, dass sich das erinnernde Ich nicht auf ein eindeutiges sprachlich-kulturelles Selbst festlegen lässt. Noch deutlicher wird die Verweigerung gegenüber eindeutiger Festlegung, wenn man die beiden nebeneinander bestehenden ›autobiographischen Sprechakte‹ zusammenliest. Indem Klüger den eigenen autobiographischen Text ein zweites Mal in ihrer Zweitsprache verfasst hat, gleichzeitig aber betont, dass es sich bei 184

185 186

Entgegen der Dominanz eines ›positivistischen‹ Ansatzes in der Übersetzungspraxis, der die Gelungenheit der Übersetzung an ihrer wörtlichen Ähnlichkeit zum ›Original‹ bemisst, plädiert Venuti für eine ›verfremdende‹ Übersetzung (›foreignizing method‹), die die sprachlich-kulturelle Andersartigkeit des Quellentextes nicht auflöst, sie im Gegenteil in der Übersetzung kenntlich macht. Eine solch ›verfremdende Übersetzung‹ wird etwa durch das Beibehalten von Ausdrücken aus der Sprache des Quellentextes erreicht. – Vgl. dazu Lawrence Venuti: The translator’s invisibility. A history of translation. London, New York: Routledge 1995 (Translation studies), S. 16ff. – Vgl. hierzu wiederum Goldschmidts eigene Übersetzung von La traversée des fleuves ins Deutsche: In Fußnoten setzt er sich dort mit den aus der Unterschiedlichkeit des Französischen und des Deutschen resultierenden Bedeutungsdifferenzen auseinander. Venuti, The translator’s invisibility (wie Anm. 184), S. 18. Michael Cronin: Across the lines. Travel, language, translation. Cork: Cork University Press, S. 48.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

195

dieser amerikanischen Version nicht um einen vollständig neuen Text handelt, rückt sie den Akt der Übersetzung explizit in den Blick. Das Selbst konstituiert sich – so diese Lesart – nicht durch die eine oder die andere Version, sondern entsteht gerade im sprachlichen und kulturellen Raum zwischen beiden Texten. Den Akt der Selbstübersetzung verstehe ich hier wörtlich als Übersetzung des eigenen sprachlich-kulturellen Selbstes. Indem Klüger die deutsche und die amerikanische Fassung nebeneinander stellt, wird der Vorgang der Übersetzung zum Thema ihres autobiographischen Projekts. Die beiden ›autobiographischen Personae‹ lassen sich so nicht unabhängig voneinander wahrnehmen. Klüger selbst antwortet auf die Frage, welche Sprache sie als ihre ›Muttersprache‹ bezeichnen würde, in Bezug auf ihr autobiographisches Projekt folgendermaßen: Ich habe zwei, ich habe das Englische, das ich mit 16 gelernt habe, das ich dann lange Zeit ausschließlich verwendet habe, und dann bin ich also in die Germanistik zurückgekommen und zwar spät. Ich habe dann wieder angefangen, mein Deutsch aufzumöbeln und meine, ich habe es eigentlich erst richtig wieder gelernt, als ich dieses Buch schrieb. Da waren Schwierigkeiten, da habe ich immer wieder nach Formulierungen gesucht, und sie kamen mir auf Englisch; oder ich habe ein Wort verwendet, das war nicht das richtige Wort; zwei Wochen später kam das richtige Wort zugeflogen. Also ich habe dann manchmal gesagt: Ich kann gar nicht Deutsch, ich mach nur so. Aber dann, nachdem ich das Buch geschrieben hatte, hatte ich doch das Gefühl. Ja, diese Sprache habe ich jetzt wieder. Ich habe jetzt gerade dieses ›weiter leben‹ übersetzt ins Englische, und das ist mir nicht leicht gefallen, aber in diesem Zusammenhang habe ich auch herausgefunden, dass ich eigentlich anders denke auf Englisch. Ich habe vieles ausgelassen, was im Deutschen steht und anderes hinzugefügt, was im Deutschen nicht steht. Ich sitze also zwischen den Stühlen mit diesen Sprachen […].187

Eine eindeutige Zuschreibung zu einem einzigen sprachlich-kulturellen Kollektiv wird auf diese Weise in Frage gestellt. Rosi Braidotti formuliert mehrsprachiges Schreiben als »process of undoing the illusory stability of fixed identities«.188 Der Akt der Selbstübersetzung wird so zur Metapher für eine Existenz in einem sprachlichen und kulturellen Zwischenraum, den Salman Rushdie als Kennzeichen der postkolonialen Welt folgendermaßen beschrieben hat: »The word ›translation‹ comes, etymologically, from the Latin for ›bearing across‹. Having been borne across the world, we are translated men«.189 Klüger beschreibt ihre Existenz zwischen den Kulturen im Interview folgendermaßen: 187

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Bozena Bekas/Agnieszka Stepien: Interview mit Ruth Klüger am 28. März 2001. In: Erinnerung, Gedächtnis, Geschichtsbewältigung. Österreichische Literatur der neunziger Jahre. Ein literarischer Workshop. Hg. von Bozena Bekas u. a. Fernwald: Litblockin 2002, S. 93–97, hier: S. 94. Rosi Braidotti: Nomadic subjects. Embodiment and sexual difference in contemporary feminist theory. New York: Columbia University Press 1994 (Gender and culture), S. 15. Salman Rushdie: Imaginary homelands. Essays and criticism, 1981–1991. London, New York: Granta Books (in association with Viking) 1991, S. 17.

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4 Ruth Klüger

Ich werde ja auch öfters gefragt, wo gehörst du eigentlich hin und wo fühlst du dich zu Hause. Und ich sage dann gerne, eigentlich nirgends. Und eigentlich geht es mir ganz gut ohne dieses Heimatgefühl. Denn ich bin doch ein Mensch und kein Baum. Ich muß doch keine Wurzeln haben. Die Wurzeln werden mir immer so vorgehalten. Wo sind deine Wurzeln? Habe ich nicht. Ich habe Füße. Mit Füßen kann man von einer Stadt, von einem Land ins andere gehen. Ich kann sagen, wo ich wohne, wo ich Freunde habe. Aber Heimatgefühl fehlt mir. Und ich betrachte das nicht unbedingt als Manko. Also, die halbe Welt lebt ja nicht dort, wo sie sind [sic]. Wir sind ja eine Welt von Flüchtlingen geworden. Mehr Flüchtlinge als je zuvor. Und ich gehöre eben zu dieser Hälfte, die mal geflohen ist.190

Das autobiographische Projekt im wörtlichen Sinne als Übersetzungsprojekt zu schreiben, bedeutet zu betonen, dass ein letztendlicher, über die Zeit gültiger Selbstentwurf nicht existiert. Durch den Akt der Selbstübersetzung rückt Klüger in den Blick, dass das Selbst im wörtlichen Sinne am ehesten als ›Übersetzerin‹ zu verstehen ist: ein Selbst, das sich nicht in der einen oder der anderen Version manifestiert, sondern in der Bewegung zwischen den Texten. Für die Selbst-Übersetzung gilt damit, was Susan Bassnett für den Vorgang der Übersetzung generell formuliert: Keine Interpretation kann als letztendliche, definitive angesehen werden. Vielmehr wird in der Gleichstellung von Ausgangsund Zieltext die Unabschließbarkeit von Übersetzungen betont. Die Übersetzung wird zum neuen Original in einer anderen Sprache.191 Auf Klügers autobiographisches Projekt bezogen bedeutet dies: Es ist nicht die eine oder die andere Version, die gültiger ist, nicht die neuere, amerikanische Version, die den deutschen Text aktualisiert und damit ablöst.192 Vielmehr ist es, um Klügers Identität näher zu kommen, notwendig, beide Texte nebeneinander zu lesen.193 Damit ist Klügers autobiographisches Projekt in seiner Gesamtheit als

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191 192 193

Matthias Beltz im Gespräch mit Ruth Klüger: Klarheit oder Versöhnung. Gespräch über das Ende der Sprachlosigkeit. Über den heutigen Umgang mit dem Holocaust. Herausgegeben von der Kulturbehörde Hamburg. Hamburg 1993, S. 18. – In modifizierter Form hat Klüger sich später folgendermaßen geäußert: »Wenn ich auf meine Heimatlosigkeit zu sprechen komme, so fragt man mich öfters insistierend: aber irgendwo muß man doch verwurzelt sein. Und ich antworte gern: Ich bin doch kein Baum, ich habe Füße statt Wurzeln, mit denen ich in der Welt herumlaufen kann, wohin es mir gefällt. Aber ich weiß wohl, daß das Thema damit nicht erledigt ist, denn das Heimatgefühl ist bei den Heimatlosen nicht ausgelöscht, nur frustriert, in Frage gestellt, eventuell in andere Kanäle geleitet.« – Klüger, Wiener Neurosen (wie Anm. 168), S. 21. Vgl. Susan Bassnett: Translation studies. 3rd ed. London, New York: Routledge 2002 (1980) (New accents), S. 9. Vgl. McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 46f. Dies.: »Seen in this light, Klüger’s autobiography manifests itself less as the identifiable object of the text itself and more as the performative connections that result from the parallel reading of the two texts together.« – Ebd., S. 47.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

197

Verlängerung der Verweigerung gegenüber eindeutiger Festlegung zu lesen, die bereits im deutschen Text das strukturgebende Prinzip darstellt.194 4.2.5.4 Deutsch-jüdische Autorin? Österreicherin? Amerikanerin? Klügers Einordnung in die Literaturgeschichte Die Verweigerung gegenüber eindeutiger Zuordnung zu einem sprachlichkulturellen Kollektiv, die Klüger hier auf persönlicher Ebene formuliert, lässt sich auf ihre Einordnung innerhalb der Literaturgeschichte übertragen. Dass die Zuordnung Klügers zu einer bestimmten Nationalliteratur alles andere als eindeutig ist, verdeutlicht exemplarisch ihre gleichzeitige Aufnahme in das Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, das Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945 und den 1997 von Margarete LambFaffelberger herausgegebenen Band über zeitgenössische österreichische Autorinnen und Filmemacherinnen (Out of the Shadows).195 Ist die Frage der Einordnung Klügers als Autorin bereits für den deutschen Text keinesfalls eindeutig zu beantworten, erschwert sie sich – ich folge hier der Argumentation McGlothlins – zusätzlich durch die Existenz des amerikanischen Paralleltextes: Ist Klüger tatsächlich als deutschsprachige oder deutsch-jüdische Autorin zu verstehen? Gehört sie zu den Autorinnen der österreichischen Nachkriegsliteratur? Ist ihr autobiographisches Werk seit dem Erscheinen von Still alive außerdem der amerikanischen Gegenwartsliteratur zuzurechnen?196 Über ihre Einordnung als österreichische Schriftstellerin ist Klüger »amüsiert«. Ihre Vortragsreise mit dem österreichischen Kulturinstitut in Polen kommentiert sie folgendermaßen: 194

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Dies.: »Viewed together, Still Alive and weiter leben are thus an extended autobiographical performance of Klüger’s distinct discursive method of conjunctio and distinctio [...].« – Ebd., S. 61–67, insbesondere S. 66f. Andreas B. Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 320f. – Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Begründet von Hermann Kunisch. Fortgeführt von Herbert Wiesner, Sibylle Cramer und Dietz-Rüdiger Moser. Neu hg. von Thomas Kraft. Vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausg. Bd 2, München: Nymphenburger 2003, S. 692f. – Margarete Lamb-Faffelberger (Hg.): Out from the shadows. Essays on contemporary Austrian women writers and filmmakers. Riverside: Ariadne Press 1997 (Studies in Austrian literature, culture, and thought). Vgl. hierzu McGlothlin: »Born to a family of emancipated Jews in Vienna, with German as her mother tongue, now possessing American citizenship and having published in both German and English, Klüger disrupts our definitions of literature and authorship along both national and linguistic lines, for she can rightly be described with any one or a combination of a number of designations: Austrian, Jewish, German, American. How can we classify her now?« – McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 61.

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4 Ruth Klüger

Das finde ich irgendwie lustig. Natürlich sitzt eine Österreicherin in mir, was denn sonst. Ich bin nicht in Deutschland geboren, ich bin in Österreich geboren, aber österreichische Schriftstellerin... Das amüsiert mich einfach, wenn es so gesagt wird, und im Grunde sehe ich mich nicht so. Aber es schmeichelt mir auch ein bißchen, dass die Österreicher es so sehen, dies so verstehen. Sie haben mich sozusagen da aufgenommen... erst ausgestoßen und da wollten sie mich nicht, und jetzt bin ich plötzlich eine österreichische Schriftstellerin. Na ja, warum nicht.197

Keine dieser Zuordnungen – so muss die Antwort lauten – beschreibt Klügers literarische Tätigkeit erschöpfend. Ihr autobiographisches Projekt ist vielmehr gerade als Verweigerung gegenüber einer solch eindeutigen Einordnung in die Literaturgeschichte zu lesen. Indem sich auch Klügers ›Identität‹ als Autorin einer eindeutigen Zuschreibung versperrt, stellt sie die Möglichkeit der eindeutigen Zuordnung literarischer Werke generell in Frage und rückt damit – analog zu ihren theoretischen Überlegungen – durch ihr eigenes Übersetzungsprojekt die Konstrukthaftigkeit von Literaturgeschichtsschreibung in den Blick.

4.2.6 Auseinandersetzung mit kollektiven Vergangenheitsversionen: Von weiter leben zu Still alive Klügers autobiographisches Projekt ist ebenso wie das von Friedländer nicht nur auf der Ebene individueller, sondern auch auf der Ebene kollektiver Erinnerungsprozesse als ›Erinnerungsbuch‹ zu lesen. Anders als Friedländer, der die Funktionsweise kollektiver Erinnerungsprozesse und ihre Bedeutung für die Ausbildung kollektiver Identitäten am Beispiel des Israel-PalästinaKonflikts literarisch inszeniert, schreibt Klüger ihr autobiographisches Projekt in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den deutschen und amerikanischen Diskursen, die seit 1945 immer wieder neu um die Interpretation des Holocaust und seine (ästhetische) Darstellung geführt werden und damit die öffentliche Erinnerung an den Holocaust bestimmen. Weiter leben ist nicht nur kurz nach der deutschen Wiedervereinigung erschienen, die die Diskussion um eine neue nationale Identität Deutschlands entfachte, sondern entstand außerdem in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Historikerstreit, dem Briefwechsel zwischen Friedländer und Broszat sowie der beginnenden Debatte um die Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Klügers deutscher Erinnerungstext antwortet also direkt auf die öffentlichen Diskussionen um das deutsche Selbstverständnis, die Singularität des Holocaust und seine Integration in die deutsche Geschichte. Auch in diesem Sinn ist weiter leben ein ›deutsches Buch‹. In der Auseinandersetzung mit den Diskursen um die ästhetische (Un)Darstellbarkeit von Auschwitz und durch den Einsatz zahlreicher intertextueller Verweise rückt dabei die Rolle von Literatur als ›Medium der Erinnerung‹ in den Vordergrund. Indem Klüger ihren deutschen Erinnerungstext als Antwort auf die 197

Bekas/Stepien, Interview mit Ruth Klüger am 28. März 2001 (wie Anm. 187), S. 95.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

199

bundesdeutschen Diskurse verfasst, ist ihr eigenes autobiographisches Projekt gleichzeitig selber an der Fortschreibung dieser Diskurse beteiligt und wird so seinerseits zum ›Medium der Erinnerung‹. Auch Klügers autobiographisches Projekt geht also weit über die Schilderung des persönlichen Schicksals hinaus. Eine Analyse, die sich vorrangig auf die ästhetische Darstellung der persönlichen Holocaust-Erfahrungen konzentriert und die dabei allzu oft den soziokulturellen Kontext außer acht lässt, in dem diese Erinnerungen entstehen, muss – wie Pascale R. Bos es formuliert – die zentrale Stellung übersehen, die die Auseinandersetzung mit den spezifisch deutschen Diskursen in weiter leben einnimmt.198 Die Abhängigkeit kollektiver Vergangenheitsversionen vom historischen Zeitpunkt und – wesentlicher noch – vom kulturellen Kontext wird jedoch vor allem deutlich, wenn man auch auf kollektiver Ebene die Ergänzung von Klügers autobiographischem Projekt durch den amerikanischen Paralleltext wahrnimmt. Durch die Existenz des im Abstand von neun Jahren veröffentlichten amerikanischen Textes – so das von Klüger verwendete Bild der Parallele – wird nicht nur die Fortschreibung und damit prinzipielle Unabschließbarkeit kollektiver Vergangenheitsversionen in den Blick gerückt. Vielmehr wird Still alive durch die Auseinandersetzung mit den spezifisch amerikanischen Holocaust-Diskursen zur kulturellen Übersetzung des deutschen Ausgangstextes. Auf diese Weise wird die Abhängigkeit von Vergangenheitsversionen vom Selbstbild des Kollektivs hervorgehoben. In welchem Maße weiter leben als Antwort auf die bundesdeutschen Diskurse einzuordnen ist, ist von der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits ausreichend zur Kenntnis genommen worden.199 Ich werde deshalb im Folgenden lediglich an die für die abgleichende Lektüre von Still alive relevanten, hinreichend bekannten Textpassagen erinnern, diese durch einen genaueren Blick auf die Gespenstermotivik ergänzen sowie Parallelen zu Friedländer herausstellen (4.2.6.1). Anschließend wird es – vor dem Hintergrund der Ergebnisse der gegenwärtigen Übersetzungswissenschaft – um die Analyse von Still alive als kulturelle Übersetzung des deutschen Textes gehen (4.2.6.2). 4.2.6.1 weiter leben als Auseinandersetzung mit den bundesdeutschen Diskursen In der Auseinandersetzung mit der (Un)Vergleichbarkeit des Holocaust ist weiter leben als unmittelbare Antwort auf den Historikerstreit zu lesen.200 Das 198 199

200

Vgl. hierzu Pascale R. Bos: Introduction. In: Dies., German-Jewish literature in the wake of the Holocaust (wie Anm. 132), S. 1–20. Für einen umfassenden Überblick über weiter leben als Antwort auf die bundesdeutschen (Nachkriegs-)Diskurse sei stellvertretend auf die ausführlichen Analysen von Heidelberger-Leonhard und Bos verwiesen. Zur Dokumentation der hinreichend bekannten Kontroverse vgl. die Beiträge in Rudolf Augstein (Hg.): ›Historikerstreit‹. Die Dokumentation der Kontroverse um

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Argument der Unvergleichbarkeit des nationalsozialistischen Judenmords hakt das erinnernde Ich dabei mit der ihr eigenen Deutlichkeit ab. Die Vernichtung der europäischen Juden ist einmalig – einmalig jedoch in dem Sinne, wie jedes Ereignis einmalig ist. Die Verweigerung gegenüber vergleichender Annäherung – und auch auf der Ebene kollektiver Erinnerung verwendet Klüger das Motiv des Gespenstes – führt dazu, dass der Mord an den Juden ausgegrenzt bleibt aus der eigenen Geschichte: Der ungelöste Knoten, den so ein verletztes Tabu wie Massenmord, Kindermord hinterläßt, verwandelt sich zum unerlösten Gespenst, dem wir eine Art Heimat gewähren, wo es spuken darf. Ängstliches Abgrenzen gegen mögliche Vergleiche, Bestehen auf der Einmaligkeit des Verbrechens. Nie wieder soll es geschehen. Dasselbe geschieht sowieso nicht zweimal, insofern ist alles Geschehen, wie jeder Mensch und sogar jeder Hund, einmalig (70).

Die Einmaligkeit des Geschehens wird – so das erinnernde Ich – durch Vergleiche nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil – nur über den Abgleich mit bereits vorhandenen Erfahrungen ist eine Annäherung möglich. Jedoch müssen die Vergleiche stimmen und dürfen nicht zu Gleichsetzungen werden, die die Erinnerungsdifferenz von Juden und Nichtjuden aufheben. Auf welche Weise Vergleiche zu falschen Gleichsetzungen werden, verdeutlicht das erinnernde Ich leitmotivisch an den Kommentaren Giselas, der deutschen Frau eines Kollegen aus Princeton. Die vom erinnernden Ich eingeforderte kritischvergleichende Annäherung bei gleichzeitigem Bewusstsein für die Differenz der Erinnerungen hebt sie am Beispiel der Kriegserfahrungen gleichaltriger Deutscher hervor: Deren Erfahrungen unterscheiden sich zwar von ihren eigenen, bieten jedoch gleichzeitig Anknüpfungspunkte, die eine Annäherung ermöglichen. Menschen etwa, die bei einem Bombenangriff im Luftschutzkeller Todesangst empfunden haben, verfügen über »eine Brücke zum Verständnis« für die Empfindungen des erinnerten Ichs im Viehwaggon nach Auschwitz – ebenso wie sie aus dieser Erfahrung heraus meint, eine »Art Verständnis« (110) für den Tod in den Gaskammern zu besitzen. Dabei geht es nicht um ein Gleichsetzen der Erfahrungen – vielmehr um eine Analogie, die die Unterschiede nicht missachtet: Wenn man andererseits gar nicht vergleicht, kommt man auf gar keine Gedanken, und es bleibt beim Leerlauf der kreisrunden Phrasen, wie in den meisten Gedenkreden. […] Ist denn das Nachdenken über menschliche Zustände jemals etwas anderes als ein Ableiten von dem, was man kennt, zu dem, was man erkennen, als verwandt erkennen kann. Ohne Vergleiche kommt man nicht aus. Sonst kann man die Sache nur ad acta legen, ein Trauma, das sich der Einfühlung entzieht (110).

die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. 9. Aufl. München, Zürich: Piper 1995 (1987). – Zu Klügers Auseinandersetzung mit dem Historikerstreit vgl. Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger ›weiter leben. Eine Jugend‹ (wie Anm. 132), S. 14ff.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

201

Dass es dabei nicht um die Aufhebung der Erinnerungsdifferenz geht, die zwischen Juden und Nichtjuden besteht, führt das erinnernde Ich exemplarisch an ihrer Beziehung zu ihrem Freund Christoph vor. Auf persönlicher Ebene bildet dieses Verhältnis die Differenz zwischen den Erfahrungen von Juden und Nichtjuden derselben Generation ab.201 Dan Diners Diktum von der ›negativen Symbiose‹ zwischen Juden und Deutschen202 klingt an, wenn das erinnernde Ich die Differenz dieser gleichzeitigen Erfahrungen beim Verlassen von Auschwitz in das Bild der »unvereinbare[n] Landschaften« (144) fasst. Doch beschränkt sich die Darstellung dieses ungleichen Verhältnisses nicht auf die Betonung der Unterschiede zwischen ihnen, rückt vielmehr die Spannung zwischen Differenz und Nähe in den Blick. Gemeinsam ist ihnen das Bedürfnis, weiter zu leben: Wir waren alle beteiligt an der Verdrängung der Vergangenheit, die früheren Häftlinge freilich weniger als die Freigebliebenen, und die früheren Täter am meisten. Uns allen war der Boden unter den Füßen zu heiß, und fast alle haben wir uns auf Neues verlegt, die Altbauten abgerissen und oft nichts besseres an ihre Stelle gesetzt (213).

Während das erinnernde Ich also trotz der Erinnerungsdifferenz Gemeinsamkeiten entdeckt, die eine Annäherung ermöglichen könnten, tut Christoph solche Vergleiche ab. Der Dialog zwischen Friedländer und Broszat um die ›mythische‹ Erinnerung der Opfer wird dabei fast wörtlich auf die Ebene der persönlichen Freundschaft übertragen. Während Christoph den Einfluss der Vergangenheit auf die gegenwärtige Wahrnehmung der Opfer betont, lässt er den Einwand, auch eine frühere Erziehung zum Hitlerjungen bestimme ihrerseits die Wahrnehmung der Gegenwart, nicht gelten: Ohne mit einer Unhöflichkeit rund herauszukommen, läßt Christoph durchblicken, ich könne kein gemäßigtes Urteil fällen über die Katastrophen, die uns heute bedrohen, denn für mich sei von Haus aus alles katastrophal […]. Ich antwortete, daß vielleicht auch die Urteilskraft der früheren Hitlerjungen durch ihre Erziehung beeinträchtigt sei. Diese Bemerkung hielt er für unangebracht (217).

Der niemals abreißende, niemals aufzulösende Dialog steht also über die persönliche Begegnung hinaus vor allem für eine vermeintlich wohlmeinende Auseinandersetzung von deutscher Seite, die sich in der Überzeugung der Richtigkeit der eigenen Position einer Annäherung an die Sichtweise der Opfer von vornherein versperrt. Dem erinnernden Ich dagegen geht es um die Anerkennung der Erinnerungsdifferenz bei gleichzeitiger Einforderung der Annähe201 202

Ebd., S. 49–55. Vgl. Dan Diner: »Seit Auschwitz […] kann tatsächlich von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen werden, freilich einer negativen: für beide […] ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden.« – Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Ders., Ist der Nationalsozialismus Geschichte? (wie Kap. 3, Anm. 24), S. 185. Hervorhebung im Original.

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rung über Vergleiche, die den einzig möglichen Zugang zur Verständigung bildet. Damit verweigert auch Klüger – ähnlich wie Friedländer – sich einem einzigen, objektiven, abgeschlossenen ›Masternarrativ‹.203 Gegen Vereinnahmung in ein ›Opferkollektiv‹ Lehnt das erinnernde Ich einerseits die Entrückung des Holocaust ins Singuläre ab, verwehrt sie sich gleichzeitig dem gegenteiligen, vereinfachenden Deutungsmuster: der Subsummierung der individuellen Geschichte unter ein vermeintliches Opferkollektiv, die ebenso eine Verweigerung gegenüber einer echten, differenzierten Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit darstellt, die alles andere als eindeutig ist. Die Reduktion der verschiedenen Häftlingsgruppen auf ein Kollektiv der Opfer ist höchst vereinfachend, auch die Auswirkungen des Aufenthalts im Konzentrationslager lassen sich nicht verallgemeinern, waren für jeden »einmalig« (73). Dabei rückt in den Blick, in welchem Maße Interpretationen der Vergangenheit von gegenwärtigen, zu bestätigenden Selbstbildern abhängen: Die Schwester Ditha wird zur Projektionsfläche gleich zweier, sich ausschließender Deutungsmuster, die den psychischen Zustand der Überlebenden festlegen. Von einer Psychotherapeutin wird ihr bestätigt, dass der Aufenthalt im Konzentrationslager keine bleibende Bedeutung für sie gehabt haben kann, da sie zum Zeitpunkt des Aufenthalts bereits älter als sechs Jahre gewesen ist. Ihre Bewerbung an der Nursing School eines jüdischen Krankenhauses dagegen wird aus gegenteiligen Gründen abgelehnt: Ihre Erfahrung im Konzentrationslager »würde ihre Fähigkeit, Patienten zu betreuen, beeinträchtigen«. »Damit ihr auch wißt, wer ihr seid« (239), lautet der Kommentar des erinnernden Ichs. Entscheidende Unterschiede werden nivelliert, unter die ›Gesamtheit der Lager‹ subsummiert, um dem distanzierten Betrachter die Einordnung zu erleichtern. Dem erinnernden Ich geht es dagegen gerade darum, gegen solche Vereinnahmungen anzuschreiben, eine differenzierte Annäherung an die Lager herauszufordern, den »Vorhang aus Stacheldraht zu durchbrechen, den die Nachkriegswelt vor die Lager gehängt hat« (81) und so die Distanz zwischen den Opfern und den Nichtbetroffenen zu verringern. Gegen den ›Mythos der Unsagbarkeit‹ Dass Klüger als Literaturwissenschaftlerin ihren persönlichen Erinnerungstext als Antwort auf die Diskurse um die ästhetische (Un)Darstellbarkeit von Auschwitz verfasst, erstaunt kaum. Literatur entsteht grundsätzlich in Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen literarischen Formen und Inhalten und ist 203

Vgl. hierzu McGlothlin: »Klüger’s dual approach of comparison and differentiation is the most powerful example of her method of ›dynamisches Denken‹, a discursive method that rejects unified master narratives in favor of an active, multiple, dialectical mode of engagement, one that is characterized by dialogue, parallelism and, above all, a propensity toward renegotiation and revision.« – McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 65.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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durch diese immer schon vorstrukturiert. Auch der persönliche Erinnerungstext wird so immer in bereits bestehende ästhetische Diskurse eingeschrieben. Das erinnernde Ich formuliert die Funktion von Literatur als ›Medium der Erinnerung‹ in weiter leben folgendermaßen: [F]ast so unsinnig ist es, sie [die Lager, K. M.] mit Worten beschreiben zu wollen, als liege nichts zwischen uns und der Zeit, als es sie noch gab. Die ersten Bücher nach dem Krieg konnten das vielleicht noch, jene Bücher, die damals niemand lesen wollte, aber gerade sie sind es, die unser Denken seither verändert haben, so daß ich heute nicht mehr von den Lagern erzählen kann, als wäre ich die erste, als hätte niemand davon erzählt, als wüßte nicht jeder, der das hier liest, schon so viel darüber, daß er meint, es sei mehr als genug, und als wäre dies alles nicht schon ausgebeutet worden – politisch, ästhetisch und auch als Kitsch (78f.).

Durch die zahlreichen intertextuellen Verweise wird der Einfluss literarischer Vorgänger und Diskurse in weiter leben explizit gekennzeichnet, die eigene Position abgeglichen, abgegrenzt. Adornos Diktum nimmt sie wörtlich und führt es durch das Einfügen ihrer eigenen Gedichte »Auschwitz« und »Der Kamin« unmittelbar zuvor ad absurdum.204 Die Funktion ihrer gereimten Verse im Lager setzt Klüger damit solchen Einwänden entgegen, die sich gegen die literarisch-künstlerische Annäherung an ›Auschwitz‹ aussprechen. Damit formuliert sie ihre Skepsis gegenüber jeglicher normativer Festschreibung einer künstlerischen Annäherung an den Holocaust (126). Dem ›Mythos der Unsagbarkeit‹ von ›Auschwitz‹ setzt sie den Sprachduktus ihres eigenen Erinnerungstextes entgegen, der sich durch die betont schlichte Verwendung der Sprache auszeichnet. Doch diese Schlichtheit täuscht: Hinter ihr verbirgt sich ein äußerst sensibles Bewusstsein für die Bedeutung unreflektiert verwendeter Begrifflichkeiten der Alltagssprache. Klüger nimmt Sprache buchstäblich ›beim Wort‹ und vermittelt somit durch den Sprachduktus des Erinnerungstextes, was sie ebenso durch den Idiolekt ihrer wissenschaftlichen Essays betont: die Verbindlichkeit von Sprache als einzigem menschlichen Kommunikationsmittel. Auch ›Auschwitz‹, so die Aussage, lässt sich sprachlich näherkommen. Damit grenzt sich Klüger von Aussagen wie etwa denen Primo Levis und Jean Amérys ab, die Erfahrung der erlebten Gewalt lasse sich mit den zur

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Es ist unnötig, an dieser Stelle nochmals darauf zu verweisen, dass es sich bei diesem Zitat lediglich um den ersten Teil der Passage handelt, deren Aussage sich in Anbetracht des Gesamtwerks von Adorno anders liest, als es die tun, die sie in den Dienst eines ›Unsagbarkeits-Mythos‹ stellen. – Zu Klügers Auseinandersetzung mit Adornos Diktum vgl. Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger ›weiter leben. Eine Jugend‹ (wie Anm. 132), S. 22–25. – Vgl. auch Klaus Laermann: ›Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch‹. Überlegungen zu einem Darstellungsverbot. In: Kunst und Literatur nach Auschwitz. Hg. von Manuel Köppen. Berlin: Schmidt 1993, S. 11–15.

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Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln nicht adäquat ausdrücken.205 So heißt es im Anschluss an die Bestrafung der Mutter im Lager: Die Szene ist vielleicht die lebendigste, grellste Erinnerung aus Birkenau. Und doch hab ich nie darüber gesprochen. Ich dachte, die kann ich nicht aufschreiben, und wollte statt dessen hier einfügen, daß es Dinge gibt, über die ich nicht schreiben kann. Jetzt, wo sie auf dem Papier stehen, sind die Worte dafür so gewöhnlich wie andere und waren nicht schwerer zu finden (137).

Dabei wird die Problematik sprachlicher Darstellungen des Holocaust keinesfalls übersehen. Wiederholt setzt sich das erinnernde Ich mit den Grenzen dieser Darstellbarkeit auseinander und rückt die Schwierigkeiten des eigenen Schreibprozesses in den Blick. So heißt es andererseits über die »auferlegte Nacktheit« (142), den »Verlust an Identität« (143) während der Untersuchungen der weiblichen Häftlinge: Mir fällt es schwer, diese an sich keineswegs traumatische Erinnerung aufzuschreiben, und ich merke, daß ich es mit umständlichen Worten getan habe, daß mir auch keine besseren einfallen. Ähnlich habe ich uns in der ersten Niederschrift der Selektion Unterwäsche angedichtet, was mich beim Durchlesen sehr erstaunt hat, denn wir waren ja nackt (142).

Im Kontext der Todesangst während der Bombardierung nach der Flucht heißt es: »Gerade über solche extremen Erlebnisse ist ja erstaunlich wenig zu sagen. Menschliches Sprechen ist für anderes erfunden und gemeint« (188). Explizit formuliert das erinnernde Ich ihre Sprachskepsis am Ende des Textes: »Sprache liefert ihre Klischees gratis, die abgedroschenen Phrasen und verbrauchten Wörter fallen einem zu wie Vogeldreck auf den Scheibenwischer« (283). Obwohl sie sich eindeutig dem Topos der Unsagbarkeit von Auschwitz verweigert, gilt die Skepsis gleichzeitig einer Versprachlichung der Erfahrung, die diese einebnet. Die eigenen Gedichte werden als Zeugnisse der eigenen »Aussageunfähigkeit« bezeichnet (96), und nicht von ungefähr ist am Ende von weiter leben das Gedicht »Aussageverweigerung« (284) eingefügt, mit dem auf die Grenzen jeglicher Darstellbarkeit verwiesen wird und dessen Titel zunächst als Titel für den gesamten Text geplant war: 205

Vgl. hierzu beispielsweise Levi: »Da merken wir zum erstenmal, daß unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dies Vernichten eines Menschen.« – Primo Levi: Ist das ein Mensch? 4. Aufl. München: Deutscher TaschenbuchVerlag 1995 (1961) (dtv; 11561) (orig.: Se questo è un uomo. Torino: Einaudi 1947), S. 28. – Améry äußert sich im Zusammenhang mit der Folter folgendermaßen: »[E]in Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze des sprachlichen Mitteilungsvermögens.« – Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 3. Aufl. Stuttgart: Klett Cotta 1997 (1966), S. 63.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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Am Ende meines Buches steht ein Gedicht, das ich »Aussageverweigerung« nannte und beinahe hätte ich dieses Wort auch als Buchtitel gewählt. Er sollte das Problem, das Tauziehen zwischen Erinnern und Verdrängen, zwischen Überforderung des Lesers und Verstummen, ins Licht rücken. Falsches, inadäquates, von der Subjektivität geprägtes Erinnern ist ein Thema in meinem Buch. Denn ich glaube natürlich nicht, daß subjektive Wahrnehmung und objektives Geschehen nahtlos ineinander übergehen.206

So ist die Annäherung an die persönliche Vergangenheit doppelt ›gefiltert‹: erstens durch die Erinnerung, zweitens durch die Sprache der »Nacherzählung«, die Gefahr läuft, »das Körnige, das Sandige des wirklich Erlebten bis zur Widerstandslosigkeit [...] aus[zu]filtrieren« (32). Dabei ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit für die Leserin und Literaturwissenschaftlerin maßgeblich von literarischen Mustern bestimmt, die diese immer schon vorstrukturieren (vgl. Kapitel 4.2.7 der vorliegenden Arbeit). Damit steht das autobiographische Projekt Klügers – analog zu dem Friedländers – im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, sich der Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern – und dem Bewusstsein, dass ein unmittelbarer Zugang nicht möglich ist. Dennoch: Zentral ist, dass sich das erinnernde Ich einem von vornherein festgelegten ›Diktum der Unsagbarkeit‹ verweigert, das den Holocaust entrückt und so vor Auseinandersetzung schützt. Trotz der Betonung der Grenzen der Sprache dienen Wörter der Benennung und sind Kommunikationsmittel: Solang es nur irgendein Wort gibt, das sich ohne Umschweife und Nebensätze gebrauchen läßt. Denn Wörter, einfache Wörter, wie sie mit Definitionen im Wörterbuch stehen, nicht einmal die hochtrabenden Worte, grenzen ab und schaffen umfriedetes Gedankengelände [...] (233).

Für die »Traditionen des Entsetzens« habe es – so das erinnernde Ich – »immer schon richtige Worte gegeben« (270). Gerade in diesem »antinormativen Bemühen um Darstellung« (von der Lühe) liegt die Besonderheit von Klügers

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Klüger, Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 410. – Dem Einwand des Verlags, sie habe schließlich vor dem deutschen Publikum doch ›ausgesagt‹, habe sie sich – so Klüger im Interview – letztendlich gebeugt. Erhalten ist die Wahl des Titels jedoch in der französischen Übersetzung ›Refus de témoigner‹: »Mit dem französischen Verlag habe ich dann korrespondiert und denen gesagt, daß das in Deutschland der Einwand gewesen sei, aber daß die Schwierigkeit der Aussage den Titel eigentlich rechtfertigt.« – Zur Wahl des Titels ›weiter leben‹ äußert Klüger sich folgendermaßen: »Der jetzige Titel ist eigentlich eine idiomatischere Übersetzung vom englischen ›surviving‹, überleben. ›Überleben‹ konnte man schlecht als Titel verwenden, das ging nicht. ›Surviving‹ war aber der Begriff, um den es mir ging. Und ›weiterleben‹ nur so, als ein Wort, das wollte ich ein bißchen verfremdet haben, damit man ein bißchen drüber nachdenkt, es ein bißchen anders liest.« – Klüger, »…›ein deutsches Buch‹ ist ja ein bißchen zwiespältig…« (wie Anm. 84), S. 44.

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Sprachduktus – oder wie Herta Müller es formuliert: »Das ganz direkte Sagen macht dieses Buch so poetisch«.207 Deutung des Geschehens Der Versuch der Versprachlichung der Erinnerungen trotz des Bewusstseins der Grenzen der Sprache resultiert aus dem Bedürfnis, sich dem Geschehen anzunähern. Eine solche Annäherung aber ist ohne Interpretation nicht möglich. Dokumente allein reichen nicht aus, um die Ereignisse zu verstehen, bedürfen vielmehr der Deutung. Gedichte sind Formen solcher Deutung: »Gedichte sind eine bestimmte Art von Kritik am Leben und könnten […] beim Verstehen helfen. Warum sollen sie das nicht dürfen?« (126) Auch in weiter leben erhält damit – analog zu Klügers eigenen und auch zu Friedländers theoretischen Überlegungen – die Frage, ob sich dem historischen Geschehen nur durch ›Wissen› (als ›Faktenwissen‹) anzunähern sei, einen zentralen Stellenwert. Dabei betont das erinnernde Ich, dass auch eine vermeintliche Beschränkung auf die ›Fakten‹ immer auf Interpretation basiert, und weist auf die Notwendigkeit der Deutung dieser Fakten durch Kunst und Literatur hin: Vor meinen alten Kindergedichten wird mir die Forderung hinfällig, man solle die Interpretationen sein lassen und sich nur den Dokumenten widmen. Wer nur erlebt, reim- und gedankenlos, ist in Gefahr, den Verstand zu verlieren […]. Ich hab den Verstand nicht verloren, ich hab Reime gemacht. Die anderen, die vor den zweidimensionalen Dokumenten stehen, verlieren den Verstand natürlich auch nicht, denn sie sind ja nicht mit dem Geschehenen, sondern nur mit einem unausgegorenen Abklatsch konfrontiert. Wer mitfühlen, mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens. Das Geschehen allein genügt nicht (127).

Dass ›reine Fakten‹, wie sie vermeintlich in Gedenkstätten und HolocaustMuseen ausgestellt werden, Zugang zum historischen Ereignis liefern, ist eine Illusion – weshalb das erinnernde Ich die Funktion der erhaltenen Lagergelände anzweifelt. Klügers deutscher Erinnerungstext entstand parallel zur intensiv geführten Diskussion um den institutionalisierten Umgang mit dem Holocaust, die durch die sich immer weiter verringernde Zahl überlebender Zeugen von Auschwitz ausgelöst wurde. Der zweite Teil von weiter leben – »Die Lager« – wird bekanntlich durch eine ungewöhnlich scharfe Auseinandersetzung mit der Bewahrung der ehemaligen Lagergelände als Gedenkstätten eingeleitet, die an dieser Stelle im Zusammenhang mit Klügers eigener, fiktionaler ›Gespenstergeschichte‹ aus ihrem Essay »Dichten über die Shoah« gelesen werden soll, 207

Vgl. hierzu von der Lühe, Das Gefängnis der Erinnerung (wie Anm. 131), S. 33. Weiter unten heißt es dazu: »Sprachskepsis, Unzufriedenheit mit den Worten, auch den eigenen, wird indes nicht zur Sprachkrise, schon gar nicht zum theoretisierenden Räsonnement über das Unsagbare.« – Ebd., S. 39. – Herta Müller: Sag, dass du fünfzehn bist – weiter leben Ruth Klüger. In: Dies.: In der Falle. Göttingen: Wallstein 1996 (Politik – Sprache – Poesie; 2), S. 25–40, hier: S. 34. Hervorhebung im Original.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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der bislang – ungerechtfertigterweise – kaum Beachtung gefunden hat.208 Zugang zum vergangenen Geschehen leisten diese Gedenkstätten nicht. Vielmehr sind sie zu musealen Orten geworden, die mit dem Ort der Häftlinge nichts mehr gemeinsam haben, wie das erinnernde Ich am Beispiel von Dachau verdeutlicht (77). Der Besuch der Gedenkstätten dient nicht der Annäherung an das Schicksal der dort Umgekommenen – im Gegenteil: Das Erleben eines »Gruseln[s]« zielt vielmehr ab auf die Gefühle des Betrachters, dienen der sentimentalen »Selbstbespiegelung der Gefühle« (76). Klügers theoretische Überlegungen zum KZ-Kitsch klingen an, wenn sie die Faszination des ausgestellten Grauens betont (257). Nicht nur für den nichtbetroffenen Betrachter, auch für die Überlebenden selber besteht im Bewahren der »Gespenstergelände« (71) ein Selbstzweck: Uns geht es anders, uns lassen sie nicht locker, die Gespenster, mein ich. Wir erwarten, daß Ungelöstes gelöst wird, wenn man nur beharrlich festhält an dem, was übrig blieb, dem Ort, den Steinen, der Asche. Nicht die Toten ehren wir mit diesen unschönen, unscheinbaren Resten vergangener Verbrechen, wir sammeln und bewahren sie, weil wir sie irgendwie brauchen. Sollen sie etwa unser Unbehagen erst beschwören, dann beschwichtigen? (70, Hervorhebung im Original)

Doch Gespenster lassen sich nicht an Orte bannen: »Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich daß die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein« (76). Im Kontext der Gedenkstätten zitiert das erinnernde Ich zwei Autoren, mit deren unterschiedlicher Annäherung an die ehemaligen Lagergelände sie sich auseinandersetzt: Peter Weiss und Claude Lanzmann.209 Mit Weiss verbindet sie zweierlei: erstens die Einschätzung, dass die zu Gedenkstätten umfunktionierten Konzentrationslager dem Besucher keinen Zugang zur Vergangenheit bieten – und zweitens die Forderung, ›Auschwitz‹ nicht als singuläre Katastrophe zu entrücken. Weiss’ Annäherung an Auschwitz durch seinen Aufsatz »Meine Ortschaft«210 ist, so begegnet das erinnernde Ich möglicher Kritik, nicht unangemessen, obwohl er dort nicht inhaftiert war: »Das wird schon richtig gewesen sein, denk ich, für diesen Besucher, der eben doch nicht verurteilt war, dort zu sterben, sondern es nur gewesen wäre, hätte er nicht auswandern können« (75). Zwar kann ein Besuch von Auschwitz heute nicht mehr sein als der Besuch einer Gedenkstätte, die keinen Zugang zu dem bietet, was dort in der Vergangenheit geschah.211 Wesentlich ist jedoch Weiss’ Bereit208

209 210 211

Vgl. S. 209. – Lediglich von der Lühe erwähnt sie, ohne sie jedoch weiter zu analysieren. Auch hier sei deshalb auf den Aufsatz von Smale verwiesen (vgl. Anm. 158). Vgl. hierzu Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger ›weiter leben. Eine Jugend‹ (wie Anm. 132), S. 25–28. Peter Weiss: Meine Ortschaft. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 114–124. So heißt es bei Weiss: »[D]iese Worte, diese Erkenntnisse sagen nichts, erklären nichts. Nur Steinhaufen bleiben, vom Gras überwuchert. […] Ein Lebender ist ge-

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schaft, sich dennoch einzulassen und sich dem Geschehen mit den ihm zur Verfügung stehenden Vergleichsmöglichkeiten anzunähern. Dem Vorwurf, Weiss habe ungerechtfertigt den nationalsozialistischen Judenmord mit anderen Verbrechen verglichen, hält das erinnernde Ich entgegen, dass Vergleiche die einzig mögliche Form der Annäherung sind: »Aber ich weiß gar nicht, wie man anders an die Sache herankommen soll als durch Vergleiche« (76). So wird Peter Weiss für sie zum »beste[n] Besucher, den man sich wünschen kann« (75). Claude Lanzmanns Konzentration auf die Orte des Geschehens dagegen ist ihr fremd, fasziniert sie jedoch andererseits: »Ein Besessener, denk ich, Zuschauerin im dunklen Raum, und bewunder ihn halb, halb bin ich ihm voraus: ›Du brauchst die Orte. Mir genügen die Ortsnamen‹, und bin doch gebannt von seiner Besessenheit« (76). Anders als Friedländer, der Lanzmanns Aufsuchen der ehemaligen Lagergelände auch auf räumlicher Ebene als Betonung der Diskrepanz zwischen der einstigen Erfahrung und der Gegenwart deutet, versteht Klüger die Rückkehr an die ehemaligen Orte der Verbrechen als Versuch, sich der Vergangenheit zu nähern – ein Versuch, den sie als »Aberglaube[n]« (76) bezeichnet. Lanzmanns Aufsuchen der Orte der Vernichtung setzt sie ihr vielzitiertes Konzept der ›Zeitschaften‹ entgegen: »Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher« (78).212 So hat das erinnernde Ich selbst Auschwitz, den »Ort für Geländebewahrer« (138), nach dem Krieg nicht aufgesucht. Am Beispiel Theresienstadt dagegen, das heute wieder eine bewohnte Stadt ist, beschreibt sie einen angemessenen Umgang mit den ehemaligen Orten des Verbrechens: Ich ging in die Offizierskaserne hinein, wo wir untergebracht gewesen waren […]. Dann schlenderte ich durch die Straßen, wo Kinder spielten, und sah meine Gespenster unter ihnen, sehr deutlich und klar umrissen, aber durchsichtig, wie Geister sind und sein sollen, und die lebenden Kinder waren fest, laut und stämmig. Da ging ich beruhigt fort. Theresienstadt war kein KZ-Museum geworden. Es war ein Städtchen, wo Menschen lebten (104).

Die Gespenster lassen sich nicht »besichtigen« und damit als Vergangenheit entsorgen, lassen sich nur aus der Gegenwart heraus zu fassen bekommen: »Um mit Gespenstern umzugehen, muß man sie ködern mit Fleisch der Gegenwart« (79), sich durch »dynamisches Denken« (79) einlassen auf Unvorhersehbares von außen, das feststehende Denkmuster in Frage stellt und den

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kommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierherkommt, aus einer anderen Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, […] doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt. […] Jetzt steht er nur in einer untergegangenen Welt.« – Ebd., S. 124. Diese Einschätzung wird durch Klügers Essay über Lanzmann teiweise revidiert. – Klüger, Lanzmanns ›Shoah‹ in New York (wie Anm. 61).

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

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gewohnten Gedankenhaushalt durcheinanderbringt – ›Haushalt‹ hier wiederum im Stifterschen Sinne, denn »in einer gut funktionierenden Hexenküche zieht es immer, durch Fenster und Türen und bröckelnde Wände« (80). Solch eine vergleichende Auseinandersetzung jedoch bleibt zumeist aus. Das Verbleiben in formelhaften Gesten, denen es nicht um eine echte Auseinandersetzung mit dem Massenmord geht, diesen vielmehr ins ›Unsagbare‹ entrücken, hat Klüger in ihrer eigenen ›Gespenstergeschichte‹ gefasst. Der Beginn dieser ›fiktionalen Gespenstergeschichte‹, den Klüger »zum beliebigen Weiterspinnen« freigibt, sei deshalb an dieser Stelle abschließend eingefügt: In einem Hörsaal kommt der Geist eines der vielen Erschlagenen, angezogen vom Thema, erfreut, daß seiner gedacht wird. Er setzt sich aufs Podium vorne hin, läßt die Beine baumeln, wie die Demonstranten auf der Berliner Mauer. Das Publikum starrt ihn mit glasigen Augen an, ohne ihn zu sehen. Der oder die Vortragende spricht vom Unsäglichen, vom Unvorstellbaren, vom Unaussprechlichen. Das Gespenst fragt sich, warum der an ihm verübte Mord unsäglich ist. Es gäbe doch ein deutsches Wort dafür: Genickschuß. Und warum unvorstellbar, wenn es doch keineswegs ein Mysterium war, sondern eine blutige Sauerei, am hellichten Tag. Das Gespenst merkt langsam, daß von ihm gar nicht die Rede ist, sondern nur von der Erschütterung des Sprechers, der seine Fähigkeit zum Mitgefühl dem Publikum zur Schau stellt. Und während vom Pult her die Rede ist von der teuflischen Umnachtung der Mörder, denkt das Gespenst an seinen sonnenhellen Todestag und an die Schützen, die ganz gewöhnlich und keine Dämonen waren. Ich denke mir, daß mein Gespenst langsam merkt, daß das Publikum es mit glasigen Augen anstarrt, ohne es zu sehen. Es gibt eben nicht viele Geisterseher. Aber einer sieht es doch, ein gepflegter Herr, Jahrgang 1920, der in der hinteren Reihe sitzt, einer der damaligen Schützen. Der sieht ihn. Und dann würde ich noch eine junge Studentin erfinden, ersten Semesters, die treuherzig und aus einer echten Beunruhigung über die Parteiabzeichen in der Schatulle auf Großvaters Schreibtisch zu uns gekommen ist. Die Worthülsen des Sprechers haben sie eingeschläfert, trotz ihrer standhaften Bemühungen, gut zuzuhören. Sie sieht durch geschlossene Augenlider unser geknicktes und gekränktes Gespenst den Saal verlassen. Sie steht auf und folgt ihm; der gepflegte Herr aus der hinteren Reihe tut dasselbe, durch eine andere Tür. Der oder die Vortragende hat das Gespenst natürlich auch nicht wahrgenommen und ärgert sich nur über die beiden Zuhörer, die den Saal vorzeitig verlassen haben. Das wäre so ein Ansatz, den jeder mit ein wenig Phantasie und Verstand aus eigenem Unbehagen und Mitgefühl fortsetzen kann. Ein unfertiges Bruchstück über die Vergangenheit für die offenen Fragen des Weiterlebens (221).213

In der Auseinandersetzung mit den bundesdeutschen Diskursen ist weiter leben – so die kurze Zusammenfassung – auch auf kollektiver Ebene als ›Erinnerungsbuch‹ zu lesen. Die Interpretation des Holocaust wird damit in ihrer Abhängigkeit vom gegenwärtigen deutschen Selbstbild gekennzeichnet. Im folgenden Teil wird es darum gehen, Still alive vor dem Hintergrund aktueller 213

Zu einer ausführlichen Interpretation der Gespenstermotivik im Kontext kollektiver Erinnerung vgl. wiederum Smale, ›Ungelöste Gespenster‹? (wie Anm. 158).

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Ergebnisse der Übersetzungswissenschaft als Fortschreibung und kulturelle Übersetzung von weiter leben in den amerikanischen Kontext zu lesen. 4.2.6.2 Von weiter leben zu Still alive: Fortschreibung und kulturelle Übersetzung kollektiver Vergangenheitsversionen In den Zeitraum zwischen der Veröffentlichung von weiter leben und Still alive fallen für die öffentliche Diskussion des Holocaust und seiner Darstellbarkeit so bedeutsame Ereignisse wie die Rede Martin Walsers in der Paulskirche, die Veröffentlichung von Daniel J. Goldhagens Hitler’s willing executioners, die Diskussion um die gefälschte Holocaust-Autobiographie Binjamin Wilkomirskis und die Debatte um das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.214 Der Holocaust steht seither nicht nur in Deutschland im Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen. Seit den 1990er Jahren lässt sich – so Schaumann in Anlehnung an Alvin H. Rosenfeld – eine ›Amerikanisierung‹ des Holocaust beobachten.215 Steven Spielberg ist mit seinem Film Schindler’s Liste (1993) und dem von ihm ins Leben gerufenen »Shoah Visual History Project« zum prominentesten Vertreter dieser ›Amerikanisierung‹ des Holocaust geworden. Den Stellenwert, den die Diskussionen um die Repräsentation des Holocaust gerade im amerikanischen öffentlichen Bewusstsein einnehmen, verdeutlichen zudem die in kurzen Zeitabständen aufeinander folgenden Eröffnungen zahlreicher Museen und Gedenkstätten in den USA, darunter das United States Holocaust Memorial Museum in Washington (1993), das Museum of Jewish Heritage in New York (1993) und – mit komparatistischer Perspektive – das Beit Hashoah Museum of Tolerance in Los Angeles (1997). In der Auseinandersetzung mit den sich weiter entwickelnden HolocaustDiskursen ist Still alive erstens als Fortschreibung des deutschen Textes zu lesen. Die Auseinandersetzung mit den öffentlichen Holocaust-Diskursen beschränkt sich jedoch nicht auf eine Verlängerung der sich im zeitlichen Abstand zwischen beiden Versionen verändernden Diskurse. Klügers amerikanischer ›Paralleltext‹ ist vielmehr – zweitens – als kulturelle Übersetzung der persönlichen Geschichte in den amerikanischen kulturellen Kontext zu lesen.216 214

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Martin Walser: Die Banalität des Guten. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Oktober 1998. – Vgl. Goldhagen, Hitler’s willing executioners (wie Kap. 3, Anm. 59). – Vgl. hierzu McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 48. Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 331. – Schaumann bezieht sich hier auf den Titel des Essays von Alvin H. Rosenfeld: The americanization of the Holocaust. In: Ders. (Ed.): Thinking about the Holocaust. After half a century. Bloomington: Indiana University Press 1997 (Jewish literature and culture), S. 119–150. Vgl. hierzu Schaumanns wichtigen Verweis auf die Übersetzungswissenschaft. – Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 330f.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

211

Der Terminus ›kulturelle Übersetzung‹ signalisiert, dass die Existenz des amerikanischen Paralleltextes nicht nur eine Reformulierung des Ausgangstextes darstellt, durch den die Prozesshaftigkeit kollektiver Identitätsprojekte in den Blick gerückt wird. Zur Beschreibung von Klügers Übertragung des eigenen, deutschen Erinnerungstextes in den amerikanischen Kontext lassen sich deshalb die aktuellen Ergebnisse der Übersetzungswissenschaft nutzbar machen: Die Übersetzung eines Textes von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache wird dort nicht mehr als möglichst wortgetreue Übertragung verstanden. Vielmehr tritt unter dem Stichwort ›kulturelle Übersetzung‹ bzw. ›cultural translation‹ die Abhängigkeit jeder Übersetzung von ihrem kulturellen Kontext und historischen Entstehungszeitpunkt hervor: [W]e are no longer ›stuck to the word‹, or even the text, because we have realised the importance of context in matters of translation. One context is, of course, that of history. The other context is that of culture. […] [T]ranslations are never produced in a vacuum, and they are also never received in a vacuum.217

Das Ziel einer Übersetzung kann also nicht mehr in einer möglichst ›wortgetreuen‹ Wiedergabe des Originaltextes liegen. Die ›Treue‹ des Zieltextes zum Quellentext besteht vielmehr darin, die Wirkungsweise des Originaltextes in der Originalkultur so weit wie möglich auf den Zieltext und seine Wirkung in der Zielkultur zu übertragen.218 Das ehemalige Dominanzverhältnis zwischen – übergeordnetem – Originaltext und – untergeordneter – Übersetzung wird damit in Frage gestellt: Beide Versionen stehen qualitativ nicht in Konkurrenz zueinander, erfüllen vielmehr unterschiedliche Aufgaben. Quellen- und Ziel217

218

Susan Bassnett/André Lefevere: Introduction. Where are we in translation studies? In: Dies. (Ed.): Constructing cultures. Essays on literary translation. Clevedon, Philadelphia: Multilingual Matters 1998 (Topics in translation; 11), S. 1–11, hier: S. 3. – Zum ›cultural turn‹ innerhalb der Übersetzungswissenschaft vgl. dies.: Introduction. Proust’s grandmother and the thousand and one nights. The ›cultural turn‹ in translation studies. In: Dies. (Ed.): Translation, history, and culture. London, New York: Pinter Publishers 1990, S. 1–13. – Vgl. auch Lawrence Venuti: Retranslations. The creation of value. In: Translation and culture. Ed. by Katherine M. Faull. Lewisburg: Bucknell University Press 2004 (Bucknell Review; 47,1), S. 25– 38, hier: S. 34. – Ansätze aus dem deutschen Sprachraum, die die Bedeutung kultureller Faktoren für den Akt der Übersetzung betonen, finden sich in den Arbeiten von Hönig/Kussmaul und Reiss/Vermeer. – Hans G. Hönig/Paul Kussmaul: Strategie der Übersetzung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 4. Aufl. Tübingen: Narr 1996 (1982) (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 205). – Katharina Reiss/Hans J. Vermeer: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. 2. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1991 (1984) (Linguistische Arbeiten; 147). – Einen guten Überblick über den Einfluss postkolonialer Ansätze auf die translation studies bietet der von Sherry Simon und Paul St-Pierre herausgegebene Sammelband Changing the terms. – Sherry Simon/Paul St-Pierre (Ed.): Changing the terms. Translating in the postcolonial era. Ottawa: University of Ottawa Press 2000 (Perspectives on translation). Vgl. Bassnett/Lefevere (Ed.), Translation, history, and culture (wie Anm. 217), S. 8.

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text gelten nun als zwei nebeneinander bestehende, gleichberechtigte Versionen. Damit wird Übersetzung immer zum Neuschreiben des Ausgangstextes. Auf der Ebene kollektiver Diskurse führt die Existenz zweier ›Paralleltexte‹ damit vor, was schon auf der Ebene des individuellen Identitätsprojekts im Mittelpunkt stand: Eine universale, kontextunabhängige, abgeschlossene Deutung historischer Ereignisse – hier speziell des Holocaust – existiert nicht. Die Einbettung in den amerikanischen Kontext erfolgt zunächst über das Aufrufen spezifisch amerikanischer Symbole – so etwa die Verweise auf Mark Twain und Woody Allen, das Erdbeben von San Francisco, den Mythos der Pocahontas oder die amerikanischen Coffee Shops.219 Darüber hinaus stellen intertextuelle Verweise sowie die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zitate den Text in einen literarischen Kontext, der dem amerikanischen Rezipientenkreis vertraut ist, während die zahlreichen Verweise auf österreichische und deutsche Autoren zum großen Teil wegfallen.220 Neben den Verweisen auf die amerikanische Alltagskultur und dem einem amerikanischen Publikum vertrauten literarischen Kanon ist es jedoch vor allem die Auseinandersetzung mit den öffentlichen, amerikanischen Holocaust-Diskursen, die den amerikanischen Text maßgeblich von der deutschen Version unterscheidet. Um Klügers amerikanischen Erinnerungstext als Antwort auf die amerikanischen Diskurse einordnen zu können, ist ein kurzer Überblick über diejenigen Aspekte des sich wandelnden Stellenwerts des Holocaust im öffentlichen amerikanischen Bewusstsein vorangestellt, die für die Analyse von Still alive relevant sind – in Form eines kurzen Exkurses, den der kundige Leser/die kundige Leserin überspringen mag. Exkurs: Der Holocaust im öffentlichen amerikanischen Bewusstsein In den Nachkriegsjahren wurde die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung zunächst aus dem öffentlichen amerikanischen Bewusstsein verdrängt. Der Grund dafür ist – folgt man Peter Novick – hauptsächlich in der neuen Konstellation des Kalten Krieges zu suchen: In einer amerikanischen Nachkriegsrhetorik, die die Ähnlichkeit des sowjetischen mit dem nationalsozialistischen System betonte, hatten die Hervorhebung der Juden als besondere Opfergruppe und ihre Verfolgung aus ideologischen Motiven keinen Platz.221 Verstärkt wurde diese Tendenz durch das in den unmittelbaren Nachkriegsjahren optimistische Klima in den USA, bedingt durch den siegreich geführten 219 220 221

Vgl. hierzu Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 330. Vgl. hierzu McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 58. Novick, The Holocaust and collective memory (wie Kap. 2, Anm. 72). – Ich orientiere mich im Folgenden bei indirekten Zitaten an der deutschen Version Nach dem Holocaust, die für die deutschen Leser vermutlich leichter zugänglich ist. Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2003 (2001) (dtv; 30877).

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Krieg, eine expandierende Wirtschaft sowie die führende Rolle in der Weltpolitik.222 Weder in der Literatur noch im Film wurde der Holocaust ausführlich behandelt, in den Lehrplänen der Schulen kam er nur am Rande vor.223 Im architektonischen Bild der Städte erinnerte noch nichts an den Holocaust. Anders als in der Gegenwart war der Holocaust in der Nachkriegszeit noch nicht zum Träger universaler Lehren stilisiert worden. Insgesamt bestimmte nicht die Betonung der ethnischen Besonderheiten, sondern die Hervorhebung der Gemeinsamkeiten das allgemeine amerikanische und damit auch das jüdische Bewusstsein. Gelang es zwar nicht, die Erfahrung des Holocaust vollständig auszublenden, so wurden im öffentlichen jüdischen Diskurs doch die ›positiven‹ Komponenten herausgestellt. Über eine Marginalisierung der jüdischen Opfer bzw. ihre Integration in ein universales Opfer-Kollektiv hinaus geschah dies insbesondere durch die Heroisierung geleisteten Widerstands, etwa des Aufstands des Warschauer Ghettos, sowie in der Betonung der erfolgreichen Lebenswege der Überlebenden nach der Katastrophe in den USA.224 Hinzu kam, dass dem Status des Opfers generell nicht der positive Stellenwert zukam, den er heute einnimmt.225 Das Schweigen vieler Überlebender über ihre Erfahrungen wird rückblickend zumeist mit Verdrängung begründet: Die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse seien zu schmerzhaft gewesen, um sie in der Nachkriegszeit mitzuteilen. Entgegen dieser Annahme existierte – so Novick – jedoch durchaus das Bedürfnis, über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen. Mangel bestand vielmehr an der Bereitschaft zuzuhören.226 Erst in den sechziger Jahren veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung des Holocaust in der amerikanischen Öffentlichkeit. Dabei spielte der Eichmann-Prozess in Jerusalem bekanntlich eine bedeutende Rolle: Erstmals wurde hier die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden unabhängig von allen anderen nationalsozialistischen Verbrechen verhandelt. Die verstärkte Betonung der jüdischen Identität seit den 1970er Jahren ist im Kontext einer allgemeinen Bewegung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu sehen: Hatte der ›amerikanische Traum‹ bis dahin in einer Betonung von Gemeinsamkeiten über ethnische Grenzen hinweg bestanden, wurde das Ideal des ›Schmelztiegels‹ mehr und mehr durch ein partikularistisches Ethos ersetzt. Auch auf jüdischer Seite begann man nun, sich auf spezifisch jüdische Interessen zu konzentrieren und die Solidarität innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu betonen.227 Da eine Definition des Judentums sich kaum auf eine Basis gemeinsamer Glaubenssätze oder kultureller Gemeinsamkeiten stützen konnte, kam dem Holocaust innerhalb dieses neuen Selbstbilds eine 222 223 224 225 226 227

Novick, Nach dem Holocaust (wie Anm. 221), S. 154. Ebd., S. 141. Ebd., S. 156f. Ebd., S. 164f. Ebd., S. 113f. Ebd., S. 240; S. 248.

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entscheidende Rolle zu – als gemeinsamer Nenner für die amerikanischen Juden.228 Hatte man zunächst die Selbstdefinition über den Opferstatus abgelehnt, wurde der Holocaust nun zum zentralen Symbol jüdischer Identität.229 Der Erinnerung an den Holocaust kam von nun an also eine neue identitätsstiftende Rolle zu. Die Betonung der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust von jüdischer Seite führte dazu, dass andere ethnische Gruppen sich in ihrem Status als Opfer benachteiligt fühlten. Von jüdischer Seite dagegen wehrte man sich gegen die als ungerechtfertigt empfundenen Vergleiche. Exemplarisch für diese Konflikte sind die vehementen Debatten, die um die Aufnahme weiterer Opfergruppen in die permanente Ausstellung des Holocaust Memorial Museums in Washington geführt wurden.230 Trotz der Einsprüche anderer ethnischer Gruppen hat sich im amerikanischen, speziell im amerikanischjüdischen Bewusstsein die Wahrnehmung des Holocaust als singuläres, unvergleichbares historisches Ereignis durchgesetzt. Die Wandlung der Bedeutung des Holocaust innerhalb des amerikanischjüdischen Selbstverständnisses – von seiner Marginalisierung hin zum identitätsstiftenden Symbol – lässt sich an der Eröffnung der großen HolocaustMuseen in Washington, New York und Los Angeles sowie zahlreicher kleinerer Holocaust-Museen ablesen. Der Holocaust steht dabei nicht mehr nur im Mittelpunkt der amerikanisch-jüdischen Erinnerung, sondern ist als Symbol des universal Bösen in das Zentrum des allgemeinen öffentlichen amerikanischen Bewusstseins gerückt. Er ist fester Bestandteil der Lehrpläne öffentlicher Schulen, ist Anlass der jährlichen Gedenkfeiern im Kapitol, das Washingtoner Holocaust-Museum wird zum größten Teil von der Regierung finanziert.231 Die Bedeutung der Massenmedien in der Ausbildung des öffentlichen Bewusstseins für den Holocaust ist dabei nicht zu unterschätzen. Trotz der intensiv geführten akademischen Diskussionen um die (Un)Darstellbarkeit des Holocaust wurde der Holocaust immer wieder Gegenstand medialer Inszenierung.232 Dabei markiert die Ausstrahlung der Sendung Holocaust im April 1978 bekanntlich ein wichtiges Datum: Nahezu 100 Millionen Amerikaner verfolgten die vierteilige Serie.233 Für Spielbergs Film Schindlers Liste, der 1993 im Jahr der Eröffnung des Holocaust Memorial Museums in Washington erschien, wurde in den USA sogar aus Regierungskreisen geworben. In kosten228 229 230

231 232

233

Ebd., S. 19. Ebd., S. 226. Zur Diskussion um das Holocaust Memorial Museum in Washington vgl. insbesondere Edward T. Linienthal: Preserving memory. The struggle to create America’s Holocaust museum. New York: Viking 1995. Ebd., S. 267. Zur Darstellung des Holocaust im amerikanischen Fernsehen vgl. Jeffrey Shandler: While America watches. Televising the Holocaust. New York: Oxford University Press 1999. Vgl. Novick, Nach dem Holocaust (wie Anm. 221), S. 270.

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losen Vorstellungen sollte der Film möglichst viele Schüler erreichen.234 Ob die ›Erinnerung an den Holocaust‹, die in zahlreichen Medienereignissen, Museen und Videoprojekten inszeniert wird, tatsächlich dem Gedenken an das historische Ereignis dient, ist allerdings fraglich. Die Lehren, die aus dem Holocaust gezogen werden, orientieren sich an den jeweiligen Bedürfnissen des Betrachters. Diese Überlegungen mögen auch den außerordentlichen Erfolg des Washingtoner Holocaust-Museums mit seiner Ausgabe von Opferpässen am Eingang des Museums erklären.235 Dadurch, dass in wenigen Jahren die letzten Überlebenden verschwunden sein werden und damit ihre Präsenz als Vermittler fehlen wird, wird es zu einer weiteren Institutionalisierung der Erinnerung an den Holocaust kommen. Neben der gesetzlichen Verankerung des Holocaust in den Lehrplänen der Schulen sowie der Einrichtung von Lehrstühlen für Holocaust Studies an einer immer weiter wachsenden Zahl von Colleges und Universitäten sind es insbesondere die zahlreichen Holocaust-Museen in den USA mit ihren Programmen und Projekte wie Steven Spielbergs Videoaufzeichnung der Zeugnisse Tausender Überlebender, die den zukünftigen öffentlichen Umgang mit dem Holocaust maßgeblich beeinflussen werden. Ob eine solche Institutionalisierung an den Interessen der Überlebenden ausgerichtet ist, ist fragwürdig. Novick – und die Überlegungen Klügers lassen sich direkt hieran anschließen – spricht von einer ›unheimlichen Symmetrie‹ zwischen der Situation der Überlebenden in den vierziger/fünfziger und in den neunziger Jahren: Hatte man die Erinnerungen der Überlebenden in der Nachkriegszeit aus dem öffentlichen amerikanischen Diskurs verdrängt, so lässt sich in der Speicherung von Interviews mit Überlebenden die entgegengesetzte Bewegung beobachten. Weder die Verdrängung noch die massenhafte Speicherung, so Novick, orientiert(e) sich dabei an den Bedürfnissen der Überlebenden.236 4.2.6.3 Still alive als kulturelle Übersetzung Klüger schreibt ihren amerikanischen ›Paralleltext‹ als direkte Antwort auf die amerikanischen Holocaust-Diskurse.237 Dies geschieht durch folgende Veränderungen gegenüber dem deutschen Text: 234 235 236

237

Ebd., S. 275f. Ebd., S. 294–298. Ebd., S. 114. – Vgl. hierzu auch Kushner: »Forcing survivors to give testimony, or ignoring their lives before and after, is to add another form to the abuse that began with their persecution, continued after the war in neglect and marginalization, and now expects too much from them at the same time that it ignores the very complexity of their accounts.« – Kushner, Holocaust testimony (wie Kap. 2, Anm. 70), S. 290. Ein kurzer Hinweis auf Still alive als Antwort auf die amerikanischen Nachkriegsdiskurse findet sich bei McGlothlin, Autobiographical re-vision (wie Anm. 134), S. 59f.

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a) Passagen aus weiter leben werden zugespitzt formuliert und erhalten zudem durch den veränderten Adressatenkreis eine andere Gewichtung. Ich werde dies im Folgenden am Beispiel des Mythos des amerikanischen ›Befreiers‹, der Marginalisierung des Holocaust in der Nachkriegszeit und dem kritischen Blick auf Holocaust-Museen darstellen. b) Andere Passagen – wie die Auseinandersetzung mit der Praxis sogenannter ›Überlebenden-Interviews‹ – existieren im deutschen Text nicht, sind vielmehr als Antwort auf die sich zwischen beiden Textversionen entwickelnde ›Amerikanisierung‹ des Holocaust zu lesen. c) Zur kulturellen Übersetzung wird Still alive darüber hinaus insbesondere durch die Vergleiche zwischen jüdischer und afroamerikanischer Erfahrung, die im deutschen Text gänzlich fehlen und die, wie zu zeigen sein wird, ein ›klassisches‹ Beispiel kultureller Übersetzung darstellen. a) Veränderte Gewichtung beibehaltener Passagen: der ›Mythos des Befreiers‹; die Marginalisierung des Holocaust in der Nachkriegszeit; Holocaust-Museen Wie sehr der Umgang mit der Vergangenheit von gegenwärtigen Interessen bestimmt ist, wird in den Passagen deutlich, die den spezifisch amerikanischen Umgang mit dem Holocaust thematisieren. Bereits die wörtlich übernommenen Passagen aus weiter leben erhalten durch ihre Einbettung in den amerikanischen Kontext eine weitaus stärkere Gewichtung als im deutschen Text. Andere Passagen werden zugespitzt formuliert. Dies gilt zum ersten für den Mythos der ›amerikanischen Befreier‹ im Zweiten Weltkrieg – bestimmt er doch die Selbstwahrnehmung der Amerikaner bis in die Gegenwart. Am persönlichen Beispiel verdeutlicht das erinnernde Ich die (öffentliche) Dominanz der Kriegserinnerungen der Veteranen, die lange Zeit das amerikanische Narrativ des siegreich beendeten Zweiten Weltkriegs prägten und die Erfahrungen der Überlebenden marginalisierten: The paratrooper whom I later married was fond of telling me of the hardship he suffered because of this cold. I respected his suffering, as I respect all suffering, and it was a long time before I had the heart to tell him that I was cold, too, during those months, and that no army provided me with blankets. He seemed surpised. He had forgotten that we lived in the same world, though worlds apart (117f.).

Deutlicher als in weiter leben ist auch der zweifelhafte Umgang der Alliierten mit den Überlebenden formuliert: Some of my friends in Straubing had survived a death march on which they had been strafed by low-flying Allied aircraft, though the pilots should have recognized that they were not attacking the enemy, but the exhausted, starved victims of the

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enemy on their way to yet another concentration camp. Or hadn’t they been informed of our existence? The postwar denazification program was notoriously corrupt and inefficient, and in liberating the concentration camps the Allies had often been so careless and unprepared that people died because they couldn’t digest the heavy food that was indiscriminately shoved at them, or because of a lack of medical care. You might say that wasn’t the fault of the Allies, who couldn’t foresee what they would find, but to me it seemed as if these last victims had died of Allied sentimentality. Their liberators had been better at taking horrifying pictures of the living skeletons than at rescuing them (158f.).

Dem Mythos der alliierten Soldaten als Befreier setzt das erinnernde Ich die eigene Erfahrung entgegen. Dankbarkeit gegenüber ihren amerikanischen ›Rettern‹ fühlt sie nicht. Sie betont im Gegenteil die unterlassene Hilfeleistung zum richtigen Zeitpunkt: […] I know that I am supposed to be forever grateful to the Allied soldiers for rescuing me, but I am only half ashamed to say that I am not. I reason, if you are born, you have a right not to be murdered. ›But they shed their blood so that you might live‹, I am told. Well, the truth is, I didn’t need their blood; I needed something much cheaper, an affidavit to get out in time. If I had been allowed to emigrate before 1939, I might be grateful. But after the war I wasn’t in any danger and might have lived in a number of places. I didn’t need to come to America to stay alive (177).

In der Nachkriegszeit begegnen dem erinnerten Ich offene Abwehr gegenüber den persönlichen Kriegserfahrungen: I used to think that after the war I would have something of interest and significance to tell. A contribution. But people didn’t want to hear about it, or if they did listen, it was in a certain pose, an attittude assumed for this special occasion; it was not as partners in a conversation, but as if I had imposed on them and they were graciously indulging me (94).

Die Erfahrungen der Überlebenden sind unerwünscht – laufen sie doch dem vom Heldenmythos der amerikanischen Kriegsveteranen dominierten öffentlichen Narrativ des Zweiten Weltkriegs in den USA entgegen: »In the fifties the Holocaust hadn’t yet been enshrined, and it was not proper to talk about it in any details« (118). Auch bei jüdischen Amerikanern stößt sie mit ihren Erfahrungen auf Abwehr – so etwa in der Familie des Onkels, die ihre gelungene Eingliederung in die amerikanische Kultur demonstrativ zur Schau stellt, oder in der Begegnung mit dem Psychologen Lazi Fessler. Das Ausblenden der Erfahrungen der Überlebenden aus dem öffentlichen amerikanischen Bewusstsein wird umso deutlicher, wenn man den Umgang mit dem Holocaust – oder genauer: seine Ausblendung – in den Massenmedien betrachtet. Still alive ist um einen Verweis auf den Film Gentlemen’s agreement von 1947 ergänzt, der trotz der Thematisierung der Restriktionen gegenüber Juden in den USA nach Kriegsende den Holocaust vollständig unerwähnt lässt:

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[T]he film’s […] only concern is that Jews should be allowed to live next-door to gentiles, not that a third of them had been murdered – though obviously a reference to Hitler’s war against the Jews could have strengthened the argument against ethnic discrimination (182).

Das Schweigen der Überlebenden in der Nachkriegszeit ist – so die zitierten Passagen – kaum auf die vermeintliche ›Verdrängung‹ der traumatischen Erfahrungen durch die Überlebenden zurückzuführen. Vielmehr ist es das amerikanische Selbstbild mit seinem Mythos des Kriegshelden, das die Erinnerungen der Opfer nicht zulässt. Die kritische Auseinandersetzung mit der Existenz und dem Sinn von KZGedenkstätten ist im amerikanischen Text beibehalten – wenn auch in gekürzter Form. Die bereits in weiter leben formulierte Kritik an der Bewahrung der KZ-Gelände als Gedenkstätten erhält jedoch im Kontext der ›Amerikanisierung‹ des Holocaust – insbesondere der Eröffnung zahlreicher HolocaustMuseen in den USA – einen anderen Stellenwert. Diese Holocaust-Museen mit ihrer »Todesaura« bezeichnet das erinnernde Ich als »Antimuseen«: »[T]hey don’t take you in, they spit you out« (198). b) Amerikanisierung des Holocaust: Oral history Neben der Verdrängung der Erinnerungen der Opfer aus dem öffentlichen amerikanischen Selbstverständnis der Nachkriegszeit rückt in Still alive auf der anderen Seite der umgekehrte Umgang mit den Erinnerungen der Überlebenden in der Gegenwart in den Blick: die massenhafte Aufzeichnung und Speicherung ihrer Erinnerungen, wie sie vor allem durch die von Spielberg begründete »Shoah Foundation« durchgeführt wird. Das erinnernde Ich verweigert sich der Festschreibung und Vereinnahmung als Holocaust-Überlebende, die sie für immer auf die Rolle des KZ-Opfers reduziert, und hat sich nicht registrieren lassen: The form lies where my son has put it for me, gathering dust in a corner of my desk. I can’t overcome my resentful reluctance to fill it out, as if it were one more roll call in the shivering hours of the morning, or the merciless heat of noon, on the Apellplatz of some last concentration camp« (19, Hervorhebung im Original).

Auch in der Gegenwart geht es – nun unter dem umgekehrten Vorzeichen der massenhaften Speicherung – nicht um eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Erinnerungen der Opfer. Vielmehr spiegelt auch die Praxis der Überlebendeninterviews lediglich die Perspektive des Interviewers wieder, der sich in der vorstrukturierten Form des Interviews nicht auf die wirklichen Geschichten der Überlebenden einlässt: »The current craze for oral history and interviewing harbors a related flaw of one-sidedness, even though the interviewer is doing the imposing: he or she contributes nothing except an implied superiority to suffering« (94).

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c) Kulturelle Übersetzung der Einforderung von Vergleichen: Von der Erinnerungsdifferenz Deutscher und Juden in ›weiter leben‹ zur Konkurrenz der Erinnerungen von Juden und Afroamerikanern in ›Still alive‹ Stehen in weiter leben in der Forderung nach Annäherung die Anknüpfungspunkte jüdischer und nichtjüdischer Erfahrung und der von Klüger eingeforderte Dialog zwischen beiden Seiten im Mittelpunkt, wird die Forderung nach vergleichender Annäherung – wie Schaumann überzeugend argumentiert – in Still alive auf die Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Narrativen in den USA ausgeweitet.238 Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen zieht das erinnernde Ich hier Parallelen zur Ausgrenzung und Verfolgung der Afroamerikaner in den USA: »This part of my story coincides with what older blacks will tell me, and with what black writers such as James Baldwin have poignantly described: a child facing a sea of hostile white faces« (22). Die Bestrafung ihrer Mutter schließt sie mit folgenden Worten an die Geschichte der Afroamerikaner an: »[…] I have described something that is in many ways a common sight to the children of wife beaters and was common to the children of slaves in the nineteenth century, though with the threat of imminent death added to it, in my case« (111). Auch die eigene Fluchterfahrung wird in Analogie zu den Fluchtversuchen der Sklaven geschildert: »Later, in college, I read about fugitive slaves and thought, I’ve been there, I know many variants of what they felt, better than the historians and novelists. Only Tony Morrison, much later, got it marvelously right« (141). Die Brisanz dieser Vergleiche – so hebt Schaumann begründet hervor – wird umso deutlicher, als Baldwin etwa einen Vergleich des Schicksals der Afroamerikaner mit dem anderer Opfergruppen, speziell der Juden, explizit ablehnt. So formuliert Baldwin: »One does not wish [...] to be told by an American Jew that his suffering is as great as the American Negro’s suffering. It isn’t, and one knows that it isn’t from the very tone in which he assures you that it is ...«.239 Auf diese Haltung antwortet das erinnernde Ich: »No white can understand, they say. I do, I say. But no, you have white skin, they counter. But I wore a Judenstern to alert other pedestrians that I wasn’t really white« (22f., Hervorhebung im Original). Dabei geht es nicht um eine Auflösung der Unterschiede der Erfahrungen von Juden und Afroamerikanern.240 Man würde Klügers Technik der Analogiebildung 238 239

240

Vgl. hierzu Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 333f. James Baldwin: Negros are anti-semitic because they’re anti-white. In: New York Times Magazine, 9. April 1967. – Zitiert nach Novick, The Holocaust and collective memory (wie Kap. 2, Anm. 72), S. 194. Vgl. hierzu Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 333. Schaumanns Einschätzung, Klügers ›Verstehen‹ der afroamerikanischen Erfahrung sei im ungünstigsten Fall als eine ›priviligiert-weiße‹ Perspektive zu bewerten, gehen deshalb meines Erachtens zu weit. – Vgl. Schaumann: »The very fact that Klüger claims to understand the experience of blacks while maintaining that Americans have no idea of her own experience raise concern. At worst, her words

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missverstehen, wollte man hierin ein Gleichsetzen der jüdischen Katastrophe mit der Geschichte der Afroamerikaner in den USA hineinlesen. Durch die aufgemachten Analogien werden Unterschiede nicht negiert. Vielmehr führt das erinnernde Ich am persönlichen Beispiel das von ihr selbst eingeforderte Prinzip der Annäherung durch Vergleiche vor, ohne die Unterschiede aufzuheben. Durch diese Vergleiche wird einer ›Entrückung‹ der spezifischen Erfahrung vorgebeugt, die in der Betonung der Einzigartigkeit eine Annäherung und damit ein Verständnis verhindert. Auf diese Weise wird Still alive zu einer Aufforderung zur Auseinandersetzung mit Narrativen, die sich in der Betonung der Einzigartigkeit – wie sie im jüdischen Kontext von prominenten Überlebenden wie Elie Wiesel vertreten werden – jeglicher Annäherung versperren. Still alive ist so als Positionierung innerhalb der in den USA vehement geführten Diskussion um die (Un)Vergleichbarkeit des nationalsozialistischen Judenmords, aber auch der Erfahrungen der Afroamerikaner zu lesen. Im amerikanischen Kontext dient die Betonung der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust dazu, sich nicht mit den eigenen begangenen Verbrechen auseinander setzen zu müssen.241 Die gegenseitige Annäherung an die Kriegserfahrungen jüdischer und nichtjüdischer Deutscher, die Klüger durch das Prinzip der Annäherung durch Vergleiche im deutschen Text einfordert, wird im amerikanischen Text durch die Erinnerungsdifferenz von Afroamerikanern und Juden ergänzt. Die Ähnlichkeit beider Texte entsteht im Sinne der kulturellen Übersetzung nicht durch die möglichst wortgetreue Übertragung des ursprünglichen Textes in die Zielsprache. Vielmehr geht es um die Erzeugung einer entsprechenden Wirkung im veränderten kulturellen Kontext. Indem die Forderung nach Vergleichen auf die Situation der Afroamerikaner in den USA ausgedehnt und damit in den kulturellen Kontext der USA eingebettet wird, bleibt die Kernaussage des deutschen Textes – die Einforderung von Vergleichen, ohne gleichzusetzen – erhalten. Um meine Überlegungen zur Auseinandersetzung mit den kollektiven amerikanischen Diskursen in Still alive zusammenzufassen: In der Fortschreibung der Holocaust-Diskurse rückt – erstens – der Einfluss des zeitgeschichtlichen Hintergrunds auf die Einordnung und Interpretation vergangener Ereignisse und die Veränderlichkeit von Diskursen in den Blick. Dabei ist Klüger selber an der Fortschreibung dieser Diskurse beteiligt. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist – zweitens – nicht nur abhängig

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reveal the construction of a privileged colonialist position of knowing that subsumes the experiences of minorities and thus upholds dominant power relations. At best, Klüger struggles with a heterogeneous American audience that cannot be addressed, instructed, and enveloped in the same way as her German audience«. – Ebd., S. 334. Vgl. Novick, Nach dem Holocaust (wie Anm. 221), S. 29f.

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vom historischen Zeitpunkt, sondern ebenso vom kulturellen Kontext, in den sie eingebettet ist. Das Prinzip der Annäherung durch Analogien wird – drittens – in Still alive auf die Vergleichbarkeit des Holocaust mit den Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen der Afroamerikaner in den USA ausgeweitet. Darüber hinaus erfährt das bereits in weiter leben kritisch betrachtete Verhalten der Alliierten durch Ergänzungen, vor allem aber durch die veränderte, amerikanische Kontextualisierung einen anderen Stellenwert. Der offiziellen, universalisierenden Deutung des Holocaust in den USA, wie sie sich am Holocaust Memorial Museum in Washington ablesen lässt, setzt Klüger zwei parallele Texte entgegen, die – zusammengelesen – die Abhängigkeit des öffentlichen Umgangs mit dem Holocaust von kulturellem Kontext und bestehenden Diskursen hervorheben. Eine universale, über die Zeit geltende Deutung des Holocaust – so die Aussage der parallel nebeneinander existierenden, explizit verknüpften kulturellen Versionen von Klügers autobiographischem Projekt – kann es nicht geben.242 Die Übersetzung von Klügers deutschem Erinnerungstext in den amerikanischen Kontext stellt jedoch nicht nur unter dem Aspekt der kulturellen Übersetzung einen Ausnahmefall innerhalb der Geschichte der Autobiographie dar. Von besonderem Interesse für die meine Studie leitende Fragestellung des Zusammenhangs von Wissenschaft und persönlichem Erinnerungstext ist vielmehr die Tatsache, dass Klüger ihren Erinnerungstext selber ins Englische übersetzt hat und damit implizit ihr Verständnis von Autorschaft mitformuliert. Dies leitet mich über zu Kapitel 4.2.7 – Klügers Positionierung als Literaturwissenschaftlerin im eigenen autobiographischen Projekt.

4.2.7 Positionierung als Wissenschaftlerin im autobiographischen Projekt Die Positionierung Klügers als Literaturwissenschaftlerin in ihrem autobiographischen Projekt soll im Folgenden am Beispiel der Selbstübersetzung (4.2.7.1), am Umgang mit literarischen Dokumenten (4.2.7.2), dem ›weiblichen Blick‹ auf Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (4.2.7.3), der Kennzeichnung des autobiographischen Projekts als »subjektivste Form der Geschichtsschreibung« (4.2.7.4) sowie der formalen Gestaltung des autobiographischen Projekts als ›autobiographischer Essay‹ (4.2.7.5) untersucht werden.

242

Vgl. Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 324. – Vgl. hierzu Hammel, The destabilisation of personal histories (wie Anm. 135), S. 305.

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4.2.7.1 Selbstübersetzung: Deutungshoheit über das eigene autobiographische Projekt In weiter leben bezeichnet Klüger den Vorgang der Übersetzung als »Verfremdung«.243 Dieser ›Verfremdung‹ durch den Übersetzungsvorgang entzieht sie ihr autobiographisches Projekt: Anstatt die im Übersetzungsvorgang unvermeidliche Interpretation durch den Übersetzer zuzulassen, überträgt sie den eigenen Erinnerungstext selber ins Englische. Auf diese Weise rückt sie ihr bereits in ihren theoretischen Überlegungen formuliertes Verständnis der Autor-Text-Beziehung in den Blick (vgl. hierzu die Überlegungen zu Klügers Konzept von Autorschaft in Kapitel 4.1.1).244 Gleichzeitig grenzt sie sich von den äußersten Forderungen gegenwärtiger postkolonialer Übersetzungswissenschaft ab, die auf juristischer Ebene eine Freigabe der Übersetzungsrechte einfordern.245 Dieser Forderung setzt Klüger mit dem Akt der Selbstübersetzung von weiter leben ein Konzept von Autorschaft entgegen, das nicht nur auf Deutungshoheit, sondern auf ›Eigentumsrecht‹ beruht. Klüger äußert sich dazu folgendermaßen: »[I]ch habe darauf bestanden, die englischen Rechte zu behalten. […] Es ist in sechs Sprachen übersetzt worden, die sind mir wurscht, aber Englisch ist halt meine Sprache und da will ich’s selber machen«.246 In weiter leben wird dieses Verständnis von Autorschaft im Kontext der eigenen Auschwitzgedichte hervorgehoben. So empört sich das erinnernde Ich über die unautorisierte Veröffentlichung ihrer Texte: »Wieder hatte jemand etwas von mir gedruckt, ohne mich zu fragen« (199).247 243

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245 246 247

»Was die Bundesbürger für schickes Jiddisch halten, ist nicht die zärtliche, intime, geistreiche Sprache des Schtetls, wie sie noch der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer schrieb, der den deutschen Lesern nur in doppelter Verfremdung, nämlich in Übersetzung aus dem Amerikanischen, zugänglich ist […]« (209). Vgl. auch Schaumann: »Rather than being subjected to a changing readership in changing times, Klüger chooses to address the cultural needs of those shifting times herself.« – Schaumann, From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹ (wie Anm. 134), S. 328. – In diese Richtung argumentiert auch Hammel: »By rewriting the text rather than translating it or having it translated by someone else, Klüger actively addresses cultural differences and is able to offer her own interpretation […].« – Hammel, The destabilisation of personal histories (wie Anm. 135), S. 305. Vgl. Venuti, The translator’s invisibility (wie Anm. 184), S. 311f. Klüger, »…›ein deutsches Buch‹ ist ja ein bißchen zwiespältig…« (wie Anm. 84), S. 39. Im Erstveröffentlichungsnachweis zum Essayband Katastrophen heißt es analog dazu über den Essay »Freiheit, die ich meine«: »Eine nicht autorisierte Übersetzung ist im Programmbuch Nr. 38 (1982) des Schauspielhauses Bochum zu Claus Peymanns Inszenierung der ›Hermannsschlacht‹ erschienen [...]«. In einem ähnlichen Kontext steht auch Klügers Empörung über die Rechtsfrage des Plagiats im Fall Littner – Koeppen, die hier explizit in Zusammenhang mit der Erfahrung der Verfolgung gebracht wird: »Hier hat einer aus der Tätergesellschaft, mochte er auch noch so einfühlsam sein und noch so gut schreiben können, dem Opfer das letzte genommen, was ihm geblieben war, nämlich das gelebte Leben und das

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Klügers Verständnis von Autorschaft wird nicht nur am eingeforderten Umgang mit den eigenen Texten deutlich, sondern manifestiert sich ebenso durch den in Still alive veränderten Umgang mit Texten anderer Autoren/innen. Dies gilt bereits für das beiden Versionen vorangestellte Zitat Simone Weils: Erscheint es in weiter leben lediglich in seiner deutschen Übersetzung, ist in Still alive die englische Übersetzung durch das französische Original ergänzt. Durch das Zitieren der französischen Originalpassage und der englischen Übersetzung wird in Still alive implizit darauf verwiesen, dass jede Übersetzung immer eine Interpretation des ursprünglichen Textes darstellt. Während Klüger sich vorbehält, das eigene autobiographische Projekt fortzuschreiben und den ursprünglichen, deutschen Text in die Form eines ›Paralleltextes‹ zu übersetzen, handelt es sich bei der Übertragung des Zitats von Simone Weil um eine möglichst wortgetreue Übersetzung, durch die hervorgehoben wird, dass sie den Ausgangstext als ›Original‹ in den Vordergrund stellt. In den »Credits und Acknowledgments«, die in Still alive nachgestellt sind, werden zudem – anders als in weiter leben – nicht nur die Originalquellen der zitierten Texte angegeben, sondern auch die Übersetzerinnen genannt und so ihre Mittlerfunktion zwischen beiden Textversionen hervorgehoben. Klügers Verständnis von Autor- und Leserschaft manifestiert sich darüber hinaus in den zahlreichen Verweisen auf die Texte anderer Autoren/-innen innerhalb ihres autobiographischen Projekts. 4.2.7.2 Umgang mit literarischen Dokumenten Wiederholt werden in weiter leben und Still alive intertextuelle Bezüge hergestellt, die ich an verschiedener Stelle hervorgehoben habe. Die intertextuellen Verweise sind dabei nicht nur in ihrer inhaltlichen Aussage – als Ergänzung zu oder Konfrontation mit den Ausführungen des erinnernden Ichs – von Interesse. Vielmehr ist es die Interpretation dieser literarischen Dokumente durch das erinnernde Ich, die Aufschluss gibt über Klügers Selbstverständnis als Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Dabei handelt es sich nicht nur um die Texte anderer Autoren/-innen, die in einen Kontext gestellt und kommentiert werden. Klüger deutet vielmehr ebenso ihre eigenen, in den Text eingefügten Gedichte. Folgende Annahmen, die auch in Klügers literaturwissenschaftlichen Essays im Mittelpunkt stehen, werden dabei in den Blick gerückt: a) Literarische Texte verweisen auf eine außertextuelle Wirklichkeit; b) Literatur lässt sich auf aktuelle Ereignisse beziehen; c) der persönliche Hintergrund des Rezipienten bestimmt die Interpretation; d) das hinter dem Text stehende Autorensubjekt wird nicht in Frage gestellt. Recht, seine Erinnerungen in seinen eigenen Worten zu gestalten, so daß eine letzte Enteignung und Erniedrigung über das Grab hinaus stattfand.« – Dies., Der Dichter als Dieb? (wie Anm. 60), S. 141f.

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a) Literatur als »Zugang zur Welt« Das erinnernde Ich in weiter leben hebt wiederholt die Bedeutung hervor, die Literatur, insbesondere Lyrik, in ihrem Leben spielt. Schon früh ergreift sie eine »Lesesucht« (51), die sie bereits in der Kindheit mit den Klassikern der deutschsprachigen Literatur in Berührung bringt. Bei den Verweisen auf literarische Werke und Autoren handelt es sich – anders als in Still alive – hauptsächlich um Autoren/-innen der deutschen und insbesondere der österreichischen Literatur: »[D]ie Literatur dieses Landes, von Adalbert Stifter bis Thomas Bernhard, redet mich intimer an als andere Bücher, nämlich im bequemen Tonfall einer vertraut hinterfotzigen Kindersprache« (65). Literatur bietet einen »Zugang zur Welt« (160), ist die »wohlbekannte Türe« (160), die Deutungen der Ereignisse erlaubt, abgleichen lässt. Die Funktion von Literatur besteht dabei zunächst in der Dokumentation und Deutung der soziokulturellen Hintergründe der Zeit. Schnitzler etwa ist ihr »Ahnherr«, seine Werke ergänzen ihr Wissen über das Leben der Eltern im Wien des frühen 20. Jahrhunderts: »Aus den Büchern von Arthur Schnitzler, der zehn Tage vor meiner Geburt in Wien gestorben ist […], weiß ich gewissermaßen mehr über meine Eltern als aus der Erinnerung« (19). Gleichzeitig demonstriert diese Aussage den engen Zusammenhang von Literatur und Wahrnehmung der Welt – ein Zusammenhang, den ich einleitend unter dem Stichwort ›Literatur als Medium der Erinnerung‹ erläutert habe: Literatur fungiert nicht nur als ›Abbild‹ der Wirklichkeit, sondern strukturiert bereits ihre Wahrnehmung. Deutlich wird dieses Ineinandergreifen, wenn das erinnernde Ich die Situation der Eltern vor dem Hintergrund der österreichischen Literatur folgendermaßen einordnet: Meine Mutter ließ sich scheiden, ein ungewöhnlicher Schritt, ihr Vater verzieh ihr und versorgte sie noch für die zweite Ehe. Mein Bruder, das Kind dieser Schnitzlernovelle mit Werfelschem oder Zweigschem Einschlag, kam also von Prag nach Wien mit unserer Mutter, die nun endlich ein paar Jahre lang das haben sollte, was sie sich gewünscht hatte, den feschen Medizinstudenten aus armer Familie, diese eher von Joseph Roth, neun Kinder, die Mutter Witwe (19).

Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist – so demonstriert das Zitat – maßgeblich durch literarische Modelle vorstrukturiert. b) Aktuelle Beziehbarkeit von Literatur Literatur wird vor dem gegenwärtigen Hintergrund neu gelesen und so »in den Dienst von aktuellen Bezügen gestellt« (102). Die Kapuzinerpredigt aus Wallensteins Lager (102) etwa erhält erst durch die eigene Erfahrung im Ghetto von Theresienstadt ihre Bedeutung und bestimmt – andersherum – gleichzeitig die Wahrnehmung der aktuellen Situation: »Der schallende Beifall nach der letzten Zeile, über den Friedland, der keinen Fried im Land aufkommen läßt,

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war die erste Protestkundgebung, der ich beiwohnte. […] Indem ich mitklatschte, leistete ich Widerstand« (102). Deutlicher noch lässt sich die aktuelle ›Indienstnahme von Literatur‹ am Beispiel von Goethes Faust nachzeichnen, dessen »Osterspaziergang« für das erinnerte Ich zum Hoffnungsspender im Außenlager Christianstadt wird. Es ist die persönliche Situation von Hunger und extremer Kälte, die ihr den Zugang zu Goethes Gedicht eröffnet: »›Vom Eise befreit sind Strom und Bäche.‹ […] Eine Stimme, die mich direkt ansprach« (160). Die Naturbilder werden unmittelbar auf ihre gegenwärtige Situation im Lager bezogen: »Der Rückzug des Winters (›in rauhe Berge‹) und der Rückzug der deutschen Armee (wir konnten die Geschosse hören) waren ein und dasselbe« (160). Erst die persönliche Erfahrung ermöglicht den Zugang zur Aussage des Textes: »Daß Menschen aus einem hohlen, finsteren Tor, aus einer quetschenden Enge, ausbrechen, das verstehe ich heute eigentlich nur, weil ich es damals so gut verstanden habe« (160). Der Text wird wörtlich genommen, die Gleichsetzungen überdeutlich hervorgehoben: »Ich habe diesen Text praktisch sofort auswendig gekonnt wegen der Versprechen, die er enthielt. Und die er hielt. ›Im Tale grünet Hoffnungsglück‹. Es war eben ein sehr kalter Winter« (160f.). Eine nur auf den ersten Blick naive Rezeption des berühmten »Osterspaziergangs« – liegt doch gerade in der Plakativität der Analogsetzung von persönlicher Situation und lyrischen Metaphern ein deutlicher Angriff auf solche literaturwissenschaftlichen Denkrichtungen, die den Verweischarakter literarischer Texte auf eine außertextuelle Wirklichkeit in Frage stellen. c) Persönliche Erfahrung und Literatur Zugang zur Literatur – so die Deutung des Osterspaziergangs – wird einerseits durch die persönliche Erfahrung bestimmt, andererseits werden bereits vorhandene literarische Kenntnisse zu einem Deutungsrahmen, der der Einordnung der persönlichen Erlebnisse dient. Es ist also gerade die wechselseitige Bedingtheit von persönlicher Erfahrung und späterer Deutung, die nicht nur in Klügers theoretischen Essays, sondern ebenso in ihrem autobiographischen Projekt hervorgehoben wird.248 Diese wechselseitige Abhängigkeit von persönlicher Erfahrung und Interpretation von Literatur verdeutlicht der Verweis auf W. B. Yeats’ »Mirror of malicious eyes«, der zum Deutungsrahmen des Kinobesuchs wird, bei dem sie von einer Nachbarin als Jüdin denunziert wird: 248

Es greift deshalb zu kurz, wenn man den Zusammenhang von persönlicher Erfahrung und späterer Analyse als einseitigen versteht und lediglich den Einfluss der professionellen Tätigkeit als Literaturwissenschaftlerin auf die Deutung der eigenen Lebensgeschichte hervorhebt. – Vgl. hierzu Reiter: »The power which Klüger attributes to poetry in existential matters is also informed by her professional experience.« – Andrea Reiter: ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹. Ruth Klüger’s feminist survival report. In: Forum for Modern Language Studies 38 (2002), H. 3, S. 326– 340, hier: S. 328.

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Wäre ich nicht erwischt worden, so wäre ich auf meine Waghalsigkeit stolz gewesen. So aber war es umgekehrt: Man sieht sich im Spiegel boshafter Augen, und man entgeht dem Bild nicht, denn die Verzerrung fällt zurück auf die eigenen Augen, bis man ihr glaubt und sich selber für verunstaltet hält. Das hat W. B. Yeats, Irlands größter Lyriker, in Versen geschrieben, und hätte ich die Zeilen über den ›mirror of malicious eyes‹ nicht erst zehn Jahre später auswendig gelernt, so wäre mir vielleicht wohler gewesen (46f.).

Wie sehr die Wahrnehmung vom persönlichen Hintergrund des Rezipienten bestimmt wird, illustriert die Schilderung eines weiteren Kinobesuchs, bei dem sie einen Film sieht, der die deutsche Kolonialpolitik in Ostafrika verherrlicht. Ihre eigene Reaktion und die der Hitlerjungen im Publikum stehen einander dabei gegenüber: Der Vertreter deutscher Macht hieß Peters und stand in einer zentralen Szene im weißen Tropenanzug mit der Peitsche in der Hand vor kaum bekleideten und sich duckenden Schwarzen. […] Eine solche Szene mit ihren Sinnbildern der Brutalität wirkte beunruhigend und faszinierend, vibrierte im Saal und wird die Hitlerjungen im Publikum, mit ihren kurzen Hosen und Dolchen (oder Fahrtenmessern), ebenso hell begeistert haben, wie sie das Judenmädel beeindruckten, die allerdings in Umkehrung des Wahrgenommenen. Das heißt, ich fühlte mich von Peitsche, Stiefeln und der rassischen, schwarz-weißen Konfrontation auf schwarz-weißer Leinwand persönlich bedroht (53, Hervorhebung im Original).

Die Aussage von Literatur und Kunst – so demonstriert diese Passage am persönlichen Beispiel – besteht niemals losgelöst vom historischen und individuellen Hintergrund des Rezipienten. Ihre Bedeutung erhalten die vergangenen Ereignisse jedoch immer nur rückblickend, aus der Perspektive der Gegenwart. So reflektiert das erinnernde Ich den Einschub der Filmszene folgendermaßen: Das erinnerte Bild einer flimmernden Leinwand spanne ich hier als Folie auf, hinter dem später erlebten Machtgefüge der wirklichen Männer mit Stiefeln und Peitsche, um der lebendigen Unheimlichkeit einen Kontext zu geben, denn die Kinoszene war sinnträchtig, die schwerfällige Wirklichkeit eher chaotisch (53f.).

Das Ineinandergreifen von persönlicher Erfahrung und späterer, durch die professionelle Perspektive der Literaturwissenschaftlerin geprägter Wahrnehmung von Literatur lässt sich mit einem Blick auf Still alive noch weiter verdeutlichen: Hier sind den einzelnen Kapiteln Gedichtauszüge – mit Ausnahme von W. H. Auden – weiblicher Autorinnen vorangestellt: Emily Dickinson, Ingeborg Bachmann, Adrienne Rich und Maya Angelou.249 Durch das Voranstellen dieser Gedichtauszüge – als Deutungsrahmen für den folgenden Ab249

Emily Dickinson: After a hundred years. In: The complete poems of Emily Dickinson. Ed. by Thomas H. Johnson. London: Faber and Faber 1970, S. 513. – Ingeborg Bachmann: Früher Mittag. In: Dies.: Werke. Bd 1: Gedichte. München: Piper 1978, S. 44f. – Adrienne C. Rich: Prospective immigrants please note. In: Dies.: Collected early poems: 1950–1970. New York: W. W. Norton 1993 (1963), S. 188. – Maya Angelou: The lesson. In: Dies.: And still I rise. New York: Random House 1978, S. 18.

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schnitt der Lebensgeschichte – wird einerseits die Bedeutung von Literatur für die Interpretation des eigenen Lebens hervorgehoben. Andererseits beeinflusst das Wissen um die Geschichte des erinnerten Ichs die wiederholte Lektüre der Gedichtauszüge, liest auch der mit den Gedichten nicht vertraute kritische Leser die Auszüge beim zweiten Mal anders, sucht nach der Beziehbarkeit, fühlt sich zur Ergänzung der Auszüge und einer abgleichenden Lektüre von Gedicht und autobiographischem Text aufgefordert. Eine solch abgleichende Lektüre, die im Rahmen der vorliegenden Studie nicht geleistet werden kann, bietet sich unter einer Vielzahl von Aspekten an: Über die Parallelen von Gedichtauszügen und Klügers autobiographischem Text hinaus sind es insbesondere die dem lyrischen und autobiographischen Schreiben zugrundeliegenden theoretischen Annahmen der Wissenschaftlerinnen/Schriftstellerinnen Angelou und Rich, die einen Vergleich herausfordern – so etwa die Überlegungen Angelous zum Verhältnis von Autobiographie und Literatur, zur persönlichen Bedeutung von Gedichten, die sie buchstäblich ›zum Sprechen gebracht‹ haben, oder der expliziten Betonung des Realitätsbezugs von Literatur bei Rich.250 Dichtung wird gerade bei Angelou und Rich – wie für Klüger – zur ›Deutung der Wirklichkeit‹, in deren Fokus das Ausgegrenztsein steht: als Frau, lesbische Frau, Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe. Indem Klüger den Kapiteln von Still alive Gedichtauszüge von Autorinnen voranstellt, die eine andere Art von Ausgrenzung erfahren haben, verweist sie implizit auf die Vergleichbarkeit (nicht Gleichsetzung) und damit die Anschließbarkeit der persönlichen Erfahrungen. Dass sich diese Beziehbarkeit nicht auf zeitgenössische Autoren/-innen beschränkt, demonstriert am Beispiel von Emily Dickinson einmal mehr, dass Literatur durch die Jahrhunderte zum einen »in den Dienst von aktuellen Bezügen« gestellt werden kann – zum anderen immer vor dem Hintergrund der gegenwärtigen, persönlichen Erfahrung gedeutet wird.251

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Für einen einführenden Überblick über das Werk von Adrienne Rich und Maya Angelou vgl. u. a. Barbara Charlesworth Gelpi/Albert Gelpi (Ed.): Adrienne Rich’s poetry and prose. Poems, prose, reviews, and criticism. New York: W. W. Norton 1993. – Cheri Colby Langdell: Adrienne Rich. The moment of change. Westport: Praeger 2004 (Contributions to women’s studies; 198). – Mary Jane Lupton: Maya Angelou. A critical companion. Westport: Greenwood Press 1998 (Critical companions to popular contemporary writers). In ihrer Interpretation von Robert Schindels Gedicht Nullsucht 15 (Stürzen die Wolken) schlägt Klüger den Bogen zu Shakespeares Hamlet und formuliert die Gültigkeit von Literatur über die Jahrhunderte am Beispiel eines Zitats von Emily Dickinson: »Dieser Sprung vom frühen 21. zum frühen 17. Jahrhundert mag als Hinweis auf die Allgemeingültigkeit und -anwendbarkeit von Versen dienen, die man nicht auf die persönliche Erfahrung des Dichters und nicht einmal auf die europäische ›jüngste Vergangenheit‹ beschränken sollte. Das Gedicht zielt auf die Stelle im Leser, die Emily Dickinson […] ›zero at the bone‹, den Nullpunkt im Knochenmark, nannte.« – Ruth Klüger: Gespenstersonett. Zu Robert Schindel:

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Auf einer übergeordneten Ebene – ausgelöst durch ein für Klügers Schreibverfahren untypisches Fehlen von Kommentierung – geschieht so im Lektürevorgang das wechselseitige Beziehen von (gelesener) Lebensgeschichte und vorangestellten Gedichtauszügen. Auf diese Weise wird die Bedingtheit der Wahrnehmung von (gelesener) Lebenswirklichkeit durch Literatur und – andersherum – die Deutung von Literatur durch die (gelesene) Lebensgeschichte vom Rezipienten selbst nachvollzogen. d) Umgang mit den eigenen Gedichten: Autorschaft, Intention Auch die eigenen Gedichte werden zum Gegenstand der Rezeption durch das erinnernde Ich: Sie kommentiert und analysiert diese in verschiedenen Abschnitten ihres Lebens entstandenen ›Zeugnisse‹ und unterwirft sie so einer Deutung aus der Perspektive der gegenwärtigen Leserin, die sie explizit als solche kennzeichnet. Gleichzeitig aber wird die Distanz zum Zeitpunkt des Entstehens der Gedichte dadurch überbrückt, dass auf die damalige Intention von Form und inhaltlicher Aussage Bezug genommen wird: »Es sollte offen bleiben, ob der Wind vom Pazifik der Gegenwart herwehte oder vom trägen Gewässer der Gespensterstadt«, heißt es im Anschluss an das Gedicht »Sand« (66f.), und auch in der Deutung ihres zweiten Auschwitz-Gedichts wird auf die Intention der kindlichen Verfasserin verwiesen: »Jetzt wollte ich dem Kamin selbst eine Stimme geben, indem ich sie in einer Sache verkörperte und die Todesmaschine als Herr der Lager, und zwar an Stelle der Sonne, auftreten ließ« (124). Damit wird zweierlei in den Blick gerückt: Indem das erinnernde Ich als Interpretin der eigenen Gedichte auftritt, werden die Gedichte – erstens – zu Zeugnissen der damaligen Situation des erinnerten Ichs, denen sich aus der Perspektive der Schreibgegenwart genähert wird. Der Zeugnischarakter des eigenen literarischen Textes wird nicht nur ausdrücklich als solcher benannt, sondern durch die Betonung der Identität von Verfasserin und lyrischem Ich zusätzlich unterstrichen. So hebt das erinnernde Ich die zunächst getroffene Unterscheidung zwischen lyrischem Ich und Protagonistin durch das Zusammenfallen im Pronomen ›mir‹ sofort wieder auf: »[I]ndem ich mir, oder meinem lyrischen Ich, wie man so gern sagt, den beschränkten Blick kindischer Ungewissheit genehmige, gelingt es mir, ›den Faden in rätselhaftem Wahn abzubrechen‹, genau dort, wo es unbequem wird« (36). Die Kommentierung der eigenen Gedichte ist – zweitens – auf einer übergeordneten Ebene als Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Autorin und Text zu lesen: Indem das erinnernde Ich explizit auf die Intention beim Verfassen der Gedichte verweist, behält sie sich als Verfasserin die Deutungshoheit über ihre eigenen Gedichte vor und distanziert sich explizit von einer Position, wie sie in der These der ›intentional fallacy‹ von den Hauptvertretern des New Criticism formuliert wurde. Nullsucht 15 (Stürzen die Wolken). In: Dies., Gemalte Fensterscheiben (wie Anm. 2), S. 162ff., hier: S. 164.

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Klügers in der Grimmelshausen-Preis-Rede formuliertes ›Mitspracherecht‹ des Autors manifestiert sich in weiter leben außerdem durch die direkten Appelle an die Rezipienten, die – anders als in Friedländers Text – die Lektüre explizit steuern. So will das erinnernde Ich etwa die Rezipienten zunächst davon abhalten, ihren Bericht im Sinne von Anna Seghers’ Das siebte Kreuz als ›escape story‹ zu lesen: »Wie kann ich euch vom Aufatmen abhalten?« (139) – um diese Forderung im Kontext der Flucht abzuschwächen: »Wenn ich vorhin schrieb, man möge in meine Geschichte nicht den Optimismus, der einen Roman wie ›Das siebte Kreuz‹ bestimmt, hineinlesen, so ziehe ich diese Bitte jetzt, wenn auch mit Vorbehalt, zurück [...]« (172). Auch über die Rezensenten des eigenen Textes urteilt das erinnernde Ich: »Liebe Leserin, Bücher wie dieses hier werden in Rezensionen oft ›erschütternd‹ genannt. [...] Ein Rezensent, der so über meine Erinnerungen schreibt, hat nicht bis hierher gelesen« (199). Die vorangegangenen Beispiele verdeutlichen, dass der Umgang mit literarischen Dokumenten in Klügers autobiographischem Projekt im selben Spannungsfeld zwischen Autor- und Leserschaft steht wie ihre theoretischen Überlegungen: Betont Klüger auf der einen Seite die Abhängigkeit der Interpretation vom Rezipienten, dessen gegenwärtige Lektüre über die Intention des Autors hinausgeht, geht sie dennoch nicht so weit, die Bedeutung des Autors für sein Werk in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Das ›Mitspracherecht‹, das sie Autoren in der Deutung ihrer Texte zugesteht, ist für das Genre der Autobiographie besonders relevant. Indem das erinnernde Ich die Deutung der eigenen Gedichte selber vornimmt, wird innerhalb des Textes deutlich, was sich auf übergeordneter Ebene durch die Selbstübersetzung des eigenen autobiographischen Projekts, das sie ›nicht aus der Hand gibt‹, manifestiert: Die Deutung der eigenen Lebensgeschichte lenkt Klüger – trotz oder wegen ihres Bewusstseins für die Sinnzuschreibungen, die sich durch die Lektüre ergeben – in größtmöglichem Maße. 4.2.7.3 Klügers ›weiblicher Blick‹ auf Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft Klügers Positionierung als Frau in weiter leben ist in der Forschung bereits ausreichend diskutiert worden, ebenso der Zusammenhang von feministischer Perspektive und Positionierung gegenüber dem Judentum. Deshalb soll auf die Thematisierung der weiblichen Sozialisation, die spezifischen Erfahrungen verfolgter Frauen und die Rolle der Frau in der jüdischen Tradition an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber verwiesen sein.252 Diese Auseinandersetzung ist in Still alive beibehalten. Auch soll es im Folgenden nicht darum ge252

Eine besonders umfassende und eingehende Analyse liefert Lezzi. – Vgl. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 128), S. 254–266. – Zur feministischen Perspektive von weiter leben vgl. auch Reiter, ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹ (wie Anm. 248), S. 330–335.

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hen zu fragen, inwieweit es sich bei weiter leben über inhaltliche Reflexionen und intertextuelle Bezüge hinaus auch unter stilistischen Aspekten um einen ›spezifisch weiblichen‹ Text handelt. Die Frage eines ›spezifisch weiblichen‹ Schreibens, die innerhalb der Literaturtheorie weiterhin kontrovers diskutiert wird, ließe sich sicherlich in der Analyse des Einsatzes narrativer Darstellungsverfahren zur Inszenierung von Weiblichkeit und dem Verhältnis der Geschlechter sinnvoll stellen.253 Für Klügers Selbstpositionierung als Wissenschaftlerin von größerem Interesse ist im Kontext der vorliegenden Studie jedoch die Frage, ob bzw. auf welche Weise sich Klügers theoretische Annahmen zur Rolle von Frauen in der Literaturgeschichte und Frauen in der Literaturwissenschaft im autobiographischen Text manifestieren – und ob auch hier die amerikanische Version Veränderungen gegenüber dem deutschen Text aufweist.254 Es ist auffällig, dass die zahlreichen intertextuellen Bezüge in weiter leben zumeist auf männliche Autoren verweisen. Dies gilt insbesondere für die Texte Überlebender, deren Auswahl sich – wie von Lezzi zu recht angemerkt worden ist – ausschließlich auf männliche Autoren beschränkt. Diese Bezüge auf die Texte Überlebender sind in Still alive übernommen, teilweise gekürzt, jedoch auch hier nicht um Verweise auf die Texte weiblicher Autorinnen ergänzt. Diese Beschränkung mag erstaunen, lässt sich jedoch als bewusst inszenierte Abgrenzung deuten: Indem Klüger sich als (einzige) Frau gegenüber einem männlichen Kanon der Überlebendenliteratur präsentiert, kontrastiert sie ihr eigenes Schreibverfahren mit dem männlich geprägten. Klügers Text lässt sich in diesem Sinne als Durchbrechung etablierter – männlicher – Darstellungsverfahren lesen.255 Abgesehen von den Texten Überlebender jedoch orientieren sich die intertextuellen Verweise in Still alive eindeutig stärker an einem weiblichen Kanon. Die oben diskutierte Voranstellung von Gedichtauszügen weiblicher Autorinnen vor die einzelnen Teile von Still alive lenkt dabei in besonderem Maße den Blick auf die Bedeutung der von Frauen verfassten Literatur für die Lebensgeschichte des erinnernden Ichs. Wie oben angedeutet, rückt durch den Verweis auf die Literatur von Autorinnen/Wissenschaftlerinnen, in deren Werk die 253

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Zur Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Definition eines spezifisch weiblichen Schreibens vgl. exemplarisch Jutta Osinski: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 99; S. 146. – Allerdings sei auf die Ansätze zur Verbindung von Erzähltextanalyse und Gender Studies verwiesen, wie sie von Vera und Ansgar Nünning zusammengeführt worden sind. – Vgl. V. Nünning/A. Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies (wie Anm. 44). Vgl. hierzu auch Reiter: »It is not as a professional writer but as a professor of literature that she structures her text, with the chosen feminist point of view increasing the distance between the narrated self and the first-person narrator.« – Reiter, ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹ (wie Anm. 248), S. 327. Vgl. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 128), S. 259.

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Auseinandersetzung mit der Zugehörigkeit zu Minderheiten einen zentralen Platz einnimmt, das Thema von Ausgrenzung und Unterdrückung immer wieder in den Blick. Was die Rolle von Frauen innerhalb der Literaturwissenschaft betrifft, so ist festzustellen, dass auch in Still alive – wie in weiter leben – die Vorbildfunktion weiblicher Dozentinnen für die eigene Laufbahn als Literaturwissenschaftlerin explizit hervorgehoben wird: »Many of the best professors were women, an advantage that can’t be overestimated. [...] I don’t think I would have trusted myself to aspire to a college teaching career if I hadn’t been trained by women how to read Shakespeare and Faulkner« (179f.).256 Dabei handelt es sich allerdings um keine Feststellung einer spezifisch weiblichen Lektüre der kanonisierten Texte amerikanischer Literatur. Vielmehr wird in Still alive explizit auf das Fehlen der von Klüger in ihren theoretischen Essays eingeforderten Reflexion des persönlichen Hintergrunds für die Interpretation von Literatur mit dem Verweis auf die theoretische Ausbildung der Dozentinnen – »trained in the New Criticism« (179) – hingewiesen. Ergänzt jedoch wird die Passage um eine in weiter leben ebenfalls fehlende Kritik am literarischen Kanon: »And yet, no women writers, no Virginia Woolf, no Emily Dickinson!« (180). Der Einwand, Klüger setze sich in ihrem autobiographischen Projekt nicht mit dem marginalisierten Status von weiblichen Autorinnen in der Literaturgeschichte und der Randstellung von Frauen als Literaturwissenschaftlerinnen auseinander, kann mit Blick auf die amerikanische Version damit nicht aufrecht erhalten werden.257 Wie der Ausblick auf Klügers kürzlich erschienenen autobiographischen Text Unterwegs verloren zeigen wird, steht die Auseinandersetzung mit der von Männern geprägten Literaturwissenschaft schließlich im Mittelpunkt ihrer Reflexionen über die Tätigkeit als Literaturwissenschaftlerin in den USA, Deutschland und Österreich (vgl. Kapitel 4.2.8). Abschließend sei hervorgehoben, dass auch durch die feministische Perspektive Klügers Erinnerungstext von vornherein einem vermeintlichen ›Abbild‹ der Kindheitserlebnisse entgegenläuft. Dabei lässt sich mit Andrea Reiter argumentieren, dass erst der spätere, durch women’s movement und feministische Literaturtheorie geschulte Blick die Perspektive auf die eigene Kindheit prägt und damit die (Re)Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte maßgeblich bestimmt.258 Dies jedoch ist nur die eine Seite der Interdependenz von ›gelebtem Leben‹ und späterer wissenschaftlicher Arbeit: Klügers Text rückt gerade nicht nur den Einfluss der Perspektive der Wissenschaftlerin auf die Deutung und Konstruktion der persönlichen Vergangenheit in den Blick, son256 257

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Vgl. hierzu die entsprechende Passage in weiter leben (231). Zum Fehlen kritischer Stellungnahmen gegenüber einer von männlichen Autoren geprägten Lektüresozialisation vgl. Lezzi, Zerstörte Kindheit (wie Anm. 128), S. 258f. Vgl. hierzu Reiter, ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹ (wie Anm. 248), S. 337.

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dern ebenso den Einfluss der persönlichen Erfahrung auf die Entwicklung der theoretischen Überzeugungen und Annahmen der späteren Literaturwissenschaftlerin. Erfahrung und spätere Deutung dieser Erfahrung lassen sich – so meine obigen Überlegungen zu Klügers Umgang mit literarischen Dokumenten im autobiographischen Projekt – nicht voneinander trennen, bedingen sich gegenseitig. Gerade in der Hervorhebung dieses Ineinandergreifens von persönlicher Erfahrung und späterer Perspektive der Literaturwissenschaftlerin, die ihrerseits untrennbar mit der Deutung der eigenen Vergangenheit verbunden ist, manifestieren sich Klügers Annahmen zum Zusammenhang von persönlichem Hintergrund und wissenschaftlicher Arbeit. 4.2.7.4 Autobiographie als »subjektivste Form der Geschichtsschreibung« Im autobiographischen Schreibakt, so Klüger in ihren theoretischen Überlegungen, geht es um ›Wahrheitsfindung‹. ›Wahrheitsfindung‹ bedeutet – um es zu wiederholen – allerdings keine objektiv-allgemeingültige Dokumentation historischer Fakten. Die Darstellung historischer Ereignisse ist im Gegenteil immer begrenzt auf ihre Wahrnehmung durch das einzelne Subjekt. Die Gleichsetzung der Autobiographie mit einer ›Zeugenaussage vor Gericht‹ beinhaltet daher nicht den Anspruch auf eine allgemeingültige Wahrheit, wohl aber die Treue zum Geschehenen, wie es sich dem ›Zeugen‹ rückblickend darstellt. In diesem Sinne formuliert das erinnernde Ich am Ende von weiter leben: »Schließlich haben sie [die Gespenster, K. M.] mir ein Bein gestellt, so daß ich auf den Kopf fiel, und was mir danach einfiel, oder was dabei herausfiel, hab ich ausgesagt« (284). Für die Gültigkeit ihrer Aussagen bürgt sie mit ihrer Erfahrung: »[D]as hab ich erlebt […]« (135). Ging es den kurz nach dem Krieg erschienenen Texten in erster Linie darum, über das historische Geschehen aufzuklären, können spätere Texte diese Fakten als bekannt voraussetzen. Klüger selbst äußert sich im Interview folgendermaßen dazu: Ich schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muß nicht wiederholen, was schon geschrieben ist. Das bedeutet aber auch, […] daß da 40 oder 50 Jahre lang Schrifttum vorhanden ist, auf das ich mich beziehen kann. Ich muß nicht noch einmal schlecht das machen, was Primo Levi so gut gemacht hat. Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger wird es nötig sein, diese Details zu beschreiben, und je öfter sie dann noch beschrieben werden, desto mißtrauischer kann man werden.259

In weiter leben heißt es in diesem Kontext: »Unten auf der Straße schrien Chöre von Männerstimmen. Was geschrien wird, läßt sich in den Geschichtsbüchern nachlesen« (21). Im Gegensatz zur Dokumentation historischer Fakten geht es in weiter leben um die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Zugang zur Ver259

Naumann im Gespräch mit Klüger (wie Anm. 120), S. 45.

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gangenheit grundsätzlich nur über die individuelle Erfahrung möglich ist – denn »diese Wirklichkeit [war] für jeden anders« (82). Erst über die Wirkung der nationalsozialistischen Maßnahmen und Gesetze auf das alltägliche Leben des Einzelnen – und hier besteht eine deutliche Parallele zu Friedländers Überlegungen – lässt sich überhaupt ein Zugang zu den Ereignissen finden. Allgemeingültige Schlüsse lassen sich deshalb aus ihren persönlichen Erlebnissen nicht ziehen. So nimmt das erinnernde Ich in weiter leben ihre Reflexion über freie Entscheidungen gleich im nächsten Absatz mit folgenden Worten zurück: Gestern schrieb ich diese Sätze, heute scheinen sie falsch, verquer. Ich will sie löschen, zögere. Was stimmt denn hier nicht? Schon der Ausdruck ›Wer je...‹ Ich spreche von einem Augenblickszustand in meinem Leben, als hätte er Offenbarungscharakter. Autoritäre Sätze, ›ich weiß etwas, was du nicht weißt‹, das mich berechtigt zu verallgemeinern. Was weiß denn ich von freien Entscheidungen […] (166).

Sie fordert vielmehr in dem ihr eigenen Tonfall ein, sich mit der individuellen Erfahrung des Einzelnen auseinander zu setzen. Den – wie Reiter es formuliert hat – »kollektiv geprägte[n] Denkfiguren und Artikulationsformen« setzt Klüger ihre persönlichen, individuellen Erinnerungen entgegen, die von gängigen Schilderungen der Lagererfahrung abweichen.260 Durch die spezifisch weibliche Perspektive und die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter unterscheidet sich weiter leben deutlich von ›gängigen‹ Überlebendentexten. Sie schildert gute Momente in Theresienstadt und erzählt die Flucht bei Kriegsende mit Humor. Damit bricht Klüger – ähnlich wie Imre Kertész – mit den Erwartungen an das Genre der Überlebendentexte: Sie lässt sich nicht festlegen, nicht in die Erwartungen der Rezipienten an tradierte Opferschemata und Schilderungen der KZ-Erfahrung einpassen. Klügers Einschätzung der Autobiographie als subjektivste Form der Geschichtsschreibung ist somit in zweifachem Sinne zu lesen: zum einen als Geschichte des Ichs, als Annäherung an die persönliche Vergangenheit – zum anderen als Beitrag zur Geschichtsschreibung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, zu der sie ihre persönliche Geschichte beisteuert. Bezogen auf Friedländers Geschichtsschreibung ließe sich Klügers Erinnerungstext als eine Stimme bezeichnen, durch die die Auswirkungen der nationalsozialistischen Maßnahmen und Gesetze nachvollziehbar werden.261 Individualität entsteht darüber hinaus durch den Klüger eigenen, unverwechselbaren Sprachduktus: ein Idiolekt, der sich – analog zu Klügers Essays 260 261

Andrea Reiter: ›Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit‹. Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien: Löcker 1995, S. 84. Tatsächlich bezieht Friedländer Klügers Erinnerungen in Nazi Germany and the Jews mit ein. – Vgl. Friedländer, The years of persecution (wie Kap. 1, Anm. 1), S. 255, 354, 494, 504f., 577f., 651f. – Heidelberger-Leonard formuliert das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung in weiter leben folgendermaßen: »Kein Buch illustriert besser, wie die kleine Geschichte die große Geschichte erst zum Sprechen zu bringen vermag.« – Heidelberger-Leonard, Ruth Klüger ›weiter leben. Eine Jugend‹ (wie Anm. 132), S. 78f.

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– durch die Verweigerung gegenüber sprachlichen Stereotypen und die wortgenaue Verwendung der Alltagssprache auszeichnet. So verweist das erinnernde Ich etwa auf Begriffe wie ›Vergangenheitsbewältigung‹ und ›Schuldgefühle‹, die in ihrer unreflektierten Verwendung zu Phrasen werden. Auf der anderen Seite sind Begrifflichkeiten des alltäglichen Sprachgebrauchs gerade angemessen, werden auf ihren wörtlichen Sinn zurückgeführt – wie beispielsweise die ›Langeweile‹ oder der ›Zeitvertreib‹ im Zusammenhang von Auschwitz: Der Alltag im Lager war langweilig – »Hunger, Durst, schleichendes körperliches Unbehagen ist langweilig, insofern als man sich wünscht, es wäre schon später« (116) – das Aufsagen von Versen im Lager ist, »indem sie die Zeit einteilen, im wörtlichen Sinne ein Zeitvertreib« gewesen: »Ist die Zeit schlimm, dann kann man nichts Besseres mit ihr tun, als sie zu vertreiben […]« (122f.). Einer Entrückung des Holocaust ins Unsagbare steht das erinnernde Ich skeptisch gegenüber: Sprache wird auch in ihrem persönlichen Erinnerungstext wörtlich genommen. Das Aufbrechen gängiger inhaltlicher und sprachlicher Muster schafft ein in hohem Maße persönliches Zeugnis, das Auseinandersetzung mit Unerwartetem, Annäherung, genaues Lesen einfordert. Dahinter steht die Überzeugung, dass Sprache als verbindliches Referenz- und Kommunikationssystem besteht – eine Überzeugung, die Klüger bereits in ihren literaturwissenschaftlichen Essays formuliert hat. Ich komme hierauf in meiner Synthese von Klügers literaturwissenschaftlichem und autobiographischem Werk zurück. 4.2.7.5 »Eigentlich war es ein essayistisches Buch, mehr Kommentar als Handlung«262: Der autobiographische Text als ›Essay‹ Klügers autobiographisches Projekt unterscheidet sich von konventionellen, chronologisch erzählten Autobiographien insbesondere durch die Trennung von erinnertem Ich und einem erinnernden Ich, dessen Kommentierungen und Reflexionen die Ebene der erzählten Geschichte immer wieder unterbrechen. Verweise auf andere Autoren und Autorinnen, eigene Gedichte mit ihrer Deutung durch das erinnernde Ich und die die einzelnen Teile von Still alive einleitenden Gedichtauszüge sind außerdem kennzeichnend für beide Texte. Strukturgebendes Prinzip von Klügers autobiographischem Projekt – darauf ist wiederholt hingewiesen worden – ist die Reihung von gegensätzlichen, einander widersprechenden Aussagen, die vom Leser eine genaue Lektüre und Reflexion der gemachten Aussagen einfordert. In diesem Sinne lässt sich Klügers ›dialogisches Schreiben‹ nicht nur als Herausforderung zu differenziertem Denken lesen, sondern – auf übergeordneter Ebene – analog zu den theoretischen Überlegungen zum Genre des wissenschaftlichen Essays: als Aussage darüber, dass jegliches Urteil immer wieder überprüft und gegebenenfalls revidiert werden muss, also ebenso immer nur ein ›Versuch‹ der Annäherung 262

Klüger, Unterwegs verloren (wie Kap. 1, Anm. 9), S. 165.

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sein kann und keine dauerhaften, allgemeingültigen ›Wahrheiten‹ liefert.263 Auch die Fortschreibung des autobiographischen Projekts lässt sich an die theoretischen Überlegungen zum Essay anschließen: Auf die Subjektivität und Vorläufigkeit ihrer Aussagen weist das erinnernde Ich explizit hin, die Fortschreibung des Erinnerungsprojekts unterstreicht darüber hinaus den vorläufigen Charakter des Ausgesagten. Die Verknüpfung von Klügers autobiographischem und wissenschaftlichem Werk entsteht außerdem durch die teilweise wörtliche Aufnahme von Ausschnitten aus Klügers theoretischen Essays in ihr autobiographisches Projekt. Fließen ihre theoretischen Überlegungen auf der einen Seite in ihr autobiographisches Projekt ein, nimmt sie auf der anderen Seite Passagen ihres autobiographischen Projekts in ihre literaturwissenschaftlichen Essays auf. So zitiert sie etwa die eigene deutsche Übersetzung des Epilogendes aus Still alive in ihrem 2004 veröffentlichten Vortrag ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹264 und betont dabei explizit den Einfluss der persönlichen Lebensgeschichte auf ihre literaturwissenschaftliche Arbeit: Sie denken vielleicht, ich hätte die Einladung, bei der Eröffnung eines Geriatriekongresses zu sprechen, deshalb angenommen, weil ich selbst genügend bejahrt bin, um ein geeignetes Objekt der Geriatrieforschung abzugeben. Aber das, was mich bei den Gedanken ans Altern in den letzten paar Jahren umgetrieben hat, war ein anderer, älterer Mensch als ich, nämlich meine Mutter […], die […] als uralte Frau im Herbst 2000 starb. Erst nach ihrem Tod war es mir möglich, meine Autobiografie, die schon vor langer Zeit auf Deutsch erschienen war, auf Englisch fertig zu schreiben und zu veröffentlichen. Ich fügte als Epilog ein paar Seiten über das Ende dieser Frau hinzu, und die möchte ich Ihnen jetzt, zum ersten Mal auf Deutsch, natürlich in meiner eigenen Übersetzung, vorlesen, denn sie enthalten die Gedanken, mit denen ich das heutige Thema angegangen bin.265

Ihr Interesse für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion deutet sie als Konsequenz der persönlichen Lebensgeschichte folgendermaßen: Ich bekenne, daß in meinem Fall zu dem allgemeinen Interesse an der Frage noch ein biographisches hinzukam. Denn mich hatte der Strudel der Geschichte als Kind ganz nach unten gesaugt, um mich wunderlicherweise und entgegen aller Wahr263

264 265

Vgl. zu dieser Einschätzung Reiter: »The essayistic method seems to fit her theme, as it represents an experiment, a trying-out and a step-by-step approach to what has been experienced. The form itself thus becomes a statement on Holocaust discourse.« – Reiter, ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹ (wie Anm. 248), S. 330. – Vgl. hierzu auch von der Lühe: »[E]s geht um narrative Versuche, über und mit dem eigenen Leben in einen Dialog zu treten, und zwar nicht nur mit sich selbst, sondern mit den Leserinnen und Lesern. Die klassische Definition und Funktion der Autobiographie ist denn auch auf Klügers Text nicht anwendbar […].« – Von der Lühe, Das Gefängnis der Erinnerung (wie Anm. 131), S. 36. Klüger, ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹ (wie Anm. 2), S. 42–52. Ebd., S. 42.

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scheinlichkeit am Ende des Kriegs wieder auszuspeien. Später habe ich meinen Lebensunterhalt mit der Vermittlung von Fiktionen, von Literatur, verdient. Da war es unvermeidlich, daß sich die Frage stellte, was unsere Wirklichkeiten denn mit unseren Fiktionen zu tun haben. Und diese Frage hat mich seither umgetrieben.266

Der Zusammenhang zwischen autobiographischem Projekt und theoretischen Überlegungen beschränkt sich nicht auf das Verhältnis von Fakten und Fiktion. Vielmehr bestimmt die Erfahrung des autobiographischen Schreibens ebenso Klügers Position innerhalb der literaturtheoretischen Diskussion um das Konzept von Autorschaft und die Kontextabhängigkeit von Interpretationen. Autobiographisches und wissenschaftliches Werk greifen so durch die wechselseitige, wörtliche und sinngemäße Aufnahme von Textpassagen ineinander. In Kapitel 4.2.8 wird es darum gehen, in einem kurzen Ausblick Fragen zu formulieren, die eine eingehendere Analyse von Klügers jüngstem autobiographischen Text – Unterwegs verloren. Erinnerungen – leiten können.

4.2.8 Ausblick: Unterwegs verloren. Erinnerungen Verluste Vorangestellt ist dem Text ein Zitat aus Herta Müllers Roman Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005), das ihm gleichzeitig den Titel gibt: »einmal ging ich unterwegs verloren / einmal kam ich an wo ich nicht war«.267 Wird auch hier die Frage der Identität durch das ›unterwegs‹ und die Ankunft, ›wo man nicht ist‹, mit der (Un)Zugehörigkeit zu Orten verknüpft, rücken damit außerdem die über die Jahre erlittenen Verluste als zentrales Thema des autobiographischen Projekts in den Blick. Das erste Kapitel beginnt dann auch mit einem bemerkenswerten ›Abschied‹ – Klüger hat nach Jahren beschlossen, sich die Auschwitz-Nummer vom Arm entfernen zu lassen: »Nicht länger wollte ich wie die Opfer in Kafkas ›Strafkolonie‹ das ungerechte, das absolute, das unverständliche und der Vernunft nicht zugängliche Gesetz eingeritzt im Körper haben« (28). Das ›Zeugnisablegen‹ durch weiter leben war »Vorbedingung für das Ablegen der Nummer, für den wieder unversehrten Arm« (13). Dabei hebt sie den Zusammenhang von Auschwitz-Nummer – »dieses Stück ›Mahnmal‹« (12) – und Erinnerung an die Toten hervor: »Ich trag die Nummer als Andenken an euch, sag ich dann, sagte ich immer« (11). Der ›Abschied‹ von der Auschwitznummer und der Abschied vom Bruder, der an die Überlegungen in Kapitel 4.2.4.2 anschließt, werden unmittelbar miteinander verbunden: 266 267

Dies., Wie wirklich ist das Mögliche? (wie Kap. 1, Anm. 18), S. 217. Herta Müller: Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München: Hanser 2005.

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So kam es zum Abschied vom Bruder, der sich langsam auflöste, um eins zu werden mit den meisten Toten, die einmal die Erde bewohnt haben und an die sich niemand mehr erinnert, weil sie nichts zurückließen als die flüchtige Spur im Gedächtnis des einen oder anderen Lebenden. Die Nummer war das sichtbarste Zeichen für eine solche Spur gewesen. Je langsamer eine alte Frau auf der Straße geht, desto schneller entfernt sie sich von den rückwärts laufenden Gestorbenen. Erst hielt der Schorschi nicht mehr Schritt mit mir, konnte nicht mehr neben mir herlaufen, dann verschwammen sein Gesicht und seine Gestalt, und nun kann ich ihn kaum noch von den anderen unterscheiden. Bald erkenne ich ihn nicht mehr (28f.).

Bereits der erste Satz des Textes verbindet dabei das Abschwächen der Erinnerungen mit dem fortschreitenden Alter: »Mit dem Älterwerden weichen auch die Gespenster zurück« (11). Der in Teil I beschriebene Tod der Mutter und des Cousins Heinz sind lediglich der Beginn einer Kette von Verlusten, die den Text durchzieht – die gescheiterte Ehe, das schwierige Verhältnis zu den Söhnen und Enkelkindern, der Verlust alter Freunde, Verlust dessen, was das eigene Ich in früheren Lebensphasen ausmachte.268 Besonderen Stellenwert erhält die abgebrochene Freundschaft zu Martin Walser (168–176) – hervorgehoben durch den wörtlichen Verweis auf den Titel: »Das alles ist aus. Ging unterwegs verloren« (169). Klügers offener Brief auf Walsers Tod eines Kritikers in der Frankfurter Rundschau wird hier in voller Länge zitiert (170–176). Wie in weiter leben bleiben die Widersprüche dieser nun verlorenen Freundschaft bestehen, bleibt Walser für das erinnernde Ich der Inbegriff ihres Deutschlandbilds (176). Diskriminierung als (jüdische) Frau, Literaturwissenschaftlerin Die Diskriminierung als Jüdin ist auch in Unterwegs verloren verknüpft mit der Herabsetzung als Frau: »Ich werde oft gerügt, weil ich über Diskriminierung gegen Juden und gegen Frauen in einem Atemzug rede, aber so hab ich’s erlebt« (156). Im umfangreichsten zweiten Teil – »Neue Welt« – zeichnet sie am persönlichen Beispiel ein bedrückendes Bild der gesellschaftlichen Stellung der Frau in den 50er und 60er Jahren. Auch in ihrer Ehe findet sie keinen Rückhalt – im Gegenteil: »[A]m Ende der Ehe kam es mir vor, als falle ich aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen« (85). Nach der Scheidung verfasst sie Gedichte auf Deutsch – »vor allem, um 268

Klüger äußert sich zur Wahl des Titels folgendermaßen: »[M]ir haben die Zeilen von Herta Müller gefallen [...]. Dass man irgendwo ist und doch nicht da ist, das hat eine gewisse Schönheit. [...] Es ist eine Heimatlosigkeit, die mit dem Leben selber zu tun hat. Man geht von einer Lebensphase in die nächste und verliert immer wieder den Boden unter den Füßen.« – Martin Doerry/Cordula Meyer: »Man ist irrsinning indiskret«. Die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger über ihr neues autobiografisches Buch »Unterwegs verloren«, das Leben nach der Verfolgung, die schwierige Beziehung zu ihren Kindern und das Ende ihrer fast 60-jährigen Freundschaft mit Martin Walser. In: Der Spiegel 33 (2008), 11. August 2008, S. 144–147, hier: S. 144.

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das Gleichgewicht wiederherzustellen« (90). Es ist die Literaturwissenschaft, die ihr in dieser Situation Halt bietet (92). Doch auch hier ist ihre Position als Frau alles andere als unproblematisch: In Princeton wird sie erste Ordinaria im German Department – eine »Vorzeigefrau« (61), die von den männlichen Kollegen bestenfalls ignoriert wird. Die Auseinandersetzung mit der Rolle von Frauen innerhalb der Literaturwissenschaft, die in weiter leben und Still alive lediglich angedeutet ist, rückt in Unterwegs verloren damit in den Mittelpunkt der autobiographischen Erinnerungen. Positionierung als Literaturwissenschaftlerin; Inszenierung von Erinnerungshaftigkeit Auch in Unterwegs verloren hebt das erinnernde Ich den Zusammenhang von persönlichem Hintergrund und theoretischen Überlegungen hervor, den sie im Kontext ihrer Arbeit als Bibliothekarin eines ›bookmobiles‹ folgendermaßen formuliert: Allen gab ich Ratschläge, und so war es mir völlig selbstverständlich, daß es verschiedene Lesergruppen mit unterschiedlichen Lesebedürfnissen gibt, die mit den äußeren Lebensumständen der Leser mehr zu tun haben als mit der Qualität der Bücher. [...] Hier ist ein weiterer Beweis dafür, daß wir Lebenszeit für Lesezeit aus anderen als ästhetischen Gründen eintauschen. Jahrzehnte später wunderte ich mich, als einer meiner Aufsätze mit dem Titel ›Frauen lesen anders‹ viel Aufmerksamkeit hervorrief, als wäre ich auf etwas Funkelnagelneues gestoßen (93f.).

Ihre theoretischen Überlegungen zur Autorschaft fließen ebenfalls in Unterwegs verloren ein: Das erinnernde Ich positioniert sich explizit als Autorin von weiter leben und Still alive, kommentiert die Veröffentlichung und Rezeption von weiter leben ausführlich (156–168) und lenkt damit erneut die Wahrnehmung des eigenen autobiographischen Projekts. Wie in weiter leben und Still alive wird auch in Unterwegs verloren durch zahlreiche intertextuelle Verweise die Verknüpfung von persönlicher Erfahrung und Lektüre hervorgehoben. Analog zu Still alive sind den einzelnen Teilen Auszüge aus Texten von Autorinnen/Dichterinnen vorangestellt, die zum Bezug herausfordern – zum Werk der ›Wortsammlerin‹ Herta Müller, hinter deren ›harmlosen‹, nur scheinbar zufällig zusammengefügten Reimen plötzlich die Bedrohung hindurch scheint,269 zu den Texten der Sprachskeptikerin Ilse Aichinger, den Gedichten Ingeborg Bachmanns und Mascha Kalékos. Kapitel eins – »Abschiede« – wird durch ein Zitat aus Ilse Aichingers Kleist, Moos, Fasane eingeleitet: »Ob ich euch wiedersehe oder ob ich euch nicht wiedersehe, ich sehe euch wieder« – Anspielung darauf, dass sich Erleb269

So lautet die Passage, die Klügers Text den Titel gibt, im Kontext folgendermaßen: »Einmal rasselte die Angst wie sie / nicht soll wie die Streichholzschachtel in der / Manteltasche einmal ging ich unterwegs verloren / einmal kam ich an wo ich nicht war«. – Müller, Die blassen Herren mit den Mokkatassen (wie Anm. 267), ohne Seitenangabe.

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

239

tes nicht abschütteln lässt, auch – so der Verweis auf das Textende – mit zunehmendem zeitlichen Abstand nicht.270 Auch der Auszug aus Mascha Kalékos Gedicht Das, der dem zweiten Teil vorangestellt ist, lässt sich als Stellungnahme zur Funktionsweise autobiographischer Erinnerung lesen – Erinnerung, die lediglich Bruchstücke der Vergangenheit liefert, Fragmente, die immer nur aus der Gegenwart heraus zusammengefügt werden können: »So also ist es gewesen. – / Man frage bitte nicht, was. Ich habe die Scherben wieder aufgelesen. Aber alle Scherben zusammen / machen noch immer kein Glas«.271 Gleichzeitig verweist das Zitat auf den »Riß, der durch die Vergangenheit und Gegenwart der vielen Flüchtlinge unserer Welt geht« (214) – auf die Tatsache also, dass sich die disparaten Erfahrungen nicht in eine schlüssige, gradlinige Lebensgeschichte einebnen lassen. Der Auszug aus Ingeborg Bachmanns Gedicht Exil, der der Auseinandersetzung mit der ›Rückkehr‹ nach Deutschland und Wien vorangestellt ist, hebt die Funktion der Muttersprache als Heimat und ihre Rolle im Prozess der Wiederannäherung hervor (s. u.): »Ich mit der deutschen Sprache / dieser Wolke um mich / die ich halte als Haus«.272 Dem Epilog schließlich ist ein Auszug aus Emily Dickinson’s Gedicht After a hundred years vorangestellt, der bereits Teil I von Still alive einleitete und durch die erneute Aufnahme am Textende von Unterwegs verloren besonderes Gewicht erhält: »Instinct picking up the Key / Dropped by memory« (217).273 Die persönliche Vergangenheit lässt sich durch den willentlichen Versuch der Annäherung – so das Zitat – nicht einholen, Erinnerungsprozesse laufen vielmehr unvermittelt, gehen ›ihre eigenen Wege‹, wie Friedländer es in Quand vient le souvenir... formuliert und durch die Bezüge auf die Proustsche Madeleine-Szene unterstreicht. In Unterwegs verloren heißt es analog dazu über die Freundin Maria: »Sie erinnert sich plötzlich und weiß selbst nicht, was die Erinnerung hervorgerufen hat [...]. Sie hat diese Erinnerung verdrängt, sagt sie, ist ganz aufgeregt, weil sie ihr plötzlich wieder eingefallen ist« (223) – ein Aufblitzen der Erinnerung, für das das erinnernde Ich an anderer Stelle die Metapher des Computers verwendet: »Es sind Eindrücke, an die ich Jahrzehnte nicht gedacht habe, die ich mir nie auf den Bildschirm der Erinnerung gerufen habe, die aber auf der Festplatte gespeichert waren und sich plötzlich [...] vordrängen« (196). Auch Unterwegs verloren ist damit explizit als ›Erinnerungstext‹ gekennzeichnet. Wie in weiter leben und Still alive wird dabei hervorgehoben, in welchem Maße der autobiographische Schreibakt immer nur gegenwärtige Konstruktion sein kann, die der Vergangenheit nachträglich Bedeutung verleiht. Die Diskrepanz zwischen 270 271

272 273

Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1987, S. 87. Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Hg. und eingeleitet von Gisela Zoch-Westphal. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2007 (1977) (dtv; 12382), S. 166. Ingeborg Bachmann: Exil. In: Dies.: Werke. Bd 1: Gedichte. München: Piper 1978, S. 153. Vgl. Anm. 249.

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damaligem Erleben und Erinnerung kommentiert das erinnernde Ich am Beispiel der Freundschaft zu Maria folgendermaßen: Ich krame in alten Tagebüchern aus der Zeit in Cleveland und stelle fest, daß Maria gar nicht darin vorkommt. Das erstaunt mich, denn sie ist das, was aus diesen Jahren vor allem geblieben ist. Die Tagebücher sind voll von Einzelheiten über ein paar kurze, gescheiterte Liebesaffären, die mir in der Rückschau ganz unerheblich vorkommen, mich aber anscheinend mehr beschäftigten, als das Gedächtnis sich eingestehen möchte; das Gedächtnis will sie zusammenrücken oder komprimieren (125f.).

Die eigenen Gedichte werden daher zu Zeugnissen des ›vergangenen Ichs‹ – zu »Beweis[en]« (116), zu »gespeicherten [...] Erinnerungen« (117) der damaligen Wahrnehmung. Deutsche Sprache/Deutschland/Wien Die Muttersprache entdeckt sie durch den Sprachunterricht neu, den sie während ihrer graduate studies in Berkeley als teaching assistant erteilt. Die Funktion des Germanistikstudiums beschreibt das erinnernde Ich als Beschwörung der Vergangenheit und als Versuch, mit ihr ins Reine zu kommen (112). Es ist ein Plenarvortrag bei der Internationalen Vereinigung für Germanistik, der sie nach Göttingen führt. Damit beginnt ihre »langjährige Beziehung« (148) zu Göttingen: »Nach Göttingen wollte ich auch nach dieser Tagung zurückkommen und dort meine deutsche Vergangenheit, so gut es ging, entwirren. Die Stadt wurde mein Torweg zum Land« (148). Am Ende von Teil II ist die Dankesrede zur Verleihung des Ehrendoktorats eingefügt – eine Laudatio auf die Stadt, zu der sie sich zugehörig fühlt. Dass auch diese Zugehörigkeit von Ambivalenzen geprägt ist, wird im anschließenden dritten Teil deutlich. Teil III trägt den Titel »Alte Welt« und beschreibt die Erfahrungen der letzten Jahre in Deutschland und Österreich. Im Kapitel »Göttinger Neurosen« schränkt das erinnernde Ich die Zugehörigkeit zu Göttingen mit folgenden Worten wieder ein: »Ich bin hier fast zu Hause. Das entscheidende Wort ist ›fast‹. An der Oberfläche bin ich willkommen, mancherlei schwimmt aber unterm Wasser, wo’s dunkel ist« (177). An verschiedenen Begebenheiten – dem Betrug durch ihren Bankberater, der Bezeichnung als ›Schmierfink‹, dem unterschwelligen Antisemitismus – wird deutlich, dass sich hinter scheinbaren ›Einzelfällen‹ für das erinnernde Ich Kontinuitäten verbergen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Wie stark die Wahrnehmung Deutschlands weiterhin durch die Erfahrung der Verfolgung bestimmt ist, verdeutlicht die Anspielung auf die ›Deutschland‹-Passage im Kontext des Unfalls in weiter leben (vgl. S. 187f. der vorliegenden Studie). In Unterwegs verloren heißt es analog dazu: ›Deutschland‹. Und wieder ›Deutschland‹. Immer wieder. Sicher ist es ein Rechtsstaat und man kann sich Recht verschaffen, wenn man es richtig anstellt. Oder schwelt noch was? Daß es auch anders geht? Mit Ausländern, mit alten Frauen, mit Juden? (191f.)

4.2 Klügers autobiographisches Projekt

241

Auch die Beschreibung Wiens, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist (Wiener Neurosen), ist bis in die Gegenwart von solchen Ambivalenzen, einem permanenten ›einerseits–andererseits‹ geprägt. Wien bleibt die »Stadt der Vertreibung«: Will sagen, daß es für die Touristin, die eben keine Fremde, sondern gebürtige Wienerin ist, zwar ein heutiges und ein damaliges Wien gibt, denn man hat ja Verstand und kann unterscheiden, aber die beiden lassen sich vom Gedächtnis her nicht so auseinanderhalten, wie man gerne möchte (195).

So ist das erinnernde Ich nur bedingt »Heimkehrerin« (195), ist sie doch andererseits bei jedem Aufenthalt »fremd in der Heimat« (196), weshalb der kurz darauf verwendete Begriff »Rückkehrerin« (198) und die Selbstbezeichnung als »amerikanische Touristin« (203) treffender erscheinen. Die Beantragung der doppelten Staatsbürgerschaft (214) ist deshalb keinesfalls als versöhnliche Heimkehr einzuordnen: »Annäherung, das ist nicht dasselbe wie Versöhnung« (211). Das ambivalente Verhältnis lässt sich nicht auflösen: Die Stadt gehört mir, wie eine Wunde, die nicht heilt, mir gehört. Und umgekehrt, gehöre ich der Stadt? [...] Seit dem September 1942 hatte die Stadt eine Geschichte, an der ich keinen Anteil hatte. Und ich hatte meine Lebensgeschichte, die anderswo war. Gehören wir einander? Mit Absicht habe ich mir die Stadt nicht oft ins Gedächtnis gerufen, aus Wehleidigkeit, könnte man sagen, und sie hat es mit der Erinnerung an mich und meinesgleichen jahrzehntelang auch nicht eilig gehabt, bis sie sich endlich aus ihrem selbstverschuldeten Dornröschenschlaf aufrappelte. Wo immer ich in Wien hingehe, berühre ich eine wunde Stelle. [...] Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar. Läppisch gerät jeder Versuch, Versöhnung anzustreben (199f.).

Auch in Unterwegs verloren besteht die Bindung an Wien vor allem über die Sprache: »[M]eine Muttersprache ist das wienerische Hochdeutsch der jüdischen Mittelklasse« (195). Allerdings ist auch diese Bindung keinesfalls eindeutig: In Wien denke ich darüber nach, wie’s anders gewesen wäre ohne Hitler. Wenn ich dort aufgewachsen wäre, und Deutsch wäre nicht eine Sprache, mit der ich mich herumschlage, weil ich sie teils verlernt habe (und bewußt verlernen wollte) und wiederfinden muß, und weil mir oft die richtigen Wörter nicht einfallen und weil meine Ausdrucksweise veraltet ist (204f.).

Und doch ist die Sprache das einzige, was sich hat mitnehmen lassen, als die Heimat so »unheimlich wie kein anderer Ort wurde« (214) – »wenn’s auch nur die ohnmächtigen Wörter sind, die man beim Spielen verwendete« (214). Auch in Wien ist das erinnernde Ich mit antisemitischen Äußerungen und Vorfällen konfrontiert, die sie wiederum in enger Verbindung mit der Diskriminierung als Frau einordnet (206–210). Dabei beschränkt das erinnernde Ich die Thematisierung von Ausgrenzung und Diskriminierung nicht auf das eigene Schicksal. Vielmehr betont sie, dass ihr jegliche Diskriminierung »ins eigene Fleisch« (23) schneidet. Die Analo-

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4 Ruth Klüger

gien zur Erfahrung anderer verfolgter Ethnien, die am Beispiel der Afroamerikaner Gegenstand von Kapitel 4.2.6.4 waren, ziehen sich durch den gesamten Text und rücken im Epilog von Unterwegs verloren abschließend nochmals in den Mittelpunkt von Klügers autobiographischem Projekt. Epilog Der Text endet mit der Beschreibung zweier Schiffsreisen, die sich im Kopf des erinnernden Ichs »kreuzen« (219) und nicht nur die beiden Pole des eigenen Lebens symbolisieren, sondern über das persönliche Schicksal hinaus die Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung generell zum zentralen Thema des Textes machen. Die eine Schiffsreise ist eine Kreuzfahrt, die sie zusammen mit ihrer Freundin Maria unternimmt – eine Reise, die von Anfang an durch ein undefinierbares, »tiefes Unbehagen« (227) bestimmt wird. Bereits das Einschiffen in Venedig ruft in ihr die Flüchtlingslageratmosphäre von früher hervor (227), der Zusammenprall mit dem befreundeten Ehepaar, das mitreist, löst einen Schrecken aus, von dem sie sich tagelang nicht erholt: »[E]s sind die Gespenster, die mich heimsuchen [...]. Gespenster sind die ungelöste, unerlöste Vergangenheit. Gespenster unterscheiden kaum zwischen Kleinigkeiten und Enormitäten, sie sind für beides zuständig« (228). Die Reise wird zu »einer Art Gratwanderung« (222): »Ich gehöre jetzt also zu den Reichen dieser Welt« [...] (219) – eine Rolle, in der sie sich nicht wiederfinden kann: [I]n den Ländern, die wir besuchten, herrschten ganz andere Vorstellungen davon, was man zum Leben und Überleben benötigt. [...] Die Busbegleiter sind manchmal ganz offen neidisch, wir hätten’s gut, sagen sie; wenn wir jetzt von unserem kleinen Ausflug zurückkehren, setzen wir uns an den Pool und bestellen einen Cocktail und lassen uns bedienen. Was stimmt, aber ich hör’s nicht gern, ich will sagen, nein, nein, ich komme von woanders her, von unten, ich bin nur zufällig hier im Luxus (219f.).

Die »Kluft zwischen Bedienten und Bedienern« beschreibt Klüger mit Hofmannsthal im Bilde des Schiffes (223) – eine Trennung entlang ethnischer Grenzen (226f.). Die zweite Schiffsfahrt ist die Fahrt der Dunera, des Flüchtlingsschiffs, mit dem ihr Cousin Herbert nach seiner Ausweisung als ›enemy alien‹ durch die britsche Regierung unter schlechtesten Bedingungen nach Australien deportiert wurde (229f.) – und damit die »Kehrseite« (229) des Luxusschiffs, auf dem sie reist: »Die ›Dunera‹ und die ›Rotterdam‹ kreuzten andere Meere zu anderen Zeiten, aber sie gehören zusammen wie Plus und Minus« (232). Die gekreuzten Schiffsreisen werden so zum Symbol für die Situation des erinnernden Ichs: »Zwischen zwei Stühlen sitzen ist eine alte Redensart, auf zwei Schiffen reisen ist eine Variante dieses Zustands« (232). Der Punkt, an dem sich beide Schiffe kreuzen, ist das Erreichen der senegalesischen Île de Gorée, früherer Sammelplatz für die Sklaven, die nach Amerika verkauft wurden – ein Ort, der

4.3 Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt

243

ihr das Weitergehen unmöglich macht: »Da taten mir plötzlich die Füße weh. Nicht auf gewöhnliche Art weh, sondern krampfhaft, ich möchte schreien« (232). Die Schmerzen werden bezeichnenderweise durch die orthopädischen Sandalen »aus guter Wiener Werkstatt« (233) noch verstärkt – eine Verweigerung des eigenen Körpers, die das erinnernde Ich folgendermaßen einordnet: Ich bin der einzige Mensch hier, ob Touristen oder Einheimische, ob Männer oder Frauen, der sich daran erinnert, was Sklavenarbeit ist. Persönliche Erfahrung, nix Vorfahren und 18. Jahrhundert. ›I was a slave girl.‹ Die Baracke im Auschwitzer Frauenlager, wo ich als Zwölfjährige die letzten paar Nächte vor dem Abtransport nach Groß-Rosen mit vier anderen Frauen auf der untersten Liege der dreistöckigen Pritsche verbrachte, voller Angst vor dem Tod, bis der Schlaf die Angst ablöste, die dann am Morgen wiederkam. Dann das Aufatmen, als es doch nur zur Zwangsarbeit, nicht zur Vergasung ging. Jetzt bin ich mit denen hier, die Luxus besser kennen als Gefahr und deren Vorstellung von Armut aus Büchern, Filmen und – naja – aus Kreuzfahrten kommt. Wer bin ich denn, die oder jene? Kein Wunder, daß ich Krämpfe kriege, in den Füßen und den Beinen (233f.).

Eine Passage, die in ihrem provokanten Tonfall direkt an die Überlegungen zur Analogsetzung der eigenen Erfahrungen mit denen der Afroamerikaner anschließt und eine vermeintliche ›Unvergleichbarkeit‹ des Erlebten ein weiteres Mal in Frage stellt. Der Epilog endet mit der Einsicht, dass die Erfahrungen der Verfolgung auch mit wachsendem Alter nicht weniger werden. Versäumtes aufholen, die Vergangenheit hinter sich lassen und von vorne beginnen lässt sich nicht – und so beschließt das erinnernde Ich den Text – und damit das gesamte autobiographische Projekt – mit einem zweiten Verweis auf den Titel: Mit jedem Verlust gleitet der Fuß abwärts, auf jeder Reise bröckelt ein Stück ich ab. Was unterwegs verloren geht, bist immer du selbst, und der nächste Ankunftsort besteht, wie die vorigen, aus dem jetzt und dem Damals, es gibt keinen neuen Anfang, nur Fortsetzungen auf einem Weg, der zusehends schmaler wird. Hat sich die Reise gelohnt? Naja: ›Es ist uns schon schlechter gegangen‹ (236).

4.3

»Ich spreche heute zu Ihnen einerseits als Germanistin […], andererseits als praktizierende Autobiographin«274: Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt

Im Mittelpunkt von Klügers literarhistorischen und -theoretischen Essays stehen – um es abschließend in Erinnerung zu rufen – folgende Annahmen: Die Rezeption von Literatur ist immer abhängig vom persönlichen und kulturellen Kontext des Rezipienten sowie vom historischen Zeitpunkt der Lektüre. Daraus folgt, dass eine ›objektive‹, über die Zeit gültige Interpretation von Literatur nicht existieren kann. Klüger demonstriert die Kontextabhängigkeit der 274

Klüger, Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie (wie Anm. 15), S. 405.

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Interpretation von Literatur insbesondere durch ihre dezidiert weibliche Perspektive, die Beschäftigung mit der Darstellung jüdischer Figuren sowie die Betonung der Konstrukthaftigkeit von Kanonbildung und Literaturgeschichtsschreibung. Darüber hinaus werden die Subjektivität und Unabschließbarkeit von Interpretationen bereits auf formaler Ebene durch die Wahl des Genres des literaturwissenschaftlichen Essays hervorgehoben. Durch Anmerkungen und Ergänzungen schreibt Klüger ihre Essays zudem fort und rückt auf diese Weise zusätzlich die Vorläufigkeit jeder Interpretation hervor. Dabei zeichnen sich Klügers wissenschaftliche Essays durch einen Sprachduktus aus, der die Benennbarkeit auch komplexer Sachverhalte betont. In ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion grenzt sie sich explizit von dekonstruktivistischen Ansätzen innerhalb der Literaturwissenschaft ab. Den Referenzanspruch der Autobiographie, die auf ein außerhalb des Textes existierendes Autorensubjekt verweist, stellt sie nicht in Frage. Die Interpretation von Klügers autobiographischem Projekt zeigt, dass auch ihre Auseinandersetzung mit der persönlichen Lebensgeschichte durch ein hohes Bewusstsein für die Gegenwärtigkeit und Unabschließbarkeit von Identitätsentwürfen gekennzeichnet ist. Wird bereits in weiter leben die Bedeutung autobiographischer Erinnerungsprozesse für die Konstituierung von Identität hervorgehoben, ist es insbesondere die Existenz des amerikanischen ›Paralleltextes‹, der die Vorläufigkeit von Identitätsprojekten unterstreicht. Durch die gleichzeitige Existenz der beiden ›autobiographischen Sprechakte‹ wird außerdem die (kulturelle) Kontextabhängigkeit des Selbstnarrativs betont. Eine einzige, abgeschlossene Version der persönlichen Geschichte – so rückt Klüger damit analog zu ihren theoretischen Überlegungen in den Blick – existiert nicht. In seiner Faktizität verweist ihr autobiographisches Projekt nicht nur auf das schreibende Autorinnensubjekt, sondern veranschaulicht ihre theoretischen Überlegungen zur Unterscheidbarkeit faktualer und fiktionaler Texte generell. Darüber hinaus greifen Klügers literaturwissenschaftliche Überlegungen und ihr autobiographisches Projekt durch explizite Bezüge ineinander. Die Beziehbarkeit zwischen beiden besteht dabei in zwei Richtungen: Zum einen positioniert sich auch Klüger in ihrem autobiographischen Projekt explizit als Wissenschaftlerin. In ihrem Umgang mit literarischen Dokumenten und durch den Akt der Selbstübersetzung veranschaulicht sie am Beispiel der persönlichen Lebensgeschichte ihre literaturtheoretischen Annahmen: Die Formulierung der eigenen Intention beim Schreiben der Gedichte, die Betonung der Identität von Verfasserin und lyrischem Ich und die Appelle an die Rezipienten machen deutlich, was Klüger in ihren theoretischen Essays als ›Mitspracherecht‹ des Autors bezeichnet. Auch die doppelte Funktion von Literatur als ›Medium der Erinnerung‹ wird am persönlichen Beispiel nachvollzogen: Literatur fungiert nicht nur als ›Abbild‹ der soziokulturellen Hintergründe der Zeit, sondern strukturiert bereits die Wahrnehmung der Wirklichkeit immer schon durch literarische Muster vor. Außerdem unterstreicht der Umgang mit literari-

4.3 Zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt

245

schen Dokumenten in Klügers autobiographischem Projekt die wechselseitige Beziehbarkeit von persönlicher Erfahrung und Interpretation von Literatur: Erhält Literatur einerseits erst durch die persönliche Erfahrung ihre Bedeutung, bestimmt sie andererseits die Wahrnehmung der aktuellen Situation – ein Angriff auf solche literaturwissenschaftlichen Denkrichtungen, die den Zusammenhang von Literatur und Lebenswirklichkeit in Frage stellen. Die Interdependenz von persönlicher Lebensgeschichte und wissenschaftlicher Arbeit wird so in ihrer gegenseitigen Bedingtheit gekennzeichnet: Klügers autobiographisches Projekt rückt nicht nur die Wahrnehmung der eigenen Lebensgeschichte durch die (nachträgliche) Perspektive der Literaturwissenschaftlerin in den Blick, sondern – umgekehrt – ebenso die Prägung der theoretischen Annahmen durch die persönlichen Erfahrungen. Dabei kommt der Positionierung als Frau und Jüdin auch in ihrem autobiographischen Projekt entscheidende Bedeutung zu. Auf übergeordneter Ebene fließen so Klügers theoretische Annahmen, die ihre Herangehensweise als Literaturwissenschaftlerin bestimmen, in ihr autobiographisches Projekt ein bzw. werden hier bereits angedacht. Zum anderen betont sie den Einfluss des eigenen autobiographischen Projekts auf ihre literaturwissenschaftlichen Überlegungen – etwa auf die theoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion oder auf die Beschäftigung mit der Darstellung alter Menschen in der Literatur. Bereits auf inhaltlicher Ebene sind Klügers literaturwissenschaftliche Überlegungen und ihr autobiographisches Projekt damit explizit miteinander verschränkt. Auch auf formaler Ebene greifen wissenschaftliche Auseinandersetzung und autobiographisches Projekt ineinander. Das Genre des Essays, den Klüger als Form ihrer theoretischen und literarhistorischen Überlegungen wählt, bietet sich ebenso zur Beschreibung ihres autobiographischen Projekts an: Durch den permanenten Wechsel zwischen der Ebene des erinnerten Ichs und gegenwärtigen Reflexionen des erinnernden Ichs lässt sich die von Klüger gewählte Form analog als ›autobiographischer Essay‹ bezeichnen. Auch der Klüger eigene Sprachduktus bestimmt nicht nur ihre literaturwissenschaftlichen Essays, sondern kennzeichnet ebenso ihr autobiographisches Projekt. Es ist die Funktion von Sprache als verbindlichem Referenz- und Kommunikationsmittel, die so in den Blick rückt – trotz der explizit formulierten Sprachskepsis. Darüber hinaus verweist die Form des Essays auf die Vorläufigkeit des Gesagten, impliziert, dass eine abschließende Deutung – der eigenen Lebensgeschichte ebensowenig wie die literarischer Dokumente – nicht existiert. Die assoziative, subjektive Form des Essays verdeutlicht, dass es Klüger weder in ihrem autobiographischen Projekt noch in ihren wissenschaftlichen Essays um allgemeingültige, objektiv verifizierbare Aussagen geht, sondern um die ›einzelmenschliche Erfahrung‹: ihren persönlichen Beitrag zur Literaturkritik, ihre persönliche Erfahrung des Holocaust. Persönliche Lebensgeschichte und wissenschaftliche Auseinandersetzung verweisen damit auch in Klügers Fall sowohl inhaltlich als auch formal aufeinander und fordern eine vergleichende Lektüre geradezu heraus.

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4 Ruth Klüger

Ich komme zur Zusammenfassung meiner Überlegungen zu Friedländers und Klügers wissenschaftlichem und autobiographischem Werk, die ich an meinen einleitend formulierten Hauptthesen orientiere.

5

Fazit: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt – Saul Friedländer und Ruth Klüger

5.1

Friedländers und Klügers theoretische Überlegungen: Parallelen

Wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen, bestehen zwischen Klügers und Friedländers wissenschaftlichem Ansatz deutliche Parallelen: Beide betonen – erstens – die Abhängigkeit jeder Interpretation von historischen und literarischen Dokumenten vom Kontext und historischen Zeitpunkt. Dabei kommt dem persönlichen Hintergrund des Historikers/der Literaturwissenschaftlerin eine entscheidende Rolle zu. In Klügers und Friedländers Fall ist die wissenschaftliche Perspektive maßgeblich durch ihre Vergangenheit als Verfolgte im ›Dritten Reich‹ bestimmt – ein ›Prisma‹, das sich nicht beiseite schieben lässt. Klüger hebt zudem den Einfluss ihrer Identität als Frau und Jüdin für die Interpretation von Literatur hervor. Beide plädieren für das Kenntlichmachen des persönlichen Hintergrunds in der wissenschaftlichen Analyse. Dabei bestimmt die persönliche Erfahrung nicht erst die Deutung, sondern bereits die Wahrnehmung der Wirklichkeit – und damit die Auswahl der Dokumente, die der wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Die persönliche Erfahrung oder ›Erinnerung‹ – um noch einmal den Bezug zum Meyrink-Zitat herzustellen – beeinflusst damit in entscheidendem Maße die wissenschaftliche Arbeit, das ›Wissen‹. Aus der Abhängigkeit der wissenschaftlichen Interpretation von Kontext und historischem Zeitpunkt resultiert – zweitens –, dass eine abschließende, allgemeingültige Deutung historischer Ereignisse sowie literarischer Dokumente nicht existieren kann. Für eine Geschichtsschreibung des Holocaust, so hebt Friedländer hervor, gilt die Unabschließbarkeit der Interpretation in besonderem Maße, handelt es sich doch um ein ›Grenzereignis‹, das sich mit rationalen Kriterien nicht bis ins Letzte erfassen lässt. Die Unabschließbarkeit von Interpretationen wird sowohl für Friedländer als auch für Klüger zum Gegenstand ihrer theoretischen Überlegungen. Friedländer plädiert explizit dafür, die nicht integrierbaren Anteile des Holocaust, seinen ›opaqen‹ Charakter, durch die narrative Struktur des historiographischen Werkes zu evozieren. Wie die Analyse der narrativen Mittel gezeigt hat, ist Friedländers historiographisches Opus magnum Nazi Germany and the Jews gleichzeitig der Versuch, sich den historischen Fakten so weit wie möglich zu nähern – und Abbild der Grenzen einer solchen Darstellung (vgl. S. 59). Eine Geschichtsschreibung der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung, die die

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5 Fazit: … – Saul Friedländer und Ruth Klüger

nicht integrierbaren Anteile durch ihre Struktur evoziert, wird so gerade in ihrer letztendlichen Unabgeschlossenheit zur angemessenen Darstellungsform. Auch Klüger rückt die Unabschließbarkeit der Interpretation literarischer Dokumente bereits durch die Form ihrer literaturwissenschaftlichen Analysen in den Blick. Die Form des Essays, verstärkt durch den unverkennbaren Idiolekt Klügers, verweist dabei – im Gegensatz zu vermeintlich objektiv-verifizierbaren wissenschaftlichen Abhandlungen – auf das hinter ihm stehende Subjekt. Ein über die Zeit gültiges, objektives ›Masternarrativ‹ existiert also weder für Friedländer noch für Klüger. Die Betonung der Abhängigkeit wissenschaftlicher Interpretation von persönlichem Hintergrund, soziokulturellem Kontext und historischem Zeitpunkt, die die Existenz einer Vielzahl möglicher Deutungen impliziert, veranlasst jedoch – drittens – weder Klüger noch Friedländer, die Unterscheidbarkeit von faktualen und fiktionalen Texten in Frage zu stellen. Für beide existiert eine außerhalb der Sprache bestehende Referenzebene. Sprache bleibt – wenn auch ein eingeschränktes, unzureichendes – Medium menschlicher Kommunikation. Sowohl Friedländer als auch Klüger grenzen sich folglich explizit von postmodernen Denkrichtungen innerhalb ihres akademischen Feldes ab. Obwohl Friedländer den Vorteil postmoderner Darstellungsformen betont, die den ›opaqen‹ Charakter des Holocaust in ihre narrative Struktur aufzunehmen vermögen, distanziert er sich explizit von den Überlegungen Hayden Whites, wenn er betont, dass nicht das historische Narrativ die Fakten erst schafft, sondern diese bereits vor und außerhalb ihrer sprachlichen Repräsentation bestehen. Auch Klüger distanziert sich von theoretischen Positionen innerhalb der Literaturwissenschaft, die den Referenzcharakter von Sprache in Frage stellen und damit die Grenze zwischen faktualen und fiktionalen Texten grundsätzlich auflösen. Dabei gilt ihre Kritik insbesondere den innerhalb der US-amerikanischen German Studies einflussreichen Yale Critics im Umkreis von Paul de Man. Die Unterscheidbarkeit von faktualen und fiktionalen Texten hat für Klüger im Kontext des Holocaust besondere Bedeutung – denn sie entscheidet darüber, ob ein Text als (persönliches) Zeugnis oder als ›Phantasie‹ wahrgenommen wird. Klügers Trennung von faktualen und fiktionalen Texten zeigt sich insbesondere an ihrer Einschätzung des Genres der Autobiographie, die sich in ihrem Referenzanspruch an der Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Literatur befindet. Klüger rechnet die Autobiographie der Geschichtsschreibung zu, ist sie doch ein – wenn auch in hohem Maße subjektives – Zeugnis.

5.2

Quand vient le souvenir... und weiter leben – Still alive

Sowohl Friedländer als auch Klüger haben zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer wissenschaftlichen Laufbahn ein autobiographisches Werk verfasst. Aufschlussreich ist, dass die Veröffentlichung und Neuauflage der deutschen Version von Friedländers Erinnerungstext eng an seine Wahrnehmung als Histori-

5.2 ›Quand vient le souvenir...‹ und ›weiter leben‹ – ›Still alive‹

249

ker in der bundesdeutschen Öffentlichkeit geknüpft ist – während Klügers literaturwissenschaftliches Werk erst nach dem großen Erfolg ihrer Autobiographie einem breiteren Publikum in deutscher Übersetzung zugänglich wurde. Friedländers Erinnerungstext erschien vor seiner ausführlichen theoretischen Beschäftigung mit der Integration von Erinnerungen und der Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers für die Geschichtsschreibung. Während Klügers theoretische Überlegungen bereits vor dem Erscheinen von weiter leben von einer dezidiert weiblichen Perspektive geprägt waren und ihre Überlegungen zur Darstellung jüdischer Figuren in der Literatur in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu weiter leben in der Originalfassung erschienen, ist für den Zusammenhang von Klügers wissenschaftlichem und autobiographischem Werk von besonderem Interesse, dass ihre intensive Beschäftigung mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion in die Zeit zwischen ihrem deutschen und ihrem amerikanischen Erinnerungstext fällt und bis in die Gegenwart anhält. Meine Ausgangsfrage lautete, welche Form zwei Wissenschaftler für ihr autobiographisches Projekt wählen, die sich in ihren theoretischen Überlegungen eingehend mit der Kontextabhängigkeit von Interpretationen, speziell dem Einfluss des persönlichen Hintergrunds auf die wissenschaftliche Arbeit auseinandergesetzt haben. Diese Frage ist von umso größerem Interesse, als – ich habe dies in der Einleitung erläutert – sich die Annäherung an die persönliche Lebensgeschichte vom Umgang mit historischen und literarischen Dokumenten in einem wesentlichen Punkt unterscheidet: Der Zugang zur persönlichen Vergangenheit ist nur über den Akt autobiographischen Erinnerns zu leisten – ›Dokumente‹, wie sie der wissenschaftlichen Analyse zugrunde liegen, existieren im autobiographischen Erinnerungsakt nicht. Wie die Analyse in den Kapiteln 3.2 und 4.2 gezeigt hat, zeichnen sich sowohl Friedländers als auch Klügers autobiographisches Projekt durch ein hohes Bewusstsein für die Funktionsweise individueller Erinnerungsprozesse aus. Der persönliche Identitätsentwurf wird auf diese Weise in seiner Gegenwärtigkeit und Unabschließbarkeit gekennzeichnet. In Friedländers Text geschieht dies durch die Abbildung autobiographischer Erinnerungsprozesse durch die Textstruktur, den Einschub der Tagebucheinträge des erinnernden Ichs der Schreibgegenwart und das Ineinandergreifen der drei Erzählebenen. Auch Klügers deutscher Text ist bereits als Auseinandersetzung mit der Funktionsweise individueller Erinnerungsprozesse zu lesen. Die Kontextabhängigkeit und Unabschließbarkeit des eigenen Identitätsprojekts wird jedoch insbesondere durch die Existenz des amerikanischen ›Paralleltextes‹ (sowie jüngst durch die erneute Fortschreibung durch Unterwegs verloren) hervorgehoben. Die persönliche Lebensgeschichte kann – analog zur Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung – immer nur eine gegenwärtige (Re)Konstruktion sein. In welchem Maße autobiographisches Erinnern vom gegenwärtigen Standpunkt des Erinnerers abhängt und zudem narrativ verhandelt wird, haben meine theoretischen Überlegungen in Kapitel 2 deutlich gemacht. So lässt sich das Friedländers Text vorangestellte, am Ende umgekehrte Zitat Gustav Mey-

250

5 Fazit: … – Saul Friedländer und Ruth Klüger

rinks auch auf Klügers autobiographisches Projekt beziehen: »Allmählich, wenn die Erinnerung kommt, kommt auch das Wissen... Wissen und Erinnerung sind dasselbe...«. Weder Friedländers noch Klügers autobiographisches Projekt beschränkt sich dabei auf das Einholen der persönlichen Lebensgeschichte. Vielmehr rücken beide ebenso die Konstrukthaftigkeit kollektiver Vergangenheitsversionen in den Blick. Stellt Friedländer die konkurrierenden Perspektiven von Israelis und Palästinensern einander unvermittelt gegenüber und hinterfragt die vermeintliche Eindeutigkeit von Täter-Opfer-Dichotomien, wird bei Klüger die Abhängigkeit der Deutung von Vergangenheit insbesondere durch das Verfahren der kulturellen Übersetzung hervorgehoben: Indem sie die persönliche Geschichte einmal in die deutschen und ein zweites Mal in die amerikanischen Diskurse einbettet, rückt die Abhängigkeit der Interpretation historischer Ereignisse vom kulturellen Kontext und dem jeweiligen zu bestätigenden kollektiven Selbstbild in den Blick. Die Annäherung an die persönliche Vergangenheit ist nicht nur durch den ›Filter der Erinnerung‹ vermittelt, sondern außerdem durch die Verschriftlichung der Erinnerungen – wie meine Überlegungen zum autobiographischen Schreibakt bei Friedländer (Kapitel 3.2.7) sowie zur Strukturierung der Wahrnehmung von Wirklichkeit durch Literatur bei Klüger (Kapitel 4.2.7.2) gezeigt haben. Beide autobiographische Projekte sind als selbstreflexive Erinnerungstexte konzipiert, die sich – anders als konventionelle Autobiographien – der Einebnung der Erfahrungen in ein chronologisches, ›eindeutiges‹ Narrativ verweigern. Dabei gelten die Überlegungen zu Friedländers Historiographie ebenso für die ›Geschichtsschreibung des Ichs‹: Es geht nicht darum, die persönliche Erfahrung in ein eindeutiges ›Masternarrativ‹ einzuebnen – vielmehr besteht die größtmögliche Annäherung an die eigene Vergangenheit in der Anerkennung der Disparatheit der Erfahrungen. Das Einfügen von ›Dokumenten des Ichs‹ (eigene Briefe, Gedichte) bildet dabei die Distanz zwischen gegenwärtigem und vergangenem Ich ab. Weder Friedländer noch Klüger geht es jedoch um die Darstellung eines sich in Auflösung befindlichen Subjekts – vielmehr werden die wiederholten Brüche als identitätskonstituierende Eigenschaft des Ichs gekennzeichnet. Obwohl sich sowohl Friedländers als auch Klügers autobiographisches Projekt bezüglich der Bedeutung individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse für die Konstituierung persönlicher und kollektiver Identitätsentwürfe auszeichnen und zudem die prinzipielle Unabschließbarkeit von Vergangenheitsversionen betonen, gilt auch für ihre autobiographischen Texte, dass die Unterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion nicht aufgehoben wird. Im Gegenteil: Beide sind durch den Einsatz von paratextuellen Signalen und Authentisierungsstrategien als referentielle Texte gekennzeichnet. Dies impliziert keineswegs, dass fiktionale Texte generell sich nicht zur Annäherung an den Holocaust eignen. Für die persönlichen Erinnerungen jedoch wählen beide autobiographische Texte, die durch verschiedene narrative Strategien in ihrer

5.3 Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt

251

Faktizität gekennzeichnet sind. Friedländer beschreibt dieses Bedürfnis mit folgenden Worten: »Wir sind doch von dieser Vergangenheit so […] bedrückt, dass es keinem einfällt, […] Fiktion daraus zu machen«.1 Damit steht auch der persönliche Text – analog zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung – im Spannungsfeld zwischen dem Bewusstsein für die Konstruiertheit und Vorläufigkeit der persönlichen Lebensgeschichte einerseits – und dem Anspruch andererseits, auf eine außerhalb des Textes bestehende Realität zu verweisen. Analog zur wissenschaftlichen Analyse gilt es, sich der Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern, ohne jedoch die Erfahrungen in ein lineares Narrativ einzuebnen. Anders formuliert: In der Wahl des referentiellen Genres der Autobiographie drückt sich auf der einen Seite das Bedürfnis aus, sich der erlebten Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern – während die formale Gestaltung beider autobiographischer Projekte auf der anderen Seite impliziert, dass eine solche letzte Annäherung an die persönliche Vergangenheit, wie sie ›wirklich war‹, ein Konstrukt bleibt. Weder Friedländers noch Klügers autobiographisches Projekt beschränkt sich damit auf eine ›Darstellung‹ der persönlichen Vergangenheit. Vielmehr sind beide autobiographische Projekte im Kontext einer jahrelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen von Erinnerungsprozessen, des Verhältnisses von Fakten und Fiktion und der Repräsentation des Holocaust generell zu lesen. Beide positionieren sich zudem in ihrem autobiographischen Projekt eindeutig als Wissenschaftler/-in. Damit wird einerseits die nachträgliche Strukturierung der persönlichen Geschichte durch die Perspektive des Historikers/der Literaturwissenschaftlerin deutlich. Andererseits aber wird wiederholt auf die Bedeutung der persönlichen Erfahrungen in der Herausbildung der spezifischen Wahrnehmung und Perspektive als Wissenschaftler/-in verwiesen. In beiden Fällen ist es also die wechselseitige Bedingtheit von persönlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Interpretation, die in den Blick gerückt wird.

5.3

Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt

Wie meine Synthese in Kapitel 3.3 und 4.3 gezeigt hat, besteht sowohl in Friedländers als auch in Klügers Fall ein enger Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem und autobiographischem Werk. Dieser Zusammenhang wird von beiden sowohl in ihren theoretischen Überlegungen explizit betont als auch durch die Positionierung als Wissenschaftler/-in im autobiographischen Projekt unterstrichen – und fordert so eine abgleichende Lektüre von wissenschaftlichem und autobiographischem Werk heraus. Beide nähern sich dabei von den Polen ihrer traditionell entgegengesetzten akademischen Felder an: Geht der Historiker Friedländer durch die Integration 1

Machtans, Interview mit Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton.

252

5 Fazit: … – Saul Friedländer und Ruth Klüger

der Erinnerungen der Opfer und die Betonung der Bedeutung des persönlichen Hintergrunds des Historikers über eine traditionelle, Objektivität betonende Geschichtsschreibung hinaus, ist Klügers Bestehen auf der Unterscheidbarkeit von faktualen und fiktionalen Texten innerhalb der literaturtheoretischen Diskussion, wie sie insbesondere in den USA geführt wird, als ›Rückzug‹ hinter solche Positionen zu verstehen, die den Referenzcharakter von Literatur generell in Frage stellen. Die Wahl des Genres der Autobiographie für die Annäherung an die persönliche Vergangenheit verbindet das Werk Friedländers und Klügers außerdem: Die Autobiographie als Genre an der Grenze von Literatur und Geschichtsschreibung hebt in Friedländers Fall die Bedeutung persönlicher Zeugnisse für die Geschichtsschreibung hervor, die sich in seinem Hauptwerk Nazi Germany and the Jews manifestiert. Damit ist Friedländers Werk als Öffnung gegenüber historiographischen Ansätzen zu lesen, denen autobiographische Zeugnisse weiterhin als ›unzuverlässige Quellen‹ gelten. Auch in Klügers Fall unterstreicht die Wahl des Genres der Autobiographie ihre theoretischen Annahmen – jedoch in umgekehrter Weise: Als Literaturwissenschaftlerin, die sich auf professioneller Ebene hauptsächlich mit der Interpretation fiktionaler Texte auseinandersetzt, hat sie für den Zugang zur eigenen Lebensgeschichte das referentielle Genre der Autobiographie gewählt. Dabei ist bemerkenswert, dass Friedländers Text durch den Einsatz von Leerstellen dem Rezipienten einen weitaus größeren Interpretationsraum zugesteht als Klüger, die die Deutung verschiedener Passagen im Text selber vornimmt und sich die Deutungshoheit über ihr autobiographisches Projekt durch den Akt der Selbstübersetzung vorbehält. Zudem lenkt sie die Rezeption ihres eigenen autobiographischen Projekts durch ihre zahlreichen Stellungnahmen in Essays und Interviews. Erst in diesem Sinne erhält die Wahl des Genres der Autobiographie – an der Grenze zwischen ›Fakten‹ und ›Fiktion‹ – in beiden Fällen ihre volle Bedeutung. Theoretische Überlegungen und autobiographisches Projekt weisen nicht nur inhaltlich, sondern bereits formal Parallelen auf: In Klügers Fall ist es die Form des Essays, die sich zur Beschreibung sowohl ihres literaturwissenschaftlichen Werkes als auch ihres autobiographischen Projekts eignet. In Friedländers Fall sind es der Wechsel der Darstellungsebenen und der Einsatz von Leerstellen, die sowohl sein historiographisches Hauptwerk als auch seinen persönlichen Erinnerungstext strukturieren. Vor dem Hintergrund des Holocaust stehen sowohl autobiographisches Projekt als auch wissenschaftliche Auseinandersetzung in einem permanenten Spannungsfeld zwischen dem Bewusstsein für die Kontextabhängigkeit und Subjektivität jeder Interpretation einerseits – und dem Bestehen auf einer außerhalb von Sprache existierenden, erlebten Wirklichkeit andererseits. Durch explizite Bezüge greifen persönliche Lebensgeschichte und wissenschaftliche Auseinandersetzung ineinander und werden so in ihrer Gesamtheit zum Lebenswerk.

6

Literaturverzeichnis

6.1

Friedländer

6.1.1 Textausgaben Broszat, Martin/Friedländer, Saul: Um die ›Historisierung des Nationalsozialismus‹. Ein Briefwechsel. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4 (1988), S. 339–372. Friedländer, Saul: A conflict of memories? The new German debates about the ›Final Solution‹. In: Ders., Memory, history, S. 22–41. – Arabes et Israéliens. Un premier dialogue. Paris: Éditions du Seuil 1974. – Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen: Wallstein 2007 (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien; 2). – From anti-semitism to extermination. A historiographical study of Nazi policies toward the Jews and an essay in interpretation. In: Yad Vashem Studies 16 (1984), S. 1–50. – Gebt der Erinnerung Namen. Rede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises. In: Ders./Reemtsma (Hg.), Gebt der Erinnerung Namen, S. 27–37. – German struggles with memory. In: Ders., Memory, history, S. 1–21. – Histoire et psychoanalyse. Essai sur les possibilités et les limites de la psychohistoire. Paris: Éditions du Seuil 1975. – Hitler et les États-Unis 1939–1941. Genève: Librairie Droz 1963 (Auftakt zum Untergang. Hitler und die Vereinigten Staaten von Amerika, 1939–1941. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1965). – Im Angesicht der ›Endlösung‹. Die Entwicklung des öffentlichen Gedächtnisses und die Verantwortung des Historikers. In: Borchmeyer/Kiesel (Hg.), Das Judentum im Spiegel seiner kulturellen Umwelten, S. 207–223. – Introduction. In: Ders., Memory, history, S. vii–xiv. – Introduction. In: Ders. (Ed.), Probing the limits of representation, S. 1–21. – Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Vom Autor durchgesehene und erweiterte Ausg. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1986 (dtv; 10621). – Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Grendacher und Günter Seib. Erweiterte Neuausg. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2007 (1999) (dtv; 17968). – Kurt Gerstein ou l’ambiguité du bien. Tournai: Casterman 1967 (Vies et témoignages) (Kurt Gerstein oder Die Zwiespältigkeit des Guten. Gütersloh: BertelsmannSachbuchverlag 1967). – Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten. Neuaufl. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe; 1789). – L’antisémitisme nazi. Histoire d’une psychose collective. Paris: Éditions du Seuil 1971 (L’histoire immédiate).

254

6 Literaturverzeichnis

– Martin Broszat and the historicization of National Socialism. In: Ders., Memory, history, S. 85–101. – Memory, history and the extermination of the Jews of Europe. Bloomington: Indiana University Press 1993. – Nachdenken über den Holocaust. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe; 1788). – Nazi Germany and the Jews. Vol. I: The years of persecution, 1933–1939. New York: Harper Collins 1997. – Vol. II: The years of extermination. New York: Harper Collins 2007 (Das Dritte Reich und die Juden. Bd I: Die Jahre der Verfolgung 1933– 1939. München: Beck 1998. – Bd II: Die Jahre der Vernichtung 1939–1945. München: Beck 2006). – Pie XII et le IIIe Reich. Documents. Paris: Éditions du Seuil 1964 (L’histoire immédiate) (Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation. Vom Autor durchgesehene Ausg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965 [Rowohlt Paperback; 43]). – Quand vient le souvenir... . Paris: Éditions du Seuil 1978. – Reflections on the historicization of National Socialism. In: Ders., Memory, history, S. 64–84. – Reflets du nazisme. Paris: Éditions du Seuil 1982 (Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Grendacher. München, Wien: Hanser 1984). – Réflexions sur l’avenir d’Israël. Paris: Éditions du Seuil 1969. – Some aspects of the historical significance of the Holocaust. The Philip M. Klutznick international lecture. Jerusalem: Institute of Contemporary Jewry 1977. – The ›Final Solution‹. On the unease in historical interpretation. In: Ders., Memory, history, S. 102–116. – The Shoah in present historical consciousness. In: Ders., Memory, history, S. 42–63. – Trauma and transference. In: Ders., Memory, history, S. 117–137 (Trauma, Erinnerung und Übertragung in der historischen Darstellung des Nationalsozialismus und des Holocaust. In: Beck (Hg.), Die Juden in der europäischen Geschichte, S. 136– 151). – Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1979. – Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. 2. Aufl. München: Beck 1998 (Beck’sche Reihe; 1253). – Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. 3. Aufl. München: Beck 2007 (Beck’sche Reihe; 1253). – West Germany and the burden of the past. The ongoing debate. In: The Jerusalem Quarterly 42 (1987), S. 3–18. – When memory comes. Translated from the French by Helen R. Lane. New York: Farrar, Straus, Giroux 1979. – When memory comes. Translated from the French by Helen R. Lane. New York: Farrar, Straus, Giroux 1991. – When memory comes. Translated from the French by Helen R. Lane. Madison: University of Wisconsin Press 2003. – (Ed.): Probing the limits of representation. Nazism and the ›Final Solution‹. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1992. – Ders./Reemtsma, Jan Philipp: Gebt der Erinnerung Namen. Zwei Reden. München: Beck 1999 (Beck’sche Reihe; 1308). – Ders./Rüsen, Jörn (Hg.): Richard Wagner im Dritten Reich. Ein Schloss ElmauSymposium. München: Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1356).

6.1 Friedländer

255

6.1.2 Interviews Doerry, Martin: ›Der Judenhaß steckt tiefer, als man denkt‹. Gespräch mit Saul Friedländer. In: Friedländer, Nachdenken über den Holocaust, S. 168–179. Friedländer, Saul: ›Das Primärgefühl der Fassungslosigkeit bewahren‹. Saul Friedländer im Gespräch. In: Ders., Den Holocaust beschreiben, S. 96–120. Goldberg, Amos: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Interview mit Saul Friedländer am 29. Dezember 1997 in Jerusalem. Aus dem Englischen von Alma Lessing. In: Bankier (Hg.), Fragen zum Holocaust, S. 139–150. Kassel, Dieter: Das Gesamtphänomen ist mir ein Rätsel. Gespräch mit Saul Friedländer. Deutschlandradio Kultur, 10. Oktober 2006. Machtans, Karolin: Interview mit Saul Friedländer am 7. Februar 2005 an der University of California/Los Angeles. – Interview mit Saul Friedländer am 15. Juni 2008 in Brighton. Pokatzky, Klaus: Pavel, Paul, Shaul. Erfahrungen mit der deutschen Verdrängung. Ein Historiker aus Tel Aviv in Berlin. In: Die Zeit, 16. Mai 1986. Wojak, Irmtrud: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Saul Friedländer, 11. September 1998. http://www.fritz-bauer-institut.de/texte/gespraech/gespraech_friedlaender_9-98.htm

6.1.3 Sekundärliteratur Aschheim, Steven E.: On Saul Friedländer. In: Ne’eman Arad (Ed.), Passing into history, S. 11–46. Borchmeyer, Dieter/Kiesel, Helmuth (Hg.): Das Judentum im Spiegel seiner kulturellen Umwelten. Symposium zu Ehren von Saul Friedländer. Neckargemünd: Edition Mnemosyne 2002 (GegenSatz; 5). Broszat, Martin: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus. In: Graml/ Henke (Hg.), Nach Hitler, S. 159–173 (Erstdruck: Merkur 39 [1985], S. 373–385). Confino, Alon: Narrative form and historical sensation in The years of extermination. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf der Konferenz »Nazi Germany and the Jews«, 14.–15. Juni 2008 in Brighton. DeKoven Ezrahi, Sidra: See under: memory. Reflections on ›When memory comes‹. In: Ne’eman Arad (Ed.), Passing into history, S. 364–375. Eakin, Paul J.: Saul Friedländer and the children of Tulsa »who wanted to speak and could not«. In: Ders., Fictions, S. 235–255. Evans, Richard J.: Whose orders? The years of extermination. Nazi Germany and the Jews, 1939–1945. In: The New York Times, 24. Juni 2007. Henke, Klaus-Dietmar: Die Stimmen der Opfer. Saul Friedländers historiographisches Denkmal für die ermordeten Juden Europas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Oktober 2006. Herbert, Ulrich: Hitlers Wut und das Weggucken der Deutschen. Saul Friedländers großartiges Buch über die ersten Jahre der Judenverfolgung im Dritten Reich. In: Süddeutsche Zeitung, 25. März 1998. – Die Stimmen der Opfer. Saul Friedländers meisterhafte Gesamtdarstellung des Holocaust zeigt: Die Vernichtung war geplant und gewollt. In: Süddeutsche Zeitung, 29. Juni 2006. Kambas, Chryssoula: Als Kind verboten werden. Autobiographie und Erinnerung bei Georges-Arthur Goldschmidt und Saul Friedländer. In: Asholt (Hg.), Grenzgänge der Erinnerung, S. 81–106.

256

6 Literaturverzeichnis

Kushner, Tony: Friedlander and the use of testimony. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten auf der Konferenz »Nazi Germany and the Jews«, 14.–15. Juni 2008 in Brighton. Laqueur, Walter: Nazi-Deutschland und die Juden vor Kriegsbeginn. Eine umfassende Darstellung von Saul Friedländer. In: Neue Zürcher Zeitung, 10./11. Mai 1997. Lezzi-Noureldin, Eva: Erinnerung als Identitätssuche. Zu Saul Friedländers autobiographischer Auseinandersetzung mit der Shoah. In: Faber/Naumann (Hg.), Literatur der Grenze, S. 43–66. Machtans, Karolin: History and memory. Saul Friedländer’s historiography of the Shoah. In: Davies/Szejnman (Ed.), How the Holocaust looks now, S. 199–207. – Saul Friedländers Erinnerungstext im Kontext seines historiographischen Ansatzes. In: Exil 26 (2006), H. 1, S. 52–70. Ne’eman Arad, Gulie (Ed.): Passing into history. Nazism and the Holocaust beyond memory. In honor of Saul Friedländer on his sixty-fifth birthday (History and Memory. Studies in Representation of the Past 9 (1997), Heft 1/2). Reemtsma, Jan Philipp: Laudatio für Saul Friedländer anläßlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises. In: Ders./Friedländer (Hg.), Gebt der Erinnerung Namen, S. 9–26. Shaked, Gershon: No other place. On Saul Friedlander’s When memory comes, 1979. In: Ders., The shadows within. Essays on the modern Jewish writer. Philadelphia: Jewish publication society 1987. Trapp, Frithjof: Auswege aus traumatischen Blockaden. Zu Saul Friedländers »Wenn die Erinnerung kommt«. In: Béhar/Grunewald (Hg.), Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels, S. 443–456. Ullrich, Volker: Die Stimmen der Opfer. Das wichtigste historische Buch dieses Herbstes. Saul Friedländer vollendet seine große Geschichte des Holocaust. In: Die Zeit, 28. September 2006. – Stillschweigendes Einverständnis. In: Die Zeit, 26. März 1998. Vaget, Hans Rudolf: Saul Friedländer und die Zukunft der Erinnerung. In: Borchmeyer/ Kiesel (Hg.), Das Judentum im Spiegel seiner kulturellen Umwelten, S. 11–32. Young, James E.: Between history and memory. The uncanny voices of the historian and survivor. In: Ne’eman Arad (Ed.), Passing into history, S. 47–58 (Zwischen Geschichte und Erinnerung. Über die Wiedereinführung der Stimme in die historische Erzählung. In: Welzer [Hg.], Das soziale Gedächtnis, S. 41–62).

6.2

Klüger

6.2.1 Textausgaben Klüger, Ruth: Außenseitertier. Zu Gertrud Kolmar: Die Kröte. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 87ff. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 1995). – Der angebundene Pegasus. Zu Friedrich Schiller: Untertänigstes pro memoria. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 30ff. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. August 1998). – Der Dichter als Dieb? Der Fall Littner–Koeppen. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 135–142 (Erstdruck: Literaturen, September 2003).

6.2 Klüger

257

– Der eingerichtete Mensch. Innendekor bei Adalbert Stifter. In: Dies., Katastrophen, S. 108–132 (Erstdruck: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 30 (1986), S. 22–40). – Der Koffer im Kopf. Zu Heinrich Heine: Babylonische Sorgen. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 44ff. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. September 2002). – Der unbekannte Ausgang. Zu Ingeborg Bachmann: Was wahr ist. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 146ff. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. September 2001). – Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord. In: Hardtmann (Hg.), Spuren der Verfolgung, S. 203–221. – Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen. Wien: Picus 2000 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 73). – Die andere Hündin. Kleists Käthchen. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 157–176 (Erstdruck: Kleist-Jahrbuch. Hg. von Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 1993, S. 103–115). – Die Feminisierung der Literatur. In: Sorg/Mettauer/Pross (Hg.), Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft, S. 185–193. – Die Hündin im Frauenstaat. Kleists Penthesilea. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 129–155 (Erstdruck auf Englisch: Kleist’s nation of amazons. In: Cocalis/Goodman [Ed.], Beyond the eternal feminine, S. 99–134). – Die Leiche unterm Tisch. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Dies., Katastrophen, S. 84–107 (Erstdruck: Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue, S. 84–96). – ›Die Ödnis des entlarvten Landes‹. Antisemitismus im Werk jüdisch-österreichischer Autoren. In: Dies., Katastrophen, S. 60–83 (Erstdruck auf Englisch: The theme of anti-semitism in the work of Austrian Jews. In: Gilman/Katz [Ed.], Anti-semitism in times of crisis, S. 173–187). – Die Pforte entriegeln. Zu Johann Wolfgang Goethe: Urworte. Orphisch. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 25ff. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. April 2003). – Drei blaue Klaviere. Die verfolgten Dichterinnen Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Gertrud Kolmar. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 174–197. – Ehebruch in der heilen Welt. Stifters ›Altes Siegel‹. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 191–219 (Erstdruck: Das Ehebruchmotiv in Stifters ›Das Alte Siegel‹. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der bürgerlichen Erotik. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 103 [1984], H. 1, S. 481–502). – ›Ein alter Mann ist stets ein König Lear‹. Alte Menschen in der Dichtung. Wien: Picus 2004 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 104). – Erlesenes Wien. Wie seine Dichter es sahen und sehen. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 104–134. – Fakten und Fiktionen. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 68–93 (Erstdruck: Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen. Wien: Picus 2000 [Wiener Vorlesungen im Rathaus; 73]). – Forgiving and remembering. In: Publications of the Modern Language Association of America 117 (2002), H. 2, S. 311ff. – Frauen lesen anders. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 83–104 (Erstdruck: Lesen Frauen anders? Heidelberg: Müller 1994 [Heidelberger Universitätsreden; 6]). – Frauen lesen anders. Essays. 4. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002 (1996) (dtv; 12276).

258

6 Literaturverzeichnis

– Gegenströmung. Schreibende Frauen. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 220–234 (Erstdruck: Zum Außenseitertum der deutschen Dichterinnen. In: Gallas/Heuser [Hg.], Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, S. 13–19). – Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein 2006. – Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Göttingen: Wallstein 2007. – Gespenstersonett. Zu Robert Schindel: Nullsucht 15 (Stürzen die Wolken). In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 162ff (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2004). – Gibt es ein ›Judenproblem‹ in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Dies., Katastrophen, S. 9–38 (Erstdruck: Neue Sammlung Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 26 [1986], H. 1, S. 22–40; Erstdruck auf Englisch: A »Jewish problem« in German postwar fiction. In: Modern Judaism 5 [1985], S. 215–233). – Grimmelshausens weibliches Ich. Dankrede zum Grimmelshausen-Preis 1993. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 185–190 (Erstdruck: Dankrede zum GrimmelshausenPreis. In: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature and Culture 10 [1995], S. 161–165). – Katastrophen. Über deutsche Literatur. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1997 (1994) (dtv; 12364). – Kein Mensch ist illegal – oder doch? Zu Christian Morgenstern: Die Behörde. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 74ff (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Februar 2002). – Kind und Sklavin. Zur Frauenrolle im Unterhaltungsroman. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 9–34 (Erstdruck: ›Sklavenmoral und Infantilismus‹ in Frauen- und Familienromanen. In: Grimm/Hermand [Hg.], Popularität und Trivialität, S. 121–139). – Kitsch and Art. Broch’s Essay ›Das Böse im Wertsystem der Kunst‹. In: Lützeler (Ed.), Hermann Broch, S. 13–20. – Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In: Süddeutsche Zeitung, 30. September 1998. – Knigges ›Umgang mit Menschen‹. Eine Vorlesung. Göttingen: Wallstein 1996 (Göttinger Sudelblätter). – Korrupte Moral. Erich Kästners Kinderbücher. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 63– 82 (Erstdruck: Erich Kästners Kinderbücher kritisch gesehen. In: Lützeler [Hg.], Zeitgenossenschaft, S. 91–102). – Landscapes of memory. A Holocaust girlhood remembered. London: Bloomsbury 2003. – Lanzmanns ›Shoah‹ in New York. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 9–27 (Erstdruck auf Englisch: Lanzmann’s Shoah and its audience. In: The Simon Wiesenthal Center Annual 3 [1986], S. 249–260). – Lesen Frauen anders? Heidelberg: Müller 1994 (Heidelberger Universitätsreden; 6). – ›Mein Herz ist liebend wie das Licht‹. Der romantische Aufklärer Heinrich Heine. In: Heine-Jahrbuch 36 (1997), S. 248–254. – Mein Schiller. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 167–173 (Erstdruck: Bernhofer [Hg.], Das Buch meines Lebens, S. 34–39). – Mein Schlüssel hat das Haus verloren. Die verfolgten Dichterinnen Rose Ausländer, Mascha Kaléko und Hilde Domin. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 198–227. – Nachkriegsspuk. Zu Peter Huchel: Soldatenfriedhof. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 112ff. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. März 2000). – Schachkönig und Polizeichef. In: Literaturen 5 (2004), S. 57f.

6.2 Klüger

259

– Schnitzlers Dramen. Weiber, Mädeln, Frauen. Wien: Picus 2001 (Wiener Vorlesungen im Rathaus; 79). – Schnitzlers ›Therese‹ – ein Frauenroman. In: Dies., Frauen lesen anders, S. 35–62 (Erstdruck: Schnitzlers ›Frauenroman‹ Therese. In: Modern Austrian Literature 10 [1977], H. 3/4, S. 265–282). – Still alive. A Holocaust girlhood remembered. New York: Feminist Press at the City University of New York 2001. – Thomas Manns jüdische Gestalten. In: Dies., Katastrophen, S. 40–59 (Erstdruck auf Englisch: Jewish characters in Thomas Mann’s fiction. In: Mundt/Schwarz/Lillyman [Hg.], Horizonte, S. 161–172). – Über Lyrik reden. Dankansprache zum Preis der Frankfurter Anthologie. In: Dies., Gemalte Fensterscheiben, S. 228–241 (Erstdruck: Über Lyrik sprechen. Dankansprache zum Preis der Frankfurter Anthologie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Mai 1999). – Unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay 2008. – Von hoher und niedriger Literatur. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 29–67 (Erstdruck: Von hoher und niedriger Literatur. Göttingen: Wallstein 1996 [Politik – Sprache – Poesie; 1]). – Was ist wahr? Kann man ›schöne Literatur‹ über den Holocaust schreiben? Welchen Anspruch erheben die jüngst erschienenen Romane und Erzählungen über KZ und Verfolgung? In: Die Zeit, 12. September 1997. – Wie wirklich ist das Mögliche? Das Spiel mit der Weltgeschichte in der Literatur. Drei Essays zur literarischen Behandlung von Geschichte. I.: Geschichten aus Geschichte machen. Historische Romane und Erzählungen (S. 143–168); II.: ›Bretter, die die Welt bedeuten‹. Das historische Drama (S. 169–194); III.: Wider den Strom. Utopie/Dystopie (S. 195–219). In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 143–219. – weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992. – weiter leben. Eine Jugend. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1994 (dtv; 11950). – Wien als Fluchtpunkt. Dankesrede zur Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises. In: Dies., Gelesene Wirklichkeit, S. 94–103 (Erstdruck: Zwischenwelt, Wien Mai 2002). – Wiener Neurosen. Eine Rede. In: Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), H. 1, S. 21–29. – Zeugensprache. Koeppen und Andersch. In: Braese u. a. (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur, S. 173–181. – Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In: Heuser (Hg.), Autobiographien von Frauen, S. 405–410. – Zwickmühle oder Symbiose. War Heinrich Heine ein Geisteswissenschaftler? Heidelberg: Müller 2003 (Heidelberger Universitätsreden; 17). Klüger Angress, Ruth: Early German epigramm. A study in baroque poetry. Lexington: University of Kentucky Press 1971. Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2000. Mosenthal, Salomon Hermann: Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben. Mit einem Nachwort hg. von Ruth Klüger. Göttingen: Wallstein 2001. Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. In: Ausgewählte Werke in acht Bänden. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2000.

260

6 Literaturverzeichnis

6.2.2 Interviews Bekas, Bozena/Stepien, Agniezka: Interview mit Ruth Klüger am 28. März 2001. In: Bekas u. a. (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Geschichtsbewältigung, S. 93–97. Beltz, Matthias im Gespräch mit Ruth Klüger: Klarheit oder Versöhnung. Gespräch über das Ende der Sprachlosigkeit. Über den heutigen Umgang mit dem Holocaust. Hg. von der Kulturbehörde Hamburg. Hamburg 1993. Doerry, Martin/Meyer, Cordula: »Man ist irrsinning indiskret«. Die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger über ihr neues autobiografisches Buch »Unterwegs verloren«, das Leben nach der Verfolgung, die schwierige Beziehung zu ihren Kindern und das Ende ihrer fast 60-jährigen Freundschaft mit Martin Walser. In: Der Spiegel 33 (2008), 11. August 2008, S. 144–147. Klüger, Ruth: »…›ein deutsches Buch‹ ist ja ein bißchen zwiespältig…«. Ein Gespräch mit Ruth Klüger. In: Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), H. 1, S. 31–54. Naumann, Klaus im Gespräch mit Ruth Klüger: ›Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien‹. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 6 (1993), S. 37–45. Pletter, Marita: Der Pazifik hat die richtige Farbe. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Ruth Klüger über Auschwitz, über das Judentum, über das Schreiben. In: Die Zeit, 3. März 1995.

6.2.3 Sekundärliteratur Adelson, Leslie A.: Ränderberichtigung. Ruth Klüger und Botho Strauß. In: MayerIswandy (Hg.), Zwischen Traum und Trauma, S. 85–97. Angerer, Christian: ›Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung‹. Ruth Klügers ›weiter leben‹ im Kontext der neueren KZ-Literatur. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 29 (1998), H. 1, S. 61–83. Bauschinger, Sigrid: Uns verbindet, was uns trennt. Ruth Klügers ›weiter leben‹ und seine Leser. In: Jüdischer Almanach der Leo-Baeck-Institute 1996, S. 126–137. Bos, Pascale R.: German-Jewish literature in the wake of the Holocaust. Grete Weil, Ruth Klüger and the politics of address. New York: Palgrave Macmillan 2005. – Introduction. In: Dies., German-Jewish literature in the wake of the Holocaust, S. 1–20. Braese, Stephan: Ruth Klügers deutsches Publikum im Spiegel der Veranstaltungsberichte. In: Ders./Gehle (Hg.), Ruth Klüger in Deutschland, S. 3–10. – /Gehle, Holger (Hg.): Ruth Klüger in Deutschland. Bonn: H. Gehle 1994 (Kassiber; 1). – /Gehle, Holger (Hg.): Von ›deutschen Freunden‹. Ruth Klügers ›weiter leben – Eine Jugend‹ in der deutschen Rezeption. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 6 (1995), S. 76–87. Braun, Michael: ›Für ein Kind war das anders‹. Kindheit in der Holocaust-Literatur. Louis Begleys ›Lügen in Zeiten des Krieges‹ (1991/94) und Ruth Klügers ›weiter leben. Eine Jugend‹ (1992). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27 (2002), H. 1, S. 96–115. Callenholm, Anna: Die Mutter-Tochter-Beziehung in Ruth Klügers ›weiter leben. Eine Jugend‹. In: Text im Kontext 6 (2004). Hg. von J. Alexander Bareis und Izabela Karhiaho, S. 233–240. Detering, Heinrich: Tauziehen. Laudatio zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises 1999 an Ruth Klüger. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 13 (2000), S. 219–227.

6.2 Klüger

261

Evans, Owen: Mapping the contours of oppression. Subjectivity, truth and fiction in recent German autobiographical treatments of totalitarianism. Amsterdam: Rodopi 2006 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur; 156). Feilchenfeldt, Konrad: Zur Überlieferung der Auschwitz-Gedichte von Ruth Klüger. In: Literatur in Bayern 47 (1997), S. 12f. Feuchert, Sascha (Hg.): Ruth Klüger, ›weiter leben‹. Stuttgart: Reclam 2004 (Reclams Universal–Bibliothek. Erläuterungen und Dokumente; 16045). Finnan, Carmel: Ein Leben in Scherben. Geschlechterdifferenz als Erinnerungsform bei Cordelia Edvardson und Ruth Klüger. In: Günter (Hg.), Überleben schreiben, S. 155–177. Gehle, Holger: ›weiter leben‹ in der deutschen Buchkritik. In: Braese/ders. (Hg.), Ruth Klüger in Deutschland, S. 11–24. Hammel, Andrea: Gender, individualism and dialogue. Jakov Lind’s ›Counting my steps‹ and Ruth Klüger’s ›weiter leben‹. In: Hammel/Hassler/Timms (Ed.), Writing after Hitler, S. 177–192. – The destabilisation of personal histories. Rewriting and translating autobiographical texts by German-Jewish survivors. In: Comparative Critical Studies 1 (2004), H. 3, S. 295–308. Heidelberger-Leonard: Auschwitz, Weiss und Walser. Anmerkungen zu den Zeitschaften in Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Peter Weiss Jahrbuch 4 (1995), S. 78–89. – Eine weibliche Autobiographie nach Auschwitz? Zu ›weiter leben. Eine Jugend‹ von Ruth Klüger. In: Heidy M. Müller (Hg.), Das erdichtete Ich, S. 187–200. – Jüdische und deutsche Nicht-Identität? Zu Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Jäger (Hg.), Germanistik, S. 339–345. – Ruth Klüger, ›weiter leben. Eine Jugend‹. München: Oldenbourg 1996 (OldenbourgInterpretationen; 81). – Ruth Klüger ›weiter leben‹ – ein Grundstein zu einem neuen Auschwitz–›Kanon‹? In: Braese u. a. (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur, S. 157–169. – Ruth Klügers ›weiter leben‹ revisited. In: Kammler/Pflugmacher (Hg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, S. 127–138. Hessing, Jakob: Spiegelbilder der Zeit. Wolfgang Koeppen und Ruth Klüger. In: Braese (Hg.), In der Sprache der Täter, S. 103–115. Köster, Juliane: Autobiographie als literaturdidaktischer Fundus. Literaturerfahrung in Ruth Klüger, ›weiter leben. Eine Jugend‹. In: Deutschunterricht 50 (1997), H. 12, S. 574–584. Kraft, Helga/Lorenz, Dagmar C. G.: Ruth Angress Kluger. The writer and scholar on her 75th birthday. In: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature and Culture 22 (2006), S. 62–73. Krauß, Andrea: Dialog und Wörterbaum. Geschichtskonstruktionen in Ruth Klügers ›weiter leben‹ und Martin Walsers ›Ein springender Brunnen‹. In: Beßlich/Grätz/ Hildebrand (Hg.), Wende des Erinnerns, S. 69–85. Langer, Phil: Schreiben gegen die Erinnerung? Autobiographien von Überlebenden der Shoah. Hamburg: Krämer 2002. Lezzi, Eva: Ruth Klüger. Literarische Authentizität durch Reflexion. Weiter leben – Still alive. In: Eke/Steinecke (Hg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, S. 286–292. – Ruth Klüger: ›weiter leben. Eine Jugend‹ (1992). In: Dies., Zerstörte Kindheit, S. 228–280.

262

6 Literaturverzeichnis

Liebrand, Claudia: ›Das Trauma der Auschwitzer Wochen in ein Versmaß stülpen‹ oder: Gedichte als Exorzismus. Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Huml/Rappenecker (Hg.), Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert, S. 237–248. Löffler, Sigrid: Davongekommen. Jetzt noch über Auschwitz schreiben? Ruth Klüger ist es mit ›weiter leben. Eine Jugend‹ gelungen, ohne Pathos und gefühlsgenau. In: Die Zeit, 5. August 1993. Lorenz, Dagmar C. G.: Memory and criticism. Ruth Klüger’s ›weiter leben‹. In: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature and Culture 9 (1993), S. 207–224. Lühe, Irmela von der: Das Gefängnis der Erinnerung. Erzählstrategien gegen den Konsum des Schreckens in Ruth Klügers ›weiter leben‹. In: Köppen/Scherpe (Hg.), Bilder des Holocaust, S. 29–45. Lützeler, Paul M.: Dichten nach Auschwitz. Lebensbericht von Ruth Klüger. In: Neue Zürcher Zeitung, 2. Oktober 1992. – Die Gespenster gehen auch heute noch um. In: Welt Online, 23. August 2008. http://www.welt.de/welt_print/article2342407/Die-Gespenster-gehen-auch-heutenoch-um.html McGlothlin, Erin: Autobiographical re-vision. Ruth Klüger’s ›weiter leben‹ and ›Still alive‹. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 3 (2004), S. 46–70. Miller, Nancy K.: Ruth Klüger’s ›Still alive. A Holocaust girlhood remembered‹. An unsentimental education. In: Hirsch/Kacandes (Ed.), Teaching the representation of the Holocaust, S. 386–395. Müller, Herta: Sag, dass du fünfzehn bist – weiter leben, Ruth Klüger. In: Dies., In der Falle, S. 25–40. Müller, Lothar: Auch Gespenster altern. Ruth Klügers Erinnerungsbuch ›Unterwegs verloren‹. In: Süddeutsche Zeitung, 23. August 2008. Müller-Kampel, Beatrix: Ruth Klüger. In: Dies (Hg.), Lebenswege und Lektüren, S. 275–301. Por, Peter: Die unmögliche Zeugenaussage. In: Schweizer Monatshefte 85 (2005), H. 5, S. 32–35. Reich-Ranicki, Marcel: Liebhaberin der Stille. Ein Gruß an Ruth Klüger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Oktober 2001. – Vom Trotz getrieben, vom Stil beglaubigt. Rede auf Ruth Klüger aus Anlaß der Verleihung des Grimmelshausen–Preises. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Oktober 1993. Reiter, Andrea: Authentischer Bericht oder Roman? Einige Überlegungen zur Typologie von Holocaust-Texten. In: Betten/Fliedl (Hg.), Judentum und Antisemitismus, S. 120–131. – ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹. Ruth Klügers Entwurf vom Überleben. In: Literatur für Leser 23 (2000), H. 4, S. 214–230. – ›Ich wollte, es wäre ein Roman‹. Ruth Klüger’s feminist survival report. In: Forum for Modern Language Studies 38 (2002), H. 3, S. 326–340. Rothberg, Michael: The barbed wire of the postwar world. Ruth Klüger’s traumatic realism. In: Ders., Traumatic realism, S. 107–140. Rybarski, Ruth: Ruth Klüger. Laudatio zum Staatspreis für Literaturkritik. In: Literatur und Kritik Juni 1998, S. 21–23. Schaumann, Caroline: From ›weiter leben‹ to ›Still alive‹. Ruth Klüger’s cultural translation of her ›German book‹ for an American audience. In: The German Quarterly 77 (2004), H. 3, S. 324–339.

6.3 Verwendete Primärliteratur

263

Schubert, Katja: Zeitvertreib und Zauberspruch. Zu den Gedichten in ›weiter leben‹ von Ruth Klüger. In: Dachauer Hefte 18 (2002), S. 109–121. Schulte-Sasse, Linda: ›Living on‹ in the American press: Ruth Kluger’s ›Still alive‹ and its challenge to a cherished Holocaust paradigm. In: German Studies Review 27 (2004), H. 3, S. 469–475. Šlibar, Neva: Anschreiben gegen das Schweigen. Robert Schindel, Ruth Klüger, die Postmoderne und die Vergangenheitsbewältigung. In: Berger/Moser (Hg.), Jenseits des Diskurses, S. 37–56. Smale, Catherine: ›Ungelöste Gespenster‹? Ghosts in Ruth Klüger’s autobiographical project. In: Modern Language Review 104 (2009) (im Erscheinen). Spiegel, Hubert: Unterwegs verloren. Ins eigene Fleisch: Ruth Klügers Lebenserinnerungen als Vorabdruck in der F.A.Z. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juli 2008. Taylor, Jennifer: Ruth Klüger’s ›weiter leben. Eine Jugend‹. A Jewish woman’s ›letter to her mother‹. In: Lamb-Faffelberger (Ed.), Out from the shadows, S. 77–87. Walser, Martin: Ruth Klüger zur Begrüßung. In: Braese/Gehle (Hg.), Ruth Klüger in Deutschland, S. 31–33.

6.3

Verwendete Primärliteratur

Aichinger, Ilse: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1987. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuch eines Überwältigten. 3. Aufl. Stuttgart: Klett Cotta 1997 (1966). Angelou, Maya: And still I rise. New York: Random House 1978. – The lesson. In: Dies., And still I rise, S. 18. Augustinus, Aurelius: Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und hg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 2792). Bachmann, Ingeborg: Exil. In: Dies., Werke. Bd 1. – Früher Mittag. In: Dies., Werke. Bd 1, S. 44f. – Werke. Bd 1: Gedichte. München: Piper 1978. Dickinson, Emily: After a hundred years. In: Dies., The complete poems of Emily Dickinson, S. 513. – The complete poems of Emily Dickinson. Ed. by Thomas H. Johnson. London: Faber and Faber 1970. Edvardson, Cordelia: Bränt barn söker sig till elden. Stockholm 1984 (Gebranntes Kind sucht das Feuer. München: Hanser 1990 [1986]). Fromentin, Eugène S. A.: Dominique. Texte présenté et commenté par Anne-Marie Christin. Paris: Imprimerie Nationale 1988 (1862). Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe, bearbeitet von Siegfried Scheibe, Bd I (1811). Berlin: Akademie-Verlag 1970–1974. Goldschmidt, Georges-Arthur: Un jardin en Allemagne. Paris: Éditions du Seuil 1986 (Ein Garten in Deutschland. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 [1988]). – Seine eigenen Texte übersetzen? Deutsches Nachwort des Verfassers. In: Ders., Ein Garten in Deutschland, S. 183–187.

264

6 Literaturverzeichnis

– Über die Flüsse. Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 2003 (2001) (Fischer; 15699) (orig.: La traversée des fleuves. Autobiographie. Paris: Éditions du Seuil 1999). Hoffman, Eva: Lost in translation. A life in a new language. New York: E. P. Dutton 1989. Kaléko, Mascha: Es. In: Dies., In meinen Träumen läutet es Sturm, S. 166. – In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Hg. und eingeleitet von Gisela Zoch-Westphal. München: Deutscher TaschenbuchVerlag 2007 (1977) (dtv; 12382). Koeppen, Wolfgang: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Roman. Mit einem Nachwort von Alfred Estermann. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2002. Lanzmann, Claude: Shoah. The complete text of the acclaimed Holocaust film. New York: Da Capo Press 1995. Levi, Primo: orig.: Se questo è un uomo. Torino: Einaudi 1947 (Ist das ein Mensch? 4. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1995 [1961] [dtv; 11561]). Littner, Jakob: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption. Hg. von Roland Ulrich und Reinhard Zachau. Berlin: Metropol 2002 (Bibliothek der Erinnerung; 8). Meyrink, Gustav: Der Golem. Mit acht Lithographien von Hugo Steiner-Prag. Leipzig: K. Wolff 1915. Müller, Herta: Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München: Hanser 2005. Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu I: Du côté de chez Swann (1913). Édition présentée et annotée par Antoine Compagnon. Paris: Gallimard 2003 (1913) (Folio classique; 1924). Reemtsma, Jan Philipp: Im Keller. Hamburg: Hamburger Ed. 1996. Rich, Adrienne: Collected early poems: 1950–1970. New York: W. W. Norton 1993 (1963). – Prospective immigrants please note. In: Dies., Collected early poems: 1950–1970, S. 188. Sarraute, Nathalie: Tropismes. Paris: Éditions de Minuit 1957. Speer, Albert: Erinnerungen. Frankfurt a. M.: Ullstein 1969. Spiegelman, Art: Maus II: A survivor’s tale. And here my troubles began. New York: Pantheon Books 1991. Tawada, Yoko: Verwandlungen. Prosa, Lyrik, Szenen & Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag C. Gehrke 1998. Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1998. Wolf, Christa: Kindheitsmuster. 2. Aufl. München 2002 (1977).

6.4

Filme

Hirschbiegel, Oliver: Der Untergang. Drehbuch: Bernd Eichinger. Deutschland/Italien/Österreich 2004. Lanzmann, Claude: Shoah. Drehbuch: Claude Lanzmann. Frankreich 1985. Spielberg, Steven: Schindlers Liste. Drehbuch: Steven Zaillian. USA u. a. 1993. Syberberg, Hans J.: Hitler, ein Film aus Deutschland. Drehbuch: Hans J. Syberberg. Deutschland/Großbritannien/Frankreich 1978.

6.5 Sekundärliteratur

6.5

265

Sekundärliteratur

Abbott, H. Porter: Diary fiction. Writing as action. Ithaca: Cornell University Press 1984. Adams, Timothy D.: Light writing and life writing. Photography in autobiography. Chapel Hill: University of North Carolina Press 2000. Adolphs, Lotte: Kinder in Ketten. Kinderschicksale in Ghettos und Konzentrationslagern. Duisburg: Braun 1984. Adorno, Theodor W.: Der Essay als Form. In: Ders., Noten zur Literatur I, S. 9–49. – Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958 (Bibliothek Suhrkamp; 47). Aichinger, Ingrid: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Niggl (Hg.), Die Autobiographie, S. 170–199. Amati-Mehler, Jacqueline/Argentieri, Simona/Canestri, Jorge: The babel of the unconscious. Mother tongue and foreign tongues in the psychoanalytic dimension. Madison: International University Press 1993 (orig.: Babele dell’inconscio. Lingua madre et lingue straniere nella dimensione analitica. Milano: Raffaele Cortina Editore 1990). Anderson, Benedict R.: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso 1983. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. A report on the banality of evil. New York: Viking 1963 (Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Erweiterte Taschenbuchausg. 11. Aufl. München, Zürich: Piper 2001 [1964]). Ariès, Philippe: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime. Paris: Plon 1960 (Geschichte der Kindheit. 12. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1992 [1975] [4320: dtv Wissenschaft]). Ashley, Kathleen/Gilmore, Leigh/Peters, Gerald (Ed.): Autobiography and postmodernism. Amherst: University of Massachusetts Press 1994. Asholt, Wolfgang (Hg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von GeorgesArthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo 1999. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999 (Beck Kulturwissenschaft). – /Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999. – (Hg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1987. – (Hg.): Medien des Gedächtnisses. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg 72, Sonderheft). – Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Dies./Harth (Hg.), Mnemosyne, S. 13–35. – /Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1991 (Fischer-Wissenschaft; 10724). Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992 (Beck Kulturwissenschaft). – Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, S. 9–19. – /Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 724).

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Danksagung

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Februar 2007 am Department für Sprache, Literatur und Medien II der Universität Hamburg verteidigt wurde. Betreut wurde die Dissertation von Frithjof Trapp – ihm sei für hilfreiche Kommentare und Anregungen gedankt. Dem Zweitgutachter der Arbeit, Jörg Schönert, gilt darüber hinaus besonderer Dank für die wertvolle Beratung und Unterstützung während des gesamten Studiums. Hans Otto Horch herzlichen Dank für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ›Conditio Judaica‹, Doris Vogel für die überaus nette und kompetente Betreuung bei der Drucklegung. Ohne die finanzielle Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung wäre diese Arbeit nicht zu verwirklichen gewesen. Mein aufrichtiger Dank für die Gewährung eines dreijährigen Promotionsstipendiums geht deshalb stellvertretend an Werner Fiedler. Entstanden ist die Arbeit zu einem großen Teil in den USA. Auch dies wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige Förderung der Hans-BöcklerStiftung, insbesondere durch die Unterstützung der Forschungsaufenthalte an der University of Pennsylvania und der Stanford University. Amir Eshel sei für die freundliche Aufnahme während des Aufenthalts am Department of German Studies in Stanford gedankt. Besonderer Dank gebührt dem Department of Germanic Languages and Literatures der University of Pennsylvania/Philadelphia, das während der Arbeit an der Dissertation zur eigentlichen ›Heimat‹ geworden ist – für die selbstverständliche und herzliche Aufnahme: Dank an Simon Richter als Chair, Frank Trommler für viele wertvolle Gespräche und die Lektüre des gesamten Manuskripts, Christina Frei für unüberschätzbare Begleitung der ersten Lehrerfahrungen in den USA, Martina Bale für alle organisatorische Hilfe – und natürlich Liliane Weissberg, ohne die nicht nur die University of Pennsylvania vollkommen unvorstellbar wäre! Der Abschied von Philadelphia wäre noch schwerer gefallen, wenn mich nicht die erste ›richtige‹ Stelle an die University of Cambridge geführt hätte. Besonderer Dank für die Lektüre des Manuskripts und/oder generelle Unterstützung geht an Peter Hutchinson, Annemarie Künzl-Snödgrass, Silke Mentchen, David Midgley, Michael Minden, Barry Nisbet, Andrea Rohde, Martin Ruehl, Lucia Ruprecht, Andrew Webber, Charlotte Woodford und Chris

288

Danksagung

Young als Chair. Dem Sidney Sussex College sei für den Arbeitsplatz in wunderbarer Umgebung, den Fellows für die gute Gesellschaft, viele Gespräche und noch mehr Spaß am High Table gedankt. Dank geht weiterhin an diejenigen, die durch intensive Gespräche, fachliche Hinweise und kritische Anmerkungen die vorliegende Studie beeinflusst haben – darunter Stephan Braese, Alon Confino, Leonhard Fuest, Mary Fulbrook, Erin McGlothlin, Stefanie Schüler-Springorum, Hayden White und viele andere – und allen voran Saul Friedländer. Herzlichen Dank auch allen Freunden und Bekannten, die über die ganze Welt verstreut sind und bisher noch nicht genannt wurden – für die kritische Lektüre des Manuskripts, wertvolle Anregungen und Gespräche, gemeinsame Tagungen und (GSA-)Konferenzen, – überhaupt die geteilte Zeit der letzten Jahre: Anika Abbate, Conny Aust, Axel Bangert, Angela Breitenbach, Edwige Brender-Goosmann, Michael Butter, Brian Chance, Stéphane Cohen, Maya Dagon, Kirsten Dickers, Anne Ehlers, Michael Elm, Emma Gilby, René Goosmann, Aradhana Goyal, Sonia Hansen, Dan K. Heller, Axel Hildebrandt, Holger Jacobs, Carsten Kier, Elif Kir, Usha Mandava, Paz Marin, Kirsten Maybauer, Holger Michael, Heinke Röbken, Regina Sachers, Mitra Sharafi, Brigitta E. Simbürger, Kim G. Skytte, Catherine Smale, Audrey Stevens, Stefan Wilke, Kerry Wallach, Gabriella Skwara und den anderen (ehemaligen) Doktoranden und Kollegen/-innen des Department for Germanic Languages and Literatures an der University of Pennsylvania, Christiane Winkler und Julia Riddiford vom University College London und vielen, vielen anderen – sowie meiner Schwester Kristin Machtans für Lektüre und technische Hilfe. Stefan Fürst hat in den letzten Jahren mehr über autobiographische und kollektive Erinnerungsprozesse gehört, als er sich wahrscheinlich je hätte träumen lassen. Ihm deshalb im wahrsten Sinne des Wortes ›zur Erinnerung‹ – an die vergangene Zeit. Die Beschäftigung mit dem Werk Saul Friedländers und Ruth Klügers ist bis zuletzt eine große Herausforderung und Bereicherung geblieben und eine echte Motivation für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit. Der persönliche Kontakt zu Saul Friedländer war und ist dabei von großer Bedeutung. Ihnen beiden deshalb der größte Dank – und großen Respekt für das Lebenswerk. Meinen Eltern Isa und Ulrich Machtans verdanke ich mehr, als sich in Worte fassen lässt. Ihnen ist die vorliegende Studie gewidmet.

Personenregister

Achimeir, Aba 104 Adorno, Theodor W. 147, 149, 203 Aichinger, Ilse 146, 238 Allen, Woody 212 Amati-Mehler, Jacqueline 186 Améry, Jean 203 Andersch, Alfred 140 Anderson, Benedict 32 Angelou, Maya 226–227 Angerer, Christian 166 Assmann, Aleida 19–20 Assmann, Jan 19–20 Auden, W. H. 226 Augustinus, Aurelius 25, 79 Ausländer, Rose 147 Bachmann, Ingeborg 146, 226, 238–239 Baldwin, James 219 Bankier, David 32 Barthes, Roland 137 Beardsley, Monroe C. 136 Begin, Menachem 83 Begley, Louis 157 Benjamin, Walter 76, 175 Bernhard, Thomas 224 Birus, Hendrik 76 Blanchot, Maurice 39, 61 Bos, Pascale R. 166, 199 Braese, Stephan 163 Braidotti, Rosi 195 Brentano von Arnim, Bettina 145 Broch, Hermann 158

Broszat, Martin 44, 46–49, 52, 55, 67, 198, 201 Bruner, Jérôme 17 Buber, Martin 85 Büchner, Georg 140, 142, 151 Caesar, Gaius Iulius 142 Coe, Richard N. 89 Confino, Alon 59, 129 Cronin, Michael 194 Damasio, Antonio 16 DeKoven Ezrahi, Sidra 110, 112– 113 Derrida, Jacques 3 Dickinson, Emily 226–227, 231, 239 Dilthey, Wilhelm 13, 31 Diner, Dan 53, 201 Domin, Hilde 147 Dönitz, Karl 98–99, 120, 126–127 Droste-Hülshoff, Annette von 146 Düwell, Susanne 30 Eakin, Paul John 31, 116, 119 Ebner-Eschenbach, Marie von 146 Edvardson, Cordelia 156, 171 Ehlich, Konrad 137 Elon, Amos 73 Erll, Astrid 9, 21, 24, 145 Fassbinder, Rainer Werner 42, 140 Faulkner, William 231 Federman, Raymond 30

290 Fest, Joachim 42, 125, 127 Freeman, Mark P. 4 Freud, Sigmund 52, 128, 188 Freytag, Gustav 141 Friedländer, Saul 1–3, 5–11, 19, 21, 23–24, 30, 33, 36–74, 76, 79–80, 82, 85–86, 89, 91–92, 94, 99, 101–102, 109, 113, 115–119, 121–122, 124–131, 133, 135, 139, 150–151, 158, 161–162, 173–174, 176, 181, 185–186, 192, 198–199, 201–202, 205–206, 208, 229, 233, 239, 246–252 Fromentin, Eugene Samuel Auguste 84, 91 Funkenstein, Amos 50 Gehle, Holger 163 Gerstein, Kurt 40–41, 67 Goethe, Johann Wolfgang 75, 149, 151, 225 Goldhagen, Daniel J. 55, 210 Goldschmidt, Georges-Arthur 30 Grass, Günter 136, 140, 142 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 137–138, 229 Günther, Dagmar 33 Halbwachs, Maurice 19–20, 31, 50, 102 Hammel, Andrea 166 Hebbel, Friedrich 142 Heidelberger-Leonard, Irene 166 Hilberg, Raul 32, 57 Hirschbiegel, Oliver 154 Hitler, Adolf 39–40, 43–45, 47, 55, 118, 125–127, 192, 210, 218, 241 Hobsbawm, Eric 19, 32 Hofmannsthal, Hugo von 242 Huchel, Peter 174 Hutton, Patrick 32 Iser, Wolfgang 99

Personenregister

Jannidis, Fotis 136 Kafka, Franz 236 Kaléko, Mascha 147, 238–239 Kaplan, Chaim A. 56 Kästner, Erich 143 Kertész, Kertész 233 Kleist, Heinrich von 142–144, 151, 238 Klemperer, Victor 56 Klüger, Ruth 1–8, 10–11, 19, 21, 24–25, 30, 36, 64–65, 133–176, 182–183, 185–189, 194–200, 202–203, 205–212, 215, 219– 223, 225, 227–237, 242–252 Koeppen, Wolfgang 148 Kolmar, Gertrud 144 La Roche, Sophie von 145 LaCapra, Dominick 52 Lachmann, Renate 23 Lamb-Faffelberger, Margarete 197 Langer, Lawrence 60 Langgässer, Elisabeth 146 Lanzmann, Claude 60, 68, 102, 124–125, 207–208 Laqueur, Walter 170 Lasker-Schüler, Else 146 Leh, Almuth 34 Lejeune, Philippe 13, 27–29, 153, 155 Levi, Primo 203, 232 Lezzi, Eva 30, 230 Lühe, Irmela von der 166, 205 Lyotard, Jean-François 39, 61–62 Man, Paul de 13, 27–29, 31, 151, 248 Mann, Thomas 141 Markowitsch, Hans-Joachim 34 McGlothlin, Erin 166, 170, 197 Meyrink, Gustav 7, 71–72, 115– 116, 129–130, 247, 250

291

Personenregister

Misch, Georg 13 Morrison, Tony 219 Müller, Herta 206, 236, 238 Neisser, Ulric 15 Nietzsche, Friedrich 142 Nora, Pierre 19, 32, 50 Novick, Peter 32, 57, 212–213, 215 Nünning, Ansgar 9, 21, 145 Olney, James 31 Perec, Georges 30 Pius XII 39–40, 67 Plato, Alexander von 34 Politzer, Heinz 191 Proust, Marcel 16, 91–94 , 239 Raabe, Wilhelm 141 Ranger, Terence 32 Reemtsma, Jan Philipp 1, 156, 171 Reich-Ranicki, Marcel 134 Reiter, Andrea 231, 233 Rich, Adrienne 226–227 Rosenfeld, Alvin H. 210 Roth, Joseph 224 Rushdie, Salman 195 Sachs, Nelly 146 Sadat, Muhammad Anwar as- 98, 108 Sarraute, Nathalie 75 Schacter, Daniel L. 15 Schaumann, Caroline 166, 210, 219 Schiller, Friedrich 142, 151 Schlegel-Schelling, Caroline 146 Schlözer, Dorothea 146 Schnitzler, Arthur 134, 139, 143– 144, 224 Segal, Lore 164 Seghers, Anna 229

Shakespeare, William 140, 142, 192, 231 Speer, Albert 43 Spiegelman, Art 59 Spielberg, Steven 154, 210, 214– 215, 218 Steiner, George 42 Stifter, Adalbert 143, 172, 209, 224 Syberberg, Hans Jürgen 42–43 Tawada, Yoko 181 Tulving, Endel 91 Twain, Mark 212 Venuti, Lawrence 194 Vice, Sue 30 Voltaire 56 Wagner-Egelhaaf, Martina 26 Walser, Martin 163, 170, 210, 237 Warburg, Aby 19 Weil, Simone 223 Weiss, Peter 151, 207–208 Welzer, Harald 34 Werfel, Franz 224 White, Hayden 63, 248 Wiesel, Elie 220 Wilkomirski, Binjamin 157, 170, 210 Wilpert, Gero von 27 Wimsatt, William K. 136 Wolf, Christa 156, 171 Woolf, Virginia 231 Yeats, W. B. 225–226 Yerushalmi, Yosef Hayim 50 Young, James E. 33 Zipfel, Frank 137 Zweig, Stefan 224