Zwischen Stadt, Staat und Nation: Bürgertum in Deutschland 9783666301698, 9783525301692, 9783647301693

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Zwischen Stadt, Staat und Nation: Bürgertum in Deutschland
 9783666301698, 9783525301692, 9783647301693

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Stefan Gerber / Werner Greiling / Tobias Kaiser / Klaus Ries (Hg.)

Zwischen Stadt, Staat und Nation Bürgertum in Deutschland Teil 1

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30169-2 ISBN 978-3-647-30169-3 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Frankfurt am Main, der jenacon foundation gGmbH, Jena, des Vereins für Thüringische Geschichte, Jena, der Siebenpfeiffer-Stiftung, Homburg/Saar, und des Fördervereins für Stadtgeschichte, Neustadt an der Orla. Redaktion: Ron Hellfritzsch (Jena) Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Jena vom Galgenberg, Farblithografie von Friedrich Wilhelm Geiling 1865 (Stadtmuseum Jena) Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Hans-Werner Hahn zum 65. Geburtstag

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Wirtschaft und Industrialisierung Leonhard Friedrich Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz durch Schule. Schulversuche in Thüringen – Ende des 17., Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts . . . . .

15

Rolf Walter Was könnte Proto-Globalisierung bedeuten? Auf den Spuren oberdeutscher Fernhändler in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . .

51

Gottfried Gabriel Identität und Differenz. Zur politischen Ikonographie des Geldes im Deutschen Zollverein und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Klaus Manger Den Dampf dämpfen? Skepsis angesichts der Maschinenromantik im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Michael C. Schneider Internationalisierung und Institutionalisierung: Der Internationale Statistische Kongreß 1863 in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Marko Kreutzmann »… den bewährten Traditionen des Zollvereins gemäß«. Die Wahl Rudolph Delbrücks zum Reichstagsabgeordneten im Wahlkreis Jena-Neustadt im Jahr 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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8

Inhalt

Bürgertum und bürgerliche Lebenswelten Helmut G. Walther Reichsstadtrepublikanismus, Kulturbürgertum und deutsche Kunst: Das utopische Nürnberg in Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg« . 133 Andreas Schulz Jüdische Frauenemanzipation in Deutschland – Ludwig Börnes Gefährtin Jeanette Wohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Andrea Hopp »We were so bürgerlich!« Rekonstruktionen jüdischer Bürgerlichkeit am Beispiel Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Werner Greiling Väter und Söhne des Bürgertums, oder : Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie. Mit einem Quellenanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Michael Maurer Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Dirk van Laak Im Schatten von Riesen: Johann Karl Ernst Dieffenbach (1811 – 1855) . . 225 Lothar Gall Franz Adickes und die Gründung der Frankfurter Stiftungsuniversität . . 239 Klaus Dicke / Florian Weber Theodor Heuss und Ernst Abbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Norbert Frei Fritz Bauer oder : Wann wird ein Held zum Helden? . . . . . . . . . . . . 273

Vormärz und Nation Georg Schmidt »Deutscher Geist« oder »Ereignis Weimar-Jena«? Geschichtswissenschaftliche und mythische Erzählungen . . . . . . . . . 283 Klaus Ries Goethe und Napoleon – Zur kulturellen Inszenierung von Politik

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. . . . 299

9

Inhalt

Hans-Christof Kraus Nationalgeschichte in politischer Absicht – Heinrich Ludens »Geschichte des teutschen Volkes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Gisela Mettele Wehrhafte Männlichkeit und patriotische Weiblichkeit. Geschlechterbilder und die politische Mobilisierung der Jenaer Studenten 1813/14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Eckhardt Treichel Die Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung und ihre Mitglieder 1816 – 1820 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Erich Schunk »Schwarz, roth und Gold«. Popularisierung und Unterdrückung eines politischen Symbols zur Zeit des Hambacher Festes . . . . . . . . . . . . 361 Jörn Leonhard »Die Zukunft der Geschichte«? – Carl von Rotteck und die Widersprüche des deutschen Frühliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

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Vorwort

Die Debatten um das Bürgertum sind ruhiger geworden, denn die großen Forschungsprojekte sind abgeschlossen und die drittmittelträchtigen Trends in Deutschland haben sich in andere Richtungen verschoben. Das Bürgertum aber ist geblieben. Seine Präsenz in der gegenwärtigen Gesellschaft ist sogar größer als zu jener Zeit, in der sich Bielefelder und Frankfurter Bürgertumshistoriker die Deutungshoheit streitig machten. Bürgerlichkeit als Selbstverständnis und Lebenshaltung sind im Deutschland des 21. Jahrhunderts allgegenwärtig, und mit dem Phänomen bleibt auch der Reiz, sich dem Bürgertum und der Bürgerlichkeit in historischer Perspektive stets von neuem anzunähern. Der Zweibänder versammelt vor allem Beiträge zur Geschichte des deutschen Bürgertums, und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven. Bis heute ist es umstritten, wie genau sich das Bürgertum definieren lässt und was man überhaupt unter »bürgerlich« zu verstehen hat. In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die das Bürgertum weniger als eine sozial-ökonomisch determinierte Formation, sondern vielmehr als eine kulturelle Kategorie ansehen. Nicht Einkommen, Beruf, politisch-rechtliche Stellung innerhalb der Stadt oder des Staates kennzeichnen in erster Linie den Bürger, sondern seine spezifische Art zu leben, sich zu kleiden, seine Freizeit zu gestalten sowie ein ganz spezieller Habitus. In dieser habituellen Disposition verdichten sich alle anderen »härteren« Faktoren wie Besitz, berufliche Stellung oder politischer Status, so dass die kulturelle Deutung des Bürgertums als die weitaus umfassendere, gleichwohl aber auch weniger klar konturierte Kennzeichnung erscheint. Dem realgeschichtlichen Phänomen des Bürgertums in seiner ganzen Heterogenität und Komplexität kommt sie jedoch am nächsten. Das Werk versucht, dieser neuen, umfassenderen Deutung von Bürgertum gerecht zu werden, und vereinigt sowohl wirtschaftliche, bürgerlich-lebensweltliche und politisch-nationale Aspekte als auch raum- und regionalspezifische sowie universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Problemkomplexe. Das deutsche Bürgertum wird in all seinen Facetten als Wirtschaftsbürgertum, als Stadtbürgertum, als Staatsbürgertum und als Bildungsbürgertum begriffen

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Vorwort

und beschrieben. Der alte Forschungsstreit, welche bürgerliche Sozialformation die modernere gewesen sei – das traditionale Stadtbürgertum, das politischrechtlich in das Stadtleben eingebunden war, oder die sogenannten »neuen Bürgerlichen«, die außerhalb der ständischen Sozialordnung standen – wird hier bewusst ad acta gelegt. Es scheint an der Zeit zu sein, die alten Streitigkeiten aufzugeben und die neuen kulturgeschichtlichen Fragestellungen auf die Bürgertumsforschung anzuwenden. Der Geschichte des deutschen Bürgertums wird dies gut tun. Hans-Werner Hahn, der seit mehr als 20 Jahren an der Friedrich-Schiller Universität Jena Neuere Geschichte lehrt und dem dieser Zweibänder aus Anlass seines 65. Geburtstages zugeeignet ist, hat stets eine vermittelnde Position einzunehmen versucht – auch und vor allem in der Bürgertumsforschung. Er hat es verstanden, regionalgeschichtliche Fragen mit allgemeinen, übergreifenden Problemen zu verknüpfen und war stets darauf bedacht, sich einem historischen Phänomen so differenziert wie möglich zu nähern. Die Herausgeber hoffen, dass die 45 Beiträge diesem Anspruch gerecht werden, und bedanken sich zugleich bei den Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit. Es sind allesamt Weggefährten, die Hans-Werner Hahn an den verschiedenen Orten seiner Tätigkeit kennen- und schätzen gelernt haben, so in Wetzlar und Gießen, Saarbrücken und Frankfurt am Main, München und nicht zuletzt in Jena, und die ihm nun mit den Beiträgen ihre Referenz erweisen. Jena, im Sommer 2014

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Wirtschaft und Industrialisierung

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Leonhard Friedrich

Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz durch Schule. Schulversuche in Thüringen – Ende des 17., Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts

1.

Vorbemerkungen

1.1

Zu Intention und Struktur des Vorhabens

In dieser Studie steht in Frage, inwieweit Schule sich in der Vergangenheit der Aufgabe stellte, einen Beitrag zu wirtschaftlicher Erziehung zu leisten und entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, um die Kompetenz zu wirtschaftlichem Handeln anzubahnen. Ihr wird im Blick auf historische Schulversuche vom letzten Viertel des 17. Jahrhunderts an bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nachgegangen. Momente, die den Erfordernissen der Zeit gemäß als konstitutiv für wirtschaftliche Kompetenz galten, werden herausgearbeitet, ebenso die Prinzipien und Methoden, die bei der Umsetzung der Konzepte maßgeblich waren; zudem sollen – soweit möglich – die Ergebnisse der diesbezüglichen Unterrichts- und Erziehungspraxis taxiert werden. Die Studie konzentriert sich auf folgende Projekte: erstens auf die 1684 von Erhard Weigel gegründete »Werk- und Tugendschule«, zweitens die 1762 eröffnete »Rosenschule« des Joachim Georg Darjes und drittens die seit 1784 bestehende »Erziehungsanstalt Schnepfenthal« Christian Gotthilf Salzmanns.

1.2.

Zum problemgeschichtlichen Horizont

Die Frage wirtschaftlicher Kompetenz zur Gewinnung der Subsistenzmittel sowie die zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Einzelnen und der Gesellschaft gehört primär in den Zusammenhang der Problemgeschichte der Ökonomie, die der Herausbildung solcher Kompetenz verweist auf eine pädagogische Aufgabe. Der zur Klärung dieser Aufgabe erforderliche Horizont wird von der Bildungsgeschichte und der Kultur-und Sozialgeschichte des Wirtschaftens vorgezeichnet. Aus der Bildungsgeschichte wissen wir, dass die Vermittlung wirtschaftlicher Kompetenz – gemessen an der mehr als zweieinhalbtausend-

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Leonhard Friedrich

jährigen Lehrplangeschichte1 – relativ spät eine Aufgabe methodischer Erziehung und Bildung geworden ist und erst dann allmählich zu entsprechend erweiterten Lehrplänen für die öffentlichen Schule geführt hat. Im deutschsprachigen Raum entstanden – nach aus privater Initiative erwachsenen zukunftweisenden Modellen, zu denen die hier zu behandelnden Beispiele gehören, und nach zahlreichen Ansätzen im Rahmen kirchlicher Armenerziehung sowie im Gefolge der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einzelnen Regionen herausbildenden »Industrieschulen«2 – im Laufe des 19. Jahrhunderts vermehrt auf spezielle Gewerbezweige bezogene Schulen. Mit ihnen war ein neuer Akzent gesetzt und ein Impuls zur weiteren Differenzierung des Bildungswesens gegeben. Um die Wende zum 20. Jahrhundert erwuchs aus den Bildungseinrichtungen mit wirtschaftlichem Schwerpunkt das Berufs- und Fachschulwesen, das vornehmlich den Erwerb ökonomisch relevanter Bildung – damals waren dies handwerkliche, agrarische und kaufmännische Kenntnisse und Fertigkeiten – ermöglichen und gewährleisten sollte. Es wurde Bestandteil des allgemeinen öffentlichen Bildungswesens. Für die neuen Bildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten bedurfte es adäquater Formen und Inhalte – eines sach- und zeitgemäßen Curriculums, eines entsprechenden Methodenrepertoires und auch eines Reglements zur Organisierung effektiver Praxisbezüge. Die zu leistende pädagogische Arbeit musste wissenschaftlich fundiert und begleitet werden; das heißt, es bedurfte einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik, um die Fach- und Vermittlungsfragen zu klären wie auch das Lehrpersonal heran- und fortzubilden. Im Gefolge dieser Entwicklung fand das Anliegen wirtschaftlicher Bildung auch im Unterricht der Allgemeinbildenden Schulen eine gewisse Berücksichtigung, wenngleich meist nur als ein Aspekt im Rahmen fächerübergreifender Fragestellungen. Ein Blick auf die Kultur-und Sozialgeschichte lässt erkennen, dass es lange Zeiträume hindurch keinerlei Notwendigkeit gab, den Erwerb wirtschaftlicher Kompetenz in den öffentlichen Raum zu verlagern. Es gab eine funktionierende Praxis der Selbstversorgung. Die lebensnotwendigen Rohstoffe und Güter konnten im Rahmen des auf die Familie gegründeten »Hauswesens« erzeugt und die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten dort umstandslos an die nächste Generation weitergegeben werden. Das »Haus«3 erfüllte seine Funktion als Lebens-, Wohn-, Wirtschaftsgemeinschaft und über eine lange Zeit hin auch als Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft. Im Vollzug des Lebens ließen sich die basalen Erfahrungen gewinnen und auch hinreichendes Wissen und die nötigen le1 Vgl. Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte. Ratingen 19652. 2 Vgl. z. B. Fritz Trost: Die Göttingische Industrieschule. Berlin 1930. 3 Vgl. z. B. Otto Brunner: Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Hg. von O. Brunner, 1968, 103 – 127, (11956).

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Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz durch Schule

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bensdienlichen Fertigkeiten aneignen. Dabei sperrte sich gelebtes Leben niemals gegen die Reflexion. Über Erfahrungen, ob aus landwirtschaftlicher oder handwerklicher Arbeit oder aus häuslichem Wirtschaften, wurde nachgedacht, gerade auch über Grundtätigkeiten zur Besorgung der Subsistenzmittel. Wie die ersten literarischen Zeugnisse ausweisen, gab es schon früh das Bestreben, über Struktur und Funktion des Wirtschaftens Klarheit zu gewinnen. Mit derlei Fragen setzte sich in der Frühphase der griechischen Literatur Hesiod, der als Landwirt lebte und arbeitete, auseinander. Sein poetischer Wurf »Werke und Tage« gilt als Lehrgedicht, das die Menschen motivieren sollte, ihr Tagwerk zu tun. Hesiod gab den Rat, Vorsorge zu betreiben und verhieß ihnen, dadurch »in Fülle gesegnet« zu sein, ja »geliebt von den seligen Göttern«4 ; er mahnte aber auch: »wer die Geschäfte vertagt, wird immer mit Ungemach ringen.«5 Der Sokrates-Schüler Xenophon, Besitzer eines Gutes bei Olympia, schrieb »Oikonomikos«, einen Dialog über die Hauswirtschaft6. Aristoteles wird zugute geschrieben, die ersten Grundbegriffe der Ökonomie geprägt zu haben; in Abgrenzung zu seinem Lehrer Platon betonte er, dass ohne Erfahrungsbasis kein Sachverhalt wirklich begriffen und auch nicht dessen Brauchbarkeit für das reale Leben ermessen werden könne. – Seinem philosophischen Realismus nahestehende Zeitgenossen nahmen Ansätze für eine ökonomischen Sachverhalten adäquate Terminologie auf, behandelten in der Schrift »Oikonomika«7 das Hauswesen und untersuchten die Probleme des Wirtschaftens im öffentlichen und privaten Bereich unter organisatorischen und finanziellen Aspekten8. – Vergil besang in seinem Epos »Georgica« die Mühen des Landmanns, die »Pflege der Flur und des Viehs und von den Bäumen«9, das Ackergerät und den Lohn der Ernte. Er verband wie Xenophon die Lehre vom Haus mit der vom Ackerbau und deutete den Wert der Arbeit für das menschliche Dasein. Grundzüge der ökonomietheoretischen Ansätze aus der Antike finden sich im 15. Jahrhundert in der Schrift des italienischen Humanisten Leon Battista Alberti. In seinen Libri della famiglia fragte er nach der Bedingung erfolgreicher Ökonomie des Hauses und entdeckte diese in der Tüchtigkeit, sozialen Intaktheit und Tugendhaftigkeit 4 Vgl. Hesiod: Sämtliche Werke. Bremen o. J., S. 56. 5 A. a. O., S. 70. 6 Vgl. Bertram Schefold (Hg.): Vademecum zu einem Klassiker der Haushaltsökonomie. Bertram Schefold: Xenophons »Oikonomikos«: Der Anfang welcher Wirtschaftslehre? Karl Schefold: Bilder zu Xenophons »Buch vom Hauswesen«. Todd Lowry : Xenophons ökonomisches Denken über »Oikonomikos« hinaus. Arbogast Schmitt: Philosophische Voraussetzungen der Wirtschaftstheorie der griechischen Antike. Düsseldorf 1998. 7 Vgl. Renate Zoepffel (Hg.): Aristoteles, Oikonomika. Schriften zu Hauswirtschaft und Finanzwesen. Berlin 2006, auch: Michael Rostovtzeff: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt. Darmstadt 1998, Bd. 1, S. 343 – 348. 8 Vgl. Rostovtzeff: a.a.O., vor allem S. 345 ff. 9 Vgl. Vergil: Sämtliche Werke. München 1972, S. 98.

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der Familie; folglich begriff er die ökonomische Erziehung vor allem als eine moralerzieherische Aufgabe.10 Das traditionelle Bild vom Hauswesen lebte fort in der sogenannten Hausväterliteratur des 16./18. Jahrhunderts, eine Literaturgattung, die wesentlich von der Reformation geprägt wurde. Hervorgehoben sei die »Oeconomia Ruralis et Domestica«11 des über das Medizin- und Jurastudium zur Theologie gekommenen Pfarrersohns Johannes Coler. In diesem mehrbändigen Ratgeberwerk behandelt er ausführlich – wie bereits im vollständigen Titel zu erkennen ist – alle Bereiche der Haushaltung und neue Praktiken der Agrikultur. Zugleich leistet er eine intensive christliche Unterweisung. Die reformatorische Bewegung wollte neue Akzente im theologischen Denken setzen, eine Erneuerung des Glaubenslebens bewirken, außerdem aber auch wesentlich zur Entwicklung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens beitragen. Besonders nachhaltig waren die Initiativen Luthers im Bereich der Erziehung und Bildung. Deren religiöse und weltliche Bedeutung hat er in allen von ihm verwendeten literarischen Gattungen betont: in den Tischreden wie im »Großen Katechismus« oder zum Beispiel in seiner Vorrede zu einer volkspädagogischen Schrift des damaligen Superintendenten von Eisenach über christliche Haushaltung. In dieser gemahnt er an die elterliche Erziehungspflicht sowie an die Unterweisung und Ausbildung der Kinder, weil sonst »geistlicher und weltlicher Stand untergehen […] und Kinderzucht verderben.«12 Seine Antwort wie die der anderen Reformatoren, besonders die seines Freundes

10 Vgl. Leon Battista Alberti: Über das Hauswesen. Zürich/Stuttgart 1962. 11 Vgl. Johannes Coler : Oeconomia Ruralis Et Domestica: Darin[n] das gantz Ampt aller trewen Hauß-Vätter, Hauß-Mütter, beständiges und allgemeines Hauß-Buch, vom Haußhalten, Wein-Acker-Gärten-Blumen und Feldbau begrieffen, Auch Wild- und Vögelfang, WeidWerck, Fischereyen, Viehzucht, Holtzfällungen, und sonsten von allem was zu Bestellung und Regierung eines wolbestellten Mayerhoffs, Länderey, gemeinen Feld und Haußwesens nützlich und vonnöhten seyn möchte. Sampt beygefügter einer experimentalischer HaußApotecken und kurtzer Wundartzney-Kunst, wie dann auch eines Calendarii perpetui. Dardurch unnd darinnen, wie nicht allein Menschen, Vieh, Blumen-Garten und Feldgewächsen, mit geringen Unkosten mit der Hülff Gottes zuhelffen, und von Ungezieffer zu praeservieren, und zusäubern, sondern auch wie nach den influentiis deß Gestirns Sonn und Monds, zu rechter Zeit, dem Liecht nach, zu düngen, säen, pflantzen, erndten, und zu bawen sey, zu finden. Hiebevor von M. Joanne Colero, zwar beschrieben, jetzo aber, auff ein Newes in vielen Büchern mercklich corrigirt, vermehret und verbessert, in Zwey Theil abgetheilet und zum Ersten mahl mit schönen Kupfferstücken, Sampt vollkommenem Register in Truck verfertiget. Mainz 1645 – 51. 12 Vgl. Luthers Vorrede zu Menius, Justus, An die hochgeborne Furstin, fraw Sibilla Hertzogin zu Sachsen Oeconomia Christiana, das ist, von Christlicher Haushaltung. Mit einer schönen Vorrede D. Martini Luther. Wittenberg 1529. Als Quelle diente eine elektronische Version der Bayrischen Staatsbibliothek unter folgendem Identifier : daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/0005/bsb00054819/image_9; die zitierten Passagen wurden der heutigen Schreibweise und grammatischen Form angenähert.

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Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz durch Schule

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Melanchthon, heißt: Engagement für den Aufbau eines öffentlichen Bildungswesens. War im Mittelalter die Sache der Bildung weitgehend in der Zuständigkeit der Geistlichen, und diente sie vornehmlich dem Zweck der Nachwuchsrekrutierung für den klerikalen Stand, fordert nun Luther Bildung und Erziehung für alle Kinder, unabhängig von Geschlecht und sozialer Herkunft. Diese Aufgabe will er an die weltliche Obrigkeit delegieren, an die Ratsherren, die mit den Realverhältnissen vor Ort vertraut und um das Wohl ihrer Städte besorgt waren. An sie appelliert er, als Träger öffentlicher Bildungseinrichtungen zu fungieren13. Er will »dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«14 und die Kinder aller Schichten Unterricht erhalten, Knaben und Mädchen. Die Aufforderung zur Bildung ist auch an die Erwachsenen gerichtet. Bildung machte er zur Christenpflicht. Luther suchte zum Aufbau eines flächendeckenden Bildungswesens in allen Regionen Befürworter und leistungsfähige Träger zu gewinnen. Er baute darauf, dass den Ratsherren die These, dass von der Tüchtigkeit und Bildung der Bürgerinnen und Bürger die wirtschaftliche und kulturelle Blüte ihrer Städte abhinge, plausibel sei, zumal diese sich schon im 15. Jahrhundert überall dort, wo Schreib-und Rechenmeister ihren vorwiegend auf wirtschaftliche Erfordernisse hin abgestimmten Unterricht erteilten, bestätigt hatte. Luther rückte so indirekt auch die wechselseitige Bedingtheit von Wirtschaft, Bildung und Erziehung in den Fokus. Seine bildungspolitische Position und Initiative waren eine Konsequenz aus seinem Glaubensverständnis, nach dem alles Wirken für die Menschen in der Welt gottgefälliges Handeln, somit auch die Berufsarbeit Gottesdienst sei, nicht zuletzt die im Hauswesen und für »das ganze Haus« zu erbringenden Leistungen. Diese »sind lauter heilige Werke, denn du bist dazu berufen«15. Mit der Heiligung des Berufs hat die Reformation ein kollektiv wirksames Motiv für eine vita activa erzeugt, ein Vorgang, auf den Max Weber bekanntlich seine – wenn auch nicht unbestritten gebliebene – These von der Entstehung des Kapitalismus gestützt hat. Die kurze Tour d’Horizon ermöglicht es, die Genese des wirtschaftlichen Denkens und Handelns nachzuzeichnen und auch plausibel zu erklären, weshalb über eine erstaunlich lange Zeitspanne der Gedanke einer professionellen Vermittlung wirtschaftlicher Kompetenzen durch die öffentliche Schule nicht aufkam. Sie macht evident, dass zunehmende Komplexität der Verhältnisse Dynamik in den historischen Prozess bringt und nach fortschreitender Differen13 Vgl. An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, in: Calwer Luther-Ausgabe, herausgegeben von Prälat D. Wolfgang Metzger, Bd. 4, Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit. München und Hamburg 1965, S. 151 – 189. 14 A. a. O., S. 151 15 Zitiert nach: Kurt Aland: Lutherlexikon. Berlin 1956, S. 41.

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Leonhard Friedrich

zierung des gesellschaftlichen Systems verlangt. Sie bringt ebenfalls zutage, dass immer komplexer werdende Lebens- und Arbeitsverhältnisse Anlass geben, Schritte zur Binnendifferenzierung pädagogischer Institutionen oder gar zur Umstrukturierung des Bildungswesens insgesamt zu unternehmen. Ein geradezu exemplarischer Beleg für gesellschaftliche Dynamik wie auch für bildungspolitische Initiativen in deren Gefolge ist die Verlagerung des wirtschaftlichen Kompetenzerwerbs von der Familie hin zur Schule. Anhand der Darstellung der drei Schulversuche kann dann auch deutlich werden, dass Bildung selbst als ein höchst dynamisierender und differenzierender Faktor der sozialen und kulturellen Entwicklung wirkt.

2.

Erhard Weigels Werk- und Tugendschule: mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht als Basis moralischer und pragmatischer Erziehung?

Als der Mathematiker, Astronom und Techniker Erhard Weigel (1625 – 1699), Professor und dreimaliger Rektor der Universität Jena, die von ihm konzipierte »Werk- und Tugendschule« 1684 in seinem Hause einrichtete, konnte er neben weitreichenden wissenschaftlichen Interessen und Kompetenzen reiche Erfahrungen aus unterschiedlichen Lebensbereichen einbringen, die dem Schulprojekt zugutekamen. Er kannte wirtschaftliche Not, musste – nach dem Tod des Vaters – als Schüler und Student durch Nachhilfestunden mitverdienen helfen; auch wusste er um die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, denn seine Familie bekam sie schmerzlich zu spüren – sie waren aus Glaubensgründen gezwungen, ihre Heimatstadt Weiden zu verlassen. Nach seiner Berufung auf die Professur für Mathematik an der Universität Jena im Jahre 1653 hatte Weigel zugleich das Amt des Alumnats-Inspektors inne und in dieser Funktion war er mit den an den Studenten erkennbaren Folgen des langen Krieges, einem allgemeinen geistigen und moralischen Niedergang, konfrontiert. Er erlebte im neuen Umfeld aber auch Aufbruchsstimmung, den kollektiven Willen – trotz der starken Dezimierung der Bevölkerung, der desolaten Verhältnisse in der Landwirtschaft, im Finanz- und Gesundheitswesen, in der Verwaltung und in den Schulen – , die Verheerungen zu beseitigen, zukunftweisende Entwicklungen einzuleiten und das Land zu konsolidieren. Für die nötigen pädagogischen Reformen kamen beispielgebende Impulse aus dem Herzogtum Sachsen-Gotha, vorbereitet durch Ratke und Comenius, ausgearbeitet von Andreas Reyher. Im Herzogtum Sachsen Weimar hatte der schulreformerisch aktive Theologe Johannes Kromayer Perspektiven für ein effektives Unterrichtswesen entwickelt. Vor dem Hintergrund der herausfordernden Zeitverhältnisse und eines sich

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regenden reformwilligen Geistes werden auch die pädagogisch ambitionierten Initiativen von Erhard Weigel verständlich. Bereits in einer seiner ersten Schriften, die dem »Großen Kometen« von 1664/65 gilt, brachte er zum Ausdruck, mit seiner universitären Tätigkeit von Anfang an auch die Volksbildung zu seiner Sache zu machen. Weigel erstrebte eine Neuausrichtung des Bildungswesens und wies diesem die allgemeine Aufgabe zu, »dasjenige, was im menschlichen Leben, so wohl zur ewigen als zeitlichen Wohlfahrt zu practiciren vorkomt, notwendig und nützlich ist«16, zu vermitteln und die Heranwachsenden zu einer diesem Zweck entsprechenden Lebenspraxis zu befähigen. Wer – wie Weigel – mit 59 Jahren und zudem als Außenseiter sich auf das Wagnis einlässt, ein Schulkonzept zu erproben, das mit dem Anfangsunterricht einsetzt und in einer weiteren Versuchsphase die Arbeit mit älteren Schülern fortführt, nimmt sein pädagogisches Anliegen zweifellos ernst. Es erscheint plausibel, wenn er »das Schulwesen [als] das vornehmste Stück«17 im Gefüge der Gesellschaft bezeichnet; nach Weigels Metapher ist es die eigentliche Wurzel des Baums Gemeinwesen. Um die Voraussetzungen für eine solide Bildung zu schaffen, will er zeitig die Wurzel kräftigen, indem er die im frühen Alter vorhandene spontane Lernfreude der Kinder nutzt und für sie und mit ihnen vom fünften/sechsten Lebensjahr an einen naturgemäßen und anschaulichen Unterricht in spielerischer Form praktiziert. Dafür entwickelt er attraktives Inventar und Lernmaterial18, das ihrem Bewegungs- und Aktionsbedürfnis Rechnung trägt. Er macht durch bauliche Maßnahmen Schule für sie zu einem »Spiel- und Freudenhaus«19. Er verschafft – wie andere zeitgenössische Reformer auch – den Realien, die in der Schule des Mittelalters vernachlässigt worden sind, wieder Geltung, ähnlich der, die sie im Lehrplan der Antike einst hatten. Das Fehlen der Realien im offiziellen Curriculum des etablierten öffentlichen Schulwesens kann – wie neuere Studien zur städtischen Bildungslandschaft bestätigen – teilweise durch auf gewerbliche Bedürfnisse hin ausgerichtete lokale Winkelschulen kompensiert werden.20 Das Fach Wirtschaft zählt Weigel allerdings nicht zu den Realien, aber er hält es für unerlässlich, dass die Schule zum 16 Vgl. Fortsetzung des HimmelsSpiegels, § 7, in: H. Schüling (Hg.): Erhard Weigel, Gesammelte pädagogische Schriften. Gießen 1970 (Abk.: nach Schüling), S. 4. 17 Vgl. Extractio Radicis, nach: Schüling, S. 61, auch a.a.O., S. 154. 18 Vgl. z. B. Kurtzer Entwurff, nach: Schüling, S. 65 f., auch Anm. 30), , S. 216; Leonhard Friedrich: Pädagogische Perspektiven zwischen Barock und Aufklärung. Die Pädagogik Erhard Weigels, in: Reinhard E. Schielicke/ Klaus Dieter Herbst/ Stefan Kratochwil: Erhard Weigel – 1625 bis 1699. Barocker Erzvater der deutschen Frühaufklärung. Frankfurt am Main 1999, S. 54 ff. 19 Vgl. Weigel: Wegweiser zu der Unterweisungs-Kunst, nach: Schüling, S. 138. 20 Vgl. dazu: Thomas Töpfer : Die »Freyheit« der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600 – 1815. Stuttgart 2012.

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Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten, deren es zum Aufbau wirtschaftlicher Kompetenz bedarf, einen grundlegenden Beitrag leistet, zumal die Ökonomie über die Gütererzeugung der Hauswirtschaft schon lange hinausgewachsen ist, z. B. die Produktion von Textilien. Sie erfolgt bereits damals in einem arbeitsteiligen Verbundsystem, an dem Landwirte, die Rohstoffe wie Hanf und Waid lieferten, und Weber, Färber und Heimarbeiter mit spezialisierter Zuarbeit beteiligt sind; in der Familie können längst nicht mehr alle für diese Teiltätigkeiten erforderlichen Fähigkeiten erworben und also auch nicht mehr alle Leistungen erbracht werden. Die damals bereits bestehenden Vertriebsstrukturen, deren Aufbau eine jede fortgeschrittene Produktionsweise verlangte, sind ein Kennzeichen des Wandels. Der Bergbau, der immer außerhalb der Familie betrieben werden musste und nur in wohlorganisierter Kooperation zu bewältigen ist, passt ohnehin nicht zum Modell der Hauswirtschaft. Insofern nimmt er eine Sonderstellung ein und kann bereits auf eine beeindruckende Geschichte zurückblicken. Als ein weiterer für den Wandel der Wirtschaftsstruktur erheblicher Faktor erweisen sich die fortgeschrittenen mechanischen Handwerke des 17. Jahrhunderts. Sie stellen für überkommene und neue Wirtschaftszweige Gerätschaften bereit, die zur Erleichterung der Arbeit, Erhöhung der Produktivität, außerdem zu größerer Sicherheit beitragen und indirekt die allgemeinen Lebensbedingungen verbessern helfen. Weigel selbst leistet zu dieser Entwicklung einen beachtlichen Beitrag. Als Techniker konstruiert er – neben seinen zahlreichen Himmelsgloben – Hebewerkzeug und Rüstzeug, eine Feld- und Wasserkutsche und mancherlei Hausgeräte.21 Sein eigenes Haus, das er mit einer vielfältigen, hie und da auch kuriosen Technik ausgestattet hat, wird zu den Sieben Wundern Jenas gezählt. Noch im fortgeschrittenen Alter ist ihm daran gelegen – beflügelt durch das Interesse, das der Kaiser in Wien an seinen technischen Produkten bekundet – die »gemeinnützige[n] Kunst-Erfindungen«22 fortzusetzen. Hier gilt es, das Adjektiv gemeinnützig zu beachten; es verweist auf ein Grundmotiv und zugleich auf einen Hauptzweck seiner pädagogischen Be21 Vgl. Erhard Weigel: Vorstellung der Kunst- und Handwercke/nebst einem kurtzen Begriff des Mechanischen Heb- und Ruest-Zeugs. Samt einem Anhang/welcher Gestalt sowohl der gemeinen Leibes=Notdurfft/als des Gemueths-Wohlfahrt und Gelehrsamkeit selbst/ durch die Wissenschaft der Mechanischen Künste geholffen werden möge. Auf Veranlassung des im Mertzen dieses Jahrs erschienenen Neuen Cometen unmaßgeblich entworffen. Jena 1672; ders., Würckliche Probe der mit einem bequemen SchiffNutzen vermehrten FeldKutsche wie auch eines gar leichten HausKütschleins. Jena 1674; ders. , Neu-erfundener Hauß-Rath sowohl zur Nothdurfft als zur Lust und Bequemlichkeit zu gebrauchen. Jena 1672 22 Vgl. Ders.: Vorrede, in: Wienerischer Tugend-Spiegel: Darinnen Alle Tugenden nach der Anzahl Derer gleich so vielen Festungs-Linien und Wercken Bey der … Käyserl. ResidenzStadt Wien … vorgestellet, und nebenst einer Mathematischen Demonstration von Gott wider alle Atheisten, Zum Grund der Tugenden, beschrieben und mit Kupffern vorgebildet werden. – Worauf ›Aretologistica, die Tugend-übende Rechen-Kunst‹ sich beziehet. Nürnberg 1687.

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strebungen und seiner wissenschaftlichen Arbeit – Gemeinnützigkeit und Gemeinwohl. Die beiden Begriffe geben die Perspektive vor, aus der er den Zweck der Erziehung und Bildung bestimmt und als eine erstrangige und übergeordnete Agenda für die ganze Gesellschaft versteht, für die er auch die Fakultäten entsprechend ihrer jeweiligen Forschungsprofile in der Pflicht sieht. Theologie, Jurisprudenz, Ethik und Politik für die Aufgabe, das Bewusstsein von Geschichte und Tradition aufrechtzuerhalten und damit für jene Kontinuität zu sorgen, deren es zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und friedlichen Zusammenleben bedarf. Wissenschaften wie Medizin, Physik und Mathematik sollen Wissen und Können zur Meisterung der sich wandelnden Anforderungen in der dynamischer werdenden Welt erzeugen und entwickeln. Als Disziplinen mit stetigem Zugewinn an neuen Erkenntnissen kommt ihnen die Rolle des eigentlichen Motors für den zivilisatorischen Fortschritt zu. Mit seiner auf dem Nützlichkeitsprinzip beruhenden Argumentation nähert Weigel sich dem fragwürdigen Gedanken purer utilitaristischer Indienstnahme von Wissenschaft, wenn zu deren erster Pflicht wird, zum »ewigen« wie zum »zeitlichen« Heil einen Beitrag zu leisten. Ein pragmatischer Begriff von Wissenschaft, der für alle Disziplinen in Anspruch genommen wird und ihnen – einschließlich der Theologie – den Status einer angewandten Wissenschaft zuschreibt. Dass in Weigels Verständnis von Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit das Ökonomische mitgedacht ist, weil es eine unabdingbare Voraussetzung für alltägliche wie für hehre Ziele ist, gibt er unmissverständlich zu erkennen. Er unterstreicht damit indirekt, dass ökonomische Erziehung und Bildung eine fundamentale Aufgabe für die Gesellschaft erfüllt. Seine Aussagen dazu sind jedoch meist eigentümlich verwoben mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen oder gehen mit nicht immer luziden Bemerkungen zur Funktion der Mathematik einher. Diese erweisen sich in formaler Hinsicht wie auch im Hinblick auf die Anwendung aber durchaus als konsequent. Sein Credo, die Mathematik verhelfe zu Grundeinsichten, zu nützlichen Kenntnissen und Fertigkeiten für die Lebenspraxis, kann schwerlich erschüttert, sein Urteil, dass zu lange schon die Realfächer und die »friedsame Mathesi« durch die »zancksüchtigen Sprech-Künste«23, vor allem durch das übergewichtige Latein, weitgehend verdrängt worden seien, nicht leichthin hinweggewischt werden. Das Faktum nannte er »Mißbrauch«24 und brandmarkte die damit einhergehende Neigung zum Dünkel – »die Stoltzheit wächst mit Wachsthum des Lateins«.25 Hochgeschätzt wurden von ihm hingegen die Realwissenschaften und ihre 23 Vgl. Weigel: Wegweiser zu der Unterweisungs-Kunst, nach Schüling, S. 135. 24 Vgl. Weigel: Specimen Deliberationis Mathematicae, nach Schüling, S. 113, vgl. auch ders., Erleuterung des unmaßgeblichen Schulen- und Calender-Vorschlags, a.a.O., S. 215. 25 Vgl. Ders.: Die Rolle der Schul-Laster, nach Schüling, S. 164 f.

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Vertreter, nicht minder auch die Leistungen derer, die sich auf »Kunst und Gewerb, dadurch das Land erbauet und erhalten wird, verstehen.«26 Das sind Berufsgruppen, deren Heranbildung eines der Ziele seiner »Werk- und Tugendschule« ist, von ihm gelegentlich auch »Kunst-(=Könnens-[d. Verf.]) und Tugendschule« genannt. In Weigels pädagogischem Konzept hat die Mathematik eine Sonderstellung inne. Er versteht sie als die Grundwissenschaft, die gleichsam den Keim zur Entwicklung von »Kunst« und auch von Tugend legt, als Antrieb und Werkzeug bei der Herausbildung pragmatischen Könnens wie auch des tugendhaften Wollens fungiert. Mit dieser doppelten Zielsetzung, der Entwicklung und Förderung des Könnens wie auch des Wollens, geht es ihm allerdings um weit mehr als den Erwerb von Anwendungswissen und praxisdienlicher Fertigkeit – so sehr er auch deren Nutzwert betont. Schon den Heranwachsenden will er Zugang zur »rechenschaftlichen Vernunft«27 verschaffen und sie mit Hilfe der Mathematik befähigen, das, was diese besondere Vernunft humanem Denken und Handeln in allen Lebensbereichen »dictirt«28, zu erkennen und einzulösen. »Rechenschaftlichkeit« und »rechenschaftliche Vernunft« stehen für eine komplexe und übergreifende Kategorie, deren semantisches Spektrum von der versierten Rechenfertigkeit bis zur Bereitschaft, Rechenschaft für das eigene Tun abzulegen, reicht. Es geht Weigel darum, dass alle dieser Begrifflichkeit impliziten Qualitäten entwickelt werden und auch zur Geltung kommen. Dazu bedürfe es sowohl des Verstandes und des Gedächtnisses, als auch der Entschlusskraft und des guten Willens. Wie aber können für »rechenschaftliches« Denken und Handeln relevante Vermögen entwickelt und verfügbar gemacht werden? Im Blick auf den Verstand und das durch ihn zustande gebrachte Wissen lautet Weigels Antwort: »Da hilfft das Wissen nichts, wo nicht darzu die Übung kommt, wo man es nicht sich angewehnet hat«29, das heißt, sie müssen durch Übung und Gewöhnung zur zweiten Natur geworden sein. Zweifellos gelingt es weit leichter, Verstand und Gedächtnis zu schulen, als Entschlusskraft und guten Willen zu entwickeln; gerade der Wille – sagt Weigel – ist nicht leicht »zur Fertigkeit des guten Thuns zu bringen«30. Diese aber ist der entscheidende Faktor für moralisches und gemeinnütziges Handeln, und ohne Mitwirkung von Menschen guten Willens kann Gemeinsinn nicht aufkommen, dem Gemeinwohl nicht gedient und ein wahres Gemeinwesen nicht aufgebaut werden. Deshalb besteht eine wesentliche Vgl. Ders.: Fortsetzung des HimmelsSpiegels, nach Schüling, S. 3. Vgl. Ders.: Specimen Deliberationis Mathematicae, nach Schüling, S. 105. Vgl. ebda. Vgl. Weigel: Von der Nothwendigkeit der Angewehnung dessen, was man in gerechter Maß und Weiß zu thun hat, über das, daß man die Wissenschafft davon gelernet hat; nach Schüling, S. 228. 30 Vgl. a.a.O., S. 104 26 27 28 29

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pädagogische Aufgabe darin, die Heranwachsenden in ihrem Innersten anzusprechen, sie in ihres »Hertzens-Grund« für die »Angewöhnung ihres Willens zu dem [G]uten«31 zu gewinnen und diesen zu habitualisieren. Weigel geht in seiner Argumentation davon aus, dass die »Rechenkunst« gleichermaßen wichtig für die Entwicklung des Willens wie für die Schulung des Verstandes ist. Zum einen trainiert sie die Fähigkeit, Mengen zu strukturieren, ihre Mehrung und Minderung einzuschätzen, sie zu vervielfachen oder zu teilen, bzw. aufzuteilen und auch einzuteilen. Zum anderen vermag sie – wie Weigel schon im Titel seiner »Aretologistica« andeutet – eine »Tugend-übende«32 Funktion zu erfüllen. Diese beruht – wie die innere Stimmigkeit der Mathematik – auf einem festen göttlichen Grund, aus dem auch »die Quelle der Tugenden […] entspringt.«33 So leitet Weigel aus der Mathematik sowohl das quantitative Maß wie auch das qualitative, das moralische Maß, ab. Dass die »Rechenkunst« im Bereich des Ökonomischen unentbehrlich ist, liegt auf der Hand. Ökonomisches Denken und Handeln setzen Qualifikationen voraus – z. B. planen, vorausschauen, einteilen, Vorsorge treffen können –, die eng mit mathematischen Fähigkeiten zusammenhängen. Weigel folgert und fordert also zu Recht, dass alle, die hauswirtschaftlich oder kaufmännisch tätig sind, sich Kenntnisse in der »Rechenkunst« aneignen sollen, denn diese verhülfen dazu »sparsam und haushältig zu wirtschaften«34. Kurzum: Haushalten, das ist für ihn »rechenschaftliche« Prüfung und daraus ergebe sich, dass der Aufbau wirtschaftlicher Kompetenz mit der Schulung der Rechenfertigkeit seinen Anfang nimmt. Ein gewisses Bild von der Unterrichts- und Erziehungspraxis in Weigels Werk- und Tugendschule lässt sich aufgrund etlicher von Weigel selbst verfasster Berichte, eines Berichts von seinem Mitarbeiter Johannes Meyer und einer Stellungnahme des Leipziger Frühaufklärers Christian Thomasius, der Ende 1689 oder Anfang 1690 Weigels Schule in Jena besuchte, gewinnen. Thomasius begleitet den Versuch mit kritischer Sympathie und zeigt sich überzeugt, dass

31 Vgl. a.a.O., S. 105 32 Vgl. Weigel: Aretologistica, die Tugend-u¨ bende Rechen-Kunst: Darinnen nicht allein die allgemeine Theorie der Zehl- und Messbaren Dinge wie auch der Verstands- und WillensWu¨ rckungen daru¨ ber kurz beschrieben: sondern auch die Rechen-Prax wie man zahlma¨ ßig rechnen und dadurch die Tugenden der Jugend fertig angewo¨ hnen mo¨ ge mit gewissen Regeln angewiesen wird. Nu¨rnberg 1687. 33 Vgl. Weigel: Wienerischer Tugend-Spiegel: Darinnen Alle Tugenden nach der Anzahl Derer gleich so vielen Festungs-Linien und Wercken Bey der Weltgepriesenen nunmehr zum andernmal so tapffer wider Türck und Tartarn defendirten Käyserl. Residenz-Stadt Wien Zu immerwährendem Gedächtnüß/ vorgestellet/ und nebenst einer Mathematischen Demonstration von Gott wider alle Atheisten/ Zum Grund der Tugenden/ beschrieben und mit Kupffern vorgebildet werden. Nürnberg 1687, in: Sammlungen digital.staatsbibliothekberlin.de, Scanseite 267. 34 Vgl. Weigel, Kurtzer Entwurff der freudigen Kunst= und Tugend= Lehr, in: Schüling, S. 69.

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derzeit kaum eine andere Methode derjenigen Weigels überlegen sei35. Eine Vorstellung, wie dort Vorarbeit bzw. ein Beitrag zu wirtschaftlicher Bildung geleistet wurde, kann man sich näherungsweise verschaffen. Anhalt dafür bieten neben ausführlichen Beschreibungen der Lehrweise auch Ratschläge Weigels an die Eltern, wie sie die schulische Bildungsarbeit unterstützen können, z. B. wie das, was im Unterricht über die »Zahlen und Figuren – darinnen aller Grund der Weisheit stecket«36 gelernt worden ist, auf entsprechende Situationen in Haus und Hof oder bei Tisch zu beziehen und anzuwenden sei; auch etwa seine Empfehlung, den Kindern für erfolgreich gelöste kleine Vermessungsaufgaben einen bescheidenen Lohn zu zahlen, damit sie zur Sparsamkeit angeregt werden und »mit Geld haushaltig schalten und umgehen lernen«37. Aus einer tiefen Skepsis gegenüber der traditionellen Lernschule mit ihrem Verbalunterricht erwuchs Weigels Bestreben, das Wissen-Einpauken abzulösen durch einen aktiven Unterricht an einem Lernort, der als Trainingsstätte verstanden wird, denn »anders [.] als durch vielfältige Übungen und durch lange Angewöhnung«38 könne das erworbene Wissen nicht zum geistigen Eigentum werden. Deshalb betont er, dass die Willensbildung keineswegs weniger nötig sei als die Wissensvermittlung; ohne eine solche werden sich Eigenschaften wie Selbstbeherrschung und Ausdauer nicht herausbilden. Zur Wirtschaftserziehung hat Weigel nur indirekt, dennoch nachhaltig beigetragen. Seine diesbezüglichen Leistungen bestanden nicht nur darin, dass er den mathematischen Unterricht besonders förderte und auf diesem Wege den Heranwachsenden half, die für wirtschaftliches Haushalten basalen Teilkompetenzen aufzubauen, sondern, dass er den Geist der Ökonomie beförderte und mit seinem aktivierenden Unterricht Qualitäten herausbildete, die zu produktiver wirtschaftlicher Tätigkeit hindrängten. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang seine Tugenderziehung, mittels der er einen Wertmaßstab setzt, Gemeinsinn und gemeinnütziges Handeln zu einem hohen Ziel und Gemeinwohl zum Kriterium erhebt, sodass dem Wirtschaftsstreben von vornherein eine humane Richtung gewiesen ist. Das Kriterium Gemeinwohl, das der in Weigels Schule angestrebten Erziehung zu Berufstüchtigkeit, Verantwortungsbewusstsein und solidarischer Ge35 Vgl. Rausch, Alfred, Christian Thomasius als Gast in Erhard Weigels Schule zu Jena. Jena 1895, in: Richter, Gustav (Hg.): SYMBOLA DOCTORUM JENENSIS GYMNASII IN HONOREM GYMNASII ISENACENSIS COLLECTA. Part Posterior. Wissenschaftliche Beilage zu dem Jahresbericht des Grossh. Gymnasiums zu Jena 1895, S. 60 – 68, bes. 67 f., nach Digitalisat unter : http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical [19. 05. 2014]. 36 Vgl. Weigel: Unmaßgebliches Gutachten, wie die Eltern und Verpfleger sich zu Haus verhalten sollen, nach Schüling, S. 97. 37 Vgl. a.a.O., S. 99. 38 Vgl. Weigel: Von der Nothwendigkeit der Angewehnung, nach Schüling, S. 227.

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sinnung zugrunde lag, hat sein Schüler, der bedeutende Staatstheoretiker und Rechtsphilosoph Samuel Pufendorf, in Anlehnung an den Naturrechtsgedanken näher bestimmt und in einer umfassenden Rechtstheorie verankert. Zu dieser Grundlegung hatte Weigel – worauf Leibniz seinen Leipziger Universitätslehrer Jacob Thomasius ausdrücklich hingewiesen hat – bereits wichtige Anstöße in seinen Vorlesungen gegeben.39 Pufendorfs Überlegungen zum Gemeinwohl gelten sowohl dem Zustandekommen eines auf das »gemeine Beste« hin ausgerichteten kollektiven Bewusstseins, als auch der Mobilisierung des kollektiven Wollens, zudem der Frage nach den Bedingungen, unter denen der Zusammenschluss vieler tatsächlich zu einer Solidargemeinschaft führen und die Wohlfahrt aller ihrer Mitglieder befördern kann.40 Weigels pädagogisches Grundanliegen, die moralische Erziehung mit dem Erwerb von Wissen und praktischen Fähigkeiten einhergehen zu lassen, findet sich mehr als zwei Jahrhunderte später in einer gewissen Variante in Kerschensteiners Konzept der Arbeitsschule. Mit diesem erstrebte er eine Lernpraxis, die sich an konkreten Aufgabenstellungen orientiert, mit praktischer Tätigkeit verbunden und um eine sachgerechte und gewissenhafte Ausführung bemüht ist, die indirekt Moralität zu konstituieren vermag. Als Stadtschulrat Münchens forcierte er den Ausbau der Fortbildungsschulen41, wirkte damit für die Idee einer allgemeinen Berufsschule, wie sie dann auf der Reichsschulkonferenz 1920 mit dem Ziel der Berufstüchtigkeit und der Erziehung zu staatsbürgerlicher Gesinnung entworfen wurde.42 Im Prinzip sollten hier wie bei Weigel die Voraussetzungen für eine humane Bildung für jeden Einzelnen wie 39 Vgl. Leibnitz’s Dissertation De principio individui herausgegeben und kritisch eingeleitet von Dr. G. E. Guhrauer. Berlin 1887. In dem dort vollständig abgedruckten Brief des 17jährigen Leibniz an Thomasius vom 2. September 1663 heißt es, dass Pufendorf »seine ›Elementa jurisprudentiae‹ [gemeint sind die 1660 in Haag erschienenen »Elementa jurisprudentiae universalis« (d. Verf.)]aus der handschriftlichen Euklideischen Ethik unseres Weigel beinah ganz entlehnt und ausgearbeitet haben soll« (a.a.O., S. 35). 40 Vgl. Samuel Pufendorf: De iure naturae et gentium libri octo. 1672; für den Nachweis herangezogen wurde die deutsche Übersetzung »Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte / mit des … Johann Nicolai Hertii, Johann Barbeyrac u. a. hochgelehrten Männern außerlesenen Anm. erl. u. in die teutsche Sprach übers.«, Franckfurt a.M 1711, 2 Bde., im Internet zugänglich unter : http://digital.ub.uni-duesseldorf.de; auch zugänglich unter urn:nbn:de. Online-Ausgabe der Düsseldorfer Universitäts- und Landesbibliothek, 2009, auch erreichbar mit Hilfe der Suchanfrage: urn:nbn:de:hbz:061:1 – 5824; nähere Ausführungen zu den angesprochenen Fragen enthält das 2. Kap. des 7. Buches (Bd. 2, bes. S. 452 – 465). 41 Vgl. z. B. Gerhard Wehle: Georg Kerschensteiner. Impulse der Reformpädagogik für die Schule von heute. Schule/Wirtschaft, Sonderreihe Heft 15. Düsseldorf 1986, bes. S. 35 – 49: Georg Kerschensteiner – Der Organisator des dualen Systems der Berufsausbildung in München; Ders.: Georg Kerschensteiner (1854 – 1932), in: Winfried Böhm/ Walter Eykmann (Hg.): Große bayerische Pädagogen, Bad-Heilbrunn 1991, bes. S. 174 ff. 42 Vgl. z. B. Klaus Kümmel (Hg.): Die schulische Berufsbildung 1918 – 1945. Quellen und Dokumente zur Geschichte der Berufsbildung in Deutschland. Köln / Wien 1980, S. 65.

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auch die Voraussetzungen für ein leistungsfähiges, die Gesellschaft in ihrem Bestand sichernden Wirtschaftssystems verbessert werden. Weigels Projekt behält also eine gewisse Aktualität, offen aber ist die Frage und darin besteht die eigentliche Herausforderung, wie heute angesichts der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung in der globalisierten Welt und ihres vernetzten, schwer zu durchschauenden und nur begrenzt steuerbaren Wirtschaftssystems die Aufgabe von Erziehung und Bildung überhaupt zu lösen ist.

3.

Die »Rosenschule« von Joachim Georg Darjes: Berufsvorbereitung durch Unterricht und Schule

Im Januar 1762 eröffnete der Theologe, Philosoph, Rechtswissenschaftler und Pionier der Kameralwissenschaft Joachim Georg Darjes (1714 – 1791), seit 1744 Professor für Moral und Politik an der Universität in Jena, die von ihm konzipierte und von der Freimaurerloge43 protegierte »Rosenschule«. Diese war auf seinem unmittelbar vor der Stadt gelegenen Camsdorfer Freigut44 untergebracht. Mit ihr, einer Art Industrieschule, – Darjes selbst präferierte die Bezeichnung Realschule – wollte er die »Erziehung armer Kinder« und deren ökonomische Qualifizierung befördern. Seine schulreformerische Initiative war Teil eines im Rahmen seiner Tätigkeit in zahlreichen Sozietäten entstandenen volksaufklärerischen Gesamtplans, der – ähnlich der Programmatik, die von der »Teutschen Gesellschaft« zur Gründung einer »Ökonomischen Gesellschaft« entworfen worden ist, – auf die Erziehung zu »Sittlichkeit [.] Industrie und Häuslichkeit«45 abzielte, das bedeutete im Verständnis der Zeit: Erziehung zur Arbeit, Qualifizierung für das Berufs- und Erwerbsleben. Darin sah auch der Reformer Darjes eine Aufgabe von hoher Priorität. Die Studierenden strömten in seine Lehrveranstaltungen zuhauf. Seine sokratische Lehrweise war attraktiv und man schätzte überaus seinen kommunikativen Stil im persönlichen Gedankenaustausch – die tägliche Anzahl seiner Hörer in Jena soll täglich einige hundert bis tausend betragen haben. Ein Abglanz seines guten Rufs zeigt sich im Urteil von Eduard Zeller, der fast ein Jahrhundert später in seiner »Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz« feststellt, dass Darjes »in jener Zeit einen 43 Es handelt sich um die Johannisloge »Zu den drei Rosen«; vgl. auch Ulrike Lötzsch: Der Kameralist Joachim Georg Darjes (1715 – 1791) als Schul- und Gesellschaftsreformer (Diss.) – eine von mir betreute, von Frau Lötzsch der Fakultät für Sozial-und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität im WS 2013/14 vorgelegte Studie, Abk. Lötzsch, Der Kameralist. 44 Darjes hatte es von seinem Schwiegervater Hermann Friedrich Teichmeyer (1685 – 1744), Professor für Botanik, Chirurgie und Anatomie an der Universität Jena, geerbt. 45 Zit. nach Lötzsch, Der Kameralist, S. 113 f.

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bedeutenden Namen« hatte und »als Universitätslehrer […]sich eines Beifalls erfreute, wie ihn oft die größten Philosophen nicht erlangten.«46 Darjes folgte in seinem Bestreben, für den Fortschritt der Wissenschaft zu arbeiten und deren Erkenntnisse für die Verbesserung der Lebensverhältnisse zu nutzen, einer Maxime, der sich schon die Frühaufklärer verpflichtet fühlten – besonders Christian Wolff, der großen Einfluss auf Darjes’ Denken ausübte. Obschon der Philosoph Wolff auf die Schulung zu begrifflicher Klarheit und stringenter Argumentation äußerst Bedacht hatte, war ihm gleichermaßen ein Anliegen, zur »Beförderung der gemeinen Wohlfahrt«47 beizutragen; er plädiert – wohl angeregt durch Tschirnhaus – dafür, die Wissenschaft solle auch die Erwerbszeige »Landwirthschafft, Commercien und Handthierungen«48 zu ihrem Gegenstand machen. »Mein Absehen gehet dahin, dass ich ein Licht in dem Acker- und Garten=Bau anzünde«. Er selbst führte bereits 1717 Versuche mit Saatgut verschiedener Getreidearten durch und war bestrebt, an der Verbesserung der Agrarwirtschaft und überhaupt an gemeinnützigen Projekten mitzuwirken. Von einem derart umfassenden Wissenschaftsverständnis geprägt war das Anregungs- und Einflussfeld, in dem sich Darjes Denken herausbildete. Seinem vielseitigen geistigen Interesse gemäß erforschte und bearbeitete er mehrere grundlegende Disziplinen und gewann einen weiten Horizont; durch seine Aktivitäten in verschiedenen Sozietäten kam er in enge Berührung mit zahlreichen Praxisfeldern und erwarb sich dort einen reichen Erfahrungsschatz. Konsequent erscheint es daher, dass er sich der Kameralwissenschaft zuwandte. In seiner Entscheidung dafür sah er sich bestärkt durch seine Hörer. Bei ihnen fanden seine Vorlesungen, gerade auch die zur Sittenlehre und Politik, weil er sie in erhellender Weise auf praktische Probleme anzuwenden wusste, starke Resonanz. Die Kameralwissenschaft hat per se engen Bezug zu wichtigen Bereichen der Lebenswirklichkeit: zu ihrem Gegenstand gehören – nach Darjes – die Landwirtschaft, die Stadtwirtschaft, die Polizeiwissenschaft (diese ist zuständig für die Fragen des öffentlichen Lebens und aller gesellschaftlichen Institutionen) sowie das Finanz- und Steuerwesen; sie greift zudem aus auf rechts-und staatwissenschaftliche Fragestellungen wie auch auf solche der Praktischen Philosophie und auf die Erziehungswissenschaft.49 Die neue Disziplin, eine Art 46 Vgl. Eduard Zeller : Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, München 1873, S. 280. 47 Vgl. Christian Wolff: Erläuterung der Entdeckung der wahren Ursach von der wunderbahren Vermehrung des Getreydes …, Franckfurt und Leibzig 1730, S. 3. 48 Vgl. Christian Wolff: Entdeckung der Wahren Ursache von der wunderbahren Vermehrung Des Getreydes …, Halle 1718, Vorrede(3). 49 Vgl. z. B. Justus Christoph Dithmar : Einleitung in die oeconomischen Policey- und Cameralwissenschaften, Franckfurt an der Oder 1731; sie ist eine der frühesten cameralistischen Veröffentlichungen und handelt z. B. im 5. Kap. »Von der Privat-Erziehung der Jugend, Schulen und Universitäten«.

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Querschnitt- oder Integrationswissenschaft, präsentiert sich als – wie keine andere – geeignet, zur Entwicklung und Wohlfahrt des Gemeinwesens beitragen zu können. Eine solche Bestimmung entspricht Darjes pragmatischem Wissenschaftsverständnis, zumal für ihn – wie er in seiner »Cameralwissenschaft« ausführt – »wahre Gelehrsamkeit« nur eine solche sein kann, »die sich bei den Menschen und in der menschlichen Gesellschaft nützlich beweist.«50 Diese Auffassung kommt zum Ausdruck in seinem Engagement in den Gesellschaften. Sie zeigt sich in seinen Kontakten mit reformerisch gesinnten Schulpraktikern aus der Realschulbewegung, vornehmlich mit solchen, denen die Fürsorge für die Armen ein Anliegen ist, wie z. B. dem Juristen Peter Graf von Hohenthal (1726 – 1794), der im Geiste August Hermann Franckes wirkte.51 Durch seine ökonomischen Studien – die erste Vorlesung über sein cameralwissenschaftliches Konzept hielt er im Wintersemester 1751/5252 – kam er in engere Verbindung mit dem Erfurter Ratsmeister Christian Reichardt, einem Pionier des Gartenbaus und der Landwirtschaft. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Darjes dessen Tochter Martha Friederica, ließ sich von seinem neuen Schwiegervater in Fragen der Ökonomie unterrichten53 und erweiterte die Erfahrungsbasis für sein neues wissenschaftliches Arbeitsgebiet. Zum fünften Band von Reichardts Handbuch »Land- und Garten-Schatz« schreibt er eine umfangreiche Vorrede, die einer Einführung in seine Kameralistik gleichkommt und in der er auch über vielfältige eigene Versuche zu Anbau und Düngung auf Äckern seiner kleinen Landwirtschaft berichtet.54 Sein Interesse am Gartenbau ist offensichtlich bereits in der Kindheit geweckt worden. Ein Hauptmann, der ihm nach seinem neunten Lebensjahr Unterricht in »Geometrie, Kriegs-Baukunst und Mechanik« erteilt und »einige Begriffe von dem Feldbau und von den Geschäften eines Gärtners« vermittelt, entfacht – wie aus einer autobiographischen Skizze zu ersehen ist – »unvermerkt eine Begierde zur Wirthschaft«55. Der Vater bemerkt den Eifer, verschafft ihm Gelegenheit, im Garten tätig zu sein und 50 Vgl. Joachim Georg Darjes: Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften: darinnen die Haupttheile sowohl der Oeconomie als auch der Policey und besondern Cameral-Wissenschaft in ihrer natürlichen Verknüpfung zum Gebrauch seiner academischen Fürlesung entworfen. Leipzig 17682, S. 8; Abk.: Kameralwissenschaften. 51 Vgl. Lötzsch: Der Kameralist, bes. S. 79 – 88. 52 Vgl. a.a.O., S. 292 53 Vgl. Joachim Georg Darjes: Einleitung in des Freyherrn von Bielefeld Lehrbegriff der Staatsklugheit, zum Gebrauch seiner Zuhörer verfertigt. Jena 1764, S. 34; Abk.: Staatsklugheit. 54 Vgl. Joachim Georg Darjes: Vorrede von der Verbesserung der Land-Wirthschaft zum Nutzen der herrschaftlichen Cammer, in: Christian Reichardt: Land- und Garten-Schatz. Von vieljähriger Nutzung der Äcker ohne Brache und wiederholte Düngung. Fünfter Theil, Erfurt 1754. Die Vorrede hat keine Seitenangaben. (Das 6-bändige Werk erschien 1753 – 1755). 55 Darjes, Staatsklugheit, S. 5 f.

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überträgt ihm die Aufsicht über diesen. Darjes’ Reminiszenz ist ein Verweis auf die Genese überdauernder Motivation. Vermutlich führt sie – in Verbindung mit dem, was der ob des Engagements des Sohnes erfreute Vater ihm zurückmeldet – an eine der Quellen seines pädagogischen Denkens und Wollens. Er selbst legt diese Deutung nahe: »die Lust zu diesem Geschäffte wurde vermehret, der junge Aufseher wurde gelobet«56. Ein für die pädagogische Grundhaltung der Epoche kennzeichnende Geste positiver Verstärkung, die – wie das Beispiel bestätigt – Interesse zu wecken und entsprechende Aktivitäten auszulösen vermochte. Zu Darjes’ pädagogischer Ambition gesellt sich das Wissen des Kameralisten, dass es zur Anhebung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer qualifizierten Ausbildung des Personals in Landwirtschaft, Gewerbe, Kommerz und Manufaktur bedarf. Dazu müssen die Anlagen der Heranwachsenden durch Erziehung stimuliert und entwickelt, durch Unterricht Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden. Als er 1761 beginnt, seinen auf eine Realschule hin ausgerichteten Plan auszuarbeiten, geht es ihm vornehmlich um die Bildung derjenigen, die später einmal in der Landwirtschaft arbeiten werden. Prinzipiell aber wies Darjes der Realschule die Aufgabe zu, »Menschen zum Nutzen der Wirtschaft, der Handwerker, der Kunst und der Kaufmannschaft«57 zu bilden. Daraus ergibt sich, dass die meisten Schulen Realschulen sein und die große Lücke, die zwischen Elementarschule und Gelehrtenschule bestand, schließen sollen. Gerade sie erscheinen ihm als die den gesellschaftlichen Anforderungen an den Mittelstand gemäßen Bildungsstätten. In diesen sei deshalb einer Lehrund Lernweise, die sich an der Erfahrung orientiert, der Vorzug zu geben, denn: aus der Erfahrung ließen sich die für die beruflichen Anforderungen nötigen Begriffe gewinnen wie auch die Maßstäbe, um das berufliche Tätigkeitsfeld, dessen Bedarf an Optimierung und die Möglichkeiten dazu beurteilen zu können. Dank ihrer gelinge es am besten, berufliche Fertigkeiten einzuschätzen, sich Können anzueignen und diese zu vervollkommnen.58 Den allgemeinen Zweck schulischer Bildung sieht Darjes darin, »die Menschen zum Nutzen der bürgerlichen Gesellschaft«59 tüchtig zu machen; hier geht es um eine Qualifizierung des Großteils der Bevölkerung für die Erwirtschaftung der Subsistenzmittel für alle. Als Ökonom weiß er, dass ohne deren Beitrag eine allgemeine Wohlfahrt nicht möglich ist. Um eine solche zu erreichen und dauerhaft zu sichern, bedarf es außer beruflichem Wissen und Können moralischer Qualitäten, in erster Linie der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Nach Darjes zeigen diese sich

56 57 58 59

Vgl. a.a.O., S. 6. Vgl. a.a.O., S. 194 Vgl. Darjes: Kameralwissenschaften, S. 395. Vgl. Darjes: Staatsklugheit, S. 191

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in dem Bemühen, »seine Kräfte zur Ausübung der Pflichten anzuwenden«60, d. h., sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Zum Zwecke des Aufbaus einer solidarischen Gesinnung muss also jede Schule – unabhängig von ihrer speziellen Aufgabe – dafür Sorge tragen, »das Herz der Menschen moralisch zu bilden«, zudem – auch das ist ein moralischer Anspruch – sollen die Heranwachsenden schließlich nicht nur befähigt werden, sich selbst zu ernähren, sondern möglichst viele sollen durch berufliche und unternehmerische Tüchtigkeit in die Lage kommen, auch für andere Verdienstmöglichkeiten zu schaffen.61 Darjes’ konzeptionellen Überlegungen zur Kameralistik und die damit einhergehenden pädagogischen Zielvorstellungen waren Anfang der sechziger Jahre so weit gediehen, dass er nun eine entsprechende Modellschule gründen konnte. Die Struktur der »Rosenschule« und die Gestaltung ihrer Erziehungsund Unterrichtsarbeit folgen seiner Klassifikation des Wirtschaftslebens. Gemäß dieser sollen berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die zur Verrichtung landwirtschaftlicher, gewerblicher und handwerklicher Tätigkeiten, für die Arbeit in Manufaktur und Fabrik erforderlich sind, entwickelt werden, wie auch die professionellen Kompetenzen für Haushalt und Küche. Neben der Vermittlung des nötigen Wissens sollen Arrangements getroffen werden, um zu praktischer Arbeit anzuleiten und Arbeitstechniken zu trainieren. Darüber hinaus hat Darjes das Erziehungsziel »moralische Wirtschaft« im Visier. Er versteht darunter die Erziehung zu einer pflichtbewussten Einstellung gegenüber dem Gemeinwesen und zur Verantwortung für das Gemeinwohl; leisten könne das nur, wer in Dankbarkeit gegenüber Gott und »eine ungeheuchelte Menschenliebe«62 lebe. Eine entsprechende Gesinnung aufzubauen, das ist die Aufgabe des »allgemeinen« Unterrichts; dieser soll Mädchen und Jungen gemeinsam erteilt werden. Der Lernbereich »moralische Wirtschaft«63 soll aber auch für die Vermittlung der ökonomisch relevanten Grundkenntnisse zuständig sein64 ; dazu zählt Darjes die sog. Kulturtechniken Lesen, Rechnen, Schreiben und das Zeichnen, außerdem ein elementares Wissen über Arbeitstechniken, »wie wir zur Erreichung unserer Absicht geschickte Mittel erfinden«65. Beim »besonderen« Unterricht setzt er unterschiedliche Schwerpunkte für Jungen und Mäd60 Vgl. a.a.O., S. 119 61 Vgl. a.a.O., S. 191 f., auch Darjes: Kameralwissenschaften, S. 392. 62 Vgl. Darjes: Entwurf einer Real-Schule zu Erziehung armer Kinder, zum Nutzen der wirtschaftlichen Beschäftigungen. Jena 1761, in: Ulrike Lötzsch (Hg.): »Die »Rosenschule bey Jena«. Ein Schulversuch von 1762. Leipzig 2014, S. 72; Abk.: Lötzsch: »Rosenschule bey Jena«. 63 Vgl. Lötzsch: »Rosenschule bey Jena«, S. 73. 64 Vgl. a.a.O., S. 76. 65 Vgl. a.a.O., S. 73.

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chen, will aber Wahlfreiheit lassen. Für die Mädchen haben im Unterricht hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Kochen, Spinnen, Stricken, Nähen Priorität sowie Fragen der Versorgung und Pflege der Tiere in Stall und Haus.66 Im Unterricht für die Jungen stehen die Mathematik und die Realien – Physik, »Scheidekunst« (Chemie), Mechanik und Ökonomie – im Mittelpunkt, und sie werden vorwiegend unter dem Aspekt ihrer Nutzbarkeit für die Praxis behandelt.67 Die Stoffe, Themen und Aktivitäten, auf die sich der Unterricht in Darjes’ berufsvorbereitender Realschule stützt, sollen auf vier Fachklassen68 aufgeteilt werden. Die erste Klasse nennt Darjes »moralische Classe« und hat, wie oben bereits angedeutet, ein doppeltes Ziel – elementare Kenntnisse zu vermitteln und die moralische Erziehung zu befördern. Der Unterricht ist koedukativ und für alle verbindlich; weitere Klassen können nach Neigung gewählt werden. Die zweite Klasse, die »mathematische Classe«, konzentriert sich auf den Rechen-, Zeichen- und Malunterricht und die Einführung in eine elementare Wirtschaftsmathematik. Die dritte Klasse, die »ökonomische Classe«, behandelt die Grundsätze der Wirtschafts- und Rechnungsführung und alle agrarwirtschaftlichen Arbeitsbereiche. Die vierte Klasse mit dem Schwerpunkt »Realien« bezeichnet er als »physikalische Classe«; sie soll naturwissenschaftliche Kenntnisse vermitteln, soweit sie in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen relevant sind. In diesen Fachklassen mit ihren je spezifischen Lernbereichen gilt es also, die Kompetenzen für wirtschaftliche Tätigkeiten – hier stehen die landwirtschaftlichen im Vordergrund – zu erwerben. Dabei setzt Darjes auf das Wechselspiel von geistiger und praktischer Anforderung; er ist überzeugt, dass durch einen solchen Unterricht am ehesten aus Wissen und Fertigkeiten praxistaugliches Können entsteht. Gemäß dieser Prämisse wählt er das Personal69 aus: Das zur Führung seines kleinen Guts eingesetzte Ehepaar betraut er nun mit den Verwaltungsaufgaben und der Wirtschaftsführung der Schule. Der Verwalter ist erfahren in der Führung eines landwirtschaftlichen Betriebs, beherrscht das Spinnen und Stricken und hat eine gute Handschrift, sodass er im Spinn- und Strickunterricht mitwirken und den Schreibunterricht erteilen kann. Er soll auch die Kinder in der Freizeit beaufsichtigen. Seine Frau hat Routine in der Hausökonomie und gilt als gute Köchin. Sie ist zuständig für die Verpflegung der 66 Vgl. a.a.O., S. 74, 77. 67 Vgl. a.a.O., S. 76. 68 Vgl. J. G. Darjes: Das erste Jahr der Real-Schule, die den Namen die Rosen-Schule bey Jena führet. Jena 1763, in: Lötzsch: »Rosenschule bey Jena«, S. 112 f. 69 Vgl. vor allem Lötzsch, S. 124 – 133; auch Darjes: Entwurf einer Real-Schule zur Erziehung armer Kinder, zum Nutzen der wirthschaftlichen Beschäftigungen. Jena 1761 und Ders.: Das erste Jahr der Real-Schule, die den Namen die Rosen-Schule bey Jena führet, beschrieben von ihrem Stifter. Jena 1763, in: Lötzsch: »Rosenschule bey Jena«, S. 78, 115, 118, 134; Otto Götze: Die erste Thüringer Realschule (1762 – 1764), in: Thüringer Lehrer-Zeitung, 1931/ 20. Jg., H. 7, bes. S. 100.

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Kinder, leitet die Mädchen im Kochen an und erteilt Spinn-und Strickunterricht. Für die Versorgung des Viehs, das Melken der Kühe und das Buttern steht ihr eine Gehilfin zur Seite, die auch die Körper- und Kleiderpflege der Kinder übernimmt, für den Unterricht im Nähen und Sticken steht außerdem – wahrscheinlich je nach Bedarf – eine weitere Person zur Verfügung. Ein Perückenmacher wird »wöchentlich einige Stunden«70 herangezogen, ebenfalls ein versierter Weber und Wollspinner. Es handelt sich nach Darjes Urteil um einen Personenkreis von vorwiegend meisterlichen Könnern, der gewährleistet, dass der Anspruch der Praxis wahrgenommen wird und die Sachverhalte auf der Basis tätiger Anschauung im Unterricht gründlich behandelt werden können. Das Amt des »Schulhofsmeisters«71 übernimmt ein tüchtiger Student der Theologie aus einem höheren Semester, der auch Hörer bei Darjes gewesen ist. Er wird Leiter der »moralischen Klasse« und ist zuständig für die religiöse und moralische Erziehung, zudem für den Leseunterricht sowie die Aufsicht. Nach vorläufigem Aushilfsunterricht in Mathematik und Zeichnen wird für das Amt des »Schulmathematicus«72 und die Leitung der »mathematischen Klasse« ein Magister gewonnen, der Mitglied der Jenaer Loge ist, ein Studium der Mathematik, der Naturwissenschaften, Philosophie und Jurisprudenz absolviert und sich auch durch seine Begabung bei der Konstruktion mathematischer und naturwissenschaftlicher Modelle zur Veranschaulichung sowie durch sein Geschick beim Bau von Mikroskopen und Fernrohren hervorgetan hat. Die beiden wissenschaftlich hervorragend gebildeten Lehrkräfte verbürgen einen fundierten Unterricht. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Betreuungs- bzw. Lehrpersonal und Schülerschaft erweist sich – bei 30 Kindern gegen Ende des ersten Jahres – als günstig. Unterricht, Ausbildung und Erziehung bewegen sich bald in geordneten Bahnen. Die nach Leistungsstand gebildeten Lerngruppen ermöglichen eine effektive Lernpraxis. Trotz relativer Vielfalt der Themen und Aktivitäten ist die jeweilige Konzentration auf diese gewährleistet; so stehen z. B. für die Mathematik beispielsweise täglich jeweils zwei Unterrichtsstunden am Vormittag und am Nachmittag zur Verfügung, ein hinreichendes Zeitkontingent für einen ausbalancierten Wechsel zwischen rezeptivem wie aktivem Aneignen theoretischen Wissens und dessen praktischer Anwendung. Wahrscheinlich konnten in der kurzen Dauer des Bestehens der Schule aufgrund der Inanspruchnahme durch die Aufbauarbeit die »Ökonomische Klasse« und die »Physikalische Klasse« noch nicht eingerichtet werden.73 Neben den praktischen Tätigkeiten 70 71 72 73

Vgl. Lötzsch: »Rosenschule bey Jena«, S. 119. Vgl. a.a.O., S. 117 f. Vgl. a.a.O., S. 123. Vgl. Lötzsch: Der Kameralist, S. 138.

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zur Gewinnung konkreter Erfahrung als Basis für die theoretische Erschließung der wirtschaftlichen Sachverhalte im Unterricht und für die Vorbereitung auf die spätere Berufsarbeit ist es außerdem in zunehmendem Maße erforderlich, produktive wirtschaftliche Arbeit zu leisten, um den Grad der Selbstversorgung zu steigern und die Kosten zu mindern. Was den Tages-und Wochenablauf angeht, so ist es offenbar in kurzer Zeit gelungen, zu einem guten Rhythmus zu finden. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Umsetzung des Lehrplans, sondern auch für die tägliche Spielstunde nach dem Mittag- wie auch die nach dem Abendessen. Auch die Mahlzeiten und der Speiseplan, der zwar nicht üppig ist, aber doch von einer gesunden und abwechslungsreichen Ernährung zeugt, präsentieren sich in guter Ordnung. Zur Vervollständigung des Bildes von Darjes Rosenschule ist auch der Hinweis auf die Schuluniform – aus blauem Stoff mit gelbem Revers und einer gelben Rose auf der linken Brustseite – angebracht.74 Ein Symbol, das für eine werbende Außendarstellung und die Identifizierung der Mitglieder mit ihrer Anstalt nicht ganz unwichtig erscheinen mag, vor allem aber – angesichts des sozialen Status der jungen und vorwiegend armen Menschen – zur Hebung ihres individuellen und kollektiven Selbstbewusstseins pädagogisch bedeutsam ist. Sie übernehmen eine neue und positive Rolle; nicht zuletzt können sie sich von den Trägern der Rosenschule anerkannt und ausgezeichnet fühlen. Die guten Voraussetzungen, die Personal, Lehrplan und Lernorganisation der Rosenschule boten, verloren durch Darjes’ Berufung an die Universität Frankfurt/Oder an Wert. Es fehlte nun der, der die Schulidee in jahrelangem Durchdenken ausgearbeitet hatte und die Entwicklung des Projekts vor Ort am besten produktiv-kritisch begleiten konnte. Dazu kam ein weiterer Verlust: der Mathematicus Cramer verließ kurz vor Darjes Weggang die Schule. Er wäre am ehesten ein Garant für Kontinuität und Weiterentwicklung gewesen. Das verbürgte sein fachliches Können wie sein Engagement für den Schulversuch. Bestätigung dafür sind auch seine späteren Veröffentlichungen, die sein anhaltendes volksaufklärerisches Interesse belegen, ob sie der Wohlfahrt des Gemeinwesens, Ausbildungsstätten für Kunst und Handwerk75 oder Fragen landwirtschaftlicher Rentabilität galten.76 Er war – wie wohl kein anderer Mitarbeiter der Rosenschule – mit Darjes’ pädagogischem Konzept vertraut. Zudem erwies er sich als ein hervorragender Kenner von dessen wissenschaftlichem Werk, was ihn befähigte, Darjes’ Kernthemen Natur- und Völkerrecht sowie Moral77 in der Universität zu lehren, bis er sich entschließt, nur noch Kurse zu naturwissen74 75 76 77

Vgl. Lötzsch: »Rosenschule bey Jena«, S. 114. Vgl. Cramer : Für die Policey. Ersten Bandes erster Theil. Hannover 1788, S. 34 ff. Vgl. a.a.O., S. 73 ff.,; Näheres über Cramer in: Lötzsch: Der Kameralist, S. 130 f. Vgl. Lötzsch: a.a.O., S. 295.

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schaftlich-technischen Fragen anzubieten. Der von Darjes als Stellvertreter eingesetzte Logenbruder Becker, zweifellos ein gebildeter, doch selbst ein nicht genügend organisierter Mensch, ist der Aufgabe auf Dauer offensichtlich nicht gewachsen. Auch hier bestätigt sich, dass selbst das beste Konzept scheitert, wenn es an den dafür nötigen Menschen mangelt. Bei seiner Entscheidung für Frankfurt/Oder besteht bei Darjes kein Zweifel, zumindest hegt er die Hoffnung, dass Absolventen einer Universität, die in Sachen »Land-und Stadtwirthschaft« gebildet sind, also seine Schüler, imstande seien, als Lehrer jedweder Schule die erforderlichen »Werkzeuge zu wirthschaftlichen Geschäfften«78 zu entwickeln. Etliche Freunde haben ihm sogar versichert, »den von [ihm] entworfenen Plan, so weit es ihnen würde möglich seyn, ferner auszuarbeiten, und [ihm] von Punkt zu Punkt Nachricht zu geben«79. Das lässt ihn beruhigt von Jena weggehen. Bestätigung für seine optimistische Sicht ist ihm die bisherige Entwicklung der Rosenschule – »so lange als ich gegenwärtig gewesen bin, ist es mir auch bei diesem Geschäffte geglücket.«80 Als das Unternehmen nach etwa zweieinhalb Jahren schließlich scheiterte, wertete er dies als Versagen der Nachfolger. Statt »die weitere Ausarbeitung dieser angelegten Sache« anzupacken, habe »es diesen aber gefallen [.], den von mir entworfenen Plan zu verlassen.«81 Die Chancen für eine Überwindung der Schwierigkeiten verringerten sich zudem durch eine damals eingetretene Handlungsunfähigkeit der Loge »Zu den drei Rosen«, die seit dem Herbst 1763 durch von einem Betrüger ausgelöste Querelen in eine verworrene Lage geraten war.82 Mit der Schließung der Schule war das Konzept jedoch nicht annulliert; weniger vielleicht dank Darjes selbst – obwohl er versicherte, dass ihm das Anliegen auch fortan wichtig ist – gewiss aber dank einiger der zahlreichen Schüler, die er für die pädagogische Sache gewonnen hatte. Sie waren überzeugt vom Potential und der Impulskraft seines Konzepts, zumal dieses für mannigfache pädagogische Zwecke genutzt werden konnte. Wenige Beispiele mögen genügen: der in vielen prominenten Ämtern bewährte und pädagogisch begabte Theologe Balthasar Münter hat es zur Verbesserung der Armenfürsorge eingesetzt und an der letzten Stätte seines Wirkens – der Deutschen St. Petri Gemeinde in Kopenhagen – zudem eine auf den Erwerb praxistauglicher Kenntnisse hin ausgerichtete Mädchenschule gegründet und damit den Nachfolgern den Weg

78 79 80 81 82

Vgl. Darjes: Kameralwissenschaften, Leipzig 17682, Vorrede zur andern Auflage, S. XIX. Vgl. Darjes: Staatsklugheit, S. 38. Vgl. Darjes: Kamerawissenschaften, Leipzig 17682, Vorrede zur andern Auflage, S. XX. Vgl. Ebda. Vgl. z. B. Stefan Redies: Freimaurer, Tempelritter und Rosenkreuzer : Zur Geschichte der Geheimbünde in Marburg im 18. Jahrhundert. Marburg 1998, S. 25 – 28, auch Lötzsch: Der Kameralist, S. 155, 280.

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zur Errichtung einer Realschule für beide Geschlechter bereitet.83 Friedrich Daniel Behn, der zur gleichen Zeit in Jena studiert und ebenfalls die Aufgabe ernstgenommen hat, die Lage der Armen durch Erziehung zu verbessern, entschloss sich als Rektor des Gymnasiums Katharineum zu Lübeck zu einem kühnen Reformschritt. Er trug der Tatsache Rechnung, dass die weit überwiegende Anzahl der Bürger »zum Flor des Staates sich geschäftig beweisen«84 – also keine akademische Laufbahn anstreben – und wandelte sein Gymnasium in eine »Real- und Bürgerschule« um, indem er die vier untersten Klassen als Realschulklassen führte. Deren Curriculum umfasste Rechnen, Schreiben, Zeichnen, außerdem Naturgeschichte, Geographie, Weltgeschichte, biblische Geschichte und Religion. Von der vierten Klasse an kamen Technologie, Geometrie, Naturlehre und – als erste Fremdsprache – noch Französisch dazu. Der Unterricht in diesen Lernbereichen wurde in den drei obersten Klassen, dem eigentlichen Gymnasium, neben dessen klassischen Fächern – den alten Sprachen, der antiken Geschichte, Mythologie, Redekunst, Poesie und der Mathematik fortgeführt, vertieft und erweitert.85 Dem auch dieser Jenaer Studentengeneration angehörenden Pfarrer Johann Gottlob Lorenz Sembeck gelang es, einen Realschulzweig an der Lindauer Lateinschule einzurichten.86 Verfolgte der Kameralist Darjes mit seinem Konzept primär den Zweck, die Effizienz des wirtschaftlichen Systems insgesamt durch Optimierung des beruflichen Könnens der Bürger zu steigern und so indirekt auch die Armut in den unteren Schichten zu überwinden, nutzten Münter und andere Schüler Darjes’ dessen Ansatz – und damit blieben sie mit ihm durchaus im Konsens –, um das Prinzip der Selbsthilfe für eine würdige und effektive Armenerziehung zur Geltung zu bringen, dem nicht – wie dem Almosengeben – das Odium der Diskriminierung anhaftet. Im Lübecker und Lindauer Beispiel diente das Konzept als Hebel zur Öffnung der traditionellen Gelehrtenschule für die Aufnahme »realistischer« und ökonomisch relevanter Bausteine in das gymnasiale Curriculum. Man darf wohl den zahlreichen pädagogischen Aktivitäten von Darjesschülern87 auch die Zeichenschule in Weimar als Beispiel zurechnen, zumal ihr Gründer Friedrich Johann Justin Bertuch mit dem anregenden Geist Jenas vielfältig verwoben war, auch wenn diese erst 1776 gegründet worden ist. Eines der Ziele der neuen Einrichtung bestand in der Hebung der Handwerkskunst durch eine ästhetische Erziehung der Auszubildenden, was die neue Einrichtung 83 Vgl. Lötzsch: Der Kameralist, S. 168 ff. 84 Vgl. Friedrich Daniel Behn: Vorschläge zur Reform der Lübeckischen hohen Schule nach pädagogischen Grundsätzen. Lübeck 1801, S. IX. 85 Vgl. a.a.O., S. X f. 86 Vgl. Ferdinand Eckert: Geschichte der Lateinschule Lindau. Lindau 1928, nach: Lötzsch, S. 160. 87 Vgl. Lötzsch, S. 156 – 171.

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als einen Bestandteil der beruflichen Qualifizierungsoffensive erscheinen lässt. Ihr Konzept ist wohl auch von der Pädagogik des Darjes und der mit ihr verbundenen kameralistischen Denkweise – zumindest indirekt – angeregt worden.

4.

Christian Gotthilf Salzmanns »Erziehungsanstalt Schnepfenthal«: wirtschaftliche Kompetenz als eine Dimension allseitiger Bildung

Als Salzmann 1784 seine Erziehungsanstalt in Schnepfenthal gründete, konnte er sich auf eine solide Basis pädagogischen Wissens und pädagogischer Erfahrung stützen. In den unmittelbar vorangegangenen Jahren, 1781 bis 1784, war er als Liturg in Basedows Philanthropin tätig, lernte das Leben und die internen Erfordernisse der weithin gerühmten Reformschule kennen. Er gewann dort wertvolle Erfahrungen, auch die, dass bei kollektiver Leitung und unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen ihrer Mitglieder, wenn nur eine Person – wie es bei Basedow der Fall war – cholerischen Temperaments ist, die Atmosphäre alsbald vergiftet und die pädagogische Arbeit beeinträchtigt ist. Der Standort Dessau ermöglichte Salzmann intensive Kontakte zu anregenden Gesprächspartnern des Umfeldes, z. B. zu dem berühmten Kanzelredner Zollikofer und dem Philosophen Christian Garve, zu dem pädagogischen Schriftsteller Christian Felix Weiße und dem Pädagogen Friedrich Eberhard von Rochow. In der Zeit seines Wirkens bei Basedow konnte Salzmann die Ausformung seiner Vision von der eigenen Erziehungsanstalt voranbringen. Doch offenbar ist schon zuvor, während seines fast neunjährigen Wirkens als Prediger und Seelsorger in Erfurt, die Idee rege geworden, als er näheren Einblick in das große soziale Gefälle innerhalb der Stadtbevölkerung erhielt, dort der Armut, Verwahrlosung und Kriminalität begegnete. Erziehung und Unterricht – das ist seine Antwort auf die wahrgenommene Not. Auf diesem Wege sollten die Betroffenen sich Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen und dadurch befähigt werden, aus eigener Kraft ihre Verhältnisse zu verbessern. Als Hilfe zur Selbsthilfe steuerte er Erziehungsschriften bei. Sein Erstling wurde spontan von Weiße an den Verleger Crusius in Leipzig weitergegeben und kam unverzüglich zum Druck.88 Mangel und Not im ländlichen Raum hatte er bereits von 1768 bis 1772 – in seinen ersten Dienstjahren als Pfarrer Rohrborn – kennengelernt. In 88 Es handelt sich um »Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde« in 8 Bändchen, das erste erschien 1778. Vgl. auch Ausfeld, Johann Wilhelm, Erinnerungen aus dem Leben Christian Gotthilf Salzmanns, des Gründers der Erziehungsanstalt Schnepfenthal. Von dessen Pflegesohn Johann Wilhelm Ausfeld und der ältesten Tochter Salzmanns [d. i. Magdalena Lenz], Leipzig 1884, S. 30.

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diesem Dorf wurde ihm zur Gewissheit, dass eine verbesserte Praxis der Landwirtschaft in allen ihren Bereichen not tut und die Aufgabe besteht, durch eine pragmatische Volksaufklärung die Verhältnisse zum Besseren hin wenden zu helfen. Die vorausgegangenen Jahre, die Salzmann als Kandidat für das Predigtamt von 1764 bis 1758 in Erfurt verbrachte, konfrontierte ihn u. a. mit der schwierigen Lage, in die Handel und Gewerbe durch den Siebenjährigen Krieg geraten sind, eine Misere, die – das war ihm rasch klar – nur kooperativ überwunden werden kann. Wie alle seine Erfahrungen wusste er auch diese sich bei seinem eigenen pädagogischen Projekt zunutze zu machen. Die wirtschaftlichen, sozialen und pädagogischen Probleme, mit denen Salzmann in seiner Berufsarbeit in Berührung gekommen ist und die ihm zur Herausforderung geworden sind, das waren Themen, denen das besondere Interesse von Darjes galt. Sein Studium in Jena, davon mindestens vier Semester vor Darjes Berufung nach Frankfurt/Oder, ermöglichte ihm, dessen wissenschaftliche Position kennen zu lernen, auch dessen Rosenschule, die ein wichtiger Versuch war, auf einem pädagogischen Weg und mit pädagogischen Mitteln die Lösung brennender ökonomischer und sozialer Probleme der Gesellschaft einzuleiten. Es ist höchstwahrscheinlich, dass Salzmann Darjes’ kameralistisches Konzept und seine Versuchsschule bekannt gewesen sind; die »Erinnerungen aus dem Leben Christian Gotthilf Salzmanns«, die von Angehörigen der Familie zusammengetragen worden sind, enthalten jedenfalls seinen Namen – neben den Namen der anderen damals in Jena lehrenden Professoren für Philosophie – und auch einen Hinweis auf dessen »Realschule«.89 Die Annahme, dass auch Salzmann wesentliche Impulse durch die kameralistische Philosophie und Darjes’ pädagogische Bestrebungen erhalten hat, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der überdurchschnittlich großen Zahl der Teilnehmer seiner Lehrveranstaltungen90 – sie entsprach der Gesamtheit(!) der Studierenden. Sie drängt sich aber auch durch die Tatsache auf, dass sich markante Elemente im Schulleben der Rosenschule in Salzmanns Modell wiederfinden, z. B. der rhythmisch gestaltete Ablauf von Alltag und Unterricht, der Wechsel von geistiger und körperlicher Tätigkeit, die Platzierung von Lern- und Unterhaltungsspielen nach der Abendmahlzeit, das Tragen einer Schuluniform, auch durch manche Übereinstimmungen der pädagogischen Grundsätze beider. Salzmann selbst äußert sich recht verhalten zur Genese seines Konzepts. Als er 1784 das Programm für seine Erziehungsanstalt vorstellte, hielt er unzureichende und fehlerhafte Erziehung für die Ursache von »Jammer und Elend in der 89 Vgl. Erinnerungen, a.a.O., S. 17. 90 Vgl. Max Steinmetz u. a. (Hg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58 – 1958, Jena 1958, Bd. I, S. 175; die hier mitgeteilten Zahlen an immatrikulierten Studenten an der Universität Jena um die Mitte des 18. Jahrhunderts stützen in Anbetracht der Hörerfrequenzen diese Annahme.

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Welt«91; zu dieser Auffassung sei er – wie es im Text heißt – »wenigstens fünfzehn Jahre«92 zuvor gelangt. Also kann und sollte Erziehung als ein Hebel zur Überwindung defizitärer Verhältnisse eingesetzt werden. Seine Einblicke in die ärmliche soziale und ökonomische Lage der Menschen in Rohrborn, aber auch die in Zonen der Verwahrlosung und der Kriminalität in Erfurt, werden wahrscheinlich zu dieser Antwort geführt haben. Das von ihm verwendete »wenigstens« mit seiner gleitenden Semantik lässt den Gedanken aufkommen, man dürfe auf der Zeitskala durchaus noch etwas weiter zurückgehen und die pädagogischen Anregungen, die er in der Studienzeit erhalten hat, – sowohl die in Darjes’ Vorlesungen als auch die durch das Projekt Rosenschule – mit in Betracht zu ziehen. Dann wären wohl alle Impulse und Perspektiven, die er Studium, seelsorgerischer Tätigkeit in Stadt und Land und dem Wirken an Basedows Philanthropin verdankt, berücksichtigt. Sein pädagogisches Konzept ist selbstverständlich mehr als nur deren Spiegelung. Dieses hat er entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit dem in jenen Jahren erworbenen Wissen und den auf allen diesen Etappen gewonnenen Erfahrungen. Ihm gelang, die pädagogischen Ansätze, die in sein Gesichtsfeld gekommen waren, zu nutzen, im Abgleich mit eigenen Ideen zu optimieren und eine Erziehungsanstalt zu schaffen, die den Erfordernissen des Lebens gerecht werden wollte und konnte. Salzmann ging es – wie er betont – darum, durch Erziehung die physischen und intellektuellen Kräfte der Heranwachsenden möglichst umfassend zu entwickeln und zu trainieren, damit sie sich jederzeit das nötige Wissen und Können für aktuelle und zukünftige Anforderungen aneignen können. Hauptzweck sind also Entwicklung und Übung der Kräfte; der Unterricht ist dazu ein wichtiges Mittel, aber nur eines von mehreren. Aus seiner Sicht sind Schule und Unterricht der Erziehung untergeordnet – seine pädagogische Gründung nennt er deshalb Erziehungsanstalt, nicht Schul- oder Unterrichtsanstalt.93 Dort werden die modernen wie die alten Sprachen gelehrt und geübt, die Mathematik und die Naturwissenschaften einschließlich der Mineralogie, der Astronomie und des Feldmessens, Technologie, Geographie, Geschichte, Anthropologie, Religion und Moral, Zeichnen und Singen, Instrumentalunterricht, Gymnastik und Schwimmen, Tanzen und Reiten, Papparbeiten, Drechseln, Buchbinden, Glasschleifen, Tischlerarbeiten, Buchhaltung, Arbeiten in Baum- und Gemüsegarten.94 Zweifellos handelt es sich hierbei um Lerninhalte und Aktivitäten, die weit 91 Vgl. Christian Gotthilf Salzmann: Einige Gedanken über die Notwendigkeit und den Vorzug öffentlicher Erziehungsanstalten, in: Leonhard Friedrich: (Hg.), Pädagogische Welt – Salzmanns Schnepfenthal, Jena 20082 (Abk.: Päd. Welt), S. 67. 92 Ebda. 93 Vgl. Päd. Welt, S. 117 f. 94 Vgl. a.a.O., S. 156 f, 135 (Astronomie), z. B. S. 45, 90, 103 (Gartenbau); Nachrichten aus Schnepfenthal 1810, S. 2 (Anthropologie).

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über den üblichen Rahmen eines schulischen Lehrplans hinausgehen. Sie deuten indirekt die Defizite an, die – aus Salzmanns Sicht – Curriculum und Lernpraxis der bestehenden Schule aufweisen, und sie lassen Lernbereiche hervortreten, deren Erschließung für die inhaltliche und instrumentelle Vorbereitung auf einen zukünftigen Beruf bedeutsam ist. Doch alle die von ihm eingebrachten curricularen Addita zieht er nicht zur Begründung seines Konzepts heran, auch nicht – was naheläge – das große Spektrum der außerunterrichtlichen Aktivitäten, ebenfalls nicht die vielfältigen von ihm für seine Schüler ersonnenen Aufgaben und Ämter in Haus und Garten und deren offensichtliche Relevanz für die Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz. Maßgeblich für ihn und seine Argumentation ist allein der Zweck der Erziehung mit dem obersten Ziel, die Kräfte zu entwickeln und zu bilden. Vom Erziehungszweck her rechtfertigt er schließlich auch die Funktionalisierung des Besitztriebes und so erscheint es ihm vertretbar, den Besitztrieb – er nennt ihn »Erwerbungsbegierde« – sich zunutze zu machen, denn gerade er setze »alle Kräfte des Menschen in Tätigkeit und [sei] ein Sporn zu den mühsamsten und anhaltendsten Unternehmungen. Durch sie werden wahre Männer gebildet, die in jedem Falle die Mittel aufzubringen wissen, den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Familie zu befördern und jede gute Absicht zu erreichen, ohne nötig zu haben, durch kriechende Schmeichelei anderer wohltätige Unterstützung zu erbitten.«95 Dass der Gedanke, durch Erregung eines eigennützigen Motivs die Selbsttätigkeit in Gang zu bringen, moralische Fragen aufwirft, weiß Salzmann. Er wirkt deshalb gezielt einer Verselbständigung des Erwerbsstrebens entgegen, schafft für seine Schüler Anlässe, sich in der Tugend aufmerksamer Hinwendung zu den Mitmenschen zu üben, indem sie sich z. B. einem Mitschüler gegenüber an dessen Geburtstag besonders aufmerksam erweisen, eine im Umfeld eingetretene Notlage wahrnehmen und unterstützend agieren. Salzmann baut darauf, dass die reale Situation der Hilfsbedürftigkeit selbst ein starker Appell ist und den Heranwachsenden herausfordert, sich in die Rolle des einfühlsam helfenden Akteurs zu begeben. Auf diese Weise sollen die eigennützigen Motive in die Bahn mitmenschlicher Gesinnung und solidarischen Handelns gelenkt werden. Die Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz ist also Teil der allgemeinen Erziehungsaufgabe, die geistigen und körperlichen Kräfte der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln und zu trainieren und mehr hervorzubringen als ein »Magazin von nützlichen Kenntnissen«96 und Fertigkeiten. Das Leben erfordert, dass auch der Initiativgeist der Heranwachsenden geweckt, ihre Tatkraft entwickelt und ihr Wille zu humanem Handeln gestärkt wird. Gemäß dem in den 95 Vgl. a.a.O., S. 93 f 96 Vgl. Christian Gotthilf Salzmann: Gottesverehrungen – gehalten im Betsaale des Dessauischen Philanthropins. Leipzig 1784, 5. Sammlung, Vorrede.

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Losungsworten »Denken, Dulden, Handeln« artikulierten Salzmannischen pädagogischen Imperativ sollen sie erzogen werden zu sachgerecht denkenden Menschen, die duldsam gegenüber ihren Mitmenschen sind, Schwierigkeiten durchstehen, nicht bei gewonnenen Einsichten und gefassten Vorsätzen stehen bleiben, sondern handeln. Handeln – so fasst der Anstaltsgründer in einer Predigt am 15. März 1790 nach elfjähriger pädagogischer Erfahrung in Schnepfental zusammen – bedeute »das Verrichten nützlicher Geschäfte«97. In dieser Wendung klingt deutlich der Ton des Wirtschaftlichen mit und aus Salzmanns Unterrichts- und Erziehungspraxis lässt sich erkennen, welch großen Wert er auf den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten im wirtschaftlichen Bereich legt. Damit seine Schüler dort erste Erfahrungen machen und entsprechende Kompetenzen aufbauen können, beschreitet er originelle Wege. Er nutzt im Leben der Anstalt sich bietende Gelegenheiten für die Qualifizierung zu wirtschaftlichem Handeln, das dem Ganzen zugleich dienlich ist: er betraut sie – wie er in seiner »Ankündigung einer Erziehungsanstalt« bereits wissen ließ und oben bereits angedeutet wurde – mit Ämtern für zahlreiche Funktionen. Er nennt zunächst das Amt eines Kopisten, eines Rechnungsführers und Korrektors, auch das eines Sekretärs und Naturalieninspektors, meldet jedoch sogleich noch Bedarf an weiteren Ämtern an.98 Freilich geht es Salzmann bei der Einrichtung von Ämtern nicht allein um die Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenzen. Es soll überhaupt – wie er des Öfteren und nachdrücklich betont – »des Gebrauchs eigner Kräfte so viel als möglich sein«99 und dazu jede geeignete Gelegenheit genutzt werden. Der positiven pädagogischen Nebenwirkungen von herausfordernden Situationen, wie sie die Verwaltung der Ämter und die Erledigung der damit verbundenen Aufgaben darstellen, ist Salzmann sich sicher : die Schüler werden durch diese in Tätigkeit gehalten, ihre Kräfte werden trainiert, sie können viel Nützliches lernen; indem sie zum Funktionieren des gemeinschaftlichen Lebens beitragen, erfahren sie persönliche Bestätigung; sie können sich als brauchbare Bürger der kleinen pädagogischen Provinz Schnepfenthal erweisen und an Selbstständigkeit gewinnen; ein Aufkommen von Bosheiten, in denen Salzmann ohnehin »Kinder der Untätigkeit«100 sah, kann er nicht befürchten. In den ersten Jahren des Bestehens der Anstalt wurden dann – aufgrund von Erfordernissen des Anstaltsalltags wie auch aufgrund pädagogischer Überlegungen – weitere Ämter für besondere Aufgaben geschaffen, unterschiedlich in ihrem Anforderungsgrad, ihrer sozialen Funktion und ihrem Erziehungs- und 97 98 99 100

Vgl. Päd. Anstalt, S. 169. Vgl. a.a.O., S. 92. Vgl. a.a.O., S. 89. Vgl. a.a.O., S. 92.

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Bildungswert. Das Trommelamt, dessen Inhaber das morgendliche Wecken zu besorgen und das Signal zum Mittag- und Abendessen zu geben hatte, führte in eine Rolle, die einfach zu erfüllen, aber doch exponiert und deshalb sehr begehrt war. Bei der Neuvergabe des Amtes wurde oft der Frühaufsteher des Tages damit betraut – eine Vorgehensweise, die typisch für die von vielen Aufklärern propagierte Stimulationspädagogik ist, nämlich durch eine Geste der Anerkennung, des Lobes oder der Belohnung Aktivität zu entfachen und Engagement zu bewirken.101 Mit jedem Amt, das eingerichtet wird, eröffnen sich Möglichkeiten, Heranwachsenden Vertrauen zu erweisen und ihr Verantwortungsbewusstsein zu befördern. Das gilt für das des Briefzustellers für die ankommende Post102, für das des »Institutswechslers«, der das Kleingeld zum Wechseln besorgt und bereithält103, das Amt zur Verwaltung »konfiszierter Sachen«104, das für den Zeitungszusteller, der Salzmanns Wochenschrift »Der Bote aus Thüringen« Beziehern im eine halbe Stunde Fußweg entfernten Waltershausen zu überbringen hat, wie auch für den Inhaber des Kustosamtes. Korrektheit und Zuverlässigkeit war gefordert von dem, der einen kleinen Handel mit Schreibutensilien betrieb, besonders achtsam musste der Händler sein, der Taschen- und Federmesser anbot.105 Der »Geheime Sekretär« nahm eine besondere Vertrauensstellung ein. Er konnte stellvertretend für Salzmann kleine Geschäftsvorgänge erledigen, z. B. eine Ladung Quadersteine für einen Neubau entgegennehmen, ihr Volumen prüfen und dem Fuhrmann den korrekten Empfang schriftlich bestätigen.106 Für die geleistete Arbeit – das gilt auch für gelegentlich anfallende Arbeiten, z. B. das Kolorieren von Landkarten für die nächste Nummer von Salzmanns »Der Bote aus Thüringen«107 – wurde ein Lohn bezahlt, sodass die Schüler ein kleines Einkommen hatten, über das sie verfügen und bei den Händlern unter den Mitschülern zu einem geringen Festpreis nötige Utensilien erwerben konnten. Verpflichtend war allerdings, über Einnahmen und Ausgaben genau Buch zu führen, womit sie u. a. Gelegenheit erhielten, das im Unterricht über Buchführung erworbene Wissen anzuwenden. Einmal wöchentlich wurde ihre Amtsführung einer Revision durch Salzmann unterzogen. Das Haushaltenlernen, das schon von Weigel und Darjes gefordert worden war, in Schnepfenthal wurde es praxisnah eingeübt. Der Heranführung an wirtschaftliche Sachverhalte und Aufgaben wurde im Unterricht in verschiedenen Fächern, besonders im Geographieunterricht durch GutsMuths vorgearbeitet. Ab 1796 hat der Jenenser 101 102 103 104 105 106 107

Vgl. z. B. Nachrichten aus Schnepfenthal 1791, S. 25. Vgl. a.a.O., S. 67. Vgl. a.a.O., S. 16. Ebda. Vgl. a.a.O., S. 67. Vgl. a.a.O., S. 52. Vgl. a.a.O., S. 71.

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Bernhard Heinrich Blasche die für eine berufliche Vorbildung relevanten Fächer Technologie und Werken gelehrt, u. a. mit den Schülern Modelle von Arbeitsgeräten gefertigt. Von seinem Engagement für die Aufgabe, an das Berufs- und Wirtschaftsleben heranzuführen, zeugen auch zahlreiche Veröffentlichungen.108 – Einblick in die Arbeitswelt, in deren Organisation, in Produktionsweisen, Techniken und Routinen, sollten den Schülern auch die Reisen und Exkursionen verschaffen, die eine feste Größe in Salzmanns Erziehungsanstalt waren. Nicht die spektakuläre vierzehntägige Reise im pferdebespannten Rollwagen an den Rhein im Frühjahr 1786, die vorwiegend auf kulturgeographische und kulturhistorische Aspekte hin angelegt war, soll hier Beachtung finden, sondern das Programm der Exkursionen, deren Zweck vorwiegend darin bestand, die Wirtschaft der Region im größeren Rahmen ihrer kulturellen Infrastruktur genauer kennenzulernen. Diese Unternehmungen wurden gezielt und gründlich vorbereitet. So konnten die mitgebrachten Fragen durch die Anschauung vor Ort und das Gespräch mit Sachverständigen in den Werkstätten und Betrieben vertieft, neues Wissen gewonnen und besseres Verstehen erreicht werden. Es lohnte, die den Reisen und Exkursionen im pädagogischen Programm Salzmanns zugedachte Funktion und ihren bildenden Wert näher zu untersuchen. Zweifellos verhalfen sie zu einer Anschauung, die fundierten Wissenszuwachs einbrachte, weit besser als das verbale Vermittlung vermag. Das galt z. B. für den Besuch der Porzellanfabrik in Gotha auf der mehrtägigen Reise mit dem Pferdewagen Anfang Oktober 1785, die nach Langensalza, Mühlhausen und Eisenach weiterführte,109 ebenso für die von GutsMuths geleitete mehrtägige Reise zu Fuß im April 1787 zur Kleineisenindustrie in und um Schmalkalden110, wie auch für die zweitägige Exkursion zum Kupferhammer und der Bleiche in Ohrdruf, zu einem Naturalienkabinett in Georgenthal, in eine Kolonie der Herrnhuter in Neudietendorf, die Papierfabrik und eine Zuckerbäckerei am Ort111, um wenigstens einige Beispiele aus der Fülle der unternommenen Vor-Ort-Erkundungen zu nennen. Nur ein Beispiel noch als Beleg dafür, wie gut das Lernen im Unterricht, das bei Vorhaben in Haus und Garten und das via Exkursion aufeinander abgestimmt waren. Auf einer größeren Reise, die nach Erfurt, Weimar, Jena, Gera und Rudolstadt führte, wurde im Weimarer Land die Gelegenheit 108 Vgl. Bernhard Heinrich Blasche: Der Papparbeiter. Schnepfenthal 1797; Ders.: Werkstätte der Kinder : ein Handbuch für Eltern und Erzieher. Gotha 1800 – 1802, 4 Bde.; Ders.: Der technologische Kinderfreund, mit vorzüglicher Hinsicht auf Handlung, Künste und Gewerbe. Hamburg/Mainz 1804; Ders.: Der technologische Jugendfreund, oder unterhaltende Wanderungen in die Werkstätte der Künstler und Handwerker. Frankfurt a. M. 1805; Ders.: Der Papierformer. Schnepfenthal 1819. 109 Vgl. Reisen der Salzmannischen Zöglinge. Leipzig 1786, 2. Bd., S. 166 – 185. 110 Vgl. Reisen der Salzmannischen Zöglinge. Leipzig 1787, 5. Bd., S.. 125 – 266. 111 Vgl. Nachrichten aus Schnepfenthal 1796, S, 81 ff.

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genutzt, eine Muster-Baumschule zu besuchen, um dort mit Pfropfen, Kopulieren und Okulieren, den Techniken zur Veredelung von wilden Baumstämmchen, bekannt gemacht zu werden.112 In Schnepfenthal wurde das Thema aufgenommen, ein des Veredelns kundiger Lehrer aus dem Nachbardorf gewonnen, um sein Können den Schülern in einem Lehrgang mit praktischen Übungen zu vermitteln113. Einen Monat später wurden 120 wilde Kirschbäume im Baumgarten der Schnepfenthaler Anstalt gepflanzt und dann von den Schülern veredelt.114 Eine Vorgehensweise gemäß der didaktischen Devise Wissen erwerben, handeln, anwenden! Für Salzmann ist Wissenserwerb die zentrale Aufgabe des Unterrichts, die der Befähigung zum Handeln weist er der Erziehung zu; beiläufig betont er diesen Gedanken immer wieder einmal: »Durch den Unterricht lehrt man die Kinder allerley Gutes erkennen, und durch die Erziehung lehrt man sie gut handeln.«115 Der Frage, wie dies erreicht werden könne, widmet er besondere Aufmerksamkeit. Er sucht Wege und Mittel, erprobt deren Tauglichkeit und gliedert sie gegebenenfalls dem Repertoire der in der Anstalt gebräuchlichen Förderungsstrategien ein. Dabei ist einer der Grundsätze, die »Zöglinge« selbst tätig sein lassen. Salzmann lässt sie im Garten arbeiten, aber nicht nur, um Kartoffeln, Gemüse und Obst ernten zu können. Er will ihrem jugendlichen Bewegungs- und Tätigkeitsdrang Gelegenheit im Freien verschaffen, dass sie ihren Körper trainieren und ihn dadurch gesund erhalten, will ihnen ermöglichen, nützliche Arbeitstechniken sich anzueignen, Anstöße geben, Ihre botanischen und gartenbaulichen Kenntnisse zu erweitern und z. B. Obstbäume veredeln lernen. Nicht minder wichtig ist ihm, dass sie durch die Nähe zur Natur und die Arbeit in ihr und an ihr zu achtsamem Umgang mit ihr erzogen werden, auch dazu, die Früchte der Natur wertzuschätzen, Freude daran gewinnen, Gärten zu gestalten und den ästhetischen Sinn zu schulen und zu kultivieren. Das Leben der Natur, das sie umgibt, soll ihre Beobachtungsgabe herausfordern und sie mit Zuwachs an Kenntnissen und an Verständnis belohnen. Salzmann geht davon aus, dass eine von Heranwachsenden gewissenhaft ausgeübte Tätigkeit – auch eine im wirtschaftlichen Bereich, vornehmlich im landwirtschaftlichen – ihre persönliche Entwicklung befördert, ihre Persönlichkeit stärkt. Diese Praxis belegt seine große Wertschätzung manueller Tätigkeit, die eine Frucht der vieljährigen Erfahrung im erzieherischen Umgang mit Heranwachsenden ist. Aufgrund ihrer will er auch ein auf manuelle Tätigkeit gestütztes Lernen im Unterricht mit zur Geltung gebracht wissen. Er rät z. B. dazu, »dass man es sich immer mehr angelegen sein lässt, den Kindern Ge112 113 114 115

Vgl. Reisen der Salzmannischen Zöglinge. Leipzig 1793, 6. Band, S. 144 – 106. Vgl. Nachrichten aus Schnepfenthal 1791, S. 10. Vgl. a.a.O., S. 20. Vgl. Reisen der Salzmannischen Zöglinge, Leipzig 1784, 1. Bd., S. 7.

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schmack an Handarbeiten beizubringen. Man führt sie nicht nur in die Werkstätte und zeigt Ihnen, wie und wovon die mannigfaltigen Bedürfnisse des menschlichen Lebens verfertigt werden, und lehrt sie so den menschlichen Fleiß schätzen, vor dem man ehedem fühllos vorüberging, sondern man schafft ihnen auch Gelegenheit selbst zu arbeiten, gibt ihnen Gartenbeete, Anleitung in Pappe, Holz, Horn, Wachs, Metall zu arbeiten und versieht sie mit den dazu nötigen Werkzeugen.«116 Sein Rat versteht sich als genereller pädagogischer Appell an Lehrer und Erzieher, ist zugleich ein Kurzbericht über den eigenen Erfahrungsweg wie auch über die Herausbildung der pädagogischen Praxis in seiner Anstalt. Zudem spiegelt sich darin das aus der Wahrnehmung der Armut, Not und mangelhafter Berufskenntnisse unter den Menschen seiner Kirchgemeinde hervorgegangene Bestreben, Heranwachsende so zu befähigen, dass sie vom achtzehnten/zwanzigsten Lebensjahr an imstande sind, für ihr Auskommen selbst zu sorgen. Diese Forderung erhebt Salzmann bereits in seinem sozialkritischen Roman »Carl von Carlsberg«117 und leitet daraus die Aufgabe ab, sie gemäß ihrer zukünftigen Lebenslage aufzuklären und zu qualifizieren. In seinem programmatischen Entwurf zur angekündigten Gründung einer Erziehungsanstalt verspricht er, die Schüler an die Realität des Lebens heranzuführen, sie auf die Dinge achten zu lernen, die zur Bewältigung der Erfordernisse des Lebens hilfreich und nützlich sind. Dazu gelte es, ihre Aufmerksamkeit »auf die Beschäftigungen der Menschen [zu] richte[n], mit ihnen bald den Arbeiten des Ackermanns, bald des Maurers oder Zimmermanns, Tischlers oder Schmiedes zu[zu]sehe[n]; bald Bergwerke, bald Schmelzhütten und Eisenhammer [zu] besuche[n]«. Er will sich »mit jedem Handwerksmanne und Künstler [.] über seine Geschäfte in ein Gespräch einlasse[n], ihn frage[n], warum er dies so und nicht anders mache, wozu er dieses Werkzeug brauche, wie viel er mit seiner Arbeit gewinne u. dgl.«.118 Auf diese Weise hofft er, den Heranwachsenden einen Zugang zur Erwerbsarbeit verschaffen, Grundwissen vermitteln und Interesse wecken zu können. In seinem Erziehungsroman »Konrad Kiefer« zeigt er den Weg auf, auf dem Konrad lernte, gut zu wirtschaften, Geld zu verdienen und mit diesem sparsam umzugehen. Der Pfarrer empfiehlt ihm, sich eine kleine Bibliothek ökonomischer Bücher anzulegen, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen für eine Verbesserung der Landwirtschaft und mit ihr zur Steigerung der Erträge. Der Vater ist stolz, dass er es erreichte, dem Sohn »den Trieb beizubringen, sich durch seinen eigenen Fleiß ein Eigentum zu erwerben«119. Es ist 116 Vgl. Christian Gotthilf Salzmann: Taschenbuch zur Beförderung der Vaterlandsliebe. Schnepfenthal 1802, in: Christian Gotthilf Salzmanns Pädagogische Schriften, herausgegeben von Professor Dr. Gustav Adolf Lindner, Wien und Leipzig 1888, Seite 360. 117 Siehe Päd. Welt, S. 289. 118 Vgl. a.a.O., S. 84. 119 Vgl. a.a.O., S. 288.

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für ihn beruhigend, dass Konrad aus eigener Kraft eine für seine Lebensverhältnisse hinreichende wirtschaftliche Basis zu erarbeiten vermag. Mit dem Begriff des Eigentums rückt der Gedanke der Subsistenzsicherung in den Vordergrund. Begleitet wird er von dem der Unabhängigkeit von fremder Hilfe und von dem Bewusstsein der eigenen Tüchtigkeit, wie es für den Selbstständigen kennzeichnend ist. Für Bauern und Bäuerinnen mag der Begriff wie eine Verheißung klingen – »frei auf eigener Scholle«, für Besitzlose aber als Stigma des Ausgeschlossenseins erscheinen. Und tatsächlich – Dialektik der Aufklärung – die französische Verfassung von 1791 bringt Eigentum ins Zwielicht, indem sie mit diesem zugleich Emanzipation und Rechtlosigkeit verkündet: Eigentümer haben Wahlrecht, Besitzlose sind nicht wahlberechtigt. Ein Faktum, das der den Illuminaten nahestehende und für den republikanischen Gedanken offene Salzmann wohl nicht gutheißen würde. Über die in seiner Erziehungsanstalt geleistete pädagogische Arbeit hinaus war Salzmann bestrebt, volkserzieherisch zu wirken. Er wollte vor allem das Landvolk aufklären. Mit seiner Wochenschrift »Der Bote aus Thüringen« intendierte er, »so viel Aufklärung und Naturerkenntniß unter die niedrigen Stände zu bringen als zur Beförderung ihrer Thätigkeit und Zufriedenheit nötig ist«120. Dazu hielt es Salzmann – wie auch andere Volksaufklärer – für erforderlich, für eine intensive Anbaupraxis – verbessertes Saatgut, effektive Düngungsmethoden und moderne Landbautechnik, Kartoffelanbau und Obstbaumanlagen – eine breite Leserschaft zu werben. Er wies auf die Notwendigkeit kluger Bevorratung hin und riet z. B. zur »Anlegung eines Kornmagazins«121, vermittelte Wissen über Schädlinge, klärte über deren Bekämpfung auf122, hob den Nutzen einer wohlorganisierten Hauswirtschaft hervor. So entschieden wie er Gesundheitserziehung in seiner Anstalt betrieb, so entschieden stellte er seine Wochenschrift in den Dienst der Aufklärung über den Wert der Volksgesundheit. Er plädierte für eine maßvolle Lebensführung, verbreitete arzneikundliches Wissen, informierte über Heilkräuter und empfahl einfache, naturgemäße Kleidung.123 Seine Appelle und Ratschläge zur Gesunderhaltung dienten nicht zuletzt dem Zwecke, die Arbeitskraft zu gewährleisten und zu steigern. Wie Salzmann verschrieben sich nicht wenige seiner Mitarbeiter ebenfalls der 120 Vgl. die Ankündigung von »Der Bote aus Thüringen« durch Salzmann, in: Humanistisches Magazin zur gemeinnützlichen Unterhaltung und insonderheit in Beziehung auf akademische Studien. Hg. von F. A. Wiedeburg, Helmstedt und Leipzig, 1788, 2. Bd., S. 95; die Wochenschrift (Abk.: Der Bote) erschien von 1788 bis 1816 in Salzmanns eigenem Verlag in Schnepfenthal, ab 1811 fungierte Johann Wilhelm Ausfeld als Herausgeber. 121 Vgl. Salzmanns Volksbuch »Sebastian Kluges Lebensgeschichte«, in Fortsetzungen gedruckt, in: Der Bote, 1789, S. 821. 122 Vgl. z. B. Der Bote, 1797, S. 293 ff. 123 Vgl. z. B. Der Bote, 1791, S. 215, a.a.O., 1789, S. 423, a.a.O., 1791, S.788.

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Sache der Volksaufklärung. Zum Beispiel veröffentlichten Christian Karl Andr¦ (1763 – 1831) und Johann Matthäus Bechstein (1757 – 1822) vornehmlich für die Landbevölkerung haus- und landwirtschaftliche wie auch gewerblich nützliche Kenntnisse in Folge, die schließlich zehn Bände füllten.124 Andr¦ ließ 1791 die Schrift »Der Landmann oder compendiöse Bibliothek alles dessen was einem deutschen Bauern oder Landwirth zu wissen nütz und gut ist«125 folgen. Als Sekretär der mährisch-schlesischen Gesellschaft für Ackerbau, Natur-und Landeskunde und Leiter des von dieser initiierten Kaiser-Franz-Museums in Brünn gab er eine ökonomische Zeitschrift126 heraus. Als Hofrat in Stuttgart – seiner letzten Wirkungsstätte – reüssierte er mit dem Hausbuch »Neuer Hausund Volksfreund für den deutschen Bürger und Landmann«127. Auch Bechstein, der seit 1800 als Direktor der Herzoglichen Forstakademie in Dreißigacker amtierte, blieb durchaus auf diesem volksaufklärerischen Kurs. Entsprechend bekundet er in einer der zahlreichen Publikationen seine Absicht, die Leser u. a. »mit den neueren ökonomischen Kenntnissen, die an vielen Orten mit dem besten Erfolg angewandt worden sind, bekannter«128 machen zu wollen. Der literarisch begabte Jakob Glatz (1776 – 1831) setzte in seinem volkserzieherischen Engagement die Akzente allerdings anders. Doch obwohl ihm als Kinder- und Jugendbuchautor – schon während seiner Tätigkeit in Salzmanns Anstalt wie auch später als evangelischer Prediger und Konsistorialrat in Wien – vornehmlich daran gelegen war, Heranwachsenden Orientierungshilfe für die psychische und moralische Welt zu geben, lieferte auch er ein Stück Ratgeberliteratur in Sachen Agrar- und Hauswirtschaft129, informierte detailliert über Stall- und Haustiere, ihre Haltung, Züchtung und die Behandlung erkrankter Tiere. Wegen seiner volkserzieherischen Aktivitäten besonders hervorzuheben ist ebenfalls der bereits erwähnte Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759 – 1839). Er hat von seinem 26. Lebensjahr an – über Salzmanns Zeit hinaus – mehr als ein halbes Jahrhundert an dessen Anstalt gewirkt und sie mitgeprägt. In der 124 Vgl. Christian Karl Andr¦ / Johann Matthäus Bechstein: Gemeinnützige Spaziergänge auf alle Tage im Jahr für Eltern, Hofmeister, Jugendlehrer und Erzieher. Zur Beförderung der anschauenden Erkenntnisse besonders aus dem Gebiete der Natur und Gewerbe der Hausund Landwirtschaft. 10 Bde., Braunschweig 1790 – 1797. 125 Vgl. Christian Karl Andr¦: Der Landmann oder compendiöse Bibliothek alles dessen was einem deutschen Bauern oder Landwirth zu wissen nütz und gut ist. Göttingen 1791 126 Vgl. Ders. (Hg.): Oekonomische Neuigkeiten und Verhandlungen. Zeitschrift für alle Zweige der Land- und Haus-Wirthschaft des Forst- und Jagd-Wesens im Österreichischen Kaiserthum. Prag 1811 – 1831 127 Vgl. Ders.: Neuer Haus- und Volksfreund für den deutschen Bürger und Landmann. Leipzig 1822 – 1829. 128 Vgl. Johann Matthäus Bechstein: Gespräche im Wirthshause zu Klugheim über allerley Nützliches und Belehrendes aus der Natur und Oekonomie, Nürnberg 1796 – 1804, Vorrede. 129 Vgl. Jakob Glatz: Gutmanns zuverlässiger Rathgeber zum Nutzen der Landsleute, Hauswirthe und Oekonomen. Leipzig 1808

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pädagogischen Öffentlichkeit hat er nicht nur durch sein sportpädagogisches Konzept, sondern auch durch die von ihm herausgegebene »Bibliothek der Pädagogischen Literatur«130 breite Resonanz gefunden. Seine Zeitschrift, die vorwiegend Rezensionsorgan war, erfüllte zugleich eine volksaufklärerische Funktion. Darin behandelte er aktuelle Erziehungsfragen, thematisierte den Erwerb beruflicher Qualifikationen, rezensierte z. B. einen »Gesundheitskatechismus«, ein Lehrbuch für Warenkunde, eines für Landwirtschaft, zwei zu Industrieschulen. Sein Vorschlag, Gartenbau und Baumzucht in das Bildungsprogramm der Industrieschulen zu integrieren, wurde in der öffentlichen Diskussion positiv aufgenommen.131 Er plädierte für die Einrichtung von »Unterrichtsanstalten für junge Handwerker«132 und gab in einer Publikation Anleitung »zur Kunst des Drehens, Metallarbeitens und des Schleifens optischer Gläser«133. Diese wie auch andere Mitarbeiter Salzmanns haben zum Projekt der Epoche, die Aufklärung des Volkes zu befördern, einen Beitrag geleistet, speziell auch darauf hingearbeitet, durch Hebung der allgemeinen ökonomischen Kompetenz die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. Auf dem Weg über Salzmanns Schnepfenthal haben sie sich zu Volksaufklärern eigenen Profils von beträchtlichem Wirkungsgrad entwickelt. In Salzmanns pädagogischem Konzept kommt dem Wirtschaftlichen fraglos ein markanter Stellenwert zu, hat er es doch über den Gedanken des zur Tätigkeit berufenen Menschen in seiner religiös geprägten Anthropologie verankert. »Der Mensch ist zu einem geschäftigen Leben von seinem Schöpfer bestimmt«134, eine These, mit der er 1791 die Predigt zur Einführung eines neuen Zöglings in die Schnepfenthaler Gemeinschaft eröffnet. Sie gebietet Aktivität – auch zur Selbstsorge – und damit das Bemühen, sich entsprechend auszubilden. Für die Pädagogen und Pädagoginnen ergibt sich dann die Pflicht, zu einem tätigen 130 Die Zeitschrift erschien unter verschiedenen Namen von 1800 bis 1819 und umfasste insgesamt 53 Bände: Bibliothek der Pädagogischen Literatur verbunden mit einem Correspondenzblatte, welches pädagogische Abhandlungen, Aufsätze, Anfragen, Nachrichten, Wünsche, Zweifel, Vorschläge etc. enthält, und einen Anzeiger. Gotha 1800 – 1805; Zeitschrift für Pädagogik, Erziehungs- und Schulwesen Leipzig 1806 – 1807; Neue Bibliothek für Pädagogik, Schulwesen und die gesammte neueste pädagogische Literatur Deutschlands. Leipzig/Schnepfenthal/Neustadt a. d. Orla 1808 – 1819. 131 Vgl. N. (Anonymus): GutsMuths und Seckendorff über Gartenbau und Baumzucht als Gegenstand der Industrieschulen, in: Schleswig-Holsteinsche Blätter für Polizei und Kultur. Helmstedt 1800, 2. Bd., S. 16 – 25. 132 Vgl. GutsMuths: Ueber die Nothwendigkeit der Unterrichtsanstalten für junge Handwerker, in: Zeitschrift für Pädagogik, Erziehungs- und Schulwesen. Leipzig 1807, H. 5, S. 69 – 71. 133 Vgl. GutsMuths: Mechanische Nebenbeschäftigungen für Jünglinge und Männer, enthaltend praktische auf Selbstbelehrung berechnete Anweisung zur Kunst des Drehens, Metallarbeitens und des Schleifens optischer Gläser. Als Anhang zur Gymnastik. Leipzig/ Altenburg 1801. 134 Vgl. Päd. Welt, S. 326.

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Leben zu ermutigen und bei der Ausrüstung mit Lebenswerkzeug, wozu wirtschaftliche Kompetenz gehört, behilflich zu sein. Salzmanns Konzept, wie es sich in seinen zahlreichen Schriften abzeichnet, diente gleichsam als Blaupause für die Herausbildung seiner pädagogischen Praxis. Nach deren Maßgabe und der im Zuge ihrer Etablierung sukzessiv gewonnenen Erfahrungen, hat er bedachtsam seinen Plan umgesetzt. Mit seinen Mitarbeitern – die alle erst nach einer Bewährungszeit endgültig eingestellt wurden – ist es ihm gelungen, Organisation, Ordnung und Rhythmus der Anstalt sowie deren erzieherisches Handlungsrepertoire so anzureichern, zu optimieren und zu flexibilisieren, dass gute Voraussetzungen gegeben waren für ein produktives Zusammenwirken aller Faktoren, deren es zur Förderung seiner Schüler bedurfte. Wenn wir rückblickend – unter Beachtung der unterschiedlichen Gegebenheiten und Lösungsansätze, wie sie bei den umrissenen drei Positionen vorliegen – nach einem gemeinsamen Zug fragen, so war es das Bestreben, die Heranwachsenden zu einem der Moral verpflichteten tüchtigen und vernünftig wirtschaftenden Glied des Gemeinwesens zu erziehen – einer Moral, die bei Weigel more mathematico, bei Darjes von Wolffs Philosophie her, bei Salzmann vernunfttheologisch-jesuanisch begründet erscheint. Das Proprium des Salzmannschen Anliegens besteht aber darin, dass die Orientierung im Leben und jedweder Erwerb von nützlichen Kompetenzen, gerade auch der Erwerb wirtschaftlicher Kompetenz, letztlich dem einen Zweck dienen soll, dem seine Lebensarbeit galt: den Menschen durch Erziehung zu vervollkommnen.

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Rolf Walter

Was könnte Proto-Globalisierung bedeuten? Auf den Spuren oberdeutscher Fernhändler in der Frühen Neuzeit

1.

Anstelle eines Vorworts …

Hans-Werner Hahn gehört zu jenen Historikern, die der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einen erheblichen Teil ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geschenkt haben. Zu erinnern wäre an seine profunden Monografien zu Kernthemen der Disziplin, z. B. zum Zollverein oder der Industriellen Revolution. Besonders hervorzuheben sind seine unverzichtbaren Arbeiten zu regionalhistorischen Phänomenen, zur Bürgertumsforschung und – ausgesprochenermaßen oder nicht – sein häufig gewählter Ausgangspunkt im methodologischen Individualismus. Dies mag man erkennen an einer Vielzahl von Biografien zu bedeutenden Zeitgenossen, die er in guter historischer Manier im Kontext ihrer Zeit verortete und ihnen Profil gab. So haben viele gewichtige und auch weniger bekannte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, vorzüglich im 19. Jahrhundert, in Hans-Werner Hahn ihren Meister gefunden, zuletzt exemplarisch Karl Braun.1 Bei Hahn bekommt Geschichte ein »Gesicht«, wird konkret und erfährt eine ausgewogene, faire Darstellung. Seine regionalhistorischen Beiträge zeichnen sich durch sorgfältige Recherche und den erfahrenen Blick des Historikers auf das Werden und Wesen, die Identität und den Charakter der untersuchten Region aus. Territoriale Zersplittertheit und komplexe föderale Vielheit historischer Regionen gründlich zu durchleuchten, gehört zu seinen Spezialitäten. Er ist es, der die Prägung des Raums durch Menschen, Vereine und gesellschaftliche Sub-Gruppen fein herausarbeitet. Solcherart verbindet er sozial- und wirtschaftshistorische, alltagshistorische, biografische und prosopographische Untersuchungsansätze sinnvoll miteinander. 1 Vgl. Hans-Werner Hahn: Wirtschaftsgeschichte in politischer Absicht. Karl Brauns Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Jeanette Granda / Jürgen Schreiber (Hg.): Perspektiven durch Retrospektiven. Wirtschaftsgeschichtliche Beiträge. Köln 2013, S. 251 – 266.

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Rolf Walter

Ich freue mich, seit nunmehr etwa 20 Jahren mit Hans-Werner Hahn an derselben Universität arbeiten zu dürfen und so manchen Forschungsschwerpunkt bzw. -ansatz wie die angedeutete Regionalgeschichte oder den methodologischen Individualismus mit ihm teilen zu können. Dass er zu den bedeutendsten deutschen 19.–Jahrhundert-Forschern gehört, kam mir besonders entgegen, da auch meine regionalhistorischen Schwerpunkte zwischen 1750 und 1870 angesiedelt sind. Besonders der wirtschaftlichen Integration im 19. Jahrhundert hat er sich nachhaltig gewidmet. Auch das verbindet uns. Er gehört zu jenen Historikern, die Geschichte im wohlverstandenen Sinne als »Ganzheit« begreifen. Eine immer wieder gemachte Erfahrung ist die, dass Themen, denen sich Hans-Werner Hahn in der Forschung zuwandte, als erschöpfend behandelt gelten können, gründlich und umfassend. Das gilt beispielsweise für die Themenkomplexe »Zollverein« und »Industrielle Revolution«, wo seine Arbeiten inzwischen zu den »Klassikern« zu zählen sind.2 So ließ sich beispielsweise die Geschichte der einzelnen Länder (bei Hahn vor allem Hessens) als integratives Segment der deutschen Wirtschafts- und Kulturgeschichte darstellen und so das Einzelne erforschen, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren.3

2.

Proto-Globalisierung. Eine Annäherung

An dieser Stelle soll versucht werden, in Analogie zum Begriff »Proto-Industrialisierung«, d. h. im Sinne des Verhältnisses des Einzelnen zum Ganzen in einer übergeordneten raum-zeitlichen Kategorie, der »Proto-Globalisierung« näherzukommen. Der Begriff der Proto-Industrialisierung ist ja hinreichend bekannt und meint die Industrialisierung vor der Industrialisierung mit besonderem Einbezug jener kargen Landschaften, die vom dynamischen Wachstum weit entfernt waren. Zu ihnen gehörte der Schwarzwald ebenso wie die Rhön, das Sauerland ebenso wie der Bayerische Wald und die Schwäbische Alb. Analog kann man die Proto-Globalisierung auffassen als die Globalisierung vor der Globalisierung unter wesentlicher Berücksichtigung jener Teile der Welt, die, eher im Schatten der weltwirtschaftlichen Zentralorte liegend, gleichwohl als Bindeglieder im Konzert der »Weltmärkte« mitspielten.4 Deren Integration 2 Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984; ders.: Die Industrielle Revolution in Deutschland. München 2005. 3 Ders.: Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein. Göttingen 1982. 4 Ausführungen dazu in Rolf Walter: Geschichte der Weltwirtschaft. Eine Einführung. Köln 2006, passim.

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Was könnte Proto-Globalisierung bedeuten?

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intensivierte sich in dem Maße, wie die Vergangenheit sich der Gegenwart näherte, wobei die steigende Geschwindigkeit der Annäherung zu beachten ist. Es versteht sich von selbst, dass aus Platzgründen hier nur eine skizzenartige Vorstellung vermittelt werden kann. Das Auftauchen eines neuen Begriffs und weitere taxonomische Differenzierungen Der globale Wettbewerb kennt keinen Distanzschutz mehr, wie ihn HansWerner Hahn in »seiner« Zeit im Transregional-Geschäft etwa in der Phase zwischen Wiener Kongress und der Weltwirtschaftskrise von 1857 noch feststellen konnte. Es ist der Machtverlust des Nationalstaats, die häufig zitierte »Entparlamentarisierung«, die erheblich zur allgemeinen Verunsicherung beiträgt. Jede frühere Gegenwart wusste über die bevorstehende Zukunft ungleich Verlässlicheres zu sagen als die derzeitige. Dennoch nimmt gegenwärtig – wenn nicht alles täuscht – der Glaube, die Zukunft deutlich besser prognostizieren zu können, stark zu. Dies hängt wohl mit der weit verbreiteten Annahme zusammen, futurologische Komplexität ließe sich in Algorithmen, gewissermaßen modellhaft in logischen und kausalen Vernetzungen darstellen. Viele Wirtschaftswissenschaftler treffen ihre Schlussfolgerungen offenbar in der impliziten Annahme, alle Risiken seien bekannt.5 Es ist erfreulich, dass Historikern wenig Neigung zu derartigen unzulässigen Vereinfachungen nachgesagt werden kann. Hahn ist ein schönes Beispiel dafür. Seine Erfahrung mit der historischen, quellenkritischen Methode lehrt ihn, dass nichts gewisser ist als die Ungewissheit. Vielleicht führt dies zur sprichwörtlichen »Gelassenheit des Historikers«. Bei seinen Protagonisten wird den Motiven und der Intuition nachgespürt, aus der Quelle zu ermitteln versucht, was nicht mehr erfragbar ist. »Seine« Zeitzeugen leben nicht mehr, d. h. die Möglichkeit, im Rahmen einer oral history die Quellen selbst zu schaffen, ist nicht gegeben.

3.

Die Globalisierung hat ein »Gesicht«

Globalisierung mag für den Historiker zunächst nichts Abstraktes bedeuten. Vielmehr ist sie lebendig und hat ein »Gesicht«. Ebenso, wie man sagt, ein geschichtsloses Unternehmen sei ein gesichtsloses Unternehmen, ist es auch mit der Globalisierung. Sie hat ein Profil, ein Cluster, zeigt Strukturen und strukturelle Analogien, wird verstehbar und nachvollziehbar, für den Historiker : rekonstruierbar, wenn und soweit Globalisierungsgeschichte vorwiegend als Geschichte handelnder Menschen verstanden wird. Im Rahmen seiner biogra5 Vgl. Gerd Gigerenzer : Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München 2013, S. 26 f., 35 ff. u. passim.

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fischen und vor allem seiner auf Wirtschaft bezogenen Studien konnte HansWerner Hahn dies immer wieder verdeutlichen, indem er versuchte, die Akteure, also die Köpfe und Institutionen, zu identifizieren, die hinter Handlungen stehen. Dabei ist zu denken an Kaufleute, Bankiers, Kommissionäre, Räte, Reeder usw., also ausgebildete, talentierte Menschen mit genügend Erfahrung und Kenntnis der materiellen Kultur, den Usancen und Besonderheiten, der Mentalität und Sprache der Zielkulturen, mit denen sie in Verbindung stehen.6 Dabei treten immer wieder Gruppen (etwa das Altständische Bürgertum) in das Blickfeld des neugierigen Historikers, die bisher wenig Beachtung fanden, sich aber für eine prosopographische Studie förmlich anbieten. So erinnere ich mich an ein Gespräch mit Hans-Werner Hahn vor einigen Jahren, in dem er mir von seiner jüngsten »Entdeckung« erzählte: der Berufsgruppe der Zöllner, Mautner oder Zollbeamten. Mit ihnen hatten die intranational und international tätigen Frachtführer und Kaufleute regelmäßig zu tun.

4.

Die Fernhändler der Renaissancezeit als Pioniere der Proto-Globalisierung

Bereits der Renaissance-Kaufmann war ein umfassend gebildeter, gleichermaßen strategisch wie rational denkender Typus.7 Die international und global agierenden Kaufmannsbankiers mussten Universalisten und Spezialisten zugleich sein, die über diplomatisches Geschick, Sprach- und Verhandlungskompetenz verfügten. Sie suchten sich Partner, bildeten Gemeinschaften, Gesellschaften, Konsortien und knüpften Netze. Die unabdingbare Basis des Erfolgs war das Vertrauen. Es bildete das Grundkapital des »ehrbaren Kaufmanns«.8 Kein mittelalterliches oder frühneuzeitliches Handelsnetz war ohne Vertrauenskultur denkbar. Das Netzwerk des Vertrauens musste sich räumlich mit der Reichweite der Warenströme decken. So lassen sich bereits locker geknüpfte Verflechtungsbeziehungen des Kreuzzugsunternehmertums zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert identifizieren. Die Reichweite ihrer Hauptprotagonisten wie beispielsweise eines Bernardus Teutonicus schloss die zentralen Orte Venedig, Konstantinopel, Brügge, Köln und London ein, über die bereits länderübergreifend Kapital- und Kredittransaktionen liefen. Im Rahmen der 6 Vorzüglich hierzu: Enrique Otte: Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern (=Studien zur modernen Geschichte, 48). Stuttgart 2004. 7 Vgl. Hermann Kellenbenz: Der italienische Großkaufmann und die Renaissance, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1958/45, S. 145 – 167. 8 Vgl. Reinhard Haupt: Der »Ehrbare Kaufmann«. Erinnerungen in der Unternehmensethik an vergessene Wirtschaftstraditionen, in: Granda / Schreiber : Perspektiven (wie Anm. 1), S. 47 ff.

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vorhandenen rudimentären Infrastruktur, die persönliches Begegnen an den Zentralorten des Handels allenfalls im Rhythmus von Monaten oder sogar Jahren zuließ, mögen Werte wie Zuverlässigkeit als vertrauensbildende Komponente einen besonders hohen Stellenwert gehabt haben. Für die venezianischen Großkaufleute des Mittelalters war es eine ziemliche Selbstverständlichkeit, mit arabischen, seldschukischen, islamischen, nordafrikanischen und vorderasiatischen Kaufleuten Handel zu treiben. Sie mussten deren Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche gut kennen. So zeigt sich, dass Globalisierung auch eine Frage der Identitäten, der Verständigung und der Sprachen war.9 Arnold Esch warf einen exemplarischen Blick in das älteste überlieferte deutsch-italienische Sprachbuch für den Gebrauch von Kaufleuten in Venedig von 1424, das von einem Meister Georg von Nürnberg stammt. Es enthält nicht nur Wörter wie »amare« mit all ihren Stammformen, sondern auch und gerade Begriffe wie »far la ragione« (rechnen). Es ist reich an Substantiven wie »el cambio« (der Wechsel), »el guadagno« (der Gewinn) usw., ist also geeignet, den Leser zur Konversation unter Kaufleuten im Handelsalltag zu befähigen. Mehrsprachigkeit und fachsprachliche Kompetenz waren Pflicht für die »Auszubildenden« der transnational und transkontinental tätigen oberdeutschen Handels- und Bankunternehmen in ihrem Zentrum, dem (1223 entstandenen) Fondaco dei Tedeschi am Canal Grande. Aber nicht nur die Sprach- und Konversationsfähigkeit, sondern auch die umfassende Kenntnis der Zielkulturen, der Usancen, Umgangs- und Bekleidungsformen, konkreter noch der Kleiderordnung war ein Muss. Gewiss beeinflusste der Individualismus der Renaissancebewegung das Konsumverhalten nachhaltig. Häufig war nicht nur die Frage des Sich-leisten-Könnens gestellt, sondern die des Sich-leisten-Dürfens, die Frage nämlich, ob der betreffende Kunde Hermelin tragen durfte, sich Zobel leisten konnte oder es womöglich einer Beleidigung gleichkam, wenn man ihm ein Marderfell verkaufen wollte oder gar schenkte. In England legten z. B. die Statuten der Jahre 1553 und 1554 die Art der Kleidung fest, die den einzelnen gesellschaftlichen Schichten zukam. Ganz allgemein waren seidene und andere kostbare Gewänder den Adeligen vorbehalten, während sich das gemeine Volk in einfache Wollstoffe oder in anderen Ländern in Leinen zu kleiden hatte. Kaufleute, die transnational mit Konsumartikeln handelten, mussten die gesetzlichen Regeln und die Gewohnheiten (also die Kulturen) gut kennen, freilich auch deren Aufhebung. Die Abschaffung der Kleiderordnung in England 1604 wird den aufmerksamen Fernhändlern wohl nicht allzu lange verborgen geblieben sein. 9 Vgl. Arnold Esch: Viele Loyalitäten, eine Identität. Italienische Kaufmannskolonien im spätmittelalterlichen Europa, in: ders.: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart. München 1994, S. 115 – 133, hier: S. 120.

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Man kann nun hergehen und, von diesen punktuellen, eher zufälligen Anfängen einer allmählichen Internationalisierung und Kommerzialisierung ausgehend, den Gründungsinitiativen der einzelnen Handels- und Bankhäuser folgend, bis zur Gegenwart gewissermaßen organisch die Genese der bedeutendsten Unternehmen der Wirtschaftsgeschichte gleich einem Mosaik Steinchen für Steinchen zusammenfügen, auf dass ein Gesamtbild daraus sichtbar werde. Man müsste dabei die weitläufigen Beziehungsgeflechte der Hansekaufleute ebenso einbeziehen wie die Große Ravensburger Handelsgesellschaft (1380 – 1530) sowie das weite und fein verästelte Netzwerk des Pratenser Großkaufmanns Francesco di Marco Datini (1335 – 1410), das in nicht weniger als 125 000 erhaltenen Geschäftsbriefen und 500 Rechnungsbüchern beschrieben ist. Man könnte dann fortfahren mit den weiten Handelsräumen und dynastischen wie kommerziellen Verflechtungsbeziehungen der Toskaner, der Medici, Bardi, Strozzi und Acciaioli, der Genuesen Grimaldi und Centurione, deren namhaftester Agent zur Zentral- und Symbolfigur frühneuzeitlichen Globalisierungsstrebens werden sollte wie kein anderer, nämlich Christoph Kolumbus. So kam Spanien mehr oder weniger zufällig zu einem gewaltigen Empire und man mag Henry Kamens Urteil zustimmen: »[…] the first globalized enterprise of modern times [was] the ›Spanish Empire‹.«10 Die Erschließung der Neuen Welt, die man spanisch Las Indias nannte, brachte einen bunten Reichtum materieller Kultur nach Europa und Asien sowie zusätzliches Wachstum im immer dichter werdenden globalen Geschäft. Neue Produkte gelangten hier wie dort an den Markt und veränderten nach und nach die Nahrungs-, ja sogar die Lebensgewohnheiten der Menschen, man denke nur an die Kartoffel oder an den Kakao und die mit ihm verbundene ConfiserieKultur. Aber auch Erdnüsse, Tomaten, Mais, Bohnen, Erdbeeren, Ananas und Vanille verfeinerten den kulinarischen Alltag als Resultat der Proto-Globalisierung des 16. Jahrhunderts. Hinzu kamen aber auch Güter, die man gegenwärtig gerne wieder vom Globus verbannen würde, z. B. den Tabak. Mit jedem dieser Weltmarktartikel der Frühen Neuzeit ist eine wiederum eigene kleine Kulturgeschichte verbunden, zuweilen auch heitere Anekdoten etwa über die Unkenntnis des Umgangs mit den neuen Produkten. Bekannt ist die Geschichte Sir Walter Raleighs, der als einer der Ersten den Tabak aus der Neuen Welt nach Europa brachte, sich gemütlich eine Pfeife anzündete und dessen unwissender Diener den Rauch mit Feuer assoziierte und seinem Herrn kurzerhand einen Kübel Wasser über den Kopf warf. Was anschließend mit dem Diener geschah, ist nicht überliefert. Durch die Veränderungen der materiellen Kultur im Windschatten der 10 Henry Kamen: Spain’s Road to Empire. The Making of a World Power, 1492 – 1763. London 2002, S. XXVIII.

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Flotten des Genuesen erhielt der Handel kräftige Impulse. Einem der besten Kenner der frühneuzeitlichen internationalen Handelsgeschichte, Niels Steensgaard, ist zuzustimmen, wenn er schreibt: »The introduction of colonial commodities was the largest change and major cause of growth in north European long-distance trade between the medieval period and the middle of the eighteenth century.«11

Wesentlich beteiligt an der Distribution und Kreditierung der kolonialen Güter waren – um wieder auf die transnational und transkontinental agierenden Unternehmen zurückzukommen – Italiener, Flamen und Oberdeutsche, allen voran Jakob Fugger und dann sein Neffe Anton sowie Bartholomäus Welser und ihre Agenten.12 Unter Letzteren gab es solche, die sowohl an der atlantischen Westexpansion als auch an der östlichen Asienexpansion beteiligt waren. Einer davon war Lazarus Nürnberger, der sowohl in das Westindiengeschäft des frühen 16. Jahrhunderts involviert war als auch durch seine Reise nach Indien der Jahre 1517/18, die er relativ ausführlich beschrieb, in Erscheinung trat. Nürnberger stellt so eine Art Personifizierung der frühneuzeitlichen Doppelexpansion dar und die Aufarbeitung seiner Biografie wird zur spannenden Pfadsuche und hoffentlich in absehbarer Zeit der Pfadfindung des faszinierenden Handelskosmos, der sich von Kalikut in Indien über Sevilla bis nach Mexiko erstreckt.13 Dieser Lazarus Nürnberger ist keineswegs der einzige Kaufmann, der nachgewiesenermaßen tri-kontinental aktiv war. Ein anderer ist der Portugiese Manuel de Paz (1580 – 1642), von dessen zumindest temporärer Anwesenheit im indischen Goa als auch im brasilianischen Bahia die Quellen Kunde geben. Ein Dritter war der Florentiner Kaufmann und Reisende Francesco Carletti (1573/ 74 – 1636), der eine sechsjährige Reise beschrieb, die ihn u. a. nach Panama, Peru, Mexico, Macao, Malakka und Goa (Indien) führte. Auf Nürnberger wird weiter unten nochmals zurückzukommen sein.

11 Niels Steensgaard: The growth and composition of the long-distance trade of England and the Dutch Republic before 1750, in: James D. Tracy (Hg.): The Rise of Merchant Empires: Long-Distance Trade in the Early Modern World, 1350 – 1750. Cambridge 1990, S. 102 – 152, hier : S. 145. 12 Zu den Welsern vgl. generell und grundlegend Mark Häberlein / Johannes Burkhardt (Hg.): Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses (Colloquia Augustana, 16). Berlin 2002. Zu den Fuggern die geraffte, aber profunde Darstellung von Mark Häberlein: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367 – 1650). Stuttgart 2006. 13 Vgl. Hermann Kellenbenz: Dreimal Lateinamerika. München 1990, S. 11 ff.

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5.

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Proto-globale Unternehmer- und Unternehmensstrategien im 16. Jahrhundert: Beispiele

Auch die Frage, wie aus mikroökonomischer Sicht, d. h. aus der Sicht eines Unternehmens, eine globale Perspektive im 16. Jahrhundert bereits eine Rolle gespielt haben könnte, lässt sich allgemein schwer beantworten, doch liefern gut untersuchte Unternehmen wie das der Augsburger Fugger interessante Hinweise. Nach dem Ausgreifen der Welser nach Amerika und der 1528 erfolgten Übertragung der Provinz Venezuela schien dieses Haus jenes der Fugger wohl nicht an Glanz, aber an kühner, in die Welt ausgreifender Unternehmungslust zu überstrahlen. Doch auch wenn wir bis heute nicht genau wissen, ob die Fugger ähnlich den Welsern eine Faktorei in Santo Domingo besaßen, ist uns wenigstens bekannt, dass der Fugger-Agent Sebastian Kurz in Yucat‚n,14 also Süd-Mexiko, war, was die Interessen des Augsburger Hauses an Neuspanien unterstreicht. Ähnliche Verbindungen bestanden auch nach Nombre de Dios an der Landbrücke von Panama und zum Rio de la Plata. Als es Francisco Pizarro gelungen war, sich die eroberten Gebiete Neukastiliens zu sichern, brachte Simûn de Alcazaba 1529 einen Vertrag zustande, der ihm den südlichen Teil mit Chile bis zur Magellanstraße zur Eroberung freigab. Dieser Küstenstreifen war geostrategisch von großem Interesse, denn von dort aus konnte man auf westlichem Wege die Molukken erreichen, also die wegen ihrer Gewürze allseits begehrte indonesische Inselgruppe. Auf dem »normalen«, östlichen, Weg um das Kap der Guten Hoffnung via Indischer Ozean war dies seit dem Vertrag von Saragossa 1529 nicht mehr möglich, da Karl V. gegenüber Portugal gegen Entschädigung auf seinen Anspruch auf die Molukken verzichtet hatte. Alcazaba fehlten jedoch die finanziellen Mittel zur Realisierung des Unternehmens und so ließ Anton Fugger seinen Faktor am spanischen Hof, Veit Hörl, beim Consejo de Indias, also der obersten Verwaltungs- und Gerichtsbehörde für die amerikanischen Besitzungen, Konzessions-Verhandlungen führen. Die Unterzeichnung durch Hörl erfolgte im Juni 1531, doch die Ratifizierung durch den Kaiser zögerte sich vermutlich deshalb hinaus, da der Indienrat mit der Welser-Conquista nicht die besten Erfahrungen gemacht hatte. Interessant ist, dass währenddessen Anton Fugger durch den Augsburger Christoph Amberger eine Mappa de mundo novo, eine Karte der Neuen Welt, anfertigen ließ. Darüber hinaus befand sich ein Exemplar der Mappa Mundi von Cabot in Anton Fuggers Besitz, auf der die Gold- und Silberbergwerke im Hinterland des La-Plata-Gebiets eingezeichnet waren.15 Dies sind deutliche Indizien für Anton Fuggers globales Interesse und all14 Vgl. ebd., S. 35 ff. 15 Vgl. Hermann Kellenbenz: Anton Fugger 1493 – 1560. Weißenhorn 1993, S. 35 f.

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seitige Abwägung sowie Absicherung möglicher Investitionschancen und -risiken. Die Risiken mögen am Ende überwogen haben, sodass er vom ChileMolukken-Projekt abließ, um stattdessen transparentere Geschäftspläne zu verfolgen, die sich geografisch von den Karpaten über Unteritalien, die Niederlande, Ungarn, Tirol, Spanien, den Atlantik nach Westindien und der afrikanischen Küste entlang nach Indien und den Vorderen Orient erstreckten.

6.

Die Welser und ihre Partner im frühglobalen Handelsnetz

Hauptfaktoren waren eben jene oben schon angesprochenen, exzellent ausgebildeten, talentierten Menschen mit genügend Erfahrung und Kenntnis der materiellen Kultur, den Regeln und Besonderheiten, der Mentalität und Sprache der Zielkulturen, mit denen sie in Verbindung standen und vielfältig verknüpft waren. Zweifellos hat sich die Fähigkeit des Menschen zur Raumerschließung und Integration von Räumen im vergangenen halben Jahrtausend analog zum technischen Fortschritt dynamisch verändert und damit einhergehend auch das Empfinden und die Vorstellungen der Zeitgenossen von Raum und Zeit.16 Dazu haben die Kaufleute und Händler stark beigetragen. Sie waren es, die durch Tausch von Waren und Geld, durch Verhandlungen und Verträge Bindungen und Verbindlichkeiten schufen, Güter, Nachrichten und Wissen generierten und transferierten und damit für Lohn und Brot ihrer Familien und Mitarbeiter sorgten. Die Unternehmer und ihre Agenten bildeten Netze, die bald den nächsten Ort, bald fremde Städte, Regionen, Länder und Kontinente erfassten, immer in dem Bestreben, das zu tun, was des Kaufmanns »heilige« Pflicht und Aufgabe war und ist, nämlich materielle Knappheit zu beseitigen und für die möglichste Wohlfahrt der Menschen zu sorgen. Sicher erweist ein Blick in die Geschichte und Gegenwart immer auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Während die einen sich in die Ferne und in der Ferne bewegen, gewissermaßen freiwillig und leidenschaftlich das Weite suchen, gibt es gleichzeitig die verharrenden Kräfte, deren Existenz und Denken förmlich an die Scholle gebunden sind. Es ist in der Frühen Neuzeit die weit überwiegende Bevölkerung, die nie in ihrem Leben den imaginären Bannkreis von sagen wir fünfzig Meilen um ihr Dorf überschritt. Zur allgemein bekannten Welt gehörten immerhin schon die Inselwelt des 16 Vgl. Rolf Walter : Die Wirtschaftsgeschichte als Geschichte der Zeit, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.): Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag. Bd. 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert (=VSWG-Beihefte, 134). Stuttgart 1997, S. 3 – 18.

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Indischen Ozeans und südchinesischen Meeres sowie schließlich spätestens nach 1492 Amerika mit Westindien und den Küstenbändern seines südlichen Teilkontinents. Nicht zu vergessen und von strategisch herausragender Bedeutung waren die Inseln des Atlantik (Madeira, Kanarische Inseln, Kapverden) als strategische Brückenköpfe zur Neuen Welt, die freilich erst ab dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts einige Bedeutung für den internationalen Handel erlangten. Im Rahmen dieser Aufbruchsphase der Weltwirtschaft mit der Intensivierung des weltweiten Netzspinnens sollte den oberdeutschen und italienischen Kaufleuten eine besondere Rolle zufallen. Die Orientierung, Positionierung und Navigation im entstehenden Welthandelsnetz war recht aufwändig. Der Kaufmann und Schiffsführer des 16. Jahrhunderts benutzte zur groben Orientierung (häufig aus Nürnberger Produktion stammende) Instrumente aus Holz oder Metall wie Astrolab, Quadranten, Greifzirkel, Kompass, Reisesonnenuhr, Räderuhr und Proportionalzirkel ebenso wie Reisebeschreibungen, Lotsenhandbücher und Routenverzeichnisse. Wichtig waren Erfahrung, Phantasie und eine Art siebenter Sinn des weltläufigen Kaufmannsbankiers. Seine internationale Disposition bedurfte einer gewaltigen Sammlung von Daten, Nachrichten und innovativen Ideen zur Überwindung größerer Räume in immer kürzerer Zeit. Zeitrationalisierung und Zeitrentabilisierung nahmen in der Frühen Neuzeit beträchtlich zu. Die Professionalisierung des Post- und Botenwesens, besonders das Stafetten- oder Relaissystem steigerten die Netzqualität beträchtlich. Je kürzer die Ablösungsintervalle, desto schneller wurde die Nachrichtenübermittlung. Bei stündlicher Ablösung des Reiters konnten mehr als 250 Kilometer am Tag zurückgelegt werden. Das war freilich eine Frage des Personal- und somit Kapitalaufwands, also eine Investitionsentscheidung. Wechselte man stündlich nicht nur den Reiterboten, sondern auch das Pferd, waren in der Spitze bis zu 400 Kilometer in 24 Stunden leistbar. Wem es auf diese Art gelang, z. B. die Reise von Venedig nach Augsburg um einen Tag zu verkürzen, der konnte uneinholbare komparative Wettbewerbsvorteile verbuchen. Die Taxen für transkontinentale Depeschen stiegen überproportional an mit jedem Tag und jeder Stunde kürzerer Laufzeit. Sie waren eine Funktion von Eilbedürftigkeit, Dringlichkeit und Bedeutung der Nachricht. Eine Auswertung der Geschäftsunterlagen des Nürnberg-Augsburger Handelshauses Paumgartner (um 1490) ergab, dass ein Vier-Tages-Bote von Venedig nach Nürnberg genau doppelt so teuer war wie ein Fünf-Tages-Bote und viermal so teuer wie ein Sechs-Tages-Bote.17 Informations-Vorsprünge von wenigen Tagen oder sogar Stunden konnten über Gewinn oder Verlust von Vermögen entscheiden. Für weit 17 Vgl. Hermann Kellenbenz: Die Entstehung des Postwesens in Mitteleuropa, in: Festschrift für Othmar Pickl zum 60. Geburtstag. Graz / Wien 1987, S. 285 – 291, hier : S. 287.

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vernetzte Großkaufleute und Anbieter von Dienstleistungen wie Fugger und Welser, die nicht nur Güter, sondern auch Geld, Wechsel und Nachrichten zwischen ihren Handelsniederlassungen zu transferieren hatten, erschien es aus Gründen der Sicherheit und Rentabilität lohnend, ein eigenes Nachrichtensystem aufzubauen und gelegentlich Dritten als Dienstleistung anzubieten. Darüber hinaus kam es wesentlich auf die Präzision der Datenaufzeichnung an, am besten in einer doppelt abgesicherten Form, wie man sie seit dem 15. Jahrhundert aus der Buchführung kannte. Der Auf- und Ausbau der frühglobalen Verflechtungsbeziehungen setzte in erster Linie planvolles Handeln und eine akribische Ordnung voraus. Vielerlei Münzen, Maße und Gewichte und andere metrologische Feinheiten mussten in Erfahrung gebracht und in die Planung einbezogen werden. Diesen organisatorischen und finanziellen Aufwand durfte der Fernkaufmann der Renaissance nicht scheuen, wollte er am fremden Markt erfolgreich sein. Was für den Bauern oder Gutsherrn die Meteorologie, war für den Kaufmann die Metrologie. Nur hat das Erstere mehr mit Schicksal und das Letzte mehr mit Wissen, Wissensspeicherung und Erfahrung zu tun. Das Meder’sche Handelsbuch mit den Welser’schen Nachträgen oder die unverzichtbare Sammlung der metrologischen Daten zu den Welthandelsbräuchen (bis 1540) aus dem Paumgartner-Archiv, um nur zwei besonders reichhaltige Quellen zu nennen, geben eine Vorstellung von der metrologischen Vielfalt der damaligen Handelswelt und mithin davon, mit welcher Komplexität es der Kaufmann der Renaissance zu tun hatte.18 Neben all diesen Aspekten erstrangige Bedeutung hatte jedoch allemal die treffende Auswahl und Rekrutierung bestqualifizierter Mitarbeiter. Auf deren Erfahrung, Expertise, Verhandlungs- und Sprachkompetenz kam es an.19 Davon lebte das Fernhandelsunternehmen. Darin lagen die eigentlichen Gründe für die Erfolge. Die großen Kaufmannshäuser wurden in den zentralen Handels- und Messestädten Europas durch erfahrene Faktoren und teilweise recht einflussreiche Ratsherren repräsentiert, die meist den oberdeutschen oder in seltenen Fällen auch den schweizerischen Eliten entstammten. Ihre Namen und Beziehungen sind von Wolfgang Reinhard und seinen Schülern im Rahmen einer von ihm entwickelten Verflechtungsmatrix systematisch dargestellt worden, worauf

18 Vgl. Hermann Kellenbenz (Hg.): Handelsbräuche des 16. Jahrhunderts: Das Meder’sche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge (=Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, 15). Wiesbaden 1974, passim. 19 Vgl. Rolf Walter : Human resources. Unternehmer und ihre Agenten auf den europäischen Märkten und Messen im 16. Jahrhundert, in: Istituto Internazionale di Storia Economica »F. Datini« (Hg.): XXXII. Settimana di Studi, Fiere e mercati nella integrazione delle economie europee. Secoli XIII – XVIII. Prato / Firenze 2001, S. 779 – 796.

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hier exemplarisch verwiesen sei.20 Die Faktoren und Handelsdiener waren erfahren, versiert, strategisch begabt und kannten die Usancen, das kommerzielle und gesellschaftliche Milieu an den Haupthandelsplätzen der damaligen Welt, an das sie nicht selten auch privat durch Ehe gebunden waren. Sie mussten – in moderner Diktion – »verhandlungssicher« und »teamfähig« sein. Sie fungierten als »Schlüsselpersonen«, als Multiplikatoren und Mediatoren und hatten im Rahmen ihres Zielgebiets omnipräsent zu sein. Wie wichtig die Faktoren waren, wurde kurioserweise häufig erst deutlich, wenn der eine oder andere von ihnen versagte, seinem Loyalitätsversprechen zuwider handelte oder unerlaubterweise Geschäfte auf eigene Rechnung machte.

7.

Niederlassungen und Geschäftsbeziehungen

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verfügten die oberdeutschen Fernhandelsunternehmen über ein Netz von Niederlassungen in deutschen Handelsmetropolen sowie an Zentralorten des internationalen Handels wie Salzburg, Innsbruck, Wien, Krakau, Budapest, Genf, Antwerpen, Genua, Venedig, Mailand, Rom, Lyon, Lissabon, Sevilla sowie in der Karibik (Santo Domingo, Venezuela etc.). Die Faktoreien wurden entweder von Gesellschaftern oder von bewährten Faktoren geleitet, von denen manche stille Teilhaber waren, d. h., deren Namen und Kapitalanteil traten im Außenverhältnis des Unternehmens nicht in Erscheinung. Das Welser’sche Messenetz konzentrierte sich stark auf das Dreieck Frankfurt–Antwerpen–Lyon, aber auch die Messen von Zurzach (Tuch, Leder aus Freiburg i. Ü.), Nördlingen (Wechsel), Leipzig (Spezereien, Safran, Leinwand etc.) sowie Bozen und Bergen op Zoom spielten eine – allerdings weniger zentrale – Rolle. Die Fugger waren vor allem im habsburgischen Gebiet, in Spanien, Portugal, Italien sowie in den Bergbauregionen (Tirol, Slowakei, Ungarn, Oberschlesien etc.) präsent, hielten sich jedoch bei Geschäften in relativ unbekannten Zielgebieten (z. B. Südamerika) mit Pionier-Investitionen auffallend zurück. Die Welser waren – wie das Beispiel Venezuela zeigt – diesbezüglich wesentlich risikofreudiger.21 Die Finanzgeschäfte reichten von Darlehen, Anleihen, Kapitalvorschüssen für Produzenten (Produzentenkrediten), Wechselgeschäften bis hin zur Hochfinanz, d. h. Großdarlehen an Fürsten, Könige und den Kaiser. 20 Vgl. Wolfgang Reinhard: Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500 – 1620. Berlin 1996. 21 Vgl. Rolf Walter: Los Alemanes en Venezuela. Bd. 1: Desde Colon hasta Guzman Blanco. Caracas 1985, S. 17 ff.

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Fugger und Welser beteiligten sich häufig an internationalen Konsortien, etwa wenn es um Darlehen an Kaiser Karl V. oder König Franz I. von Frankreich ging. Sie bildeten Kartelle, etwa um den hoch spekulativen Safran-Markt besser überschauen und beeinflussen zu können. Die Augsburger und Nürnberger Welser arbeiteten diesbezüglich zusammen mit den Nürnberger Imhof. Sie betrieben ferner das Verlagsgeschäft, etwa in Schlackenwald (Böhmen) zur Zinnproduktion und Joachimsthal zur Silberproduktion seit 1540 oder zur Tuchherstellung in Como und Tessin bis 1520 bzw. 1533. Sie unterhielten Saigerhütten und Hammerwerke etwa in Geyer und Chemnitz und darüber hinaus spezielle Handelsgesellschaften, so eine Zinnhandelsgesellschaft zu Leipzig vor 1523. Sie hielten Bergwerksbeteiligungen, z. B. an Zinnbergwerken im spanischen Galicien und partizipierten an sogenannten bergrechtlichen »Gewerkschaften«, etwa an der Gewerkschaft des Kupferbergwerks Sangerhausen nach 1530.22 Ferner pachteten sie Staats- und Ordensgüter und die darauf ruhenden dinglichen Rechte, beispielsweise in den spanischen Ritterorden Santiago, Calatrava und Alc‚ntara im Wechsel mit den Fuggern, die sogenannte Maestrazgo-Pacht. Angesichts der Vielzahl von Funktionen und Tätigkeiten ließe sich mit einer gewissen Berechtigung von einem frühneuzeitlichen Mischkonzern sprechen. Die Fugger unternahmen mehrmals den Versuch, den internationalen Kupfermarkt zu monopolisieren. Dieses Ziel erreichten sie jedoch nie. Das internationale Kaufmannsunternehmertum gestaltete die Pfade und Verflechtungsbeziehungen der Weltwirtschaft mit und folgte ihnen zugleich. Wenn die Verlagerungen der »Weltwirtschaften« (im Sinne von Fernand Braudel) wie von »unsichtbarer Hand« (im Sinne von Adam Smith) geformt den makroökonomischen Rahmen bildeten, quasi die Struktur, so hatte der zukunftsorientiert und strategisch denkende Kaufmann, ob er nun Bartholomäus, Jakob oder Anton hieß, sich dieser kaum veränderbaren Struktur intelligent anzupassen und durch kreative Einfälle seine Marktposition aufzubauen und unter zum Teil erheblichem Risiko im Wettbewerb zu verteidigen. Das Risiko ist es, das den Unternehmer damals wie heute kennzeichnet. Der internationale Kaufmannsbankier musste einerseits dort präsent sein, wo sich die Welthandelszentren befanden, und gleichzeitig neue Wege und Orte finden, wo er möglichst sogar als Pionier Sonderrenditen abschöpfen und Alleinstellungsmerkmale entwickeln konnte. So lässt sich im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert eine allmähliche Verlagerung aus dem Raum Italien/Levante mit Venedig als Zentrum Richtung iberische Atlantikküste mit Lissabon und Sevilla nach Norden bis Brügge und Antwerpen beobachten und häufig folgte der Netzaufbau der damaligen Fernkaufleute diesem Schema. Gewissermaßen die Personifizierung dieses Verlagerungsvorgangs von Ve22 Vgl. Theodor Gustav Werner : Welser, in: Scripta Mercaturae 1967/1, geklappte letzte Seite.

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nedig23 nach Lissabon ist der Welser-Faktor Lucas Rem, der in der Lagunenstadt 1494 und 1495 seine Ausbildung erhielt. Er lernte neben den obligatorischen Sprachen in Venedig das kaufmännische Rechnen und besuchte eine Schule, »da man biecher halten«, also profund Buchführung lernte.24 In dieser Zeit importierte die Welser-Vöhlin-Gesellschaft aus Venedig Indigo, Baumwolle und Gewürze aller Art. Daran hat sich auch unter Bartholomäus Welser (V.) nicht viel geändert. Die Niederlassung blieb das gesamte 16. Jahrhundert über bestehen.25

8.

Der Handelsplatz Lissabon

In die portugiesische Hauptstadt Lissabon, die im Rahmen des zweiten Kreuzzugs 1147 rechristianisiert worden war, zog es in der Zeitenwende vom 15. zum 16. Jahrhundert viele der international tätigen Kaufleute.26 Dies umso mehr, als 1499 der Krieg zwischen der Hohen Pforte (dem Hof des türkischen Sultans in Konstantinopel) und Venedig ausgebrochen war, der den Levante-Handel einige Zeit lahmlegte. Kriege und Krisen waren schon immer Gift für den auf Vertrauensbeziehungen gegründeten Handel. Damit verlor das Zentrum der Deutschen in der Markusrepublik, der Fondaco dei Tedeschi, an Gewicht und in gleichem Maße gewannen alternative Handelszentren an Bedeutung. Lissabon stieg um 1500 als Welthandelsmetropole auf, nachdem es Vasco da Gama gelungen war, über die »Kap-Route« Indien zu erreichen. Da Gama war noch kaum ein Jahr zurück, als Pedro Ýlvares Cabral im Rahmen der zweiten portugiesischen Indienfahrt die brasilianische Ostküste entdeckte und so der portugiesischen Krone zu einer Doppelexpansion verhalf, deren Raumgewinn kaum größer hätte sein können. Es versteht sich, dass sich das Interesse des internationalen Großhandels und der Hochfinanz auf Portugal richtete. Da Gamas und Cabrals Doppelschlag nährte in den einschlägigen Kreisen der internationalen Händler und Bankiers berechtigte Hoffnungen auf ein schwungvolles Geschäft mit den Schätzen des Orients (vornehmlich den Gewürzen bzw. Spezereien) und Südamerikas (insbesondere Zucker und Brasilholz). Immerhin brachte die Flotte des Pedro Ýlvares Cabral aus Indien fast 26 Tonnen Gewürze 23 Die Welser wurden seit 1441 in Venedig erwähnt (Henry Simonsfeld: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und die deutsch-venezianischen Handelbeziehungen. Quellen und Forschungen, 2 Bde. Stuttgart 1887, hier : Bd. 1, S. 232 ff.) 24 Vgl. Benedikt Greiff (Hg.): Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494 – 1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg (Jahresberichte des Historischen Kreisvereins für Schwaben und Neuburg, 26). Augsburg 1861, S. 1 – 110, hier : S. 5. 25 Vgl. Walter Großhaupt: Die Welser als Bankiers der spanischen Krone, in: Scripta Mercaturae 1987/21, S. 54. 1588 vertrat Marx Manlich die Gesellschaft in Venedig. 26 Vgl. Walter : Weltwirtschaft (wie Anm. 4), S. 41 und S. 87 – 88.

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nach Lissabon zurück.27 Daran waren die Oberdeutschen aus mehreren Gründen stark interessiert. Einerseits war da der Wunsch, bei der Erschließung neuer Märkte mit hoher Rendite-Erwartung unter den Pionieren zu sein. Andererseits bot sich die Chance des idealen Tauschgeschäfts, denn die Welser und andere süddeutsche Kaufleute verfügten über große Bestände an Metallen von Silber über Kupfer bis hin zu Zinn, Blei, Messing und Quecksilber.28 Damit ließen sich vortreffliche Austauschrenditen, also günstige sogenannte Terms of trade erzielen. Schließlich und nicht zuletzt durften sich die risikobereiten Investoren fürstliche Protektion erhoffen, musste doch dem portugiesischen Königshaus an der Beteiligung der kapitalkräftigsten Bankiers der internationalen Hochfinanz gelegen sein, die teils einzeln, teils in Konsortien verbunden Logistik, Infrastruktur und Kredit bereitzustellen wussten. Ein weiteres Motiv der Großkaufleute lag sicher in der Privilegierung der Pionierfahrten und interessanten Zusatzrenditen, sodass das Risiko der investitionswilligen Unternehmer, Reeder und Versicherer überschaubar erscheinen musste. Die Grundsteinlegung in Lissabon erfolgte wie erwähnt durch Lucas Rem, der dort im September 1503 für Anton Welser (seinen Onkel) sowie Konrad Vöhlin und Gesellschafter »ain aigen herlich haus«29 erwarb. Beauftragte der WelserVöhlin-Gesellschaft waren neben Rem noch Simon Seitz und Scipio Löwenstein. Lucas Rem war bis September 1508 für die Welser in Lissabon aktiv. Art und Umfang der Tätigkeit sind seinem Tagebuch zu entnehmen.30 Demnach verkaufte er en gros Kupfer, Blei, Zinnober, Quecksilber und flämische Gewänder sowie Korn (Getreide) aus den Niederlanden, England, der Bretagne und von der Ostsee. Bei den Einkäufen standen Geschäfte mit der Krone im Vordergrund, vor allem Spezereien, daneben aber auch Öl, Wein, Feigen, Elfenbein (»helfentzän«) und Baumwolle. In den über fünf Jahren seines Aufenthalts waren Rem bzw. sein Bruder Hans für die Welser-Vöhlin-Gesellschaft auch auf Madeira, den Azoren, den Kanaren (Tazacorte auf La Palma, 1509 – 1513) und in Nordafrika tätig.31 Sein Hauptanliegen war jedoch, eine Beteiligung der Oberdeutschen an den Indienfahrten der Portugiesen zu sichern. Ein entsprechender Vertrag mit dem

27 Vgl. Wolfgang Knabe: Auf den Spuren der ersten deutschen Kaufleute in Indien. Forschungsexpedition mit der Mercator entlang der Westküste und zu den Aminen. Anhausen 1993, S. 108. 28 Vgl. Ekkehard Westermann: Oberdeutsche Metallhändler in Lissabon und in Antwerpen zwischen 1490 und 1520, in: Mont‚nna histûria 2011/4, S. 8 – 21. 29 Greiff: Tagebuch (wie Anm. 24), S. 8. 30 Ebenda, S. 9. 31 Vgl. Elmar Wilczek: Die Welser in Lissabon und auf Madeira. Neue Aspekte deutsch-portugiesischer Kontakte vor 500 Jahren, in: Angelika Westermann / Stefanie von Welser (Hg.): Neunhofer Dialog I: Einblicke in die Geschichte des Handelshauses Welser. St. Katharinen 2009, S. 91 – 118, hier: S. 92, 99.

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König zur Ausrüstung dreier Schiffe »per Indiam« kam dann am 1. August 1504 zustande.32 Bei der Aushandlung des Privilegienbriefs mit Manuel I. war ein erfahrener, in Lissabon ansässiger Deutscher behilflich, nämlich der Buchdrucker Valentim Fernandes.33 Jedenfalls erreichten die Welser einen Vertrag, der erstmals auch die Einbeziehung des Handels mit Überseewaren für ein ausländisches Handelshaus beinhaltete, ein Privileg, das fürderhin allen deutschen Kaufleuten gewährt werden sollte, die bereit waren, eine Handelsniederlassung in Lissabon zu gründen und sich mit einem Kapital von mindestens 10 000 Dukaten am Portugalhandel zu beteiligen. Ihnen wurden 15 Jahre lang Zollvergünstigungen für bestimmte Ein- und Ausfuhrprodukte zugesichert sowie die Möglichkeit, an den portugiesischen Indienfahrten mit eigenen Schiffen teilzunehmen.34

9.

Deutsche Kaufleute in Indien im Rahmen der Proto-Globalisierung

Zu den Pionieren in der ersten Phase des deutschen Indienhandels (ca. 1502/03 – 1535) zählen die Augsburger Fugger, Anton Welser mit Konrad Vöhlin, Höchstetter, Herwart und Paumgartner, die Nürnberger Hirschvogel und Imhoff sowie die Nürnberger Gesellschaft des Jacob Welser. Sie schickten im genannten Zeitraum 14 namentlich bekannte Faktoren oder Handelsdiener in die indischen Handelsstädte Anjediva, Cannanore, Cochin, Calicut, Khambhat, Amini, Goa, Bhatkal und Vijayanagar.35 Die Welser-Vöhlin-Gesellschaft war wohl die erste, die innerhalb des portugiesischen Herrschaftsbereichs tätig wurde und ihre Interessen von Anfang an zweizügig ausrichtete, gewissermaßen ein doppeltes Netz knüpfte: von Lissabon aus nach Indien und vom spanischen Sevilla aus nach Westindien, also in die Karibik.36 Ausgewählten ausländischen Kaufleuten wurde es erlaubt, an der AlmeidaExpedition von 1505/06 teilzunehmen. Zur Finanzierung dieser Reise wurde ein Konsortium aus sechs oberdeutschen und drei italienischen Kaufmannshäusern gebildet. Mit von der Partie waren die Welser, Fugger, Höchstetter, Imhoff, 32 Vgl. Greiff: Tagebuch (wie Anm. 24) , S. 8. 33 Yvonne Hendrich: Valentim Fernandes – Ein deutscher Buchdrucker in Portugal um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert und sein Umkreis (Mainzer Studien zur neueren Geschichte, 21). Frankfurt a. M. 2007. 34 Vgl. Jürgen Pohle: Deutschland und die überseeische Expansion Portugals im 15. und 16. Jahrhundert (Historia profana et ecclesiastica, 2). Münster / Hamburg / London 2000, S. 100. 35 Vgl. Knabe: Spuren (wie Anm. 27), S. 100 f. 36 Vgl. Walter: Weltwirtschaft (wie Anm. 4), S. 85 ff.; Pohle: Expansion (wie Anm. 34), S. 99 ff.

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Gossembrot und Hirschvogel sowie die Marchionni, Affaitadi (aus Cremona) und Sernigi neben einigen kleineren Kaufleuten. Die Welser-Vöhlin partizipierten mit 20 000 Cruzados (portugiesischen Dukaten) die Fugger und Hoechstetter mit je 4 000, die Imhoff und Gossembrot mit je 3 000 und die Hirschvogel mit 2 000. Der Restbetrag wurde von italienischen Firmen aufgebracht.37 Dieses deutsch-italienische Konsortium rüstete drei der 20 Schiffe aus (14 Naus, 6 Karavellen), die im März 1505 nach Indien in See stachen und unter dem Kommando von Francisco de Almeida standen. Das Konsortium hatte für Unterhalt und Verpflegung der Mannschaft zu sorgen, die im Übrigen – bis auf wenige zugelassene Ausnahmen – aus mutterländischen oder Kolonial-Portugiesen bestehen musste. Einer der Teilnehmer, der Welser-Faktor Balthasar Sprenger aus Vils am Lech, der auf dem Schiff »Lionarda« mitsegelte, schrieb bekanntermaßen einen Essay (die »Merfart«38) mit seinen Beobachtungen der Reise, die bis zum 15. November 1506 dauerte.39 Johann Jacob, genannt Hans May(e)r nahm an Bord der »S. Rafael« teil und auf der »S. Jerûnimo«, dem Flaggschiff von Almeidas Flotte, hieß der deutsche Teilnehmer Ulrich Imhoff, der Faktor der Imhoff und Hirschvogel, aus der berühmten Nürnberger Familie.40 Später, 1526 bis 1540, war ein weiterer Imhoff, nämlich Jörg Imhoff aus Rothenburg o. d. Tauber, für die Augsburger Firma Jörg und Matthäus Herwart in Goa, Cannanore, Cochin und Vijayanagar, wo er 1540 verstarb. Er betrieb dort das Geschäft mit Perlen und Edelsteinen (Rubin, Smaragd, Diamant, Granat etc.) in größerem Maßstab. 1534 war in Goa und Vijayanagar ein weiterer Deutscher präsent, nämlich Hans Schwerczer für die Nürnberger Jacob-Welser-Firma.41 Den Repräsentanten des erwähnten Konsortiums war es erlaubt, in Indien so viele Waren zu kaufen, wie sie transportieren und bezahlen konnten. Nach der Rückkehr mussten die Waren in den Lagern der Casa da India, der portugiesischen Melde- und Kontrollbehörde, deponiert werden, bis der Zoll bezahlt war. Erst danach konnte frei über die Ware verfügt werden. Die drei Schiffe erreichten Lissabon mit einer Ladung von 12 000 Zentnern Pfeffer. Nach Abzug des kö37 Vgl. Hermann Kellenbenz: Die fremden Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.): Fremde Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel, Köln / Wien 1970, S. 265 – 376, hier : S. 319. 38 Dies ist nur einer von ca. 350 gedruckten frühen deutschen Indien-Berichten, die zwischen 1477 und 1750 erschienen, die Gita Dharampal-Frick nachgewiesen hat. Vgl. ihre Arbeiten »Irdisches Paradies« und »veritable europäische Schatzkammer«. Konturen und Entwicklungen des deutschen Indienbildes im Zeitalter der Entdeckungen, in: Pirckheimer-Jahrbuch 1986, Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Wirtschafts- und kulturhistorische Quellen. München 1987, S. 83 – 107, hier: S. 84; sowie Frühe deutsche Indien-Berichte (1477 – 1750). Eine Bibliographie, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1984/134, 2, S. 23 – 67. 39 Pohle: Expansion (wie Anm. 34), S. 205 f. 40 Ebenda, S. 288. 41 Knabe: Spuren (wie Anm. 27), S. 93 f., 101.

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niglichen Anteils von 30 Prozent blieb ein Nettoertrag von 168 000 Cruzados. Gemessen an den investierten 65 400 Cruzados42 war dies ein stattlicher Gewinn für die Mitglieder des Konsortiums. Lucas Rem notierte den Erfolg in seinem Tagebuch.43 Die Rendite ermutigte die deutschen Teilnehmer, an einer anderen Expedition zusammen mit dem portugiesischen Kaufmann Ruy Mendes wieder mit drei Schiffen teilzunehmen, aber das Projekt schlug fehl. Nur eines der von dem Konsortium ausgerüsteten Schiffe kam zurück.44 Das Beispiel zeigt die Risikohaftigkeit des frühneuzeitlichen Fernhandels, es zeigt aber auch, wie vorteilhaft ein Konsortium in Hinsicht auf die Risikoteilung bzw. -streuung sein konnte.

10.

Aufbau eines atlantischen Handelsnetzes und die Westexpansion

Um 1520 verlagerte sich der Schwerpunkt des globalen Handels nach Südspanien, ins andalusische Sevilla. Dies hing zusammen mit den Erwartungen, die die internationale Hochfinanz in die Weltreise Magellans setzte, die dieser selbst zwar nicht überlebte, aber eines seiner Schiffe. Wie früher in Lissabon, so waren die Welser auch in Sevilla frühzeitig dort präsent, wo die Dynamik des Handels sich am deutlichsten offenbarte. Sie bedienten sich auch in Spanien vertrauter oder gar verwandter Leute beim Aufbau ihres Überseenetzes bzw. beim Knüpfen entscheidender Beziehungen zu Hof und Staat. Dazu gehörte der aktivste und einflussreichste Ratgeber und Beauftragte, der spätere Chef der Faktorei in Saragossa, der aus Konstanz stammende Heinrich Ehinger.45 Er war einer der wenigen, die ins Asien- und Amerikageschäft der Welser gleichermaßen eingeschaltet blieben. Ehinger übernahm z. B. einen Teil der Fracht der »Vitoria«, des einzigen Schiffes, das von der Molukken-Expedition des Magellan nach Spanien zurückgekehrt war.46 Ferner liefen die großen Kredittransaktionen, nicht zuletzt die Welser’schen Wechsel zur Sicherung der Wahl Karls V. (1519) im Namen der Welser über Heinrich Ehingers Schreibtisch. Über bedeutende 42 Konrad Haebler : Die überseeischen Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter. Leipzig 1903, S. 23. 43 Greiff: Tagebuch (wie Anm. 24), S. 8. 44 Kellenbenz: Kaufleute (wie Anm. 27), S. 319. 45 Großhaupt: Welser (wie Anm. 25), S. 131. Später übernahm sein Bruder Ulrich diese Aufgabe. 46 Rolf Walter : Einleitung. Oberdeutsche Kaufleute und Genuesen in Sevilla und C‚diz (1525 – 1560), in: Hermann Kellenbenz/Rolf Walter (Hg.): Oberdeutsche Kaufleute in Sevilla und C‚diz (1525 – 1560). Eine Edition von Notariatsakten aus den dortigen Archiven (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit, XXI). Stuttgart 2001, S. 11 – 64, hier: S. 30.

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Vollmachten Bartholomäus Welsers verfügte ferner der aus St. Gallen stammende Hieronymus Sailer, der ab 1523 als Welser’scher Faktor in Spanien erscheint. In den spanischen Notariatsakten tauchen die beiden häufig in der Abkürzung »Geronimo y Enrique« auf. Später trennten sich ihre Wege. Sailer, der Bartholomäus Welsers Schwiegersohn wurde, verlegte seine Tätigkeit an den wichtigen Handels- und Finanzplatz Antwerpen (und personifizierte somit die nächste Verlagerungsbewegung des Welthandels) und die beiden Ehinger trennten sich um 1530 von den Welsern und begannen sich auf eigene Faust an Finanzgeschäften zu beteiligen. Neben den erfahrenen älteren Faktoren rekrutierte das Welser-Unternehmen immer wieder talentierte, risikobereite junge Kaufleute wie den erwähnten Lazarus Nürnberger aus Neustadt an der Aisch als Mitarbeiter. Er gehörte später zu den ganz wenigen bisher identifizierten »Schlüsselpersonen«, die sowohl an der Ostexpansion nach Indien bzw. Asien teilhatten als auch Unternehmungen nach Westindien mit Amerika begründeten. Der noch sehr junge Nürnberger (vermutlich Jahrgang 1499) war wohl um 1515 bei den als Edelsteinhändler bekannten Hirschvogel in deren Lissaboner Faktorei in die Lehre gegangen. Über seine Reise nach Indien im Jahre 1517/18 sind wir relativ gut unterrichtet und er gehört so zu den ersten Deutschen, die in lebendiger Detaillierung ihre Begegnung mit der Welt des Orients schilderten und damit das frühe europäische Indienbild prägten.47 Sein Schiff hatte via Mosambik Anfang Oktober 1517 das indische Goa erreicht, von wo aus Nürnberger das für seine Textilproduktion bekannte Königreich Patigalan bereiste. Er sah auch die reichen Edelmetall- und Perlenschätze von Hormuz und besuchte das Königreich Cananore, dessen Reichtum an Pfeffer, Ingwer, Baumwolle und cassia fistula (Indischer Goldregen) legendär ist. Schließlich reiste Nürnberger über Calicut zur königlichen Residenz nach Cochin und trat im Januar 1518 die Rückreise vorbei an Afrika und den Azoren an. Zurück in Lissabon schrieb er im Juli einen Brief an Michael Behaim48 mit seinen Reiseeindrücken. Auf die eminente Schlüsselrolle Martin Behaims im Rahmen des Aufbruchs in die Neue Welt soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.49 Nürnberger ließ sich um 1520 in Sevilla nieder, wo er das Edelstein- und Perlengeschäft weitertrieb und seine engen Beziehungen nach Portugal pflegte. Er öffnete den Welsern das Tor zur Neuen Welt und vertrat in Andalusien bis

47 Zu den ersten Deutschen in Indien siehe Knabe: Spuren (wie Anm. 27), passim. 48 Michael (Michel) Behaim war ein Vetter Martin Behaims. Martin Behaim war 1493 nach Lissabon gekommen (Siehe Jürgen Pohle: Martin Behaim (Martinho da Bo¦mia): factos, lendas e controv¦rsias (cadernos do cieg, 26). Coimbra 2007, S. 80, Anlage D.) 49 Hierzu sei u. a. verwiesen auf den Beitrag von Johannes Willers: Leben und Werk des Martin Behaim, in: Focus Behaim Globus, Teil 1. Nürnberg 1993, S. 173 – 188.

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1528 die Interessen Bartholomäus Welsers, bevor er von Heinrich Gessler als Faktor abgelöst wurde.50 Seine Indien-Interessen ließ Lazarus Nürnberger durch einen eigenen Faktor wahrnehmen. Jedenfalls war Markus Hartmann um 1525 für ihn in Goa, wo er dem bereits seit 1520 in Indien etablierten Jörg Pock Konkurrenz machte. Pock, der aus Würzburg-Heidingsfeld stammte, war für die Nürnberger Hirschvogel u. a. in Goa tätig, wo er 1528 starb.51 Nürnberger hatte wie erwähnt in Sevilla einen Perlen- und Edelsteinhandel eröffnet und Hartmann sollte nach dem Aufbau einer Niederlassung für ihn von Goa aus für Nachschub sorgen. Im Juni 1526 erreichte Nürnberger von Kaiser Karl V., der sich damals in Sevilla aufhielt, die Erlaubnis zur Entsendung von vier Faktoren deutscher Nation nach Amerika. Diese Lizenz erhielten namentlich Ambrosius Dalfinger und Jörg Ehinger, der Elsässer Jörg Koch sowie eine weitere Person. Dalfinger und Ehinger traten die Reise in die Neue Welt an, Koch jedoch nicht. Für sich hatte Lazarus Nürnberger einen Landsmann vorgesehen, nämlich den Nürnberger Bartholomäus Blümel (1506 – 1585), der die Reise 1526 antrat. Mehrere Jahre lang führte Blümel in Santo Domingo zusammen mit einem anderen Faktor, Juan Francisco, Geschäfte für Nürnberger, aber auch für die Welser. Um 1530 begab sich Blümel auf das amerikanische Festland, vertauschte seinen deutschen Namen ins Spanische »Flores« und gelangte später nach Peru und Chile, wo er im Februar 1541 einer der Mitbegründer von Santiago de Chile wurde und dort die Tochter eines Kaziken, eines Häuptlings, ehelichte. Mindestens so weit reichte das Handelsnetz der Oberdeutschen also schon in den 40er-Jahren des 16. Jahrhunderts. Ein Neffe Lazarus Nürnbergers, der 18-jährige Kasimir Nürnberger, war beiläufig auf einem der vier Schiffe der Flotte des im April 1526 von Sevilla aus gestarteten Seefahrers Sebastian Cabot, der den Rio de la Plata (heute Argentinien, Buenos Aires) befuhr und dort eine Festung namens Sancti Spiritus gründete. Dort hielt sich Kasimir Nürnberger längere Zeit auf und kehrte nach der Zerstörung der Siedlung durch die Indianer 1530 auf dem Schiff »Santa Maria del Espinar« nach Sevilla zurück. 1532 war er in Venezuela als Stellvertreter des Gouverneurs Ambrosius Dalfinger bei der Überquerung der Kordilleren in den Anden Südamerikas dabei und kam dort ums Leben. Er ist bisher der einzige mir bekannte Deutsche, der sowohl an einer Argentinien-Expedition beteiligt war als auch an einer solchen im Welser-Land Venezuela.52 Lazarus Nürnbergers Niederlassung in Santo Domingo befand sich übrigens 50 Walter : Einleitung (wie Anm. 46), S. 23. 51 Knabe: Spuren (wie Anm. 27), S. 100, 204 f. 52 Rolf Walter: Der Traum vom Eldorado. Die deutsche Conquista in Venezuela im 16. Jahrhundert (Schriften zu Lateinamerika, 3). München 1992, S. 118.

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neben der des Genuesen Esteban Giustiniani und war nicht weit von der WelserFaktorei entfernt. Die Aufrechterhaltung zumindest lockerer Beziehungen Nürnbergers zum Welser’schen Unternehmen ist belegt. Als die für Santo Domingo bzw. Venezuela bestimmten deutschen Bergleute in Sevilla ankamen, besuchte sie Nürnberger in ihrer Herberge und 1534, als der aus der Pegnitzstadt stammende Hieronymus Köler (1507 – 1570) nach Sevilla kam, überredete er diesen, sich für die damals in Vorbereitung befindliche Expedition der Welser zu verpflichten. Eine Reihe von Kontakten gab es auch zu Christoph Herwart und dessen Schwiegersohn Sebastian Neidhart, die einen schwungvollen Perlen- und Juwelenhandel betrieben und in dieser Angelegenheit mit dem Westindien-Venezuela-Cubagua-Netz in engem Austausch blieben. In diese Schmuckgeschäfte war zuweilen auch die Antwerpener Firma Andrea und Leonardo Lier und Söhne involviert, deren Lissaboner Vertreter der Deutsche Friedrich Löwe war.53 Neben Perlen bezog Nürnberger aus Santo Domingo Zucker und Gold. 1546 schloss er sich mit dem Nürnberger Jobst Tetzel zusammen, um Kupfervorkommen in Kuba auszubeuten. Klarer Zielpunkt der ersten Auswanderer nach Amerika war wie gesagt Santo Domingo auf der Insel Haiti oder Hispaniola (EspaÇola), das aufstrebende Handels- und Verwaltungszentrum Westindiens. Auch stammten 75 – 80 Prozent des bis zum Jahre 1525 in Amerika erbeuteten Goldes von der EspaÇola.54 1538 wurden in Cotuy Kupfervorräte entdeckt, zu deren Ausbeutung die Welser berechtigt waren. Die Abbaurechte für das Gebiet um Coro sowie für Santa Marta lagen ebenfalls bei den Welsern, auch wenn es nicht zu einer ergiebigen Ausbeute der Bodenschätze gekommen ist.55 Im Herbst 1525 schickte Lazarus Nürnberger eine Schiffsladung, bestehend aus Luxusartikeln, Gebrauchsgegenständen und Büchern, nach Amerika, die sein dortiger Faktor Juan Francisco in Empfang nahm.56 Gleichzeitig sandte er an Ambrosius Dalfinger und Georg Ehinger verschiedene Waren. Der kleinere Teil der Ladung war für die Antillen, der weitaus größere für Santa Marta (heutiges Kolumbien) bestimmt, wo der Gouverneur Rodrigo de Bastidas eine Goldschmelzerei entdeckt hatte. Die »Dynamik des Goldes« wirkte auch auf die Kaufleute in Santo Domingo. Jedenfalls schickten Dalfinger und Ehinger umgehend eine befrachtete Karavelle nach Santa Marta. Die Deutschen lieferten neben vielerlei Waren Lebensmittel sowie Pferde dorthin. 53 Walter : Einleitung (wie Anm. 46), S. 25. 54 Pierre Chaunu : Sevilla y America, siglos XVI y XVII. Sevilla 1983, S. 74. 55 Juicios de Residencia en la Provincia de Venezuela. Bd. 1: Los Welser (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia, 130). Caracas 1977, passim. 56 Enrique Otte: Jakob und Hans Cromberger und Lazarus Nürnberger, die Begründer des deutschen Amerikahandels, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg1963 – 64/52, S. 129 – 162.

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Rolf Walter

Über die Handelstätigkeit der Welser in Santo Domingo weiß man aus verstreuten Notizen, dass sie Wein, Lebensmittel, Luxusstoffe (Samt) und Gebrauchswaren wie Leinen, Seife und Eisengerät auf die Hispaniola verhandelten und von dort Gold, Zucker, Häute, Balsam und tropische Drogen wie CaÇafistula nach Sevilla oder zum Teil von dort nach Flandern retourierten. Dies geschah nicht selten in Kombination mit Bankgeschäften, einer anderen Domäne der Welser.57 Am Ende seien die Perlen hervorgehoben, die im Westindien-Geschäft der Oberdeutschen eine Rolle zu spielen begannen. Kolumbus hatte im Rahmen seiner dritten Reise die Inseln Margarita, Cubagua usw. zwar fast berührt, jedoch die in dieser Region reich vorhandenen Perlenbänke nicht aufgefunden. Dies blieb seinen Nachfolgern vorbehalten. Unter ihnen stand wiederum Lazarus Nürnberger mit seinen Leuten an vorderer Stelle.58 Er bezog also Perlen aus Indien und Südamerika und verkaufte sie an Kunden in ganz Europa. So erhält man eine kleine Vorstellung vom Aktionsradius der Fernkaufleute im protoglobalen Handel der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

57 Vgl. Carande, Ramûn: Carlos V. y sus banqueros. 3 Bde. Madrid 1943, 1949, 1967; Großhaupt: Welser (wie Anm. 25), S. 158 – 188; Juan Friede: Los Welser en la conquista de Venezuela. Caracas/Madrid 1961; ders.: Das Venezuelageschäft der Welser, in: Jahrbuch für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 1967/4, S. 162 – 175. 58 Hermann Kellenbenz: Perlen aus Amerika, in: Ethnologische Zeitschrift 1, Festschrift Otto Zerries. Zürich 1974, S. 233 – 238; ders.: Aus der Korrespondenz des Juan de Adurza – Ein Perlengeschäft mit Lazarus Nürnberger, in: Actas de II Jornadas Luso-Espanholas da Historia Medieval. Porto 1987; umfassend: Enrique Otte: Las perlas del Caribe: Nueva C‚diz de Cubagua. Caracas 1979.

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Gottfried Gabriel

Identität und Differenz. Zur politischen Ikonographie des Geldes im Deutschen Zollverein und darüber hinaus

Die Frage, in welchem Maße der Deutsche Zollverein der Bismarckschen Reichgründung den Weg bereitet hat, wird nach wie vor unter Historikern des 19. Jahrhunderts diskutiert. Man ist sich weitgehend einig, dass die Gründung aus Sicht der Regierenden der Mitgliedsstaaten vorwiegend ökonomischen Interessen dienen sollte und nicht als Vorbereitung einer deutschen Einigung verstanden wurde. In diesem Sinne betont Hans-Werner Hahn, dass die Zollvereinsgründung entgegen der nachträglichen preußischen Geschichtsschreibung »insgesamt noch keine klare Weichenstellung in Richtung einer kleindeutschen nationalen Einigung« war.1 Neben Warnungen von Liberalen aus den deutschen Verfassungsstaaten vor einer Vorherrschaft Preußens gab es allerdings auch positive Stimmen von national gesonnenen Liberalen, die angesichts der negativen Erfahrungen, die sie im Vormärz mit den repressiven Maßnahmen im Deutschen Bund gemacht hatten, nun darauf setzten, dass von der Gründung des Zollvereins eine Signalwirkung für eine nationale Einigungsbewegung im Geiste des Liberalismus ausgehen würde.2 So stellt Hans-Werner Hahn fest, dass die Gründung des Zollvereins in den beteiligten deutschen Verfassungsstaaten zunächst dazu führte, den politischen Einfluß des Liberalismus zu schwächen.3 Andererseits habe der Zollverein aber auch einen »nationalen Symbolwert« erhalten, der von den Regierungen zwar nicht beabsichtigt war, sich aber letztlich über die ökonomische Bedeutung der Vereinbarungen hinaus für »die einheits- und verfassungspolitischen Bestrebungen des Bürgertums« als för-

1 Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984, S. 78. 2 Zum Forschungsstand siehe Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann: »Der Deutsche Zollverein in der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Neue Perspektiven der Forschung«, in: Hahn/ Kreutzmann (Hg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2012, S. 1 – 29. 3 Hans-Werner Hahn: »Der Deutsche Zollverein und die nationale Verfassungsfrage«, in: Hahn/Kreutzmann (Hg.): Der Deutsche Zollverein, S. 153 – 174, hier S. 158.

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derlich erwies.4 Insgesamt wird man sagen können, dass der Deutsche Zollverein faktisch, wenn auch nicht von Preußen und anderen Staaten intendiert, zu einem Vorläufer deutscher Einheit wurde – sozusagen im Rücken der einzelstaatlichen Subjekte. Im Folgenden wird die Rede vom »nationalen Symbolwert« ganz wörtlich genommen, indem die Symbolik der Münzen, die zur Erleichterung des Warenverkehrs innerhalb des Zollvereins eingeführt wurden, in politisch-ikonographischer Perspektive in Augenschein genommen wird. Unter Auswertung der von den Mitgliedstaaten verabschiedeten Münzverträge versuche ich zu zeigen, dass und wie sich die Abwägung zwischen ökonomischen und nationalen Interessen auch in der symbolästhetischen Auseinandersetzung über die Gestaltung der Münzen niederschlägt. Die politische Ikonographie spiegelt so die realpolitischen Interessen und Verhältnisse. Damit wird die ökonomische Betrachtung des Zollvereins um numismatische Aspekte ergänzt und so ein Beitrag zur »kulturgeschichtlich erweiterten Nationalismusforschung«5 zu liefern versucht. Deutlich wird so, dass die »kulturelle Nationsbildung« in Deutschland im 19. Jahrhundert nicht nur durch nationale Feste und Feiern von Turnern, Sängern und Schützen erfolgte, wie dies Dieter Langewiesche bereits eingehend untersucht hat,6 sondern auch in der Verwendung gemeinsamer Symbole ihren Ausdruck fand. Mein Augenmerk richtet sich im Folgenden auf die Eichensymbolik. Eiche und Eichenlaub haben in der deutschen politischen Ikonographie eine besonders lange Tradition. Aufgekommen ist diese Symbolik in den Freiheitskriegen gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und zwar als Verbindung von nationalen und liberalen Elementen. Dabei geht die liberale Tradition auf die französische Revolution zurück, die speziell auf ihren Münzen den monarchischen Lorbeerkranz durch den republikanischen Eichenkranz ersetzte. Dieser Eichenkranz greift seinerseits die Tradition der corona civica der Römischen Republik auf. Unabhängig von diesem republikanischen Erbe wurde die Eiche in Deutschland in der konkreten historischen Auseinandersetzung außerdem zu einem gegen das Napoleonische Frankreich gerichteten nationalen Symbol, wobei die Eiche geradezu als deutsche Eiche vereinnahmt wurde.7 Die Verbin4 Ebd., S. 165 f. Zum Verhältnis von ökonomischen Interessen und nationalen Hoffnungen vgl. Andreas Etges: »Der erste Keim zu einem Bunde im Bunde.« Der Deutsche Zollverein und die Nationalbewegung, in: Hahn/Kreutzmann (Hg.): Der Deutsche Zollverein, S. 97 – 123. 5 So die Formulierung von Hahn/Kreutzmann: »Der Deutsche Zollverein in der Geschichte des 19. Jahrhunderts«, S. 20. 6 Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus. Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000, Teil II. 7 Vgl. dazu ausführlich Gottfried Gabriel: Ästhetik und Rhetorik des Geldes. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, Kap. 8 (Die Eiche als deutsches Nationalsymbol). Die folgende Darlegung der

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dung von nationaler und liberaler Bedeutung blieb für die Eichensymbolik im 19. Jahrhundert bestimmend und fand ihren Niederschlag auch in den Diskussionen um die Gestaltung der Münzen des Deutschen Zollvereins. In dem 1815 auf dem Wiener Kongreß gegründeten Deutschen Bund fehlte es nicht an Stimmen, die sich für eine Vereinheitlichung des Münzsystems aussprachen. Auch wenn es dabei in erster Linie um ökonomische Belange ging, der nationale Schwung der Freiheitskriege förderte den politischen Willen, die dringend notwendigen Veränderungen durchzusetzen. Die Frage ist, wie weit die Forderungen nach Vereinheitlichungen im Geldwesen den gleichzeitigen Bemühungen um die Verwirklichung nationaler deutscher Einheit korrespondierten. Auf den diversen Münzkonferenzen des 19. Jahrhunderts, die der Münzunion des Deutschen Kaiserreichs vorausgingen, kam es zu bedeutsamen Entscheidungen über das Gepräge der gemeinsamen Münzen, die in direkter Beziehung zur jeweiligen politischen Situation in Deutschland standen. Umso verwunderlicher ist es, dass selbst die umfassende Darstellung der Deutschen Geldgeschichte von Herbert Rittmann diese Verbindung kaum berührt.8 Deren Aufmerksamkeit gilt einzig den Zusammenhängen zwischen geld- und wirtschaftspolitischen Gegebenheiten im Kontext machtpolitischer Spannungsfelder. Die ikonographischen Fakten werden zum Teil genannt, in ihrer politischrhetorischen und nationalen Bedeutsamkeit aber nicht gewürdigt. Am Eichenkranz scheint Rittmann nur bemerkenswert zu finden, dass dessen Prägung »eine wichtige Sicherung gegen Stempelfälschungen« war.9 Der Ansicht, »dass die Münzgeschichte nichts anderes ist als ein Teil der allgemeinen Wirtschaftsund Handelsgeschichte und ohne deren Kenntnis nicht in ihren Hintergründen verstanden werden kann«,10 wird man nicht widersprechen wollen, hinzuzufügen ist aber doch, dass die ökonomische Perspektive durch eine kulturwissenschaftliche zu ergänzen ist. Gerade in politischer Hinsicht verdient nicht nur die ökonomische Basis, sondern auch der ikonographische Überbau des Geldes unsere Aufmerksamkeit. Dies umso mehr, als die Münzunion im Deutschen Reich ikonographische Kompromisse hervorgebracht hat, die noch einmal analog bei der gegenwärtigen Gestaltung der Euro-Münzen umgesetzt worden sind. Mit Gründung des Deutschen Zoll- und Handelsvereins zum 1. Januar 1834 ergab sich die Notwendigkeit, die Durchlässigkeit des Warenaustauschs durch eine Neuregelung der Währungsverhältnisse zu fördern, wobei insbesondere das Wertverhältnis zwischen preußischem Taler und süddeutschem Gulden festzuikonographischen Befunde stellt weitgehend eine gekürzte Fassung von Kap. 9 (Von der Vielheit zur Einheit. Münzpolitik und politische Ikongraphie im 19. Jahrhundert) dar. 8 Herbert Rittmann: Deutsche Geldgeschichte 1484 – 1914. München 1975. 9 Ebd., S. 733. 10 Ebd., S. 718.

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legen war. Die Initiative zur Bildung des Zollvereins war von Preußen ausgegangen, das sich bemühte, seine weit auseinander liegenden Landesteile zu einem einheitlichen Zollgebiet zusammenzuschließen und zu diesem Zweck Verträge mit Zwischenstaaten wie Hessen-Darmstadt, Anhalt-Bernburg, AnhaltDessau und Köthen sowie Kurhessen abschloß. Nachdem auch Bayern, Württemberg, Sachsen und die meisten thüringischen Staaten beigetreten waren, wurde der Weg frei für die Bildung des Deutschen Zollvereins, dem sich (bis 1837) außerdem Baden, Nassau und Frankfurt anschlossen. Der preußische Taler war zu diesem Zeitpunkt im Norden allgemein verbreitet und sogar von Staaten, die dem Zollverein noch nicht angehörten (wie Hannover und Braunschweig) übernommen worden. Das wirtschaftsstarke Preußen versuchte daher zunächst, seinen Taler, der faktisch auch bereits nach Süddeutschland vorgedrungen war, als Währung für den gesamten Zollverein durchzusetzen. Dieser Vorschlag scheiterte aber am Widerstand der süddeutschen Staaten, die nun ihrerseits eine zunächst separate Münzvereinbarung trafen. Sie kam am 25. August 1837 in München unter Festschreibung der Gulden-Währung nach dem 24 1/2-Guldenfuß zustande. Artikel I hielt vorab die Tür für Preußen und die norddeutschen Staaten offen.11 Ikonographisch bedeutsam war die Festlegung, dass die genannten Münzen auf der Rückseite die Wertangabe und die Jahreszahl »in einem Kranze von Eichenlaub« zu zeigen haben. Die Vorderseite der Gulden-Münzen blieb dem Porträt des Regenten bzw. – bei der Freien Stadt Frankfurt – dem Wappen vorbehalten. Die Vorderseite der Scheidemünzen wurde einheitlich durch das jeweilige Wappen besetzt.12 Im Münchener Münzvertrag einigten sich die süddeutschen Staaten demnach nicht nur auf die Ausgabe gleichwertiger Münzen, vielmehr gaben sie ihren »gemeinschaftlich festgesetzten Principien«13 auch in einem signifikanten einheitlichen Münzbild bildrhetorischen Ausdruck. Damit tritt der Eichenkranz erstmals in den deutschen Staaten als »gemeinschaftliches« Symbol in Erscheinung, bezeichnenderweise in den Staaten des süddeutschen Konstitutionalismus, in Staaten also, die bereits in den Jahren nach den Freiheitskriegen eine Verfassung erhalten hatten. Von hier aus läßt sich nun die weitere Entwicklung vorwärts verfolgen. Die wesentlichen Schritte bis zur Einführung der Reichswährung markieren die Vereinbarungen des Dresdner und des Wiener Münzvertrags. Während vor allem in den süddeutschen Staaten das Eichenlaub allmählich ikonographisch vorrückt, ist die Entwicklung in Preußen auffallend rückläufig. 11 Münzconvention der süddeutschen Staaten. Abgedruckt in: Verhandlungen der allgemeinen Münzconferenz unter den Staaten des Zoll- und Handels-Vereins. Dresden 1838, S. 20. 12 Münzconvention der süddeutschen Staaten, S. 20 (Artikel VI) und S. 23 (Artikel III). 13 Münzconvention der süddeutschen Staaten, S. 20 (Präambel).

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Zunächst bediente sich auch der Preußische König bereitwillig der nationalen Eichensymbolik. Das eigens für den zum »Kreuzzug« erklärten Krieg gegen Frankreich als rang- und standesübergreifender Orden geschaffene Eiserne Kreuz zieren in der Mitte drei Eichenblätter. Nach dem Sieg über Napoleon wurde das Ehrenzeichen (1814) in Großformat symbolträchtiger Bestandteil der Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Die Siegesgöttin erhielt ein neues Siegeszeichen: das Eiserne Kreuz, eingerahmt von einem Eichenkranz, der seinerseits von dem preußischen Adler in den Fängen gehalten wird. Von den preußischen Münzen trägt z. B. die 1-Taler-Münze14 von 1809 bis 1816 den Eichenkranz, also gerade in der Zeit der nationalen Begeisterung und der liberalen Reformen, die nach der Niederlage gegen Napoleon (1806) in Gang kamen und in den erfolgreichen Freiheitskriegen ihre Wirkung entfalteten. Der Eichenkranz wird jedoch ab 1823 durch den Lorbeerkranz ersetzt.15 Dazwischen liegen die Karlsbader Beschlüsse von 1819 zur Abwehr der demagogischen Umtriebe, die sich gegen die national-liberale Bewegung in Deutschland richteten. Die Unterbrechung der Eichen-Tradition ausgerechnet auf den Münzen Preußens, das mit der Krönung seines Königs zum Deutschen Kaiser (1871) Träger der deutschen Einheit wurde, kann nur auf den ersten Blick überraschen – wenn man nämlich die Vorgeschichte außer Acht läßt. Genauer betrachtet entspricht der ikonographische Befund passgenau der spannungsreichen Entwicklung der Eiche und des Eichenlaubs zum deutschen Nationalsymbol. Zu berücksichtigen ist – entgegen nachträglicher Umdeutungen im Kaiserreich – das historische Faktum, dass sich die nationale Begeisterung der preußischen Könige in Grenzen hielt, vor allem mit Blick auf die ursprüngliche Verbindung des nationalen mit dem liberalen Gedankengut. War die nationale Aufbruchstimmung als Triebfeder in den Freiheitskriegen willkommen und das Eichenlaub dementsprechend auf preußischen Münzen präsent, so hatten beide ausgedient, als man nach dem Sieg über Napoleon an die Neuaufteilung der politischen Machtverhältnisse in Europa ging. Hier war das republikanische Erbe der National-Liberalen nicht mehr gefragt und wurde als gefährlich für die politische Ordnung zu eliminieren versucht. Bereits auf der Münchener Konferenz brachte Hessen den Gedanken auf, eine Bundesmünze einzuführen, »die weder Taler noch Gulden zu sein brauche«.16 Aus dem weder – noch wurde schließlich ein sowohl – als auch. Preußen lenkte 14 Paul Arnold /Harald Küthmann/Dirk Steinhilber : Großer Deutscher Münzkatalog. Von 1800 bis heute. 16. Aufl. (bearbeitet von Dieter Faßbender) München 2000 (Abkürzung: AKS), S. 265 f., Nr. 11. 15 AKS, S. 266, Nr. 14. 16 Zitiert nach W. M. von Bissing: Der Deutsche Zollverein und die monetären Probleme, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. Herausgegeben von G. Jahn, 79. Jg., 1. Halbband. Berlin 1959, S. 71 – 86, hier S. 84.

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ein, indem es der Beibehaltung der Guldenwährung im Süden und der Talerwährung im Norden zustimmte. Der Dresdner Münzvertrag von 1838 führte dann dazu, dass sämtliche im Zoll- und Handelsverein zusammengeschlossenen nord- und süddeutschen Staaten sich auf die Einführung wenigstens einer gemeinsamen Vereinsmünze einigten, um den grenzüberschreitenden Geldverkehr zu erleichtern, nämlich einer Doppelmünze im Wert von 2 Talern bzw. 3 1/2 Gulden. Alle Prägungen dieser Vereinsmünze mussten beide Wert-Angaben aufweisen. Die Möglichkeit, deren Reihenfolge selbst zu bestimmen, wurde politisch-ikonographisch genutzt, die Rangordnung der Währungen in den einzelnen Ländern optisch zum Ausdruck zu bringen. In den Taler-Ländern steht die Taler-Angabe (in der Abfolge der Umschrift) vor der Gulden-Angabe, in den Gulden-Ländern steht die Gulden-Angabe über der Taler-Angabe.17 Ikonographisch noch auffälliger als die unterschiedliche Gestaltung der Währungsangabe ist das völlig divergente Gepräge der Rückseiten der Vereinsmünze. Während Preußen und die norddeutschen Staaten ihr jeweiliges Wappen führen, halten die süddeutschen Staaten an dem Eichenkranz fest, auf den sie sich schon im Münchener Vertrag geeinigt hatten. Aufschluss darüber, wie es zu dieser gravierenden Differenz gekommen ist, geben die Protokolle der Dresdner Konferenz. Ursprünglich hatte offenbar auch Preußen »ein möglichst gleichförmiges Gepräge der Vereins-Münzen« angestrebt.18 Über das Maß der Gleichförmigkeit bestand jedoch keine Einigkeit. Während Preußen eine formale Entsprechung (Porträt auf der Vorderseite und Wappen auf der Rückseite) unter Angabe des Taler- und Guldenwertes genügte, strebten die süddeutschen Staaten eine weitergehende Übereinstimmung an, die insbesondere die Verwendung des Eichenkranzes einschloss.19 Die jeweiligen Vorschläge entsprachen den späteren unterschiedlichen Ausführungen beider Parteien. Den Protokollen ist zu entnehmen, dass sich einzig Preußen gegen die Übernahme des Eichenkranzes der süddeutschen Staaten sperrte, auch wenn die norddeutschen Staaten dann in der tatsächlichen Ausführung dem preußischen Vorschlag folgten. Der Vertreter Preußens machte geltend, dass ein einheitliches Gepräge nicht notwenig sei, »da der beabsichtigte Zweck, die Vereinsmünze als eine im ganzen Vereine geltende Münze zu characterisiren und deren Werth in beiderlei Münzfüßen auszudrücken, auch unter Beibehaltung des Wappens […] sich vollkommen erreichen lasse«.20 Die Vertreter Bayerns und Württembergs, 17 Vgl. die 31/2-Gulden/2-Taler-Münze Bayern (AKS, S. 56, Nr. 73) und die 2-Taler/31/2-GuldenMünze Preußen (AKS, S. 265, Nr. 9). 18 Verhandlungen der allgemeinen Münzconferenz unter den Staaten des Zoll- und HandelsVereins, S. 19. 19 Ebd., S. 49 (§ 14). 20 Ebd., S. 68 (§ 34).

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denen sich die Vertreter der anderen süddeutschen Staaten anschlossen, verteidigten dagegen die »durchgängige Gleichförmigkeit« der Rückseite: Wenn nämlich ein Staat »die Darstellung seines Wappens wähle, so werde jeder andere Staat sich, ein Gleiches zu thun, vorbehalten, und alsdann würde in der Form der Vereinsmünze eine durchgängige Verschiedenheit stattfinden«. Nachdem der Vorschlag der süddeutschen Staaten den »Beifall« der anderen Staaten gefunden hatte, schlug der Vertreter Sachsens einen Kompromiß vor, der später auch im wesentlichen realisiert wurde, nämlich »die mehrfach gewünschte gleichförmige Characteristik der Vereinsmünze lediglich mittelst der Umschrift auf dem Revers« herzustellen.21 Preußen sah sich angesichts seiner Verweigerung zu einer rechtfertigenden Stellungnahme genötigt, die insofern aufschlussreich ist, als sie in deutlichen Worten die rein ökonomisch orientierte Pragmatik des reibungslosen Geldverkehrs gegen die ikonographische Einheitsrhetorik der Süddeutschen ausspielte.22 Zur Zeit der Dresdner Verhandlungen ist Preußen noch weit entfernt von der Bereitschaft, in einem Deutschen Reich »aufzugehen«. Die politische Situation nach 1848 war dadurch bestimmt, dass der preußische König die ihm angetragene Würde eines deutschen Kaisers zwar zurückgewiesen, Preußen damit aber keineswegs auf seinen Hegemonialanspruch im Deutschen Bund verzichtet hatte. Die politisch-ökonomischen Bedingungen für die Realisierung dieses Anspruchs waren durch die Gründung des Deutschen Zoll- und Handelsvereins geschaffen worden. Mit dem Dresdner Münzvertrag hatten sich die nord- und süddeutschen Staaten zu einem Währungsverbund zusammengeschlossen, der dem Expansionsdrang der preußischen Wirtschaft entgegenkam. Österreich, das dem Deutschen Zollverein nicht angehörte, begriff, dass ein wirtschaftliches Zusammenrücken der nord- und süddeutschen Staaten auf Dauer auch das seit langem gehegte nationale Zusammengehörigkeitsgefühl stärken würde. Schon aus diesem Grunde musste Österreich, das Preußen die Führung im Deutschen Bund streitig zu machen gedachte, an einem wirtschaftlichen Anschluss gelegen sein, um nicht ins politische Abseits zu geraten. Die süddeutschen Staaten unterstützen dieses Bemühen, um ihrerseits ein Gegengewicht zum übermächtigen Preußen zu gewinnen und eine zu große Abhängigkeit von Preußen zu verhindern. Dies war die politische Ausgangslage, die zur Wiener Münzkonferenz von 1856/1857 führte.23 Auf der Wiener Konferenz wurde als gemeinsame Hauptmünze der »Vereinsthaler« (in den Werten 1- und 2-Taler) eingeführt, der nicht nur nominell durch seine Bezeichnung als »Thaler«, sondern auch im Gepräge (Bild des 21 Ebd., S. 69. 22 Ebd., S. 120 f. (§ 58). 23 Vgl. Rittmann: Deutsche Geldgeschichte 1484 – 1914, S. 715 ff.

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Landesherren auf der Vorderseite und Landeswappen auf der Rückseite) den preußischen Vorstellungen entsprach.24 Die süddeutschen Staaten waren ohnehin bereits seit 1843 auf die preußische Ikonographie eingeschwenkt. Auf Drängen Bayerns war der Eichenkranz auf der Vereinsmünze durch das jeweilige Wappen abgelöst worden, und zwar offiziell aus ästhetischen Gründen.25 Diese Änderung wurde in Wien festgeschrieben,26 was besagte, dass man die preußische Gestaltung der alten »Vereinsmünze« für die beiden neuen »Vereinsthaler«Münzen übernahm. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang das denkwürdige Memorandum, das der Bevollmächtigte der Freien Stadt Frankfurt, Senator Franz Alfred Jakob Bernus, zum Zwischenstand der Wiener Verhandlungen im April 1856 abgab.27 Bernus gibt zu bedenken, ob auf der Basis der vorläufig vereinbarten Punkte »nicht eine grössere Einigung erzielt werden könnte«. Der Appell des Frankfurter Vertreters richtete sich vor allem an Österreich, gemeinsam mit den süddeutschen Staaten einen 60-Gulden-Fuß einzuführen, um zu verhindern, dass diese – »eingekeilt« zwischen den Münzsystemen Preußens und Österreichs – ihren Münzfuß auf Dauer nicht aufrecht erhalten könnten.28 Deutlich ausgesprochen wird, dass hier übergeordnete, politische Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien. Implizit wird in den Ausführungen der Gedanke ausgesprochen, den preußischen Hegemonialbestrebungen durch einen Währungszusammenschluss der süddeutschen Staaten mit Österreich zu begegnen und eine politische Ordnung der Balance zwischen Preußen und den norddeutschen Staaten auf der einen und Österreich und den süddeutschen Staaten auf der anderen Seite herzustellen. Dabei hebt Bernus die identitätsstiftende Rolle eines »einheitlichen volksthümlichen Münzsystems« hevor, das sich als »ein fester Kitt der materiellen Interessen« der Völker erweise und »zum Segen des ganzen Gebietes des Vereins, aller Völkerschaften Österreichs und Deutschlands« wäre.29 Das Pathos der Erklärung von Bernus gibt andeutungsweise zu verstehen, dass es um mehr ging, als darum, den Handel zu befördern. Ein einheitliches Münzsystem sollte die ökonomische Basis für den nationalen Überbau abgeben 24 Vgl. die Protokolle, Vertragstext usw. in: Verhandlungen der auf dem Handels- und Zollvertrage vom 19. Februar 1853 beruhenden Conferenz über eine allgemeine Münz-Convention. Wien 1857. 25 Vgl. Rittmann: Deutsche Geldgeschichte 1484 – 1914, S. 542 f. Die Ablösung wurde 1843 beschlossen, in Bayern aber bereits auf der Prägung des Jahres 1842 vollzogen. Vgl. AKS, S. 56, Nr. 73 und Nr. 74. 26 Verhandlungen der […] Conferenz über eine allgemeine Münz-Convention, S. 106. So im Protokoll Nr. 14 zur Sitzung vom 12. März 1856. 27 Es ist dem 23. Protokoll als Beilage B beigefügt. 28 Verhandlungen der […] Conferenz über eine allgemeine Münz-Convention, S. 263. 29 Ebd., S. 264.

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und auf lange Sicht zum nationalen »Kitt« einer großdeutschen Einigung werden. Den tatsächlichen Vereinbarungen der Konferenz entsprechend lief Bernus’ Mahnung ins Leere. Die »völlige Einigung« des Münzsystems unterblieb. Als Folge des preußisch-österreichischen Kriegs von 1866 kam es schließlich zur kleindeutschen Reichsgründung unter Ausschluss Österreichs. Der »Kitt« erwies sich als nicht konsistent genug, die Verbindung zwischen den süddeutschen Staaten und Österreich zu festigen. »Eingekeilt« nicht nur zwischen den Münz-, sondern auch zwischen den Staatssystemen Preußens und Österreichs, die beide die Vorherrschaft in Deutschland anstrebten, ging Süddeutschland die numismatische und politische Verbindung mit Preußen ein. Vergegenwärtigt man sich die geldgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert, so sind die Parallelen zwischen der Einführung der Mark und der Einführung des Euro offensichtlich und – bei genauerer Betrachtung – auch gar nicht verwunderlich: Wirtschaftspolitischer Wille war und ist der Vater des Gedankens einer Währungsunion. Währungsunionen sind identitätsstiftende Maßnahmen, deren Absichten in der politischen Ikonographie der Geldnominale ihren symbolischen Ausdruck finden. Mark und Euro weisen hier Gemeinsamkeiten auf, die abschließend herauszustellen sind. Die Zusammenhänge werden deutlich vor dem Hintergrund der ikonographischen Entwicklung, die der Einführung der Mark vorausging. Der Wiener Münzvertrag hatte eine ikonographische Anpassung der süddeutschen Staaten und Österreichs an Preußen mit sich gebracht, die vorübergehend zu einer Verdrängung der Eichensymbolik von deutschen Münzen führte. Vollständig verschwand das Eichenlaub jedoch nicht. Schließlich gewann auch der Eichenkranz mit der Einführung der Reichswährung seine volkstümliche Stellung zurück, indem er zunächst (1873) auf dem 1-Mark-Stück als Rahmen der Wertziffer den Platz des Herrscherporträts einnahm. Die Form ist in auffälliger Weise dem süddeutschen Eichenkranz nachgebildet. In den folgenden Jahren rückte der Eichenkranz (ab 1877) auf die niedrigeren Werte vor und fungierte dabei auch als Rahmen für den Reichsadler.30 Dieses Bildprogramm entspricht politisch der von Bismarck angestrebten versöhnenden Einbindung des alten liberalen Erbes in das neue Reich unter preußischer Führung. Die Währungsunion, die zu Einführung der Mark in Deutschland führte, war begleitet von einem ikonographischen Programm, in dem die politische Dimension einer monetären und ökonomischen Entscheidung symbolisch zum Ausdruck kommt. Im Kaiserreich sind die Kleinmünzen von 1 Pfennig bis 1 Mark jeweils einheitlich gestaltet. Die höherwertigen Standardmünzen ab 2 Mark stimmen aber lediglich in den Rückseiten überein. Sie sind wie die 30 Kurt Jaeger : Die deutschen Münzen seit 1871. 17. Aufl. (bearbeitet von Helmut Kahnt) Regenstauf 2001, Nr. 6, 8, 14 – 16.

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Kleinmünzen mit dem Reichswappen (Reichsadler) versehen. Die Vorderseiten bleiben dagegen dem Bildnis des jeweiligen Landesherrn (bzw. dem Stadtwappen bei den Städten Bremen, Hamburg und Lübeck) vorbehalten. Die bereits im Münchener Münzvertrag geregelte und im Wiener Münzvertrag fortgeschriebene Aufteilung zwischen Vereins-Gemeinsamkeit und einzelstaatlicher Differenzierung hat sich somit bei der Gestaltung der Münzen des Kaiserreichs durchgesetzt: Die ikonographische Differenzierung bringt symbolisch die Anerkennung politischer Eigenstaatlichkeit zum Ausdruck. Eine ikongraphische Zweiteilung – Münzen haben eben, wie jede Medaille, zwei Seiten – ist bezeichnend für Vereinheitlichungen im Währungsbereich. Auf sie hat man nicht nur im vereinigten Kaiserreich, sondern auch im (noch nicht vereinigten) vereinten Europa bei der Einführung des Euro zurückgegriffen. Auszugehen ist damals wie heute von einander widerstreitenden Bedürfnissen nach einerseits generalisierender und andererseits spezifizierender Identitätsstiftung: Alle gehören zusammen; aber jeder möchte etwas Besonderes sein und haben. Es geht um die Idee einer Gesamtheit, in der man sich selbst noch wiederfindet und nicht unterschiedslos verschwindet. Die Euro-Scheine nähren eher den Verdacht einer Bildung abstrakter Allgemeinheit, die die individuellen Besonderheiten nivelliert. Auf ihnen sind bekanntlich keine wirklichen Gebäude, sondern Idealisierungen der unterschiedlichen Epochen abgebildet. Auf den Euro-Münzen ist der Ausgleich zwischen den gegensinnigen Bedürfnissen besser gelungen, indem eine Ausgewogenheit der politischen Symbolik bis hin zur Wahrung eines Symbolproporzes realisiert worden ist. So weisen die Vorderseiten der Euro-Münzen eine einheitliche europäische Symbolik auf, während die Rückseiten dagegen einzelstaatlich verschieden gestaltet sind. Dabei hat auf den deutschen 1-, 2- und 5-Euro-Cent-Münzen die vertraute Eichensymbolik Bestand. Zu betonen ist noch einmal, dass deren Verwendung im wesentlichen zwei Ursprünge hat: einen nationalen und einen republikanischen. Im Verlauf der Geschichte ist es ihr wie den national-liberalen Gedanken des 19. Jahrhunderts gegangen: Das republikanische Erbe verflüchtigte sich zunehmend zu Gunsten des nationalen – bis hin zum aggressiven Nationalismus des Dritten Reichs und dessen völkischer »Okkupation« der Eiche. Festzuhalten bleibt aber : Soweit sich die deutschen Liberalen von 1848 die Eiche »zu eigen« machten, war ihnen nicht nur an einem Symbol nationaler Stärke gelegen. Die Einheit, die sie meinten, war eine Einigkeit in Recht und Freiheit, und diese Tradition rechtfertigt es auch, die Eichensymbolik auf den Euro-Cent-Münzen beizubehalten. Hans-Werner Hahn verweist in seiner Darstellung der Geschichte des Zollvereins darauf, dass dieser häufig als Beispiel dafür angeführt wird, »dass eine

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Identität und Differenz. Zur politischen Ikonographie des Geldes

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wirtschaftliche Kooperation zwischen souveränen Staaten letztlich zu einer vollen politischen Einheit führen kann«.31 Hahn selbst warnt allerdings vor »allzu schnellen Analogieschlüssen«. Seine Ausführungen belegen, dass sich die Entwicklung von der Gründung des Zollvereins bis zur Reichsgründung als eine Gemengelage von sehr unterschiedlichen und teilweise auch widersprüchlichen politischen und ökonomischen Interessen sowie Erwartungen darstellt. Wenn man abschließend gleichwohl einen Vergleich zwischen den politischen und ökonomischen Situationen in den Zeiten des Deutschen Zollvereins und der gegenwärtigen Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wagen will, so liegt die Frage nahe, ob die aufgezeigten Parallelen auch vergleichbare Konsequenzen erwarten lassen. Es bleibt abzuwarten, ob die Einführung einer gemeinsamen Währung dazu führt, dass aus dem Europa der Vaterländer ein politisch geeintes Europa wird. Der große Unterschied zwischen dem Deutschen Zollverein und dem heutigen Europa ist, dass sich im Zollverein ökonomische Rationalität mit nationaler Emotionalität verbinden konnte, während Europa einzig auf politische und ökonomische Rationalität zu setzen vermag, die letztlich einem langfristig kalkulierten Selbstinteresse der Einzelstaaten entspringt. Während der Zollverein verschiedene Staaten der gleichen Nation verband, mag diese auch ein Konstrukt gewesen sein, bliebe ein europäischer Staat ein Staat verschiedener Nationen, eben ein Vielvölkerstaat, und die irrationale Labilität solcher Staaten hat uns die jüngere und jüngste Geschichte an den Beispielen der Österreich-Ungarischen Monarchie und des sozialistischen Jugoslawiens gelehrt.

31 Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins, S. 192.

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Den Dampf dämpfen? Skepsis angesichts der Maschinenromantik im 19. Jahrhundert

Die Figura etymologica den Dampf dämpfen ist im Unterschied zu der Figur einen Kampf kämpfen die Verschränkung eines Gegensatzes. Beide Male sind zwei Wörter desselben Stammes, Kampf und Dampf, ausdruckssteigernd miteinander verknüpft. Das horizontale Wortspiel1 ist so nicht nur eine Klang-, sondern eine Sinnfigur. Sie bedient sich der Sonderform gleichlautender, zugleich wurzelverwandter Wörter, bleibt aber trotz der identischen syntaktisch subordinierten Stellung von Akkusativnomen und Verbum semantisch divergent. Mit Witz betrachtet, bietet die Figur eine parallele Konstellation, deren Bedeutungsrelation der Scharfsinn zu unterscheiden gebietet.2 Dabei stellt sich das Wortspiel, dem vor allem die komischen Literaturgattungen zuneigen, als ein ernstes Wortspiel heraus. Während das stammverwandte Verbum kämpfen das Nomen Kampf stärkt, schwächt das kausative dämpfen die Dampfkraft. In einer extremen Bedeutung heißt dämpfen sogar so viel wie ersticken.3 Ein unter Einwirkung von Feuer zum Kochen gebrachtes Wasser entwickelt Dampf. Dieser Dampf kann verdampfen. Aber er kann auch komprimiert werden. Die daraus entstehende Kraft, die eine Dampfmaschine in Bewegung zu setzen vermag, gilt es zu bändigen und nutzbar zu machen. Die elementare Kraft muss im Dienste des Menschen wie ein Feind gezügelt oder eben gedämpft werden. Das ist etwas anderes als der zu kämpfende Kampf. So sehr es zur Energiegewinnung notwendig war, den entfesselten Dampf zu dämpfen, so wenig war es möglich, den Siegeszug der Dampfmaschine aufzuhalten. Wenn ein Wörterbuch wie das von Johann Christoph Adelung ausgangs 1 Vgl. Christian Wagenknecht: Wortspiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 864 – 867. 2 Vgl. Gottfried Gabriel: Ästhetischer ›Witz‹ und logischer ›Scharfsinn‹. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Jenaer Antrittsvorlesung vom 7. Dezember 1995. In: Philosophische Fakultät. Antrittsvorlesungen III. Jena 1999, S. 180 – 201. 3 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Leipzig 21793 – 1801, Bd. 1, Sp. 1382.

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des 18. Jahrhunderts die »Dämpfung des Feuers, eines Aufruhres, seiner Leidenschaften«4 aneinanderreiht, so wird aus dieser anthropologischen Allusion schon deutlich, welche Brisanz der Sache und dem Thema des Dampfes und des Dämpfens zuzumessen ist, weil hier physikalische Kraft und moralische Gewalt, Aufruhr und Leidenschaft, aufeinandertreffen. Diese Verbindung hat Goethe im Auge, da er in seinen »Maximen und Reflexionen« festhält: So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.5

Und im Interesse dieses jungen Mannes fügt er hinzu: Wohl ihm, wenn er von der Natur mit mäßigem ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen, noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen!

Was aber setzte die Dampfmaschine in Bewegung, dass sich Goethe der Vergleich von Dampfmaschine und Sittlichkeit aufdrängte sowie ihn auf den Handel, Papiergeld und Verschuldung verbindenden Gedanken brachte? Und vor allem: was nötigte ihn zu dieser Skepsis? Wo doch der unvergleichliche Siegeszug der Maschine im 19. Jahrhundert zu den schönsten Hoffnungen berechtigte und im Zeichen des geflügelten Rades6 überschwänglich begrüßt worden war! Die von Goethe in den schwerlich zu dämpfenden Dampfmaschinen zum Ausdruck gebrachte Skepsis galt gleichermaßen den ungeheueren Elementen des Geldverkehrs. Handel, Papiergeld, Schuldenlast erkannte er als Verführungen, denen insbesondere die Jungen – wie sein »Zauberlehrling« den herbeigerufenen Geistern7 – ausgesetzt sind. Daraus resultiert die dem Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (1829) inhärente Maxime, die aufklärerisch auf Selbstbestimmung setzt. Sie berührt sich eng mit Wielands aus Horaz gewonnenem Romanmotto zum »Aristipp« (1800/01).8 Dessen »sibi res non se rebus« besagt so viel wie sich nicht von den Dingen unterkriegen zu lassen, sondern sie unter sich 4 Ebd. 5 Johann Wolfgang von Goethe: Werke (Hamburger Ausgabe = HA). Hg. von Erich Trunz. Bd. XII. Komm. von Herbert von Einem und Hans Joachim Schrimpf. München 1981, S. 389. Ders.: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Betrachtungen im Sinne der Wanderer, 40. 6 Vgl. Dolf Sternberger : Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Hamburg 21946 [zuerst 1938], S. 22 – 34, bes. S. 26 f. 7 HA I, S. 276 – 279. 8 Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. von Klaus Manger. Frankfurt am Main 1988, S. 9, nach Horaz: Epistulae 1,1,19.

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Skepsis angesichts der Maschinenromantik im 19. Jahrhundert

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zu bringen.9 Dieser Anspruch, Herr der Dinge zu bleiben, nährt die Goethesche Skepsis, die zugleich vor einem Traum warnt – dem von einer Erlösung durch die Maschine. Solche Träume zeugen oft von einem gewissen Wirklichkeitsverlust, den man sich durch Surrogate wettzumachen verspricht. Dank komprimiertem Wasserdampf kommt die Dampfmaschine in Schwung. Wenn sich das Maschinenwesen verselbständigt, gleicht es arbeitendem Geld, das sich vermehrt. Hinter der Figura etymologica den Dampf dämpfen verbirgt sich folglich ein Mäßigungsprogramm, weshalb Adelung im Wörterbuch vermutet, dass die Bedeutung »Dämpfung des Feuers, eines Aufruhres, seiner Leidenschaften« wohl nicht von Dampf, sondern von dämmen abgeleitet sei.10 Die jede Dämpfung außer Acht lassende Maschinenromantik löste die neuaufkommenden Probleme von Industrie, Verkehr, Handel oder Sozialwesen ebensowenig, wie die »Guillotinenromantik« in Georg Büchners »Dantons Tod« (1835) die Probleme der französischen Revolutionäre zu lösen vermochte, da Danton sagt: »Die Guillotine ist der beste Arzt.«11 Die rasante Ausbreitung des Maschinenwesens und die damit einher kommende Fortschrittsgläubigkeit schienen anfangs durchaus zu einigen utopischen Akzentuierungen zu berechtigen. Im Rückblick hat der Siegeszug der Maschine binnen des 19. Jahrhunderts eine gründlichere Umwälzung bewirkt als beispielsweise die zehn Jahrhunderte davor, die das Erste Reich gedauert hat. Diese Umwälzung erfolgte im politischen ebenso wie im privaten Bereich, auf nationalökonomischem ebenso wie auf dem sozialen Feld. Es wäre nicht sinnvoll zu behaupten, keine politische Revolution habe so tiefgreifende Veränderungen gezeitigt wie die technischen Revolutionen nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im August 1806. Weder gab es einen unmittelbaren Zusammenhang, noch gingen die politischen und technischen Entwicklungen im Gleichschritt. Beispielsweise verfolgte das Königreich Bayern noch die karolingische Idee von einer Wasserstraße, die in Form des Rhein-Main-Donau-Kanals den Atlantik mit dem Schwarzen Meer verbinden sollte, als das Königreich Sachsen sich bereits für die Eisenbahnpläne von Friedrich List erwärmte.12 Es hat den Anschein, als habe eine gewisse Orien9 Vgl. Wielands Übertragung in: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 17.1. Bearb. von Ernst A. Schmidt und Hans-Peter Nowitzki. Berlin, Boston 2013, S. 61. 10 Adelung, Bd. 1 (wie Anm. 3), Sp. 1382. 11 Georg Büchner: Dantons Tod [I.1 und IV.7]. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar von Werner R. Lehmann. Bd. 1, München 21974, S. 10 und 74. 12 Vgl. Max von Boehn: Biedermeier. Deutschland von 1815 – 1847. Berlin [1923], 2. Kap.: Soziale Verhältnisse. Der Verkehr, S. 123 – 195, bes. S. 180 ff. Vgl. Michael Hörrmann: Friedrich List und die Frühgeschichte der deutschen Eisenbahn. In: Friedrich List und seine Zeit. Nationalökonom, Eisenbahnpionier, Politiker, Publizist, 1789 – 1846. Reutlingen 1989, S. 132 – 168.

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tierungslosigkeit zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Reiches den technischen Fortschritt außerordentlich begünstigt. Sozialpolitisch riss die Kluft zwischen Palast und Hütte, wie der Kampfruf »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!«13 bewusst machte. Die revolutionär demokratische Bewegung legte den Finger auf das soziale Elend, während der technische Fortschritt neue Großmächte, neue Imperien schuf, die vielfach die Voraussetzungen für die modernen globalen Entwicklungen boten. Die dynastischen Interessen waren mit einem Male nicht mehr – beziehungsweise nicht mehr vorrangig – die der Höfe. Vielmehr spielte, wie das der Schweizer Dichter Georg Herwegh mit Blick auf Richard Wagner zum Ausdruck brachte, die »Zukunftsmusik« jetzt »Krupps Orchester«.14 Die neuen Großmachtphantasien expandierten über die industriellen Großunternehmen, die, was aus dem 18. Jahrhundert an Weltbürgertum, Weltliteratur, Weltkultur hervorgegangen war15, in neuer politisch-technischer Symbiose auf »Weltkrieg« einengten. Der dynastische Gedanke sprang über auf das Industrieimperium. Und dessen Herzstück oder Seele war mit einem Male nicht mehr der anthropologisch zentrierte, alles bewegende Mensch, sondern die automobile, sich selbst bewegende Maschine, der Motor als Zentrum der Kraft. Stoß, Druck, Hub und Schwere wurden künstliche Bewegungsformen, vor denen sich Systole und Diastole, der Herzschlag des Menschen, in heimliche Refugien, in künstliche Paradiese16 zurückzog. Auch diese wurden Surrogate der neuen Zeit. Maschinen- und Fabrikwelt waren auf dem Vormarsch. Kennzeichen des Fortschrittlichen wurde die Bewegung, ihr Signet ein sonderbares Mischwesen, das aus dem der Schiene zugehörigen Rad und dem Element der Luft zugehörigen Flügeln gebildet wurde. Die Mythologie kennt solche Grotesken wie den Pegasus17, das geflügelte Pferd, das als Dichterross die Distanz zwischen Himmel und Erde zu überwinden vermag. Auch der Götterbote Hermes, lat. Mercur, in dessen Zeichen die großen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, der »Mercure de France« und »Der Teutsche Merkur«,18 firmierten, trägt Flügel an Helm und Füßen. Wie aber kam es zum geflügelten Rad, das zum Signet der Reichsbahn 13 Georg Büchner, Motto zum Hessischen Landboten (1834). In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 34/35. 14 Georg Herwegh: An Richard Wagner. 8. Februar 1873. In: Epochen der deutschen Lyrik. Hg. von Walther Killy. Bd. 8: Gedichte 1830 – 1900. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge hg. von Ralph-Rainer Wuthenow. München 1970, S. 286, Vers 13 f. 15 Vgl. Olaf Breidbach / Klaus Manger / Georg Schmidt (Hgg.): Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Paderborn 2014 (Laboratorium Aufklärung). 16 Vgl. Werner Hofmann: Das Irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 21974, bes. S. 230 – 253. 17 Ovid: Metamorphosen 4, 786 und 5, 255 – 265. 18 Vgl. Andrea Heinz (Hg.): ›Der Teutsche Merkur‹ – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Heidelberg 2003.

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Skepsis angesichts der Maschinenromantik im 19. Jahrhundert

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geworden ist? Der Begriff der Lokomotive führt da nicht weiter. Schon im humanistischen England des 17. Jahrhunderts belegt, bezeichnet er die Beweglichkeit vom Ort oder eines Ortes. Das gilt auch für das Rad am Fuhrwerk oder an der Kutsche. Nur kommt hier der Antrieb von außen, während die Lokomotive oder Locomotion der nach innen gelegte antreibende Motor kennzeichnet. Bekanntlich gab es vor der Dampfbahn schon die Pferdebahn, wie es vor der Eisenbahn schon die Holzbahn gab. Die schienengeführte Bahn war bereits lange vor der Selbstbewegung im Bergbau im Betrieb. Doch die Schiene in der heute üblichen Form ist so alt wie die Französische Revolution. Im Revolutionsjahr 1789 wurde der Pionier des Eisenbahnsystems, Friedrich List (1789 – 1846)19, in Reutlingen geboren, der – Ehrendoktor der Jenaer Universität20 – für die Verbreitung des Flügelrades sorgte. Dieses bleibt widersprüchlich, weil es entgegen seiner Verheißung sich gerade nicht in die Lüfte erhebt. Einen Fingerzeig auf seine Bedeutung gab George Stephensons »Adler«, die frühe englische Dampfbahn, die zum Vorbild aller folgenden geworden ist. Denn im Namen dieser Bahn begegnen wir gleichfalls dem Zwitterwesen eines erdgebundenen, schienengeführten Fliegens, diesem Doppelgesicht der Technik, das Befreiung versprach, aber Gebundenheit bedeutete. Dolf Sternberger hat in seiner Darstellung »Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert« (1938) auf die 1882 in Berlin erschienene Sammelpublikation »Vom rollenden Flügelrade« hingewiesen und bemerkte dazu, am ehesten lasse es sich wohl so begreifen, »daß die Schwingen, durch eine feste Achse miteinander verbunden, von unsichtbaren Muskeln zum Schlagen gebracht, ihrerseits als eine Art von organischem Motor das Rad zu ebener Erde rollen machen«.21 Er dachte dabei an die Stymphaliden, jene mythischen Vögel mit ehernen Flügeln und Federn, die Herakles erlegt.22 Beim Zeichen für die Bahn sind es dagegen lebende Flügel und statt Leib und Kopf das eherne Rad. Entsprechend heißt es in der Einleitung zu dem Band »Vom rollenden Flügelrade«, der Aufsätze des Eisenbahnfachmannes Max Maria von Weber (Sohn des Komponisten) versammelt: »Unvergleichlich mächtiger als Roß und Wagen, als Ruder und Segel ist der neue gewaltige Motor unserer Tage, der Meeresschlösser und rollende Ortschaften adlerschnell dahinführende Dampf.«23 Der Adler, der König der Lüfte und Herrscherimprese, dieser Adler, der zugleich für die Reichseinheit stand, war es, der dem Dampf glich. Es war eine sonderbare neu konstruierte Allegorie, die den Triumph der Dampfmaschine, des Dampfmotors in der Dampfschiff19 Vgl. Werner Ströbele: Friedrich List und seine Familie in Reutlingen. In: Friedrich List und seine Zeit (wie Anm. 12), S. 13 – 21. 20 Ebd., S. 153 mit Abb. der Urkunde zum Dr. jur. h. c. vom 15. November 1840. 21 Sternberger, Panorama (wie Anm. 6), S. 28. 22 Ebd. 23 Ebd. nach der Einleitung von Max Jähns zu Webers Sammelband.

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fahrt »auf Meeresschlössern« und der Eisenbahn in »rollenden Ortschaften« begeistert begleitete. Die Dichtungen der Zeit blieben von der Faszination der technischen Erfindungen nicht unberührt, waren sich indessen schon früh angesichts der von der Maschinenromantik ausgelösten Euphorie darüber im Klaren, welche ökonomischen und sozialen Probleme hinter der neuen Surrogatbildung lauerten. Goethe hatte bereits, wie gesehen, vor der Lebhaftigkeit des Handels, dem Durchrauschen des Papiergeldes und dem Anschwellen der Schulden gewarnt, die als Elemente des Sittlichen ebenso wenig zu dämpfen seien wie die Dampfmaschinen selbst. Der Dampfmotor wurde zum Zentrum einer ungeheuren dynamischen Spiralbewegung. Aber der zu dämpfende Dampf entfesselte Kräfte – gewissermaßen »Hans Dampf in allen Gassen«24 und »Hans Dampf j Mit seinem Schornstein«25 –, die auch der alte Meister von Goethes »Zauberlehrling« nicht mehr beherrschen konnte. Besonders die Lyrik, wenn wir nach unserem Thema in Zeugnissen der Literatur fragen, stand unter dem Eindruck von Dampfmaschine und Eisenbahn. Der blanke Stahl steigt auf und nieder, Belebt zum Streben alle Glieder Nach einem Ziel. Der große Bau Folgt stets des Meisters Sinn genau.26

So bedichtete der königlich britannische Harfenmacher J. A. Stumpff 1827 die Maschine. Wie ihr im 17. Jahrhundert aus dem Lateinischen abgeleiteter Begriff der Locomotive oder locomotion zeigt, entstammt sie der Zeit des Späthumanismus, als mit den ersten Versuchsdampfmaschinen in England experimentiert wurde. Auch James Watts Erfindung lag schon eine Weile zurück und wurde in Deutschland zuerst 1785 im Mansfelder Bergbaurevier in Betrieb genommen. »Mit fast gespenstischem Leben, heißem Odem und unbegrenzter Kraft ausgerüstet«27, hat Max Maria von Weber die Dampfmaschine gesehen und mit organischem Leben begabt. Wie der Künstler wurde der Techniker zum Schöpfer, zum »second maker«, und hauchte seinen Geschöpfen Leben ein. Damit war freilich die doppelte Bedeutung der griech. t¦chne¯ von Kunst und Technik endgültig dissoziiert. Die Seele der Maschine aber blieb der Dampf. Das ist nicht zu vergessen. Denn gerade die Fehleinschätzung der Maschine als Lebewesen 24 Vgl. die gleichnamige Erzählung von Heinrich Zschokke aus dem Jahr 1814. Vgl. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. 32. Aufl. neubearb. von Gunther Haupt und Winfried Hofmann. Berlin 1972, S. 287 f. 25 Heinrich Heine: Pferd und Esel. Vers 51 f. In: Ders.: Werke und Briefe. Hg. von Hans Kaufmann. Textrevision und Erläuterungen von Gotthard Erler. Bd. 2. Berlin, Weimar 21972, S. 399. 26 Nach Sternberger, Panorama (wie Anm. 6), S. 27. 27 Ebd., S. 26.

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führte zu den Verblendungen der Maschinenromantik. Ohne die Bedeutung der Erfindung zu verkennen, ist doch die Problematik dieser Fehleinschätzung nicht zu übersehen, die Lebendigkeit durch Mechanik ersetzt. Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe, heißt es bei Georg Büchner, sei »das einzige Kriterium in Kunstsachen«.28 Völlig pervertiert wurde diese Verbindung in einem Trinkspruch von 1875 auf die damals hundertjährige Erfindung Watts. Jene »Ehe« von Dampf und Maschine sei, trotz den Verschiedenheiten von Mann und Frau, eine der glücklichsten auf dem ganzen Erdenrunde und bestehe noch heute. Und wörtlich fährt der Trinkspruch fort: »Sie ist aber auch die fruchtbarste. Ihre Sprößlinge zählen nach hunderttausenden«.29 Der Gatte wird als Kind der Natur und als aufbrausend beschrieben; die viel jüngere Gattin fungiert in dieser Allegorie der Dampfmaschine als die vom Dampf in Bewegung versetzte Maschine. Zwischen Romantik und Realismus wurde einerseits der Untergang der Poesie beklagt, wie anderseits Errungenschaften der modernen Zeit gepriesen wurden. Alte »Postkutschenromantik«30 und neue Maschinenromantik verlängerten die Querelle des anciens et des modernes in die technische Welt hinein. Gegen die Entseelung und Zerstörung der Natur, die der blauen Blume ihren Nährboden entzogen, traten Bilder des Aufbruchs. Pferde töte »die Konkurrenz j Von diesen Dampfmaschinen«, heißt es bei Heinrich Heine, fortan werde der Mensch sich des »eisernen Viehes bedienen«.31 Schon 1830 bewies Adelbert von Chamisso die Anpassungsfähigkeit der Lyrik an den fortschrittlichen Zeitgeist, indem er das »Dampfroß«32 als ein Muster der Schnelligkeit pries. Und vergleichsweise früh prophezeite Goethe am 23. Oktober 1828 gegenüber Eckermann die technisch begünstigte Reichseinheit: »Mir ist nicht bange […], daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun.«33 Die »Poesie des Dampfes« pries gar 1837 der unter dem Dichternamen Anastasius Grün bekannte Anton Alexander Graf von Auersperg.34 In einem Gedicht des heute vergessenen deutsch-ungarischen Lyrikers Karl 28 Georg Büchner : Lenz (1839). In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 86. 29 Ernst Engel beim Stiftungsfest 1875 des preußischen »Vereins für Gewerbfleiß« nach Sternberger, Panorama (wie Anm. 6), S. 23. 30 Wilhelm Poethen: Das Vordringen der Eisenbahn und die deutsche Dichtung. Ein Beitrag zum Kapitel »Romantik und Realismus«. In: Zeitschrift für Deutschkunde 1921/35.2, S. 108 – 122, zit. S. 109. 31 Heinrich Heine: Pferd und Esel (wie Anm. 25), S. 398, Vers 21 – 24. 32 Chamisso’s Werke. Hg. Von Wilhelm Rauschenbusch. Erste illustrierte Ausgabe. Berlin 4 1884, S. 83 f. Vgl. Poethen, Eisenbahn und deutsche Dichtung (wie Anm. 30), S. 114. 33 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832. Dritter Teil [zuerst 1847]. 2 Bde. Berlin o. J. Bd. 2, S. 285. 34 Vgl. Poethen, Eisenbahn und deutsche Dichtung (wie Anm. 30), S. 114 f.

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Beck wurden die Schienen zu Hochzeitsbändern und blankgegossenen Trauringen: Eisen, du bist zahm geworden! Sonst gewohnt, mit wildem Dröhnen Hinzuwettern, hinzumorden, Ließest endlich dich versöhnen! Magst nicht mehr dem Tode dienen, Liebst am Leben fest zu hangen, Und auf diesen spröden Schienen Wird ein Hochzeitsfest begangen. Hört ihr brausen die Karossen? Deutsche Länder sitzen drinnen, Halten brünstig sich umschlossen, Wie sie kosen, wie sie minnen! Und des Glöckleins helles Klingen Sagt uns, daß die Paare kamen. Und die Wolkenpfaffen singen Drauf ein donnernd dumpfes Amen.

Und schließlich alliterativ und onomatopoetisch: Rasend rauschen rings die Räder, Rollend, grollend, stürmisch sausend, Tief im innersten Geäder Kämpft der Zeitgeist freiheitsbrausend.35

Die Verbindung von Dampf und Maschine zähmte das Eisen und wurde in dieser friedlichen Hochzeitsutopie lange vor der Vollendung des Kölner Domes zu einem Symbol deutscher Einigung. Welch ein Traum! Auf einer Federlithographie von 1839 zur Eröffnung der ersten Leipzig-Dresdner Eisenbahn hieß es mit Bezug auf den erneuerten romantischen Topos vom Goldenen Zeitalter36 : Auf jubelt laut, ihr Menschenkinder! Die neue gold’ne Zeit geht an. – Der alte Schlendrian entfliehet, Jetzt fährt man auf der Eisenbahn. Seht an das Unthier, die Maschine, Wie es vor Zorn und Unmuth sprüht.

35 Ebd., S. 116 f. 36 Vgl. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung, 7).

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Wie’s schnaubt und braußt, und aus dem Innern Gleich einer Höll’ das Feuer glüht.37

Schneller als Siebenmeilenstiefel oder Fausts Mantel bringe die Bahn von Dresden nach Leipzig, nach Frankfurt, nach Frankreich. Zwar gebe es des Geschäftsverlusts wegen auch Klagen, so von den Frachtfuhrleuten, den Advokaten, die ihre beweglich gewordenen Klienten nicht mehr vertreten müssen, zudem von Wirten auf dem Land. Dagegen profitieren die Messen, die Gastwirte in den Städten von der schnellen Verbindung, vor allem aber Verliebte: Denn eh’s die Eltern noch gespürt, Ist’s Töchterlein schon 50 Meilen Weit auf der Eisenbahn entführt.

Schließlich erscheint der Optimismus völlig ungebremst: Die Menschen werden immer klüger ; Das Unwahrscheinlichste wird wahr ; Selbst ohne Glauben, nur mit Dampfe Versetzt man Berge noch fürwahr.38

Es ist Optimismus, wenn es nicht hypertroph oder gar blasphemisch ist. Zum Zeitgeist ist der Dampf geworden Und schreitet fort im Riesenlauf, Und keine menschliche Gewalt mehr Hält seinen Weltlauf wieder auf.

Damit geriet die Maxime, den Dampf zu dämpfen, völlig aus dem Blick. Wie es einem Flugblatt zur Streckeneröffnung zukam, war es Tendenzpoesie. Aber die Tendenz, den Dampf zum Zeitgeist zu machen, entbehrte dann doch nicht gewisser Komik. Wie später Strom und Elektrizität, hieß jetzt das Zauberwort Dampf. Auch Theodor Fontane (1819 – 1898) trug dem Zeitgeist Rechnung und veröffentlichte 1843 in der Zeitschrift »Die Eisenbahn« das Gedicht »Junker Dampf«39, womit er gleichfalls den Dampf allegorisch personifizierte und außerdem die adelige Herkunft betonte. Junker Dampf (1843) Aus einem edlen Stamme Sproß er, der Junker Dampf: 37 Vgl. die Abb. des druckgraphischen Erinnerungsblattes »Leipzig = Dresdner Eisenbahn.« Federlithographie, um 1839. In: Friedrich List und seine Zeit (wie Anm. 12), S. 150, 1. und 2. Strophe (von 30). 38 Ebd., 21., 28. und 29. Strophe. 39 Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. 2.Aufl. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Abt. I, Bd. 6. München, Wien 21978, S. 366 f.

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Das Wasser und die Flamme, Sie zeugten ihn im Kampf; Doch hin und her getragen, Ein Spielball jedem Wind, Schien aus der Art geschlagen Das Elementenkind. Ja, frei an Füß’ und Händen Ist er ein lockrer Fant, Doch hinter Kerkerwänden, Da wird er ein Gigant: In tausend Trümmerreste Zerschlägt er jede Haft, Mit ihrer Dicht’ und Feste Wächst seine Riesenkraft. Selbst da, wo seiner Zelle Ein schmales Pförtlein blieb, Ringt er nach Luft und Helle Mit solchem Sturmestrieb, Daß, wenn ihn beim Entwischen Des Tores Enge hemmt, Den Kerker unter Zischen Er auf die Schulter klemmt. Und so, trotz eh’rner Fessel An Füßen noch und Hand, Reißt er den Kerkerkessel Im Fluge mit durchs Land, Reißt ganze Häuserreihen Mit fort wie Wirbelwind, Bis wieder er im Freien Nichts als – ein spielend Kind.

Während Fontanes Gedicht den Doppelcharakter von Elementenkind und spielendem Kind, von friedlichem Wesen und Riesenkraft in seiner Betrachtung steigerte: Kerkerkessel und Häuserreihen in einem werde der Zug durchs Land gerissen, blieben die meisten Zeugnisse in einseitiger Bejahung der neuen Gewalt befangen. Man begrüßte das »um die erschrockne Erde« hastig gespannte »metallne[.] Netz der Schienen«40 und bedachte noch kaum die Kehrseite solcher Verbindungen und Vernetzungen. Der Gedanke der familiären oder politischen Einigung verdeckte den anderen, dass der Garten der Natur plötzlich zerschnitten war und eine breite Flucht in künstliche Paradiese nach sich zog. Auf 40 Friedrich Wilhelm Weber : Eisenbahnphantasie (zuerst 1857). Vgl. Julius Schwering: Fr. W. Weber. Sein Leben und seine Werke. Paderborn 1900, S. 159, 176, 404. Hierzu Poethen, Eisenbahn und deutsche Dichtung (wie Anm. 30), S. 118 f.

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der Schiene beschleunigte sich die Ausdehnung der Industrie und begleitete in Deutschland die Erleichterung des Zollwesens. Der Aufschwung des Verkehrswesens, die Vernetzung der Industrieanlagen – mit Schiene und, parallel dazu, mit Telegraphennetzen – bedeuteten eine so gründliche Umstrukturierung in relativ kurzer Zeit, dass jenes Flügelrad zugleich zu einem Zeichen für die Umwandlung Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat zwischen Erstem und Zweitem Reich wurde. Oder, um es mit Bildern zu belegen: wo sich bei Karl Friedrich Schinkel (1781 – 1841) in heroischer Landschaft vor Gebirgshintergrund am Fluss noch eine gotische Kathedrale erhob, stand bei Karl Blechen (1798 – 1840) wenig später plötzlich ein Eisenwalzwerk mit den rauchenden Schloten an Stelle der Kathedraltürme. Oder der romantische Wanderer etwa bei Caspar David Friedrich (1774 – 1840) wich als Vordergrundsujet der daherschnaubenden Dampfbahn, wie Adolph von Menzel (1815 – 1905) in »Die BerlinPotsdamer Bahn« (1847) veranschaulichte. Zudem dezentralisierten die Bahnhöfe die Stadtarchitektur. Es entstanden die Industrie- und Lagerviertel. Eine Entzauberung der Welt ohnegleichen war zu beobachten und, damit einhergehend, eine Degradierung des Handwerks zum Handgriff. Angesichts dieser Entwicklung teilten gar nicht so viele Dichter Goethes Skepsis. Die unkritische Selbstbespiegelung eigener Größe attackierte dagegen Franz Grillparzer 1844 in einer seiner »Episteln«, in der es heißt: »Euch selber macht Ihr zum Gott«: Was sonst noch des Fortschritts Bürgschaft: Zolleinung und Eisenbahn, Zwei-Kammern-, Drei-Felder-Wirthschaft Beut sich zum Besingen Euch an [.]41

Noch ungleich deutlicher suchte Justinus Kerner (1786 – 1862) Zuflucht vor seiner »dampfestollen« Gegenwart in einem Gedicht »Unter dem Himmel« (1845).42 Eine Erwiderung darauf gab Gottfried Keller. Doch folge zunächst das Gedicht Kerners: Unter dem Himmel (1845) Laßt mich in Gras und Blumen liegen Und schaun dem blauen Himmel zu, Wie goldne Wolken ihn durchfliegen, In ihm ein Falke kreist in Ruh.

41 Franz Grillparzer in: Epochen der deutschen Lyrik, Bd. 8 (wie Anm. 14), S. 117 – 119, Vers 14 und 69 – 72. 42 Justinus Kerner ebd., S. 138.

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Die blaue Stille stört dort oben Kein Dampfer und kein Segelschiff, Nicht Menschentritt, nicht Pferdetoben, Nicht des Dampfwagens wilder Pfiff. Laßt satt mich schaun in diese Klarheit, In diesen stillen, sel’gen Raum: Denn bald könnt’ werden ja zur Wahrheit Das Fliegen, der unsel’ge Traum. Dann flieht der Vogel aus den Lüften, Wie aus dem Rhein der Salmen schon, Und wo einst singend Lerchen schifften, Schifft grämlich stumm Britannia’s Sohn. Schau ich zum Himmel, zu gewahren, Warum’s so plötzlich dunkel sei, Erblick’ ich einen Zug von Waaren, Der an der Sonne schifft vorbei. Fühl’ Regen ich beim Sonnenscheine, Such’ nach dem Regenbogen keck, Ist es nicht Wasser, wie ich meine, Wurd’ in der Luft ein Oehlfaß leck. Satt laßt mich schaun vom Erdgetümmel Zum Himmel, eh’ es ist zu spät, Wann, wie vom Erdball, so vom Himmel Die Poesie still trauernd geht. Verzeiht dies Lied des Dichters Grolle, Träumt er von solchem Himmelsgraus, Er, den die Zeit, die dampfestolle, Schließt von der Erde lieblos aus.

Diese Sehnsucht nach der Idylle umfasst acht Vierzeiler. Die allermeisten der Gedichte, die auf Dampfmaschine oder Technik positiv oder negativ reagierten, waren solche volksliedhaften, populären, von den Romantikern bevorzugten Vierzeiler. Kerners lyrisches Ich sehnt sich nach einem klassischen Ort der Idylle in Gras und Blumen und blickt von da empor zum Himmel. Dabei muss es gewahren, dass nicht nur alles Gute von oben kommt. Denn aus dem stillen Raum von goldnen Wolken und Falke und Lerchen droht ihm ein Ärgernis. Gerade noch preist es die vom wilden Pfiff des Dampfwagens unberührte blaue Stille, als auch schon unversehens aus einer die Sonne kreuzenden Warenkarawane ein leckes Ölfass zur Erde tropft. Statt des reinigenden und erquickenden Regens erlebt dieses Ich eine Umweltverschmutzung. Kein halbes Jahrhundert später erzählte Wilhelm Raabe in »Pfisters Mühle« einen Umweltskandal, da eine

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Zuckerfabrik den Mühlbach verseucht hatte.43 Wie so oft stehen die Dichter auf vorgeschobenem Posten und reagieren zuerst. Auch in Kerners lyrischem Ich erwacht der Groll, weil es erkennt, dass »wie vom Erdball, so vom Himmel j Die Poesie still trauernd geht«. Auf diesen poetischen Protest gegen Dampfwagen, Dampfschiff und Luftschiff, gegen eine »dampfestolle« Gegenwart und ihren lieblosen Ausschluss der Poesie verwahrte sich Kerner, worauf ihm der eine Generation jüngere Gottfried Keller (1819 – 1890) heftig widersprach.44 Erwiderung (1846) Dein Lied ist rührend, edler Sänger! Doch zürne dem Genossen nicht, Wird ihm darob das Herz nicht bänger, Das, Dir erwidernd, also spricht: Die Poesie ist angeboren, Und sie erkennt kein Dort und Hier ; Ja, ging’ die Seele mir verloren, Sie führ’ zur Hölle selbst mit mir. Inzwischen sieht’s auf dieser Erde Noch lange nicht so graulich aus; Und manchmal scheint mir, Gottes: Werde! Ertön’ erst recht dem »Dichterhaus«. Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen Und spannt Eliaswagen an – Willst träumend Du im Grase singen, Wer hindert Dich, Poet daran? Ich grüße Dich im Schäferkleide, Herfahrend, – doch mein Feuerdrach’ Trägt mich vorbei, die dunkle Haide Und Deine Geister schaun uns nach! Was Deine alten Pergamente Vom tollen Zauber kund Dir thun, Das seh’ ich durch die Elemente, In Geistes Dienst, verwirklicht nun. Ich seh’ sie keuchend sprühn und glühen, Stahlschimmernd bauen Land und Stadt: Indeß das Menschenkind zu blühen Und singen wieder Muße hat.

43 Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle. Leipzig 1884. 44 Gottfried Keller in: Epochen der deutschen Lyrik, Bd. 8 (wie Anm. 14), S. 138 f.

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Und wenn vielleicht, nach fünfzig Jahren, Ein Luftschiff voller Griechenwein Durch’s Morgenroth käm’ hergefahren – Wer möchte da nicht Fährmann sein? Dann bög’ ich mich, ein sel’ger Zecher, Wol über Bord, von Kränzen schwer, Und gösse langsam meinen Becher Hinab in das verlassne Meer!

Keller erwidert in neun identischen Strophen parodistisch. Die erste Strophe bildet den Vorspann und stellt den Zusammenhang zwischen den beiden Gedichten her, deren vierzeilige Strophen jambisch und mit weiblich/männlich alternierenden Kadenzen ausgestattet sind. Berühmte Vorbilder für diese Form sind Gellerts »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre« oder Eichendorffs Lied »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, j Den schickt er in die weite Welt«, selbst also religiöse und Naturerfahrungsgedichte. Ihre Form wurde zur Lieblingsform des Schwäbischen Dichterkreises, dem Kerner angehörte. Keller parodierte also im Bezug auf Kerner zugleich die Tradition verklärender Naturdichtung und teilte – wenigstens in diesem Gedicht – dessen Skepsis nicht. Doch war auch dieses parodistische Gedicht Tendenzdichtung, die Keller nicht nur in Opposition zu Kerner, sondern auch zum Schwäbischen Dichterkreis brachte, dessen Mittelpunkt das 1822 erbaute »Kernerhaus«, im Gedicht das »Dichterhaus«, in Weinsberg war, in dem ein großer Freundeskreis, darunter Dichter und Fürsten, verkehrte.45 Dieses als schlafmützig gescholtene Dichterhaus, dem das »Werde!«, zuerst das »Fiat lux«, Gottes »es werde Licht«,46 und damit der verpasste Anschluss an die Aufklärung vorgehalten wurde, ließ das Fraktionsproblem erkennen, das sich zwischen dem konservativen, skeptischen, pessimistischen Dichter Kerner und dem progressiven, wenigstens zu dieser Zeit noch fortschrittsbejahenden Dichter Keller auftat. Auch trat darin eine neue Form des alten Streits zwischen den Alten und Modernen, hier zwischen Konservativismus und Fortschritt, allerdings auch schon zwischen Rechts und Links, zutage. Bemerkenswerterweise verriet die konservative, skeptische Haltung mehr Weitblick. Dennoch war Kellers poetische Opposition nicht ohne Witz und darum wirkungsvoll. Sein lyrisches Ich grüßt den Poeten im Schäferkleide vom »Feuerdrachen« aus. Stahlschimmernd sieht er Stadt und Land, damit eine neue Welt, hervorgehen. Der technische Fortschritt gewähre dem Menschenkind wieder Muße, zu blühen und zu singen. »Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen j Und spannt Eliaswagen an«; ohne weiteres ist die Verwandtschaft mit dem Zeitgeist Dampf zu erkennen. Elias, so das 2. Buch der Könige im 45 Vgl. Theobald Kerner : Das Kernerhaus und seine Gäste. Stuttgart 1897. 46 Vgl. Das erste Buch Moses (Genesis) 1, 3 – 29.

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Alten Testament, geht mit Elisa, den er zum Propheten berufen, am Jordan: »Vnd da sie mit einander giengen / vnd er redet / sihe / da kam ein fewriger Wagen mit fewrigen Rossen / und scheideten die beide voneinander / vnd Elia fur also im wetter gen Himel«.47 Das biblische Gleichnis behält insofern noch seine Wirksamkeit, als die Entrückung des Elias sich auf die schnaubende Dampfbahn überträgt: die Bahn als feuriger Elias, der in den Himmel versetzt. Es war ein anderes, ein biblisches Bild für dieselbe Utopie. Ihr schnitt der Maschinenlärm selbst den Rückweg ab. Auch poetisch war die Natur als gepriesener Heilsraum verloren und diese nurmehr in Sprache oder im Bild, im sprachlichen Kunstwerk wie im Gemälde, zu bewahren. Kellers Ich spottet über den tollen Zauber alter Pergamente und blickt noch hoffnungsfroh den Elementen in Geistes Dienst entgegen. Dabei hatte schon acht Jahre zuvor Nikolaus Lenau (1802 – 1850) den Frühling 1838 wie ein Orakel befragt, ob der neue Weg der Dampfbahn zum Heile führen könne, wo ihm doch die Eiche und das Marienbild zum Opfer fallen.48 An den Frühling (1838) Lieber Frühling, sage mir, Denn du bist Prophet, Ob man auf dem Wege hier Einst zum Heile geht? Mitten durch den grünen Hain, Ungestümer Hast, Frißt die Eisenbahn herein, Dir ein schlimmer Gast. Bäume fallen links und rechts, Wo sie vorwärts bricht, Deines blühenden Geschlechts Schont die rauhe nicht. Auch die Eiche wird gefällt, Die den frommen Schild Ihrem Feind entgegenhält, Das Marienbild.

47 2. Buch der Könige 2, 11: D. Martin Luther. Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Textredaktion Friedrich Kur. München 1972, Bd. 1, S. 684 f. 48 Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Erster Band: Gedichte und Versepen. Auf der Grundlage der historisch-kritischen Ausgabe von Eduard Castle mit einem Nachwort hg. von Walter Dietze. Leipzig 1970, S. 313 – 315.

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Küsse deinen letzten Kuß, Frühling, süß und warm! Eiche und Maria muß Fort aus deinem Arm! Pfeilgeschwind und schnurgerad, Nimmt der Wagen bald Blüt und Andacht unters Rad, Sausend durch den Wald. Lieber Lenz, ich frage dich, Holt, wie er vertraut, Hier der Mensch die Freiheit sich, Die ersehnte Braut? Lohnt ein schöner Freudenkranz Deine Opfer einst, Wenn du mit dem Sonnenglanz Über Freie scheinst? Oder ist dies Wort ein Wahn, Und erjagen wir Nur auf unsrer Sturmesbahn Gold und Sinnengier? Zieht der alte Fesselschmied Jetzt von Land zu Land, Hämmernd, schweißend Glied an Glied Unser Eisenband? Braust dem Zug dein Segen zu, Wenns vorüberschnaubt? Oder, Frühling, schüttelst du Traurig einst dein Haupt? Doch du lächelst freudenvoll Auf das Werk des Beils, Daß ich lieber glauben soll An die Bahn des Heils. Amselruf und Finkenschlag Jubeln drein so laut, Daß ich lieber hoffen mag Die ersehnte Braut.

Der Zwiespalt angesichts des unter dem Zeichen des Flügelrades daherbrausenden Fortschritts, eines schnaubenden wilden Tieres, der Eisenschlange, des feurigen Elias blieb aktuell. Selbstverständlich nahm man die Bahn oder das Flugzeug. Friedrich Lists Bemühungen, vor allem seine Schrift von 1833 »Über

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ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines deutschen Eisenbahnsystems«49, begründeten die Saxonia, die sächsische Bahn, deren Eröffnung das erwähnte Flugblatt so euphorisch begrüßte. List selbst proklamierte sein Lebenswerk einseitig, wenn er sein Eisenbahnsystem mit Heilserwartungen verband: die Eisenbahn, schrieb er, sei ein Herkules in der Wiege, »der die Völker erlösen wird von der Plage des Krieges, der Teuerung und Hungersnot, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und des Schlendrians.«50 Er führe in entfernte Gegenden, zu fernen Heilquellen und Seegestaden, wo sich Wiederherstellung der Gesundheit suchen lasse. Der verheißungsvolle Gedanke war Teil einer Werbeschrift. Aber gerade darin trat die Maschinenromantik in Reinkultur in Erscheinung, schließlich galt es den Gedanken zu verkaufen. Sie verhieß Erlösung von den apokalyptischen Plagen wie Krieg, Teuerung oder Hungersnot. Man brauchte sich nicht zu wundern, wenn die expressionistische Lyrik mit gleichfalls apokalyptischen Motiven dagegen hielt, da Jakob van Hoddis’ »Weltende« schloss: »Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.«51 Es war das Eröffnungsgedicht der expressionistischen Anthologie »Menschheitsdämmerung« (1919). Die vermittels der Maschine völlig neue, dem Menschen fremde Bewegung, die ihm ihren Rhythmus aufgeprägt, ihn in zuvor ungekanntem Maße – sibi res – in seiner Selbstbestimmung erschüttert hat, diese Dynamisierung ohnegleichen kannte keinen Stillstand: »Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat«, bemerkte Friedrich Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches« (1886) zu den »Prämissen des Maschinen-Zeitalters«.52 Vor allem sah er in der »Morgenröthe« (1886) die »Arbeiter[.] der Fabrik-Sclaverei« nur mehr »als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüsser der menschlichen Erfindungskunst verbraucht«.53 Das war freilich wiederum die Kehrseite einer mit korinthischen Säulenkapitellen dekorierten Maschinenhalle oder einer mit Löwenköpfen verzierten Nähmaschine, die Kehrseite auch, weil der instrumentalisierte Mensch der Preis dafür war, daß die Maschine den Arm und die Reichweite des Menschen plus ultra verlängert hatte. Diese Entfrem49 Vgl. Friedrich List und seine Zeit (wie Anm. 12), S. 132 und 144 – 152. 50 Nach Max von Boehn, Biedermeier (wie Anm. 12), S. 181. 51 Jakob van Hoddis: Weltende, Vers 8. ED: Der Demokrat. Berlin, 11. Januar 1911. In: Ders.: Weltende. Gesammelte Dichtungen. Hg. von Paul Pörtner. Zürich 1958, S. 28. Vgl. Karl Riha: »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut«. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Hg. von Harald Hartung. Stuttgart 1983, S. 118 – 125. 52 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 2, S. 674: Menschliches, Allzumenschliches II: 2. Der Wanderer und sein Schatten, 278. 53 Nietzsche, Sämtliche Werke (wie Anm. 52), Bd. 3, S. 183: Morgenröthe. Drittes Buch, 206.

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dungen wurden in den riesigen Zurschaustellungen und triumphalen Inszenierungen der Techniktempel verdrängt, wie sie die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts vorführten. EugÀne D¦lacroix, der Maler, beobachtete diese dem Menschen entfremdete Welt, da er am 3. August 1855 nach einem Besuch des Palais del’industrie in sein Tagebuch schrieb: »Der Anblick all dieser Maschinen trübt mich zutiefst. Ich mag diese Materie nicht, die so tut, als wollte sie, allein und sich selbst überlassen, Dinge schaffen, die der Bewunderung würdig sind.«54 Zur gleichen Zeit entwarf der Neukantianer Hermann Lotze seinen dreibändigen »Versuch einer Anthropologie«, der unter dem Titel: »Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit« in Leipzig 1856, 1858 und 1864 erschien. Bemerkenswert sind hierin die Überlegungen zu Schönheit, Kunst und Ästhetik im modernen Leben, weil sie die Funktion der Maschine mit dem Gedanken der Schönheit verbanden. Mit der »Vorliebe für die Eleganz der kürzesten Auflösung jeder Schwierigkeit« in seiner Gegenwart rühmte Lotze den Bau der Maschinen: »welche knappe, saubere Einfachheit, wie große Effecte durch geistreiche Combination weniger Mittel!«55 Auch darin sei, wie er hervorhob, unzweifelhaft Schönheit. Dem kurzgeschornen, kurz angebundenen »Geist der Gegenwart« wünschte er, »daß er aus diesem kleinen Keime einen großen Baum originaler Lebensschönheit aufziehen möge«.56 Damit war die Aufmerksamkeit auf das Maschinenmögliche gelenkt, das von den an die Maschinenromantik geknüpften Heilserwartungen abgekoppelt wurde. Der Traum von einer Erlösung durch die Maschine erhielt seitens ihrer Funktionsbetrachtung keinen Zuspruch. Wer das zu unterscheiden vermochte, für den ahnte Goethe schon zu Recht, so wenig die Dampfmaschinen zu dämpfen seien, so wenig sei dies auch im Sittlichen möglich. Wohl dem, der von der Natur mit mäßigem ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen, noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen.

54 Hofmann, Das Irdische Paradies (wie Anm. 16). S. 87. 55 Hermann Lotze: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. Bd. 3. Leipzig 1864. Achtes Buch, Kap. 3: Das Schöne und die Kunst, S. 328. 56 Ebd.

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Michael C. Schneider

Internationalisierung und Institutionalisierung: Der Internationale Statistische Kongreß 1863 in Berlin

1.

Einführung

Vom 6. bis zum 12. September 1863 fand in Berlin der fünfte »internationale statistische Congress« statt, nachdem er zuvor in Brüssel (1853), Paris (1855), Wien (1857) und London (1860) abgehalten worden war.1 Betraut mit der Organisation dieser Zusammenkunft der amtlichen Statistiker Europas war der drei Jahre zuvor zum Direktor des preußischen statistischen Bureaus ernannte sächsische Statistiker Ernst Engel.2 Aufgabe des Berliner Kongresses wie auch der vorangegangenen Versammlungen war es, den Grad der Einheitlichkeit in den statistischen Erhebungen in den beteiligten Staaten zu erhöhen und damit die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Dieses Ziel erstreckte sich auf alle denkbaren Themenfelder der amtlichen Statistik, von der Bevölkerungsstatistik bis zur Versicherungsstatistik, von der Preisstatistik bis zur Statistik der Eisenbahnen.3 Damit fügen sich die Statistischen Kongresse in über1 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ernst Engel: Die Beschlüsse der in den Tagen vom 6. bis mit 12. September 1863 in Berlin abgehaltenen fünften Sitzungsperiode des internationalen statistischen Congresses (erste Hälfte), in: Zeitschrift des königlich preußischen statistischen Bureaus 1864/4, S. 1 – 26. Vgl. ferner zur Reihung der Kongresse in Ernst Engel: Internationaler Statistischer Congress in Berlin. Bericht an die Vorbereitungs-Commission der V. Sitzungs-Periode des Congresses über die Gegenstände der Tagesordnung derselben, in: Zeitschrift des königlich preußischen statistischen Bureaus 1863/3, S. 109 – 128, hier S. 111. Ein z. T. tabellarischer Überblick über die auf diesen vier Kongressen gefassten Beschlüsse findet sich in: Compte-rendu g¦n¦ral des travaux du congrÀs international des statistique dan les s¦ances tenues — Bruxelles 1853, Paris 1855, Vienne 1857, et Londres 1860. Publi¦ par les ordres de S. E. M. le Comte d’Eulenburg, Ministre de l’int¦rieur, sous la direction de M. le Dr. Engel, Directeur du bureau royal des statistique — Berlin. Berlin 1863. 2 Zur Biographie Engels vgl. Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860 bis 1914. Frankfurt am Main 2013, S. 63 – 65 sowie Frank Hoffmann: »Ein den thatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild nicht zu gewinnen«. Quellenkritische Untersuchungen zur preußischen Gewerbestatistik zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung. Stuttgart 2012, S. 151 – 169. 3 Vgl. Engel: Beschlüsse (wie Anm. 1), S. 1.

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Michael C. Schneider

greifende Tendenzen der Internationalisierung und Normierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein.4 In der Literatur wird der Einfluss dieser Zusammenkünfte auf die statistische Praxis in den beteiligten Staaten nicht selten hoch veranschlagt: Jürgen Osterhammel etwa schreibt den Kongressen einen großen Einfluss auf die nationalen statistischen Apparate zu: Sie »formulierten Qualitätsnormen, denen sich kein Staat entziehen konnte.«5 Andererseits äußerte schon Harald Westergaard in einer älteren Publikation Zweifel, was den tatsächlichen Einfluss dieser Kongresse auf die statistische Praxis der beteiligten Staaten anging, waren diese Zusammenkünfte doch nur eine von mehreren Möglichkeiten des gegenseitigen Austauschs.6 Die Geschichte dieser Kongresse und ihre Auswirkungen auf die nationalen statistischen Systeme sind noch nicht systematisch untersucht, und der vorliegende knappe Beitrag kann eine solche Untersuchung auch nicht ersetzen. Sein Ziel ist es vielmehr, am Beispiel des fünften dieser Kongresse, der im September 1863 in Berlin stattfand, die zwischen den beteiligten Statistikern auseinandergehenden Auffassungen von der Aufgabe und den Zielen der Kongresse zu erhellen. Dabei stehen nicht so sehr die behandelten Sachthemen im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Frage, welchen Charakter die Internationalen Statistischen Kongresse generell in der Zukunft einnehmen sollten. Ungeachtet aller Rhetoriken der eigenen Bedeutsamkeit fehlte diesem Gremium allerdings die Kompetenz, Beschlüsse mit einer die jeweiligen Regierungen bindenden Wirkung zu fassen – alle Stellungnahmen und Resolutionen waren im Grunde genommen nichts weiter als Empfehlungen der Fachleute, an denen sich die amtlichen statistischen Organisationen der jeweiligen Staaten orientieren konnten oder auch nicht.7 Dem Selbstverständnis der Statistiker zufolge dienten die Kongresse seit ihrer ersten Zusammenkunft vorrangig praktischen Zielen, wie etwa der Abstimmung der Erhebungsformulare der verschiedenen statistischen Erfassungen oder der Verabschiedung einer Vielzahl von Resolutionen und Forderungen, die die Organisation der statistischen 4 Vgl. Martin H. Geyer / Johannes Paulmann: Introduction: The Mechanics of Internationalism, in: dies. (Hg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War. Oxford 2001, S. 1 – 25; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 723 – 735. Vgl. zur Geschichte wissenschaftlicher Kongresse noch Eckhardt Fuchs: Zwischen Wissenschaft und Politik. Die internationalen Historiker- und Orientalisten-Kongresse vor dem Ersten Weltkrieg, in: Stefan Jordan / Peter Th. Walther (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft. Aspekte einer problematischen Beziehung. Waltrop 2002, S. 352 – 373. Vgl. speziell zu den Internationalen Statistischen Kongressen, sowie knapp zu den Reorganisationsbestrebungen des Jahres 1863 Eric Brian: Y a-t-il un objet CongrÀs? Le cas du CongrÀs international de statistique (1853 – 1876), in: Cahiers George Sorel 1987/7, S. 9 – 22, bes. S. 21. 5 Osterhammel: Verwandlung (wie Anm. 4), S. 59. 6 Vgl. Harald Westergaard: Contributions to the history of statistics. London 1932, S. 173. 7 Vgl. ebd., S. 173. Vgl. zudem Engel: Beschlüsse (wie Anm. 1), S. 2.

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Internationalisierung und Institutionalisierung

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Systeme wie auch der Erhebungen selbst zum Gegenstand hatten. Für wissenschaftliche oder politische Diskussionen war kein Platz vorgesehen, auch wenn etwa sozialpolitische Implikationen der Sozialstatistik nicht gänzlich ausgeklammert werden konnten.8 In den späten fünfziger Jahren scheinen indes verstärkt wissenschaftliche Fragestellungen aufgenommen worden zu sein.9 Gemessen an den absoluten Teilnehmerzahlen war der Berliner Kongress mit 477 Teilnehmern kleiner als die unmittelbaren Vorgängerveranstaltungen in Wien (541) und London (595), allerdings war der Anteil von »Fremden« (also nichtdeutschen Teilnehmern) mit 127 Personen vergleichsweise hoch. Überhaupt war die Teilnehmerschaft stark international zusammengesetzt: Neben Angehörigen der deutschen Staaten (Preußen: 356, übrige deutsche Staaten: 43) und Österreichern (12) waren auch Vertreter10 aus England (13), Russland (13), Frankreich (7), Norwegen (7), der Schweiz (5), Italien (4), Belgien (3), den Niederlanden (3), Schweden (2), Spanien (3), Portugal (2), Türkei (=Serbien und Donaufürstentümer, das Osmanische Reich als solches war nicht vertreten) (2) sowie Nordamerika (2) anwesend. Zwar ist das zahlenmäßige Übergewicht der deutschen Teilnehmer unübersehbar, aber auch bei den Kongressen zuvor hatte die jeweilige einheimische Teilnehmerschaft klar dominiert.11 54 Teilnehmer aus nichtpreußischen Staaten waren offiziell von ihren Regierungen entsandt worden, darunter Professoren verschiedener Fächer sowie Beamte unterschiedlicher, an statistischen Fragen interessierter Ministerien.12 Die Kosten des Kongresses, soweit sie vom preußischen Innenministerium getragen wurden, beliefen sich auf fast 7 000 Taler, wobei Druck und Bindung der Kongressunterlagen sowie die Bezahlung der Stenographen die umfangreichsten Posten der Rechnung darstellten.13

8 Vgl. Westergaard: Contributions (wie Anm. 6), S. 176 f. 9 Vgl. ebd., S. 179. 10 Es ist zwar nicht direkt belegt, aber sehr wahrscheinlich, dass unter ihnen keine Frauen waren. 11 Vgl. Engel: Beschlüsse (wie Anm. 1), S. 4. 12 Vgl. das von Engel erstellte »Verzeichnis der officiellen Delegirten bei dem Statistischen Congress in Berlin«, Beilage zum Schreiben Engel an Eulenburg (Innenminister) vom 21. September 1863, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (GStA PK), HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 250 – 257. Dieses Schreiben stand im Zusammenhang mit der Anregung Engels, manche von den Teilnehmern mit preußischen Orden auszuzeichnen; die Namen und Funktionen der offiziellen Teilnehmer waren deshalb von Engel mit kurzen Kommentaren versehen worden (zu Quetelet etwa findet sich der Eintrag: »Nestor der Statistiker ; jetzt freilich nur noch eine Ruine seiner einstigen Größe«), ebd. 13 Vgl. »Übersicht der Kosten, welche durch den im Monat September 1863 zu Berlin stattgefundenen Vten internationalen statistischen Congreß hervorgerufen sind«, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 275 f.

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2.

Michael C. Schneider

Das preußische statistische Bureau und seine Verwissenschaftlichungsstrategie nach 1860

Nachdem in den zehn Jahren zuvor die Statistischen Kongresse in Staaten stattgefunden hatten, die für die amtliche Statistik eine wichtige Rolle gespielt hatten, wie insbesondere Belgien14 und Großbritannien15, liegt die Frage nahe, mit welchen Erwartungen die Teilnehmer nach Berlin reisten. In der Tat gehörte Preußen zu den Staaten, die schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts über ein statistisches Bureau verfügten, das nach anfänglicher Innovationskraft etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts hinter die rasch voranschreitenden internationalen Standards zurückzufallen begann.16 Umso interessierter wird die statistische Fachöffentlichkeit gewesen sein, wie sich der neu ernannte Direktor des statistischen Bureaus, Ernst Engel, vor der internationalen Kollegenschaft präsentieren würde. Umgekehrt diente aber auch aus der Perspektive Engels der Berliner Kongress zwei Zielen: Zum einen verfolgte Engel, anders als sein Vorgänger Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, eine Strategie sowohl der Einbettung der preußischen amtlichen Statistik in internationale Arbeitszusammenhänge, eine Strategie, die gut zu den allgemeinen Zielen der Statistischen Kongresse passte. Zum anderen strebte er eine grundlegende Verwissenschaftlichung der amtlichen Statistik an und orientierte sich hierbei auch an jeweils bewährten Erfassungsmethoden und Organisationsprinzipien der amtlichen Statistik anderer Länder.17 Engels Vorgänger Dieterici hatte hingegen noch eine unverkennbare Zurückhaltung an den Tag gelegt, wenn es darum ging, die preußische Statistik auch nur mit den Praktiken der Zollvereinsstaaten abzustimmen, nicht zu reden von einer Abstimmung und Kooperation mit den statistischen Zentralstellen der übrigen europäischen Staaten. Diese Zurückhaltung wird an einer der zentralen Forderungen der Internationalen Statistischen Kongresse deutlich, die seit ihrer ersten Zusammenkunft 1853 immer wieder erhoben wurde: der Empfehlung an die Staaten, jeweils interministerielle »statistische Zentralkommissionen« einzurichten. Diese Gremien sollten im Wesentlichen dazu dienen, auf der Ebene der jeweiligen Staaten die vielfältigen und häufig unverbunden nebeneinander laufenden Erhebungen zu koordinieren, um beispielsweise unnötige Doppel14 Vgl. Nele Bracke: For State and Society? The production of official statistics in 19thcentury Belgium, in: Axel C. Hüntelmann / Michael C. Schneider (Hg.): Jenseits von Humboldt. Wissenschaft und Staat 1850 – 1990. Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 257 – 267. 15 Vgl. Simon Szreter : Fertility, Class and Gender in Britain, 1860 – 1940. Cambridge 1996, S. 85 – 93. Vgl. zur Entwicklung der amtlichen Statistik in Europa generell Alain DesrosiÀres: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin 2005. 16 Vgl. Schneider : Wissensproduktion (wie Anm. 2), S. 46 – 70. 17 Vgl. ebd., S. 70 – 81, 114 – 130.

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arbeiten zu unterbinden. Die Einrichtung einer solchen Kommission in Preußen lehnte Dieterici ebenso ab wie die inhaltliche Abstimmung der Erhebungsformulare und -praktiken mit anderen europäischen Staaten.18 Den ersten Internationalen Kongress 1853 hatte Dieterici noch besucht, dem nächsten Kongress 1857 in Wien war er aber ferngeblieben, was sein Nachfolger Engel noch sechs Jahre später mit einer gewissen Bitterkeit notierte.19 Nach Dietericis überraschendem Tod 1859 wurde 1860 der Statistiker Ernst Engel in das Amt des Direktors des preußischen statistischen Bureaus berufen, ein Amt, das er sowohl mit klaren Vorstellungen von der Aufgabe der amtlichen Statistik in Preußen antrat als auch mit dem nötigen Reformeifer, der ihn in den letzten Jahren aufgestaute und vielfältige Defizite in Angriff nehmen ließ. Den Initiator der Internationalen Statistischen Kongresse und einflussreichen Gründer der belgischen amtlichen Statistik, Adolphe Quetelet, kannte Engel persönlich, und er griff auch bereitwillig dessen Empfehlung der Installierung einer »statistischen Zentralkommission« auf. Zwar ging es hier auch darum, spezifisch preußische Probleme des statistischen Bureaus in den Griff zu bekommen – eine Orientierung an internationalen Empfehlungen um ihrer selbst willen ist also nicht festzustellen. Aber das Signal, dass die preußische Statistik nunmehr bereit sein würde, auch internationalen Standards zu folgen, war zweifellos deutlich. Neben solchen organisatorischen Veränderungen verfolgte Engel aber darüber hinaus das Ziel, die amtliche Statistik als Wissenschaft zu etablieren. Dieses Ziel, mit dem er sich auch inhaltlich an Quetelets Vorstellung von sozialen Gesetzmäßigkeiten orientierte, die durch die Statistik nur freizulegen seien, verfolgte Engel mit Hilfe von verschiedenen Instrumenten, darunter der Einrichtung eines »Statistischen Seminars« und einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Zeitschrift.20 Dieses Streben nach Verwissenschaftlichung der Statistik ist für das Verständnis von Engels Auffassung von der Rolle und Funktion der statistischen Kongresse unentbehrlich.

3.

Die Vorbereitung des Berliner Internationalen Statistischen Kongresses

Bei Gelegenheit des vierten Internationalen Statistischen Kongresses in London 1860 hatte Engel die Aufgabe übertragen bekommen, drei Jahre später die fünfte Tagung in Berlin auszurichten. Wie sehr die Kongresse auch regierungsamtliche Angelegenheiten waren, zeigt schon der formale Ablauf der Planungen: Der 18 Vgl. ebd., S. 46 – 50, sowie Hoffmann: Bild (wie Anm. 2), S. 140 – 147. 19 Vgl. Engel: Internationaler Statistischer Congress (wie Anm. 1), hier S. 110. 20 Vgl. dazu umfassend Schneider : Wissensproduktion (wie Anm. 2), S. 70 – 81, 114 – 130.

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Beschluss des Londoner Kongresses wurde dem preußischen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten formell durch den Gesandten Großbritanniens mitgeteilt; darauf ersuchte der preußische Innenminister Engel, eine Stellungnahme zu den Möglichkeiten der Realisierung dieses Vorhabens abzugeben.21 Zwar war die Ausrichtung dieses Kongresses zweifellos eine ehrenvolle Aufgabe; jedoch wurde Engel selbst im Herbst 1862 vor dem Hintergrund der umfassenden inhaltlichen und organisatorischen Neuausrichtung der preußischen Statistik offenkundig schwindelig angesichts der zusätzlichen Aufgabe, schon 1863 einen internationalen Kongress mit hunderten Teilnehmern auszurichten. Er bat daher die statistische Zentralkommission, den preußischen Innenminister von Jagow dazu zu bewegen, einer Verschiebung dieses Kongresses auf einen späteren Zeitpunkt zuzustimmen.22 Diese Gründe der befürchteten Arbeitsüberlastung waren aber nicht die einzigen: In diesen Monaten eskalierte zugleich der Konflikt zwischen dem preußischen König und dem Abgeordnetenhaus über die Frage der Heeresreform, der im September 1862 in der Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten mündete.23 Die zugespitzte innenpolitische Situation diente dem Liberalen Engel ebenfalls als Argument, den Kongress nicht 1863 in Preußen stattfinden zu lassen. Seine Begründung bleibt jedoch diffus: Nachdem die Entscheidung, den Kongress nicht zu vertagen, schon gefallen war, gestand er gegenüber dem Innenminister Eulenburg zwar zu, dass die innenpolitische Konfliktsituation keineswegs dazu zwinge, den Kongress zu verschieben. Aber : »Daß ein Konflikt zwischen Regierung und Volk existiert, ist freilich nicht wegzuleugnen.«24 Und vor dem Hintergrund dieser innenpolitischen Konfliktsituation deutete Engel vorsichtig an, dass gerade die verbreitete Auffassung des Kongresses als eine regierungsamtliche Veranstaltung »Demonstrationen«25 auf sich ziehen könnte. Indem Engel diese Möglichkeit in den Raum stellte, bot er zugleich die Lösung an: Nämlich die, den Kongress seines amtlichen Charakters zu entkleiden und »den statistischen

21 Vgl. Ernst Engel: Vortrag des Directors des statistischen Bureaus an die statistische CentralCommission die Vorbereitungen des statistischen Congresses im Allgemeinen und den Entwurf des Programms für denselben insbesondere betreffend, 4. März 1863, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 29 – 34, hier Bl. 29 f. 22 Vgl. Statistische Centralcommission an Jagow (Innenminister) vom 26. November 1862, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 9 f. 23 Vgl. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 755 – 758, 761 – 768. 24 Engel an Eulenburg (Innenminister) vom 14. Juni 1863, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 126 – 128, Zitat Bl. 126 r. 25 Es ist unklar, ob Engel hier regelrechte Aufruhrsituationen oder harmlosere Ereignisse vorschwebten.

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Congreß und also auch dessen Vorbereitungs-Commission sich selbst« zu überlassen.26 Mit anderen Worten: Engel versuchte den preußischen Verfassungskonflikt so mit der vordergründig technischen Terminfrage des Kongresses zu verknüpfen, dass er sein Interesse, die Internationalen Statistischen Kongresse zu verwissenschaftlichen und ihnen den amtlichen Charakters zu nehmen, befördern konnte. Diesem Ersuchen der Terminverschiebung stimmte das Staatsministerium jedoch nicht zu, so dass es bei dem Termin 1863 blieb.27 Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, gab Engel das inhaltliche Ansinnen jedoch nicht auf. Im Frühjahr 1863 bildete sich dann aus den Reihen der preußischen statistischen Zentralkommission zuzüglich einer Reihe von Professoren, aber auch des Berliner Polizeipräsidenten und des Berliner Oberbürgermeisters, eine Vorbereitungskommission, die die organisatorischen und inhaltlichen Fragen des anstehenden Kongresses vorzubereiten hatte.28 Dass die Institution des internationalen statistischen Kongresses sich in Berlin zum zehnten Mal jähren sollte, nahm Engel zum Anlass, grundlegende Reformen der Zusammensetzung des Kongresses selbst zu fordern,29 analog zu dem umfangreichen Reformprogramm, das er der preußischen Statistik bereits auferlegt hatte. Ein zentraler Kritikpunkt Engels an der bisherigen Kongresspraxis bezog sich darauf, dass die Agenden der Kongresse je nach Tagungsort eher von den jeweiligen nationalstaatlichen statistischen Problemen und weniger von Fragen der Internationalisierung geprägt waren.30 Ihn störte nicht zuletzt die Zufälligkeit der Schwerpunktsetzung der Kongresse, die von den Prioritäten der Organisatoren der jeweiligen Tagungsorte abhing.31 Vor diesem Hintergrund forderte Engel, die Kongresse sollten nicht nur die 26 Engel an Eulenburg (Innenminister) vom 14. Juni 1863, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 126 – 128, Zitat Bl. 127. 27 Vgl. Protokoll über die Sitzung der Statistischen Centralcommission am 4. März 1863 (Abschrift), GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 22 – 26, hier Bl. 22. 28 Vgl. Sulzer (Statistische Centralcommission) an Eulenburg (Innenminister) vom 31. März 1863, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 16 – 19. Vgl. zudem Protokoll der Sitzung der Vorbereitungskommission am 11. Juni 1863, ebd., Bl. 129 – 137, bei der es nochmals um die Frage einer möglichen Verschiebung des Kongresses als auch insbesondere um die Möglichkeit ging, weitere Mitglieder zu kooptieren. 29 »Wir würden glücklich sein, wenn eine spätere Zeit die Berliner Sitzungsperiode als die reformatorische charakterisiren [sic!] sollte«, Engel: Internationaler Statistischer Congress (wie Anm. 1), S. 111. Vgl. zum Reformvorschlag Engels bereits knapp Westergaard: Contributions (wie Anm. 6), S. 180; sowie J. W. Nixon: The history of the International Statistical Institute 1885 – 1960, The Hague 1960, S. 8. 30 Vgl. Engel: Internationaler Statistischer Congress (wie Anm. 1), S. 111. 31 Vgl. Ernst Engel: Vortrag des Directors des statistischen Bureaus an die statistische CentralCommission die Vorbereitungen des statistischen Congresses im Allgemeinen und den Entwurf des Programms für denselben insbesondere betreffend, 4. März 1863, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 94, 116, Bd. 1, Bl. 29 – 34, hier Bl. 31 f.

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jeweiligen nationalen Erhebungsformulare gegeneinander abgleichen, sondern in erster Linie auch über umfangreiche Enqueten zu den verschiedenen nationalen statistischen Problemen in gewissem Sinne selbst statistisch tätig werden. Motiviert wurde dieses Ziel durch die Diagnose, dass der bloße Abgleich von Erhebungsformularen allein nicht genüge, sondern eine international vergleichende Statistik sowohl für Verwaltungszwecke als auch für die verschiedenen Wissenschaften die unterschiedlichen nationalen Verhältnisse genau kennen müsse.32 Dies aber, so die entscheidende Folgerung Engels, erfordere wiederum eine ständige, dauerhafte Organisation, die im gegenwärtigen Zustand nicht gegeben sei – in der Tat kümmerte sich allein ein auf einem Kongress gewähltes Vorbereitungskomitee darum, den jeweils nächsten Kongress vorzubereiten, ohne über einen auf Dauer gestellten Apparat zu verfügen.33 »Somit ist der erste und wichtigste Gegenstand, womit sich der Congress in der bevorstehenden Sitzungsperiode zu beschäftigen hat, seine eigene Organisation.«34 Diesem Zweck diente ein Statutenentwurf, der nicht nur in allgemeinen Worten eine Förderung der Statistik generell als Aufgabe der Kongresse postulierte, sondern insbesondere die »Errichtung und Fortführung eines internationalen statistischen Archivs und einer internationalen statistischen Bibliothek« ebenso vorsah wie die »Etablirung [sic!] einer Centralstelle für die internationale statistische Correspondenz und Austauschung der statistischen Veröffentlichungen aller Länder«.35 Nimmt man die im Statutenentwurf ebenfalls noch ins Auge gefasste, im vierteljährlichen Rhythmus vorgesehene Erscheinungsform eines »Bulletin du CongrÀs« hinzu sowie eine ständige Deputation, die für die Abwicklung der Zusammenkünfte verantwortlich sein würde,36 dann wird deutlich, dass Engel hier eine supranationale Institutionalisierung statistischer Tätigkeiten ins Auge fasste, die allein schon angesichts der Spannungen und auch kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Nationalstaaten schwer herzustellen sein würde.37 (Allerdings trugen auch nach dem Entwurf der neuen Statuten die Beschlüsse des Kongresses »nur den Charakter von Ansichten und Wünschen«38. Ein Bestreben, den Beschlüssen bindende Wirkung für die jeweiligen nationalen statistischen Systeme zuweisen zu wollen, wäre wohl selbst von Engel als illusorisch erkannt worden.) Aber : »Wie jede andere wissen32 33 34 35 36 37

Vgl. Engel: Internationaler Statistischer Congress (wie Anm. 1), S. 116. Vgl. ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 113 f. 1859 musste etwa der für dieses Jahr geplante statistische Kongress wegen der österreichischfranzösischen kriegerischen Auseinandersetzung in Italien um ein Jahr verschoben werden; er fand dann 1860 in London statt. Vgl. ebd., S. 110. 38 Ebd., S. 115.

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schaftliche Körperschaft, verlangt und erfordert auch der statistische Congress eine feste Leitung.«39 Der entscheidende Punkt, der auch letztlich zur Ablehnung dieser Reorganisationsvorschläge durch die Kongressteilnehmer führen sollte, war die Orientierung an den Organisationsprinzipien wissenschaftlicher Gesellschaften und die Hintanstellung des amtlichen Charakters der beteiligten Statistiker : Denn gemessen an den unverkennbar hochfliegenden Erwartungen, die Engel mit seinen Vorschlägen zur grundlegenden Neuorganisation der statistischen Kongresse verbunden haben wird, war das Ergebnis des Berliner Kongresses, auf dem diese Fragen zur Debatte standen, ernüchternd. Offenkundig waren die »Meinungsverschiedenheiten« unter den Teilnehmern zu groß, als dass eine dauerhafte Institutionalisierung des Kongresses schon in Reichweite gewesen wäre. Zwar wurde das von Engel vorgeschlagene Statut nicht rundheraus abgelehnt, sondern eine Entscheidung darüber nur vertagt. Immerhin ernannte der Kongress eine internationale Kommission, die neben anderen mit Ernst Engel, William Farr (Vereinigtes Königreich), Adolf Ficker (Österreich) und Alfred Legoyt (Frankreich) die führenden europäischen amtlichen Statistiker versammelte und die dem nächsten statistischen Kongress über die aufgeworfenen Organisationsfragen berichten sollte.40 Ungeachtet dieser Zugeständnisse täuschte sich Engel »über die Tragweite dieser Abstimmungen nicht eine Secunde«: Das neue Statut war »damit bis auf Weiteres verworfen«.41 Nachdem Wortprotokolle des Kongresses nicht erhalten sind, ist es nicht ganz leicht, die Gründe für die Ablehnung dieses Vorschlags einer festen Institutionalisierung zu ermitteln. Immerhin bietet, nachdem sich der wichtigste österreichische Vertreter auf dem Berliner Kongress 1863, Adolf Ficker,42 schon in der Diskussion scharf gegen Engels Vorschläge ausgesprochen hatte, die österreichische Perspektive einen nicht von den Interessen Engels gefärbten Einblick in die Frontbildung: In seiner Stellungnahme rekapitulierte Ficker noch einmal die Entstehungsbedingungen des internationalen statistischen Kongresses zehn Jahre zuvor, als es den Gründervätern in erster Linie darum gegangen war, eine gewisse Einheitlichkeit in die Erhebungen der amtlichen statistischen Systeme der verschiedenen Länder zu bringen. In der Selbstdefinition der Kongresse war deshalb das amtliche Element vorherrschend – die internationalen Kongresse verstanden sich als gleichsam halbamtliche Zusammenkünfte. Nur dieser halbamtliche Charakter konnte nach Ansicht Fickers und offenbar der meisten 39 40 41 42

Ebd., S. 117. Für diese Leitungsfunktion schlug Engel zunächst Quetelet vor, vgl. ebd. Vgl. Engel: Beschlüsse (wie Anm. 1), S. 4. Ebd., S. 10. Vgl. zu Ficker : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950. Bd. 1, Lieferung 4, 1956, S. 309; verfügbar unter http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_F/Ficker_Adolph_ 1816_1880.xml?frames=yes [18. 11. 2013].

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weiteren Kongressteilnehmer gewährleisten, das ursprüngliche Ziel des Kongresses, eine Vereinheitlichung der amtlichen Statistiken, auch zu erreichen. Umso alarmierter nahmen die Delegierten die unverkennbare Orientierung des Engelschen Statutenentwurfs an den Gepflogenheiten der akademischen Welt zur Kenntnis – etwa des »deutschen Juristentages, des volkswirthschaftlichen Congresses und anderer Wandervereine von Gelehrten«.43 Diese Orientierung an wissenschaftlichen Vereinigungen erkannte Ficker nicht zuletzt an der Ausdehnung der Zwecke des Kongresses – gemäß dem Statutenentwurf Engels – in die Richtung, die statistische Wissenschaft ganz allgemein zu fördern.44 Dies war in seinen Augen eine Perspektive, die er als »Todesstoss für eine nach allen Richtungen erprobte Einrichtung« auffasste.45 Folgt man Ficker weiter, dann war die Ablehnung der Vorschläge Engels auch während der dem Kongress nachfolgenden Beratungen unter seinen Kollegen in Europa einhellig.46 Als dann 1867 der auf die Versammlung in Berlin folgende Internationale Statistische Kongress in Florenz noch einmal das Thema des Engelschen Reorganisationsantrags debattierte, legten »die übrigen Delegirten [sic!] eine ausgesprochene Stimmung gegen das Project an den Tag«, so dass Engel seinen Antrag zurückzog und auf einen späteren Zeitpunkt vertagte.47 Ganz erledigt war die Idee, dem Kongress eine dauerhafte Gestalt zu geben, damit jedoch nicht: 1872 griff der in St. Petersburg tagende Internationale Statistische Kongress diesen Gedanken wieder auf und etablierte eine »permanente Kommission«, die als Bindeglied zwischen den Kongressen Kontinuität gewährleisten sollte.48 Gleichwohl fand 1876 der letzte Internationale Statistische Kongress in Pest statt; weitere Treffen kamen nicht mehr zustande – nicht zuletzt wohl deshalb, weil die teuren Zusammenkünfte angesichts eines ohnehin engen Austausches zwischen den Statistikern sich überlebt hatten.49 Erst 1885 wurde

43 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Central-Commission im Jahre 1864, Wien 1865, S. 23. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. die Stellungnahme der österreichischen statistischen Central-Commission, in: Verhandlungen der K.K. Statistischen Central-Commission im Jahre 1866, Wien 1867, S. 5 f. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. Verhandlungen der K.K. statistischen Central-Commission im Jahre 1867, Wien 1868, S. 51. Es ist eine noch offene Frage, ob die Gründung des Internationalen Statistischen Instituts in Den Haag auf die Entwürfe Engels zurückgegriffen hat. Vgl. DesrosiÀres, Alain: Die Politik der großen Zahlen, Berlin u. a. 2005, S. 173. 48 Vgl. Westergaard: Contributions (wie Anm. 6), S. 182 f. 49 So die Einschätzung bei Westergaard, ebd., der auch dem Kaiserlichen Statistischen Amt einen Teil der Verantwortung für das Auslaufen der Kongresstätigkeit zuweist, nachdem das Amt keine Vertreter mehr entsenden wollte. Vgl. dazu auch Nixon: History (wie Anm. 29), S. 8 f., der letztlich Bismarck die Verantwortung für das Fernbleiben deutscher Statistiker zuweist.

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dann das Internationale Statistische Institut gegründet, das in einer gewissen Kontinuität zu den Statistischen Kongressen stand.50

4.

Fazit

Im Ergebnis erwies sich der zweifache Vorstoß Engels, sowohl die Organisation des Internationalen Statistischen Kongresses auf Dauer zu stellen als auch den Charakter der Kongresse stärker in die Richtung rein wissenschaftlicher Versammlungen zu verschieben, als fruchtlos: Der Widerstand der übrigen Statistiker Europas zeigte, dass dieser Vorstoß verfrüht war, sowohl was die Verwissenschaftlichung als Ziel anging, also auch, was die Verfestigung der Organisation betraf. Erst mit der Gründung eines Internationalen Statistischen Instituts 1885 wurde – drei Jahre nach dem Ausscheiden Engels aus dem Amt des Direktors des preußischen statistischen Bureaus – eine Organisationsform geschaffen, wie sie Engel vorgeschwebt haben mag.

50 Vgl. zur hier nicht weiter zu vertiefenden Geschichte des Internationalen Statistischen Instituts in Den Haag Nixon: History (wie Anm. 29), S. 11 – 16.

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»… den bewährten Traditionen des Zollvereins gemäß«. Die Wahl Rudolph Delbrücks zum Reichstagsabgeordneten im Wahlkreis Jena-Neustadt im Jahr 1878

1. Die Reichstagswahl vom 30. Juli 1878 schien in dem thüringischen Wahlkreis Jena-Neustadt zunächst keine besonders aufregende Angelegenheit zu werden. Seit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des deutschen Kaiserreiches 1871 war der Wahlkreis fest in der Hand der Nationalliberalen.1 Auch im Vorfeld der Reichstagswahl von 1878 präsentierte der nationalliberale Jenaer »Verein reichstreuer Wähler« rasch einen Kandidaten, der umgehend von weiteren lokalen Wahlvereinen bestätigt wurde. Seine Wahl in den Reichstag schien nur eine Formsache zu sein. Dann aber entwickelte sich eine Dynamik, die zu einem hohen Grad an Politisierung und Polarisierung führte. Der Jenaer Wahlverein hatte nämlich keinen geringeren als den früheren Präsidenten des Reichskanzleramtes, Rudolph Delbrück (1817 – 1903), als Kandidaten vorgeschlagen.2 Delbrück galt als eine Symbolfigur der frühen, liberalen Ära des deutschen Kaiserreiches. Am Ausbau einer freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung hatte er maßgeblich mitgewirkt. Im Zuge der innenpolitischen Wende des Reichskanzlers Otto von Bismarck seit der Mitte der 1870er Jahre war er jedoch zunehmend zu dessen Gegenspieler geworden und 1876 auf Druck Bismarcks von seinen leitenden Ämtern zurückgetreten.3 Die Reichstagswahl von 1878 sollte Bismarck dann eine Parlamentsmehrheit für seinen neuen po-

1 Vgl. Erhard Wörfel: Liberalismus in den thüringischen Staaten im Kaiserreich, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 1993/47, S. 117 – 148; zu den Kandidaten und gewählten Abgeordneten: Fritz Specht: Die Reichstags-Wahlen von 1867 bis 1897. Eine Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien und dem Verzeichniß der gewählten Kandidaten. Berlin 1898, hier bes. S. 334 f. 2 Vgl. zu Delbrück: Rudolf Morsey : Rudolph Delbrück, in: Lothar Gall / Ulrich Lappenküper (Hg.): Bismarcks Mitarbeiter. Paderborn 2009, S. 69 – 89. 3 Vgl. ebd., bes. S. 80 – 84; Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980, hier bes. S. 549 f.

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litischen Kurs sichern und wurde damit zu einem Markstein der innenpolitischen Entwicklung des deutschen Kaiserreiches. Die Nominierung Rudolph Delbrücks als Kandidat für die Reichstagswahl im Wahlkreis Jena-Neustadt besaß somit eine besondere reichspolitische Brisanz. Eine genauere Analyse der Wahl Delbrücks bietet daher zum einen erweiterte Einsichten in den Wandel der deutschen Innenpolitik 1878/79.4 Zum anderen erschließt sie einen wichtigen Aspekt der politischen Biographie einer bislang zu wenig beachteten Schlüsselfigur preußisch-deutscher Politik der 1850er bis 1870er Jahre.5 Nicht zuletzt leistet der regional geschärfte Blick auf die Reichstagswahl von 1878 einen Beitrag zur Thüringer Landesgeschichte sowie zur Geschichte der politischen Kultur des Kaiserreiches insgesamt. Gerade im Hinblick auf die historische Wahlforschung wird eine stärkere Verbindung von regionaler und nationaler Ebene, von quantitativer und qualitativer Analyse sowie eine Erweiterung auf kulturgeschichtliche Fragen gefordert.6 In dem folgenden Beitrag wird zuerst der gesamtnationale politische Rahmen der Reichstagswahl von 1878 knapp skizziert (2.). Im Anschluss werden die politisch-administrativen sowie die sozioökonomischen Strukturen des Wahlkreises Jena-Neustadt dargestellt (3.). Schließlich werden der Verlauf des Wahlkampfes und das Wahlergebnis analysiert (4.). Abschließend soll auf die Folgen des Wahlausgangs sowohl in regionaler als auch in gesamtnationaler Perspektive kurz eingegangen werden (5.).

2. Für die innenpolitische Entwicklung des deutschen Kaiserreiches gelten die Jahre 1878/79 als eine wichtige Zäsur. Während manche Historiker von einer grundsätzlichen »konservativen Wende«, gar von einer »zweiten Reichsgründung« sprechen, welche das Kaiserreich auf eine neue, sozialkonservative Grundlage gestellt und langfristig den Weg zum Obrigkeits- und Interventi4 Zur innenpolitischen Entwicklung und zur Wende von 1878/79 vgl. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. 2. Auflage. München 1992, S. 382 ff. 5 Vgl. zu Delbrück neben Morsey (wie Anm. 2) im Wesentlichen dessen Lebenserinnerungen, die allerdings nur die Zeit bis 1867/71 einschließen: Rudolph Delbrück: Lebenserinnerungen 1817 – 1867. 2 Bde. 1. und 2. Auflage. Leipzig 1905. 6 Vgl. James Retallack: Politische Kultur, Wahlkultur, Regionalgeschichte. Methodologische Überlegungen am Beispiel Sachsens und des Reiches, in: Simone Lässig / Karl Heinrich Pohl / James Retallack (Hg): Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht und Politische Kultur. Bielefeld 1995, S. 15 – 38; Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie: Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Aus dem Englischen von Sibylle Hirschfeld. Stuttgart 2009.

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»…den bewährten Traditionen des Zollvereins gemäß«

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onsstaat geebnet habe, betonen andere die Grenzen und inneren Widersprüche des 1878/79 geschaffenen neuen Machtbündnisses.7 Unbestritten bleibt, dass sich Bismarck seit etwa Mitte der 1870er Jahre von der Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen abwandte. Den Hintergrund bildete zum einen die seit dem »Gründerkrach« von 1873 ausgebrochene Wirtschaftskrise.8 Diese bestand zunächst in einer Banken- und Handelskrise, dann aber zunehmend auch in einer Absatzkrise der Industrie und der Landwirtschaft. Die Schuld für diese Krise wurde von vielen Zeitgenossen der seit 1867 errichteten liberalen Wirtschaftsund Rechtsordnung zugeschrieben. Die Kritik richtete sich insbesondere gegen die Gewerbefreiheit, das Bank- und Aktienrecht sowie den Freihandel mit dem Abbau von Zöllen gegenüber dem Ausland. Die Liberalen verweigerten sich jedoch dem allmählichen Einschwenken Bismarcks auf eine Schutzzoll- und Interventionspolitik. Nicht zuletzt Rudolph Delbrück, der als langjähriger Leiter der preußischen Politik im 1834 begründeten Deutschen Zollverein einen freihändlerischen Kurs vertreten hatte, setzte weiterhin auf eine gemäßigte Tarifpolitik.9 Dies wog umso schwerer, als Bismarck seine Zoll- und Steuerreformpläne mit seinem Bestreben nach einer Reichsfinanzreform, also einer größeren Unabhängigkeit des Reiches von den Matrikularbeiträgen der Länder, verknüpfte.10 Hinzu kam die sich zuspitzende Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie. Für Bismarck galten die Sozialdemokraten als »Reichsfeinde«, welche die innere Ordnung umstürzen wollten. Ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. vom 11. Mai 1878 lieferte Bismarck den Vorwand, den Entwurf eines Gesetzes gegen die Sozialdemokratie vorzulegen. Zwar standen auch die Liberalen den politischen und sozioökonomischen Vorstellungen der Sozialdemokratie ablehnend gegenüber. Sie lehnten aber ebenso die tiefen Eingriffe in den bestehenden Rechtsstaat ab, welche der Gesetzentwurf vorsah.11 Auf der anderen Seite jedoch hatten große Teile des Liberalismus und seiner Anhänger seit der Reichsgründung ihren früheren, oppositionell-emanzipatorischen, gegen die überkom7 Vgl. zur ersten Sichtweise v. a. Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848 – 1881. Köln / Berlin 1966; dagegen: Nipperdey : Deutsche Geschichte (wie Anm. 4); zusammenfassend: Hans-Peter Ullmann: Politik im deutschen Kaiserreich 1871 – 1918. 2., durchgesehene Auflage. München 2005, S. 84 – 86. 8 Vgl. Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. München 2011, S. 62 ff. 9 Vgl. zum Zollverein und dessen Beamten: Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984; Marko Kreutzmann: Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834 – 1871). Göttingen 2012. 10 Vgl. dazu eingehend: Nipperdey : Deutsche Geschichte (wie Anm. 4), bes. S. 385 f. 11 Vgl. ebd., S. 396.

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menen Gewalten gerichteten Nationalismus zunehmend in eine gegen konkurrierende politische Strömungen wie Katholizismus und Sozialdemokratie gewendete, integrale Ideologie verwandelt. Die Grenzen zum Konservativismus, ja sogar zum Antisemitismus, wurden dabei weit geöffnet.12 Vor diesem Hintergrund stand der Liberalismus im Frühjahr 1878 vor einer inneren Zerreißprobe. Ein zweites Attentat auf Kaiser Wilhelm I. vom 2. Juni 1878 bot Bismarck die Gelegenheit, durch die Auflösung des Reichstags und die Ansetzung von Neuwahlen eine parlamentarische Mehrheit für die Neuausrichtung seiner Politik herbeizuführen.13 Wenn die Liberalen ihren freiheitlichen Idealen weiterhin konsequent treu blieben, würden sie dafür durch Bismarck als unzuverlässige Partner der Regierung bei der Bewältigung der politischen und wirtschaftlichen Krise gebrandmarkt werden. Wenn sie sich aber auf die bismarcksche Linie wirtschaftspolitischer Intervention und polizeistaatlicher Repression einließen, drohten sie dafür an Glaubwürdigkeit und innerer Geschlossenheit noch weiter zu verlieren. Die Liberalen wagten also den Spagat, sich gegenüber ihren Wählern einerseits als reichs- und regierungstreu zu präsentieren, sich aber andererseits keineswegs eindeutig zu den neuen Grundlinien der bismarckschen Politik zu bekennen. Man setzte noch einmal auf die Stärke der eigenen Partei und ihrer Wählerschaft sowie auf die Zugkraft von herausragenden Persönlichkeiten wie Rudolph Delbrück.14

3. Dass Delbrück dabei auch im Wahlkreis Jena-Neustadt nominiert wurde, war alles andere als ein Zufall.15 Vielmehr wirkten hier langfristige regionale wie lokale Traditionen und aktuell bestehende politische Konstellationen und persönliche Netzwerke eng zusammen. Der Wahlkreis Jena-Neustadt gehörte zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Er war damit eingebettet in das engmaschige politisch-territoriale Geflecht der thüringischen Kleinstaaten, welche insgesamt auf eine ausgeprägte liberale Tradition bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückblicken konnten.16 Eine wichtige Rolle spielten dabei die 12 Vgl. Heinrich August Winkler : Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: Geschichte und Gesellschaft 1978/4, S. 5 – 28. 13 Zur Situation des Liberalismus vgl. grundlegend: James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus: Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770 – 1914. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber. München 1983, hier bes. S. 214 ff. 14 Vgl. ebd.; Nipperdey : Deutsche Geschichte (wie Anm. 4), S. 396 ff. 15 Daneben wurde Delbrück noch im Wahlkreis der Stadt Stettin in der preußischen Provinz Pommern aufgestellt. Vgl. Specht: Reichstags-Wahlen (wie Anm. 1), S. 143. 16 Vgl. als Überblick zur politischen Entwicklung der Thüringer Kleinstaaten im 19. Jahrhundert: Hans-Werner Hahn: Fortschrittshindernis oder Motor des Wandels? Die thürin-

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Stadt und die Universität Jena als Zentren der liberal-nationalen Bewegung. Mit der Gründung der Burschenschaft 1815 und dem Wartburgfest von 1817 hatte man hier wichtige Impulse gesetzt.17 Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die liberale Haltung des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, der im Jahr 1816 die erste, nach modernen repräsentativen Grundsätzen ausgerichtete Verfassung erließ, die in einem Staat des Deutschen Bundes wirksam wurde.18 Nach der in ihren Hauptzielen gescheiterten Revolution von 1848/49 wurde Thüringen zu einem wichtigen Rückzugs- und Formierungsraum der liberalen und demokratischen Kräfte.19 Dies setzte sich bis in die Zeit des Kaiserreiches hinein fort. Liberale Kandidaten erzielten bei den Reichstagswahlen in Thüringen oft weit über dem Durchschnitt liegende Ergebnisse.20 Der dritte Wahlkreis des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, nämlich der Wahlkreis Jena-Neustadt, zeichnete sich sowohl territorial-administrativ als auch sozioökonomisch durch eine grundsätzliche Zweiteilung aus.21 Zum einen gehörte dazu der so genannte Neustädter Kreis, ein Territorium, das 1815 im Zuge des Wiener Kongresses vom Königreich Sachsen an das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach übergegangen war und um 1878 rund 50.000 Einwohner besaß.22 Der Neustädter Kreis um sein administratives Zentrum Neustadt an der Orla war in sozioökonomischer Hinsicht vor allem durch zwei gegensätzliche Besonderheiten geprägt. Zum einen durch die noch immer

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gische Kleinstaatenwelt im 19. Jahrhundert, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen. Hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission Thüringen. 2. Auflage. Erfurt 2000, S. 69 – 92; vgl. auch Jürgen John: Die Thüringer Kleinstaaten – Entwicklungs- oder Beharrungsfaktoren? In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 1996/ 132, S. 91 – 149. Vgl. Klaus Ries: Wort und Tat: das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 2007. Vgl. Gerhard Müller: Ernst Christian August von Gersdorff und die Entstehung des »Grundgesetzes einer landständischen Verfassung für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach«, in: 175 Jahre Parlamentarismus in Thüringen (1817 – 1992). Hg. vom Thüringer Landtag. Erfurt 1992, S. 42 – 57. Vgl. Andreas Biefang: Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisationen und Eliten 1857 – 1868. Düsseldorf 1994. Vgl. Gerhard A. Ritter (unter Mitarbeit von Merith Niehuss): Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871 – 1918. München 1980, S. 38; 94. Die Nationalliberalen erzielten in Thüringen 1871 67 %, 1874 63,7 % und 1877 57,9 % der Stimmen, auf Reichsebene in denselben Jahren 30 % (1871), 29,7 % (1874) und 27,2 % (1877). Vgl. grundlegend: Thomas Klein (Bearb.): Thüringen (Grundriss zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815 – 1945. Reihe B: Mitteldeutschland; Bd. 15). Marburg/Lahn 1983; Ulrich Hess: Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlass hg. v. Volker Wahl. Weimar 1991; speziell zu Sachsen-Weimar-Eisenach: Constantin Kronfeld: Landeskunde des Großherzogthums Sachsen-Weimar-Eisenach. 2 Bde.. Weimar 1878/1879. ND Hildesheim u. a. 2004. Vgl. Kronfeld: Landeskunde. Bd. 2 (wie Anm. 21), S. 440.

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große Bedeutung der Rittergüter und ihrer meist adeligen Besitzer.23 Zum anderen aber durch die fortgeschrittene industrielle Entwicklung, vor allem in den Städten Neustadt und Weida. Den wichtigsten Zweig bildeten die Textilindustrie, besonders die Weberei und die Spinnerei. Auf der Basis tief verwurzelter handwerklicher Traditionen vollzog sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein industrieller Aufschwung, der sich u. a. in einem erhöhten Grad gewerblich-industrieller Beschäftigung und Technisierung niederschlug.24 Daneben gehörte auch der territorial vom Neustädter Kreis getrennte, östliche Teil des Weimarischen Kreises des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach um die Universitätsstadt Jena zum Wahlkreis Jena-Neustadt dazu.25 Dieser war vom industriellen Aufschwung bis dahin weit weniger erfasst worden, obwohl die Entwicklung der Textilindustrie in Ostthüringen auch hierher ausstrahlte. Es dominierten aber noch weit mehr die Landwirtschaft sowie das traditionelle Gewerbe. Eine überragende Rolle spielten die Universität Jena und damit der Staat als Arbeitgeber.26 Allerdings befand sich dieser westliche Block des Jena-Neustädter Wahlkreises im unmittelbaren Einzugsgebiet der größten und bedeutendsten Industriestadt des Großherzogtums: Das ebenfalls von der Textilindustrie dominierte Apolda. Hier hatte die auf eine lange Tradition zurückgehende Strumpfwirkerei einen beeindruckenden Aufschwung genommen. Der Absatz der Produkte war in besonderem Maße auf den überregionalen, ja auf den weltweiten Export ausgerichtet.27 Die Aufstellung der Reichstagskandidaten des Wahlkreises Jena-Neustadt wurde ganz vom liberalen akademischen Bürgertum der Universitätsstadt Jena beherrscht. Noch 1874 war mit dem Historiker Adolf Wilhelm Schmidt28 ein 23 Vgl. die Daten in: Bruno Hildebrand (Hg.): Statistik Thüringens. Mittheilungen des Statistischen Büreaus Vereinigter Thüringischer Staaten. Bd. II: Agrarstatistik (1. Hälfte). Jena 1871, S. 130; 136; zum Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach vgl. Marko Kreutzmann: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830. Köln u. a. 2008. 24 Vgl. Kronfeld: Landeskunde. Bd. 2; Hess: Geschichte Thüringens (beide wie Anm. 21); speziell zu Neustadt: Robert Mailbeck: Die verspätete Industrie: Wirtschaft und kommunale Entwicklung in Neustadt an der Orla im 19. Jahrhundert. Weimar / Jena 2006. 25 Vgl. zur genauen administrativen Abgrenzung die Analyse der Wahlergebnisse unten. 26 Vgl. Kronfeld: Landeskunde. Bd. 2 (wie Anm. 21), bes. S. 250 ff.; zur Universität Jena: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850 – 1995. Hg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2009. 27 Vgl. Kronfeld: Landeskunde. Bd. 2 (wie Anm. 21), bes. S. 189 ff.; dazu: Tobias Kaiser : Vom Strumpfwirkermeister zum Unternehmer. Der Aufstieg des Christian Zimmermann und seine Bedeutung für die Stadt Apolda, in: Hans-Werner Hahn / Werner Greiling / Klaus Ries (Hg.): Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert. Rudolstadt / Jena 2001, S. 253 – 280. 28 Vgl. Hans-Werner Hahn: Geschichtswissenschaft im Dienst von Einheit und Freiheit: Der Jenaer Historiker Adolf Wilhelm Schmidt (1812 – 1887), in: Historie und Leben. Der His-

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nationalliberaler Jenaer Universitätsprofessor als Abgeordneter in den Reichstag gewählt worden. Im Jahr 1877 hatte man mit dem Kreisgerichtsassessor Karl Slevogt (1845 – 1922) einen ausgewiesenen Nationalökonomen durchgesetzt.29 Zur Nominierung wie zur Unterstützung der Kandidaten hatte sich in Jena, wie in anderen Orten des Wahlkreises, ein nationalliberaler Wahlverein unter der Bezeichnung »Verein reichstreuer Wähler« gebildet. Zum dreiköpfigen Vorstand des Jenaer Vereins gehörten die Professoren Georg Meyer (1841 – 1900) und Berthold Delbrück (1842 – 1922).30 Beide zählten seit der Mitte der 1870er Jahre bis zur Jahrhundertwende zu den »prägenden Gestalten des Nationalliberalismus in Thüringen«.31 Meyer war von 1881 bis 1890 selbst nationalliberaler Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Jena-Neustadt. Der seit 1870 in Jena lehrende Indogermanist Berthold Delbrück war ein Großcousin des früheren Reichskanzleramtspräsidenten Rudolph Delbrück. Er entstammte also derselben, im 19. und frühen 20. Jahrhundert besonders einflussreichen Familie preußischer Beamter, Gelehrter und Wirtschaftsvertreter.32 Der Vater Rudolph Delbrücks, Friedrich Delbrück (1768 – 1830), war einst Erzieher der späteren preußischen Könige Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. gewesen. Der Bruder Friedrich Delbrücks, Gottlieb Delbrück (1777 – 1842), Großvater des Jenaer Indogermanisten Berthold Delbrück, wirkte als Kurator der Universität in Halle. Auf der politischen Ebene trat zudem Clemens Delbrück (1856 – 1921),33 ein Cousin Berthold Delbrücks, hervor, der es bis 1909 zum Staatssekretär des Inneren, bis 1914 zum Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums brachte. Eine führende Rolle im Banken- und Handelswesen spielte dagegen Adelbert Delbrück (1822 – 1890), ein Cousin Rudolph und Onkel Berthold Delbrücks. Er war 1861 Mitbegründer des Deutschen Industrie- und Handelstages, dessen Vorsitz er von 1870 bis 1885 innehatte. Im Jahr 1870 war Adelbert Delbrück Mitbegründer und erster Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, die sich vornehmlich der Finanzierung des deutschen Außenhandels widmete.34 Bei der Reichstagswahl vom 30. Juli 1878 im Wahlkreis Jena-Neustadt spielte

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toriker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag. Hg. von Dieter Hein / Klaus Hildebrand / Andreas Schulz. München 2006, S. 411 – 428. Vgl. zu Slevogt: Bernd Haunfelder: Die liberalen Abgeordneten des deutschen Reichstags 1871 – 1918. Ein biographisches Handbuch. Münster 2004, S. 384. So die Angabe in einer Anzeige des Vereins in der Jenaischen Zeitung, Nr. 175, 26. 7. 1878. Vgl. Traditionen – Brüche – Wandlungen (wie Anm. 26), S. 231 – 232, Zitat S. 231. Vgl. die Artikel zur Familie Delbrück, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 3. Berlin 1957, S. 574 – 580. Vgl. Matthias Steinbach / Uwe Dathe: Clemens von Delbrück. Ein deutscher Tory zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2010/58, S. 139 – 145. Vgl. Lothar Gall u. a.: Die Deutsche Bank 1870 – 1995. München 1995.

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Berthold Delbrück eine wichtige Rolle. Nach dem zweiten Attentat auf Kaiser Wilhelm hatte eine Volksversammlung in Jena am 4. Juni unter Leitung Berthold Delbrücks beschlossen, ein Telegramm an den Kaiser zur Bekundung der Anteilnahme zu senden.35 Allerdings hielt man in der liberalen Jenaer Tagespresse an der Skepsis gegenüber repressiven Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie fest. Nach Auffassung entsprechender Artikel in der Jenaischen Zeitung würden damit nur noch mehr Arbeiter in die Arme der Sozialdemokratie getrieben. Vor allem aber gefährde man den liberalen, rechtsstaatlichen Grundcharakter der politischen Ordnung. Bei der Lösung des Problems müsse man bei den Ursachen ansetzen, nämlich bei der Verbesserung der schwierigen sozialen Lage der Arbeiter sowie bei einem Ausgleich des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit.36 Diese Äußerungen sind ein Beleg für das anhaltende liberale Klima in der Stadt. Bei der anstehenden Reichstagswahl wollte man sich dem drohenden konservativen Politikwechsel entgegen stellen.37

4. Am 22. Juni 1878 wurde auf einer Versammlung des Jenaer »Vereins reichstreuer Wähler« die Kandidatur Rudolph Delbrücks für ein Reichstagsmandat im Wahlkreis Jena-Neustadt »mit großer Majorität« proklamiert.38 Offensichtlich war zuvor eine Abstimmung mit den Vorständen der liberalen Wahlvereine in den anderen größeren Orten des Wahlkreises erfolgt. Bereits am 23. Juni 1878 fand auch in Neustadt an der Orla eine Versammlung des dortigen »Vereins reichstreuer Wähler« statt, zu der neben den Mitgliedern ausdrücklich auch Nichtmitglieder eingeladen wurden.39 Im Anschluss an eine »längere, lebhafte und höchst interessante Debatte« wurde die Kandidatur Delbrücks mit großer Mehrheit beschlossen.40 Es war jedoch deutlich geworden, wie umstritten diese Kandidatur unter den versammelten Wählern war. Noch deutlicher war das Abbröckeln des nationalliberalen Wählerpotentials bereits auf einer Versamm35 Vgl. Jenaische Zeitung, Nr. 132, 5. 6. 1878. 36 Vgl. etwa die entsprechenden Artikel in der Jenaischen Zeitung, Nr. 117, 18. 5. 1878; Nr. 121, 23. 5. 1878; Nr. 122, 24. 5. 1878 und Nr. 126, 28. 5. 1878. 37 Zur politischen Kultur in Jena im Kaiserreich vgl. Hans-Werner Hahn: Zwischen Freiheitshoffnung und Führererwartung: Ambivalenzen bürgerlicher Erinnerungskultur in Jena 1870 bis 1930, in: Jürgen John / Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln u. a. 2007, S. 73 – 92. 38 Weimarische Zeitung, Nr. 146, 24. 6. 1878. 39 Vgl. Anzeige mit der Ankündigung der Versammlung, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 73, 22. 6. 1878. 40 Vgl. den Bericht über die Versammlung, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 74, 25. 6. 1878; Jenaische Zeitung, Nr. 150, 27. 6. 1878.

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lung des »reichstreuen Vereins« in Oppurg am 16. Juni 1878 geworden. Das im Neustädter Kreis gelegene Dorf Oppurg gehörte zur Herrschaft des Fürsten von Hohenlohe-Oehringen, der hier 1878 noch immer das Patronatsrecht über die Pfarrstelle besaß.41 Während der Versammlung wurden unter Leitung des Pastors Schubert die Abwendung von der christlichen Religion sowie die liberale Gesetzgebung der letzten Jahre als Ursache für die wirtschaftliche Krise und den Aufstieg der Sozialdemokratie identifiziert. Schließlich wurde in einer Resolution festgelegt, »künftig bei Landtags- und Reichstagswahlen keinem Mitgliede der liberalen Partei unsere Stimme zu geben.«42 Dagegen stellte sich die meist liberal orientierte regionale Presse von Anfang an auf die Seite Delbrücks. Die Weimarische Zeitung feierte die Wahl Delbrücks bereits am 22. Juni, also noch bevor am selben Tag dessen Kandidatur durch den Jenaer Wahlverein überhaupt erstmals öffentlich proklamiert worden war, als eine Auszeichnung, welche dem Wahlkreis zuteil werde: »Der dritte Wahlkreis wird stolz darauf sein, eine Wahl vollziehen zu können, die für das ganze Vaterland von außerordentlicher Bedeutung ist, und für die alle Parteien soweit sie überhaupt auf reichstreuem Boden stehen, eintreten können und hoffentlich auch eintreten werden.«43 Ein Bericht des Neustädter Kreisboten vom 25. Juni, derselben Ausgabe, in der über die Proklamation Delbrücks als Kandidat für die Reichstagswahl durch den Neustädter »reichstreuen Verein« berichtet wurde, hob hervor, dass es bei der anstehenden Reichstagswahl letztlich um die »Entwicklung unserer bürgerlichen Freiheit« gehe. Daher gelte es, »erprobte Männer von guter deutscher, aber auch freiheitlicher Gesinnung zu wählen, Männer, die fest zu Kaiser und Reich stehen, aber auch nicht an die Stelle gesetzlich fortschreitender Entwickelung den Rückschritt setzen wollen.«44 Rudolph Delbrück selbst trat an die Wähler des Jena-Neustädter Wahlkreises Ende Juni 1878 mit einem Schreiben heran, das in der regionalen Presse veröffentlicht wurde. Darin versuchte er den Eindruck zu vermeiden, dass er sich in Opposition zur bestehenden Regierung Bismarck befinde. Im Gegenteil hob er hervor, dass er der Regierung bei der »Bekämpfung der sozialdemokratischen Angriffe« zur Seite stehen werde. Darüber hinaus wolle er auch für die Regierungspläne einer Reichsfinanzreform eintreten. Delbrück wie ein großer Teil der Nationalliberalen wollten damit ihre bürgerlichen Wähler gegenüber der durch 41 42 43 44

Vgl. Kronfeld: Landeskunde. Bd. 2 (wie Anm. 21), S. 480. Neustädter Kreisbote, Nr. 72, 20. 6. 1878. Weimarische Zeitung, Nr. 144, 22. 6. 1878. Neustädter Kreisbote, Nr. 74, 25. 6. 1878; vgl. zum Neustädter Kreisboten: Werner Greiling: Der Neustädter Kreis-Bote und seine Vorläufer: Nachrichtenvermittlung, Patriotismus und Gemeinnützigkeit in einer sächsisch-thüringischen Kleinstadt, 1800 bis 1943. Rudolstadt u. a. 2001; grundlegend ders.: Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2003.

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Bismarck geschürten Angst vor einer sozialistischen Revolution bzw. vor einem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang infolge der ökonomischen Krise beruhigen. Demzufolge hob man in zoll- und handelspolitischer Beziehung auch nicht mehr das unbedingte Festhalten am Freihandel hervor. Vielmehr erklärte Delbrück in seinem Schreiben an die Wähler, dass er seine Haltung in den Fragen der Zoll- und Handelspolitik, »den bewährten Traditionen des Zollvereins gemäß, nicht auf dem Grunde theoretischer Auffassungen nehmen«, sondern aus den »durch langjährige Uebung gewonnenen Erfahrungen und aus der Würdigung der geschichtlich entwickelten realen Verhältnisse herleiten werde.«45 Geschickt wurde Delbrück damit als erfahrener Staatsmann auf dem Feld der Zoll-, Handels- und Wirtschaftspolitik gegenüber den Argumentationen der Schutzzöllner in Szene gesetzt, welche gern darauf verwiesen, dass das System des Freihandels vor allem eine theoretische Doktrin sei und mit den »praktischen« Verhältnissen und Bedürfnissen der wirtschaftlichen Entwicklung nichts zu tun habe.46 Allerdings legte diese Formulierung Delbrück nicht auf einen bestimmten zoll- und handelspolitischen Kurs fest, sondern ließ einen weiten Auslegungsspielraum offen. Genau an diesem Punkt setzte dann auch die Kritik aus den Kreisen von Gewerbetreibenden und Unternehmern in Neustadt ein. Der Neustädter Gewerbeverein verfasste am 6. Juli 1878 ein Schreiben an Delbrück, in welchem er diesen um Klarstellung seines künftigen zoll- und handelspolitischen Standpunktes bat. Rudolph Delbrück antwortete darauf nur knapp mit Verweis auf seine Aussagen in dem bereits an die Wähler des JenaNeustädter Wahlkreises ergangenen Schreiben.47 Noch vor Eingang der Delbrückschen Antwort schlossen sich dessen Gegner zusammen und proklamierten einen Gegenkandidaten, den Neustädter Kaufmann, Tuchfabrikanten und Gutsbesitzer Rudolph Schwabe (1840 – 1912).48 Schwabe verbreitete bereits am 15. Juli 1878 ein Flugblatt, in dem er Delbrück in scharfen, polemischen Ton angriff. Er wandte sich gegen die »lockenden Phrasen der abgewirthschafteten nationalliberalen Doctrinäre, die besorgt um ihre Sitzchen unter allen möglichen Verkleidungen wieder auf den Stimmenfang ausgehen.« Schwabe warf Delbrück vor, dass er durch seine Freihandelspolitik 45 Jenaische Zeitung, Nr. 152, 29. 6. 1878; Weimarische Zeitung, Nr. 151, 30. 6. 1878. 46 Vgl. zur Debatte insgesamt: Andreas Etges: Wirtschaftsnationalismus. USA und Deutschland im Vergleich, 1815 – 1914. Frankfurt am Main 1999, bes. S. 252 ff. 47 Vgl. die rückblickende Darstellung dieses Vorgangs, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 86, 23. 7. 1878; das Schreiben des Neustädter Gewerbevereins sowie die Antwort Delbrücks vom 17.7., in: ebd., Nr. 87, 25. 7. 1878. 48 Schwabe entstammte einer eingesessenen Neustädter Tuchfabrikantenfamilie. Für nähere biographische Informationen zu Schwabe danke ich Herrn Daniel Pfletscher, Stadtarchiv Neustadt an der Orla.

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»der Eisenindustrie den Sargnagel einschlagen half, Westphalens Hochöfen ausblies, die Arbeiter der Beschäftigung beraubte und dadurch der Socialdemocratie den Acker bestellte.« Die »Vertreter der leidenden Industrien«, die ihre Klagen vorbrachten, seien »mit ministeriellem Aplomb« abgewiesen worden. Delbrück stelle sich als Konservativen dar, obwohl er ein Freihändler und ein Liberaler sei, der den Reichskanzler Bismarck stürzen und womöglich selbst in ein neues Ministerium Delbrück-Bennigsen eintreten wolle.49 Diese Herausforderung blieb von der Gegenseite nicht lange unbeantwortet. Die Vorstände der »reichstreuen Vereine« in Jena, Neustadt und anderen Städten des Wahlkreises, welche weiterhin hinter Delbrück standen, reagierten mit eigenen Presseartikeln50 sowie der nochmaligen Einberufung von Wählerversammlungen. Hier wollten sie Schwabe und dessen Anhänger stellen.51 Auf der dafür in Aussicht genommenen Wählerversammlung in der im Neustädter Kreis gelegenen Stadt Triptis am 20. Juli erschien Schwabe jedoch nicht. Daher hatte es der Professor Berthold Delbrück leicht, bei den anwesenden Wählern ein klares Votum für die Aufrechterhaltung der Kandidatur Rudolph Delbrücks zu erreichen.52 Zudem suchte man den Eindruck zu vermeiden, dass es sich bei Schwabe um einen Kandidaten der Konservativen handele. Vielmehr betonte etwa die Jenaische Zeitung, dass Schwabe nicht von den Konservativen, sondern »lediglich von einigen Industriellen Neustadts« aufgestellt worden sei. Dagegen genieße Delbrück die »Unterstützung seitens der angesehensten und einflussreichsten Konservativen des Neustädter Kreises.«53 Der Behauptung, dass Schwabe nur die Interessen weniger Industrieller vertrete, traten seine Unterstützer mit der Veröffentlichung einer Liste mit den Namen von 158 Personen aus dem Neustädter Gewerbestand, welche die Wahl Schwabes befürworteten, entgegen.54 Außerdem veröffentlichte der Neustädter Gewerbeverein gemeinsam mit weiteren Gewerbekorporationen am 27. Juli einen Wahlaufruf zugunsten Schwabes.55 Nicht nur in Neustadt, sondern auch in anderen Orten des Wahlkreises bildeten sich »volkswirtschaftliche Wahlkomi49 Vgl. das Flugblatt, in: Extra-Beilage zu Nr. 84 des Neustädter Kreisboten, 18. 7. 1878. 50 Vgl. etwa in Reaktion auf das Flugblatt Schwabes die Artikel in der Jenaischen Zeitung, Nr. 172, 23. 7. 1878. 51 Vgl. die Ankündigung von Wählerversammlungen sowie die Aufforderung Delbrücks und Meyers an Schwabe, bei der Wählerversammlung am 20.7. in Triptis zu erscheinen, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 85, 20. 7. 1878. 52 Vgl. die Berichte in: Jenaische Zeitung, Nr. 174, 25. 7. 1878; Neustädter Kreisbote, Nr. 86, 23. 7. 1878. 53 Vgl. Jenaische Zeitung, Nr. 173, 24. 7. 1878. In einem Artikel der Jenaischen Zeitung vom 25. 7. 1878 hieß es dagegen erneut, Schwabe erfreue sich »der Unterstützung der Großindustriellen, Großgrundbesitzer, der Schutzzöllner und Männer der politischen Reaktion.« 54 Vgl. die namentliche Liste der Unterstützer, in: Neustädter Kreisbote, Nr. 88, 27. 7. 1878 (Beilage). 55 Vgl. Neustädter Kreisbote, Nr. 88, 27. 7. 1878.

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tees« zur Unterstützung der Kandidatur Schwabes.56 Der durch das Wahlkomitee in Neustadt bereits am 19. Juli für Schwabe erlassene Wahlaufruf stellte dessen Wahlprogramm prägnant zusammen: Es konzentrierte sich ganz auf die Frage des Schutzzolles und betonte im Übrigen das Vertrauen zur Regierung Bismarck und deren Politik.57 Es ist dabei nach bisherigem Erkenntnisstand noch nicht zu sagen, inwieweit die Kandidatur Schwabes die Unterstützung des, durch den Centralverband Deutscher Industrieller ins Leben gerufenen, wirtschaftlichen Zentralwahlkomitees in Berlin fand. Dieses förderte schutzzöllnerisch gesinnte und bekämpfte freihändlerisch ausgerichtete Kandidaten.58 Am 24. Juli 1878 trat Rudolph Schwabe erstmals in einer großen Versammlung persönlich vor den Wählern auf. Vor etwa 500 Anwesenden im Schießhaussaal in Neustadt entwickelte er sein Wahlprogramm, das im Kern aus der Forderung nach Schutzzöllen bestand. Zugleich kritisierte er seinen Gegenkandidaten Delbrück, der durch seine Wirtschaftspolitik »die jetzigen unglücklichen Zustände in Ackerbau, Handel und Gewerbe zum großen Theil hervorrief.« Schwabe bekannte auch seine Nähe zur Freikonservativen Partei, betonte jedoch, im Falle seiner Wahl im Reichstag keiner Fraktion beitreten zu wollen.59 Am Tag darauf präsentierte sich Schwabe auch bei einer Wählerversammlung in Triptis und konnte hier offenbar erfolgreich für sein Programm werben.60 Schließlich kam es zum direkten Schlagabtausch zwischen beiden Lagern, als Rudolph Schwabe am 26. Juli 1878 bei einer durch das örtliche volkswirtschaftliche Wahlkomitee organisierten Wählerversammlung in Jena für sein Programm und seine Wahl in den Reichstag warb. Zu Beginn der Versammlung im Gasthof »Zum Engel« erläuterte Schwabe sein Programm und stellte dabei die wirtschafts- und handelspolitischen Differenzen als einen sozialen Konflikt zwischen Gelehrten und Beamten auf der einen, Arbeitern, Gewerbetreibenden und Landwirten auf der anderen Seite dar. Dabei nahm er für sich in Anspruch, die Interessen der letzteren Gruppen zu vertreten.61 Danach übernahmen die Professoren Delbrück und Meyer die Kontrolle über den Verlauf der Versammlung und drängten Schwabe in die Defensive. Zunächst einmal wurden die persönlichen Angriffe Schwabes gegen den Kandidaten Delbrück sowie dessen Vorwürfe gegen die liberale Wirt56 So auch in Jena. Der Gewerbeverein in Weida unterstützte ebenfalls die Kandidatur Schwabes. Vgl. ebd.. 57 Vgl. den Wahlaufruf für Schwabe, in: Jenaische Zeitung, Nr. 173, 24. 7. 1878. 58 Vgl. Nipperdey : Deutsche Geschichte (wie Anm. 4), S. 397. 59 Weimarische Zeitung, Nr. 173, 27. 7. 1878; vgl. Volker Stalmann: Die Partei Bismarcks: die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866 – 1890. Düsseldorf 2000. 60 Vgl. Neustädter Kreisbote, Nr. 88, 27. 7. 1878. 61 Vgl. die beiden Berichte zu der Wahlversammlung, in: Jenaische Zeitung, Nr. 177, 28. 7. 1878; vgl. auch den Bericht in: Weimarische Zeitung, Nr. 174, 28. 7. 1878.

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schaftspolitik zurückgewiesen. Schwabe wurde auch damit in Verlegenheit gebracht, dass er zu Themen außerhalb des wirtschaftspolitischen Bereichs, wie etwa des Militärbudgets, befragt wurde und hierauf keine sachkundige Antwort geben konnte. Schließlich wurde die Versammlung, die immer mehr in Tumult und persönliche Angriffe überzugehen drohte, beendet. Für den Berichterstatter der Weimarischen Zeitung ergab sich nach der Versammlung die Überzeugung, »daß sich in Jena für Herrn Schwabe nur wenige Anhänger finden werden.«62 Nach der Wahlversammlung in Jena schien es somit, dass Delbrück in der Zustimmung der Wähler einen klaren Vorsprung vor Schwabe behaupten konnte. Eine Versammlung des »Vereins liberaler reichstreuer Wähler« in der Stadt Blankenhain am 28. Juli hatte nach dem Bericht der Weimarischen Zeitung die Kandidatur Delbrücks »allgemein unterstützt«, während sich für Schwabe keine einzige Stimme erhoben habe.63 Am Wahltag brachte die Jenaische Zeitung ausschließlich Wahlaufrufe zugunsten Delbrücks. Auf der Titelseite war ein Aufruf des Jenaer »reichstreuen Vereins« platziert worden, der die Wähler dazu aufforderte, den »Mitbegründer des Deutschen Reichs« zu wählen. Im Anzeigenteil befand sich der großformatige Aufruf: »Alle Patrioten heute zur Wahl Delbrück’s!« Hinzu kamen weitere Wahlaufrufe und Leserbriefe. Im Leserbrief »eines angesehenen Neustädter Bürgers« wurden Schwabe das »Einschleusen bezahlter Parteigänger in die Wahlversammlungen« sowie »Lügen und Beschimpfungen« gegen Delbrück und dessen Anhänger vorgeworfen.64 Auch im Neustädter Kreisboten fanden sich Artikel, die zur Wahl Delbrücks aufriefen, aber auch Beiträge, welche Schwabe unterstützten.65 Wenige Tage nach der Wahl zeichnete sich allmählich das Ergebnis ab. Aus dem von den Unterstützern Delbrücks erhofften, klaren Sieg ihres Kandidaten wurde nichts. Vielmehr kam zwischenzeitlich die Befürchtung auf, dass eine Stichwahl zwischen Delbrück und Schwabe nötig werden könnte. Am Ende siegte Delbrück nach dem offiziellen Wahlergebnis denkbar knapp mit 7.245 Stimmen vor Schwabe mit immerhin 6.502 Stimmen. Dies entsprach einem Anteil von 52 % der insgesamt abgegebenen 13.768 Stimmen für den Wahlsieger. Neben Delbrück und Schwabe spielten andere Kandidaten keine Rolle. Es waren nur 21 Stimmen für weitere einzelne Kandidaten abgegeben worden.66 Für den hohen Stimmenanteil Schwabes war wohl weniger eine überdurchschnittliche Mobilisierung der Wähler verantwortlich, da die Wahlbeteiligung mit rund 62 % knapp unter dem Reichsdurchschnitt lag. Offenbar war es Schwabe vielmehr 62 63 64 65 66

Weimarische Zeitung, Nr. 174, 28. 7. 1878. Vgl. Weimarische Zeitung, Nr. 175, 30. 7. 1878. Jenaische Zeitung, Nr. 178, 30. 7. 1878. Vgl. Neustädter Kreisbote, Nr. 89, 30. 7. 1878. Vgl. Neustädter Kreisbote, Nr. 94, 10. 8. 1878. Insgesamt waren 22.325 Personen stimmberechtigt.

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gelungen, einen großen Teil des aktiven nationalliberalen Wählerpotentials auf seine Seite zu ziehen. Bei der Analyse der Stimmenverteilung zeigt sich erwartungsgemäß, dass beide Kandidaten über regionale Hochburgen innerhalb des Wahlkreises verfügten.67 Der Wahlkreis setzte sich aus zehn Justizamtsbezirken zusammen, von denen vier (Auma-Triptis; Berga/Elster ; Neustadt an der Orla; Weida) im Neustädter Kreis und sechs (Berka/Ilm; Blankenhain, Stadtremda; Bürgel; Dornburg; Jena) im östlichen Teil des Weimarischen Kreises, also im Umfeld der Stadt Jena, lagen.68 Fünf der sechs Justizamtsbezirke des Weimarischen Kreises konnte Delbrück für sich gewinnen, während Schwabe alle vier Justizamtsbezirke des Neustädter Kreises sowie den Justizamtsbezirk Blankenhain im Weimarischen Kreis eroberte. Während Delbrück in den von ihm gewonnenen Justizamtsbezirken jeweils mehr als 80 % der Stimmen für sich verbuchen konnte, erhielt Schwabe nur im Justizamtsbezirk Neustadt mehr als 80 % der Stimmen. Die besonders umkämpften Justizamtsbezirke waren Blankenhain im Weimarischen Kreis und Auma-Triptis im Neustädter Kreis, wo jeweils Schwabe knapp den Sieg davontrug. Während Delbrück im Justizamtsbezirk Blankenhain in den Städten (Blankenhain: 72 %, Kranichfeld: 77 %) eine große Mehrheit erzielte, entschieden sich die meisten Landgemeinden für Schwabe. Im Justizamtsbezirk Auma-Triptis konnte Delbrück die Stadt Auma mit 64 % der Wählerstimmen für sich einnehmen, während in der Stadt Triptis 71 % der abgegebenen Stimmen auf Schwabe entfielen.69 Insgesamt zeigt sich im Wahlergebnis eine starke Polarisierung der Fronten. In den meisten Gemeinden des Wahlkreises gab es kein ausgewogenes Verhältnis zwischen beiden Lagern, sondern die Stimmen konzentrierten sich jeweils bei einem der Kandidaten. Von den insgesamt 304 Gemeinden, welche im Wahlkreis lagen, gingen 105, also etwas mehr als ein Drittel, sogar mit 100 % der Stimmen vollständig entweder an Delbrück (60) oder an Schwabe (45). Von den übrigen Gemeinden fielen nochmals 110 mit mehr als 80 % an einen der beiden Kan67 Die folgende Analyse beruht auf eigenen Berechnungen nach der Zusammenstellung der Wahlergebnisse für die einzelnen Gemeinden des Wahlkreises Jena-Neustadt, in: Extra-Blatt zum Neustädter Kreisboten, 3. 8. 1878 (als Beilage zum Neustädter Kreisboten, Nr. 92, 6. 8. 1878). Die Summe der hier angegebenen Stimmen für die beiden Kandidaten (insgesamt 13.786, 7.294 für Delbrück, 6.492 für Schwabe) weicht geringfügig vom offiziellen amtlichen Endergebnis ab. 68 Die angegebenen Justizamtsbezirke wurden durch eine Justizverwaltungsreform 1878/79 in die neu geschaffenen Amtsgerichtsbezirke überführt. Sie lagen aber der Organisation und Durchführung der Wahl von 1878 und der Auszählung der Stimmen noch zugrunde. Vgl. Kronfeld: Landeskunde. Bd. 2 (wie Anm. 21). 69 Die hier angeführten Ergebnisse für die einzelnen Justizamtsbezirke, Städte und Gemeinden haben einen rein statistischen und analytischen Aussagewert. Für die Wahlentscheidung zählte jedoch nur das Erreichen der absoluten Mehrheit der im gesamten Wahlkreis abgegebenen gültigen Stimmen.

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didaten. In fünf Gemeinden gab es Stimmengleichheit zwischen beiden Kontrahenten, während lediglich 27 Gemeinden mit einem Ergebnis zwischen 51 % und 60 % für den Sieger nur knapp entschieden wurden. In 57 weiteren Gemeinden betrug das Ergebnis zwischen 61 % und 80 % für den Sieger. Klar gewonnen hatten die beiden Kandidaten jeweils in den größten Städten ihrer Hochburgen: Delbrück in Jena mit 94 % der Stimmen (1.036 von 1.106), Schwabe in Neustadt mit 93 % der Stimmen (831 von 896). Insgesamt gewann Delbrück knapp die Mehrheit aller 304 Gemeinden des Wahlkreises, nämlich 153, während Schwabe in 146 Gemeinden die Mehrzahl der Stimmen erhielt. Wie umkämpft die Wahl bis zuletzt war, zeigt eine Reihe von Unregelmäßigkeiten, die aufgrund des Protests Rudolph Schwabes gegen das Ergebnis der Wahl durch die Wahlprüfungskommission des Reichstags festgestellt wurde.70 Offensichtlich wurden durch Verantwortliche, die an der Durchführung der Wahl vor Ort beteiligt waren, gezielt Wahlzettel des Kandidaten Delbrück an die Wähler verteilt, während die Verteilung der Wahlzettel Schwabes behindert wurde, es wurden bereits abgegebene Wahlzettel ausgetauscht oder bestimmte Wählergruppen durch vorzeitiges Schließen bzw. verspätetes Öffnen der Wahllokale am Wählen gehindert. Am Ende schrumpfte der Vorsprung Delbrücks auf die absolute Mehrheit aufgrund verschiedener anerkannter Tatbestände von 360 auf 194 Stimmen zusammen. Die Gültigkeit der Wahl wurde allerdings weiterhin anerkannt.

5. Der Jubel des liberalen Lagers über den Wahlsieg Delbrücks blieb angesichts des knappen Ergebnisses verhalten.71 Das Resultat im Wahlkreis Jena-Neustadt führte vielmehr die Spaltung und Schwächung der Liberalen auf der gesamten Reichsebene und besonders in der bisherigen Hochburg Thüringen klar vor Augen.72 Die Weimarische Zeitung schrieb, dass es erfreulich gewesen wäre, wenn Delbrück eine größere Mehrheit der Wähler hinter sich hätte vereinen 70 Vgl. Bericht der Wahlprüfungs-Kommission über die Reichstagswahl im 3. Wahlkreise des Großherzogthums Sachsen-Weimar, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. 4. Legislaturperiode – II. Session 1879. Bd. 6. Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstags. Berlin 1879, S. 1585 – 1589; zu den Wahlprüfungen vgl. auch: Anderson: Lehrjahre (wie Anm. 6). 71 Vgl. etwa die Meldung über den Wahlsieg Delbrücks, in: Jenaische Zeitung, Nr. 183, 4. 8. 1878. 72 Während die Nationalliberalen auf Reichsebene von 27,2 % (1877) auf 23,1 % (1878) absanken, rutschten sie in Thüringen von 57,9 % (1877) auf 35,2 % (1878) ab. Dagegen legten die Freikonservativen hier von 4,8 % auf 28,1 % zu. Vgl. Ritter : Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (wie Anm. 20).

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können. Sie hob die Verdienste Delbrücks um die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und damit das bürgerlich-liberale Element neben dem Anteil von Monarchie und Militär ausdrücklich hervor: »Denn nächst dem Kaiser, dem Fürsten Bismarck und dem Grafen Moltke wird Delbrücks Name in erster Linie genannt werden, wenn es gilt, das Andenken der Männer zu feiern, die sich als die Baumeister der neuen Schöpfung bewährt haben.«73 Man gab auch nochmals der Hoffnung Ausdruck, dass mit der Wahl Delbrücks die Parlamentarisierung des Reiches fortschreiten werde. Denn er sei als ein Mann, der bereits Regierungsverantwortung getragen habe, vorzüglich dazu geeignet, im Parlament eine Mehrheit hinter sich zu vereinen, »die nicht in einer unfruchtbaren Opposition gegen die Regierung, sondern in der Unterstützung derselben ihre Aufgabe sieht.«74 Diese hoch gesteckten Erwartungen konnte Delbrück jedoch nicht erfüllen. Er nahm zwar mit viel Engagement an den Reichstagsverhandlungen insbesondere über die Zoll- und Handelsfragen teil. Zur politischen Integrations- und Führungsfigur einer regierungsfähigen parlamentarischen Mehrheit konnte er jedoch nicht aufsteigen. Vielmehr verschärfte sich in den folgenden Jahren noch die Spaltung des liberalen Lagers.75 Der dauerhafte Verlust eines großen Teils des liberalen Wählerpotentials zeigte sich auch im Wahlkreis Jena-Neustadt. Der Neustädter »reichstreue Verein« wurde von einem Teil der Ausschussmitglieder, der sich infolge seiner Unterstützung Delbrücks heftigen Anfeindungen ausgesetzt sah, für aufgelöst erklärt. An seiner Stelle gründeten Schwabe und seine Anhänger einen »Volkswirtschaftlichen Verein« als neuen, deutlich konservativer geprägten Wahlverein. Dessen erklärtes Ziel war es, dass sich die Wähler endlich von dem »Jenenser Wahlconsortium Delbrück-Meyer« emanzipieren sollten.76 Darin spiegelt sich letztlich mehr als nur eine Instrumentalisierung der Wähler und der wirtschaftlichen Interessen durch Bismarck wider. Vielmehr wird hier die nachlassende Integrationskraft des Liberalismus deutlich, der zwar den wirtschaftlichen Aufstieg und die politische Emanzipation des Bürgertums im 19. Jahrhundert entscheidend befördert hatte, nun aber in den Augen vieler Zeitgenossen nicht mehr die zeitgemäßen Rezepte zur Lösung der aktuellen Probleme bereitzuhalten schien.

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Weimarische Zeitung, Nr. 180, 4. 8. 1878. Ebd. Vgl. Sheehan: Der deutsche Liberalismus (wie Anm. 13), S. 241 ff. Vgl. Neustädter Kreisbote, Nr. 96, 15. 8. 1878.

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Bürgertum und bürgerliche Lebenswelten

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Helmut G. Walther

Reichsstadtrepublikanismus, Kulturbürgertum und deutsche Kunst: Das utopische Nürnberg in Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg«

Wie es so in der Reichsstadt Nürnberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts zugeht, welche politischen und rechtlichen Verhältnisse dort herrschen, erfährt der Besucher einer Aufführung von Richard Wagners Meistersingern – vorausgesetzt natürlich, dass sich Regisseur und Bühnenbildner noch in irgend einer Weise von den Szenenanweisungen des Dichterkomponisten gebunden fühlen1 – im Verlaufe des 1. Aufzuges allmählich genauer. Die Handlung setzt in der Katharinenkirche ein, die zwar seit dem 17. Jahrhundert zur traditionellen Versammlungsstätte der historischen Nürnberger Meistersingergesellschaft wurde, wenn sie auch noch nicht zu Lebzeiten des historischen Hans Sachs war. Heute seit dem Bombenangriff von 1945 als Ruine sorgfältig als historisches Monument konserviert2, müsste sie auch in der Oper genau genommen noch Ort von durchaus vorreformationsförmiger Religiosität und Gemeindepraxis sein : Der Komponist platzt mit der ersten Szene ja in den Schluss der Vorabendmesse des St. Johannistages, so dass sich die einsetzende Spielhandlung genau auf den 23. Juni datieren lässt. Auch Hans Sachs feiert ja durchaus noch in katholischer Weise seinen Namenstag am 24. Juni, worauf sein Lehrbube David in der Schusterstubenszene des 3. Aufzugs mit seinem gesungenen Sprüchlein auf den Tagesheiligen ja ausdrücklich anspielt:

1 Kritische Partiturausgabe: Richard Wagner : Sämtliche Werke 9 /I – III, ed. Egon Voss, Mainz 1979 – 1987. Der Text der Meistersinger wird der Einfachheit halber stets nach der Ausgabe Richard Wagner : Die Meistersinger von Nürnberg. Textbuch der Fassung der Uraufführung mit Varianten der Partitur, hg. v. Egon Voss (Reclams Universalbibliothek 5639), Stuttgart 2006, u. z. nach der dortigen Versangabe zitiert. 2 Die nach Einführung der Reformation durch den Rat säkularisierte Kirche des Dominikanerinnenkonvents von St. Katharinen ist erst nach 1620 als Ort von Singschulen der Meisersinger bekannt. Vgl. Hans Sachs und die Meistersinger in ihrer Zeit, Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums im Neuen Rathaus Bayreuth, Nürnberg 1981, bes. S.128 f. In den ersten Textentwürfen (1845 u. 1861) schwebte Wagner noch die eine der beiden Nürnberger Hauptkirchen, nämlich St. Sebald, als Handlungsort vor.

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»im deutschen Land/ gar bald sich fand’s,/ dass wer am Ufer des Jordans Johannes war genannt,/ an der Pegnitz hieß der Hans. – Herr! Meister! s’ist Eu’r Namenstag!/ Nein! Wie man so was vergessen mag!«( V.1827 – 1831)

Dazu passt natürlich nicht, dass die Orgel (und in den Interludien das Orchester) im Schlusschoral der Gemeinde zu Ehren Johannes’ des Täufers in der ersten Szene nach jeder Choralzeile ganz im Sinne der bereits voll ausgebildeten lutherischen Gottesdienstliturgie Zeileninterludien intoniert, was dem Komponisten Wagner Gelegenheit gibt, ausgiebig das begonnene Liebesverhältnis zwischen dem Protagonisten und zum Meistersinger und Künstler genötigten Ritter Walther von Stolzing und der Goldschmiedstochter Eva Pogner in Töne zu setzen.3 Wagner benutzt dazu Themen, die er erstmals bereits im Vorspiel anklingen ließ (Takte 31 – 32 u. 27 – 29). Den Text des Johannes-Chorals scheint er erst nachträglich in mehreren Fassungen hinzugefügt und frühestens im April 1862 ins Textbuch eingetragen zu haben. Denn die Kompositionsskizzen verraten, dass Wagner nach dem Abschluss der Kompositionsskizze des Vorspiels zunächst mit der Skizzierung der Bitte Walthers »Verweilt! Ein Wort! Ein einzig Wort!« aus der 1. Szene die Komposition fortsetzte und erst später den Einfall mit dem Choral und den Zeileninterludien hatte.4 Doch schon in der folgenden Eingangsszene erscheint auch Eva bereits als gute Lutheranerin, wenn auch ihre Frömmigkeit und Andacht wegen der Anwesenheit des Ritters an diesem Abend zu wünschen übrig lassen: Führen sie und ihre Amme Magdalena doch jeweils bereits ein eigenes Gesangbuch mit den Chorälen des Kirchenjahres beim Gottesdienstbesuch stets mit sich, das nun zweckwidrig als Mittel eingesetzt wird, um das Stelldichein mit dem Ritter in der Kirche etwas zu verlängern. 3 Wagner war wie nahezu alle musikhistorisch Gebildeten des 19. Jahrhunderts davon überzeugt, dass den protestantischen Gottesdienst von Anfang an Chorgesang der Gemeinde mit Orgelbegleitung prägte. Vgl. dazu Richard Wagner : Über deutsches Musikwesen [ca. 1840], in: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen (künftig RWGSD) 1, Leipzig 1871, S. 149 – 166, hier S. 158: »Statt allen Prunks genügte aber in der älteren protestantischen Kirchen der einfache Choral, der von der gesamten Gemeinde gesungen und von der Orgel begleitet wurde.« Dabei ist zu beachten, dass ganz im Sinne der mit den Meistersingern geplanten Apotheose der deutschen Kunst schon in dieser Frühschrift von Wagner der protestantische Choral zu den besonderen Merkmalen und Leistungen des »Charakters der deutschen Kunst« gezählt wurde. 4 Zum Kompositonsverlauf der Eingangsszene jetzt detailliert Jörg Linnenbrügger :Richard Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg«. Studien und Materialien zur Entstehungsgeschichte des ersten Aufzugs (1861 – 1866), 2 Bde., Göttingen 2001, Bd. 1, S. 81 ff. (Vorspiel), 115 – 129 (Textfassungen und Komposition des Eingangschorals samt Interludien). Der nachträgliche Eintrag des Eingangschorals in die Reinschrift des Textbuches, das als Druckvorlage für den Verleger Franz Schott diente, nun im Faksimile in: Egon Voss: Die Entstehung der ›Meistersinger von Nürnberg‹. Geschichten und Geschichte. Faksimiledruck der Ausgabe von 1862, Mainz 1983, p.3., Textänderungen des Chorals in den Kompositionsund Orchesterskizzen Wagners, Linnenbrügger, S. 118 ff.

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Reichsstadtrepublikanismus, Kulturbürgertum und deutsche Kunst

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Auch scheint sich bei der einfachen Bevölkerung Nürnbergs (im Gegensatz zur ratsherrlichen Obrigkeit) die lutherische Version der Reformation damals bereits völlig durchgesetzt zu haben. Anders ist es ja nicht zu erklären, dass am Folgetag die gesamte Festwiesengesellschaft beim Aufzug der Meistersingerzunft im dritten Aufzug sofort auswendig und ohne erkennbaren Dirigenten unisono den Beginn von Hans Sachsens »Wittembergisch Nachtigall« als den berühmten »Wach auf«-Chor anstimmen und ihn mit dem Lobpreis des Dichters enden lassen kann (V. 2581 – 2590). Auch in der historischen Realität hatte gerade dieses Spruchgedicht von 1523, das dem »gemeinen Mann« eine Summe der Lehre des Wittenberger Reformators bieten wollte und binnen eines Jahres sechs Auflagen erfuhr, die Popularität des Nürnberger Dichters erst eigentlich hervorgebracht. Zwar widersprachen das öffentliche Bekenntnis und der Propagandaeffekt von Sachsens Spruchgedicht der offiziellen Religionspolitik des Nürnberger Rates in den Folgejahren des Wormser Reichstages von 1521. Offene Kritik und Publikationsverbot für mehrere Jahre erfuhr Sachs vom Rat seiner Heimatstadt jedoch erst nach 1527 (bis wahrscheinlich 1531) nach Veröffentlichung seiner Reformationsdialoge ohne offizielles Imprimatur. Bis in die fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts zensierte der Rat noch Sachsens satirische Gedichte und Fastnachtsspiele aus politischen Rücksichten5 In der Zuwendung zur Reformation war das Stadtregiment mehr als diplomatisch zurückhaltend, was nicht zuletzt den damaligen politischen Plänen zu einem Reichsregiment in Nürnberg und den Wirtschaftsinteressen der auf weltweiten Export ausgerichteten Produkte der prosperierenden Reichsstadt Nürnberg geschuldet war. Über die innere politische Verfassung und die Sozialverhältnisse von Wagners Meistersinger-Nürnberg erfahren wir dann in der dritten Szene des 1. Aufzugs Näheres, wenn die versammelten Meister besorgt über die Mehrung ihrer Reputation in Nürnberg wie im Reich beraten. Besonders aus dem Auftritt des Goldschmieds Veit Pogner erfahren wir Charakteristisches. Dieser überaus wohlhabende Handwerker (Nun schuf mich Gott zum reichen Mann, V. 410), der bei Wagner für durch bürgerliche Tätigkeit erworbenen Reichtum schlechthin steht, freilich sich in der historischen Realität mit den Vermögen und Reichtümern an gehendem und stehendem Gut der politisch allein in Nürnberg den Ton 5 Der Text des Spruchgedichts am leichtesten zugänglich in Hans Sachs: Die Wittenbergisch Nachtigall. Spruchgedicht, vier Reformationsdialoge und das Meisterlied ›Das Walt Got‹, hg. v. Gerald H. Seufert (Reclams Universalbibliothek 9737), Stuttgart 1974, 21978; zum historischen Hintergrund vgl. das Nachwort, ebd. S.157 – 189. Zu den Rahmenbedingungen des literarischen Schaffens Hans Sachsens vgl. die Beiträge in den beiden Sammelbänden: Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur, Hans Sachs zum 400 Todestag am 19. Januar 1976, Nürnberg 1976 (bes. die Beiträge v. Horst Brunner, S. 1 – 13, Winfried Theiß, S. 76 – 104), und 500 Jahre Hans Sachs, Handwerker, Dichter, Stadtbürger (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 72), Wiesbaden 1994. Den Forschungsstand bilanzierend: Horst Brunner : Hans Sachs, Gunzenhausen 2001.

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angebenden Patrizierfamilien nicht im entferntesten messen hätte können, hat offenkundig bei Wagner beste Beziehungen zu denjenigen der Oberschicht Nürnbergs, die ihre Reichtümer gern in Gutshöfen der von sozialem Abstieg gefährdeten Ritter aus dem fränkischen Umland investierten. So war ja seine Beziehung zum verarmten Walther von Stolzing zustande gekommen. Er hatte diesem auf das Nürnberger Bürgerrecht spekulierenden Landjunker einen Käufer für sein Landgut vermittelt und sieht keine Schwierigkeit darin, angesichts seiner Reputation ihm auch die Mitgliedschaft in der Meistersinger-Gesellschaft zu vermitteln: »Half ich Euch gern des Guts-Verkauf,/ in die Zunft nun nehm’ ich Euch gleich gern auf.« (V. 349/50). Veit Pogner hat ambitionierte Pläne, die nicht nur ihm und den Nürnberger Meistersingern, zu deren einflussreichsten Mitgliedern er zählt, zugute kommen sollen, wenngleich seine Kunstfertigkeit angesichts der Gesangsproben, die er im Verlauf der Oper gibt, nicht mehr als durchschnittlich erscheint. Nun aber am Johannistag, der traditionell als Tag der Selbstdarstellung dieser Kunstgemeinschaft der Handwerker Nürnbergs gilt, möchte Pogner zu einem großen Schlag ausholen. Deshalb verweist er darauf, dass trotz aller Kunstanstrengungen seiner Vereinigung, »in deutschen Landen« der Bürger wenig gepriesen werde, karg und verschlossen genannt werde; vor allem aber die allein von ihrer Zunft getragenen Kunstanstrengungen würden von den Höfen überhaupt nicht gewürdigt. Da er über keinen Sohn als Erben, sondern nur über eine einzige Tochter verfüge, setze er sie und sein Hab und Gut diesmal als Preis für den Sieger im traditionellen Gesangswettbewerb am Johannistag aus. Denn dieser Tag werde ja nicht in der Singschul im Chor der Katharinenkirche begangen, sondern in aller Öffentlichkeit auf der Pegnitzwiese vor der Stadt. (V. 392 – 440). Die Meister sind von diesem Vorschlag begeistert: »Da sieht man, was ein Nürnberger kann!« (V. 443), freilich weniger von den Detailbestimmungen, die Pogner noch nachschiebt: Seine Tochter soll die den Ausschlag gebende Stimme bei der Preisverleihung haben. Nur Hans Sachs, der schon seit Jahren gegen die Verknöcherung der Regeln im Meistergesang vergeblich angeht, möchte die Gelegenheit nützen, das Volk zum Schiedsrichter zu erheben und ihm mit Eva die entscheidende Stimme zubilligen. Da beißt er bei den übrigen Meistern auf Granit. Über den Rang der Kunst und ihre Regeln bestimmen sie als die Profis allein. Da könnte ja jeder kommen: Der Kunst droht allweil Fall und Schmach, läuft sie der Gunst des Volkes nach, kommentiert deshalb der derzeitige Vereinsvorsitzende und Bäckermeister Fritz Kothner (V. 513 f). Doch aus Pogners Ansprache erfahren wir zudem Genaueres über das Stadtregiment Nürnbergs und die Stellung der Meistersingerzunft in der städtischen Gesellschaft – jedenfalls über das Nürnberg, das uns Richard Wagner in seiner Oper präsentiert. Handwerker- und Bürgertum setzt er in eins, das Ganze gekrönt vom Kunststreben der Meistersinger, die sich damit zum Repräsen-

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Reichsstadtrepublikanismus, Kulturbürgertum und deutsche Kunst

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tanten des gesamten Bürgertums machen. So ist es für ihn ganz selbstverständlich, dass auch der verarmte Landjunker Stolzing Nürnberger Bürger werden will und er ihn zur Meistersingerwürde führen möchte, um auf diese Weise den passenden Schwiegersohn zu erhalten (V. 336 – 339, 344 f, 860 – 865). Die Meistersingerzunft versteht sich in ihrem Kunstbestreben als Krönung des Bürgertums, in dem Musik und Kunst alle sozialen und rechtlichen Schranken aufheben. So erinnert Hans Sachs die ihren Vorurteilen gegen den Ritter recht ungeschminkt huldigenden Meister daran, dass das ausdrücklich in den Statuten der Meisersinger bereits festgehalten ist: »ob Herr, ob Bauer, hier nichts beschließt:/ hier fragt sich’s nach der Kunst allein,/ wer will ein Meistersinger sein.« (V. 564 – 66). Das erscheint beinahe als die Richard-Wagner-HansSachssche-Variante von Abb¦ SieyÀs »Qu’est-ce que Le Tiers-ðtat«, wobei sich diesmal die Handwerker identisch mit dem Dritten Stand setzen. Es bleibt noch zu untersuchen, ob diese Gleichsetzung aufgrund der historischen Verbindung von Handwerk und Kunst im Meistersingertum erfolgt oder ob Wagner diesen Umstand nur als Brücke zur Propagierung eigener Vorstellungen von der Rolle der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft benutzt. Freilich endet Pogners schöner Plan zunächst im Fiasko des Probeliedvortrags Stolzings in der Versammlung der Meistersinger. Als der Goldschmied daraufhin die Lage gegenüber der Tochter kurz reflektiert, zeigt sich, dass die soziale und politische Wirklichkeit Nürnbergs doch nicht so ohne weiteres negiert werden kann, wie sich Pogner das dachte und dabei von Sachs sekundiert wurde: Am Johannisfest vereinigen sich zwar alle Schichten Nürnbergs: »die ganze Stadt/mit Bürgern und Gemeinen,/ mit Zünften, Volk und hohem Rat,/vor dir sich soll vereinen.« (V. 987 – 990). Aber ist diese Festversammlung tatsächlich eine Repräsentantin einer sich als Einheit verstehenden standesübergreifenden bürgerlichen Gesellschaft? Angesichts des gescheiterten Anlaufs Stolzings zur Meistersingerwürde und damit zum Mitglied in der in der Reputation der Stadtgemeinde führenden Elite – wäre es nicht doch noch zu überlegen, ob es vielleicht nicht ganz verkehrt wäre, wenn der »Hochgelahrte Herr Stadtschreiber« (V. 814) Sixtus Beckmesser, der ja zudem ein anerkannter Meistersinger ist, als Eidam doch näher in Betracht gezogen würde? Nur Zwang will Pogner nicht gegenüber seiner Tochter in der Wahl des Schwiegersohns nicht ausüben. Freilich, beim Wettsingen und bei der Konfliktlösung auf der Festwiese findet dann der »hohe Rat« dann keinen Platz mehr bei Richard Wagner. Der einzig anwesende Vertreter der reichsstädtischen Obrigkeit ist der Ratsschreiber, jedoch nur in seiner Eigenschaft als Meistersinger. Und nur diese Funktion zählt schließlich auch beim einfachen Volk in der Meinungsbildung. Hat zumindest ein Teil der Festgemeinde am Anfang noch Respekt: »Seid still! ’s ist gar ein tücht’ger Meister!/Stadtschreiber ist er :/ Beckmesser heißt er –« (V. 2651 f.), so verliert er am Ende mit seiner künstlerischen Reputation auch sein soziales

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Ansehen. Wie er in Nürnberg als Stadtschreiber angesichts dieser Niederlage weiter amtieren soll, darüber geht Wagner in der Feierstimmung und dem Schlussjubel der Nürnberger über die Vorzüge ihrer Stadtgemeinde und ihren volkstümlichen Künstler Hans Sachs hinweg. Überhaupt blendet Wagner nicht nur auf der Festwiese die politische Verfasstheit Nürnbergs nahezu vollständig aus. Städtische Obrigkeit taucht nur im 2. Aufzug im Funktionsträger des tumben Nachtwächters auf, dessen Begegnung die Nürnberger Bürger zwar meiden (und fürchten?), der aber von den wirklichen Geschehnissen auf den nächtlichen Gassen Nürnbergs keine Ahnung hat, weder von der geplanten Brautentführung, noch von der heftigen Schlägerei, die beinahe in Mord und Totschlag endet. Hat der Nachtwächter als Behörde des Rats auch gewisse Ordnungsbefugnisse, er bleibt der einzige Repräsentant der Obrigkeit. Das Nürnberg Richard Wagners präsentiert sich damit im wahrsten Sinne des Wortes als bloßer »Nachtwächterstaat«. Selbst Sachs und Beckmesser weichen einer Begegnung mit diesem Hüter der städtischen Ordnung aus. Beide sind sich der Ordnungswidrigkeit ihres nächtlichen Tuns bewusst. Doch der Zweck heiligt für beide die Mittel. Stolzing und Eva mit ihrem Entführungsplan sind sich der Illegalität ihres Tuns erst recht bewusst. Sachs freilich glaubt fest an die Lösungsmöglichkeit des Konflikts innerhalb der in Nürnberg praktizierten Lebensordnungen. Deren Überschreitung durch die jungen Verliebten versteht er, sieht jedoch darin keine Basis für eine dauerhafte Lösung. In der Schusterstube macht der inzwischen durch das Schicksal König Markes in Tristan und Isolde klug die Entsagung wählende (V.2420 – 2426) Sachs dem Ritter klar, weshalb die Situation ein nach den Regeln verfasstes Meisterlied erfordert: denn wohl bedacht, / mit solchem Dicht- und Liebesfeuer / verführt man wohl Töchter zum Abenteuer ; / doch für liebseligen Ehestand / man andre Wort’ und Weisen fand (V. 1944 – 1948). So zeigt sich, dass die Orientierung an den Regeln der Tabulatur, deren historische Entstehungsbedingungen Sachs dem Ritter mit Hilfe alltäglicher Lebenserfahrungen aus dem Sozialleben erklärt, auch für die Lösung des Liebes- und Sozialkonflikts Walther von Stolzings taugen. Es ist die Besonderheit der Handlung der Meistersinger, dass sich Lebenswirklichkeitskonflikte aller Beteiligten mit künstlerischen Konflikten vermengen, letztlich sich auf künstlerische Konflikte reduzieren lassen und daher – dank der überlegenen Strategie des Dichterkomponisten Sachs – sich als künstlerische Konflikte lösen lassen. Wie steht es überhaupt mit den Normen und Gesetzen in Wagners Nürnberg? Wir lernen nur die Statuten der Meistersinger und die Details der Tabulatur des Meistergesanges wie deren Entstehungshintergründe und das Wissen kennen, das zur Meistersingerwürde nötig ist. Alle Probleme werden anhand dieser, durchaus von der Gefahr der unzulässigen Verabsolutierung und Verfestigung bedrohten Normen autonom innerhalb der Meistersingerzunft geregelt. Dies gilt

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offensichtlich in gleicher Weise auch für die handwerklich dominierte, von den Meistersingern als Elite angeführte bürgerliche Gesellschaft Nürnbergs, in der im Normalfall alles autonom und diskursiv geregelt wird. Alle Konflikte und sozialen Spannungen, die immerhin im nächtlichen Tumult an die Oberfläche gelangen und zu brutalen Körperverletzungen führen, werden in Wagners Nürnberg nicht polizeilich oder gerichtlich verfolgt und belangt. Selbst der übel zugerichtete Stadtschreiber denkt nicht daran, Anzeige gegen Sachs wegen Anstiftung zu »Aufruhr und Meuterei« (V. 2126), dessen er ihn beschuldigt, zu erstatten oder gerichtlich wegen Betrugs zu klagen, obwohl er ihn für den »ärgsten aller Spitzbuben« (V. 2190) hält. Er droht Sachs nur private Rache und Vergeltung an (V. 2167ff). In Nürnbergs bürgerlicher Gesellschaft regelt sich offenbar nahezu alles, nicht nur in der Kunst, sondern nach deren Vorbilde auch im Alltagsleben, auf konsensuale Weise; Gesetze, Gebote und Verbote wie das gesamte Rechtsleben bleiben unbestimmt, ja sie werden sogar bewusst ausgeblendet. Der Nachtwächter hat bei seinen Rundgängen durch die nächtliche Stadt den Bürgern nur zu verkünden, dass sie Feuer und Licht bewahren mögen, damit kein materieller und personaler Schaden eintritt; nach dem von ihm letztlich unbemerkten Tumult, der in gefährliche Körperverletzungen mündet, warnt er aber nur vor Gespenstern und Spuk, um das Seelenheil der Nürnberger zu sichern. Dazu passt, dass Sachs am nächsten Morgen sinnierend und reflektierend in seiner Schusterstube die Geschehnisse des Vorabends in die allgemeinen Weltläufe einordnen will, gleichsam beruhigend und entschärfend als auslösendes Element des menschlichen Wahns die Liebesnot eines Glühwürmchens oder gar die übergroße oleofaktorische Ausdünstung des Holunders als Ursache ausmacht – eine einmalige, kurzfristige Störung, deren Auswirkungen er nun mit rationalen Mitteln als Strippenzieher Herr werden will. Denn schließlich sei hier Nürnberg: »Wie friedsam treuer Sitten,/ getrost in Tat und Werk, /liegt nicht in Deutschlands Mitten/ mein liebes Nürenberg« (V. 1879 – 1882). Es zeichnet eben Nürnberg aus, so die Bilanz des Schusterpoeten, dass, wenn selbst hier der Wahn ab und zu die Oberhand zu gewinnen scheint, es doch stets möglich ist, vernünftige Lösungen zu finden (V. 1906 – 1910). Die Stadt ist idealer Ort konsensualer rationaler Herrschaft des Bürgertums. In der Forschung ist natürlich dieses bewusste Fernhalten von politischen Institutionen in Wagners Nürnberg der Meistersinger, die in Wirklichkeit das Leben im alten Nürnberg geradezu übermächtig bestimmten,6 nämlich der in alle Lebensbereich hineinregierende und kontrollierende spätmittelalterliche Rat mit seinen Behörden , nicht unbemerkt geblieben. In der historischen 6 Dazu zusammenfassend Gerhard Pfeiffer (Hg.): Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971.

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Realität kann geradezu von einer Ordnungsdiktatur des patrizischen Rates gesprochen werden. Seit dem gescheiterten Mitspracheversuch der Handwerkerzünfte im 14. Jahrhundert, sind diese als politische Einungen in Nürnberg verboten, nur noch als auf die Fürsorge für die Gewerbeangehörigen und deren religiöse Bedürfnisse eng beschränkte und eng reglementierte Vereinigungen zugelassen. Was Wagner auf der Festwiese aufziehen lässt, die traditionell den niederen Handwerken zuzurechnenden »Zünfte« der Schuster, Schneider und Bäcker (V. 2534 – 2567), die bei ihren Selbstvorstellungen um den größten Nutzen für das Überleben der Nürnberger Stadtgemeinde konkurrieren, hat keinerlei Entsprechung in der historischen Wirklichkeit Nürnbergs. Von den zum Wohlstand Nürnbergs in erster Linie beitragenden eisenverarbeitenden speziellen Gewerben ist bei Wagner mit keinem Wort die Rede. Die Berufe der 12 Meister der Meistersingerzunft sind keineswegs repräsentativ für Nürnbergs Handwerkerschaft, sind aber für Wagner offenkundig wegen der Grundsicherung der alltäglichen Lebensbedürfnisse und der prominenten Vertretung in der Meistersingerzunft gewählt worden. Gerade, wenn die Meistersinger eine »Oper des deutschen Bürgertums« sind und sein sollen7 sind das Fehlen des institutionellen Rahmens bürgerlicher Existenz und das Dominieren von Problemen der Kunst auffällig. Udo Bermbach ging 1996 noch einen Schritt weiter, als er feststellte: »In den Meistersingern fehlt die Politik«8. So richtig diese Beobachtung an der Handlung der Oper ist, so offen bleibt die Frage, ob Wagner einfach die Politik ausgeblendet, unterdrückt oder gar eine Lösung gewählt hat, die das Politische ersetzt. Denn angesichts der wichtigen Rolle, die dem Bereich des Politischen in den beiden Romantischen Opern der Dresdener Zeit aus dem Vormärz, Tannhäuser und Lohengrin, zukommt, ganz zu schweigen von der von dem zunächst bewusst als Revolutionsoper Siegfried’s Tod konzipierten Drama, das sich zur Tetralogie Rings des Nibelungen auswächst9, verwundert diese Ausblendung in den Meistersingern umso mehr, als doch im Tannhäuser und im Lohengrin gerade das Verhältnis von Kunst und sozialen Verhältnissen bzw. von Künstler und Gesellschaft von 7 Egon Voss: Wagners ›Meistersinger‹ als Oper des deutschen Bürgertums, in: Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, Texte, Materialien, Kommentare, hg. v. Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek 1981, S. 9 – 31. 8 Udo Bermbach: Die Utopie der Selbstregierung, Zu Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg«, (zuerst 1996) in: Ders.: Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg 1997,S. 238 – 270; Ders.: Die Meistersinger von Nürnberg, Politische Gehalte einer Künstleroper, in: Danuser, Hermann/Münkler, Herfried (Hg.), Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen 2001, S. 274 – 285. 9 Zuletzt zusammenfassend Helmut G. Walther : Kulturrevolution als ästhetische Erfahrung. Der Ring des Nibelungen als postrevolutionäres »Kunstwerk der Zukunft«, in: Musik – Politik – Ästhetik. Detlef Altenburg zum 65. Geburtstag, Sinzig 2012, S. 65 – 91.

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Wagner thematisiert wurden, und in den Revolutionsjahren 1848/49 und in der nachfolgenden Exilszeit Wagner nicht müde wird, das Streben nach Herrschaft als naturwidrig und frevelhaft darzustellen und für das Scheitern der zwischenmenschlichen Bindungen durch Liebe verantwortlich zu machen. Zur Erklärung fasst er den Prozess der gesamten menschlichen Geschichte im Nibelungenmythos zusammen, der als »Kunstwerk der Zukunft« auf der Bühne zeigen soll, wie nach der notwendigen Welt- und Kunstrevolution die Grundlagen menschlicher Herrschaft entscheidend verändert sind. Politik und Revolution stellen für den Feuerbachianer Wagner nicht nur in seinen theoretischen Schriften seit 1849 das grundlegende Thema dar. Denn in einer umfassenden politischen Revolution, die die Kunst erstmals wieder ihre natürliche menschliche Basis wiedergewinnen lässt, sieht der Musikdramatiker die notwendige Voraussetzung für das Gelingen seiner Tetralogie des Rings als des den Sinn der Kulturgeschichte deutenden postrevolutionären Kunstwerks der Zukunft.10 Bermbach hat deswegen die Kunstvorstellungen Wagners als Grund dafür verantwortlich gemacht, dass es in dieser Oper äußerlich allein um Probleme der Kunst gehe. Das Nürnberg der Meistersinger nehme die Rolle eines »ästhetischen Modells« ein. Denn hier trete »die Kunst an die Stelle der Politik und übernehme deren Funktion und werde zum strukturgebenden Vorbild gesellschaftlichen Lebens«. Dieter Borchmeyer hatte dagegen vom »ästhetischen Staat Nürnberg« gesprochen, nicht ohne Widerspruch für diesen Deutungsversuch mit Verweis auf das den Staat ablehnende Geschichtsverständnis Wagners als eine unter dem Ideal des »Reinmenschlichen« letztlich unnötige Organisationsform freier Menschen zu erfahren.11 Da Wagners erster Prosaentwurf zu den Meistersingern schon aus dem Jahr 1845 datiert, also vorrevolutionär in den Umkreis sowohl des Tannhäuser als auch des Lohengrin gehört, kann freilich nur ein genauer Blick auf die Entstehungsbedingungen dieses Problem des »Fehlen des Politischen« in der Endfassung klären helfen. Wagner hat glaubhaft schon in in seiner »Mitteilung an meine Freunde« von 1851, in der er seine künstlerische Entwicklung in der Dresdener Zeit bis zu dem in seiner musikalischen Form ihm damals noch völlig schemenhaft erscheinenden Nibelungen-Plan vorstellte, beschrieben, dass er 1845 im böhmischen Kurort Marienbad an eine komische Meistersinger-Oper in 10 Walther, Kulturrevolution (wie Anm. 9),S. 69 ff. 11 Bermbach, Utopie (wie Anm. 8), S. 125 f., 249; Dieter Borchmeyer : Nürnberg als ästhetischer Staat. Die Meistersinger : Bild und Gegenbild der Geschichte [zuerst 1995], in: Ders.: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt/M. 2002, S. 235 – 275, u. Ders.: Nürnberg als Reich des schönen Scheins. Metamorphosen eines Künstlerdramas, in: Danuser/ Münkler, Deutsche Meister (wie Anm. 8), S. 286 – 302. Kritisch zu Borchmeyers Deutungsschema des »ästhetischen Staats« Bermbach, Utopie (wie Anm. 8) S. 309 (Anm. 23). Vgl. auch Walther, Kulturrevolution (wie Anm. 9), S. 72 ff.

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Form eines Satyrspiels zum gerade als romantische Oper vollendeten Sängerkrieg des Tannhäuser auf der Wartburg dachte.12 In der Tat entstand damals ein erster Prosaentwurf (als abgeschlossen datiert am 16. Juli 1845). Mit der Wahl von Nürnberg als Schauplatz und Hans Sachs als Protagonisten seiner Oper stellte sich Wagner zweifellos in die romantische Tradition der Rezeption von »Alt-Nürnberg«, einst initiiert durch Goethes Hans-Sachs-Gedicht, idealisiert durch Wilhelm Heinrich Wackenroder, zur literarischen und außerliterarischen Tradition geworden durch Wilhelm Tieck, E.T.A. Hoffmann, durch August Hagen und Georg Gottfried Gervinus fest in der deutschen Literaturgeschichte verankert, sodann durch Johann Ludwig Deinhardstein 1827 erfolgreich dramatisiert, mit Lortzings »Hans Sachs« 1840 nach Deinhardtsteins Drama erstmals, wenn auch nicht besonders erfolgreich auf die Opernbühne gebracht.13 Doch hatte Wagner durchaus ein Jahrzehnt zuvor ein weniger literarisches und konfliktgeprägtes Nürnberg selbst erlebt, wie er in seiner Autobiografie »Mein Leben« mitteilt: 1835 hatte er bei einem Kurzaufenthalt mit seinem Schwager eine nächtliche Prügelei erlebt, die ein von seinen Sangeskünsten fälschlich überzeugter Tischlermeister Lauermann auslöste.14 Doch offenkundig behielt das literarische Idealbild von Nürnberg bei Wagner die Oberhand, auch wenn die von ihm in der Stadt real erlebte Prügelei zumindest indirekt Eingang in die Schlussszene des 2. Aufzugs fand. Doch, wie schon gesagt, sollte das in der Deutungsperspektive von Sachs im Nachhinein nur ein kurzes Aufflackern von wahnhaftem Chaos sein, vom Komponisten Wagner sogar durch die Kunst der Fuge in musikalisch strenger Ordnung gebändigt. Wie denn die ganze Oper lehrt, dass die Kunst die Oberhand behält und Konflikte durch sie gelöst werden. Solche Vorstellungen entsprachen durchaus tief sitzenden Überzeugungen Wagners aus dem Vormärz. Denn schon der erste Prosaentwurf von Juli 1845 enthält als einzige Verse als Fazit und als Verteidigung der Kunst der Meistersinger das Reimpaar Zerging das heil’ge römische Reich in Dunst,/ Uns bliebe doch die heil’ge deutsche Kunst, das Wagner fast unverändert bis zur Schlussfassung beibehielt. 12 Richard Wagner : Eine Mitteilung an meine Freunde, in RWGSD 4 (wie Anm. 3), S. 284 – 286; Erster Prosasentwurf in Richard Wagner : Sämtliche Schriften und Dichtungen Bd. 11, Leipzig , S. 344 – 355; Zur Entstehungsgeschichte des Textes vgl. Egon Voss, Die Entstehung der Meistersinger von Nürnberg, Geschichte und Geschichten, in: Ders.: »Wagner und kein Ende«, Betrachtungen und Studien. Zürich-Mainz 1996, S. 278 – 309. 13 Zusammenfassend Kurt Mey : Der Meistergesang in Geschichte und Kunst, Leipzig 1901, Bernhard Schubert: Der Künstler als Handwerker. Zur Literaturgeschichte einer romantischen Utopie , Königstein/Taunus 1986. Knapp auch Norbert Götz, Aspekte der Hans Sachsund Nürnbergrezeption des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, in: Die Meistersinger und Richard Wagner, Die Rezeptionsgeschichte einer Oper von 1868 bis heute, Nürnberg 1981, S. 79 – 85, Borchmeyer, Nürnberg als Reich (wie Anm. 11), S. 288 – 291. 14 Richard Wagner : Mein Leben, hg. v. Martin Gregor-Dellin, München 1976, S. 114 – 116.

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Die Nürnberger wiederholen Sachsens Fazit, und das unterscheidet seine Oper denn auch grundsätzlich von Lortzings Verklärung des Hans Sachs. Dort ist wie bei Deinhardtstein der Konflikt des Dichters mit der Nürnberger Stadtgesellschaft letztlich nur durch den als Deus ex machina erscheinenden Kaiser Maximilian lösbar.15 Der Habsburgische Herrscher erweist sich nicht nur als theoretischer Verehrer der Dichtkunst Hans Sachsens und entlarvt die missbräuchliche Verwendung von dessen Gedicht durch den humanistischen Nebenbuhler, sondern sichert dem von ihm lorbeergekrönten Dichter das Goldschmiedtöchterlein als Braut. Wie anders klingt das bei Wagner mit dem Lobpreis Sachsens, der zugunsten des fortschrittlichen Dichters und Sängers Walther von Stolzing gegenüber Eva Pogner entsagt (Heil! Sachs!/Nürnbergs teurem Sachs), obwohl die Revolution von 1848/49 inzwischen gescheitert ist und Preußens kleindeutsche Hegemonie nach 1866 besiegelt ist. Bei Lortzing lautet das vormärzliche Finale dagegen: Darum jauchze jeder deutsche Mann: / Hoch lebe Maximilian.16 Die so verdächtig nationalistisch klingende Textpassage, die Wagner erst nachträglich noch in die Schlussansprache Sachsens einschob, bleibt im Grundtenor durchaus bürgerlich-republikanisch: Hatte er zunächst daran erinnert, dass die Kunst inzwischen nicht mehr höfisch und adlig, sondern bürgerlich geworden sei, so ergänzt er jetzt die Situationsanalyse mit der ersten dezidiert politischen Äußerung. Der Verlust der Bürgerlichkeit von Kunst und Gesellschaft drohe, wenn falsche welsche Majestät um sich greife, womit Regierende und Regierte auseinanderdividiert würden. Kunst und bürgerliche, auf Selbstregierung setzende Gesellschaft, wie in Nürnberg, so im deutschen Land, müssten beibehalten werden: Der Gegensatz zum Idealzustand ist in der Gesellschaft falsche welsche Majestät, in der Kunst aber welscher Dunst und welscher Tand. So wenig real wie das Wagnersche Nürnberg vermag freilich eine Kunstutopie sein, die der Kunst anstelle der Politik zutraut, mit ihren Prinzipien, Normen und Werten das Zusammenleben der Menschen ideal zu regeln. Es genügen in ihr quasi sich stets erneuernde Leges Tabulaturae, um dies zu er15 Hans Sachs, Heitere Volksoper in drei Akten nach Deinhardtstein’s Dichtung gleichen Namens von Philipp Reger, Musik von Albert Lortzing. Neufassung für die deutschen Bühnen von Willi Hanke u. Max Loy, Berlin 1940 16 Zu den verschiedenen Schlussfassungen bei Deinhardtstein und Lortzing Peter Wapnewski: Der Merker und sein Meister oder Die Meistersinger als Künstlerdrama (Vortragssammlung des Kölner Richard-Wagner-Verbandes 3), Köln 1979, S. 17 – 19.Jürgen Kühnel, Hans Sachs bei Deinhardstein, Lortzing und Wagner. Zu Wagners Rezeption der Hans-Sachs-Figur, in: Matthias Viertel (Hg.), Achtet mir die Meister nur! »Die Meistersinger von Nürnberg« im Brennpunkt, Hofgeismar 1997, S. 31 – 62; Bordemeyer, Nürnberg als Reich (wie Anm. 11), S. 291 – 297. In der Bearbeitung von 1940 erstellten Hanke und Loy offenkundig unter dem Eindruck von Wagners Meistersinger-Schluss die neue Fassung: »Drum jauchze, wer ein deutscher Mann! / Sachs leb’ und Maximilian!« (wie Anm. 15, S. 93).

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reichen. In einem Brief aus dem Schweizer Exil an den König, der sich nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen gerade in Nürnberg aufhält, knüpft Wagner im November 1866 bewusst an seine Vorstellungen in den Züricher Kunstschriften von der Funktion des Kunstwerks der Zukunft an, verbindet also Nibelungenring und Meistersinger : »Wissen Sie, was jetzt dieses wunderliche, alte Nürnberg mir heißt? Es ist die Stätte des ›Kunstwerkes der Zukunft‹, der Archimedes-Punkt. Auf welchem Wir die träge Welt des versumpften deutschen Geistes aus ihrer Axe heben wollen!«17 Völlig zurecht betonte deshalb Bernbach, dass die ästhetische Utopie der Meistersinger keinesfalls im Gegensatz zur fundamentalen Herrschafts- und Kulturkritik des Rings gesehen werden dürfe, dass er vielmehr dem Schlusstableau der Götterdämmerung (»Perspektivlosigkeit dieses Endes der Tetralogie«) eine »positive Utopie« entgegensetzen wollte.18 Dass dies in der Realität nicht klappen konnte, erfuhr Wagner mit seinen Plänen zur Neuordnung des künstlerischen Lebens in Bayern, deren Grundlagen er aber dennoch unbeirrt gerade in seiner im Juni 1868, also in der direkt vor der Uraufführung der Meistersinger publizierten Schrift »Deutsche Kunst und deutsche Politik« verfocht. Zuvor waren sie als Einzelartikel in Julius Fröbels offiziösem, vom Ministerium Hohenlohe-Schillingsfürst unterstützten Organ »Süddeutsche Presse« erschienen, dessen Erscheinen auf Befehl Ludwigs II. aber eingestellt werden musste.19 Der Widerstand im Kabinett und in Teilen der Öffentlichkeit angesichts der offenen Einmischung Wagners in die bayerische Politik hatte schon im Dezember 1865 König Ludwig II. zum Schritt der Ausweisung Wagners aus Bayern gezwungen. Die Meistersinger mussten deshalb in der Schweiz, vor allem im neuen Refugium Tribschen am Luzerner See bis Oktober 1867 zu Ende komponiert werden, auch die Schlussansprache des Hans Sachs samt eingeschobener Passage, die nun nicht vom Verbürgerlichungsprozess des fränkischen Ritters mehr spricht, sondern vor falschem Kunstverständnis warnt.20 Zur 17 König Ludwig und Richard Wagner, Briefwechsel, bearb. v. Otto Strobel, 5 Bde., Karlsruhe 1936 – 39, hier Bd. 2, S. 103 (Brief v. 30. 11. 1866). 18 Die in meinem Beitrag begründete Einschätzung der utopischen Ausrichtung und Qualitäten der Meistersinger deckt sich mit Bermbachs Urteil, insbesondere auch hinsichtlich der Bezüge zu den Züricher Revolutionsschriften im Umkreis des Rings des Nibelungen. Doch wie noch zu zeigen sein wird, ist diese Verbindung zu älteren Werken Wagners um dessen Lohengrin zu ergänzen. Während dieser den politischen Überzeugungen Wagners in der letzten Phase des Vormärz entspricht, in seinen Lösungsvorschlägen dann durch das Nibelungen-Drama radikal kritisiert und ersetzt wird, bieten die Meistersinger dann quasi die postrevolutionäre Alternative. Vgl. Bermbach, Die Meistersinger (wie Anm. 8), S. 275 – 276 (Zitate 276). 19 Druck in RWGSD (wie Anm. 3) 8, S. 30 – 124. Zu den kulturpolitischen Aktivitäten Wagners in München bis zu seiner Ausweisung Verena Naegele: Parsifals Mission, Der Einfluß Richard Wagners auf Ludwig II. und seine Politik, Köln 1991. 20 Klaus Schulz: Zur Schlussansprache des Sachs, Die Versionen 1862 und 1868, in: Die Meistersinger und Richard Wagner (wie Anm. 13), S.65 – 68. Hier auch Druck der entspre-

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Einstudierung der Meistersinger kehrte Wagner nach München zurück. Die Uraufführung im Kgl. Hof- und Nationaltheater in München erfolgte am 21. Juni 1868. Den Beifall des Publikums durfte Wagner in der Königsloge entgegen nehmen. Die Presse berichtete ausführlich, welche bis dahin einmalige Ehrung damit dem Dichterkomponisten zuteil geworden war. So deuten die Verklärung der Rolle des Hans Sachs und Wagners bewusste Entpolitisierung der Gesellschaftsordnung Nürnbergs in seinen Meistersingern letztlich weniger darauf, eine komödiantische Variante zum höfischen Sängerkrieg auf der Wartburg bieten als eine Antwort auf das Scheitern der Ansprüche des aus der transzendenten Gralswelt ins Irdische gesandten Künstlers Lohengrin geben zu wollen. Angesichts des tragischen Scheiterns des Gralsritters in der mittelalterlichen Welt König Heinrichs I. und Brabants, das Wagner im postrevolutionären Deutungsversuch seiner Mitteilung an meine Freunde von 1851 einseitig und teilweise auch gegen die eigene Textaussage zuspitzte21, gerät vielen Interpreten zu schnell aus dem Blick, wie stark an den politischen Verhältnissen des Vormärz doch Wagners Lohengrin in seinen Aussagen ausgerichtet ist: Zwar muss der Held am Ende traurig ob seiner (auch an seinem Verhalten) gescheiterten Liebe zu Elsa ins Gralsreich zurückkehren und Elsa muss ihren Verstoß gegen das Frageverbot mit dem Leben büßen. Doch Lohengrin kräftigt das Vertrauen in die bestehende Herrschaftsordnung, indem er dem Reich unter König Heinrich eine glänzende Zukunft weissagt und selbst die dynastische Fürstenherrschaft in Brabant des noch unmündigen Herzogs Gottfried mit den aus der Transzendenz des Gralsreiches stammenden Herrschaftszeichen von Horn, Schwert und Ring sichert. Die Konzeption des Nibelungenrings als Revolutionsdrama ließ Wagner bekanntlich von einem solchen vormärzlichen Kompromiss von monarchischer Herrschaft und republikanischen Bestrebungen abrücken. Am Ende der Götterdämmerung steht das Ende nicht nur der Götterherrschaft, sondern mit der Rückgabe des Rings an die Rheintöchter das Ende aller Versuche, eine (kapitalistische) Zwangsherrschaft zu errichten. Die Gibichungen wie die Nibelungen sind frei und können im chende Auszüge aus »Deutsche Kunst und deutsche Politik« und eine Synopse der zwei Versionen der Sachsschen Schlussansprache. Diese auch bei Egon Voss, Die Entstehung der Meistersinger, in: Richard Wagner (wie Anm. 4, S. 18, u. in: Ders., Die Entstehung, wie Anm. 12, S. 303). Zu den Umständen der Änderung der Schlussansprache (am 28. Jan. 1868?) unter dem angeblich entscheidenden Einfluss Cosimas vgl. Bermbach, Utopie (wie Anm. 8), S. 264 f. Ausführlicher Peter Wagnewski, Richard Wagners Lichtgestalten und der deutsche Nationalmythos, in: Danuser/Münkler, Deutsche Meister (wie Anm. 8), S. 75 – 94, hier S. 84 – 87. 21 Mitteilung RWGSD 4 (wie Anm 12), S.295 – 299; Zur Problematik der Selbstdeutungen Wagners seines Lohengrin zuletzt Volker Mertens: Durch Gottes Sieg … Gottesurteile im Lohengrin und anderswo, und Matthias Gockel: Gnadenlose Reue. Zur theologischen Dimension des Lohengrin, beide in: wagnerspektrum 10/1 (2014), S. 61 – 80, 81 – 105.

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Feuerbachschen Sinne in Freiheit die Zukunft der Menschen in Angriff nehmen. Die Meistersinger zeigen eine auf den Normen der Kunst aufbauende und in konsensualer Herrschaft sich entfaltende bürgerliche Stadtgesellschaft, die den zeitweisen Anfechtungen des »Wahns« erfolgreich standhalten kann. Die unterschiedlichen Lösungen, die Wagner mit dem Lohengrin, dem Ring und den Meistersingern für menschliche Freiheit, Selbstbestimmung und lebensweltliches Glück bietet, mündet in seiner Komödie in eine Utopie bürgerlicher Selbstregierung, die künstlerische Hochleistungen ermöglicht. Deutlicher kann der Wandel der bürgerlichen Werte im 19. Jahrhundert sich kaum darbieten. Dies gilt auch dann gerade, wenn sich das deutsche Bürgertum mit seinen politischen Ansprüchen im 19. Jahrhundert zunehmend an mittelalterlichen Vorbildern legitimierte und angeblichen Kontinuitäten anstelle der realen historischen Brüche setzte. Der utopische Charakter des Nürnbergs der Wagnerschen Meistersinger verweist bei kritischer Lektüre und Hören und im Vergleich mit Lohengrin und dem Ring gerade auf den Wertewandel im Bürgertum dieses langen Jahrhunderts, für die Richard Wagners Musikdramen hervorragende Paradigmen bilden.22

22 Zur angesprochenen Problematik des Wertewandels im Bürgertum vgl. die Beiträge im Bd. Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, hg. v. Hans-Werner Hahn und Dieter Hein, Köln, Weimar, Wien 2005. Wandel bürgerlicher Werte und Wandel im Selbstverständnis des deutschen Bürgertums vom 18. bis ins 20. Jahrhundert im Gegensatz zu nationalen Identitätskonstruktionen und Kontinuitätsvorstellungen bilden das – in den einzelnen Beiträgen nicht immer genügend reflektierte – Grundproblem des Tagungsbandes von Danuser/Münkler, Deutsche Meister (wie Anm. 8). Aufschlussreich für die Thematik ist der Beitrag Wolfgang J. Mommsens: Kultur als Instrument der Legitimation bürgerlicher Hegemonie im Nationalstaat, S. 61 – 74. Zur Rolle der Revolutionen von 1830 und 1848/49 im Opernschaffen Helmut G. Walther : Revolutionäre auf der Opernbühne des 19. Jahrhunderts. Von Aubers Masaniello über Lortzings Regina zu Wagners Siegfried und Wotan, in: Tradition und Umbruch, Festschrift für Herbert Gottwald, hg. v. Werner Greiling u. Hans-Werner Hahn, Rudolstadt und Jena 2002, S. 147 – 163.

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Jüdische Frauenemanzipation in Deutschland – Ludwig Börnes Gefährtin Jeanette Wohl

»Aber was führen Sie für ein Leben! Sie sind ja der wahre Hans Lüderlich. Konzerte, Theater, Bälle, davon höre ich schon zwei Monate sprechen, und von Ihren Fortschritten in den Wissenschaften erfahre ich nichts.«1 – Die spöttische Ermahnung Ludwig Börnes gilt dem bürgerlichen Lebensstil seiner engen Vertrauten und literarischen Nachlassverwalterin Jeanette Wohl (1783 – 1861), die aus einer wohlhabenden Frankfurter Familie jüdischen Glaubens stammte. Ihre wenig bekannte Biographie soll hier als repräsentatives Beispiel dienen für zeittypische Vorurteile, mit denen sich Frauen aus dem jüdischen Bürgertum am Beginn der Emanzipationsphase auseinandersetzen mussten. Einschränkungen begegneten ihnen bereits im familiären Bereich. Sich außerhalb des Hauses zu vergnügen, galt damals als anstößig.2 Es war schwer, sich der sozialen Kontrolle der jüdischen Gemeinden zu entziehen. Jeanette Wohls Lebensweg zeigt aber auch, welche Möglichkeiten sich Frauen eröffneten, die bereit waren, Grenzüberschreitungen zu riskieren. Emanzipation begann für sie als innere Selbstbefreiung von gesellschaftlichen Konventionen – ein Prozess, der von steten Selbstzweifeln begleitet wurde. Die Korrespondenz zwischen Jeanette Wohl und Ludwig Börne ist ein besonders schönes literarisches Zeugnis jüdischer Frauenemanzipation. Sie liefert daneben auch tiefe Einblicke in die Genese des politischen Schriftstellers Ludwig Börne.3 Dass die Lebensumstände Jeanette Wohls nahezu unbekannt geblieben sind, lässt sich auch mit einer einseitig determinierten Rezeptionsgeschichte erklären. 1 Ludwig Börne an Jeanette Wohl, Stuttgart den 14. März 1825, in: Ludwig Börne. Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. v. Inge und Peter Rippmann, 5 Bände, Düsseldorf/Darmstadt 1964/ 1968, Nachdruck Dreieich 1977, Band 4: Briefe, S. 740. 2 Simone Lässig, Religiöse Modernisierung, Geschlechterdiskurs und kulturelle Verbürgerlichung. Das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert, in: Kirsten Heinsohn/Stefanie SchülerSpringorum (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 46 – 87, hier : S. 67. 3 Vgl den ersten Band einer geplanten kritischen Neuausgabe des bislang nur unvollständig und unkommentiert edierten Briefwechsels: Ludwig Börne – Jeanette Wohl. Briefwechsel, Band 1 (1818 – 1824), hrsg. v. Renate Heuer und Andreas Schulz, Berlin 2012.

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Selbst kenntnisreiche Spezialisten finden bis heute Gefallen daran, Börnes vermeintlicher »Muse« ein Verhaltensklischee zuzuweisen, das ihrer tatsächlichen Rolle in keiner Weise gerecht wird.4 Bis heute reproduziert die biographische Forschung die zum Teil skandalisierende Darstellung Heinrich Heines, die viel zum öffentlichen Bild Jeanette Wohls im 19. Jahrhundert beigetragen hat. Heine ließ sich in seiner Denkschrift über Ludwig Börne von dessen Dreiecksverhältnis mit Jeanette Wohl und ihrem späteren Ehemann Salomon Strauss inspirieren.5 Das Ehepaar Strauss war Börne in den 1830er Jahren ins Pariser Exil gefolgt und lebte in einem gemeinsamen Haushalt mit ihm. Heines Darstellung lenkte die Aufmerksamkeit auf die Intimität des Privaten, ohne Persönlichkeit und Wirken der Protagonistin zu beachten. Welchen Erkenntnisgewinn eine nähere Beschäftigung mit Jeanette Wohl auch für die Börne-Forschung verspricht, blieb lange Zeit unbeachtet. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte die Pädagogin und Schriftstellerin Elisabeth Mentzel (1848 – 1914) die literaturgeschichtliche Bedeutung der Korrespondenz Jeanette Wohls. Sie hatte sich mit Lokalforschungen zur Frankfurter Theatergeschichte und insbesondere mit Publikationen über die Familie Goethe einen Namen gemacht. Ihre Anthologie von Briefen6 Jeanette Wohls an Börne ermöglichte eine bruchstückhafte Rekonstruktion des Dialogs zwischen zwei gebildeten Beobachtern der Restaurationsepoche in Europa. Eine Neuentdeckung ließ dann lange auf sich warten: Im Kontext der Genderforschung wurde Jeanette Wohls Lebensweg mit Blick auf die Emanzipationsgeschichte jüdischer Frauen in Deutschland endlich auch um seiner selbst willen betrachtet.7 Ungeachtet neuer Perspektiven, die sich dadurch eröffnen, bleiben Jeanette Wohls und Ludwig Börnes Biographien eng verflochten. So, wie sie aktiven Anteil an seiner Karriere als prominenter politischer Schriftsteller nahm, so groß war sein Einfluss auf die Freundin, als diese sich aus den beengten Verhältnissen ihres Herkunftsmilieus zu lösen begann.8 Jeanette Wohl erlebte von Kindheit an, wie Religion und Tradition ein jüdi4 So ausgerechnet Inge Rippmann als Herausgeberin eines im Fischer-Taschenbuchverlag erschienenen populärwissenschaftlichen »Lesebuchs«, das kein Deutungssterotyp vermeidet: Inge Rippmann (Hg.), Ludwig Börne. Das große Lesebuch, Frankfurt am Main 2012, darin: »Die bekannte Freyheitsgöttin«, Börne und seine Muse, S. 39 – 57. 5 Heinrich Heine über Ludwig Börne, Hamburg 1840, S. 31 f. 6 Mentzel, Elisabeth: Briefe von Frau Jeanette Strauß-Wohl an Ludwig Börne, Berlin 1907; vgl. auch Mentzel, Elisabeth/Julia V. Scheuermann: Frankfurt und seine Frauen, in: FrauenRundschau, 1907/8, S. 341 – 395, und Dieselbe, Frau Rath Goethe. Ein Lebensbild, Frankfurt am Main 1908. 7 Vgl. Christa Walz, Jeanette Wohl und Ludwig Börne. Dokumentation und Analyse des Briefwechsels, Frankfurt am Main 2001. 8 Vgl. dazu: Andreas Schulz, Der Briefwechsel und die Erfindung des »Zeitschriftstellers« Ludwig Börne, in: Derselbe/Renate Heuer (Hg.), Ludwig Börne (wie Anm. 3), S. XIII – LIII.

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sches Familienleben von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus bestimmten. Als ihr Vater 1793 starb, verweigerte ihm die jüdische Gemeinde Frankfurts ein ehrenvolles Begräbnis. Dabei handelte es sich um eine Familie, die seit dem 17. Jahrhundert in Frankfurt ansässig war und deren Oberhaupt Wolf David Wohl als vermögender »Wechseljude« zu den angesehensten Mitgliedern der Gemeinde zählte. Die gerade zehnjährige Jeanette musste mit ansehen, wie der Vater an einer entlegenen Stelle des Judenfriedhofes im Umfeld von Selbstmördern beerdigt wurde. Offenbar hatte sich Wolf David zu Lebzeiten zu weit von den normativen Regeln des Judentums entfernt und galt daher als »Abtrünniger«. Jeanette Wohl aber erlebte kurz darauf, dass es Mittel und Wege gab, sich der Autorität des Rabbiners und der Gemeinde zu widersetzen. Ihrer Mutter Merle gelang es nämlich, bei der Frankfurter Stadtregierung eine Umbettung des Vaters und ein ehrenvolles Begräbnis zu erwirken. Bei der Abfassung der in Hochdeutsch gehaltenen Schriftstücke hatte sich die Witwe Wohl vermutlich der Hilfe gebildeter Ratgeber aus der eigenen Familie oder dem Bekanntenkreis bedient.9 Der persönliche Mut zur Auflehnung und die Durchsetzungskraft der Mutter dürften Jeanette Wohl tief beeindruckt haben. Auch im Weiteren agierte Merle Wohl geschickt und umsichtig, wobei ihr das hinterlassene Vermögen ihres Mannes vieles erleichterte. Jeanette wurde wie ihre drei Schwestern Fanny, Henriette und Therese im Sinne der Tradition gut jüdisch verheiratet – vor allem die angeheirateten Verwandten Rindskopf und Stern waren vermögende und gebildete Juden. Allerdings verlief die 1805 geschlossene Ehe Jeanettes mit dem wohlhabenden Frankfurter Juden Leopold Heinrich Oppenheimer unglücklich. Nach neun Ehejahren ließ sie sich wieder scheiden, wobei die näheren Umstände – womöglich Kinderlosigkeit – im Dunkeln bleiben. Verbürgt ist dagegen, dass Jeanette Wohl die Scheidung gegen den »heftigen Widerstand der Mutter« vollzog.10 Dabei gelang es ihr sogar, die Rückzahlung der Mitgift von 20.000 Gulden zu erwirken. Sie kehrte ins Elternhaus zurück und nahm wieder ihren Mädchennamen an. Jeanette Wohl bewies in ihrer Scheidungsaffäre ähnliche Entschlusskraft wie vormals ihre Mutter, indem sie sich gegen die Autorität der Familie letztlich durchsetzte. Dass sie danach fast zwei Jahrzehnte ledig blieb und später eine skandalträchtige m¦nage — trois einging, unterstreicht ihren Willen, ein selbstbestimmtes Privatleben zu führen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich Jeanette Wohl vollständig aus dem Einflussfeld von Religion und Judentum gelöst hätte. Ihr kompliziertes Ver9 Renate Heuer rekonstruierte den Fall aus der älteren stadtgeschichtlichen Literatur und den im Institut für Stadtgeschichte überlieferten Akten: Ludwig Börne, Jeanette Wohl und das Frankfurter Judentum, in: Dieselbe/Andreas Schulz (Hg.), Ludwig Börne (wie Anm. 3), S. LIII – LXIX. 10 Ebenda, S. LVI.

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hältnis zu Ludwig Börne ist dafür der beste Beleg. Dass die von beiden lange Zeit ernsthaft erwogenen Heiratspläne am Ende scheiterten, ist wahrscheinlich das Resultat einer Abwägung gewesen, die Jeanette zwischen innerer Neigung und normativen Zwängen zu treffen hatte. Börne war ein erfolgreicher Schriftsteller, der sein Talent aber gegenüber seinem Verleger Cotta schlecht vermarktete. Deshalb lebte er bis zum Antritt des väterlichen Erbes in prekärer finanzieller Abhängigkeit und konnte Jeanette keine materielle Sicherheit bieten. Schwerer noch wog sicherlich die Tatsache der Abkehr vom jüdischen Glauben, den Ludwig Börne nicht nur äußerlich vollzogen hatte. Er entwickelte sich zum radikalen Freigeist, der für seine früheren Glaubensgenossen mehr Spott als Verständnis übrig hatte und überhaupt jegliche Form extrovertierter Frömmigkeit, ob jüdisch oder katholisch, zutiefst verachtete. Von einer im Glauben erzogenen Jüdin wie Jeanette Wohl wurde dagegen erwartet, dass sie als »Priesterin des Hauses« aktiv für die Bewahrung von Religion und Brauchtum eintrat11 – eine familiäre Rollenzuweisung, über die sich Börne liebevoll-spöttisch mokierte, an deren Verbindlichkeit er aber in eigener Sache am Ende scheiterte. Jeanettes Mutter war nämlich nicht nur in der Frage der Eheschließung ihrer vier Töchter – die alle in jüdische Familien einheirateten – die maßgebliche Instanz, sie war auch für die Bewahrung der jüdischen Identität der Familie verantwortlich.12 Jeanette Wohl bewegte sich wie viele ihrer jüdischen Geschlechtsgenossinnen in einer Zwischenwelt. Sie fühlte sich einerseits ihrer jüdischen Herkunft und der familiär gelebten Glaubenspraxis verbunden. Unübersehbar attraktiv wirkte auf sie andererseits die Autonomie eines bürgerlichen Lebensentwurfs, wie ihn Ludwig Börne verkörperte. Ihre Reaktionen auf Börnes Lebenswelt bringen die jüdische Ambivalenzerfahrung des großen Umbruchs der Emanzipationsepoche treffend zum Ausdruck. Jeanette Wohl war gewissermaßen in zwei Sphären zu Hause, in einer sakral-familiären, die von der jüdischen Tradition bestimmt war, und im weltlich-bürgerlich geprägten Milieu ihres städtischen Umfeldes.13 Sie teilte früh den bürgerlichen Lebensstil emanzipierter Jüdinnen, hielt aber zugleich an der jüdischen Familientradition fest. Ihre Korrespondenz mit Börne macht sehr deutlich, dass bei aller Übereinstimmung in vielen Lebensfragen der jüdische Glaube eine kulturelle Schranke zwischen beiden markierte. Das Festhalten emanzipationswilliger Juden an der Glaubenspraxis stellte für den sozialen Verkehr mit Nichtjuden insofern kein Hindernis mehr dar, als sich 11 Paula E. Hyman, Muster der Modernisierung. Jüdische Frauen in Deutschland und Russland, in: Heinsohn/Schüler-Springorum (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte (wie Anm. 2), S. 25 – 46, hier S. 30 f. 12 Walz, Jeanette Wohl (wie Anm.7), S. 64 f. 13 Zu dieser Ambivalenz der Verbürgerlichung vgl. Lässig, Modernisierung (wie Anm. 2), S. 58 f.

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die Formen der Religiosität diversifizierten. Religion und Tradition wurden verstärkt im Kreis der Familie gepflegt, während sich das Reformjudentum gleichzeitig der bürgerlichen Kultur öffnete. Ihre Akkulturation stieß dabei an Grenzen, solange die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft die Aufgabe jüdischer Identität als Vorbedingung der Gleichstellung voraussetzte. Obwohl der aufgeklärte Emanzipationsdiskurs seit dem 18. Jahrhundert gerade in Deutschland auf große Resonanz stieß, blieben die praktischen Fortschritte zunächst gering. So zeigte das preußische Reformedikt von 1812 kaum Wirkung, zumal nach dem Wiener Kongress eine Verschlechterung der Rechtsposition der jüdischen Bevölkerung eintrat.14 Artikel 16 der Bundesakte delegierte die Verantwortung für die Gleichstellung der Juden wieder an die Einzelstaaten des Bundes. Die Reichsstadt Frankfurt beeilte sich, zu den alten Verhältnissen der »Judenstättigkeit« zurückzukehren – wogegen Ludwig Börnes Vater in Wien als Vertreter jüdischer Interessen vergeblich remonstrierte.15 Die vom Senat erlassene »Constitutions-Ergänzungs-Acte« verwehrte den Frankfurter Juden jedoch das städtische Bürgerrecht und damit alle politischen Rechte. Es sollte bis 1824 dauern, bis »auf massiven Druck des Bundestages« Juden wenigstens als »israelitische Bürger« anerkannt und der diskriminierende Status von Beisassen und Schutzjuden aufgehoben wurde.16 Andere Beschränkungen hinsichtlich der Freizügigkeit, des Immobilienerwerbs oder der Gewerbefreiheit jüdischer Einwohner blieben dagegen bestehen. Die Erlaubnis jüdischer Eheschließungen wurde auf fünfzehn Heiraten jährlich beschränkt, wodurch die Zahl der ansässigen jüdischen Familien auf maximal 500 begrenzt werden sollte. Dahinter stand die Befürchtung, Frankfurt könnte »Judenstadt« und ein »neues Jerusalem« werden.17 Aus wirtschaftlicher Konkurrenzangst resultierende antisemitische Einstellungen wie diese waren im kleingewerblichen Milieu Frankfurts weit verbreitet. Sie fanden aber auch in der politisch verfassten Bürgerschaft und im Senat Resonanz. Ludwig Börne, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung sein Amt im Polizeidienst der Stadt quittieren musste, blieb seiner Vaterstadt von da an in inniger Abneigung treu verbunden. Sein Abschied symbolisierte das Schicksal der letzten voremanzipatorischen Generation der »Ghettojuden«, denn die Stadt Frankfurt markierte noch immer einen inzwischen wesentlich ausgedehnten »Rayon«, welcher der 14 Friedrich Battenberg, Der lange Weg zur Emanzipation der Juden in den hessischen Ländern, in: Irene A. Diekmann (Hg.), Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu »Einländern« und preußischen Staatsbürgern«, Berlin 2013, S. 143 – 167. 15 Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013, S. 74. 16 Dietmar Preissler, Frühantisemitismus in der Freien Stadt Frankfurt und im Großherzogtum Hessen (1810 bis 1860), Heidelberg 1989, S. 96 f. 17 Ebenda, S. 91.

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jüdischen Bevölkerung zugewiesen war. Auch konvertierte Juden, die das Staatsbürgerrecht ihrer Vaterstadt annehmen wollten, wurden bis 1831 wie Ausländer behandelt, solange sie keinen Vermögensnachweis über 5000 Gulden beibringen konnten. Ludwig Börne äußerte sich in der Korrespondenz mit Jeanette Wohl bitter über das antisemitische Vorurteil seiner Zeitgenossen, das ihn selbst nach dem Übertritt zum protestantischen Glauben hartnäckig verfolgte. Trotz fortdauernder Einschränkungen konnten sich die jüdischen Familien Frankfurts insgesamt freier bewegen als noch im 18. Jahrhundert. Grund zur Zuversicht gaben ihnen die politischen Debatten der süddeutschen Landtage Bayerns, Württembergs, Badens und Hessens, in denen die rechtliche Gleichstellung der Juden auf der Tagesordnung stand. Jeanette Wohls Briefe an Ludwig Börne zeugen von einer gewissen Aufbruchstimmung, die ihr Partner allerdings als von der Zensur verfolgter Schriftsteller nur begrenzt teilen konnte. Beide beurteilten die Perspektiven des Judentums in Deutschland unterschiedlich. Während Jeanette Wohl konkrete Verbesserungen im Alltag erwartete, verspürte Börne den Erwartungsdruck, sich entweder zur deutschen Nation oder zum Judentum bekennen zu müssen. Nicht zuletzt diese Zwangslage hatte ihn zur Konversion bewogen. Mit Sorge beobachtete er zudem, dass die Frage der Judenemanzipation als zweckrationaler Prinzipiendiskurs geführt wurde. Unter veränderten Vorzeichen aber kehrte das antisemitische Vorurteil mit neuen Typisierungen wieder. Es zielte nun auf die Nationalität und Rasse des Judentums. Eine Konsequenz dieser Ethno-Anthropologisierung war die prägende Erfahrung, dass er selbst als getaufter Neuprotestant der »ewige Jude« Baruch blieb. Anders als Börne hatte sich Jeanette Wohl nicht vom Judentum als Religionsund Lebensgemeinschaft gelöst. In ihrer jüdisch-orthodoxen Umgebung emotional fest verankert, eröffnete sie sich neue Lebensperspektiven durch Bildung. Als unverheiratete und kinderlose jüdische Frau verfügte sie über deutlich größere Freiräume als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Sie repräsentierte einen Frauentypus, der weder dem orthodox-traditionellen noch dem Reformjudentum zuzurechnen war – wobei solch eindeutige Kategorisierungen angesichts der neu entstandenen Vielfalt der Lebensmöglichkeiten in der Emanzipationsepoche kaum angemessen sind. Jeanette Wohl konnte die religiöse Alltagspraxis des Familienlebens ohne weiteres mit ihrem ausgeprägten Bildungsstreben verbinden. Sie pflegte einen vielseitigen und abwechslungsreichen Lebensstil, der mit der Geselligkeitspraxis des gebildeten Bürgertums vergleichbar ist. So besuchte sie regelmäßig die Freitagabendkonzerte der Frankfurter Museumsgesellschaft. Das Museumsorchester brachte unter den Opern- und Musikdirektoren Louis Spohr (1784 – 1859) und Carl Guhr (1787 – 1848) sämtliche Sinfonien Beethovens zur Aufführung. Die Museumskonzerte

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trugen erheblich zur Etablierung des klassischen Opernrepertoires in Deutschland bei.18 Jeanette Wohl teilte das Urteil »aller Kenner«, zu denen sie sich selbstbewusst zählte, über die Qualität der Frankfurter Konzertkultur. Sie berichtete Börne im Dezember 1821, das Museumsorchester sei »unstreitig das Beste nicht allein in ganz Deutschland, sondern das nur gehört werden kann«.19 Spohrs Weggang nach Kassel, der 1822 von Wilhelm II. (1777 – 1848) zum Kapellmeister des Kurfürstlichen Hoftheaters berufen wurde, kommentierte sie sachverständig, indem sie die kulturpolitische Bedeutung fürstlicher Kunst- und Wissenschaftsförderung erörterte.20 Sie äußerte sich auch detaillierter über die ästhetische Qualität künstlerischer Darbietungen, so etwa, wenn sie das »Musikalische[n] Talent« des »kleine[n] [Ferdinand] Hiller [1811 – 1885]« beschrieb, der bei einer Mozartaufführung im Museum das verwöhnte Frankfurter Publikum in Erstaunen versetzte: »Ein Judenbub soll so spielen!«21 Wohl deutete damit an, dass es für das Frankfurter Bürgertum keineswegs selbstverständlich war, wenn ein Kind aus jüdischer Familie über musikalische Bildung verfügte. Auch sie selbst hatte eine musikalische Erziehung genossen, wie zahlreiche Briefstellen belegen. Mitte der 1820er Jahre scheinen Konzertbesuche in der Museumsgesellschaft Gewohnheit, wenn nicht gesellschaftliche Verpflichtung geworden zu sein: »Heute gibt [Johann Nepomuk] Hummel [1778 – 1837] ein Konzert, ich muß mitgehen«.22 Selbst Reisen in benachbarte Städte wurden geplant, so in das neu erbaute Darmstädter Hoftheater, wo am 4. November 1821 Don Giovanni gespielt wurde. Mozarts Opernaufführungen gaben regelmäßig Anlass zu intensiver Erörterung, die Kenntnis der Zauberflöte wurde als bürgerliches Bildungswissen selbstverständlich vorausgesetzt. Jeanette Wohls anspielungsreiche Briefe zeigen überhaupt eine große Vertrautheit mit dem zeitgenössischen Opernrepertoire. In der Musik fühlte sie sich Börnes ästhetischem Urteilsvermögen mehr als gewachsen und ließ ihn das auch spüren.23 Jeanette Wohl verlieh ihren Empfindungen über »den himmlischen Genuß, den eine Mozartische Oper 18 William Weber, Die Entwicklung des klassischen Repertoires in Frankfurt und anderen europäischen Städten von 1808 bis 1870, in: Chr. Thorau/A. Odenkirchen/P. Ackermann (Hg.), Musik – Bürger – Stadt. Konzertleben und musikalisches Hören im historischen Wandel. 200 Jahre Frankfurter Museums-Gesellschaft, Regensburg 2011, S. 101 – 119. 19 Heuer/Schulz (Hg.), Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 341. 20 Ebenda, Frankfurt 20., 21. und 22. Januar 1822, S. 402. 21 Ebenda, Frankfurt 17. Februar 1822, S. 433. Vgl. zum Geniekult Camilla Bork, Das Wunderbare und der Virtuose – zu einem Topos des musikkritischen Diskurses im frühen 19. Jahrhundert, in: 200 Jahre Museums-Gesellschaft (wie Anm. 18), 229 – 253. 22 Mentzel, Briefe (wie Anm. 6), S. 109 [28. Februar 1825]. 23 So ihre ironische Replik auf Börnes Urteil über Mozarts Titus, dessen Aufführung unterschiedliche Reaktionen hervorrief: »Merken Sie sichs, damit sie nicht ausgelacht werden, im Titus ist auch das erste Finale ganz herrlich, und in anderem Sinne als Sie sagen, Sie unmusikalischer Mensch!«; Heuer/Schulz (Hg.), Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 236.

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giebt« beredten Ausdruck24. Meist entsprach ihr eigenes Empfinden dem Kunstgeschmack ihrer Zeit. Zuweilen setzte sich aber auch selbstbewusst über Konventionen des Opernpublikums hinweg. Die aufkommende Rossini-Begeisterung beispielsweise mochte sie nicht teilen: »Ich war vorgestern in der Rossinischen=Oper, Die Diebische Elster. Das ist der erbärmlichste Unsinn der jemals noch gedichtet und gesungen worden ist.«25 Die dezidierten Werturteile der Korrespondenz reflektieren den zeitgenössischen Bildungsdiskurs. Börnes Theater- und Opern-Rezensionen, die er regelmäßig für Cottas vielgelesenes Morgenblatt für gebildete Stände verfasste, förderten die Selektion eines Kanons klassischer Kunstwerke.26 Er und auch Jeanette Wohl waren damit Teil einer breiten bürgerlichen Kulturbewegung, die sich über das Kunsterlebnis vergemeinschaftete und dadurch zugleich als neue Bildungsschicht abgrenzte. In den 1820/1830er Jahren zog insbesondere die Theaterleidenschaft weite Kreise des Publikums in den Bann. Das Frankfurter Schauspielhaus, das Jeanette häufig besuchte, erfreute sich großen Zulaufs. Unter seinem Direktor, dem Lustspieldichter Karl Balthasar Malss (1792 – 1848), entwickelte sich die Frankfurter »Nationalbühne« zur »Volksbühne«.27 Unterhaltsam und zugleich moralisch belehrend kam sie der bürgerlichen Idealvorstellung einer nationalen Bildungsanstalt für das ganze Volk sehr nahe. Malss gelang mit seiner in Frankfurter Mundart verfassten Posse Die Entführung oder der alte Bürger-Capitain ein großer Publikumserfolg, den auch die Theaterkritik würdigte. Obwohl von der Zensur bedroht, spielte das Stück erfolgreich auf die Frankfurter Lokalpolitik an. Das Theater präsentierte sich als eine öffentliche Arena politischer Konversation, zu der auch Frauen Zugang fanden. Eine zeitkritische Regie konfrontierte das Publikum mit Typen und Charakteren der gesellschaftlichen »Wirklichkeit«. Die Schauspielkunst orientierte sich zunehmend am Gebot einer innengeleiteten »Natürlichkeit« statt am deklamatorischen Pathos traditionaler Aufführungspraxis. Jeanette Wohl, die kaum eine Neuinszenierung versäumte, bestärkte Ludwig Börne in seiner Absicht, die neuen Regie- und Darstellungsprinzipien als Maßstab zeitgenössischen Theaters zu etablieren. Ihre Korrespondenz ist in einem Insider-Modus gehalten, der breites Bildungswissen über einzelne Bühnenorte und spezielle Inszenierungen, Intendantenwechsel und Schauspielerkarrieren offenbart. Sowohl klassische Werke als auch zeitgenössische 24 Frankfurt, 2. November 1821; ebenda, S. 260. 25 Frankfurt, 16./23. November 1821; ebenda, S. 288. 26 Vgl. etwa Börnes Beteiligung an der Diskussion um eine »deutsche Oper«, die aus Anlass der Uraufführung von Carl Maria von Webers »Freischütz« entstand, in: Morgenblatt Nr. 106 vom 3. Mai 1822. 27 Bernhard Frank, Die erste Frankfurter Theater AG (1792 – 1842) in ihrer Entwicklung von der »Nationalbühne« zur »Frankfurter Volksbühne«, Frankfurt am Main 1967, S. 38 f.

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Aufführungen sind Gegenstand eines anspielungsreichen Dialogs über Musik und bildende Kunst. Dieser schließt jederzeit Kritik am bürgerlichen Bildungsdiskurs ein, der in den Feuilletons der Gazetten geführt wurde. Es geht dabei nicht allein um den Kunstgenuss als solchen oder um einzelne Werke, sondern um allgemeine Bewertungsmaßstäbe der Kritik zum Zwecke der Bildung des ästhetischen Urteilsvermögens des gebildeten Publikums.28 Börne repräsentierte einen für das neue Bildungsbürgertum kennzeichnenden elitären Selektionswillen, der zwischen Kunst und Publikumsunterhaltung differenziert: »Also Sie haben die diebische Elster29 kennen gelernt? Was sagen Sie zu dem Unsinn? […] Rossini ist der Kotzebue der Musik, […], denn in der musikalischen wie in der literarischen, wie in jeder Welt, ist die Menge dumm.«30 Jeanette Wohl – die, wie gesehen, über Rossini ähnlich urteilte – ist intensiv eingebunden in Börnes öffentliche Kunstkritik. Sie übernimmt die Rolle des kunstverständigen Korrektivs gegenüber seiner expressiven Rezensionspraxis. Ihre Interventionen setzen eine intensive Kenntnis bürgerlicher Bildungspräferenzen voraus. Sie begleitet Börnes immer wieder von Schaffenskrisen unterbrochenen Prozess des Schreibens mit kritischen Anmerkungen. Jeanette Wohls Kommentare unterstützen den Arbeitsprozess, treiben Börne voran und richten den gesundheitlich labilen Autor immer wieder moralisch auf. Ihre präzisen Vorschläge orchestrieren die Genese der Werke ihres Vertrauten. Neben einer nicht nur rezeptiven musikalischen Bildung – sie spielte Klavier31 – verfügte Jeanette über fundierte Literaturkenntnisse, die sie sich im Selbststudium aneignete. Über den Frankfurter Buchhändler Johann David Sauerländer (1789 – 1869) versorgte sie sich mit Neuerscheinungen und teilte ihre Leseeindrücke Börne sogleich in ihren Briefen mit. Sauerländer belieferte auch Börne, den er 1819 für die Zeitung der freien Stadt Frankfurt als Redakteur engagiert hatte. Beide teilten eine große Begeisterung für Walter Scott, den wohl populärsten unter den zeitgenössischen Autoren der 1820er Jahre. Jeanette Wohl hatte die bei Sauerländer erschienenen Übersetzungen kurz nach der Veröffentlichung bereits gelesen. So empfahl sie Börne im Dezember 1821 Walter Scotts Kenilworth zur Lektüre, dessen englische Originalausgabe im selben Jahr erschienen war. Börne teilte zumindest die Empfindungen, die der Romantiker bei seiner Partnerin auslöste. Er zeigte sich fasziniert von Scotts Schilderungen der »lebendigen[n] Menschennatur«. Sein Werk repräsentierte für ihn den In28 Vgl. exemplarisch die Briefe Nr. 81 und Nr. 115 in: Heuer/Schulz (Hg.), Briefwechsel (wie Anm. 3). 29 La gazza ladra (1817), Oper von Rossini. 30 Brief vom 22. November 1821, in: Heuer/Schulz (Hg.), Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 299. 31 Vgl. Ludwig Börnes Tagebucheintrag vom 13. Januar 1817, der von einer Begegnung bei Jeanette Wohl berichtet, in: Ludwig Börne. Sämtliche Schriften (wie Anm. 1), hier: Bd. 1, S. 195.

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begriff des historischen Romans, die dichterische Verarbeitung der Menschheitsgeschichte schien ihm unübertrefflich.32 Auch Jeanette Wohl rezipierte den populären Stoff keineswegs naiv. Sie interessierte sich ebenso wie Börne für die Art der Darstellung historischer Akteure wie Maria Stuart, das heißt, sie differenzierte stets zwischen historischem Stoff und literarischer Erzählung.33 Es entwickelte sich ein ästhetischer Dialog über Scotts »Charactere«, der in Auszügen dem Briefwechsel entnommen und zur Rezension für Cottas Morgenblatt präpariert wurde. Beide trugen damit zur Popularisierung des schottischen Romanciers in Deutschland bei. Zum Kernbestand des Bildungswissens, das sich Jeanette Wohl selbständig aneignete, gehörten Shakespeares Dramen. An ihm maß sie alle anderen, auch zeitgenössische Autoren. Zu den häufiger zitierten Referenzwerken zählte auch die Literatur der europäischen Aufklärung, vor allem Rousseau, dessen Hauptwerke sie alle kannte. Ihre Lektüre schloss selbstverständlich die Autoren des Sturm und Drang ein. Jeanette Wohl wünschte sich die von Christian Gottfried Körner herausgegebene Erstausgabe von Friedrich Schillers sämmtlichen Werken in zwölf Bänden (1812 – 1815), die ihr Börne 1818 prompt besorgte; sie bewunderte und rezitierte Goethe, dessen kanonische Geltung ihrem Gefährten Börne bekanntlich innere Abneigung verursachte.34 Obgleich Jeanette Wohl nicht ganz frei war vom elitären Bildungsdünkel ihres Briefpartners, schätzte sie auch populäre Schriftsteller. August von Kotzebue und die Lustspiele des lokalen Volksdichters Karl B. Malss waren bevorzugte Themen bürgerlicher und vor allem auch weiblicher Konversation. Jeanette Wohls Rezeptionsverhalten orientierte sich primär am Emanzipationsbedürfnis ihres lokalen Sozialmilieus. Jüdische Frauen suchten und fanden den Kontakt zum Bürgertum im Gespräch mit Gleichgesinnten (Frauen) über kulturelle Gemeinschaftserlebnisse, die der Besuch von Schauspiel, Oper und Konzertleben, vor allem aber der Austausch über Literatur ermöglichte. Ludwig Börne urteilte dagegen vergleichsweise selektiv. Sein Bildungsverhalten war von professionellen Interessen geleitet und insofern instrumentell, als er den Status einer nationalen Instanz öffentlicher Kunstkritik beanspruchte und sich als oppositioneller Publizist verstand. Jeanette Wohls Bildungsinteresse beschränkte sich nicht auf die schönen Künste. Sie befreite sich von geschlechtsspezifischen Konventionen, ihr Rezeptionsverhalten war keineswegs einseitig auf die Entwicklung weiblicher Empfindsamkeit und Herzensbildung ausgelegt. Sie äußerte sich zur großen Politik, wenn auch unter dem impliziten Vorbehalt, hier weniger kompetent zu 32 Brief vom 11. April 1822, in: Heuer/Schulz (Hg.), Briefe (wie Anm. 3), S. 495 f. 33 Brief vom 13. April 1822, in: ebenda, S. 499. 34 Dezidiert in seinem Brief vom 11. September 1819: »Seine Bilder kalt wie Marmor, seine Empfindung nur künstlerisch, so vornehm lächelnd, so herablassend zu den Gefühlen unserer niederen Brust!«; ebenda, S. 11.

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sein als ihr prominenter Korrespondent. Zu ihrem Alltag gehörte die regelmäßige Lektüre politischer Gazetten wie die bei Sauerländer verlegte Frankfurter Ober-Postamtszeitung. Bei dem Frankfurter Verlagsdrucker und Buchhändler in der Großen Sandgasse 8 war sie feste Kundin, zumal sich Börne über sie bei Sauerländer mit Lesestoff versorgen ließ. Das Verlagsprogramm bot ihr neben den von Jeanette Wohl bevorzugten Übersetzungen Walter Scotts auch politische und wissenschaftliche Werke. Sie interessierte sich beispielsweise für die deutsche Ausgabe von Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire.35 Die zweibändige, 1824 erschienene Übersetzung von F. A. Mignets Histoire de la R¦volution FranÅaise hatte sie im Juli 1825 bereits gelesen, obgleich die Lektüre ihr »kein besonderes Vergnügen« bereitete, »weil mir nichts neu und alles bekannt darin ist.«36 Ihr Wissenshorizont schloss offenbar die Geschichte der Französischen Revolution ganz selbstverständlich ein. Ludwig Börne fand daher während des Exils in Jeanette Wohl nicht nur eine verständnisvolle Rezipientin seiner Briefe aus Paris, sondern auch eine kompetente publizistische Beraterin, die sich über die politische Relevanz des darin enthaltenen Urteils über die deutschen Zustände intellektuell völlig im Klaren war. Ihr persönlicher Anteil an der ungemein erfolgreichen Veröffentlichung der Korrespondenz ist nicht hoch genug zu bewerten. Jeanette Wohl stützte Börnes schriftstellerische Karriere und begleitete durch ihr Engagement auch dessen politischen Freiheitskampf. Ohne selbst aktiv zu werden, äußerte sie ihre Sympathie für den Philhellenismus der 1820er Jahre, der viele Frauen politisch mobilisierte. Als Jeanette Wohl am 18. Februar 1825 im Frankfurter Schauspiel eine Aufführung von Malss’ Bürger-Capitain sah37, hatte sich ihr sozialer Status merklich verändert. Börnes Theaterrezensionen waren eine Institution geworden, und auch auf Jeanette Wohl strahlte der Ruhm des Kritikers inzwischen aus. Die lokale Frankfurter Szene war auch für jüdische Frauen durchlässiger, sie selbst eine bekannte Person geworden. Dem jüdischen Publikum stand jetzt der Besuch des Frankfurter Schauspielhauses offen, wenn ihm auch noch immer separate Plätze zugewiesen wurden. Über die Teilhabe an der Bildung und kulturellen Praxis des Bürgertums wurde so auch die jüdische Einwohnerschaft gesellschaftlich integriert. Simone Lässig hat die Emanzipation der jüdischen Familien in die bürgerliche Gesellschaft treffend als Prozess der »Verbürgerlichung« qualifiziert.38 Jüdische Frauen partizipierten an dieser Entwicklung eher im Stillen. Sie emanzipierten sich auf dem Wege der Selbstbildung im Privatbereich, wie die Biographie Jeanette Wohls exemplarisch zeigt. Auf familiäre 35 36 37 38

Mentzel, Briefe (wie Anm. 6), S. 112. Ebenda, Briefe, S. 118. Ebenda, S. 106. Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 183 – 243.

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Unterstützung konnten sie kaum hoffen, zumal dann nicht, wenn sie aus konservativem Milieu kamen. Jüdischen Frauen blieb das bürgerliche Vereinswesen verschlossen, während jüdische Männer in Frankfurt die ersten eigenen Assoziationen wie die 1807 gegründete »Loge Zur aufgehenden Morgenröte« gründeten.39 Auch Ludwig Börne hatte die erniedrigende Erfahrung machen müssen, zu den Gesellschaften der gebildeten christlichen Bürger keinen Zugang zu finden. Erst 1836 entschlossen sich die Handelsleute der Casino-Gesellschaft dazu, Mitglieder der Familie Rothschild aufzunehmen, während die Frankfurter Lesegesellschaft noch drei Jahre später alle Aufnahmegesuche von Juden zurückwies. In Frankfurt am Main bestand seit Anfang 1814 ein »Allgemeiner Frauenverein für wohlthätige Zwecke«, dem Frauen aus dem wohlhabenden Bürgertum beitraten. Unter den Teilnehmerinnen finden sich prominente Namen wie Bethmann, Gontard, Brentano, de Neufville und Günderode, aber keine jüdischen Familien.40 Anders als in Berlin, Hamburg, München oder Wien gab es auch keine »Israelitischen Frauenvereine« oder gemischtkonfessionelle Vereinigungen patriotischer Frauen. Die Gründungswelle vaterländischer Wohlfahrtsvereine in der Zeit der »Befreiungskriege« stand am Beginn der Selbstorganisation und des öffentlichen Engagements von Frauen. Die Vereinstätigkeit erweiterte ihr Gesichtsfeld und schuf neue Kommunikationsnetze.41 In den vaterländischen und philhellenischen Vereinen öffnete sich Frauen ein politisches Betätigungsfeld. Jeanette Wohl kam mit der Welt der Politik nicht in Berührung, wie überhaupt ein Ausbruch aus der bürgerlichen Geschlechterordnung Frauen im beengten jüdischen Gemeindemilieu besonders schwer fiel. Von wenigen Ausnahmen abgesehen beschränkten sich jüdische Frauenvereine meist auf die Wohlfahrtspflege unter jüdischen Gemeindemitgliedern.42 Jeanette Wohls Selbstemanzipation verlief konsequenterweise in den Bahnen der bürgerlichen Gesellschaft und wurde durch das jüdisch-orthodoxe Herkunftsmilieu zusätzlich limitiert. Sie empfand das selbst so, ohne darüber zu 39 Ihr gehörte neben Börne u. a. der Maler Moritz Oppenheim und der Direktor des Philanthropin Moses Hess an; Andrea Hopp, Jüdisches Bürgertum in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 130 ff. 40 Geschichte des Frankfurter Frauenvereins 1813 – 1913, verfasst von dem Konsulenten des Vereins Rechtsanwalt Dr. Schmidt-Scharff, Frankfurt am Main 1913, S. 1 – 8. 41 Dirk A. Reder, Frauenbewegung und Nation. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813 – 1830), Köln 1998, S. 335 ff.; Ute Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt am Main 2000. 42 Rita Huber-Sperl, Bürgerliche Frauenvereine in Deutschland im »langen« 19. Jahrhundert – eine Überblicksskizze (1780 bis 1910), in: Dieselbe (Hg.), Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA, Königstein/ Ts. 2002, S. 41 – 74, hier S. 58.

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klagen. Einer der seltenen Fälle, der sie zu einer Stellungnahme provozierte, betraf die restriktive Heiratspraxis jüdischer Familien: »Man wird in der Frankfurter, besonders (in der) Judenumgebung, an vieles gewöhnt und für vieles abgestumpft, aber wie das Heiraten getrieben wird, das ist doch widersinnig und ekelhaft!«43 Dieser für Jeanette Wohl äußerst ungewöhnliche Ausbruch gegen ihr Herkunftsmilieu erklärt sich aus eigenen Erfahrungen. Den Heiratsplänen, die sie seit geraumer Zeit mit ihrem Gefährten Börne brieflich erörterte und in der Realität wieder verwarf, stand nämlich der Widerstand der Familie, vor allem ihrer Mutter unüberwindlich entgegen. Der Konvertit Ludwig Börne war keine adäquate Partie für eine um ihre Töchter besorgte jüdische Frau, die nach dem Tod ihres Mannes die letzte Instanz beim Zustandekommen einer arrangierten Ehe war. Die Macht der Verhältnisse, die hier durch die jüdische Familientradition bestimmt wurden, hinderte Ludwig Börne an der Verwirklichung seiner privaten Lebensplanung. Frustrationen in Erbschaftsangelegenheiten mit dem Vater, vor allem aber der hartnäckige Widerstand der Verwandtschaft Jeanette Wohls gegen ihre Verehelichung mit ihm, verleiteten ihn zu wiederkehrenden Invektiven gegen die jüdische Lebenswelt. Börne ließ sich bei der irritierten Freundin in zeitgenössischen Stereotypen herabsetzend über die »jüdische Nation« aus und schreckte selbst vor blankem Verbal-Antisemitismus nicht zurück. Im Kontext seiner fortgesetzten gesellschaftlichen Kränkung als getaufter »ewiger Jude Baruch« und der Zurückweisung, die er im Frankfurter Milieu und seitens der Familie Jeanettes erleben musste, wirken diese Distanzierungen verständlich. Dass seine Gefährtin bei aller kulturellen Verbürgerlichung dem jüdischen Traditionsmilieu, aus dem beide stammten, dennoch sozial eng verbunden blieb, war ein entscheidendes Hindernis ihrer Annäherung. Das ungleiche Paar war den starken Spannungen ausgesetzt, die während der Emanzipationsphase sowohl zwischen den sich separierenden Strömungen innerhalb des Judentums als auch im Verhältnis zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft auftraten. Eine christlich-jüdische Mischehe war eine Seltenheit, wie Ludwig Börne anlässlich eines Besuches in der ungeliebten Vaterstadt Ostern 1825 konstatierte: »Ich glaube, Sie sind die einzige israelitische Bürgerin in Frankfurt, die einen christlichen Staatsbürger zum Anbeter hat.«44 Zu den religiösen Milieuschranken kam noch die Einschränkung der Zahl der Eheschließungen, an denen der Senat weiter festhielt. Um die Schwierigkeiten zu umgehen, unternahm Ludwig Börne immer wieder verzweifelte Versuche, seine Partnerin aus ihren sozialen Bindungen zu lösen. Von seinem Kurort Bad Ems 43 Brief vom 30. Juli 1825 mit Einschub der Herausgeberin in Parenthese, in: Mentzel, Briefe (wie Anm. 6), S. 118. 44 Stuttgart, 10. März 1825, in: Rippmann, Schriften (wie Anm. 31), Bd. 4: Briefe, S. 730.

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aus beschwor er Jeanette Wohl, die sich im Sommer 1826 in Rüdesheim am Rhein bei Bekannten aufhielt, »nicht mehr nach Frankfurt in ihre jämmerliche Umgebung« zurückzukehren. Sie solle den Winter »in einer großen Stadt, in Berlin, in Hannover« verbringen: »Sie kennen keine Menschen. Sie haben bis jetzt nur Juden kennengelernt.«45 Die soziale Bilanz der Emanzipationsgeschichte jüdischer Frauen in der ersten Jahrhunderthälfte lässt sich nur schwer ziehen. An der keineswegs untypischen Biographie Jeanette Wohls zeigt sich die Polyvalenz scheinbar eindeutiger Entscheidungsoptionen, vor denen jüdische Bürgerinnen standen. Anders als ihr Briefpartner Ludwig Börne hatte sie einen Konfessionswechsel niemals erwogen. In Hinblick auf die Bewahrung von Glauben und Tradition gingen Männer und Frauen im jüdischen Bürgertum meist unterschiedliche Wege. Von Ausnahmen wie Rahel Levin abgesehen, wählten nur wenige jüdische Frauen den radikalen Schritt eines Konfessionswechsels. Aber auch eine partielle Akkulturation an die bürgerliche Gesellschaft fiel ihnen nicht leicht, weil sie der traditionellen Rollenzuweisung als Hüterin von jüdischer Religion und Brauchtum widersprach. Hinzu kam der fortdauernde Widerspruch zwischen rechtlicher Gleichstellung und fehlender gesellschaftlicher Anerkennung, die beide Geschlechter belastete. Selbst Konvertiten blieben, wie Börnes Fall besonders drastisch belegt, als »getaufte Juden« in der Mehrheitsgesellschaft in besonderer Weise kulturell klassifiziert. Ein Verharren in der Selbstisolation und Selbstgenügsamkeit des jüdischen Traditionsmilieus kam für Jeanette Wohl allerdings nicht in Betracht. Durch ihre enge Bekanntschaft mit Ludwig Börne war sie mit der Geselligkeitskultur des Frankfurter Bürgertums in Berührung gekommen. Ihr privater Lebensstil unterschied sich kaum noch von der Lebensweise nichtjüdischer Frankfurter Bürgerinnen. Börnes ironische Ermahnungen thematisierten dieses Abweichen von den normativen Verhaltensstandards der jüdischen Gemeinde.46 Doch blieben diese Grenzüberschreitungen Jeanette Wohls wie ihr Emanzipationsprozess überhaupt eingebettet in das soziale Netzwerk jüdischer Verwandtschafts- und Freundschaftskreise. Jeanette Wohl orientierte sich an den Verhaltensmustern der bürgerlichen Gesellschaft. Sie partizipierte an der Bildungsund Geselligkeitspraxis des Bürgertums. Ihre kulturelle Verbürgerlichung vollzog sich aber primär unter gleichgesinnten jüdischen Frauen, während sich nur spärliche soziale Kontakte ins nichtjüdische Bürgertum entwickelten. Jeanette Wohls Weg zur Emanzipation beruhte im Wesentlichen auf Selbstbildung und Unterricht im elterlichen Haus. Wie schwer ihr das Erlernen der deutschen Sprache angesichts mangelnder Gelegenheit der Kommunikation mit Nichtju45 Bad Ems, 19. Juni 1826, in: Ebenda, S. 786. 46 Vgl. das Eingangszitat dieses Beitrages.

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den noch immer fiel, zeigt die Korrespondenz mit Ludwig Börne. Obgleich ihr Schriftdeutsch fehlerhaft blieb, erschloss sich Jeanette Wohl einen weiten Bildungshorizont. Sie partizipierte an der bürgerlichen Kultur, ohne ihre soziale Verwurzelung im Judentum aufzugeben. In mancher Hinsicht entsprach auch sie den konservativen Verhaltensmustern jüdischer Frauen, die den Prozess der Akkulturation eher verzögerten.47 Um diesen Widerspruch aufzulösen, richtete sie sich in unterschiedlichen Sphären ein: der häuslich-privaten der Wahrung von Religion und Tradition, und in der Sphäre aktiver Teilhabe am öffentlichen Leben. Die Lebenswelten von jüdischen und nichtjüdischen Bürgern berührten sich lange Zeit nur im öffentlichen Raum.48 Noch am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Privatgeselligkeit meist nur in der jüdischen Binnensphäre. Emanzipation bedeutete also in erster Linie kulturelle Verbürgerlichung und setzte auch eine Modernisierung der religiösen Praxis voraus, während eine soziale Vergemeinschaftung mit dem nichtjüdischen Bürgertum kaum stattfand.49 Jeanette Wohl repräsentiert die frühemanzipatorische Generation jüdischer Frauen in Deutschland. Durch ihre Beziehung zu Ludwig Börne war sie spätestens seit der Mitte der 1820er Jahre »als Frau an seiner Seite« eine quasiöffentliche Person geworden. Was sie kommunizierte und was sie tat, hatte Einfluss weit über ihr lokales Milieu hinaus. In ihrer Rolle als literarische Beraterin eines prominenten Schriftstellers der bürgerlichen Opposition verschaffte sie sich Anerkennung. Ihr Zivilstatus – geschieden, wiederverheiratet und kinderlos – und insbesondere die Privatbeziehung zu Börne dagegen verletzte die moralischen Konventionen ihres jüdischen Herkunftsmilieus. Im Pariser Exil der 1830er Jahre vollzog Jeanette Wohl durch ihre Entscheidung für eine öffentlich skandalisierte Lebensgemeinschaft zu dritt, die sie mit ihrem zweiten Ehemann Salomon Strauss und Ludwig Börne einging, den endgültigen Bruch mit der jüdischen Familientradition. Die daraus resultierende Missachtung kompensierte sie auf ihre Art: durch die Organisation und Vollendung der Veröffentlichung von Ludwig Börnes literarischem Werk – der zentralen intellektuellen Achse ihrer persönlichen Beziehung.

47 Marion A, Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany, New York 1991, S. 64 ff. 48 Dazu Paula E. Hyman, Muster der Modernisierung. Jüdische Frauen in Deutschland und Russland, in: Heinsohn/Schüler-Springorum (Hg.), Geschlechtergeschichte (wie Anm. 2), S. 25 – 45. 49 Hopp, Bürgertum (wie Anm. 39), S. 154.

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»We were so bürgerlich!« Rekonstruktionen jüdischer Bürgerlichkeit am Beispiel Frankfurt am Main

Frankfurt am Main war die Heimat eines bedeutenden jüdischen Bürgertums. Um 1900 war die jüdische Bevölkerung dieser Stadt mehrheitlich dem Bürgertum zuzurechnen.1 Und auch in demografischer Hinsicht war dessen Stellenwert herausragend: Bis ins 20. Jahrhundert war der jüdische Bevölkerungsanteil in Frankfurt bedeutend höher als in anderen Städten. Nur Berlin hatte in absoluten Zahlen mehr jüdische Einwohner zu verzeichnen. Prozentual übertraf Frankfurt aber selbst diese Stadt. 1871 hatte ihr Anteil seinen Höchststand mit 11 Prozent der Gesamtbevölkerung erreicht – das waren damals 10.009 jüdische Einwohner –, während der prozentuale Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung Deutschlands im Jahr 1900 bei 1,04 Prozent lag.2 Judenverfolgung und Holocaust setzten dem ein jähes Ende. Am 29. März 1945 lebten in Frankfurt nur noch 140 Juden, und von »den Tausenden von Deportierten kamen lediglich 360 Personen zurück […].«3 Die Überlebenden, darunter jene, die in den dreißiger Jahren emigriert waren, blieben über alle Welt verstreut. Und so war es Mitte der neunziger Jahre eine ältere Dame in New York, die im Gespräch über jüdisches Bürgertum in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert, über innerjüdische kulturelle Wandlungsprozesse im Verlauf der Verbürgerlichung, damit zusammenhängende geistig-kulturelle Verwerfungen und

1 Vgl. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1 (1905), Nr. 4, S. 12 f.; Paul Arnsberg: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Darmstadt 1983, Bd. 1, S. 720 ff. sowie Rudolf Martin: Frankfurter Millionäre um 1910. Repr. des Jahrbuchs des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Hessen-Nassau. Berlin 1913. Die Quellen benennen Steuerleistung und Einkommen, hier angeführt als ökonomischer Beleg für bürgerliche Zugehörigkeit. 2 Vgl. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 6 (1910), Nr. 10, S. 137 – 140. Zum Reichsdurchschnitt ebd., 1 (1905), Nr. 2, S. 12. 3 Cilly Kugelmann: Juden in Frankfurt nach 1945, in: Rachel Heuberger/Helga Krohn (Hg.): Hinaus aus dem Ghetto … Juden in Frankfurt am Main 1800 – 1950. Frankfurt am Main 1988, S. 193 – 205, hier : S. 201.

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Neuorientierungen bemerkte: »Oh yes: ›bürgerlich‹ – that’s what we were! We were so ›bürgerlich‹!«4 In dieser Aussage bündelt sich einerseits die Anziehungskraft, die das Bürgertum als aufstrebende gesellschaftliche Formation des 19. Jahrhunderts auf die Angehörigen der jüdischen Minderheit ausübte. Andererseits verweist der verwendete Imperfekt darauf, wie fern und verschüttet, überlagert von der lebensgeschichtlichen Erfahrung von Verfolgung und Heimatverlust, die mit dem Bürgertum als Lebensform geknüpften Hoffnungen und Erwartungen samt des dazugehörigen Sprach- und Wortschatzes waren. Die Bilder der Vergangenheit erstehen in einer wechselseitigen Dynamik zwischen Eigenwahrnehmung und Außenperspektive, zwischen Erfahrungen von Kontinuität und Brüchen, zwischen individuellen Erinnerungsprozessen und kollektiver Geschichtspolitik.5 Wie gravierend »nachfolgende Lebensabschnitte« die Deutung der eigenen Geschichte prägen und sich die »Erinnerungen wandeln […] wie das Holz, das modert oder trocknet«6, erweist sich beim Blick auf das deutsch-jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts aus der Binnenperspektive seiner Repräsentanten im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Wenn etwa Frankfurter jüdische Bürger verschiedener Generationen in bürgerlicher Manier ihre Lebenserinnerungen verfassten, so fiel die darin vorgenommene subjektive Bewertung ihrer bürgerlichen Existenz von den jeweils gegenwärtigen Standorten verschieden aus. Ablesbar ist dies an der Anpassung der abgerufenen Erinnerungen an diese jeweiligen Umstände.7 Die tiefe Verinnerlichung der bürgerlichen Daseinsform und der an sie geknüpften Erfahrungen und Erwartungen kommt darüber hinaus darin zum Ausdruck, dass die Erinnerung an sie vor dem Hintergrund veränderter »Erfahrungsräume« und

4 So geschehen bei den Recherchen im Leo-Baeck-Institut New York 1993 zu Andrea Hopp: Jüdisches Bürgertum in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1997. Die in diesem Beitrag angeführten Personen gehören zu dem in dieser Studie untersuchten Familiennetz. 5 Vgl. etwa Johannes Fried: Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: HZ 273 (2001), S. 561 – 593, oder Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Göttingen 1999. 6 Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame: Autobiographische Erinnerung und kollektives Gedächtnis, in: Lutz Niethammer (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Frankfurt am Main 1980, S. 108 – 122, hier: 112. Zum konstruktiven Charakter von Erinnerung vgl. die grundlegenden Werke von Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin/Neuwied 1966; ders.: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967. 7 Zur »abrufbaren Erinnerung« vgl. Dorothee Wierling: Die Historikerin als Zuhörerin. Die Verfertigung von Geschichte aus Erinnerungen, in: Bernhard Strauß/Michael Geyer (Hg.), Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung. Göttingen 2006, S. 296. Zum Einfluss »späteren Wissens« ebd., S. 292.

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»Erwartungshorizonte«8 auf eine spezifische Weise funktional wurde, was sich nicht zuletzt in den mit Bürgertum und Bürgerlichkeit assoziierten Gefühlen niederschlug. Ein Beispiel hierfür ist Rudolf M. Heilbrunn (1901 – 1998), ein promovierter Jurist und Kaufmann. Ein einschneidender äußerer Impuls veranlasste ihn, seine Lebenserinnerungen bereits im mittleren Alter zu verlassen. Er tat es in dem Bewusstsein, dass die Gewissheiten seines bürgerlichen Lebens hinter ihm lagen, weswegen die gegenwärtige Situation sogar die Struktur des Erinnerungswerks vorgab: »Zehn Nachtwachen« sind nicht nur dessen Titel. Sie stehen vielmehr für die zehn Tage vom 2. bis zum 11. Dezember 1942, die Rudolf Heilbrunn im Durchgangslager Westerbork zubringen musste. Gleichzeitig sind sie der von ihm genannte Zeitpunkt der Abfassung seiner Erinnerungsschrift. Jeweils tagebuchartig eingeleitet durch Angaben zu den verstörenden Ereignissen dort, ließ Rudolf Heilbrunn eine heile Bürgerwelt in Frankfurt erstehen. Die Komposition seiner Schrift ist absichtlich dichotomisch angelegt zwischen Trauma und Nostalgie. Die Letztere, assoziiert mit Wehmut und Sehnsucht, erlaubte die Gegenwartsflucht. Darum bildet die Diskrepanz zwischen der verzweifelten gegenwärtigen Lage, aller Bürgerrechte beraubt, und einer erinnerten Vergangenheit, in der die Prinzipien der Bürgergesellschaft Rechtssicherheit und gesellschaftliche Anerkennung garantierten, das Leitmotiv seiner Lebenserzählung. Alles, was den Kontrast mildern würde, allen voran Vorkommnisse antijüdischer Zurückweisung durch die bürgerliche Bezugsgruppe, bleibt außen vor.9 Ein signifikanter Beleg für den Halt gebenden Stellenwert, den Rudolf Heilbrunn in seiner Lage der Bürgerexistenz beimaß, ist die Art und Weise der Erwähnung des vom damaligen Frankfurt aus fernen Ritualmordprozesses in Kiew 1913 sowie der Pogrome in Kischinew in den Jahren 1903 und 1905 und des familiären Diskurses hierüber in seiner autobiografischen Schrift. Es diente der erinnerungsstrategischen Bestätigung des Gegensatzes zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wenn er notierte: »Wie aus den fernsten Zeiten des Mittelalters klangen die Prozeßberichte […]. Auch die Pogrome […] zeigten, daß man in einer anderen Welt lebte als jener, wo fanati8 Über »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« als zwei historische Kategorien, die sich aus den vier Komponenten »Erfahrung«, »Raum«, »Erwartung« und »Horizont« ergeben, die für das Zusammenspiel von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verantwortlich sind, wenn von einem spezifischen Standort in der Geschichte aus Erlebnisse rezipiert und gedeutet werden, vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 349 – 375. 9 Zu Heilbrunns Rezeption von gegenwärtiger Situation versus Rückschau auf die Frankfurter Bürgerwelt vgl. Sabine Fuchs: Rudolf M. Heilbrunns »Zehn Nachtwachen« als historische Quelle, in: Rudolf M. Heilbrunn: Zehn Nachtwachen. Lebenserinnerungen. Aufgezeichnet 1943 im Durchgangslager Westerbork. Frankfurt am Main 2000, S. 9 – 18, hier S. 12.

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sierter Pöbel unter Duldung oder gar Anspornung der Behörde unschuldige Menschen wegen ihres Glaubens beraubte und totschlug. Wie war es möglich, daß in dem aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert solches geschah?«10

Der Abruf dieser Erinnerung aus der Konzentrationslagerhaft heraus beschwor den unerschütterlichen Glauben an ein Versprechen, das »Bürger« zu sein einst gewesen war. Aufklärung und Französische Revolution hatten den Anstoß zu derart umwälzenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen gegeben, dass auch die bis dahin unter diskriminierenden Sondergesetzen lebenden Juden die berechtigte Erwartung auf deren allmähliche Beseitigung hegen durften. Abgeleitet wurde diese Erwartung aus einer erweiterten Definition des Bürgerbegriffs: Um 1800 bezeichnete er im deutschen Sprachgebrauch nämlich nicht mehr ausschließlich den Rechtsstatus des Stadtbürgers, also ein ständisches Exklusivrecht, das durch Geburt erworben oder an Bewerber unter bestimmten Bedingungen verliehen worden war. Jetzt bezog er sich zunehmend auch auf die sich kristallisierende Gruppe von Bildungs- und Wirtschaftsbürgern, deren Angehörige nicht mehr nur aus dem alten Stadtbürgertum hervorgingen. Und der Begriff schloss – im Unterschied zu England und Frankreich, wo zwischen »bourgeois« und »citoyen« unterschieden wurde – den Menschen in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht mit ein, den Staatsbürger.11 Hinzu kam – und das ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig –, dass die Erweiterung des Bürgerbegriffs mit dem Ideal einer »klassenlosen Bürgergesellschaft«12 assoziiert war. Dieses Ideal stellte erstmals allen Teilen der städtischen Gesellschaft – wenn sie sich denn durch Kompetenz und Leistung als würdig erwiesen – politische und gesellschaftliche Partizipation in Aussicht. Hiervon aufgerüttelt wurden auch die Frankfurter Juden. Mit allen Kräften strebten sie deshalb danach, die genannten Vorbedingungen zu erfüllen, Teil des neuen Bürgertums zu werden und nicht zuletzt an der Ausgestaltung der stadtbürgerlichen Strukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik mitzuwirken. So heterogen in der Rückschau das Bürgertum des 19. Jahrhunderts als Gesellschaftsschicht auch erscheint, geteilt hat es einen Katalog gemeinsamer

10 Heilbrunn, Nachtwachen, S. 89. 11 Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 21 – 62, hier : S. 24 – 28. Zur Erweiterung des Begriffs »Bürger« vgl. außerdem Lothar Gall: » … ich wünschte ein Bürger zu sein«. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: HZ 245 (1987), S. 601 – 623. 12 Lothar Gall: Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ 220 (1975), S. 324 – 356. Zur Rechtslage der Frankfurter Juden im 19. Jahrhundert vgl. Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 99 – 111.

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Werte und Normen.13 Daher wurde im 19. Jahrhundert der traditionsgebundene Lebenswandel der jüdischen Minderheit zunehmend von bürgerlichen Lebensformen überlagert. Das zeigt sich beispielsweise in einem veränderten Festkalender. Parallel zum wirtschaftlichen Erfolg und zur gesellschaftlichkulturellen Annäherung erhielten jüdische Festtraditionen ein bürgerliches Gewand, und die Bereitschaft wuchs, sie durch den Festzyklus des Bürgertums zu ergänzen oder gar zu ersetzen. Weihnachten etwa, das Fest, das zum wichtigsten Ereignis im bürgerlichen Festkalender, quasi als Reflex der gefühlsbetonten Familienbezogenheit, geworden war, erfüllte auch in jüdischen Bürgerfamilien, verstärkt seit dem letzten Jahrhundertdrittel, die Funktion eines freudig erwarteten »Kinderbescherfestes«.14 Auch Familien, die sich als orthodox bezeichneten, ließen zuweilen die Weihnachtsbescherung der Kinder nicht aus.15 Die Wege ins Bürgertum erfolgten in den für Frankfurt typischen Wirtschaftssektoren im Bereich des Handels, des Finanzwesens und bestimmter »industrieller Bereiche«, dann aber zunehmend auch auf dem Gebiet bildungsbürgerlicher Professionen, speziell der Arzt- und Anwaltsberufe. Gleichzeitig blieb so der Anteil der jüdischen Minderheit in traditionell von Juden besetzten Wirtschaftszweigen wie Handel, Finanzen und freien Berufen hoch.16 Die Aufsteiger hatten mehrheitlich als Hausierer, Trödler und Geldwechsler begonnen und standen nach zwei, drei Generationen auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs als Großkaufleute, Industrielle, Ärzte und Rechtsanwälte. Literarisch verdichtet liest sich diese bürgerliche Erfolgsgeschichte bei der Schriftstellerin Vicki Baum (1888 – 1960) für die fiktive Person des Dr. Emanuel Hain so: »Es war die Zeit des liberalen Bürgertums in Deutschland. […] Das Hainische Haus […] stand in dem neuen Viertel, das an der Stelle der ehemaligen Stadtwälle von Frankfurt aufwuchs. […] Dort hinter dicken, dunklen Vorhängen, in der Obhut einer Kinderfrau aus den hessischen Bergen, wuchs Emanuel auf. […] Emanuels Kindheit war eingebettet in Ruhe und Sicherheit. […] Wann die jüdischen Feiertage waren, das 13 Zuletzt Andreas Fahrmeir : Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815 – 1850. München 2012, S. 26 f. 14 Vgl. hierzu Ingeborg Weber-Kellermann: Die Familie. Geschichte, Geschichten und Bilder. Frankfurt am Main 1989, S. 100 bzw. S. 300 – 309. 15 Beschrieben für den Kaufmann Jacob Strauss bei Nora Rosenthal (Strauss): Opus One, 6. Leo-Baeck-Institut New York, ME 532. Der Arzt Richard Koch erläuterte das so: »Wo Kinder und Dienstboten waren, war das Weihnachtsfest auch in jüdischen Familien beinah eine gebieterische Notwendigkeit, ein Elementarbedürfnis im Laufe des bürgerlichen Jahres.« Richard Koch: [Autobiographie]. Essentuki/Kaukasus 1943/44, S. 214 (ehemals Privatbesitz Dr. Rudolf M. Heilbrunn, Kaiserslautern). Allgemein hierzu Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 158 – 281. 16 Vgl. die Zahlen bei Arnold Kahn: Die berufliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Juden in Frankfurt a.M. während der Emanzipationszeit (1806 – 1866). Dissertation. Frankfurt am Main 1923.

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konnte man in Frankfurt daran erkennen, daß viele Herren mit blanken Zylinderhüten auf der Straße zu sehen waren, tugendhaft ein Gebetbuch unterm Arm. Sie gingen zum Tempel, um zu beten, erfuhr Emanuel. Er selbst wurde auch einmal zum Tempel mitgenommen, nur einmal. Sein Großvater führte ihn an der Hand […].«

Und über die Vorgeschichte: »Emanuels Vater hatte noch Rosenhain geheißen und war der Besitzer der bekannten Buchhandlung Rosenhain in der Nähe der Hauptwache gewesen, die Emanuels Großvater, Sigmund Rosenhain, aus dem Handel mit Altpapier und gebrauchten Büchern entwickelt hatte. Von dem Urgroßvater wurde berichtet, daß er noch mit dem Pack auf dem Rücken hausieren gegangen sei […].«17

Die Geschichte und das Leben Dr. Emanuel Hains enden indessen bei Vicki Baum im brennenden Shanghai des Jahre 1937, wohin es den gebildeten, musikalischen, feinfühligen Arzt, ein einsames und kärgliches Dasein fristend, als Emigranten in eine ihm völlig fremde Kultur und Sprache verschlagen hatte. Emanuel Hain ist eine Kunstfigur, nicht aber das anhand seiner geschilderte Schicksal. Ähnlich gelagert war das des Frankfurter Arztes Dr. Richard Koch (1882 – 1949), der unter Papiermangel und wenigem Licht, wenige Jahre vor seinem Tod seine Erinnerungen niederschrieb, als Emigrant in Essentuki im Kaukasus, wie die literarische Figur Emanuel Hain unter schwierigen Lebensumständen leidend.18 Gleichwohl entschloss sich Richard Koch zur Abfassung einer Autobiografie, in der eine bürgerliche Erfolgserzählung dominiert. Sie reflektierte eine bürgerliche Lebenswelt, in der neben beruflichem Vorankommen Literatur, Musik, Theater, Kunst, Reisen und Vereinsaktivitäten tragende Säulen bildeten. Die Sicht auf diese Vergangenheit fällt – anders als bei seinem jüngeren Verwandten Rudolf Heilbrunn – freilich differenziert aus. Hinweise auf persönliche Begegnungen mit antijüdischen Ressentiments, mit denen sich das jüdische Bürgertum auch in Frankfurt konfrontiert sah, fehlen bei ihm nicht. Das hing mit jenem »Erfahrungsraum« zusammen, auf den er gegen Ende seines Lebens zurückblickte, auch er längst aus dem Wirkungskreis der ihm vertrauten Bürgergesellschaft herausgestoßen und mit einem »Erwartungshorizont« konfrontiert, der eher Befürchtungen als Hoffnungen Raum ließ und die Grenzen des bisher Vorstellbaren sprengte. Bei Richard Koch hatte sich hinsichtlich der integrativen Kraft der Bürgerlichkeit früh Ernüchterung eingestellt. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mit zahlreichen gefallenen jüdischen Soldaten – aus Frankfurt allein 500 der insgesamt 12.000 Gefallenen –, unter denen sich auch sein Bruder Alfred und 17 Vicki Baum: Hotel Shanghai. Roman. Lizenzausgabe. Gütersloh 1949, S. 39 – 42. 18 Koch, Autobiographie, S. I.

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seine Vettern befanden, ebenso wie die Tatsache, dass es »nichts Ehrverletzendes« gab, »was den überlebenden jüdischen Männern nicht nachgesagt wurde«, hatten ihn – wie viele seiner Altersgenossen aus dem Frankfurter jüdischen Bürgertum – zu einer Wiederentdeckung des Judentums als Geschichte und Kultur veranlasst. Richard Koch hatte Anschluss an das Frankfurter Lehrhaus des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig gefunden. Das war, wie er in Essentuki notierte, bereits in der Weimarer Republik dem Entschluss gleichgekommen, »die allgemeine Lüge« – gemeint ist das Ausblenden bzw. Ignorieren fortbestehender antijüdischer Ressentiments – »nicht mehr länger mitzumachen, sondern mein Leben deutlich, besonders vor mir selbst, als Jude zu leben.«19 In der Emigrationssituation erschien ihm die vergangene jüdischbürgerliche Welt in Frankfurt vor diesem Hintergrund mit all ihren Ambivalenzen. Stigmatisierende Erlebnisse20 der Vergangenheit wurden angesichts ihrer nachhaltigen Relevanz für die aktuelle Situation festgehalten, nach Erklärungen für die erlebte Katastrophe suchend, sowohl für sich selbst als auch für die Kinder, denen der autobiografische Text gewidmet war.21 Seine Darstellung ist weniger nostalgisch, lässt vielmehr – bisweilen ironisch durchsetzt – Distanz erkennen. Von solcher Distanz geprägt ist beispielsweise Richard Kochs rückblickende Bewertung des bürgerlichen Vereinswesens. Der Verein war ein Kristallisationspunkt der erstrebten bürgerlichen Einheit.22 Das Vereinswesen in seinen verschiedenen Strukturierungsphasen und all seinen Facetten, vom geselligen über den Bildungs-, Kunst- und sozialreformerischen bis hin zum politischen Verein übte auf das jüdische Bürgertum eine besondere Anziehungskraft aus. Erstmals eröffnete sich ihm die Möglichkeit, ungeachtet der Herkunft ökonomisches in soziales Kapital umzusetzen, in die sich bildende bürgerliche Öffentlichkeit einzutreten und so an dem sich stetig intensivierenden Diskurs der Bürger teilzuhaben. Die Einbindung in das bürgerliche Vereinswesen erschien darum als unerlässliche Ergänzung des wirtschaftlichen Aufstiegs. 19 Koch, Autobiographie, 485 f. 20 Vgl. etwa Koch, Autobiographie, S. 108 (»Die Feindschaft glimmte wie ein unterirdisches Feuer weiter, und wer sich nicht blind machte, mußte sehen, wie bald da, bald dort eine giftige Flamme aufzüngelt«), S. 122 (die »Judenverschen« der Mitschüler wie »Der Itzig kommt geritten […]«), S. 483 f. (die Frankfurter Variet¦s, in denen die schlagkräftigste Strophe zuverlässig eine antisemitische gewesen sei, wobei die Juden »harmlos und dumm genug« gewesen seien, ebenfalls zu applaudieren). 21 Koch, Autobiographie, S. I. 22 Vgl. hierzu den grundlegenden Aufsatz von Thomas Nipperdey : Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hartmut Boockmann/Arnold Esch/Hermann Heimpel/Thomas Nipperdey/Heinrich Schmidt: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland. Göttingen 1972, S. 1 – 44.

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Vom bürgerlichen Vereinswesen gingen jedoch widersprüchliche Impulse aus, für die Richard Koch als Kronzeugen seinen Großvater Hermann Epstein (1809 – 1886) anführte. Dieser habe zu sagen gepflegt, »die Juden sollten sich klarmachen, wie weit sie es gebracht hätten, sie sollten nicht vergessen, was sie gewesen seien, […] sie sollten vorsichtig sein.« Man habe »ihn oft aufgefordert, in den Bürgerverein einzutreten. Das war eine Art Klub, ein demokratisches Gegenstück zu der aristokratischen Kasinogesellschaft, wertvoll schon allein durch seine gute Bibliothek und seine Zeitungen. Aber er wollte sich nicht dem Risiko einer schwarzen Kugel beim Ballotement aussetzen.«23 Die genannte Casino-Gesellschaft war ein typisch bürgerlicher Eliteverein, wie er in vielen anderen Städten existierte. Im Jahr 1802 gegründet, legten ihre Statuten programmatisch fest, es sei ein »unveränderlicher Grundsatz«, dass aller »aus der Verschiedenheit des Standes und Ranges entstehen könnende Zwang bei dieser Anstalt nicht stattfinden dürfe«.24 Hier versammelte sich das neue Bürgertum, um miteinander zu kommunizieren – allen voran Wirtschaftsbürger, unter ihnen jene der erst kürzlich per Verfassung rechtlich gleichgestellten verschiedenen christlichen Konfessionen. Der Aufnahme von Juden jedoch stand zunächst der Grundsatz entgegen, dass laut Statuten »die verbindlichen, stimmberechtigten und wählenden Mitglieder […] hiesige Bürger und Bürgersöhne seyn müssen«. Dadurch schieden die Juden vor ihrer privatrechtlichen Gleichstellung im Jahr 1824 sowieso aus. Im Jahr 1836 wurden schließlich die Rothschilds, die ihren Beitrittswunsch zu erkennen gegeben hatten, aufgenommen. Aber sie blieben lange eine Ausnahme.25 Angesichts solcher Erfahrungen arbeiteten jüdische Bürger parallel zu ihrer Mitgliedschaft in allgemeinen bürgerlichen Vereinen unentwegt mit am Ausbau eines jüdischbürgerlichen Vereins- und Wohltätigkeitsnetzes. Auf diese Weise trug das Prinzip der bürgerlichen Assoziation zu einer spezifischen Restrukturierung und Erneuerung der jüdischen Gemeinde bei. Im Jahr 1911 gab es in Frankfurt allein 137 jüdische Vereine und Stiftungen.26 Im Leben jüdischer Bürgerfamilien spielten beide eine Rolle: Als Mitglieder im Verein der Minderheit und dem der Mehrheit bewiesen sie Bürgersinn, stellten ihre gesellschaftliche Respektabilität unter Beweis und erwarben sich bürgerliche Reputation in Frankfurt. Das En23 Koch, Autobiographie, S. 109 f.; zum Bürgerverein, der als Revolutionsverein im Jahr 1848 gegründet worden war, vgl. Ralf Roth [Bearb.]: Quellen zum Frankfurter Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1996, S. 94. 24 Zit. bei Lothar Gall: Bürgerliche Gesellschaften und bürgerliche Gesellschaft, in: Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft – Casino-Gesellschaft von 1802. Frankfurt am Main 1995, S. 15. 25 Zu dieser Exklusionspraxis vgl. Frankfurter Jahrbücher 7 (1836), Nr. 30, S. 206. 26 Vgl. Raphael M. Kirchheim: Verzeichnis der Frankfurter jüdischen Vereine, Stiftungen und Wohltätigkeitsanstalten. Frankfurt am Main 1911.

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gagement Richard Kochs im Lehrhaus Franz Rosenzweigs kam daher keiner grundsätzlichen Abkehr von der Bürgerwelt gleich, sondern stand vielmehr für deren Übertragung in den Kontext der Minderheit. Richard Kochs älterer Cousin bzw. der Vater Rudolf Heilbrunns, der Rechtsanwalt Dr. Ludwig Heilbrunn (1870 – 1951), verfasste im Jahr 1936 eine Autobiografie, in der er seine bürgerliche Lebensgeschichte Revue passieren ließ. Als linksliberaler Politiker hatte er, wie er darin formulierte, »der Vaterstadt mit heißer Liebe gedient und ihr die beste Kraft« seiner »Arbeit dargebracht«. Von 1910 bis 1918 war er Frankfurter Stadtverordneter gewesen, von 1915 bis 1918 Mitglied des Abgeordnetenhauses (Fortschrittliche Volkspartei) und von 1919 bis 1921 Mitglied der Preußischen Verfassungsgebenden Landesversammlung (DDP), außerdem Mitglied des Kuratoriums und Ehrenbürger der Frankfurter Universität. Nun lebte er, ehe er nach England emigrierte, nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen in Kronberg im Taunus. Gewahr, wie stark sich sein soziales Umfeld reduzierte, notierte er : »Ich sehe in meiner Vereinsamung und Verarmung auf die 66 Jahre meines Lebens zurück. Die kurzen Erinnerungen habe ich niedergeschrieben, um das Gemüt ein wenig von dem Drucke der Trauer und Verzweiflung zu lösen.«27 Die Rückschau aus dieser Situation sorgte für die Rekonstruktion eines Bildes von seiner bis dahin als erfolgreich erlebten Bürgerexistenz, das auf der emotionalen Ebene mit Gefühlen der Enttäuschung, Trauer und Verunsicherung einherging. Beleg hierfür ist, dass er – der anders als Richard Koch unbeirrbar an den integrativen Bürgeridealen des 19. Jahrhunderts festgehalten hatte – nun die persönliche Konfrontation mit dem Vorurteil in Lebenssituationen erwähnte, die Kernbereiche der bürgerlichen Selbstbestätigung waren und darum als besonders verletzend empfunden werden mussten.28 Wie nachhaltig und unerschütterlich indessen sein Bewusstsein als liberalbürgerlicher Politiker dahingehend ausgeprägt war, dass Teil der Bürgergesellschaft zu sein einer Verpflichtung und einem Auftrag zu politischer Stellungnahme gleichkam, äußert sich in einer Publikation Ludwig Heilbrunns, die er mit »in den Monaten des deutschen Zusammenbruchs 1945/46« datierte und mithin im Alter von 75 Jahren verfasste. Er meldete sich aus London zu Wort, um einen Beitrag für »eine bessere deutsche Zukunft« zu leisten, beginnend mit der Erinnerung an ein Deutschland, »in dem Wissenschaft und Kunst, Handel und Industrie blühten, in dem Großstädte in mustergültiger Planung und Verwaltung aufschossen« und es »eine Lust zu leben« gewesen sei. Diese Bürgerwelt be27 Ludwig Heilbrunn: Eine Lebensskizze. Kronberg/Ts. 1936, S. 95 f. bzw. 350 (ehemals Privatbesitz Dr. Rudolf M. Heilbrunn, Kaiserslautern). 28 Heilbrunn, Lebensskizze, S. 65 f. (über Antisemitismus beim Militär) bzw. S. 130 (Agitation gegen ihn als Bürgermeisterkandidaten im Jahr 1913, bei der Heilbrunn »auch confessionelle Beweggründe« für »wahrscheinlich« hielt).

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schwor er, gerade angesichts der Erschütterung über den Holocaust, und forderte »das deutsche Volk« auf zur »Umkehr von innen«, zu den »großen Ideen des Liberalismus und Humanismus, die die Höhe seiner Kultur bedeutet hatten«.29 Wieso bei seinen Nachfahren die Bürgerideale so tief beseelend fortwirkten – bei Rudolf Heilbrunn nostalgisch beschönigend, bei Richard Koch übertragen auf den Kontext der Minderheit, bei Ludwig Heilbrunn als fortgesetzte politische Verpflichtung ungeachtet eines persönlichen tragischen Schicksals – erklärt paradigmatisch die Lebensgeschichte ihres Onkels, des Unternehmers Jacob Hermann Epstein (1838 – 1919). Die fiktive Frankfurter jüdisch-bürgerliche Aufstiegserzählung Vicki Baums war für Epstein noch persönliche Erfahrung. Diesen Schilderungen sehr ähnlich verlief der Weg der mit Epstein eng verwandten Frankfurter Buchhändlerfamilie Baer ins Bürgertum, deren »Gründergeneration« sich in ihrer bürgerlichen Würde von dem Maler Moritz Daniel Oppenheim in Öl hatte verewigen lassen.30 Folgerichtig intonierte Jacob Epstein in seinen zwischen 1908 und 1919 verfassten Erinnerungen den Aufstieg des Familienverbandes als »einen Ausschnitt aus dem wunderbaren Epos unseres Emporringens aus Niedrigkeit, Unwissenheit und Knechtschaft zu nationalem Bürgertum«: »Wahrlich, sie haben sich in glänzendster Weise aus der Sache gezogen. Wir alle haben es getan. Und wir brauchen uns der Säcke, die unseren Voreltern auf die Schultern gezwungen wurden, nicht zu schämen.«31 Als Ausdruck dessen betrachtete er in seinen Lebenserinnerungen beispielsweise seine vielseitige Vereinstätigkeit, die für ihn einen »der großen Preise des geschäftlichen Erfolgs« darstellte, einen Zutritt zu einer »anderen, höheren Welt« der Kultur.32 Und so war er, wie aus seiner Autobiografie hervorgeht, in Frankfurt Mitglied der Ortsgruppe des Bundes Deutscher Bodenreformer und des Vereins für Sozialpolitik, im Physikalischen Verein, in der jüdischen Freimaurerloge Zur aufgehenden Morgenröte, im Freien Deutschen Hochstift, im Bürgerverein und in der Museumsgesellschaft. Wie viele andere jüdische Bürger seiner Generation kam er diesen Vereinsverpflichtungen mit Begeisterung nach.33 Selbstzeugnisse wie Autobiografien und Tagebücher entstanden während des 29 Ludwig Heilbrunn: Kaiserreich, Republik, Naziherrschaft. Ein Rückblick auf die deutsche Politik 1870 – 1945. London 1947, insbesondere S. 7 f. , 105 sowie 142. 30 Vgl. Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 45 – 54, darin die Gemälde von Joseph Baer (1767 – 1851) und seiner Ehefrau Hanna, geb. Hanau (1773 – 1843), Abb. 19 und 20. 31 Jacob Hermann Epstein: Erinnerungen. 7 Teile. 1908 – 1919, 4. T., S. 73 f., 5. T., S. 62 (ehemals Privatbesitz Dr. Rudolf M Heilbrunn, Kaiserslautern). 32 Jacob Hermann Epstein: Erinnerungen. Frankfurt am Main 1908 – 1919, 3. T., S. 10 (ehemals Privatbesitz Dr. Rudolf M. Heilbrunn, Kaiserslautern). 33 Dazu Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 123 – 148.

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Kaiserreichs nicht selten einzig und allein, um für die Familie den eigenen glanzvollen Werdegang als ehrwürdiges Vermächtnis festzuhalten. Wurden Memoiren in dieser Zeit auch abgeschlossen, so verliehen sie der Genugtuung über den Verlauf der eigenen Erfolgsgeschichte beredten Ausdruck.34 Die Kategorien von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« waren dabei wie folgt besetzt: Die Vergangenheit betreffend besaßen die Verfasser die Gewissheit, nach zähem Ringen den Sonderstatus am Rande der Gesellschaft abgestreift zu haben, und auf die Zukunft blickend, rankten sich sämtliche Hoffnungen und Träume um die erreichte Bürgerlichkeit, die ihr neuer gesellschaftlicher Standort war. Jacob Epsteins Lebenserinnerungen wurden im Verwandtenkreis zur gegenseitigen Vergewisserung der gemeinsamen verbürgten Leistung herumgereicht.35 Ausgrenzende Erfahrungen im sozialen und im Erwerbsleben, die nach seinem Empfinden mit dem Versprechen des bürgerlichen Zeitalters nicht in Einklang standen, zu Jacob Epsteins Leben wie zu dem anderer jüdischer Bürger aber gleichwohl gehörten, spielen darin keine nennenswerte Rolle. Epsteins Text glich damit im Tenor vielen ähnlichen zu jener Zeit verfassten Erinnerungsdokumenten. In ihnen wurden Begegnungen mit dem antijüdischen Vorurteil häufig ausgeblendet oder zumindest nicht auf sich selbst bezogen.36 Eindrücke wie die späte Ernüchterung, die Jacob Epstein angesichts der »Judenzählung« 1916 während des Ersten Weltkriegs37 ereilte, benannte er stattdessen in seinem Tagebuch, das nicht unter den Familienangehörigen verteilt wurde. Desweiteren ist von ihm aus dem Jahr 1880 ein unveröffentlichtes Manuskript erhalten unter dem Titel »Zur Judenfrage«. Es entstand mithin zur Zeit jener ersten Krise nach der Vollendung der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheit 1869/ 71, als sich nämlich der Begriff »Antisemitismus« durchsetzte, der »Berliner Antisemitismusstreit« stattfand und Reichskanzler Otto von Bismarck die sogenannte »Antisemitenpetition« übergeben wurde, die die Rücknahme der Rechtsgleichheit der Juden forderte.38 In dieser Abhandlung Epsteins, die ausdrücklich kein Ego-Dokument zu sein beabsichtigte, daher bereits in der Form Distanz zur eigenen Person signalisierte, heißt es an einer Stelle, dann doch auf ihn selbst bezogen: »Aber Eines gelobe ich: Eher lasse ich mich wieder ins 34 So auch Monika Richarz: Jewish Social Mobility in Germany during the Time of Emancipation (1790 – 1871), in: LBI Yearbook 20 (1975), S. 69 – 77, hier : S. 69, bzw. Miriam Gebhardt, Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932. Stuttgart 1999. 35 Richard Koch hatte sogar ein Exemplar mit in die Emigration genommen. Koch, Autobiographie, S. 258. 36 Hierzu Gebhardt, Familiengedächtnis, S. 194 bzw. 196. 37 Näheres in Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 293. 38 Vgl. hierzu Walter Boehlich (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt am Main 1965.

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Ghetto sperren, als daß ich meinem deutschen Bürgerrecht entsage.«39 Eine solche Aussage verleiht dem Stellenwert, die dem mühsam, in Frankfurt erst nach mehreren Etappen und nicht ohne Rückschläge errungenen Bürgerstatus beigemessen wurde40, ebenso Ausdruck wie der Zuversicht in diese bürgerliche Existenz. Bürgertum und Bürgerlichkeit waren bei Jacob Epstein daher mit durchweg positiven Gefühlen, Stolz und Genugtuung allen voran, besetzt. Jacob Epstein starb 1919. Aber der Nachhall seines Triumphs wirkte noch auf die Generationen nach ihm. »We must understand the triumphs in order to understand the tragedy«, hat einmal der Historiker Fritz Stern die Denkweisen kommentiert, die sich in Aussagen wie den obengenannten spiegeln.41

39 Jacob Hermann Epstein, Tagebuch, 16. Mai 1916; Jacob Hermann Epstein, Zur Judenfrage. Frankfurt am Main 1880, S. 4 f. (Beide Schriften ehemals im Privatbesitz von Prof. Dr. Fred Epstein, Zürich). 40 Zum Rechtsstatus vgl. Hopp, Jüdisches Bürgertum, S. 99 – 111. 41 Fritz Stern: The Integration of Jews in Nineteenth-Century Germany. Comments on the Papers of Lamar Cecil, Reinhard Rürup and Monika Richarz, in: LBI Yearbook 20 (1975), S. 79 – 83, hier : S. 79.

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie. Mit einem Quellenanhang

Die Erfolgsgeschichte des Bürgertums im 19. Jahrhundert spiegelt sich in den Biographien Tausender Männer wider, denen aus bescheidenen Verhältnissen der soziale Aufstieg gelang und die dann auch politische und kulturelle Akzente setzten. Ihre Ambitionen reichten dabei häufig über die Mauern der Stadt hinaus, die dennoch zentraler Handlungsraum der Bürger blieb. Nicht in allen Fällen jedoch konnte der Höhenflug der »Aufsteiger« fortgesetzt oder zumindest verstetigt werden. Vielmehr gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass bereits die nächste Generation weit weniger reüssierte als jene, der der Durchbruch gelang. Dem Leistungsdruck, der auf den Bürgersöhnen lastete, waren nicht alle gewachsen.1 Zudem führten nicht wenige Bürgerwege in der zweiten Generation zu einem Selbstverständnis, das nicht die Erweiterung, sondern den Gebrauch oder gar Verbrauch des ökonomischen Potentials in den Mittelpunkt rückte. Nicht selten wurden auch alternative Existenz- bzw. Lebensformen angestrebt, beispielsweise als Künstler. In vielen Fällen überdauerte also der »erwerbsbürgerliche Impuls […] kaum die Generation der Vermögensschöpfer und Statusbegründer. Schon in der nächsten Generation begann eine distanzierte oder indifferente, primär auf Nutznießung bedachte Einstellung gegenüber den ökonomischen Grundlagen der eigenen Existenz Platz zu greifen.«2

Im Extremfall folgten das geschäftliche und persönliche Scheitern, wie etwa das Schicksal des Verlegers und liberalen Politikers Friedrich Daniel Bassermann zeigt. Bassermann war nach einer steilen politischen Karriere, die ihm unter anderem den Vorsitz im Verfassungsausschuss der Frankfurter Nationalversammlung eingebracht hatte, in den Jahren nach der Revolution von 1848/49 die 1 Vgl. Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009, S. 35. 2 Franz J. Bauer : Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert. Göttingen 1991, S. 288. Vgl. auch Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850). Göttingen 2000.

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Rückkehr in eine bürgerliche Existenz nicht geglückt. Am 29. Juli 1855, einen Tag nach dem glanzvollen Fest der Goldenen Hochzeit seiner Eltern, setzte er seinem Leben mit einem Pistolenschuss ein Ende.3 Eine weitere Variante bürgerlichen Scheiterns in der zweiten Generation erzählt die Akte über »Die Beschlagnahme des dem Buchhändler J.L.L. Wagner hieselbst zugehörigen Vermögens und die Verwaltung der Concoursmasse. 1857.1858« aus dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar.4 Sie soll in einigen Facetten ausgebreitet und in einem interessanten Ausschnitt auch ediert werden. Denn die Quellen, die im Zusammenhang mit dem aufsehenerregenden Konkursverfahren entstanden, dokumentieren nicht nur das damalige Geschehen und das Schicksal einer Unternehmerfamilie nach dem Tod des Firmengründers. Vielmehr gewähren sie dem Historiker interessante Einblicke in die Lebenswelt der Bürger und im konkreten Fall auch noch Informationen über das weitgespannte, »nationale« Beziehungsgefüge eines Verlegers in der Provinz. Zugleich soll mit dem Beitrag für eine systematisch vergleichende Untersuchung der Generationenproblematik, die über familiengeschichtliche Fallbeispiele hinausgeht, plädiert werden.

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Ankunft und Aufstieg

Vielen Buchhändlern und Verlegern war im 19. Jahrhundert – ähnlich wie ihren Produkten – ein »Doppelcharakter« eigen. Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und weitere Verlagsartikel sind Ware, aber auch Kulturgut. Sollte verlegerischer Erfolg auf Dauer gestellt werden, mussten ästhetische, philosophische oder auch politisch-publizistische Kriterien ebenso berücksichtigt werden wie die »mercantilischen« Grundsätze des literarischen Marktes. Die Akteure der Branche entziehen sich vielfach einer Zuordnung zum Bildungs- bzw. Wirtschaftsbürger und verkörpern de facto beides. Sie waren Gebildete und Geschäftsleute, vertraten und verbreiteten bürgerliche Tugenden und pflegten einen bürgerlichen Lebensstil. In vielen Fällen avancierten sie als anerkannte Stadtbürger zu Honoratioren des jeweiligen Gemeinwesens, gehörten Freimaurerlogen, Vereinen und gelehrten Gesellschaften an, betätigten sich auf kommunaler, territorialstaatlicher oder gar nationaler Ebene in der Politik und engagierten sich zudem in karitativer oder gemeinnütziger Weise. Mit einigem Recht kann man im

3 Vgl. Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989, S. 332. 4 Vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Justizamt Arnshaugk/Neustadt, Nr. 58, Die Beschlagnahme des dem Buchhändler J.L.L. Wagner hieselbst zugehörigen Vermögens und die Verwaltung der Concursmasse. 1857.1858.

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

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19. Jahrhundert zahlreiche Buchhändler und Verleger als »ideale Bürger« bezeichnen. Persönlichkeiten wie Johann Friedrich Cotta oder Friedrich Justin Bertuch wirkten als Wegbereiter und Mitgestalter des Verfassungsstaates der Bürgergesellschaft. Dabei verknüpften sie ihren wirtschaftlichen Erfolg mit einem bemerkenswerten politischen Engagement und waren zudem in vielfältiger Weise in die kulturellen und gesellschaftlichen Initiativen ihrer Zeit verwickelt.5 Cotta, der Großverleger der deutschen Klassik, setzte von Tübingen und später von Stuttgart aus literarische Maßstäbe. Bertuch, der in Weimar in direkter Nachbarschaft mit Cottas berühmten Autoren Goethe und Schiller lebte, reüssierte mit einem Verlagsprogramm, das weniger auf schöne Literatur und umso mehr auf eine breite Popularisierung des zeitgenössischen Wissens setzte.6 An Staat, Verfassung und politischer Partizipation waren Cotta und Bertuch gleichermaßen interessiert. Zudem bemühten sich beide, mit den Mitteln ihrer Branche kontinuierlich auf das politische Geschehen einzuwirken und die Kernfragen von Staat und Gesellschaft öffentlich zu machen. Cotta tat dies insbesondere mit der am 9. September 1798 erstmals in Stuttgart erschienenen »Allgemeinen Zeitung«, die im 19. Jahrhundert zur führenden politischen Zeitung Deutschlands aufstieg und seit 1810 in Augsburg redigiert wurde.7 Bei Bertuch steht für dieses Bemühen das »Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung«, welche sich durch die seit Mai 1816 in Sachsen-Weimar-Eisenach verfassungsmäßig garantierte Pressefreiheit rasch zu einer modernen politischen Tageszeitung entwickelte,8 nach Inkrafttreten der Karlsbader Beschlüsse jedoch zunehmend in den Fokus konservativer Kräfte in Preußen und Österreich geriet und nach 5 Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Revolution und Constitution. Die Brüder Cotta. Berlin 1989; Julia A. Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch. Köln/Weimar/Wien 2005. 6 Vgl. Katharina Middell: »Die Bertuchs müssen doch in dieser Welt überall Glück haben«. Der Verleger Friedrich Justin Bertuch und sein Landes-Industrie-Comptoir um 1800. Leipzig 2002; dies.: »Dann wird es wiederum ein Popanz für Otto…«. Das Weimarer Landes-Industrie-Comptoir als Familienbetrieb (1800 – 1830). Mit einem Anhang ungedruckter Dokumente. Leipzig 2006; Gerhard R. Kaiser / Siegfried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch (1747 – 1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000. 7 Vgl. Eduard Heyck: Die Allgemeine Zeitung 1798 – 1898. Beiträge zur Geschichte der deutschen Presse. München 1898; Elke Blumenauer : Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur. Die Augsburger »Allgemeine Zeitung« im Karlsbader System (1818 – 1848). Köln/ Weimar/Wien 2000; Michaela Breil: Die Augsburger »Allgemeine Zeitung« und die Pressepolitik Bayerns. Ein Verlagsunternehmen zwischen 1815 und 1848. Tübingen 1996. 8 Vgl. Werner Greiling: Politik und Publizistik – Publizistik und Politik. Friedrich Justin Bertuchs Wirken seit dem Wiener Kongreß, in: Gerhard R. Kaiser / Siegfried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch (1747 – 1822) – Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000, S. 577 – 591; Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft (wie Anm. 5), S. 264 – 298.

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diversen diplomatischen Interventionen im November 1820 vom Weimarer Großherzog verboten wurde.9 Unter den gleichen Rahmenbedingungen wirkte seit 1815 Johann Karl Gottfried Wagner, war doch der Großteil des ehemals kursächsischen Kreises Neustadt an der Orla nach dem Wiener Kongress an Sachsen-Weimar-Eisenach gefallen. Wagner wurde am 22. November 1763 in Marienberg im Erzgebirge geboren.10 Sein Vater, der Kaufmann Johann Christian Traugott Wagner, verstarb bereits 1770.11 Danach wuchs Johann Karl Gottfried gemeinsam mit seinen Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf, erfuhr aber eine wohlwollende Förderung durch seinen Onkel Johann Ehrenfried Wagner, der als Rektor, Oberpfarrer und Sachsen-Meiningischer Konsistorialrat wirkte.12 Johann Karl Gottfried Wagner besuchte die Schule seiner Vaterstadt und trat danach eine Lehrstelle in der Werkstatt des Buchdruckers Meinhold in Wittenberg an. Danach arbeitete Wagner in mehreren Druckereien, unter anderem in Dresden und in Leipzig, avancierte zeitweise zum Verwalter einer Druckerei in Altenburg und sparte trotz permanenter finanzieller Zuwendungen an die Mutter und an die Geschwister ein kleines Vermögen an. Dieses versetzte ihn dann in die Lage, 1799 die Offizin von Johann Karl Kathe in Neustadt an der Orla zu erwerben und sich in der kursächsischen Kreisstadt dauerhaft niederzulassen. Am 27. Februar 1800 heiratete Wagner Amalie Christiane Müller, die jüngste Tochter des Oberpfarrers August Wilhelm Müller aus Elsterberg, mit der er drei Söhne hatte. Amalie Christiane Wagner verstarb am 3. November 1804, woraufhin Johann Karl Gottfried Wagner am 21. Mai 1805 mit Christiane Henriette Sophia Büttner, geb. Diebel, der Witwe des Reußischen Kammerschreibers Friedrich Gottlieb Büttner aus Schleiz, ein zweites Mal in den Stand der Ehe trat.13 Unmittelbar nach Übernahme der Druckerei hatte Wagner eine rege geschäftliche Tätigkeit begonnen. Die wichtigste Säule des Unternehmens war der Druck der »Neustädter Kalender«, von denen bereits seine Vorgänger mehrere Reihen in beträchtlicher Auflagenhöhe herausgebracht hatten. Unter Wagner 9 Vgl. ebd., S. 298. 10 Vgl. den Artikel »Johann Carl Gottfried Wagner«, in: Neuer Nekrolog der Deutschen, 9 (1831). Ilmenau 1833, S. 945 – 950; Werner Greiling: Der Neustädter Kreisbote und seine Vorläufer. Nachrichtenvermittlung, Patriotismus und Gemeinnützigkeit in einer sächsischthüringischen Kleinstadt 1800 – 1943. Rudolstadt/Jena 2001, S. 72 – 81. 11 Eine neuere Darstellung nennt 1771 als Sterbejahr. Vgl. Hartmut Böttcher : Zu den Vorfahren des Druckereibesitzers Johann Karl Gottfried Wagner (1763 – 1831), in: Neustädter Kreisbote, Nr. 5 vom 8.03. 2014, S. 25. 12 Vgl. Gemeinnützige Blätter für Freunde des Vaterlandes, 47. Stück vom 20.11. 1807, Sp. 735 – 739; 48. Stück vom 27.11. 1807, Sp. 753 – 758; 51. Stück vom 18.12. 1807, Sp. 800 – 802; 52. Stück vom 25.12. 1807, Sp. 814 – 818. 13 Die biographischen Angaben zur Familie Wagner entstammen größtenteils den Kirchenbüchern der Kirchgemeinde Neustadt an der Orla. Christiane Henriette Sophia Wagner verstarb 1805.

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soll die jährliche Gesamtproduktion auf bis zu 60.000 Exemplare gestiegen sein.14 Außerdem verdingte sich Wagner als Drucker für auswärtige Buchhändler, trat schon frühzeitig selbst als Verleger auf und startete 1802/03 seine ersten Zeitschriftenprojekte. In diese frühe Periode unmittelbar nach der Jahrhundertwende fällt auch Wagners Bekanntschaft mit dem Theologen, Pädagogen und Schulreformer Christian Gustav Friedrich Dinter, dessen Verleger er wurde. Johann Karl Gottfried Wagner war es in vergleichsweise kurzer Zeit gelungen, seine Druckerei, den Verlag und den Buchhandel zu einem wirtschaftlich gesunden Unternehmen auszubauen und sich selbst im gesellschaftlichen Leben von Neustadt an der Orla fest zu etablieren. Nach Einverleibung des Neustädter Kreises ins Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach erhielt Wagner von Großherzog Carl August mit Urkunde vom 16. September 1817 »für sich und seine Erben das gebotene Privilegium zu Haltung einer Buchdruckerei daselbst und zwar in Hinsicht auf die Stadt Neustadt, als ein ausschließliches«. Das Privileg schloss auch jetzt die Genehmigung zum »Drucken von Calendern und deren Verkauf im ganzen Großherzogthum«15 ein. Kurze Zeit vorher, unter dem Datum des 20. Dezember 1816, hatte die preußische Regierung Johann Karl Gottfried Wagner die Genehmigung erteilt, in der etwa 20 Kilometer entfernten Stadt Ziegenrück, Zentralort eines kleinen neugegründeten preußischen Kreises, eine Filialdruckerei zu betreiben.16 Hier brachte er auch eine Zeitschrift heraus, die seit 1818 unter dem Titel »Wochenblatt des Ziegenrücker Kreises« erschien und bis zum Jahre 1825 von Wagner verlegt wurde. Im Verlagsprogramm von Johann Karl Gottfried Wagner dominierten theologische, pädagogische und erbauliche Titel, denen zudem mancherlei volksaufklärerische Intentionen zu eigen waren und die sich zum Teil auch an Kinder und Jugendliche wandten. Von den zahlreichen Theologen, die zu Wagners Autoren zählten, waren die meisten Anhänger des Rationalismus, der in Jena und Weimar eines seiner Zentren hatte.17 Das Renommee und der unternehmerische Erfolg Wagners sind jedoch vor allem mit dem schriftstellerischen Œuvre Christian Gustav Friedrich Dinters sowie mit seinen Periodika verbunden.18 Bis auf eine Ausnahme erschienen die Bücher Dinters im Verlag J.K.G. 14 Vgl. Werner Greiling: Der Wiener Kongress und das Kalenderwesen im Neustädter Kreis, in: Thüringische und Rheinische Forschungen. Bonn – Koblenz –Weimar – Meiningen. Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, hg. von Norbert Moczarski/Katharina Witter. Leipzig/Hildburghausen 2014, S. 284 – 297. 15 Vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Geheime Staatskanzlei, Polizeisachen, B. 6893, Acta, das dem Buchdrucker Wagner zu Neustadt a. d. Orla ertheilte Kalenderprivilegium betreffend, unpag. 16 Vgl. Wochenblatt des Ziegenrücker Kreises, 45. Stück vom 5.11. 1819, Sp. 363 f. 17 Vgl. Rudolf Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 2. Weimar 1947, S. 403 ff. 18 Vgl. Werner Greiling: Allianz zur Schulverbesserung. Der Theologe, Pädagoge und Schul-

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Wagner. Der »sächsische Pestalozzi«19 Dinter hatte es vom Hauslehrer und Dorfpfarrer zum Schul- und Konsistorialrat sowie zum Professor an der Universität Königsberg gebracht. Seine Werke fanden mit Wagners Hilfe beträchtliche Verbreitung und erlebten meist mehrere Auflagen, wovon Verleger und Verfasser gleichermaßen profitierten. Gleich seinen Branchenkollegen Cotta und Bertuch gab Wagner aber auch eine Zeitung heraus, die freilich am 10. Januar 1818 zunächst als Wochenblatt gestartet war und eine Fortsetzung der »Gemeinnützigen Blätter zur Belehrung und Unterhaltung« (1810 – 1812) darstellte. Diesen waren wiederum »Der sächsische Vaterlandsfreund« (1802), »Gemeinnützige Blätter für sächsische Vaterlandsfreunde« (1803), »Gemeinnützige Blätter für Freunde des Vaterlandes« (1804 – 1808) und »Gemeinnützige Blätter zur Unterhaltung und Belehrung« (1809) vorausgegangen.20 Im ersten Stück des »Neustädter Kreis-Boten«, so der Titel des Periodikums, machte der Verleger seine programmatische Absicht deutlich. »Gemeingeist regt sich mächtig in den Genossen unserer Zeit«, meinte er. »In kräftigeren Pulsen als sonst schlägt jetzt das öffentliche Leben; und verbreitet, durch alle Classen der Gesellschaft, ist in diesem Augenblicke schon eine Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, von welchen man sonst wohl glaubte, daß sie nur den höheren Ständen, oder dem Theil des Publikums, der sich gebildet nannte, vorzugsweise gebühre. Diesem, in unsern Tagen neubelebten, Gemeingeiste ist es gewiß zuzuschreiben, daß auch in unserer Gegend ein Bedürfnis wieder fühlbar wurde, zu welchem, abgesehen von jener edleren Richtung, selbst schon Privatinteressen die Einzelnen leiten könnten, nämlich das Bedürfnis eines Provinzialblattes« als »eines Organs der öffentlichen Mittheilung«.21

Dem wollte Wagner Rechnung tragen, wobei er betonte, dass er keinen »mercantilen Zweck« verfolge, sondern im Rahmen der neuen Preßfreiheit und einer liberalen Gesetzgebung dazu beitragen wolle, dass »Vaterlandsliebe und edler Gemeingeist belebt und unterhalten und wahre religiöse sittliche und bürgerliche Bildung unter allen Ständen verbreitet werde«22. Seit 1836 erschien das Blatt dann zweimal wöchentlich, erlebte in der Revolution von 1848/49 einen publizistischen Höhenflug, veränderte später mehrfach seine Aufmachung und das Format und wandelte sich allmählich zur (Tages-)Zeitung. Im Zusammenhang mit seiner vielfältigen Tätigkeit hatte Johann Karl Gottfried Wagner auch Kontakt zu Johann Wolfgang von Goethe als dem Verant-

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buchautor Christian Gustav Friedrich Dinter und sein Verleger Johann Karl Gottfried Wagner (in Vorbereitung). Vgl. Kurt Wadewitz: G.F. Dinter der sächsische Pestalozzi. Borna-Leipzig 1936. Vgl. Greiling: Der Neustädter Kreisbote und seine Vorläufer (wie Anm. 10), S. 95 – 123. Neustädter Kreisbote, 1. Stück vom 10.01. 1818, Sp. 5/6. Ebd., Sp. 7/8.

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wortlichen des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach für Kunst und Wissenschaft.23 Am 10. August 1827 berichtete Goethe an den Großherzog, dass er den Neustädter Buchhändler und Verleger Wagner veranlasst habe, von sämtlichen Produkten seines Unternehmens ein Belegexemplar an die Großherzogliche Bibliothek in Weimar zu übersenden. Goethe schrieb weiter : »Es hat derselbe nicht allein für die Zukunft sich willig erklärt, sondern auch Exemplare seines bisherigen ganzen Verlags ungesäumt übersendet und seine Obliegenheiten respectvoll anerkannt.«

Und Goethe setzte fort: »Nun ist Höchstdenenselben nicht unbekannt, daß die Unternehmungen dieses Mannes nicht bloß mercantilisch nützlich, sondern auch allgemeiner Bildung förderlich sind, indem die von ihm ausgegangenen Schriften durchaus dem sittlichen und religiösen Unterricht gewidmet sind, auch derselbe sonst als ein wohlgeordneter Haushalter und schätzbarer Bürger bekannt ist: so glauben wir keine Fehlbitte zu thun, wenn wir den Wunsch äußern, Höchstdenenselben möge es gefallen, durch irgend eine Auszeichnung, vielleicht den Titel eines Commissionsraths, auch Höchstihren Beifall zu erkennen zu geben, wodurch nicht nur er sich höchlich geehrt fühlen, sondern auch seine Mitbürger, welche bisher gut von ihm zu denken, alle Ursache gehabt, höchlich erfreut seyn würden.«24

Großherzog Carl August kam dem Vorschlag nach und ließ umgehend ein Dekret zur Ernennung des »guten Bürgers und wackeren Geschäftsmannes«25 Johann Karl Gottfried Wagner als »Kommissionsrat« ausfertigen. Die auf den 14. August datierte Ehrung wurde am 18. August 1827 von Goethe nach Neustadt gesendet. In dem Begleitbrief betonte der Weimarische Staatsminister, wie gern er an »Allem Theil nehme, was in sittlich-religiös-literarischer Hinsicht in den Großherzoglichen Landen auch durch Ew. Wohlgeboren geschehen und geschieht.«26 Publik gemacht wurde Wagners Beförderung wenige Tage später auch im Weimarer Regierungsblatt.27 Am 1. August 1828 ernannte die »Sozietät für die gesamte Mineralogie zu Jena« Johann Karl Gottfried Wagner zu ihrem ordentlichen Mitglied. Als Wagner am 5. November 1831 verstarb, hatten es seine Buchdruckerei und das Verlagsgeschäft aus bescheidenen Anfängen zu einer beachtlichen Blüte ge23 Vgl. Werner Greiling: Goethe – unser Staatsminister. Sein politisches Wirken in SachsenWeimar-Eisenach. Rudolstadt/Jena 1999. 24 Johann Wolfgang von Goethe an Carl August vom 10. 08. 1827, in: Carl Vogel: Goethe in amtlichen Verhältnissen. Jena 1834, S. 355 f. 25 Vgl. Aus der Vergangenheit der Wagnerschen Buchdruckerei zu Neustadt (Orla). Neustadt an der Orla [1909], S. 10. 26 Johann Wolfgang von Goethe an Johann Karl Gottfried Wagner vom 18.08. 1827. Der vollständige Text in: Vogel: Goethe in amtlichen Verhältnissen (wie Anm. 24), S. 356 f. 27 Vgl. Großherzogl. S. Weimar-Eisenachisches Regierungs-Blatt, Nr. 13 vom 4. 09. 1827, S. 71.

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bracht. 1827 beschäftigte seine Firma immerhin 14 Mitarbeiter.28 Johann Karl Gottfried Wagner war am Ende seines Lebens als Unternehmerpersönlichkeit und Stadtältester von Neustadt an der Orla hoch angesehen. Sein Biograph schrieb ihm Eigenschaften wie Duldsamkeit, Ordnungsliebe und Entbehrungsbereitschaft, Fleiß, Geschicklichkeit, Sparsamkeit und Redlichkeit zu. Außerdem lobte er Wagners humanes und solides Betragen.29 Der biographische Nachruf endete mit einem Resümee, das auf den Verleger nochmals einen ganzen Strauß bürgerlicher Tugenden knüpfte: »Strenge Rechtlichkeit, religiöser Sinn, ausdauernde Thätigkeit, Unternehmungsgeist, anspruchslose Bescheidenheit, Menschenfreundlichkeit und Liebe für alles Gute und Edle waren die Grundsätze seines allgemeine Liebe und Achtung findenden Charakters.«30 Ähnlich wie seine Kollegen Bertuch und Cotta, deren deutschlandweites Renommee freilich noch größer war, kann er als »idealtypischer Bürger« gelten.31

2.

Die zweite Generation

Die Betrachtung Wagners, die Beschäftigung mit seinem persönlichen Aufstieg und mit jenem seines Unternehmens sowie die Beschreibung seiner »Bürgerlichkeit« sind jedoch nur das eine. Das andere ist die eingangs aufgeworfene Frage, wie ein solches Erbe auf Dauer gestellt und ob damit eine bürgerliche Familientradition begründet werden konnte. Hierbei kommt, so die These, der zweiten Generation eine entscheidende Rolle zu. Mit entsprechendem expansivem Impetus konnte sich der Aufstieg weiter fortsetzen. Andere Beispiele zeigen, dass dem erfolgreichen bürgerlichen Unternehmer innerhalb der Familie »schon von der nächsten Generation an vorwiegend bildungsbürgerliche und künstlerische Existenzformen« folgten.32 Und im Bereich des Möglichen lag stets auch der erneute Abstieg, bei dem sich die Nachkommen »wieder unter die Menge der Alltagsmenschen [mischen] und verschwinden«.33 Das Unternehmen des Stuttgarter Großverlegers Johann Friedrich Cotta, der ja seinerseits auf eine lange Familientradition hatte aufbauen können, die er weiter- und in neue Dimensionen hineinführte,34 war in dessen letzten Le28 Vgl. die Glückwunschkarte für den »Buchhändler und Buchdruckereibesitzer wie auch Stadtältesten allhier Herrn Johann Karl Gottfried Wagner« vom 21. 08. 1827 (Titelblatt), in: Heimatmuseum Neustadt an der Orla. 29 Vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, 9 (1831), Ilmenau 1833, S. 945 – 950. 30 Ebd., S. 950. Vgl. auch Hans-Werner Hahn / Dieter Hein (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung –Rezeption. Köln/Weimar/Wien 2005. 31 Vgl. Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft (wie Anm. 5), S. 431 – 439. 32 Bauer : Bürgerwege und Bürgerwelten (wie Anm. 2), S. 85. 33 Johann Ernst Sattler an seine Mutter, 14. 06. 1862, zit. nach ebd. 34 Vgl. Liselotte Lohrer : Cotta. Geschichte eines Verlags 1659 – 1959. Stuttgart 1959.

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bensjahren in Streitigkeiten um finanzielle Fragen verwickelt und von wirtschaftlichen Turbulenzen gezeichnet. Bei Johann Friedrich Cottas Tod am 29. Dezember 1832 war die Situation derart unübersichtlich, dass die Kinder Ida und Georg das Erbe auszuschlagen erwogen. Letztlich entschloss sich Georg von Cotta jedoch, den Verlag weiterzuführen, der dann noch rund sechs Jahrzehnte in Familienbesitz blieb.35 Friedrich Justin Bertuch hingegen, der sich ähnlich wie Cotta für bundeseinheitliche Regelungen zum Buchdruck eingesetzt und sich mit dem Kollegen hierüber auch ausgetauscht hatte,36 schaffte wie sein Kollege Wagner in Neustadt an der Orla den Aufstieg in nur einer Generation. Ohne familiäre Absicherung und ohne ererbtes Kapital war es ihnen gelungen, Bildung, Ideenreichtum und persönliche Tatkraft in unternehmerischen Erfolg umzumünzen. Allerdings folgte bei beiden bereits in der Folgegeneration ein deutlicher Bruch. Friedrich Justin Bertuch musste den eigenen Sohn, der zu großen Hoffnungen Anlass gegeben hatte, sieben Jahre vor dem eigenen Ende zu Grabe tragen. Carl Bertuch war vom Vater als künftiger Erbe vorzüglich ausgebildet und auf eine Tätigkeit als Nachfolger in der Leitung des Unternehmens vorbereitet worden, verstarb jedoch bereits 1815 mit noch nicht 38 Jahren. So musste schließlich der Schwiegersohn Ludwig Friedrich von Froriep die Nachfolge des Firmengründers antreten, der den Glanz des »Landes-Industrie-Comptoirs« nicht aufrechterhalten konnte und damit einer bürgerlichen Erfolgsgeschichte ein Kapitel des Abstiegs anfügte.37 Von den drei Söhnen Wagners – Carl Joseph Ehrenfried, Wilhelm Benjamin und Friedrich Ludwig Leberecht – überlebte nur einer den Vater. Der Erstgeborene Carl Joseph Ehrenfried beging 1828 Selbstmord, Wilhelm Benjamin verstarb bereits im März 1805 im Alter von zwei Jahren. Die Geschicke der Firma leitete nach dem Tod Johann Karl Gottfried Wagners der jüngste Sohn Friedrich Ludwig Leberecht (1804 – 1871). Seine Biographie schreibt jedoch nicht den Aufstieg des Vaters fort, sondern erzählt die Geschichte eines tiefen Falls. Ein Vierteljahrhundert nach dem Tod ihres Gründers geriet der ehedem prosperierende Verlag auf den abschüssigen Weg des geschäftlichen Misserfolgs, der schließlich in einen Konkurs mündete.

35 Neugebauer-Wölk: Revolution und Constitution (wie Anm. 5), S. 602. 36 Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft (wie Anm. 5), S. 427 f. 37 Vgl. Wiebke von Häfen: Ludwig Friedrich von Froriep (1779 – 1847). Ein Weimarer Verleger zwischen Ämtern, Geschäften und Politik. Köln/Weimar/Wien 2007.

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3.

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Übergang und Abstieg

Friedrich Ludwig Leberecht Wagner war 1829 mit Maria Sophia Amalie Wagner aus Marienberg in den Stand der Ehe getreten, die im Mai 1833 im Alter von nur 34 Jahren verstarb. Noch im gleichen Jahr heiratete der dreißigjährige Verleger Antonie Berger, die Tochter eines Tuchhändlers aus Neustadt an der Orla, die ihm sechs Kinder gebar. In geschäftlichen Fragen gab es unter Wagner jun. schon bald deutliche Einschränkungen. So musste er beispielsweise seines Vaters Stiefenkel Paul Franz Anton Wendler in Grimma den aus einem Sechstel des Firmenvermögens bestehenden Anteil auszahlen, was zu erheblichen finanziellen Belastungen führte. Zudem bekam Wagner die Tatsache zu spüren, dass in anderen Städten der Gegend inzwischen ernsthafte Konkurrenzunternehmen entstanden waren. Dennoch versuchte er, die Firma auszudehnen, das Absatzgebiet zu erweitern und auch seine Geschäftsräume zu vergrößern, wozu 1837 der Erwerb der Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung des Hofbuchhändlers Wilhelm Richel in Schleiz diente. Nachdem Wagner aber 1839 die Summe von 1500 Talern an das Königliche Ministerium in Dresden zur Gründung eines »Dinterianums« überwiesen hatte, führte dieser Kapitalabfluss zu neuen Einschränkungen. Dabei kam das geplante »Dinterianum« – ein Schullehrerseminar im Gedenken an J.K.G. Wagners wichtigsten Autoren Christian Gustav Friedrich Dinter – letztlich nicht einmal zustande. Friedrich Ludwig Leberecht Wagner entschloss sich zum Wiederverkauf seiner Schleizer Filiale an seinen bisherigen Geschäftsführer Bockelmann,38 wodurch sich die geschäftliche Situation zwar nicht wesentlich verbesserte, das Verlagsgeschäft aber insgesamt noch zur Zufriedenheit verlief. Die firmeninterne Darstellung der Verlagsgeschichte kolportiert, dass dann wenig später im Zuge eines Umschwungs des religiösen Denkens die Werke Christian Friedrich Dinters verboten worden seien, was den Verlag im Nerv getroffen habe. Eine von Wagner veranstaltete Gesamtausgabe Dinters sei gleichsam über Nacht zu Makulatur geworden und habe dem Unternehmer Verluste von mehreren tausend Talern eingebracht, was allerdings bestenfalls eine Teilwahrheit ist. Dies zeigt die Tatsache, dass die in vier Abteilungen mit 42 Bänden gegliederte Edition in einem Zeitraum von zwölf Jahren heraus- und auch zu Ende gebracht wurde.39 Selbst die Revolution von 1848/49 kann wohl kaum für den Niedergang der Folgejahre verantwortlich gemacht werden, wie es die Eigendarstellung sugge-

38 Vgl. Artikel »Johann Otto Bockelmann«, in: Neuer Nekrolog der Deutschen, 28 (1850). Weimar 1852, S. 468 f. 39 Vgl. Dr. G. F. Dinter’s sämmtliche Schriften. Durchgesehen und geordnet von Dr. Johann Christoph Basilius Wilhelm, Archidiakonus u. Adjunct der Superintendentur zu Neustadt a. d. Orla. Neustadt an der Orla 1840 – 1851.

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riert,40 auch wenn sich manche verlegerische Entscheidung in dieser schnelllebigen Zeit als falsch erwiesen haben mag. Ob es tatsächlich in erster Linie verlegerische Fehlentscheidungen waren, die zum weiteren Niedergang der Firma führten, muss also noch genauer untersucht werden. Von einem förmlichen Verbot Dinters beispielsweise kann keine Rede sein. Dennoch verlor Wagner in kurzer Zeit sein gesamtes Vermögen und geriet mit der Firma 1857 in Konkurs, was hier noch etwas näher betrachtet werden soll. Die Akten, die im Konkursverfahren entstanden sind, dokumentieren diese für Friedrich Ludwig Leberecht Wagner und seine Familie ungemein schwierige Zeit und gewähren zugleich interessante Einblicke in deren Arbeits- und Lebenswelt.

4.

Der Firmenkonkurs 1857

Mit der Abwicklung des Konkurses wurde der Rechtsanwalt Franz Carl Steinberger aus Neustadt beauftragt, der sich am 29. Juli 1857 eine Übersicht über die Arbeitsorganisation der Druckerei, die Materialbestände und die Auftragslage verschaffte. Da man mit der Herstellung von Kalendern und dem Druck des »Neustädter Kreisboten« bis Ende des Jahres ausgelastet war, erschien die »vorläufige Fortführung des Buchdruckereigeschäfts im Interesse der Gläubigerschaft [als] wünschenswerth«.41 Umgehend beschlossen wurde allerdings »der Verkauf des vorhandenen beweglichen Vermögens, namentlich der Haus= und Wirtschaftsgeräthe, der vorhandenen Verlagsartikel und der darauf haftenden Verlagsrechte«. Der Zwangsversteigerung zugeführt werden sollte »das Inventarium der Buchdruckerei« sowie »das Wohnhaus, Scheune und Feldgrundstücke des Wagner«.42 Die Akte dokumentiert den weiteren Fortgang des Konkursverfahrens und verleiht den Akteuren des Geschehens Konturen. Der Konkursverwalter beantragte, dass »der, jetzt in der hiesigen Buchdruckerei beschäftigte und als zuverlässig bekannte Herr Rethberg von hier vorläufig als Verwalter der hiesigen Wagnerschen Buchdruckerei angestellt und verpflichtet, und ihm die zur Forterhaltung des hiesigen Wochenblatts und zum Drucken der hiesigen Kalender aufs Jahr 1858 erforderlichen Buchdruckereiutensilien ausgeantwortet werden. […] Um ferner den Druck der Kalender auszuführen, sind an 29 Ballen Papier nebst einer Quantität Druckerschwärze erforderlich, wozu ein Kostenaufwand von 263 rt.- – nöthig sein wird. 40 Aus der Vergangenheit der Wagnerschen Buchdruckerei (wie Anm. 25), S. 13. 41 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Justizamt Arnshaugk/Neustadt, Nr. 58, Die Beschlagnahme des dem Buchhändler J.L.L. Wagner hieselbst zugehörigen Vermögens und die Verwaltung der Concursmasse. 1857.1858, Bl. 14. 42 Ebd., Bl. 13.

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Die Fortführung des Sortiments= und Verlagsgeschäft« hingegen war, »unter den obwaltenden Umständen, nicht angemessen, da einentheils beim Sortimentsgeschäft von anderen Buchhändlern regelmäßig nur gegen Bezahlungen jetzt noch Bücher abgegeben werden, hierzu aber der Concursmasse die Mittel fehlen, und der daraus zu ziehende Handelsvortheil zu gering ist, um die Gefahr des Geschäfts forthin zu übernehmen, anderntheils aber auch das Verlagsgeschäfte in seinem jetzigen Zustande kaum noch einen erklecklichen Gewinn bietet, um dasselbe mit Kosten und Gefahr fortzuführen […].«43

Aktenkundig geworden sind ferner ein Antrag von Wagners Gattin auf Herausgabe von Utensilien für die Druckerei,44 der am 1. August 1857 abschlägig beschieden wurde, da dies den Interessen der Gläubiger widerspreche.45 Der Kontrolle der Geschäftsbücher folgte eine deutliche Kritik an der Buchführung. Es wurden Gläubiger befragt und nach Außenständen gefahndet. Auch die Bitte Friedrich Ludwig Leberecht Wagners, in seiner ehemaligen Firma eine Beschäftigung und damit Verdienstmöglichkeiten zu finden, »um wenigstens den nothdürftigsten Unterhalt für mich und die Meinen gesichert zu sehen«,46 ist überliefert. Gleiches gilt für die Tatsache, dass am 16. Oktober 1857 auch Wagners Privathaus versteigert wurde.47 Einen vorläufigen Schlusspunkt setzte schließlich das Schreiben des Konkursverwalters Steinberger an den geschäftsführenden Leiter der Druckerei Gottlob Friedrich Rethberg vom 30. Dezember 1857, in welchem verfügt wurde, »daß mit dem 31. Dezbr. d. J. die sämmtlichen in der Wagnerschen Buchdruckerei beschäftigten Leute entlassen seien, und von da an kein Lohn an sie mehr ausgezahlt werde.«48 Einen tiefen Einschnitt in der Wagnerschen Familiengeschichte hatte vier Monate zuvor fraglos die behördliche Anordnung dargestellt, das Konkursverfahren unmittelbar nach Eröffnung auch öffentlich zu machen. Im »Neustädter Kreis-Bote«, dem seit 1818 erscheinenden Flagschiff der J.K.G. Wagnerschen Buchdruckerei, musste eine entsprechende Anzeige des Großherzoglichen Justiz-Amtes vom 13. August 1857 eingerückt werden. Sie stellte für Friedrich Ludwig Leberecht Wagner und die Seinen zweifellos eine schwere Schmach dar. Jene Familie, die in weniger als drei Jahrzehnten in die Phalanx der tonangebenden Gerber- und Tuchmacherdynastien eingebrochen war und deren Oberhaupt es zum Stadtältesten gebracht hatte, verlor mit seinem Besitz auch an Kreditwürdigkeit und an symbolischem Kapital. Dies gilt für die Bürgergesellschaft der Stadt, aber auch für die geschäftliche Tätigkeit. Denn an eine Fort43 44 45 46 47 48

Ebd., Bl. 14v–15. Vgl. ebd., Bl. 28 – 29. Vgl. ebd., Bl. 30r–v. Ebd., Bl. 91. Vgl. ebd., Bl. 110. Ebd., Bl. 137.

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setzung des Kommissionsbuchhandels, dessen Grundlagen nicht zuletzt Liquidität und gegenseitiges Vertrauen bildeten, war von Stund an nicht mehr zu denken. So forderte beispielsweise der Leipziger Buchhändler Carl Friedrich Fleischer umgehend die Zahlung einer bar für Wagner verauslagten Summe von 18 Reichstalern und 9 Silbergroschen zurück.49 Die Anzeige über die Eröffnung des Konkursverfahrens ist zugleich ein Beleg dafür, dass auch für einen »idealtypischen« Bürger bei Geldfragen die Gemütlichkeit aufhörte: »Ueber das Vermögen des Buchhändlers Friedrich Ludwig Leberecht Wagner hierselbst ist Concurs erkannt und mit dessen Leitung von Großherzogl. Kreisgericht zu Weida das hiesige Justizamt beauftragt, Herr Advokat Steinberger allhier aber als Streit- und Güterpfleger verpflichtet worden. Alle diejenigen, welche an Herrn Buchhändler Wagner Zahlungen zu leisten oder sonst etwas abzugewähren haben, werden deshalb aufgefordert, weder an diesen noch auf dessen Anweisung an eine dritte Person zu zahlen und zu gewähren, widrigenfalls die Zahlung als nicht geschehen angesehen und nochmals in Anspruch genommen werden wird. Geld und Geldeswerth können rechtsgültig nur an das Depositum des hiesigen Justizamtes und Herrn Advokat Steinberger als Massevertreter geleistet werden.«50

Dem Niedergang der Firma zollte schließlich auch Friedrich Ludwig Leberecht Wagner selbst Tribut. Er erkrankte und war schon bald auch geistig gebrochen. Eine Konkursverwaltung, die nicht immer zum Besten der Familie Wagner durchgeführt wurde, tat das Übrige zum finanziellen Ruin. Immerhin verblieb der Familie das ausschließliche Recht, den »Neustädter Kreisbote[n]« und den »Neustädter Kalender« zu drucken. Antonie Wagner, die Gattin Friedrich Ludwig Leberecht Wagners, kaufte mit dem bescheidenen Restkapital eine Druckpresse und diverse Schriften aus der Konkursmasse zurück und übernahm von nun an die Leitung der Wagnerschen Druckerei. Allerdings musste die Familie in ein Mietshaus übersiedeln und sich auch sonst mit einem bescheidenen Status begnügen. Außerdem versäumte es der Firmeninhaber im Jahre 1865, das seinem Vater von Großherzog Carl August verliehene ausschließliche Privileg zur Herausgabe des Neustädter Kalenders und zum Betreiben der Druckerei, das in selbigem Jahr nach Bekanntmachung im Reichsanzeiger wieder ausgelaufen war, zur Entschädigung anzumelden. Dies bedeutete einen erneuten finanziellen Verlust in erheblicher Höhe.51 Da die Frist inzwischen verstrichen war, konnte die Einbuße auch durch mehrere Eingaben nicht abgewendet werden. Als Friedrich Ludwig Leberecht Wagner am 23. August 1871 verstarb, hinterließ er seine Familie – ganz anders als sein in jeder 49 Ebd., Bl. 93. 50 Vgl. Neustädter Kreisbote, Nr. 65 vom 15. 08. 1857, S. 259. 51 In der schon bereits zitierten Jubiläumsschrift wird die finanzielle Einbuße mit mehr als 6000 Talern beziffert. Vgl. Aus der Vergangenheit der Wagnerschen Buchdruckerei (wie Anm. 25), S. 14.

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Werner Greiling

Hinsicht erfolgreicherer Vater Johann Karl Gottfried Wagner vier Jahrzehnte zuvor – in kümmerlichen Verhältnissen. Die Leitung der Druckerei lag bis zu ihrem Tod am 1. Mai 1877 in den Händen von Wagners Witwe Antonie Wagner.

5.

Die weite Welt der Bücher

Zu den besonders interessanten Quellen der Wagnerschen Akte zählen das »Verzeichnis über die im Wagnerschen Buchladen vorgefundenen Commissionsartikel« und ein »Mobiliar-Auctions-Verzeichniß«. Mit Letzterem lässt sich die Einrichtung der Wohn- und Geschäftsräume Wagners rekonstruieren, wobei das Bild gediegener Bürgerlichkeit entsteht. Das Verzeichnis umfasst 374 verschiedene Posten, von »6 Stück Polsterstühlen« aus der großen Stube der ersten Etage über Tische und zahlreichem weiteren Mobiliar bis hin zu zehn Stück Champagnergläser und vieles andere mehr.52 In zahlreichen Fällen wird auch der Schätzwert des ehemaligen Privat- und Firmeninventars genannt. Das Verzeichnis der Bücher hingegen bestätigt eindrucksvoll die grenzüberschreitende Dimension des deutschen Buchhandels und die Tatsache, dass man auch in der verlegerischen Provinz am deutschlandweiten Kommissionshandel teilnahm. Die 885 Exemplare waren in 45 verschiedenen Städten gedruckt worden. Mit größeren Beständen waren Berlin, Erlangen, Glogau, Hamburg, Jena, Stuttgart und Weimar vertreten. Die quantitative Spitze bildet mit weitem Abstand die mitteldeutsche Buchhandelsmetropole und Messestadt Leipzig, von wo Wagner 566 Bücher vorrätig hielt. Vertreten waren aber auch Bestände aus den Schweizer Verlagsorten Basel und Zürich. Geht man auf die Verlagsebene, kommt man auf 91 verschiedene Firmen. Auch hier ragt die Buchhandelsmetropole Leipzig mit 23 Verlagen weit heraus, gefolgt von Berlin mit 13 und Stuttgart mit fünf verschiedenen Verlagen. Die meisten Titel hatte Wagner aus dem Leipziger Verlag von Otto Spamer vorrätig (458), gefolgt von Böhlau in Weimar (48), Flemming in Glogau (29) sowie Moritz Ruhl und Brockhaus in Leipzig (je 23). Inhaltlich lag der Schwerpunkt auf unterhaltender und praktisch-gemeinnütziger Literatur. Zahlreich vertreten waren aber auch theologische Bücher und Schriften für die Jugend. Die größte Stückzahl mit 20 Exemplaren verzeichnet das Inventar unter dem Stichwort »Stephanie, Kleine Fibel« aus der Palmschen Verlagshandlung zu Erlangen. Hierbei handelte es sich offensichtlich um die »Handfibel zum Lesenlernen nach der Lautirmethode« von Heinrich Stephani, die zu dieser Zeit bereits in rund 100 Auflagen erschienen war. Die großen Namen der deutschen Literatur finden sich 52 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Justizamt Arnshaugk/Neustadt, Nr. 58, Bl. 48 – 60.

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kaum in dem Verzeichnis, das aber dennoch die weitgespannten Geschäftsbeziehungen des Neustädter Verlegers in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufscheinen lässt.

6.

Epilog

Das letzte Blatt der Weimarer Akte soll auch den Schlusspunkt dieses Beitrags setzen. Es ist ein Brief von Gottlob Friedrich Rethberg, der unter dem Datum des 3. Februar 1858 an den Konkursverwalter Franz Carl Steinberger im Justizamt Neustadt an der Orla schrieb: »Am 16. Januar d. J. wurde ich bei Uebergabe sämmtlicher Druckereischlüssel meiner Function als verpflichteter Factor enthoben und erhielt auch bis zu dieser Zeit mein wöchentliches Salair baar ausgezahlt. Allein nach obengenanntem Tage verblieben mir noch verschiedene Arbeiten, welche ich bei dem besten Willen vorher nicht beseitigen konnte, übrig, so wie auch noch viele Rester von den Kreisboten=Abonnenten zurück und ich wollte doch an Hrn. Rechtsanwalt Steinberger sämmtliches Geld abliefern; und dieses geschah dann auch, außer drei Posten, welche mir nicht möglich waren, einzuziehen, mit vieler Mühe am heutigen Tage. Deshalb richte ich nun auch an ein Wohllöbl. Justizamt die höfliche Bitte, mir doch für meine Mühe die kleine Entschädigung von drei Thalern zukommen zu lassen. Nachträglich bitte ich noch zu meiner ferneren Existenz um ein Attest. In der freudigen Hoffnung, mir meine Bitte zu gewähren, unterzeichnet mit Achtung und Ergebenheit Gottl. Fr. Rethberg, Setzer in der J.K.G. Wagner’schen Buchdruckerei.«53

Kein Brief aus der Feder eines Johann Wolfgang von Goethe oder einer anderen hochgestellten Persönlichkeit, mit der man in der Erinnerungskultur der Firma später die Ära des Unternehmensgründers Johann Karl Gottfried Wagner illuminierte,54 beschließt also die Konkursakte, sondern ein Schreiben des zeitweiligen geschäftsführenden Leiters der Buchdruckerei Rethberg,55 der als Schriftsetzer seit Jahrzehnten zur Stammbelegschaft Wagners gezählt hatte.56 53 Ebd., Bl. 141. 54 So ziert ein Faksimile des Briefes von Goethe an Wagner die Firmenfestschrift von 1909. Vgl. Aus der Vergangenheit der Wagnerschen Buchdruckerei (wie Anm. 25), S. 13. 55 Gottlob Friedrich Rethberg wurde am 18. 06. 1807 in Neustadt an der Orla geboren und verstarb hier am 29.06.1865. Er war zweimal verheiratet und hinterließ vier Söhne aus erster Ehe mit Theresie Franziska Amande Rethberg, geb. Schuetzing. Die zweite Ehe mit Emma Alwine Rethberg, geb. Kunze, blieb kinderlos. Vgl. Archiv der Kirchgemeinde Neustadt an der Orla, Totenbuch 1865, S. 242, Nr. 70. – Herrn Manfred Schartiger sei für Recherche und Auskunft herzlich gedankt! 56 Vgl. die Glückwunschkarte für den »Buchhändler und Buchdruckereibesitzer wie auch Stadtältesten allhier Herrn Johann Karl Gottfried Wagner« vom 21. 08. 1827 (Titelblatt), in: Heimatmuseum Neustadt an der Orla. Als »Mitglieder seiner Officin« wird neben Rossner,

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Werner Greiling

Nach dem Höhenflug des Vaters zwischen 1799 und 1831 war der Sohn 1857 auf den Boden harter Tatsachen zurückgekehrt. Die goldene Ära, auf die sich Rethberg in der abschließenden Grußformel ausdrücklich bezog, war fürs Erste zu Ende, und es dauerte eine geraume Zeit, bis sich die soeben liquidierte Firma wieder erneuern und sodann stabilisieren konnte. Aber es sollte gelingen, wenn auch erst in der Enkelgeneration unter Erich Friedrich Wagner (1847 – 1919), der die Geschäfte seit dem 1. September 1877 leitete, das Unternehmen auch technisch modernisierte und ihm mit dem zurückkehrenden Erfolg auch die entsprechenden Attribute zurückgab. Ein weithin sichtbares Zeichen neuer Prosperität in der inzwischen mehr als hundertjährigen Firma war ein im Jahre 1907 errichtetes großzügiges Geschäftshaus, das von der Setzerei und Druckerei bis zur Redaktion, Anzeigenannahme und Zeitungsausgabe alle Bereiche des Unternehmens unter einem Dach vereinte. Im Jahr 1919 trat die Verlagsgeschichte nach dem Tod von Erich Friedrich Wagner in ihre vierte Generation. An der Spitze stand fortan Fritz Wagner (1885 – 1957), der Urenkel des Firmengründers. Er setzte den Kurs seines Vaters Erich Wagner, der sich um höchstmögliche wirtschaftliche Solidität bemüht hatte, fort. Dies stieß dann allerdings im Dritten Reich an seine Grenzen, und mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen die Geschäfte erneut zum Erliegen. Als sich 1947 die Möglichkeit eines Neubeginns zu eröffnen schien, wandte sich Fritz Wagner an das Thüringer Ministerium für Volksbildung und beantragte eine Verlagslizenz. Den nötigen Nachdruck versuchte er seiner Bitte mit einer Reminiszenz an die Ära des Firmengründers Johann Karl Gottfried Wagner zu verleihen: »Nebenbei bemerken möchte ich noch, daß vor ungefähr 100 Jahren bei meinem Urgroßvater vorwiegend pädagogische und religiöse Werke, so u. a. die Schullehrerbibel von Konsistorialrat Dr. Dinter in Königsberg in Preußen und Dinters Predigten erschienen […]. Gelegentlich seiner Ernennung zum Kommissionsrat schickte Goethe als damaliger weimarischer Minister meinem Urgroßvater, zusammen mit der Ernennungsurkunde, ein persönliches Glückwunschschreiben, das, falls Sie es wünschen, ich Ihnen gern im Original vorlegen werde. Ich würde mich freuen, wenn Sie veranlassten, daß mir durch Erteilung einer Verlagslizenz die Möglichkeit gegeben wird, wieder heimatgeschichtliche Werke herauszugeben, bezw. die vergriffenen neu erscheinen zu lassen.«57

Die Antwort des Ministeriums ist nicht überliefert, doch der Neustart misslang. Das Geschäftshaus wurde enteignet, das Inventar nebst Firmenpapieren und vielem anderen in alle Winde zerstreut, und manches fiel auch der Plünderung Heubler, König, Metschke, Riedel, Buss, Hochstein, Körner, Mylius, Scharff, Hertel, Hübner und Leicht auch Rettberg (sic!) genannt. 57 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 4281, Bl. 159.

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

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anheim. Der Konkurs seines Großvaters Friedrich Ludwig Leberecht Wagner war im Vergleich mit dem Geschehen nach Kriegsende in ausgesprochen geordneten Bahnen verlaufen. Fritz Wagner sah für sich schon bald keine Zukunft mehr in seiner Heimatstadt. Er verließ die sowjetische Besatzungszone und ging nach Hamburg, wo er fortan als Rentner lebte. Verstorben ist er 1957, genau ein Jahrhundert nach dem ersten Tiefpunkt der Firmengeschichte.

Anhang58 A. Verzeichniß über die im Wagnerschen Buchladen vorgefundenen Commißions artikel. No.

Titel

1.

Englische Dollmetscher von Strathmann Arndts, Wunderreich der Natur Heft 1

2.

Stück zahl 2

Verleger. Strathm Aug. Helmich Bielefeld

Tit. 1.

J. A. Sacco in Berlin

1

Schwetschke u Sohn in Braunschweig

1.

Theodor Siewers in Altona

Wohlbewand. Kartenkünstler von Montag Dr. Wohlfahrt, Sabbatruhe 6 nur 1. 2. Theil

1.1.

Voigt in Weimar

1

Scheible in Stuttgart

Sieben Erwählte von Mirecourt Dr. Martin Luther von Hanschmann Bd 1. Heft 5. 6.

1

J. Scheible in Stuttgart

1

Voigt in Weimar

9. 10

Versmann, Gottestisch Fuchs, Wort und Sacherklärung

1 2

Nußer in Jtzehöe. Hammerschmidt in Frankf. a/O.

11. 12.

Spruchbuch Klaus, der Bienenvater

1 1

derselbe Ehrlich in Prag

13. 14.

Wirthger, Pflanzenkunde G. Armellino, Klavierstimmer

2 1

Hercht in Koblenz Voigt in Weimar.

15.

Gropp prakt. Anl. zum Bienenbau

2

Wallerstein in Leipzig

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Blank’s Handbuch des WißensWürdigsten Heft 5. 3. 4 Klein Dorrit von Boz Bd 1. Heft 1. 2.

58 Ebd., Justizamt Arnshaugk/Neustadt, Nr. 58, Bl. 43r–47v.

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Werner Greiling

(Fortsetzung) No. Titel 16. 17. 18.

Vorwärts Monatsschrift zu Landwirthsch. u. Gewerbe Probenummer Rückert Begriff des gemeinen Deutschen Privatrechts Luckenbachers Schule der Mechanik

Stück zahl 1

Bartholomäus in Erfurt.

1.

Enke in Erlangen

1.1

Spamer in Leipzig

Verleger.

19.

Stück zahl 3

20.

1

21.

1.1.

22 s. 60.

1

23

1

24

1.1

25

2

26

7.1.

27 28

20 1.1.1

Stephani, kleine Fibel Koch, Nahrung wie sie seyn muß

Palmsche Verl. Hdlung in Erlangen Ruhl in Leipzig

29 30.

1 8

Ezmann Der Magen Des alten Schäfer Thomas achte Prophezeihung p. 1837. 1838.

derselbe Hamburg 1857. im Verlagsbüreau in Kommißion

31.

1.1.

32.

1.

F. Enke in Erlangen Dr. Schwarze, zur Lehre von dem sogenannten Verbrechen fortgesetzten Dr. Lersch, Mineralquellenleh- F. Enke das.[elbst] re

33.

1.

No

Titel

Verleger

Hinze Schauplatz der Natur Heft 1. Elemente der Arithmetik von Bootz, 2t Kursus

K. Barthold in Berlin

Unsere Zeit, Jahrbuch zum Konvers. Lexikon, Heft 1 Pierer’s Univ. Lex. 4 Bd 1 Lieferung

Brockhaus in Leipzig

Pflüger Hemmungsnervensystem Prosch und Ploß, medicinisch chirurg. Encyklopädie

Berlin, Hirschwald.

F. Enke in Erlangen

Pierer in Altenburg

Brockhaus in Leipzig.

Dieffenbach, operative Chirur- Brockhaus das.[elbst] gie 2 Bände Vogel Vortrag in der Haupt Wagner hies. (Kommißion) Prediger Versammlung

Marie Flink, die Gemüsegärtnerin,

Brömer in Frankfurt a/M

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

(Fortsetzung) No Stück zahl 34 1. 35

1.1.1.

36

1.1.1.

37.

4.

38. 39

Titel

193

Verleger

Karl Jacobi’s englische u. fran- Kahn’s Separatconto in Berlin. zösische Unterrichtsbriefe Eugen Fürst, Frauendorfer Paßau, Expedition der Frauendorfer Gartenschatz, 1 Lieferung Blätter 1857. Dr. Albin Koch, Waßer Bier oder Wein John Laird, Religion im gemeinen Leben, mit Vorwort von Bunsen, 4 Aufl.

Leipzig, Moritz Ruhl

1 1

Körner Sängerkranz Heft 1. Wagner die Pflanzenwelt, 5te Lieferung

Körner’s Verlag, Erfurt und Leipzig Bielefeld, Aug. Helmich

40 40 (sic)

1 2

Der fleißige Erzähler Heft 1 – 6 Leipzig, Mor. Ruhl «»» desgleichen vom 1sten Heft

41

3.

Rudolstadt Renovanz u. Scheitz

42.A

1.

Schönheit Flora Thüringens Heft 1. 2 Lieferung Meger Entwäßerung des Bodens

43.A 42.B

1. 2.

Baumgarten franz. Lectüre Gründliche Anweisung der neuen Schnellräucherungsmethode

Coblenz, Herpt. E. W. Erbe in Hoyerswerda.

43.B 44

1.1. 1.1.

Wagner, der Tod Wilda Landwirths. Centralblatt.

Bielefeld, Aug. Helmich Berlin, Boßelmann.

45

1.1.

46

1.

Dr. Wicker, chemische Analyse Braunschweig, Schwetschke u. Sohn. 1ste Abtheilung Erlangen, Ferd. Enke L. Knapp System der Rechtsphilosophie

47.

10.

48.

1.1.1.

s. 60.

1.1.

49

4.

50.

2.

Spruchbüchlein zu Luther’s Katechismus Convers. Lexicon Bd I.

Leipzig, Brockhaus.

Erlangen, Ferd. Enke

Weimar, Böhlau Leipzig Brockhaus

Der zehnte[n] Ausgabe Heft 1. Probe Heft 2. General-Universallexicon Naumburg, Louis Garcke. Lieferung 1. 2. 3. Des Knaben Lust und Lehre Lief. 1. 2.

Glogau. Karl Flemming

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Werner Greiling

(Fortsetzung) No Stück zahl 51. 2. 52.

1

53

1.

54

Titel

Verleger

Jllustrirtes Familien lexicon Bd 1. erste Hälfte. Kritz, Der Gerichtshof, Bd. I. Heft 1.

Moritz Ruhl in Leipzig

Dr Schwarze, allg. Gerichtszeitung für Sachsen Jahrg. I. Heft 1. 1.1.1.1. Fuchs, Wort u. Sacherklärung der Evangelien

Leipzig, Roßbergsche Buchhandlung Leipzig, Voigt und Günther Frankf. a/O. Hammerschmidt

55 56

2. 2.

Nän Schönhuth Nänny Glöckly Leipzig in Comm. bei Erdmann Stoll das.[elbst] Schönhuth, neue Sagen und Geschichten der Vorzeit, Heft 1.

57

4.

58

1

Geheim und Sympathie Mittel des alten Schäfer Thomas Bändchen 1. 2. dritte Aufl. dergl. 2tes Bändchen

59.

60

2. 2 2 1 1 1 1.

Verbenen Alpenrosen Stiefmütterchen Lieblingsblu- Ruhl in Leipzig Aurikel men Azalie Rose Altenburg, Pierer. Universallexikon, Bd I. 1. 1. 3. incl. Probeheft, auch 1 Probeheft und 1 Band 2t Halblieferung s. No. 49.

61.

5.

Feld und Gartengewächse

62.

1

63

1.1.1.

64

21

65

1.1.1.

66.

1

67. 68.

1.1. 1.

Altona, Verlagsbüreau das.

Leipzig, R. Hennigsche Buchhandlung Schrader, Der Verkehr des Auf- Kiel, Karl Schröder und Comp. erstandenen mit den Seinen Mu Dr. Scheder, Muster samm- Leipzig, Edm. Stoll Comm. lung deutscher Aufsätze Gepflastert mit Gold, von Kaßel, Volkmann. [= Vollmann]. den Gebr. Mayhew von Laßmann Bd I. Heft. 1. 2. Familien stube, Jahrg. III. Heft 1 von Paul Preßel Waßerglasgallerte von Orth Dr G. Osann, Kohlenbatterie M. Grobe, Morgen u. Abend segen Heft 4. 5. Aufl. 2.

Stuttgart, Gebr. Bode Weimar, Voigt Erlangen, Ferd. Enke. Weimar, Voigt.

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

(Fortsetzung) No Stück zahl 69 1. 70

1.

71.

1.

72

1.

73.

1.

74

1.

75

4

Titel

Verleger

Moll, Museum kom. Vorträge Theil 2. 3. Burke, Annalen der engl. Aristokratie

Berlin, Janke.

Neuestes Eisenbahncursbuch Juli 1857. Eisenbahnkarte von Central Europa

Berlin, Karl Barthel

Reideleiter, Schule des Bäkkers Bd 1. 2. Nord und Mittelafrika von Richardson pp

Leipzig, R. Henning

195

Leipzig Lork.

Köln, Wilh. Greven.

Leipzig C. B. Lork.

Herzblättchens zeitvertreib, 2ter Glogau K. Flemming Band Lief. 1. dergl. Lief. 2.

–– »

1

76. 77.

1. 1.

Damenprophet Löw, pädagog. Monatsschrift Jahrg. XI. Heft 1.

Weimar, Voigt. Leipzig, Friedr. Brandstetter.

78

1.

Berlin, Aug. Hirschwald.

79.

1.

Kritik und Geschichte der Unters. über das Algen geschlecht von Dr Pringsheim Buhler, Jntereßen berechnung 2te Auflage

80.

3.

81.

1

82. 83.

Bernh. Voigt zu Weimar

1001 Unterhaltungsstunde Bd I. Lieferung 1. 2. 3. Dr Aug. Otto Krug, Jdeen zu einer gemeins. Strafgesetzgebung f. Deutschland 1857.

Berlin, Brigl und Lobeck

1 1.

Dumas, BrunnenJngenieur West, Pathologie und Therapie der Kinderkrankheiten von Dr. Wagner Aufl. 2.

Weimar, Voigt Berlin, Hirschwald.

84 85

1.1. 1.

Luxus, polnische Volkssage Lahr, J. H. Geiger Physiognomik und Chiroman- Berlin, Litteratur u. Kunst Comtoir. tie 3 Auflage

86

1.

87

1.

Hamburger Garten und Blumenzeitung von Otto Dr M. Luther als klaßischer Lehrmeister von Dr. J. G. Hanschmann, Bd I. 4.

Hamburg, R. Kittler Weimar, Voigt

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196

Werner Greiling

(Fortsetzung) No Stück zahl 88. 2.

Titel

Verleger

Kampe Briefsteller, Aufl. 14 von Fort [?] Dr K. Schöpffer, öff. Gerichtsverfahren u. Gefängniß wesen

Quedlinburg u. Leipzig, Ernstsche Buchh. Naurode, F. W. Fischer.

Fremdwörterbuch von Wiedemann, Aufl. 13. 1854. H Barthel, revidirte GemeinDeordnung

Quedlinburg u. Leipzig, Wiedemann.

89

1.

90.

1.1

91.

1.1.1.

92

1.

93

3.

94

1

95

2.

96.

1.

97.

1.

98. 99.

1. 1.

Prescott, Klosterleben Karls Wiedikon, Naturbilder aus dem Schweizerlande

Leipzig, ders. Leipzig J. J. Weber

100 101.

1. 1

Schinz-Geßner, Der Torf Rohlwes, Vieharzneibuch Aufl. 18.

Zürich bei S. Höhr Berlin, Rücker u. Püchler

102 103

1. 1.

Hamburger Novellen, Bd. 3. Schinz-Geßner Landwirthschaft

Hamburg J. F. Richter Zürich, S. Hohr.

104

2.

Leipzig, Voigt u. Günther

105

1.

G. Nieritz, Jugend-Bibliothek Heft 16 Türken vor Wien Zimmermanns sprüche und Reden

106 107.

1. 1.

Maulwurfsfänger Fr. Walther, feine Küche

Weimar, Voigt. Quedlinburg u Leipzig, Ernstsche Blg.

108

1

Brandenburger Brandweinbrennerei Galanthomme Aufl. 8.

das. das.

Blumensprache v. Bürger Neue Bilderfibel f. fleißige Kinder

das. das. A. Bagel in Wesel.

109

1.

110. 111.

1. 2.

Weida, Huth

L. Vincent, Drainage Aufl. 2. P. G. Kind, Wohlthat des Kreuzes Christi

Leipzig, Baumgärtner.

Winter Rechnungsaufgaben Bd II. Heft 1. 2. derselbe Facitbuch

Leipzig Im. Tr. Wöller.

Dr Zimmermann, Macht der Elemente, Lieferung 1. Thiele, Bilder aus den Alpen

Leipzig, Ambrosius Abel.

Chur u. Leipzig 1857. Grubenmann.

das. ders.

Leipzig, L. B. Lorck.

Weimar, Voigt.

das. das.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301692 — ISBN E-Book: 9783647301693

Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

(Fortsetzung) No Stück zahl 112 1.1. 113.

1

114

1.

115

4.

116

1.

197

Titel

Verleger

Johnston chemische Bilder Heft 3. L. A. Seneca von der Gnade

Leipzig, Expedition der Hausbibliothek Karl B. Lorck. Deßau, Moritz Katz

120 Geburtstags pp Gedichte von F. Schellhorn Fürst, Frauendorfer Gartenschatz 2te Lief.

Quedlinburg u. Leipzig, Ernstsche Blg. Paßau, Exped. der vereinigten Frauendorfer Blätter

E. Uhlenhuth, Leuchtgas u Seifen Gubitz Volkskalender 1857

Frankf. a/O. Trowitzsch u. Sohn.

117

2.

118. 119.

5. 1.

K. Steffens, Volkskal. 1857. Kalk- Sand-Baukunst von F. Krause

Vereinsbuchhandlung in Berlin Leipzig, Voigt u. Günther Glogau 1851, Flemming

120

1.

Glogau, ders.

121

1.

Clemen Musterzeichnungen von Blumen-Gärten Kleemann Handbuch des Gartenbaues

122.

5

Weimar, Jansen u. Compagnie

123

1.

Jäger, Angelroder DorfgeSchichten Grobe, Geschichte der Deutschen

124

4.

125.

11.

126

8.

127.

das. ders.

Jena, Mauke

Sommerodt, ausgewählte Schriften des Lucian 2tes Biblische Geschichten

Leipzig, Weidmannsche Buchh.

das. ders. fest bestellt.

17. 5

Lauckhardt vaterl. Lesebuch Dritter Theil, erste Hälfte Bräunlich u. Gottschalg, vat. Liederbuch 3t Theil

128. 129

2 7

dies. 1st Theil dies. 2 Theil

das. das.

130 131.

6 3

Choralbücher zum 3 Theil Gräser, practischer Lehrgang der englischen Sprache

das. Leipzig, Brockhaus

132. 133

2 3

Lennis Zoologie ders. Botanik

Hannover, Hahnsche Hofbuchh. das. ders.

134

4.

Christ. Columbus, Life and Voyages Justini Historiarum libri 44

Leipzig, Baumgärtner j fest bestellt :j

Guillaume Tell v. Florian von Dr. Ed. Hoche, 13 Aufl.

Leipz. Ernst Fleischer. j: fest bestellt :j

135.

2.

136

2.

Jena, Mauke

Weimar Böhlau

Leipzig Tauschnitz j: fest bestellt :j

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301692 — ISBN E-Book: 9783647301693

198

Werner Greiling

(Fortsetzung) No Stück zahl 137. 1.

Titel

Verleger

Victor Hugo, Oeuvres complÀtes tome 1 Francof. a/M NordAmerica von Fernau u. Heydefuß

Bechhold.

König, Kanal und EisenBahnkarte Kiesewetter Fremdwörterbuch

Berlin A. Sacco.

138.

3.

139.

3.

140

10.

141 142

1 1

Dergl. in gepr. Leinwand Feller Unterhaltungen Heft 1. 3. 4. 5. 6. 7. 9.

das. ders. das. ders.

143. 144.

444 1.

Feldberg, Taubheit heilbar Hamm, landw. Thierzucht

Leipzig, Spamer das. das.

145. 146.

1. 1.

Zucht u. Wartung der Ziegen [Zucht u. Wartung] der Truthühner

dtto. dtto. dtto. dtto.

147.

1

dtto. dtto.

148

1.

[Zucht u. Wartung] der Schweine [Zucht u. Wartung] der Gänse

149 150.

1. 1

[Zucht u. Wartung] der Tauben dtto. dtto. [Zucht u. Wartung] der Seidtto. dtto. denraupen

151. 152

1 1.

[Zucht u. Wartung] der Schafe dtto. dtto. [Zucht u. Wartung] der Pferde dtto. dtto.

153. 154

1. 1.

[Zucht u. Wartung] der Ochsen dtto. dtto. [Zucht u. Wartung] der Fisch- dtto. dtto. erzeugung

155

1.

Stuttgart, R. Chelius

156

1

Fr. Hoffmann deutsche Sagen. Deutsche Kinderstube

157.

1.

Wagner, Führer in das Reich der Kryptogamen, Laubmoose, Lebermoose, Flechten, Algen, Pilse Müller Pflanzenwelt 2 Bde

Bielefeld, Helmich

Lebens und Regentengeschichte des hochseel. Großherzogs Karl Aug. Schubert, vom Herzen zum Herzen.

Weimar, Voigt.

158

1

159

2.

160.

2.

Berlin, Albert Sacco.

Glogau u. Leipzig, Flemming

dtto. dtto.

Stuttgart, Hoffmannsche Verlagsbuchhandlung.

Leipzig, Spamer.

Leipzig, Wallerstein

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

(Fortsetzung) No Stück zahl 161 2.

Titel

Verleger

Opitz, heilige Stunden einer Jungfrau Rosenmüller, Mitgabe f. d. ganze Leben, Miniaturausg.

Leipzig, Haynel.

199

Leipzig, Baumgärtner.

162

1.

162 163

1. 2.

Desgl. desgl. Octavausg. Lustreise durch die sächs. Schweiz

ditto ditto Leipzig, Mor. Ruhl.

164

1.

Saalfeld, L. Riese

165

2.

Frenkel Predigten, Jahrgang 2. Heft 1. Kiesewetter, Briefsteller Auflage 9.

166

1.

Stuttgart, Hallberger.

167.

1.

Scheerer alte und neue Kinderlieder Borel, Album lyrique

168. 169.

1. 2.

Rank, der poetische Pilger Müller Karte der Eisenbahnen Mitteleuropas

das. ders. Glogau, Flemming.

170.

1.

das. das.

Glogau, Flemming

Stuttgart, Hallberger.

171.

1

Handtke Reisekarte von Deutschland Kunsch Reisekarte

172 173

1. 1.

Brockhaus Reise Atlas 8 desgl. in 48

dase F. A. Brokhaus das.

174.

1.

Gotha, Perthes.

175.

1.

Taschenatlas über alle Theile der Welt, Aufl. 6. Menzel Kunstwerke

176

1.

177.

1.

178.

1.

179.

1.1.

180

1.1.1.

181.

2.

Triest, litter. art. Abtheilung des öster. Lloyd.

Kahle, Verzierungen, architectonische plastische pp 1. 2. 3. Heck, Bilderatlas zum Convers. Lexicon Ausg. 4.

Berlin, allg. deutsche Verlagsanstalt, Sigism. Wolff.

Probestahlstiche zum 18 Jahr gang des Universums Chemnitzer Schulvorschriften von Blochwitz

Bibliogr. Jnstitut

Monatsschrift für Natur und Menschenkunde Heft 1. Brockhaus Reiseatlas von Henry Lange

Leipzig, Keil (Ernst.)

Leipz. Brockhaus

in Kommißion der Ernestischen Buchhandlung zu Chemnitz

Leipzig, Brockhaus.

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200

Werner Greiling

(Fortsetzung) No Stück zahl 182. 1

Titel

Verleger

Nick, Anleitung zum Schön und Geschwindschreiben

Ulm, Wohlersche Buchhandlung; Stutt gart H. Lindemann. Ulm, Expedition der Wohlerschen Verlagsbuchhandlung.

183.

1.

Nagel, Untersuchungen über die wichtigsten zum Dreiecke gehörigen Kreise

184

1.

185.

1.1.

Brunner Klavierschule für Kinder 4 Ausgabe C. M. v Weber Compos. für das Pianoforte Bd I H. 1. von Stolze 6 Var. über ein Thema v. Samori.

Leipzig bei Edm. Stoll. j: fest bestellt u bezahlt :j Wolfenbüttel, Holle.

186

1.1.

Stuttgart, Ed. Hallberger.

187.

1.1.

Dr. Fr. Lisst, das Pianoforte, Sammlung älterer u. neuerer Originalcompos. Heft 2tes Derselbe, 3tes Heft

188.

1.

Wolfenbüttel, L. Holle.

189.

1.

v. Weber Compos. für das Pianoforte Band I. II. Stolze, Schule durch Tonleiter und Accord, 3t Aufl.

190.

1.

Berlin, Verl. Hdlung Sigism. Wolff.

191.

1.

Rombergs, prakt. Baukunst Jahrg. 1857. Heft 1 – 3. Romberg Zimmerwerks-Bau kunst 3 t Aufl. Lief. 1.

192.

1.

193.

1.

194.

2.

195

1.

196.

1.

197.

2.

198.

2.

199.

1.

das.

Wolfenb. Holle.

Glogau 1857. Flemming

Vorlagen zu SchiefertafelStuttgart, Hallberger. Zeichnungen Dr. Georgens Bilderwerkstatt, Glogau, L. Flemming. arbeits übungen für die Jugend Journal f. Bau- und Möbel Tischler Bildhauer pp Heft 1. daßelbe Heft 2.

Berlin G. Reubke. das.

Europa, Chronik d. gebildeten Leipzig, L. B. Borck. Welt No. 41 – 52. von F. G. Kühne Der Erzähler, Jahrg. 12. Lief. 1. Schwäb. Hall u. Gerabronn, Wilhelm Nitzschke, 1857. Das freie Wort, Blätter für religiöse Aufklärung No. 1. 1857. Die Zukunft des Volkes, 1 Familienblatt Heft 1.

Basel, Chr. Mayri’sche Buchhandlung Basel 1857. E. Schardt, Buchbinder, Gerbergaße.

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Väter und Söhne des Bürgertums, oder: Aufstieg und Fall einer Verlegerfamilie

(Fortsetzung) No Stück zahl 200. 1. 201.

1.

202.

1.

203

1.

204.

1.

205

1.

Titel

Verleger

Wedemann, Längen- Flächen und Körperrechnung, 3t Aufl. derselbe, Fragen u. Aufgaben aus der Raumrechnung

Weimar 1857., Voigt.

Abt, Leichte Männerchöre 5tes Heft von Zöllner Abt, desgl. 6tes Heft von Kunze

Schleusingen, Konrad Glaser.

Musikal. Taschenbibliothek f. Guitarre v. Joh. Peyer 7tes Heft. Diabelli, ausgew. Kompositionen für das Pianoforte zu 4 Händen Op. 32. 33. 37. 38. 163.

201

das. Voigt.

das. Schaffhausen, Brodtmannsche Buchhandlung

[Unterschrift].

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Michael Maurer

Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena im 19. Jahrhundert

1. Hans-Werner Hahn hat gelegentlich von einem »sich schon vor 1914 abzeichnenden und danach noch rascher verlaufenden Entliberalisierungsprozess des lokalen und regionalen Bürgertums« gesprochen1 – in Jena, in Thüringen, in Deutschland. Während Bürger und Studenten zunächst 1848 zu einem beträchtlichen Teil ihre Hoffnung in die Revolution gesetzt hatten,2 wandten sie sich danach ebenfalls zu einem beträchtlichen Teil der Reichseinigung unter preußischer Führung und Bismarck zu, welcher nach seinem Rücktritt bei einem Besuch in Jena am 11. Juli 1892 auf dem Marktplatz triumphal empfangen wurde.3 Solche politisch-sozialen Orientierungsprozesse, liberale und konservative, regionale und nationale, lassen sich nicht zuletzt auf der Ebene der kulturellen Manifestationen, in Form von Denkmälern untersuchen.4 »Die Opposition […] baut keine Denkmäler«, heißt es bei Thomas Nipperdey ;5 damit verweist er auf den Aspekt von Macht und Herrschaft, der ohne 1 Hans-Werner Hahn: Zwischen Freiheitshoffnung und Führererwartung: Ambivalenz bürgerlicher Erinnerungskultur in Jena 1870 bis 1930, in: Jürgen John/ Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena – Ein nationaler Erinnerungsort? Köln, Weimar und Wien 2007, S. 73 – 91; hier: S. 73. 2 Vgl. Hans-Werner Hahn/Werner Greiling (Hg.): Die Revolution in Thüringen. Aktionsräume, Handlungsebenen, Wirkungen. Rudolstadt und Jena 1998. 3 Repräsentiert auch in einem bedeutenden Historiengemälde von Hans W. Schmidt (1908) im Hauptgebäude der Friedrich-Schiller-Universität Jena (abgebildet auf dem Titelblatt von Michael Maurer [Hg.]: Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln, Weimar und Wien 2010.) Im übrigen: Werner Greiling/Hans-Werner Hahn (Hrsg.): Bismarck in Thüringen. Politik und Erinnerungskultur in kleinstaatlicher Perspektive. Rudolstadt 2003. 4 Bei den Recherchen wurde ich unterstützt von Martin-Friedrich Kagel (Weimar/Jena), dem ich hiermit danken möchte. 5 Thomas Nipperdey : Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529 – 585; zit. nach: Thomas Nipperdey : Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur Neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 133 – 173; hier: S. 133.

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Michael Maurer

Zweifel auch zur Denkmalkultur gehört, wenngleich man über seine Gewichtung verschiedener Meinung sein kann. Während Denkmäler in der europäischabendländischen Tradition, seit römischer Zeit vor allem, wiedererfunden in der italienischen Renaissance, eindeutig Herrscherdenkmäler waren,6 die im Reiterdenkmal eines Machthabers gewissermaßen ihre eindrucksvollste Form fanden,7 ist das 19. Jahrhundert, als Jahrhundert des Bürgertums, durch eine staunenswerte Expansion des Denkmalwesens in allen europäischen Städten gekennzeichnet:8 Um 1800 hatte es nur 18 Denkmäler in deutschen Städten gegeben; 1883 waren es (nach Nipperdey) etwa 800.9 Das bedeutet, im Kern, eine Appropriation dynastisch-monarchischer Würdeformen durch breitere Kreise. In gewisser Hinsicht handelt es sich um eine geradezu selbstverständliche Verbreiterung der Teilhabe an Kultur in einem Zeitalter, das zunehmend kritisch als »Zeitalter der Massen« (Jos¦ Ortega y Gasset)10 begriffen wurde. In anderer Hinsicht lässt sich freilich durchaus fragen, ob solche Art von Kultur überhaupt wünschenswert und zeitgemäß war. Als »bürgerlich« lässt sich die Denkmalbewegung des 19. Jahrhunderts jedoch auch deshalb apostrophieren, weil durch Denkmäler ja auch eine gesteigerte ökonomische Potenz der Arbeitenden und Wirtschaftenden symbolisiert wurde: Nicht nur Fürsten, sondern auch Bürger konnten nun als ökonomisch potente Subjekte in Erscheinung treten. Freilich: Die Denkmalbewegung des 19. Jahrhunderts enthält nicht zuletzt auch den Aspekt, dass durch gemeinsames Handeln, durch den vereinsförmigen Zusammenschluss gleichgerichteten Wollens Einzelner, ein Effekt zu erreichen war,11 den man sich in einem fürstlich-absolutistisch organisierten Zeitalter noch kaum zu erträumen gewagt hatte.12 Mittels öffentlicher Aufrufe in der 6 Thomas H. von der Dunk: Das Deutsche Denkmal. Eine Geschichte in Bronze und Stein vom Hochmittelalter bis zum Barock. Köln, Weimar und Wien 1999. 7 Volker Hunecke: Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon. Paderborn u. a. 2008. 8 Helmut Scharf: Kleine Kunstgeschichte des deutschen Denkmals. Darmstadt 1984. 9 Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, S. 559 (bzw. Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie, S. 153). Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 537. 10 Jos¦ Ortega y Gasset: Gesammelte Werke. 6 Bde. Stuttgart 1978; Bd. 3, S. 7 – 155. 11 Zur Vereinsbewegung überhaupt vgl. Thomas Nipperdey : Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: Hartmut Boockmann u. a.: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 1 – 44 (auch in: Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie, S. 174 – 205). 12 Als Beispiel dafür : die nicht verwirklichten Pläne von Archenholtz für ein Denkmal für Leibniz, Sulzer, Lambert und Mendelssohn in Berlin 1786. Vgl. Johann Wilhelm von Archenholtz: England und Italien. Nachdruck der dreiteiligen Erstausgabe Leipzig 1785. Mit Varianten der fünfteiligen Ausgabe Leipzig 1787, Materialien und Untersuchungen der Textund Wirkungsgeschichte, Bibliographie und Nachwort. Hg. von Michael Maurer, 3 Bde. Heidelberg 1993 (hier : Bd. 3, S. 552 – 559).

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Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena

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Presse, im Kampf um den öffentlichen Raum, durch gemeinsames Spenden für einen als sinnvoll erachteten Zweck manifestierte sich eine bürgerliche Potenz, welche es mit derjenigen der Relikte traditionaler Herrschaft, den Dynastien, durchaus aufzunehmen in der Lage war. Die Denkmäler des 19. Jahrhunderts galten ganz überwiegend einzelnen Persönlichkeiten; sie ehrten das Verdienst und die Leistung bestimmter Individuen.13 In ihrer Summe aber stellten sie auch eine kulturelle Manifestation der Bürger, der Deutschen, der großen Männer dar. In dieser Hinsicht konkurrierten sie mit den Verdiensten, die man traditionell, an Erbrecht geknüpft, herausragenden »Vätern des Volkes« und Heerführern zusprach. Jedes einzelne bürgerliche Denkmal, das durch Spenden reicher Kapitalisten, organisierter Körperschaften, freier Vereine oder zu gleichem Zwecke zusammenwirkender Interessenten zustande gekommen war, symbolisierte über die persönlich-individuelle Distribution von Ehre und Zuerkennung von Verdienst auch die Kraft der neuen Zeit, die Möglichkeiten für Bürger, etwas im Sinne der Gemeinschaft und Gesellschaft Nützliches und Vorbildliches zu errichten. Und dies in einer Welt, die selbstverständlich noch immer wesentlich bestimmt war von traditionalen Kräften, von Monarchen und etablierten Ständen. Während man also – idealtypisch aufgefasst – sich die Denkmalsbewegung als zweigleisig vorstellen kann, einerseits dynastisch (wie seit Jahrhunderten), andererseits bürgerlich (wie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts), wird sich realgeschichtlich zeigen, dass diese Gegensätze in komplexer Weise miteinander amalgamiert in Erscheinung traten. Deshalb gilt auch Nipperdeys Satz »Die Opposition […] baut keine Denkmäler« nur soweit, wie der Machtaspekt für die Denkmalkultur entscheidend war, und versagt dort, wo andere Aspekte die Oberhand gewinnen. Erfolgreiche Denkmalsetzungen können auch als Triumph der einen oder anderen Seite gesehen werden, ebenso wie verhinderte, gescheiterte oder verzögerte Denkmalsetzungen ihrerseits Ergebnisse oder Zwischenstände im Kampf um Anteile an der Herrschaft im lokalen, regionalen oder nationalen Bereich symbolisieren können. Wenn Opposition zur Herrschaft gelangt, kann sie natürlich auch Denkmäler setzen; Nipperdeys Satz lautet, vollständig zitiert: »Die Opposition baut, solange sie nichts als Opposition ist, keine Denkmäler.« Im Kampf um Anerkennung bestimmter Verdienste und die Durchsetzung bestimmter Interessen wird nicht immer oder nicht ausschließlich der wirt13 Nach Helmut Scharf kommt dem Luther-Denkmal in Wittenberg (von Gottfried Schadow, 1817 – 1821) hier der Primat zu: »Luther war der erste »Zivilist«, der in einem Einzeldenkmal geehrt wurde, nachdem diese Ehre zuvor ausschließlich Herrschern oder Feldherr zuteilwurde. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das einzelne StandbildDenkmal für Künstler, Schriftsteller, Musiker und Erfinder bis zum sozialen Wohltäter immer häufiger« (Scharf, Kleine Kunstgeschichte, S. 179).

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Michael Maurer

schaftliche oder politische oder soziale Weg gewählt, der durch die Verfassung und die vorhandenen Institutionen gewiesen ist, sondern ein indirektes Vorgehen über Aktivitäten im kulturellen Raum vorgezogen. Im 19. Jahrhundert wurde zu diesem Zweck nicht zuletzt auch das Medium »Denkmal« entwickelt. Das Denkmal steht im öffentlichen, im sozialen Raum;14 dementsprechend bedeutet eine Denkmalsetzung Besetzung des öffentlichen Raumes – und umgekehrt Denkmalstürze Wiedereroberungen des öffentliches Raums.15 Wie Zeitungen und Zeitschriften öffentliche Meinung ausdrücken und gestalten;16 wie Feste gesellschaftliche Manifestationen kultureller Potenz ausdrücken,17 sind auch Denkmäler öffentliche Aktionen, welche soziale Wertschätzung zuordnen und distribuieren. Zumal man alle diese Medien des 19. Jahrhunderts in einem wechselwirksamen Verbund sehen muss: Keine Denkmalsetzung ohne ein großes Rauschen im Blätterwald, wenn auch teilweise nur auf lokaler Ebene, im innerstädtischen Bereich. Keine Denkmalsetzung ohne öffentliche Feiern, zuweilen mit mehrtägigem Festprogramm unter Einschluss von Musikaufführungen, lebenden Bildern, Theateraufführungen, Gottesdiensten und Prozessionen – vom rhetorischen Aufwand ganz zu schweigen. Die in der Kunstgeschichte so zentrale Befassung mit Denkmälern als Artefakten, ihrer Stellung im Œuvre eines bestimmten Bildhauers, der Denkmalgestaltung nach antiken oder modernen Prinzipien (»Kostümstreit«),18 der Ausdeutung der mitgezeigten Symbole, unterstützenden Denkmalsockel, Denkmalfriese und Inschriften rückt bei solcher Betrachtung eher in den Hintergrund: Denkmalsetzung bedeutet Aktion, politische und soziale Aktion. Das Artefakt Denkmal (ob nun als Bronzeguss oder in Marmor) ist nicht in erster Linie Ausdruck individuell-genialer Produktion eines Künstlers, sondern Ergebnis oft langjähriger Vereinstätigkeit, Lobbyarbeit, Abschluss von Wettbewerben und öffentlichen Ausschreibungen, die nur zu einem Teil Wettbewerbe um ästhetisch überzeugende künstlerische Lösungen darstellen, zu einem an14 Vgl. Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995. 15 Dazu Winfried Speitkamp (Hg.): Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen 1997. 16 Überblick: Sibylle Obenaus: Literarische und politische Zeitschriften 1830 – 1848. Stuttgart 1986. Sibylle Obenaus: Literarische und politische Zeitschriften 1848 – 1880. Stuttgart 1987. Thüringen: Werner Greiling: Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert. Köln, Weimar und Wien 2003. 17 Vgl. Dieter Düding/ Peter Friedemann/ Paul Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek bei Hamburg 1988. Maurer, Festkulturen im Vergleich. 18 Der »Kostümstreit« wurde vor allem im Kampf um die Gestaltung von Denkmälern der Dichter und Geistesgrößen ausgetragen, etwa bei den Goethe- und Schillerdenkmälern: Rolf Selbmann: Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte aus Erz und Stein. Stuttgart 1988, vor allem S. 60 – 139.

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Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena

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deren Teil aber als Auseinandersetzungen um soziale und politische Durchsetzung von Organisationsprinzipien, philosophischen Ideen, religiösen Glaubensmeinungen oder weltanschaulichen Bekenntnissen anzusehen sind. Dementsprechend müsste also der Prozess einer Denkmalplanung, Denkmalsammlung, Denkmalgestaltung, Denkmalaufstellung, Denkmalenthüllung und Denkmalbenutzung als soziale Aktion klarer ins Auge gefasst werden, als dies bislang üblich ist. Und diese Aktion manifestiert sich – das ist mein entscheidender Gesichtspunkt – im Denkmal als einem Medium der Kultur. Geistesgeschichtlich befinden wir uns im 19. Jahrhundert in einem »Zeitalter des Individualismus«, ja »Subjektivismus«:19 Der Mythos des Künstlers als Schöpfer und Genie beherrschte die allgemeine Vorstellung;20 insofern war es zeittypisch und konsequent, gerade in künstlerischen Leistungen (primär in der Bildhauerkunst, aber begleitend, wie angedeutet, auch in der Musik, im Theater, in der Bildenden Kunst, in der Redekunst und anderen Künsten) das Optimum menschlicher Möglichkeiten zu sehen. Künstlerische Leistungen wurden von bürgerlichen Künstlern erbracht und eigneten sich auch insofern in besonderer Weise als Ausdruck bürgerlichen Bewusstseins und Anspruchs. Andererseits waren bürgerliche Künstler, schon gar als Bildhauer, seit Jahrhunderten von Fürsten zu ihren Zwecken in Dienst genommen worden, was auch Ausbildung und Förderung einschloss.21 Das Verhältnis der Dynastien zu den Künstlern umfasst insofern ein weiteres Feld der Kulturpolitik, das gerade in Weimar mit hohem Ehrgeiz bestellt wurde.22 Dies sollte auch dort im Blick bleiben, wo Aufträge an auswärtige Künstler vergeben wurden, sich also der Gesichtspunkt territorialer Kulturförderung und Kulturpolitik zunächst nicht aufdrängt. Der geistesgeschichtliche Gesichtspunkt spielt in Bezug auf die Denkmalkultur ferner auch deshalb eine besondere Rolle, weil in einem individualistischen Zeitalter der goethezeitliche Geniegedanke eine besondere Steigerung, ja Übersteigerung erfuhr. Der Schiller-Biograph und Goethe-Übersetzer Thomas Carlyle publizierte in dieser Zeit seine berühmten Essays On Heroes, HeroWorship, and the Heroic in History (1841); Friedrich Nietzsche steigerte den Heroenkult zum Kultus des Übermenschen.23 Das Eingreifen heroischer Indi19 Vgl. die Periodisierung der Geschichte nach Karl Lamprecht: Moderne Geschichtswissenschaft. Freiburg im Breisgau 1905, S. 22 – 50. 20 Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. 21 Vgl. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 2. Aufl. 1996. 22 Davon zeugen nicht zuletzt gedruckte Schriften, wie beispielsweise eine Rede, die für Maria Pawlowna gehalten wurde: Ludwig Friedrich von Froriep: Ueber öffentliche Ehrendenkmäler. Weimar 1836. 23 Vgl. Friederike Schmidt-Möbus/ Frank Möbus: Kleine Kulturgeschichte Weimars. Köln, Weimar und Wien 1998, S. 240 – 249.

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Michael Maurer

viduen in die Geschichte, die Gestaltung des kollektiven Menschenschicksals durch übermächtige Individuen, hatte gerade durch die Erscheinung Napoleons zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen entscheidenden Schub der Evidenz erfahren: Goethe und Hegel spiegelten sich in diesem Heros der Geschichte und befeuerten mit solchem Denken den Kult des Individuums von weltgeschichtlicher Größe.24 Jede Aufstellung einer lebensgroßen oder überlebensgroßen Statue einer Persönlichkeit im öffentlichen Raum, jedes Hervorheben eines bestimmen Individuums durch Plastik bedeutete zugleich einen Ausdruck solchen Geniekultes und einen Anspruch des großen Einzelnen auf Herrschaft, auf Führerschaft. Auch in diesem Sinne konkurrierten dynastische und bürgerliche Denkmäler in der Öffentlichkeit um Aufmerksamkeit. Ihre phänomenale Präsenz und Prägnanz bedeutete jeweils einen gewissen Abschluss – Dokumentation des bereits Erreichten – und enthielt zugleich einen Zukunftsentwurf, wie Weiteres zu gestalten und zu erreichen sei. Mehr als zu uns Heutigen sprachen die Denkmäler zu den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts: Sie redeten so laut, so anhaltend und so aufdringlich, dass sich schließlich ihre künstlerische Aussagekraft abgenutzt, das Medium »Denkmalkultur« verbraucht hatte. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts findet sich eine vermehrte Kritik der »Denkmalwut«.25 Mit dem Ersten Weltkrieg und der künstlerischen Moderne geriet das Denkmal an die »Grenze seiner Sprachfähigkeit« (Felix Reuße).26 Die Epoche des Denkmals – in diesem Sinne vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert – ist also zugleich jene Epoche, die häufig als »Epoche des Bürgertums« oder des »Aufstiegs des Bürgertums« gesehen worden ist und wohl auch noch immer so gesehen wird.27 Diese Charakterisierung kann verschieden ausgelegt werden: Traditionell wird sie eher politisch und sozial gedeutet; aktuell wird wohl der kulturelle Gesichtspunkt stärker gewichtet.28 24 Vgl. Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008 (vor allem S. 221 – 251). 25 Vgl. Max Schasler : Ueber moderne Denkmalwuth. Berlin 1878. Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 104 – 139. 26 Felix Reuße: Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit. Stuttgart 1995. 27 Vgl. die Epochendarstellungen: Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 4 Bde. München 1987. Eric J. Hobsbawm: Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848 – 1875. Frankfurt a. M. 1980. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Dieter Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1849. München 4. Aufl. 2004. Wolfram Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806 – 1871. München 1995. Hans-Werner Hahn/ Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49. Stuttgart 2010 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 10., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 14). 28 Vgl. Dieter Hein/ Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996. Manfred Hettling/ Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der

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Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena

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Soweit man die Epoche, das »lange 19. Jahrhundert«, unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts sieht, ist sie eine Epoche des Übergangs von agrarischer Dominanz zu industrieller Dominanz, verbunden mit einer Verbreiterung der Sozialgeschichte durch eine immer weiter vordringende Arbeiterschaft. Die sozialen Prozesse spiegeln sich auf politischer Ebene als Ringen um Verfassungen, um demokratische Teilhabe, um eine Ausweitung des Wahlrechts. Umstritten unter Zeitgenossen war, wie weit soziale Umgestaltung am besten in einem monarchischen Staat bewerkstelligt werden könne und wie weit sich Dynastien (schon gar Erbmonarchien!) überlebt hätten und deshalb neuen Organisationsformen des Politischen weichen müssten. Denkmalkultur stellt in diesem Zusammenhang ein einzelnes Spielfeld der Auseinandersetzung dar : Im Kampf um Denkmäler für Fürsten oder Würdigung bürgerlichen Verdiensts spiegelt sich auch symbolisch eine Auseinandersetzung um die Deutung der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft. Schließlich ist festzuhalten, dass eine der entscheidenden Strömungen des 19. Jahrhunderts, schon gar in Deutschland, aber auch in Europa überhaupt, in der nationalen Bewegung zu sehen ist.29 Auf dem Felde der Denkmalkultur ergab sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein immer stärkeres Drängen auf Nationaldenkmäler, also organisatorisch-gestalterische Großunternehmungen, in welchen sich die Einheit der Nation, ihrer Staaten und Stände, ihrer Stämme und Schichten zu ästhetisch erlebbaren Symbolen verdichten sollte.30 Man denke an das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, an die Kaiser-Wilhelms-Denkmäler, vor allem an die Bismarck-Denkmäler, an das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig, die Vollendung des Kölner Doms und anderes mehr.31 Diese Ebene der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000. Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005. Hans-Werner Hahn/ Dieter Hein (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. Köln, Weimar und Wien 2005. 29 Theodor Schieder : Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Hg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 2. Aufl. 1992. Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770 – 1840). Frankfurt a. M. 1998. John Breuilly : Nationalismus und moderner Staat. Deutschland und Europa. Köln 1999. Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000. 30 Vgl. Nipperdey, Nationaldenkmäler, sowie Thomas Nipperdey : Der Kölner Dom als Nationaldenkmal, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 595 – 613 (auch in Thomas Nipperdey : Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München 1986, S. 156 – 171). 31 Dazu im vorliegenden Kontext nur wenige Hinweise: Klaus Bemmann: Deutsche Nationaldenkmäler und Symbole im Wandel der Zeiten. Göttingen 2007. Deutsche Nationaldenkmale 1790 – 1990. Bielefeld 1993. Diana Maria Friz: Kyffhäuserbund und Kyffhäuserdenkmal. Zum 100jährigen Jubiläum der Einweihung des Kyffhäuserdenkmals am 18. Juni 1996. Arolsen [1996]. Sven Frotscher u. a.: Der Kyffhäuser. Natur, Geschichte, Architektur, Denkmale Europas. O. O., o. J. [1996]. Gunther Mai (Hg.): Das Kyffhäuser-Denkmal 1896 – 1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext. Köln, Weimar und Wien 1997.

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nationalen Großunternehmungen, in denen durchaus auch Konkurrenz und Zusammenwirken bürgerlichen Drängens und dynastischen Beharrens erkennbar wird, soll im Folgenden ausgeblendet bleiben. Durch die Fokussierung auf zwei Städte innerhalb eines Territoriums, des Großherzogtums SachsenWeimar-Eisenach, ergibt sich eine Konzentration auf den Gegensatz von Dynastie und Bürgertum, von Ehre qua Erbrecht einerseits und Würdigung bürgerlicher Leistung andererseits.

2. Auf der einen Seite also Weimar : die Haupt- und Residenzstadt des überschaubaren Ländchens Sachsen-Weimar-Eisenach;32 auf der anderen Seite Jena, die Universitätsstadt, die sich in dieser Epoche in enger Verbindung mit der Universität auch zur Industriestadt entwickelte.33 Während man auf der einen Seite die räumliche Nähe und kulturräumliche Einheit betonen wird – Goethe sprach nicht ohne Berechtigung von »zwey Enden einer großen Stadt« –,34 so wird man auf der anderen Seite die unterschiedliche Prägung einerseits durch Peter Hutter: »Die feinste Barbarei«. Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Mainz 1990. Katrin Keller/ Hans-Dieter Schmid (Hg.): Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur. Leipzig 1995. Volker Rodekamp (Hg.): Völkerschlachtdenkmal Leipzig. Leipzig 2. Aufl. 2004. Anna-Lena Klaus: Inszenierte Nation. Das Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert. Die Walhalla und das Hermannsdenkmal. Marburg 2008. Kai Krauskopf: Bismarckdenkmäler. Ein bizarrer Aufbruch in die Moderne. Hamburg und München 2002. Jörg Schilling: »Distanz halten«. Das Hamburger Bismarckdenkmal und die Monumentalität der Moderne. Göttingen 2006. Ulrich Schlie: Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen. München 2002. 32 Georg Bollenbeck: Weimar, in: Etienne FranÅois/ Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München 2001, S. 207 – 224. Georg Bollenbeck u. a. (Hg.): Weimar – Archäologie eines Ortes. Weimar 2001. Friederike Schmidt-Möbus/ Frank Möbus: Kleine Kulturgeschichte Weimars. Köln, Weimar und Wien 1998. Jochen Klauß: Weimar. Stadt der Dichter, Denker und Mäzene. Von den Anfängen bis zu Goethes Tod. Düsseldorf und Zürich 1999. Peter Merseburger : Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht. München 4. Aufl. 2005. Annette Seemann: Weimar. Eine Kulturgeschichte. München 2012. 33 Herbert Koch: Geschichte der Stadt Jena [1966]. Jena u. a. 1996. Erich Maschke: Universität Jena, Köln und Graz 1969. Ernst Borkowsky : Das alte Jena und seine Universität. Jena 1908. Siegfried Schmidt u. a. (Hg.): Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Weimar 1983. Günter Steiger : »Ich würde doch nach Jena gehen«. Geschichte und Geschichten, Bilder, Denkmale und Dokumente aus vier Jahrhunderten Universität Jena. Weimar 1989. [Max Steinmetz (Hg.):] Geschichte der Universität Jena 1548/58 – 1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. Im Auftrag von Rektor und Senat verfasst und herausgegeben von einem Kollektiv des Historischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2 Bde. Jena 1958 – 62. 34 Vgl. Jürgen John/ Volker Wahl (Hg.): Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Weimar-Jena. Weimar. Köln und Wien 1996, S. IX.

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den Hof, andererseits durch die Universität akzentuieren. Während das dynastisch-politische Klima ebenso wie das lutherisch-konfessionelle über Jahrhunderte einheitlich war,35 bedeutete die Akzentuierung der »Hofstatt« nebst Spitze der Landeskirche in Weimar einerseits natürlich die Zuordnung städtischer Bürgerschaft zum Hof und die Ausprägung eines vielfach von Zeitgenossen bezeugten Residenzcharakters, während andererseits Jena durch die Universität mit den ihr zugehörigen Einrichtungen (zumal sie jahrhundertelang eine eigene Korporation mit eigenem Gerichtsstand gebildet hatte) ein anderes Milieu ausprägte, das akademische, in dem die zahlreiche jugendliche Population der Studenten die entscheidende Differenz ausmachte. Es wäre überraschend, wenn nicht – trotz aller kulturräumlichen Nähe und Vergleichbarkeit – so unterschiedlich ausgeprägte Charakterisierungen auch zu erkennbaren Differenzen der Denkmalkultur geführt hätten. Auf der Gegenseite muss man jedoch auch bedenken, dass Weimar schon seit den Zeiten des »Musenhofes« Anna Amalias führende Geister aus ganz Deutschland angezogen hatte, insofern also einen Effekt ausgeübt hatte, der dem einer Universität vergleichbar war.36 Andererseits fällt zwar in Jena auf, dass es – anders als gleichzeitige Universitätsstädtchen in anderen Teilen Deutschlands – durch die Verbindung mit der entstehenden Industrie im Bereich Optik und Glas wie auch überhaupt im naturwissenschaftlichen Bereich, die akademische Komponente zumindest ergänzte, was allerdings (in geringem Maße) auch in Weimar der Fall war, wo etwa durch die Bertuch’sche Fabrik die Verbindung zum Hofe und die mögliche Einbeziehung ästhetisch und kunstgewerblich stilbildender Schriftsteller und Gelehrter sowie durch die Förderung von Buchdruck und Buchhandel und damit verbundenen gewerblichen Unternehmungen die rein höfische Prägung der Stadt zumindest ergänzt wurde um eine weitere Komponente.37 35 Kaum abgeschwächt in den wenigen Jahren der dynastischen Aufteilung, in denen Jena selber eine Residenz war (1678 – 1690), vgl. Koch, Geschichte der Stadt Jena, S. 144 – 170. Dirk Endler : Das Jenaer Schloß. Die Residenz des Herzogtums Sachsen-Jena. Rudolstadt und Jena 1999. 36 Vgl. Joachim Berger : Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1737 – 1807). Denk- und Handlungsräume einer »aufgeklärten« Herzogin. Heidelberg 2003. Joachim Berger (Hg.): Der Musenhof Anna Amalias. Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei im klassischen Weimar. Köln, Weimar und Wien 2001. Marcus Ventzke: Das Herzogtum SachsenWeimar-Eisenach 1775 – 1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft? Köln, Weimar und Wien 2004. Marcus Ventzke (Hg.): Hofkultur und aufklärerische Reformen in Thüringen. Die Bedeutung des Hofes im späten 18. Jahrhundert. Köln, Weimar und Wien 2002. 37 Walter Steiner/ Uta Kühn-Stillmark: Friedrich Justin Bertuch. Ein Leben im klassischen Weimar zwischen Kultur und Kommerz. Köln, Weimar und Wien 2001. Gerhard R. Kaiser/ Siegfried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch (1747 – 1822) – Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000. Zu Buchdruck und Buchhandel in Weimar vgl. Seemann, Weimar. Eine Kulturgeschichte, S. 239.

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Während die Residenzstadt Weimar im 19. Jahrhundert über längere Phasen eine sehr bewusste, konzentrierte und erfolgreiche Imagepolitik und Kulturförderung betrieb (das lässt sich für die Epoche Carl Augusts, Maria Pawlownas, Carl Alexanders und seiner Gattin Sophie festhalten),38 war der Ruf Jenas stärker an das Auf und Ab der Universitätsgeschichte gebunden, mithin an den Ruf oder die Mittelmäßigkeit seiner Gelehrten. Während also Weimar auf der einen Seite im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen von Rang anzog, die sich an Goethe und Schiller, Herder und Wieland erinnerten und auf ihren Spuren wandeln wollten, kamen nach Jena neben den Studenten, die bestimmte wissenschaftliche Größen einzelner Fächer aufsuchten, auch vermehrt solche Studenten, die burschenschaftlich organisiert waren und sich besonders durch die jugendbündlerische, aber auch demokratische und schließlich nationale Tendenz angesprochen fühlten, die seit dem nationsweit beachteten Wartburgfest von 1817 mit Jena verbunden wurde.39 Es wäre nicht überraschend, diese Tendenz auch in einer entsprechenden Denkmalkultur verwirklicht zu sehen. Schließlich war das »lange 19. Jahrhundert« eine herausragende Zeit des Wandels: Man kann die Gesamtepoche nur mit einiger Mühe und Gewaltsamkeit mit einheitlichen Begriffen kennzeichnen. Bei Besichtigung der Denkmäler muss also auch mitbedacht werden, dass sich Weimar um 1900 zu einem zentralen Ort der künstlerischen Avantgarde entwickelte (Harry Graf Keßler und Henry van de Velde wären zu nennen)40 und insofern ein »Erinnerungsort« wurde, der nicht mehr ausschließlich auf die Goethezeit verwies, die noch im »Silbernen Zeitalter« Franz Liszts allgegenwärtig gewesen war. Und Jena gewann durch Ernst Haeckel, Ernst Abbe, Carl Zeiß, Otto Schott sowie Eugen Diederichs ein auf andere Weise spezifisch modernes Image,41 dessen Spuren man ebenfalls in der Reihe der Denkmäler wiederfinden kann. Insofern lässt sich keine reine typologische Zuordnung treffen, die etwa der Residenzstadt Weimar eine dynastisch geprägte Denkmalkultur, der Universitätsstadt Jena aber eine bürgerliche Denkmalkultur zuordnen würde. Es wird sich vielmehr zeigen, wie beide Tendenzen wechselnd zusammenwirken und sich behindern, sich steigern und gegenseitig zu übertreffen suchen. Dies ist das Thema der anzustellenden Untersuchung.

38 Vgl. Seemann, Weimar. Eine Kulturgeschichte, S. 67 – 240. Möbus-Schmidt/ Möbus, S. 94 – 248. 39 Vgl. Joachim Bauer/ Holger Nowak/ Thomas Pester : Das burschenschaftliche Jena. Urburschenschaft und Wartburgfest in der nationalen Erinnerung der Deutschen, in: John/ Ulbricht, Jena – Ein nationaler Erinnerungsort? S. 163 – 182. 40 Vgl. Angelika Pöthe: Fin de siÀcle in Weimar. Köln, Weimar und Wien 2011. 41 Meike G. Werner : Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de SiÀcle Jena. Göttingen 2003.

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3. Nach Ansätzen unter Anna Amalia und Maria Pawlowna prägt sich in Weimar unter dem Großherzog Carl Alexander (er regierte von 1853 bis 1901) und seiner Gattin Sophie jenes »Silberne Zeitalter« Weimars aus, in dem sich Stadt, Land und Dynastie wesentlich unter Rückbezug auf das »klassische Weimar« definierten, auf das »Goldene Zeitalter« Goethes und Carl Augusts. Das bedeutet Verschiedenes: (1) Man lebt im »Musensitz an der Ilm« in der klaren Erkenntnis der Differenz zwischen der eigenen Zeit und der klassischen Zeit; man hält die eigene Zeit für eine Zeit der »Epigonen« (Karl Leberecht Immermann),42 welche sich an der Stütze der Erinnerung aufrechthalten müssen. (2) Diesen Rückgriff unternimmt man ganz bewusst, als eine Art von »Renaissance«, über den Bruch der Zeit des Großherzogs Carl Friedrich hinweg, welcher wenig Bewusstsein von Kultur und Klassik gezeigt hatte43 (wenn auch durch seine Gattin Maria Pawlowna neben ausgeprägt sozialkaritativer Tätigkeit auch Kunstförderung stattgefunden hatte und eine Art von Memorialkultur gepflegt worden war, die man auch in der Perspektive der Kontinuität sehen kann).44 (3) In Carl Alexander lebte ein romantischer Geist, welcher ein Behagen in dieser Rückwärtswendung fand:45 Deutlicher noch als in Weimar tritt diese Komponente bei der Restaurierung der Wartburg und ihrer Herrichtung zu einem Nationaldenkmal und Nationalwallfahrtsziel in Erscheinung.46 Der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach erinnerte damit an ein deut42 Immermanns Roman erschien 1836. 43 Zu Großherzog Carl Friedrich (er regierte von 1828 bis 1853) vgl. Klaus Günzel: Das Weimarer Fürstenhaus. Eine Dynastie schreibt Kulturgeschichte, Köln, Weimar und Wien 2001, S. 105 – 137. 44 Vgl. Christian Hecht: Dichtergedächtnis und fürstliche Repräsentation. Der Westflügel des Weimarer Residenzschlosses. Architektur und Ausstattung. Ostfildern-Ruit 2000. Umfassend nun der Ausstellungskatalog: »Ihre Kaiserliche Hoheit«. Maria Pawlowna. Zarentochter am Weimarer Hof, Weimar 2004. 45 Zu Carl Alexander vgl. Günzel, Das Weimarer Fürstenhaus, S. 139 – 173. Vor allem aber Angelika Pöthe: Carl Alexander. Mäzen in Weimars »Silberner Zeit«. Köln, Weimar und Wien 1998. Aufschlussreich auch der folgende Briefwechsel: »Weimars Pflichten auf der Bühne der Vergangenheit«. Der Briefwechsel zwischen Großherzog Carl Alexander und Walther Wolfgang von Goethe. Hrsg. von Ren¦ Jacques Baerlocher und Christa Rudnik. Göttingen 2010. 46 Etienne FranÅois: Die Wartburg, in: Etienne FranÅois/ Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. München 2001, S. 154 – 170. Günter Schuchardt: »Die Burg des Lichts«. Zur Restaurierungsgeschichte der Wartburg als nationaldynastisches Projekt, in: Lothar Ehrlich/ Justus H. Ulbricht (Hg.): Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach: Erbe, Mäzen und Politiker, Köln 2004, S. 201 – 217. Luthers Bilderbiographie. Die einstigen Reformationszimmer der Wartburg, Regensburg 2012.

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sches Kernland des Mittelalters (Landgraf Hermann von Thüringen, Heilige Elisabeth, »Sängerkrieg auf der Wartburg«) und zugleich der Reformation (Luther auf der Wartburg, die Wettiner Herzöge als Schützer der Reformation). In Weimar war Richard Wagner willkommen, und zwar als Komponist des Tannhäuser.47 Man zog Franz Liszt nach Weimar und sah es gerne, wenn er sich Stoffen der Vergangenheit zuwandte.48 Friedrich Hebbel wurde vor allem aufgrund seiner Arbeit am Nibelungenstoff gefördert.49 Mit Franz Dingelstedt arbeitete man an einer neuen Heimat für Shakespeare in Deutschland, die nur in Weimar ihren Ort finden konnte.50 (4) Alle diese Memorialaktionen inszenierten die Einheit von Dynastie und Untertanenschaft. Carl Alexander erschien als Erbe und Nachkomme Carl Augusts, des Goethe-Fürsten; zeitgenössisch empfand man größtes Behagen, Goethe als einen »Dichterfürsten« zu apostrophieren und ihn in einem Zusammenwirken von »Geist und Macht« zu inszenieren.51 Die Weimarer Bürger und Untertanen sollten empfinden, was man ihnen nahelegte: »Goethe und Schiller sind unser«.52 Sie sollten zu ihren Heroen aufschauen und gleichzeitig etwas von vereinnahmendem Stolz empfinden. Und die Dynastie bot dafür mehr als den Rahmen: In dieser Zeit entstand die »Musenhof«-Legende (der Begriff findet sich als Buchtitel zuerst bei Wilhelm Wachsmuth, 1844);53 die vorausschauende Dynastie hatten offenbar die Blüten des deutschen Geistes an sich zu ziehen gewusst. Dafür schuldete 47 Vgl. Dieter Borchmeyer : Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit. Stuttgart 2013, S. 133 – 149. Detlef Altenburg: Wagners Tannhäuser, Liszts neues Weimar und Carl Alexanders WartburgProjekt, in: Jutta Krauß (Hg.): Wie der Tannhäuser zum Sängerkrieg kam. Richard Wagner zum 200. Geburtstag. Regensburg 2013, S. 86 – 106. 48 Detlef Altenburg (Hg.): Franz Liszt. Ein Europäer in Weimar. Katalog der Landesausstellung Thüringen im Schillermuseum und Schlossmuseum Weimar 24. Juni – 31. Oktober 2011. Köln 2011. Axel Schröter : Liszts Wirken in Weimar. Innen- und Außensicht, in: Hellmut Seemann/ Thorsten Valk (Hg.): Übertönte Geschichten. Musikkultur in Weimar. Göttingen 2011, S. 155 – 173. Michael Schwalb/ Angelika Fischer : Franz Liszt in Weimar : die Jahre 1869 – 1886 in der Hofgärtnerei. Berlin 2012. 49 Seemann, Weimar. Eine Kulturgeschichte, S. 224 f. 50 Schmidt-Möbus/ Möbus, Kleine Kulturgeschichte Weimars, S. 212 f. 51 Vgl. Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst, in: Victor Lange/ Hans-Gert Roloff (Hg.): Dichtung, Sprache, Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen Germanistenkongresses in Princeton. Frankfurt a. M. 1971, S. 439 – 455. 52 1864 wurde in Weimar die Shakespeare-Gesellschaft gegründet, unter der Schirmherrschaft der Großherzogin Sophie. Man erinnerte sich dabei auch an Christoph Martin Wieland, den ersten Übersetzer, der eine deutsche Shakespeare-Ausgabe wagte. Auch Anna Amalia hatte in Tiefurt schon Shakespeare einen Denkstein gesetzt. (Vgl. Seemann, Weimar. Eine Kulturgeschichte, S. 218.) 53 Wilhelm Wachsmuth: Weimars Musenhof in den Jahren 1770 – 1807. Historische Skizze. Berlin 1844. Vgl. Angela Borchert: Die Entstehung der Musenhofvorstellung aus dem Angedenken an Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, in: Berger, Der Musenhof Anna Amalias, S. 165 – 187.

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man ihr Dank. Durch Goethe und Schiller, Herder und Wieland war Weimar in den Blickpunkt des deutschen Kulturlebens gerückt. Die Klassikerverehrung des 19. Jahrhunderts wirkte darauf hin, dass Weimar nun immer mehr zu einem »Ort des Geistes« wurde, an den man wallfahrtete (wenn auch in den ersten Jahrzehnten nach Goethes Tod 1832 das Goethehaus von seinen Enkeln noch weitgehend verschlossen gehalten wurde und der Öffentlichkeit entzogen blieb).54 (5) Allmählich begriffen die Weimarer Großherzöge und ihre Gattinnen, dass die Förderung des Andenkens der Klassiker in Weimar nicht nur ihr Ansehen auf der nationalen Bühne zu mehren geeignet war, sondern auch wirtschaftliche Folgen für die Stadt Weimar hatte. Förderung des Klassikerkultes wurde als Förderung des Tourismus erkannt; Touristen brachten Geld nach Weimar, das die Bürger einer Kleinstadt, die zu Goethes Zeiten noch eine Ackerbürgerstadt abseits der Handelsstraßen gewesen war, dringend brauchen konnten. Die Fertigstellung der Eisenbahnlinie 1847 schloss Weimar an den Verkehr an, der sich in den darauffolgenden Jahrzehnten rasch zu einem Eisenbahnnetz verdichten sollte.55 Die Denkmalaktivitäten der Stadt Weimar im 19. Jahrhundert lassen sich allesamt in diesem Rahmen verstehen. Es gibt keinen grundlegenden Gegensatz zwischen Dynastie und Bürgertum, weil die Dynastie die Denkmäler bürgerlicher Heroen selber fördert und ihre eigene Legitimität damit verstärkt, dass sie durch Kulturförderung populär wird. Das Bürgertum seinerseits hat nichts dagegen einzuwenden, dass die Herrscher, welche sich als so segensreich für den Flor des Landes erweisen, sich ihrerseits im Denkmal verewigen. Und die Dynasten sorgen mithilfe führender Künstler dafür, dass der Abstand gewahrt bleibt: Während bei der Planung der frühen Denkmäler um die Jahrhundertmitte noch darum gerungen wurde, ob Dichter und Denker nicht durch Denkmalsbüsten adäquat geehrt werden sollten – also vollplastische Ganzfiguren den Fürsten und Feldherren vorbehalten geblieben wären –,56 löste sich diese Frage nach der Entscheidung für die »große Lösung« für Geistesfürsten dann dahingehend auf, dass für die Weimarer Dynasten, da sie ja unter nicht wenigen ganzfigurigen Dichterdenkmälern zu stehen gekommen wären, nur noch Reit-

54 Seemann, Weimar. Eine Kulturgeschichte, S. 189; Schmidt-Möbus/Möbus, Kleine Kulturgeschichte Weimars, S. 237. 55 Eisenbahnverdichtung: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835 – 1985, 2 Bde. Berlin 1985. Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800 – 1914. Ostfildern 2005. Erich Preuß: Deutsche Eisenbahnen 1835 bis heute. Stuttgart 2010. 56 Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 64 – 67.

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erdenkmäler in Frage kamen (während in anderen deutschen Städten Fürsten nicht in allen Fällen zu Pferde zu sitzen kamen).57 Das hängt wohl auch mit der relativ späten Errichtung dieser Herrscherdenkmäler zusammen: Der Grundstein für das Denkmal für Carl August wurde zwar schon 1857 gelegt, das Denkmal selber (als Reiterdenkmal) aber erst 1875 enthüllt, Weimars zweites Reiterstandbild, für Carl Alexander, gar erst 1907 auf dem Goetheplatz.58 Das Ineinander von Klassikerpflege und Fürstenehrung wird vielleicht am deutlichsten darin, dass das Carl-August-Denkmal von Adolf Donndorf 1875 zu einem Termin eingeweiht wurde, der gleichzeitig dem Gedenken an seinen Regierungsantritt und an die Berufung Goethes nach Weimar (1775) galt.59 Die Zeitfolge bei der Aufstellung der Weimarer Denkmäler verdient besondere Interpretation. Das früheste Weimarer Großdenkmal (sieht man von den Denkmälern auf Friedhöfen und den Denksteinen im Tiefurter Park, im Ilmpark und in der Weimarer Umgebung ab)60 wurde Johann Gottfried Herder gewidmet. Anlass für die dazu führenden Überlegungen bot sein 100. Geburtstag 1844, der mit großen Feierlichkeiten begangen wurde.61 Im Falle Herders fällt darüber hinaus besonders ins Auge, dass Initiativen aus München und Darmstadt, ja aus ganz Deutschland dazu beitrugen, so dass den Weimarern schließlich in ihrem eigenen Interesse nichts mehr anderes übrig blieb, als sich an die Spitze der Herder-Memorialaktionen zu stellen. Zwar zog sich der komplizierte Prozess bis zur Enthüllung noch bis 1850 hin, doch war das ganzfigurige Herder-Standbild von Ludwig Schaller auch zu diesem Zeitpunkt noch das erste in Weimar. Im Jahre 1857 brach dann ein wahres Fest- und Denkmalfieber aus: Abgesehen von der Grundsteinlegung für das dynastische Denkmal (am 3. September, dem Geburtstag Carl Augusts), wurden tags darauf auch noch das WielandDenkmal von Hans Gasser auf dem fortan Wielandplatz genannten Platz vor dem Frauentor62 und das berühmte Doppelstandbild für Goethe und Schiller von

57 Vgl. Heike Rausch: Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848 – 1914. München 2006. 58 Vor-Reiter Weimars. Die Großherzöge Carl August und Carl Alexander im Denkmal. Jena 2003. 59 Ernst Mende: Feldherr des Geistes. Das Denkmal für Großherzog Carl August von SachsenWeimar-Eisenach, in: Vor-Reiter Weimars, S. 98 – 181; hier : S. 124 f. 60 Susanne Müller-Wolff: Ein Landschaftsgarten im Ilmtal. Die Geschichte des herzoglichen Parks in Weimar. Köln, Weimar und Wien 2007. Wolfgang Huschke/ Wolfgang Vulpius: Park um Weimar. Ein Buch von Dichtung und Gartenkunst. Weimar 1955, S. 18 – 25. Hans Wahl: Tiefurt. Leipzig 1929, S. 38 – 59. Roland Dressler/ Jochen Klauss: Weimarer Friedhöfe. Weimar, Köln und Wien 1996. 61 Vgl. Theresia Johansson: Herder erinnern. Magisterarbeit Friedrich-Schiller-Universität Jena. Philosophische Fakultät (Volkskunde/Kulturgeschichte) 2010. 62 A[dolf] Schöll: Rede bei Enthüllung des Wieland-Denkmals, in: A. Schöll/ C. Heiland: Reden

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Ernst Rietschel vor dem Theater eingeweiht.63 Weimar definierte sich mithin durch die »großen Vier« des »Goldenen Zeitalters« sowie den Fürsten, der dieses in seiner langen Regierungszeit ermöglicht hatte (Carl August regierte von 1775 – 1828). Später kamen noch hinzu: das Marie-Seebach-Denkmal (von Reinhold Begas, 1895), das Hummel-Denkmal (von Franz Xaver Ponninger, 1895), das LisztDenkmal (von Hermann Hahn, 1902), das Shakespeare-Denkmal (von Otto Lessing, 1904) und das Falk-Denkmal (von Gottlieb Elster, 1913). Überblickt man diese Reihe, fällt auf, dass sich Weimar nicht nur als Stadt der Dichter und Denker (und ihrer Mäzene) zu profilieren suchte (nach den »großen Vier« im Wesentlichen nur noch Shakespeare),64 sondern auch als Stadt der Musik: Maria Pawlowna hatte zu ihrer Zeit mit Johann Nepomuk Hummel (1778 – 1837) einen der gefeiertsten Schüler Mozarts nach Weimar geholt, dessen Gage nur durch ihre persönliche Freigebigkeit bezahlt werden konnte (die Stadt Weimar hätte ihn sich nicht leisten können; er wirkte als Hofkapellmeister von 1819 bis zu seinem Tode 1837 in Weimar).65 Der Name von Franz Liszt ist unlösbar mit dem »Silbernen Zeitalter« Weimars verbunden (er wirkte in der Stadt von 1848 bis 1863, war jedoch auch in späteren Jahren immer wieder als Pianist und Dirigent in Weimar zur Stelle). Daneben aber (und das hat mit der verflochtenen Tätigkeit von Dynasten, Bürgern und Reformern zu tun) gewann Weimar im Laufe des 19. Jahrhunderts auch an Statur als Stadt der Bildung und der Wohltätigkeit: Johannes Daniel Falk (1768 – 1828) war der berühmte Gründer der »Gesellschaft der Freunde in der Not«; er gilt als »Begründer der sozialen Fürsorge in Deutschland«.66 Marie Seebach wurde nicht in erster Linie als Schauspielerin denkmalwürdig, sondern durch ihre Stiftung (ein Altersheim für Schauspieler und Sänger, für das Carl Alexander ein Grundstück an der Tiefurter Allee 8 kostenlos zur Verfügung stellte).67 Im Garten vor diesem Institut stand es allerdings noch halb im privaten Raum.

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bei Enthüllung der Dichter-Denkmäler in Weimar am 4. September 1857 gehalten. Weimar 1857, S. 5 – 8. Das Denkmal. Goethe und Schiller als Doppelstandbild in Weimar. Tübingen 1993. Balz Engler : »Der Stein sich leise hebt«. Das Shakespeare-Denkmal in Weimar, in: Shakespeare-Jahrbuch 139 (2003), S. 146 – 160. – Ein weiteres Denkmal aus der Vorkriegszeit, für den in Weimar tätigen Dichter Ernst von Wildenbruch, kam erst 1915 zur Aufstellung. Vgl. Günzel, Das Weimarer Fürstenhaus, S. 122 f. Weimars Gedächtnißfeier zum hundertjährigen Geburtstag Johannes Falks am 28. October 1868. Weimar 1868. Nicole Kabisius: »…einem so vorzüglichen Manne ein würdiges Denkmal«. Falk und Goethe, in: Falk-Jahrbuch 1 (2004/05), S. 17 – 27. Christian Hain: Fürsorgeideen des 19. Jahrhunderts ins Festen und Feiern. Johannes Daniel Falk und Johann Heinrich Wichern im Vergleich, in: Maurer, Festkulturen im Vergleich, S. 217 – 241. Übersicht über die Weimarer Denkmäler : Gitta Günther/ Wolfram Huschke/ Walter Steiner (Hg.): Weimar. Lexikon zur Stadtgeschichte. Weimar 1998. Ferner : Schmidt-Möbus/ Möbus, Kleine Kulturgeschichte Weimars, S. 219 – 226.

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4. Eine entscheidende Weichenstellung wurde im Herbst 1845 vollzogen, als Carl Zeiß in seiner Vaterstadt Weimar die Errichtung einer Werkstätte beantragte, von der Stadtobrigkeit aber abschlägig beschieden wurde: es gebe schon zwei Mechaniker in der Stadt, und sich daraufhin nach Jena wandte, wo er mit dem Aufbau eines Weltunternehmens begann. Die Stadt an der Ilm wurde zunehmend museal, während sich die Stadt an der Saale im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu einer Universitäts- und Industriestadt entwickelte.68 Wie gestaltete sie ihre Memorialkultur? In Jena gab es um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch keine bedeutenden Denkmäler, doch trat die Stadt nun ebenfalls – nicht zuletzt mit Blick auf das benachbarte Weimar, wo man größere Planungen in Arbeit hatte – in den Wettbewerb der Städte ein. Als Identifikationsfigur bot sich in erster Linie Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an, der nach der Niederlage von Mühlberg 1553 beschlossen hatte, eine weitere Universität neben Leipzig und Wittenberg sei nützlich und nötig und in Jena am rechten Ort, womit er der alten Handelsstadt einen merklichen Aufschwung beschert hatte.69 1855 gründete sich, nach einem Aufruf, ein Denkmalkomitee, dem auch der Kurator der Universität und der Oberbürgermeister der Stadt angehörten. Im Hinblick auf die herannahende Vierhundertjahresfeier der Gründung der Universität 1858 wurde die Aufstellung einer Bronzestatue für den Universitätsgründer ins Auge gefasst, und man war kühn genug, sich auch eine Reiterstatue vorstellen zu können.70 Dies scheiterte an den Kosten, aber auch wohl daran, dass der entscheidende Sponsor, der dafür ins Auge gefasst wurde, der König von Preußen, einen Rangabstand zwischen den Königen von Preußen und dem ernestinischen »geborenen Kurfürsten« sah und auch in symbolischer Darstellung gewahrt wissen wollte.71 Die immensen Kosten von über 13.000 Reichstalern72 für ein Standbild ohne Pferd gingen schon an die Grenze der Leistungsfähigkeit von Stadt und Bürgertum, wenn man auch von Studenten, vor allem Ehemaligen, aus ganz Deutschland, sowie von benachbarten Fürsten erkleckliche Beiträge zusammenbekommen konnte. Warum Johann Friedrich? Er galt als »Schirmherr der Reformation«, sogar als »Märtyrer der Reformation«, in 68 Vgl. Rüdiger Stolz/ Joachim Wittig (Hg.): Carl Zeiss und Ernst Abbe. Leben, Wirkung und Bedeutung. Jena 1993, S. 37 – 51. 69 Vgl. Volker Leppin/ Georg Schmidt/ Sabine Wefers (Hg.): Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst. Gütersloh 2006. 70 Birgitt Hellmann: Die Errichtung des Denkmals für »Johann Friedrich den Großmüthigen« in Jena, in: Joachim Bauer/ Birgitt Hellmann (Hg.): Verlust und Gewinn. Johann Friedrich I. Kurfürst von Sachsen. Weimar 2003, S. 107 – 117; hier : S. 109 f. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 107.

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Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena

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erster Linie aber als Universitätsgründer.73 Möglicherweise verband man mit seiner Ehrung eine konstitutionelle Nebenabsicht: Ahistorischer Weise stand dieser Landesherr in den Augen liberaler Zeitgenossen des mittleren 19. Jahrhunderts durch sein Eintreten für die Reformation auch für die »Freiheit des Geistes« überhaupt.74 Damit war er potenziert geeignet als Patron einer Universität und der von ihr profitierenden Universitätsstadt. Er fand seinen Ort mitten auf dem Marktplatz. Die weitere Folge der Denkmäler in Jena, die sich allmählich am Fürstengraben als der »via triumphalis« (Erich Schmidt) entwickelte,75 versuchte in aller Regel, akademische Verdienste mit Verdiensten um die Freiheit zu verbinden.76 Beim Satz »Opposition […] baut keine Denkmäler« ist also mitzubedenken, dass durch die Ehrung von Verdiensten um die Freiheit, das freie Wort und die burschenschaftliche Organisation der Studenten in Jena ein auffallender Akzent gesetzt wurde: Die Denkmäler für den Naturwissenschaftler Lorenz Oken (Büste von Friedrich Drake, 1852, enthüllt 1857),77 den Agrarwissenschaftler Friedrich Gottlob Schulze-Gaevernitz (Büste von Friedrich Drake, 1867),78 den Philosophen Jakob Friedrich Fries (Büste von Härtel, 1873),79 den Schriftsteller Fritz Reuter (Büste von Ernst Paul, 1888),80 den Pädagogen Karl Volkmar Stoy (Marmorbüste von Karl Donndorf, 1898),81 den Kirchenhistoriker Karl von Hase 73 Vgl. Stefan Gerber : Landesherr, Reichsfürst und Märtyrer. Zur Rezeption des Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen im 19. Jahrhundert, in: Bauer/ Hellmann, Verlust und Gewinn, S. 61 – 83. 74 Ebd. 75 Der Ausdruck »via triumphalis« für die Jenaer Denkmalreihe findet sich erstmals bei Erich Schmidt: Festrede zur Enthüllung des Denkmals für Karl Volkmar Stoy am 31. Mai 1898 auf dem Fürstengraben in Jena gehalten. O. O., o. J. [Jena 1898]. 76 Vgl. Michael Maurer : Aufbau einer Denkmallandschaft. Die Jenaer »via triumphalis« am Fürstengraben, in: John/ Ulbricht, Jena – Ein nationaler Erinnerungsort? S. 245 – 257. 77 Hans-Joachim Fliedner : »…Denkmäler sind Volksgeister«. Oken und seine Darstellung im Denkmal, in: Olaf Breidbach/ Hans-Joachim Fliedner/ Klaus Ries (Hg.): Lorenz Oken (1779 – 1851). Ein politischer Naturphilosoph. Weimar 2001, S. 217 – 247. Klaus Ries: Oken und die Universität Jena, in: Dietrich von Engelhardt/ Jürgen Nolte (Hg.): Von Freiheit und Verantwortung in der Forschung. Symposion zum 150. Todestag von Lorenz Oken (1779 – 1851). Stuttgart 2002, S. 41 – 50. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 247 – 249. 78 Theodor Freiherr von der Goltz: Rede zur Feier des 100. Geburtstages von Fr. Gottlob Schulze gehalten zu Jena am 9. Februar 1895, Jena 1895. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 249 – 251. 79 C. Grapengießer : Jakob Friedrich Fries. Ein Gedenkblatt an die Säkularfeier seiner Geburt in Jena am 23. August 1873. Jena 1873. H. Schleiden: Festrede zur hundertjährigen Geburtstagsfeier von J. F. Fries gehalten am 23. Aug. 1873 in Jena. Jena o. J. [1873]. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 251. Vgl. auch Klaus Ries: Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 2007. 80 Ernst Harmening: Festrede gehalten bei der Enthüllung des Reuter-Denkmals zu Jena am 22. Juli 1888. Jena 1888. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 252. 81 A. Bliedner: Zur Erinnerung an Karl Volkmar Stoy. Langensalza 1898. R. Stier : Das päd-

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(Büste von Karl Seffner, 1900)82 und den Mathematiker Friedrich Schaeffer (Natursteindenkmal mit Bildnisplakette, 1901)83 ehren durchgehend Oppositionelle der liberalen Bewegung, wenn auch nicht alle, wie Fritz Reuter, auf eine langjährige Festungszeit zurückblicken konnten oder mussten. Den End- und Höhepunkt dieser Tendenz stellt schließlich das vollplastische Burschenschaftsdenkmal von Adolf Donndorf dar, das heute vor dem Universitätshauptgebäude (Ecke Lutherplatz) steht, 1883 aber zunächst auf dem Eichplatz errichtet wurde, womit die Nähe von »freier Eiche« und dem fahnenschwingenden Studenten, der durch die Sockelreliefs direkt mit den Helden der Burschenschaftler seit dem Wartburgfest verbunden war, besonders sinnfällig gemacht wurde.84 Jena war, kurz gesagt, eine Universitätsstadt mit bedeutenden akademischen Leistungen, die vor allem dann in Form von Denkmälern gewürdigt wurden, wenn sie anwendungsbezogen oder mit dem Kampf um die Freiheit verbunden waren. Der Abstand zwischen den Bürgerlichen und dem dynastischen Universitätsgründer blieb bildnerisch durch die Form des Denkmals gewahrt, auch wenn diesem kein Reiterdenkmal vergönnt war, weil letztere nur durch Büsten geehrt wurden, nicht aber durch ganzfigurige vollplastische Denkmäler. Erwähnt sei schließlich noch, dass gegen Ende des Kaiserreiches, 1909, Ernst Abbe ein eigenes Denkmal von künstlerischem Anspruch erhielt durch den Ruhmestempel des in Weimar tätigen belgischen Weltbürgers Henry van de Velde.85 Auch Abbe lässt sich verstehen durch die Verbindung mit Carl Zeiß und damit von Wissenschaft und Industrie, darüber hinaus aber war er Jenas bedeutendster Stifter, dessen ergiebigen Kapitalien nicht zuletzt die Universität ihren Wideraufstieg aus bescheidenen Verhältnissen zu verdanken hatte.86

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agogische Seminar und die Johann-Friedrichs-Schule in Jena unter Professor Volkmar Stoy. Eine Festgabe zu der am 31. Mai 1898 in Jena stattfindenden Feier der Enthüllung des StoyDenkmals dargebracht. Berlin 1898. Albert Mollberg: Bilder aus dem Leben einer Volksschule. Zur Erinnerung an Karl Volkmar Stoy und seine Johann-Friedrich-Schule. Jena 1898. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 252 f. Artikelserie in der Jenaischen Zeitung: 11. 07. 1900, 12. 07. 1900, 25. 07. 1900. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 253 – 255. Artikel mit den Reden zur Denkmalenthüllung in der Jenaischen Zeitung vom 11. 06. 1901. Maurer, Aufbau einer Denkmallandschaft, S. 255 f. Robert und Richard Keil: Die Gründung der deutschen Burschenschaft in Jena. Zweite Auflage, als Festschrift zur Enthüllung des Burschenschafts-Denkmals 1883 neu bearbeitet von Robert Keil. Leipzig [1883]. Robert Keil: Festrede zur Enthüllung des Denkmals der deutschen Burschenschaft auf dem Eichplatz zu Jena am 2. August 1883. Jena 1883. Vgl. Stefan Groh¦ (Hg.): Das Ernst Abbe-Denkmal, Gera 1996. Vgl. Jürgen John: »Schiller – Abbe – Haeckel«. Strukturen und Konstellationen national konnotierter »Jena-Bilder«, in: John/ Ulbricht, Jena – Ein nationaler Erinnerungsort? S. 21 – 71.

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Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena

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5. Was lehrt uns diese Umschau unter den Denkmälern in Weimar und Jena? (1) Beide Städte suchten ihre Identität und prägten sie aus durch eine spezifische Erinnerungskultur, welche sich im Falle Weimars an der Dynastie und an der Idee einer Hauptstadt der »Dichter und Denker« orientierte, im Falle Jenas im Rückbezug auf die universitätsbegründende Dynastie und den universitätserhaltenden Stifter sowie die Verbindung von akademischer Leistung, Gemeinwohlorientierung und freiheitlicher Tendenz. Diese Profilierung wurde seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erweitert um die nationale Richtung;87 in der Phase vor den Bismarckdenkmälern und den Kriegerdenkmälern war diese Komponente noch nicht ausgeprägt. (2) Trotzdem war die Einbeziehung einer Perspektive auf Deutschland in Weimar wie auch in Jena von Anfang an gegeben. Es deutet sich an, dass geradezu ein »Denkmaldruck« von anderen Städten ausging, von dem sich die weniger potenten mitteldeutschen Kleinstädte zum Handeln aufgerufen fühlten.88 Nachdem Stuttgart 1839 ein Schillerdenkmal errichtet hatte und Frankfurt am Main 1844 ein Goethedenkmal, war es für Weimar an der Zeit, daran zu erinnern, dass beide Geisteshelden die entscheidende Phase ihres Lebens in Weimar gelebt hatten. Die Initiative des frühesten Denkmals, desjenigen für Herder, wurde den Weimarern geradezu von außen aufgedrängt. Für die Reiterdenkmäler der kulturfördernden Dynasten waren ebenfalls Reiterdenkmäler in konkurrierenden Residenzstädten von Belang, etwa des Denkmals für Friedrich den Großen in Berlin 1851.89 Im Falle Jenas bot es sich an, die burschenschaftliche Tradition (die Urburschenschaft war in Jena gegründet worden; von Jena waren auch die Wartburgfeiern 1817 ausgegangen) im Gedenken der Stadt zu installieren. Dass auch dies mit Blick auf die ganze Nation geschah, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass man in ganz Deutschland Sammlungen für die entsprechenden Denkmäler durchführen konnte. (3) Zwischen den an einem bestimmten Ort zu errichtenden Denkmälern und ihrer nationalkulturellen Bedeutung bestand ein komplexes dialektisches Verhältnis. Während im späten 19. Jahrhundert auch in Kleinstädten Denkmäler entstanden für Persönlichkeiten, die überregional gar nicht bekannt waren (beispielsweise für den Dichter Melchior Meyr in Nördlingen),90 rechnete es sich eine Stadt zu besonderer Ehre an, wenn sie als Heimatort oder Hauptwirkungsort eines national oder gar international bekanntes Mannes 87 88 89 90

Vgl. Greiling/Hahn, Bismarck in Thüringen. Vgl. beispielsweise Heiland, Rede bei Enthüllung der Goethe-Schiller-Gruppe, S. 13. Vgl. Hellmann, Die Errichtung des Denkmals, S. 110. Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 109 f.

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gelten konnte. Sie ehrte sich selber, indem sie eine Sammlung veranstaltete für einen lokalen Heroen von allgemeiner Bedeutung; etwas von seinem Ruhm sollte zurückfallen auf den Ort seiner Herkunft oder Entfaltung. Weimar inszenierte sich als »geistige Hauptstadt Deutschlands«, wie es ein Redner anlässlich der Enthüllung des Goethe-Schiller-Denkmals von Ernst Rietschel ausdrückte.91 Gleichzeitig bot sich bei national oder international bekannten Persönlichkeiten auch die Möglichkeit, Kapitalien von außerhalb der eigenen Mauern in Bewegung zu setzen. Beispielsweise wurde sowohl die WielandStatue in Weimar als auch das Doppelstandbild für Goethe und Schiller aus Erz gegossen, das der bayerische (abgedankte) König Ludwig I. aus erbeuteten türkischen Kanonen zu diesem Zwecke gestiftet hatte.92 Und die Sockel für diese Denkmäler sind aus Schwarzwälder Granit, eine Schenkung des Großherzogs von Baden zu diesem Zwecke.93 Denkmäler dieser Art wurden also zugleich als eine Sache aller Deutschen angesehen, wenn sie auch in einer bestimmten Stadt ihre Aufstellung fanden. (4) Schließlich wäre auch noch der Gesichtspunkt der gestuften Staatlichkeit einzuführen, der Dialektik von kleinstaatlicher Eigenstaatlichkeit und deutscher Reichseinheit.94 Die Denkmalbewegung war in Deutschland allgemein, aber auch speziell in Weimar und Jena, besonders rege in den 1850er Jahren, also nach der gescheiterten Revolution und auf dem Weg zur Einigung Deutschlands unter preußischer Führung. Die dynastischen Reiterdenkmäler in Weimar entstanden erst nach 1870, d. h. zur Zeit des Deutschen Reiches, als der wahre Souverän längst in Berlin zu finden war, nicht mehr in der Residenzstadt an der Ilm. In der historischen Würdigung der Dynastie manifestierte sich also auch eine Art trotzigen Aufbegehrens gegen die Fakten der neuen Zeit. Denkmalpolitik kann auch als kompensierende Symbolpolitik gesehen werden: Was realhistorisch obsolet geworden war, durfte nun im Bild erscheinen: prächtig, da wirkungslos. In zopfigem Residenzstädtlertum trat aber nicht nur ein deutsches Krähwinkel in Erscheinung, weil die Reverenz an die Musenhofepoche auch einen Verweis auf das »eigentliche Deutschland« enthielt, das Land der »Dichter und Denker«, dessen Konzeption Madame de StaÚl gerade hier in Weimar entworfen hatte.95 (5) In beiden Fällen, in der Residenz wie auch in der Universitätsstadt, wurde Memorialkultur in einer Verbindung von dynastischem Ruhm und gelehrHeiland, Rede bei Enthüllung der Goethe-Schiller-Gruppe, S. 14. Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 85 f. Schöll, Rede bei Enthüllung des Wieland-Denkmals, S. 8. Dieser Gesichtspunkt wird in Bezug auf Württemberg betont von Friedemann Schmoll: Verewigte Nation. Studien zur Erinnerungskultur von Reich und Einzelstaat im württembergischen Denkmalkult des 19. Jahrhunderts. Tübingen und Stuttgart 1995. 95 Anne-Germaine de StaÚl: Über Deutschland, Frankfurt a. M. 1985.

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Dynastische und bürgerliche Denkmalkultur in Weimar und Jena

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tem bzw. dichterischem gesucht. Weimar akzentuierte die »großen Vier«; durch die Koppelung mit der »Musenhof«-Legende bedeuteten Denkmäler für Herder, Wieland, Goethe und Schiller aber gleichzeitig eine Ehrung für Anna Amalia und Carl August. Jena hatte mit dem »geborenen Kurfürsten«, der zugleich ein Heros des Protestantismus und der Gründer einer Universität war, eine Identifikationsfigur gefunden, die beide Bereiche verband. So lassen sich alle diese Denkmäler (mit unterschiedlichen Akzentuierungen) gleichzeitig als bürgerliche und dynastische verstehen, in diesem Sinne also als interessenharmonisierende und die Differenz von Herrschaft und Untertanen überbrückende: Große, ja entscheidende Beträge für die teuren Bronzedenkmäler wurden oft von den Herrschern (auch aus ihrer Privatschatulle, wie im Falle des Beitrags der Großherzogin Sophie für das Hanfried-Denkmal in Jena)96 bewilligt; umgekehrt ließen sich stolze und kapitalkräftige Bürger auch nicht lumpen bei den Sammlungen für die Denkmäler der Fürsten, welche für sie Identifikationsfiguren darstellten. Dass Bürger überhaupt mit ihrer Kapitalkraft für solche Memorialaktionen nennenswerte Beiträge aufbringen und damit als Stifter neben die Fürsten treten konnten, verdankten sie dem wirtschaftlichen Aufschwung des 19. Jahrhunderts,97 aber nicht zuletzt auch der unter Bürgern populär gewordenen Organisationsform des Vereins, welche für die Entstehung geradezu aller Denkmäler entscheidend wurde. Nicht zu unterschätzen ist dabei die partizipatorische Bedeutung: Zahlreiche Jenaer Studenten beispielsweise unterzeichneten mit jeweils einem Reichstaler für das Denkmal des Universitätsgründers Johann Friedrich,98 womit sie ihre Zugehörigkeit und Dankbarkeit gegenüber ihrer alma mater dokumentierten, aber eben auch ein Dynastendenkmal zu errichten halfen, während sie gleichzeitig (dieselben Individuen?) mit Beiträgen für ein Burschenschaftsdenkmal oder für führende Burschenschaftler ihre oppositionelle, freiheitliche und konstitutionelle Tendenz manifestierten. Es ist letztlich der Gesichtspunkt der Ambivalenz und Ambiguität, welcher bei allen diesen Identitätsmanifestationen mitspielt: Ein Beitrag zum Andenken des Universitätsgründers war eben zugleich ein protestantischer Beitrag und eine Demonstration für das freie Wort.

96 Hellmann, Die Errichtung des Denkmals, S. 108 f. 97 Allgemeiner Überblick: Hans-Werner Hahn: Die Industrielle Revolution in Deutschland. München 1998. 98 Hellmann, Die Errichtung des Denkmals, S. 108.

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Im Schatten von Riesen: Johann Karl Ernst Dieffenbach (1811 – 1855)

Vermutlich wird auch dieser Beitrag ihn nicht erlösen. Zu oft wurde Ernst Dieffenbach schon wiederentdeckt, zu oft an seine Person erinnert, ohne ihn dauerhaft aus der Vergessenheit zu reißen. Er blieb im Schlagschatten von Größeren verborgen, auch wenn er gleich einer ganzen Reihe von ihnen zugearbeitet, ja für die Verbreitung ihres Ruhms bisweilen sogar Entscheidendes geleistet hat. Damit ist er eine derjenigen paradigmatischen Figuren, die nach den Kriterien der Gerechtigkeit in der kulturellen Überlieferung fragen lassen. Figuren, wie sie Verleger und Mäzene, Geschwister und Diener, Übersetzer und Vermittler darstellen, deren Existenz und Wirkung so oft in den Anmerkungsapparaten der Geschichte verschwinden. Denn diese, sich populärem Verständnis anverwandelnde Geschichte ist nach wie vor auf die historisch vermeintlich »Großen« ausgerichtet. Deren fortwährend neu geschriebene Biographien vermögen sich irgendwann nur noch in Details voneinander zu unterscheiden, es sei denn, dass sie einzelne Facetten zu skandalisieren versuchen, um Aufmerksamkeit zu provozieren. Ist dann einmal endgültig nichts Neues mehr zu erzählen, weitet sich der Blick auf die Partner an seiner oder ihrer Seite, die Familie als ganzer oder die – in Korrespondenzen meist gut dokumentierten – Sparringspartner des Geistes. Welche Kriterien dazu führen, dass die eine Person historisch kanonisiert wird, die andere nicht, wer oder was also »historische Größe« zuschreibt, diese Fragen waren zwar immer wieder Gegenstand von theoretischen Betrachtungen.1 Zwingend beantwortet wurden sie noch nicht. Charles Darwin und Justus von Liebig, Alexander von Humboldt und Charles Lyell, Georg Büchner und Ernst Haeckel – diese Halbgötter der Geschichte des 19. Jahrhunderts sind im öffentlichen Gedächtnis weit über Deutschland und Europa hinaus bekannt und entsprechend oft porträtiert worden. Ernst Dief1 Vgl. etwa Jacob Burckhardt: Das Individuum und das Allgemeine (Die geschichtliche Größe), in: ders.: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium, München 1978, S. 151 – 180.

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fenbach hingegen, der zu all diesen Personen Beziehungen unterhielt oder sie beeinflusste, wurde kaum einmal gewürdigt, obwohl er, wie im Falle Büchners, einen sich teilweise überschneidenden Lebenslauf aufzuweisen hatte. Selbst in seiner Heimatstadt Gießen ist Dieffenbach weithin unbekannt. Nichts erinnert dort mehr an ihn, und seine Grabstätte ist verschollen. Als es 2012 eine Vortragsreihe über »Gießener, die Geschichte schrieben« zu organisieren gab, kam keiner der acht Vortragenden auf ihn zu sprechen.2 Prominent ist er paradoxer Weise in einem Land, das am weitesten von seiner Heimatstadt entfernt ist: In Neuseeland wird Ernst Dieffenbach bis heute in hohen Ehren gehalten. Von dort weht sein Ruhm nur ganz gelegentlich und nur fast bis zu seiner Heimatstadt herüber. Als 2012 Neuseeland Gastland der Frankfurter Buchmesse war, fand im Rahmen des Projekts »Transit of Venus« ein Austausch deutscher und neuseeländischer Autoren statt. Dabei gab der Arzt und Poet Glenn Colquhoun (*1964) das Gedicht »On a Journey to Aotearoa, the Crew of the Tory sing in Honour of the German Naturalist, Ernst Dieffenbach« zum Besten: Dieffenbach, Dieffenbach, What sort’a Leakin’ Ark?/What sort’a Leakin’ Ark, Cutter or Cutty Sark?/Dieffenbach, Dieffenbach, Shivers your Creakin’ Arse?/Heave Away, Haul Away, Heave Away, Ho. Dieffenbach, Dieffenbach, What sort’a Heathen Art?/What sort’a Heathen Art, Measures the Tu¯¯ı Fart?/Dieffenbach, Dieffenbach, Here’s to the Inky Lark!/Heave Away, Haul Away, Heave Away, Ho. Dieffenbach, Dieffenbach, King a’ the Buttercup./’Naki, Tabaccy, Greywacke and Fuck./ Dieffenbach, Dieffenbach, Jesus! The Clutter-Up!/Heave Away, Haul Away, Heave Away, Ho. Dieffenbach, Dieffenbach, What sort a’ Pa¯keha¯ ?/What sort a’ Pa¯keha¯, Jack Tar or Bleedin’ Heart?/Dieffenbach, Dieffenbach, Heigh-ho, the Patriarch!/Heave Away, Haul Away, Heave Away, Ho./Heave Away, Haul Away, Heave Away, Ho.3

Nicht, dass das Gedicht – ohne eine ausführliche Interpretation – Dieffenbach dem deutschen Leser wirklich näher bringen würde. Doch belegt schon die Tatsache eines solchen Gedichts, dass er sich als einer der ersten Europäer, die Neuseeland erforschten, in das kollektive Gedächtnis der Insel eingeschrieben hat. Ebendort ist auch die bislang einzige ausführliche Biographie über ihn erschienen: 1976 veröffentlichte Gerda Elizabeth Bell ein Lebensbild des »Re2 Vgl. Gießener, die Geschichte schrieben. Themenheft der Gießener Universitätsblätter, 2013/ 46. 3 Glenn Colquhoun: Auf der Reise nach Aotearoa, gesungen von der Mannschaft der »Tory« zu Ehren des deutschen Naturforschers Ernst Dieffenbach, vgl. www.lyrikline.org/index.php?id=162& L=0& author=t05& show=Poems& poemId=7808& cHash=971800f75b [04. 01. 2014]. Dort ist das Gedicht, vermutlich vom Autor selbst, auch vorgetragen zu hören.

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Im Schatten von Riesen: Johann Karl Ernst Dieffenbach (1811 – 1855)

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Abb. 1: Im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt findet sich mit der Beschriftung »Dieffenbach, Ernst, Prof. Dr. med. (1811 – 1855) / Porträt mit Stock, im Hintergrund Gegend um Gießen, Halbfigur« ein vermutlich aus den frühen 1850er Jahren stammendes Gemälde des etablierten, mit Jagdhund und Wanderutensilien in die Natur strebenden Dieffenbach vor den Burgen Vetzberg und Gleiberg. Im Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Sign. R 4 Nr. 15560.

bellen und Humanisten«, das aufgrund einer spärlichen Quellenlage aber schmal und folglich von mancher Spekulation durchzogen blieb.4 Bell, die 1903 als Gerda Eichbaum in Mainz geboren wurde, hatte selbst in Gießen Germanistik studiert und war 1928 vom Büchner-Forscher Karl ViÚtor promoviert worden. Nach Assistentenjahren in Gießen und Breslau wurde sie 1931 Referendarin in Mainz. 1933 emigrierte sie erst nach Frankreich, dann nach Italien, um 1936 schließlich Neuseeland zu erreichen. Dort arbeitete sie zunächst in einem Mädchenpensionat, wurde 1940 jedoch – nachdem sie zuvor in Deutschland als »dreckiges Judenmädchen« beschimpft worden war – als »feindliche Deutsche« zum zweiten Mal entlassen.5 Sie schulte auf Bibliothekarin um und war von 1947 bis 1962 Direktorin der Bücherei des neuseeländischen Unterrichtsministeriums, anschließend bis 1971 Dozentin für deutsche Literatur an der Universität in Wellington, wo sie 1992 verstarb.6 4 Gerda Elizabeth Bell: Ernest (!) Dieffenbach. Rebel and Humanist, Palmerston North 1976. Eine Kurzfassung bietet Gerda Bell: Ultima Thule: Ernst Dieffenbach, in: Kurt Schleucher (Hg.): Bis zu des Erdballs letztem Inselriff. Reisen und Missionen, Darmstadt 1975, S. 137 – 169. 5 Vgl. Renate Koch: Gerda Bell, in: James N. Bade (Hg.): Out of the Shadow of War. The German Connection with New Zealand in the Twentieth Century, Oxford 1998, S. 147 – 152. 6 Nach Cornelia Blasberg (Hg.): »Du bist allein, entrückt, gemieden…« Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938 – 1948, Bd. 2., 2. Aufl. Darmstadt 1988, S. 1292 sowie

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Gerda Eichbaum, die sich seit den 1950er Jahren, offenbar in Erinnerung an einen früheren Lehrer in der Studienanstalt, Bell nannte, hatte noch in den 1930er Jahren über eine frühere Studienkollegin aus dem Umkreis ViÚtors, Marie-Luise Wolfskehl, landeskundliche Informationen an deren Onkel vermittelt, den aus Darmstadt gebürtigen Karl Wolfskehl (1869 – 1948). Der dem George-Kreis nahestehende Dichter emigrierte 1938 dann seinerseits nach Neuseeland. Auch Wolfskehl hatte in Gießen studiert und war dort 1893 promoviert worden.7 Es gibt also – dies war der Sinn dieses Exkurses – mehr als nur ein Band, das den oberhessischen Universitätsort mit dem Inselstaat im südlichen Pazifik verbindet. Dessen breitestes wurde jedoch durch Dieffenbach geknüpft, ohne dessen Tätigkeit, so darf getrost behauptet werden, das hessische Antipoden-Land vielleicht sogar einen etwas anderen Geschichtsverlauf genommen hätte. Daher eine kurze Zusammenfassung seiner Lebensstationen, zunächst bis zu dem Zeitpunkt, den das Gedicht Glenn Colquhouns beschreibt: Johann Karl Ernst Dieffenbach wurde am 27. Januar 1811 in Gießen geboren.8 Sein Vater Ludwig Adam (1772 – 1843) war protestantischer Theologe und Professor an der Ludoviciana, seine Mutter Christiane (1779 – 1861) stammte aus der Wetterau. In der Familie Dieffenbach fanden sich eine Reihe weiterer Gelehrter, mit denen Ernst seither gelegentlich verwechselt wird.9 Sein Onkel Johann Philipp (1786 – Reinhard Frenzel: Gerda Eichbaum-Bell in: Frauenbüro Mainz (Hg.): Frauenleben in Margenza. Die Porträts jüdischer Frauen aus dem Mainzer Frauenkalender und Texte zur Frauengeschichte im jüdischen Mainz, Mainz 2010, S. 38. Der Schutzumschlag der Biographie Gerda Bells über Dieffenbach weist als Studienorte der Autorin außerdem Heidelberg, Bonn, Prag und Oxford aus, was bei einer Promotion im Alter von 25 Jahren jedoch gewisse Zweifel nahelegt. 7 Blasberg (Hg.): Karl Wolfskehls Briefwechsel, 1988, S. 1292 sowie Fritz Usinger: Karl Wolfskehl, in: Volk und Scholle. Hessische Heimatzeitschrift für Volkskunde, Geschichte, Natur und Literatur 1950/22. Jg./Heft 5/6, S. 73 – 75. Eine frühe Publikation stellte Dieffenbach neben Wolfskehl und Georg Forster, vgl. John Asher : Des Erdballs letztes Inselriff. Deutsche erleben Neuseeland, München 1956. 8 Neben Gerda Bells Biographie finden sich biographische Hinweise bei: Denis McLean: Dieffenbach, Johan Karl Ernst, in: Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand [04. 01. 2014]. Ludwig Gebhardt: Zur Geschichte der naturwissenschaftlichen Erkundung Neuseelands, in: Bonner Zoologische Beiträge 1969/Bd. 20/ Heft 1/3, S. 219 – 227. Gerhard Bernbeck: »…und eingegraben steht am Firmament dein Name…«. Erinnerungen an den Gießener Arzt, Weltreisenden und Naturforscher Dr. Ernst Dieffenbach (1811 – 1855), in: Heimat im Bild, Dezember 1979/Heft 48 – 50. Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hessischen Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, darin S. 28 f. Adelheid Rehbaum: Gießener unter dichtenden Kannibalen? in: Hessische Heimat 11. Dezember 2004/ Nr. 25, S. 97 – 100. Auch gibt es einen Wikipedia-Eintrag zu Ernst Dieffenbach, der sich v. a. auf englischsprachige Literatur stützt. 9 Vgl. die Einträge zur »hessischen Theologen- und Beamtenfamilie« in der Neuen Deutschen Biographie [05. 01. 2014].

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1860) beispielsweise war Schulrektor in Friedberg und Verfasser einer »Geschichte von Hessen«. Sein Cousin Johann Friedrich (1792 – 1847) wurde zu einem Wegbereiter der plastischen Chirurgie an der Berliner Charit¦. Ernst Dieffenbach begann 1828 in seiner Heimatstadt ein Studium der Medizin respektive »Arzeneywissenschaft«, trat der Burschenschaft »Germania« bei und geriet auch in die Kreise um Justus Liebig, mit dem er Zeit seines Lebens in engem Kontakt blieb. Dem gegenüber ist es ungewiss, ob er den zweieinhalb Jahre jüngeren Georg Büchner, der ebenfalls Medizinstudent in Gießen und wie Dieffenbach politisch radikal bis revolutionär gestimmt war, jemals persönlich kennengelernt hat.10 Beide wurden mit »Putschversuchen« wie dem Frankfurter Wachensturm im April 1833 in Verbindung gebracht und mussten in der Folge vor der Polizei erst nach Straßburg, dann nach Zürich fliehen. Dort ermöglichte ihnen die von Lorenz Oken mitbegründete Universität 1836 den Abschluss ihres Studiums mit einer medizinischen Promotion. Während Büchner fortan als Privatdozent sofort vielbeachtete Vorlesungen hielt, im Februar 1837 aber bereits an Typhus verstarb, sollte Dieffenbach eine solche Dozentur – nach denkbar weitläufigen Umwegen – erst 13 Jahre später erhalten. Wiederum wie im Falle Büchners sollte ihn dann schon bald darauf ein vorzeitiger Typhustod ereilen. Die angedeuteten »Umwege« führten ihn zunächst in Schweizer Gefängnisse, da Dieffenbach sich auch in der Emigrantenhochburg Zürich dem »Jungen Deutschland« angeschlossen, sich duelliert und seine politische Tätigkeit fortgesetzt hatte. Nach zwei Monaten Haft wurde er im August 1836 nach Frankreich ausgewiesen, das er aber bald schon Richtung London verließ. Da er bis dahin weder Dramen oder Erzählungen verfasst, noch am »Hessischen Landboten« mitgeschrieben hatte, kann nachvollzogen werden, dass dieser nicht untypische, doch keineswegs herausragende Lebenslauf bis hierher keine Sensation begründete. Der Historiker Wolfgang Schieder stellte Dieffenbach jedoch 1963 in die Reihe derjenigen politischen Emigranten der beginnenden deutschen Arbeiterbewegung, die hernach in ungewöhnlicher Weise Karriere gemacht hätten.11 Das trifft für dessen erste Jahre in England zunächst kaum zu. Dieffenbach schlug sich ab 1837 mit Gelegenheitsjobs durch, gab privaten Deutschunterricht, 10 Vgl. Ernst Dieffenbach: Briefe aus dem Straßburger und Zürcher Exil 1833 – 1836. Eine Flüchtlingskorrespondenz aus dem Umkreis Georg Büchners (Teil 1). Mitgeteilt von Peter Mesenhöller, in: Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990 – 1994), Tübingen 1995, S. 371 – 443, hier S. 375 f. 11 Wolfgang Schieder : Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963, S. 116. Einige Parallelen im Lebenslauf Dieffenbachs ergeben sich auch zum Gießener Karl Follen (1796 – 1840), andere zu Johann Philipp Becker, vgl. Hans Werner Hahn (Hg.): Johann Philipp Becker. Radikaldemokrat, Revolutionsgeneral, Pionier der Arbeiterbewegung, Stuttgart 1999.

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arbeitete (vielleicht) als Arzt in einer Fabrik und (sicherer) als Prosektor in einem Hospital; er zergliederte also Leichen zu Studienzwecken. Offenbar eignete er sich außerdem derart rasch die englische Sprache an, dass er schon nach kurzem Beiträge zu medizinischen Zeitschriften zu verfassen vermochte. Vor allem begann er damit, englische Fachliteratur ins Deutsche zu übersetzen. Diese publizistischen Tätigkeiten machten seinen Namen über London hinaus etwas bekannter, und er kam nach und nach in Kontakt zu einigen der angesehensten britischen Naturwissenschaftler. Ob dies schon vor seiner Neuseelandreise oder erst hinterher geschah, ist nicht eindeutig belegt. Entscheidend war jedoch, dass sich darunter der Pathologe Thomas Hodgkin (1798 – 1866), dessen »Lectures on Morbid Anatomy of Serous and Mucous Membranes« (1836) Dieffenbach ins Deutsche übersetzte, sowie der Zoologe Richard Owen (1804 – 1892) vom Royal College of Surgeons befanden. Offenbar nahmen beide Einfluss auf die in London ansässige New Zealand Company, Dieffenbach im April 1839 als Mediziner und Naturforscher auf der HMS Tory einzustellen. Die Aufgabe der Expedition war die Sondierung der fernen Pazifikinsel für eine potentielle britische Kolonisation. Das Schiff legte am 3. Mai in Southampton ab, um am 16. August im Queen Charlotte Sund einzutreffen.12 Damit ist der Lebensbericht bei dem eingangs angeführten Gedicht angelangt, das uns jedoch – schon wegen der darin eingestreuten Maori-Begriffe – weiterhin schwer zugänglich bleibt. Die Orte am nördlichen Rand der südlichen Insel Neuseelands, auf denen das Schiff anlandete, verweisen noch heute auf die 1839 dort eintreffende Expedition: der »Tory Channel« sowie ein »Dieffenbach Point«. Ganz in der Nähe hatte im Jahr 1770 James Cook die Insel als einer der ersten Europäer überblickt, und auch Charles Darwin hatte mit der HMS Beagle auf der Nordinsel bereits 1835 Station gemacht. Schon seit einigen Jahrzehnten hielten sich erste Missionare, seit 1833 auch ein britischer Resident auf der Insel auf. Zum Zeitpunkt der Ankunft Dieffenbachs stand Neuseeland gerade im Begriff, vom Vereinigten Königreich auch formell in Besitz genommen zu werden. Am 6. Februar 1840 wurde zwischen der britischen Krone und etwa 500 Maori-Häuptlingen der Vertrag von Waitangi unterzeichnet, mit dem das Britische Königreich die Souveränität über die Inseln erhielt und den Maori im Gegenzug eine Reihe von Rechten zugesprochen wurden. Über deren Ausdeu-

12 William H. Brock: The Case of Poisonous Socks. Tales from Chemistry, Cambridge 2011, S. 74 – 81. Zum Umfeld vgl. Ulrike Kirchberger : Aspekte deutsch-britischer Expansion: Die Überseeinteressen der deutschen Migranten in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1999 (darin S. 330 – 338 ein ganzer Abschnitt über Dieffenbach).

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tung entstand freilich bald ein Dissens, der sich schon kurz darauf in langwierigen »Land Wars« (1843 – 1872) niederschlug.13

Abb. 2: Das mit Kiwis illustrierte Titelblatt der zweibändigen »Travels in New Zealand« von 1843, auf dem der Autor als »Late Naturalist to the New Zealand Company« vorgestellt wird. Der bedrohte Laufvogel wurde später zum Nationalsymbol Neuseelands, dessen Bewohner sich heute oft als »Kiwis« bezeichnen. Ernest Dieffenbach, Travels in New Zealand; with contributions tot he Geography, Geology, Botany, and Natural History oft hat Country. Vol. II, London 1843 (Titelblatt).

In dieser Situation der »Staatsgründung« unternahm Dieffenbach ausgedehnte Reisen in unterschiedliche Regionen des Landes, erstieg bis dahin unbekannte Höhenzüge wie den Mount Taranaki und verzeichnete unterwegs alles, was ihm interessant erschien: geologische Formationen, mineralogische und meteorologische Daten, Flora und Fauna, aber auch »Sitten und Gebräuche« der von ihm mit viel Sympathie beobachteten und beschriebenen Maori. Viele seiner Sammlungsstücke fanden später den Weg in die Forschungsstätten und Museen der britischen Hauptstadt. Eine bisweilen auf ihn zurückgeführte Pflanze, die als Ziergewächs beliebte »Dieffenbachia«, geht jedoch auf einen Obergärtner glei13 Vgl. Roberto Rabel: New Zealand’s Wars, in: Giselle Byrnes (Hg.): The New Oxford History of New Zealand, Oxford 2009, S. 245 – 268.

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chen Namens in den Botanischen Gärten Wiens zurück. Tatsächlich wurde zu Ehren des Neuseeland-Pioniers nur eine flugunfähige Ralle benannt, die er 1840 auf den Chatham-Inseln identifiziert hatte. Die war jedoch ihrerseits um 1872 schon wieder ausgestorben.14 Der Historikerin Ulrike Kirchberger zufolge war Ernst Dieffenbach ein »typisches Beispiel für einen Migranten, der seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse in den Dienst der britischen Überseeausdehnung stellte«.15 In der Tat gab es, wie sie nachweist, nicht eben wenig Deutsche, die mangels eigener Möglichkeiten sich als wissenschaftliche »Fremdenlegionäre« anderer Kolonialmächte verdingten.16 Besonders im Umfeld von 1848 setzten sich viele von ihnen – ähnlich den zahlreichen deutschen »Lehnstuhleroberern« – dann für ein deutsches koloniales Engagement ein.17 Der Hamburger Senatssyndikus Karl Sieveking (1787 – 1847) etwa berief sich ausdrücklich auf Dieffenbachs Beschreibung der Chatham-Inseln, als er seinen Plan einer Deutschen AntipodenColonie verfolgte. Auch der Berliner Geograph Carl Ritter (1779 – 1859) ließ sich bei einem Besuch Londons von der dort gerade aufkeimenden Begeisterung für Neuseeland anstecken.18 Dieffenbach scheint während seines Aufenthalts in Neuseeland tatsächlich versucht zu haben, seine Tätigkeit für die Briten zu verstetigen, hatte damit aber keinen Erfolg. Der stellte sich auf andere Weise erst ein, nachdem er im Januar 1842 nach London zurückkehrte und seine Erlebnisse und Erkenntnisse vor allem in einem zweibändigen Werk »Travels in New Zealand, with Contributions to the Geography, Geology, Botany, and Natural History of that Country« sowie verschiedenen anderen Schriften veröffentlichte.19 Ob er über die Verwertung seiner Kenntnisse mit der New Zealand Company in einen Rechtsstreit geriet 14 Art. »Dieffenbach-Ralle« auf Wikipedia [05. 01. 2014]. 15 Kirchberger : Aspekte deutsch-britischer Expansion, 1999, S. 335. 16 Die Briefe an die Familie aus Straßburg weisen aus, dass Dieffenbach auch über den Eintritt in die französische Fremdenlegion sowie einen Aufenthalt in Algerien nachgedacht hat, vgl. Brief vom 29. Januar 1834, Dieffenbach: Briefe aus dem Exil, in: Georg Büchner Jahrbuch 1995, hier S. 412 f. 17 Vgl. Susanne M. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770 – 1870), Berlin 1999, die auf Dieffenbach aber nicht zu sprechen kommt. 18 Kirchberger : Aspekte deutsch-britischer Expansion, 1999, S. 334 f. Vgl. auch den frühen Beitrag von Gerda Eichbaum: Deutsche Siedlung in Neuseeland. Ein Hamburger Kolonisationsversuch im 19. Jahrhundert, in: Geschichtliche Landeskunde und Universalgeschichte. Festgabe für Hermann Aubin zum 23. Dezember 1950, Hamburg 1951, S. 259 – 269. 19 Das Werk wurde 2005, zum 150. Todestag Dieffenbachs, als Reprint neu aufgelegt und mit einem ausführlichen Vorwort des aus Gießen stammenden Verlagsleiters Manfred-Guido Schmitz versehen, vgl. [05. 01. 2014]. Die University of Auckland hält das Werk außerdem online vor: [05.012014].

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(wie einige Autoren vermuten20) oder nicht: Dieffenbach scheint in den akademisch informierten Kreisen der britischen Hauptstadt nun doch eine gewisse Berühmtheit erlangt zu haben. Sie brachte ihn in Kontakt zu Zelebritäten wie den Geologen Charles Lyell (1797 – 1875) und Charles Darwin (1809 – 1882). Die beiden Gelehrten hatten zwar auch keine dauerhafte Anstellung für ihn, aber doch Werke, die wiederum ins Deutsche übersetzt werden konnten, so etwa Darwins Bericht seiner »Naturwissenschaftlichen Reisen« von 1839, in denen auch sein kurzer Besuch in Neuseeland beschrieben war. Das Buch konnte 1844 in Braunschweig erscheinen, und es übte auf zahlreiche Leser eine nachhaltige Faszination aus, unter anderem auf den jungen Ernst Haeckel (1834 – 1919), der danach zu einem der Herolde Darwins in Deutschland wurde.21 Lyells »Zweite Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika« erschien 1851 ebenfalls in Dieffenbachs Übersetzung, Henry Thomas de la Beches »Vorschule der Geologie« im Jahr darauf. Von Dieffenbachs eigenen, auf Englisch verfassten Werken wurde hingegen bis heute kein einziges ins Deutsche übersetzt. Der Londoner Ruhm Dieffenbachs war jedoch bald verflogen; die Briten hatten ihre Ziele im Südpazifik vorerst erreicht. Obwohl Dieffenbach 1843 Gründungsmitglied der Royal Ethnological Society wurde, fehlte ihm vermutlich die akademische Kontinuität, um in irgendeinem der vielen von ihm tangierten Fachgebiete zu reüssieren. Offenbar hing er einem Umweltdeterminismus an, der weniger vom späteren Darwin, als vielmehr noch von Johann Gottfried Herder geprägt war.22 So wies ihn seine Schrift über »New Zealand and its Native Population« (1841) als Humanisten aus, der seine weit über den metropolitanen Auftrag hinausgehenden Kontakte zu den – für die New Zealand Society eher peripheren – Maori darin einfließen ließ. Dies brachte ihm eine Ehrenmitgliedschaft in der »Aborigines’ Protection Society« ein.23 Zu den methodisch Avancierten der ethnologischen Forschung mochte man ihn dennoch nicht zählen.24

20 So etwa Gerhard Bernbeck in: Heimat im Bild, 1979, der annimmt, dass Dieffenbachs Manuskripte von der Gesellschaft umfänglich zensiert worden seien. 21 Mario A. Di Gregorio: From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith, Göttingen 2005, S. 35. 22 Robert Grant: New Zealand ›Naturally‹. Ernst Dieffenbach, Environmental Determinism and the Mid Nineteenth-Century Britisch Colonization of New Zealand, in: New Zealand Journal of History 2003/Bd. 37/ Heft 1, S. 22 – 37. 23 Damon Ieremia Salesa zufolge war Dieffenbach der indigenen Bevölkerung gegenüber uneingeschränkt positiv eingestellt und sah in der rassischen Mischung mit den Eingeborenen sogar eine Chance für die Zukunft der (männlichen) Europäer, vgl. ders.: Racial Crossings: Race, Intermarriage, and the Victorian British Empire, Oxford 2011, S. 155. S auch James Heartfield: The Aborigines’ Protection Society. Humanitarian Imperialism in Australia, New Zealand, Fiji, Canada, South Africa, and the Congo, 1837 – 1909, London 2011. 24 Vgl. Oliver J. Harrison: The Paradise of the Southern Hemisphere. The perception of New

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Vor allem zog es Dieffenbach zurück nach Deutschland und insbesondere nach Gießen. Mehrfach hat er offenbar Möglichkeiten zu einer Rückkehr sondiert.25 Trotz der von Friedrich Wilhelm IV. 1840 für Preußen verkündeten Amnestie für politische Vergehen zeigten sich die Polizeibehörden des Großherzogtums Hessen dem steckbrieflich gesuchten politischen Flüchtling gegenüber weiterhin kompromisslos und verhinderten eine universitäre Anstellung.26 Der Berliner Zoologe Christian Gottfried Ehrenberg schrieb am 13. März 1845 an seinen Kollegen Charles Darwin, Dieffenbach sei vor kurzem in der Absicht einer gerichtlichen Vernehmung und Reinigung nach Gießen gefahren. Jetzt sitze er freilich schon ein halbes Jahr dort, ohne die gewünschten Resultate erreicht zu haben.27 Sein Lehrer Liebig, der Dieffenbach vermutlich sogar finanziell unterstützte, hatte ihm am 9. Dezember 1843 mitfühlend geschrieben: »Ihre Lage bekümmert und betrübt mich, Sie müssen ein Vaterland und einen Wirkungskreis haben. Dieses ruhe- und heimatlose Leben ist mir schrecklich.«28 1845 beauftragte er ihn damit, auf einer Reise durch England und Schottland dortige Landwirte über die Anwendung des patentierten Mineraldüngers aufzuklären.29 Bei dieser Gelegenheit scheint Dieffenbach in London noch einmal versucht zu haben, nach Neuseeland zurückzukehren.30 Man darf vermuten, dass er sich in der neuseeländischen Lebensphase, als er seiner Zeit einmal voraus, statt fort oder hinterher gelaufen war, am wohlsten gefühlt haben wird. Nach Gießen kehrte Dieffenbach vorerst nur zu einzelnen Besuchen zurück. Welche Rolle der Tod seines Vaters 1843 spielte, kann nur vermutet werden: In einem Schreiben an Gerda Bell vom 2. Februar 1970 legte der Gießener Bibliotheksrat Winfried Leist nahe, die Flucht Dieffenbachs aus Gießen sei 1833 wohl auch mit Rücksicht auf seinen Vater erfolgt, der nicht nur Kirchen-Schulrat,

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Zealand and the Maori in written accounts of German-speaking explorers and travellers 1839 – 1889, Auckland 2006. Von einem fehlgeschlagenen Transfer in umgekehrte Richtung berichtet Jürgen Reulecke: Galton in Gießen. Eine Viertage-Episode aus dem Jahre 1840 um Justus Liebig (mit einem Ausblick bis in die 1930er Jahre), in: Helmut Knüppel u. a. (Hg.): Wege und Spuren. Festschrift für Joachim-Felix Leonhard, Berlin 2007, S. 677 – 689. Galton (1822 – 1911), ein Vetter Charles Darwins, überlegte offenbar kurzzeitig, bei Liebig zu studieren, verließ die Stadt jedoch schon nach Tagen fluchtartig, denn er hielt Gießen für »a scrubby, abominable paved little town – cram full of students, noisy, smoky and dirty« (zit. ebd., S. 682). Zum Hintergrund vgl. Hans-Werner Hahn/Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49 (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 14, hg. von Jürgen Kocka), Stuttgart 2010, S. 450 – 460 sowie S. 503 – 529. Abgedruckt in Frederick Burkhardt/Sydney Smith (Hg.): The Correspondence of Charles Darwin, Vol. 3: 1844 – 1846, Cambridge 1987, S. 153 f. Justus Liebig an Ernst Dieffenbach, Universitätsarchiv Gießen, Liebig-Depositum Nr. 1365. Nach Franz J. Bauer : Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 128. McLean: Dieffenbach, in: Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand , [04. 01. 2014].

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sondern auch Mitglied des Disziplinargerichts der Universität gewesen sei.31 Die 1995 veröffentlichte Korrespondenz Dieffenbachs mit seiner Familie aus Straßburg und der Schweiz weist Ludwig Adam Dieffenbach jedenfalls als ein streng urteilendes Familienoberhaupt aus, an dessen knapper Unterstützung und zugleich hoher Erwartung sich der Sohn augenscheinlich abzuarbeiteten hatte.32 Bis sich die hessischen Aufenthaltsbestimmungen für ihn doch noch lockerten, war Dieffenbach weiterhin auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. So hielt er sich unter anderem eine Weile in Berlin auf, wo er offenbar die Bekanntschaft eines weiteren Zyklopen der wissenschaftlichen Zunft, Alexander von Humboldt, machte. Auch er sollte sich vergeblich für ihn einsetzen. In Berlin besuchte Ernst auch seinen Cousin, den Chirurgen Johann Friedrich Dieffenbach, der ihn eine Zeitlang bei sich beschäftigte. Diese Episode erwähnt der Schriftsteller Philipp Temple 1999 in einem »neuseeländischen Berlin-Roman«. Dessen fiktiver Protagonist, der deutschen und österreichischen NeuseelandForschern wie Julius von Haast (1822 – 1887), Gustav von Tempsky (1828 – 1868), Ferdinand von Hochstetter (1829 – 1884) und Andreas Reischek (1845 – 1902) nachspürt, wundert sich ausdrücklich darüber, dass Ernst Dieffenbach im Deutschland der Gegenwart offenbar weithin vergessen sei. Darüber stürzt er in einen generellen Zweifel über sein eigenes Tun: »Martin denkt über seinen Plan nach, über Männer zu forschen und zu schreiben, die im Gedächtnis einer Nation nicht mehr existieren und die in ein Land gingen, das im derzeitigen Bewusstsein dieser Nation kaum vorhanden ist.«33 1848 schien sich mit der bürgerlichen Revolution für Dieffenbach auch in Deutschland vieles zum Besseren zu wenden. Er erhielt nun endlich die Erlaubnis zum dauerhaften Aufenthalt im Hessischen und wurde zudem Mitarbeiter der seit März 1848 erscheinenden »Freien hessischen Zeitung«, einem kritischen Organ der sich entwickelnden Deutschen Revolution. Insofern blieb er sich politisch treu. Anders als deren Mitherausgeber, der Zoologe Carl Vogt (1817 – 1895), scheint Dieffenbach jedoch davor zurückgescheut zu sein, sich als Gießener Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung entsenden zu lassen.34 Möglicherweise ist ihm diese Position nach der zermürbenden War31 Universitätsarchiv Gießen, Phil K 18. 32 Vgl. Dieffenbach: Briefe aus dem Exil, in: Georg Büchner Jahrbuch 1995, bes. S. 438 – 440 (Briefe vom 26. Dezember 1834 sowie 7. Februar 1835). 33 Philip Temple: Jedem das Seine. Ein neuseeländischer Berlin-Roman. Deutsch von Claudia Ziegler. 2. überarb. Aufl. Berlin 2012, S. 33. Der 1999 erschienene Roman des 1957 nach Neuseeland übergesiedelten Briten spielt im Jahr 1989. 34 Vgl. McLean: Dieffenbach, in: Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand , [04.012014]. Vogt gehörte wie sein Mitherausgeber Moriz CarriÞre (1817 – 1895) zu Liebigs radikaleren Studenten.

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tezeit zu exponiert gewesen. Dass ihm damit jedoch eine Gelegenheit entging, zum Gegenstand der später so ausgefeilten Geschichtsschreibung über die »1848er« zu werden, wird er kaum geahnt haben. Stattdessen betrieb er parallel die Etablierung einer bürgerlichen Existenz, indem er Anfang 1848 an der Ludoviciana beantragte, habilitiert zu werden. Dies ging – ein für heutige Postdocs vielleicht etwas frustrierender Vorgang – dann tatsächlich innerhalb weniger Wochen über die Bühne. Die mit der Begutachtung seines Werks beauftragten Professoren erklärten sich freimütig als der englischen Sprache, in welcher des Kandidaten Werke verfasst seien, nicht mächtig, und sie erlegten Dieffenbach lediglich auf, gelegentlich eine einschlägige geologische Abhandlung in Deutsch zu publizieren.35 1850 erhielt Dieffenbach eine außerordentliche Professur für Geognosie und Geologie in Gießen. Kurz darauf wurde er zum Betreuer der mineralogischen Sammlungen der Universität. Sein Vorgänger war der Leitung überdrüssig geworden und offenbar froh, einen Nachfolger hierfür gefunden zu haben.36 Viel Geld wird Dieffenbach mit diesen Positionen, wie eigentlich nie in seinem Leben, nicht verdient haben. Es scheint aber gereicht zu haben, auch über private Etablierungs-Schritte nachzudenken. Im April 1851 heiratete er die Darmstädterin Katharina Emilie Reuning (1826 – 1891), mit der er kurz darauf eine Tochter namens Klara (1854 – 1935) bekam. Vielleicht um etwas hinzu zu verdienen, beteiligte er sich an einem Projekt der Gießener Kaufleute Noll, in Griedel bei Butzbach ein Bergwerk für Eisenerz und Mangan zu betreiben.37 Über der Bearbeitung einer »Geologischen Spezialkarte des Großherzogtums Hessen« erkrankte er im Spätsommer 1855 jedoch an Typhus und verstarb hieran binnen kurzem. Seine zweite Tochter Anna, die drei Wochen darauf zur Welt kam, hat er nicht mehr kennengelernt. Sie sollte ihrerseits das 16. Lebensjahr nur knapp erreichen. Die Nachricht von Dieffenbachs Tod erregte in Hessen keinerlei Aufsehen, Nachrufe sind daher kaum nachweisbar. Anders sah dies in Neuseeland aus, wo sich Maori sogleich zur Abfassung einer Elegie auf ihn veranlasst sahen: »The 35 Dies erledigte Dieffenbach umgehend mit: Die Aufgabe des geologischen Studiums, bei Gelegenheit der Erlangung der Venia Docendi der philosophischen Facultät der LudewigsUniversität zu Giessen, Gießen 1849, einer – zusätzliche Kränkung für heutige Habilitanden – 24seitigen Abhandlung. 36 Vgl. die Akte zum Habilitationsverfahren im Universitätsarchiv Gießen, Phil K 18. Ähnlich interpretiert dies auch Gerhard Bernbeck in: Heimat im Bild, 1979, der aus diesen Akten ausführlich zitiert. 37 Vgl. den Briefwechsel im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, Bestand O 59 Dieffenbach (1852 – 1855). Über das Bergwerk, das bis vor den Ersten Weltkrieg betrieben wurde, vgl. Thomas Kirnbauer : Der Quarzgang und das Eisen- und Manganerz-Vorkommen von Griedel/Wetterau. Ein Beitrag zum Alter der Pseudomorphosenquarz-Gänge des Taunus, in: Geologisches Jahrbuch Hessen 1984/Bd. 112, S. 179 – 198.

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stars in heaven have paled. (…) But the greatness of your glory is like thunder/ And your name is engraved in the vaults of heaven.« Ironischer Weise fand auch hier eine Verwechslung statt. Denn die stille Post über das Ableben Dieffenbachs um die halbe Erdkugel herum hatte ihren Ausgang bei dem schon 1847 verstorbenen Cousin, den Berliner Chirurgen Johann Friedrich, genommen, nicht bei Ernst, der zur Zeit der Abfassung des Gedichtes vielmehr noch lebte.38 Knapp zwanzig Jahre nach dem Tod Ernst Dieffenbachs fühlte sich sein Großneffe Ferdinand dazu aufgerufen, mit einem Lebensbild an seinen polyglotten Verwandten zu erinnern und ihn dabei unter die deutschen »Geistesheroen« einzuordnen.39 Als vermutlich Letzter konnte er dabei auf einen halbwegs zusammenhängenden Nachlass zurückgreifen. Der ging danach durch mehrere Erben-Hände und reduzierte sich dabei in seinem Umfang, offenbar durch Schenkungen und Autographen-Verkäufe, immer weiter.40 Gerda Bell, die sich um 1970 bislang am intensivsten auf seine Fährte setzte, konnte nur noch feststellen, dass Material über ihn »not over-abundant and not always easy to locate« sei, was sie vor allem den Kriegsverlusten in Stadtarchiven, aber auch Dieffenbachs Ruf als »trouble-maker« zuschrieb.41 Einzelne Funde wie die 1995 von Peter Mesenhöller recherchierten Briefe Dieffenbachs an seine Familie belegen aber, dass eine konzentrierte, kritische und kontextualisierte Zusammenschau noch vorhandener Lebenszeugnisse (die auch dieser Beitrag nicht hat leisten können) dem verschatteten Leben Ernst Dieffenbachs durchaus weiteres Licht zuführen könnte. Denn historische Größe wird ja heute nicht mehr nur – wie noch bei Jacob Burckhardt – definiert als das, »was wir nicht sind«, »ein Mysterium« und als »Einzigkeit, Unersetzlichkeit«42 – derlei ist inzwischen selbst für lange Zeit unantastbare Heroen des 19. und anderer Jahrhunderte mit Recht in Frage gestellt worden. Der »Rebell und Humanist« Dieffenbach mag im Schatten von Größeren und insgesamt hinter seinen Möglichkeiten geblieben sein. Gerade dieser Umstand kann sein Leben, das man heute vielleicht als ein »transnationales« oder »globales« einschätzen würde, durchaus zu einem exemplarischen erheben.43 Solche Kosmopoliten des Alltags waren oft sehr anpassungsfähige, sprach38 Mitgeteilt in Bell: Ernest Dieffenbach, 1976, S. 133 sowie S. 152 f. 39 Ferdinand Dieffenbach: Der Erforscher Neu-Seelands. Ein deutsches Gelehrtenleben, in: Das Ausland 1874/ 47. Jg., S. 84 – 87. 40 So die Vermutung Peter Mesenhöllers, vgl. Dieffenbach: Briefe aus dem Exil, in: Georg Büchner Jahrbuch 1995, hier S. 374 bzw. S. 376 – 379. 41 Bell: Ernest Dieffenbach, 1976, S. 15. 42 Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1978, S. 151 f. 43 Vgl. Bernd Hausberger (Hg.): Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006. Angela Woollacott/Desley Deacon/Penny Russell (Hg.): Transnational Lives. Biographies of Global Modernity, 1700–Present, Houndmills/New York 2010.

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und übersetzungsbegabte Naturen, die im 19. Jahrhundert für die immer vielfältigere Zirkulation von Menschen und Wissen – und damit die »Verwandlung der Welt« – von einer längst nicht ausgeforschten Bedeutung waren. Ob freiwillig oder nicht: Sie lebten in »diskontinuierlichen sozialen Räumen«, verkörperten ein geleichsam nomadisierendes Element des Menschlichen und stellten dem in vielem konstruierten Konzept der Heimat die Diaspora als immer verbreitetere, ja fast schon zum Normalfall werdende Lebensform gegenüber.44 Die auch in diesen Hinsichten aufschlussreiche Biographie Ernst Dieffenbachs sollte nicht nur die Stadt und die Universität Gießen dazu veranlassen, seiner mehr als gar nicht zu gedenken.

44 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 174 – 176.

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Lothar Gall

Franz Adickes und die Gründung der Frankfurter Stiftungsuniversität

Der aus einer altfriesischen Familie stammende, am 19. Februar 1846 in Harsfeld bei Stade geborene Franz Adickes, der nach Stationen in Dortmund und Altona 1890 als Nachfolger des zum preußischen Finanzminister berufenen Johannes Miquel von der von den Liberalen dominierten Stadtverordnetenversammlung der Stadt zum Oberbürgermeister von Frankfurt gewählt worden war, gehört ganz fraglos zu den großen, das Gesicht ihrer Stadt auf vielen Gebieten entscheidend bestimmenden Oberbürgermeistern des Kaiserreichs.1 Zu seinen bedeutendsten, die Zeit überdauernden Leistungen gehört sicher die Gründung der Stiftungsuniversität der Stadt, die ganz wesentlich auf ihn zurückgeht. In Bündnis mit Wilhelm Merton, dem Gründer und Mehrheitsaktionär der »Metallgesellschaft«, die unter ihm in vergleichsweise kurzer Zeit zu einem der weltweit führenden Betriebe des Metallhandels und der Erzerschließung und –verhüttung, sowie dann des Maschinenbaus und der Elektrotechnik geworden war und ihrem Mehrheitsaktionär zu einem gewaltigen Vermögen verholfen hatte, verfolgte er die Linie, alle jene Elemente in der auseinanderfallenden bürgerlichen Gesellschaft der Stadt bewusst zu stärken, die diesen Auflösungstendenzen Widerstand zu leisten imstande schienen. Dazu gehörten nach beider Meinung die alle Seiten verpflichtende Idee des »Gemeinwohls« und alles, was sie zu verbreiten und zu vertiefen in der Lage war. In diesem Sinne haben Merton und seine Gesinnungsgenossen praktische Vorschläge zu der Verwirklichung ihrer Ideen nicht nur präsentiert, sondern selber Schritte zu ihrer Umsetzung unternommen. Zum Zentrum ihrer Bestrebungen wurde ein 1892 errichtetes »Institut für Gemeinwohl« – »Gemeinwohl« war die neue Formel für das alle sozialen Schichten und Gruppen übergreifende Gesamtinteresse der Stadt. Die Absichten und Ziele, die Merton mit der Gründung des »Instituts für 1 Vgl. allgem. Wolfgang Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890 bis 1933 Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974.

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Gemeinwohl« und dann auch weiterer Institutionen ähnlicher Art verfolgte, hat Adickes von Anfang an mit größter Aufmerksamkeit beobachtet und sie nachdrücklich unterstützt. Sie lagen ganz auf der Linie dessen, was er mit seiner eigenen Kultur- und Gesellschaftspolitik zu erreichen strebte: den Kreis derjenigen ständig zu erweitern, die in der Lage seien, ihr Leben und das ihrer engeren Umwelt aus eigener Kraft zu bewältigen und zu gestalten. In diesem Sinne hat Adickes alles, was Merton auf dem Feld der Sozialpolitik unternahm, nicht nur abstrakt als Teil der kommunalen Sozialpolitik verstanden, sondern es gleichsam in seinem inneren Selbstverständnis als Teil seiner eigenen Sozialpolitik interpretiert. Daraus erklärt es sich, dass er auch die nächsten Schritte, die Merton auf dem Gebiet der Sozialpolitik unternahm, stets im Sinne seiner eigenen sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele interpretierte und sich gegen sie wandte, sobald sie diesen nicht mehr zu entsprechen schienen. Das zeigte sich, wenn auch zunächst mehr unterschwellig, in den Gesprächen, die Adickes mit Merton über die von diesem geplante »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften« führte. Die Akademie sollte, darin waren sich Adickes und Merton zunächst ganz einig, der systematischen Ausbildung von Industriekaufleuten auf der einen und von Juristen und Verwaltungsfachleuten auf der anderen Seite dienen. Dafür bewilligte die Stadtverordnetenversammlung anstandslos den beantragten Zuschuss von 30.000 Mark. Gleichzeitig aber sprach sich ein Teil der Mitglieder gegen die Erweiterung der Aufgaben der Akademie auf das Gebiet der Sozial- und Verwaltungswissenschaft aus. Damit werde die Grenze zwischen dem, was zu den frei gewählten Aufgaben einer aus einer privaten, von der Stadt mit einem Zuschuss versehenen Stiftung hervorgegangenen Institution – der Ausbildung von Industriekaufleuten – und dem überschritten, was zu den Aufgaben des Staates beziehungsweise der Stadt gehöre, nämlich die Ausbildung von Juristen und Verwaltungsfachleuten. Gegen eine solche Trennungslinie aber sprach sich Adickes sogleich aus. Er betrachtete das Ganze von Anfang an insgeheim als einen ersten Schritt auf dem Wege zu einer wesentlich durch Stiftungen finanzierten, aber von der Stadt getragenen und verantworteten Hochschule und am Ende einer eigenständigen vollen Universität. Der Plan zur Errichtung einer solchen städtischen Universität war seit mehr als einem Jahrhundert immer wieder aufgetaucht, aber bisher nie über Anfangsüberlegungen hinaus gekommen.2 Im Zuge der Ansammlung großer pri2 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am ain 1914 – 1932. Frankfurt am Main 1972, und auf ihm aufbauend: Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Band 1, 1914 bis 1950. Frankfurt am Main 1989. Vgl. a. noch aus der älteren

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vater Vermögen in der Stadt, deren Besitzer, wie sich gezeigt hatte, zum Teil zu umfangreichen Stiftungen bereit waren und Ausschau nach entsprechenden Stiftungsaufgaben hielten, war Ende des 19. Jahrhunderts die Idee der Errichtung einer städtischen Universität von der Basis privater Stiftungen aus entstanden. Vor allem Otto Kanngießer, der dem Kreis der Linksliberalen um Sonnemann angehörte, hatte in einer Denkschrift aus dem Jahre 1892 zum Thema »Frankfurts Gegenwart und nächste Zukunft« die Gründung einer solchen städtischen Universität angeregt. Sie sollte aus einer Zusammenfassung der zahlreichen Vereine und Anstalten hervorgehen, die in der Stadt bereits wissenschaftliche Ziele im engeren und weiteren Sinne, vor allem auf naturwissenschaftlichen und medizinischen Gebiet, verfolgten. 1902 stellte der Magistrat schließlich an das preußische Unterrichtsministerium den förmlichen Antrag auf weiteren Ausbau der städtischen medizinischen Anstalten und auf Begründung einer »Akademie für praktische Medizin«, nachdem schon fünf Jahre vorher, 1897, der Ministerialdirektor im Kultusministerium, Althoff, unterstützt von Adickes, angeregt hatte, unter Verteilung der Kosten auf den preußischen Staat und die Stadt Frankfurt für Professor Paul Ehrlich ein eigenes Institut für experimentelle Therapie zu schaffen. Dieses Institut wurde, nachdem die Stadtverordnetenversammlung und der preußische Staat zugestimmt hatten, am 1. Oktober 1899 unter den Namen »Institut für Serumforschung und experimentelle Therapie« feierlich eröffnet. In den Rahmen derartiger Bestrebungen, die hier im weiteren Sinn auf die Errichtung einer medizinischen Fakultät, anders ausgedrückt: einer medizinischen Fachhochschule, zielten, gehört auch die Schrift Otto Kanngießers von 1892, nur dass sie von vornherein weit darüber hinausging und für die Gründung einer förmlichen Universität in Frankfurt am Main plädierte. Eine solche Universität, so Kanngießer, werde, »genau angepaßt den Bedürfnissen des modernen Lebens«, ein Instrument sein für die weitere Entwicklung des städtischen Gemeinwesens, »nach dem Muster der freien Universität in Brüssel«.3 Die bestehenden deutschen Universitäten gäben, so die Argumentation von Kanngießer, den Studenten nur eine ungenügende Vorbereitung auf das wirkliche Leben. Die zumeist in Kleinstädten angesiedelten Universitäten förderten einen Hang zur Überschätzung des Akademikertums und zur Unterschätzung des angeblich philisterhaften Bürgers. Den Studenten werde ein kindischer

Literatur Richard Wachsmuth, Die Gründung der Universität Frankfurt. Frankfurt am Main, 1929, und speziell zu Adickes: Berthold Freudenthal und Ludwig Heilbrunn, Franz Adickes als Universitätsgründer, in: Franz Adickes. Sein Leben und sein Werk. Frankfurt am Main 1929, 405 ff. 3 Otto Kanngießer, Frankfurts Gegenwart und nächste Zukunft. Eine Denkschrift. Frankfurt am Main 1892.

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Hochmut förmlich eingeimpft, und »unter dem Einfluß derartiger sozialer Vorstellungen verknöchert das wissenschaftliche Leben«.4 Die Idee zur Gründung einer städtischen Universität nach dem Vorbild Brüssels lag damals gleichsam in der Luft. In Leipzig, der Stadt, die mit Frankfurt als ausgeprägtes Handelszentrum in Mitteldeutschland durchaus vergleichbar war, wurde 1898 eine eigene Handelshochschule im Stile einer Universität errichtet, und zwar nicht vom Staat, sondern von der Stadt in Verbindung mit der dortigen Handelskammer. Hiervon ging für den Magistrat in Frankfurt unter gleichzeitigem Bezug auf die Denkschrift Kanngießers die Anregung aus, in Zusammenarbeit mit der örtlichen Handelskammer und dem Verein für Volkswirtschaft ein ähnliches Institut zu errichten. Adickes aber ging von Beginn an über solche Planungen hinaus, die ihm viel zu eng und an schulmäßiger Ausbildung orientiert erschienen und den Antrieb vermissen ließen, Theorie und Praxis in neuer, wissenschaftlich abgeklärter Form miteinander zu verbinden. Ihm schwebte als Fernziel die Errichtung einer förmlichen städtischen Universität vor, mit, wie er betonte, Fächern, die über den Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften weit hinausgingen. In der Stadtverordnetenversammlung kam es jedoch, wie gesagt, bereits im Hinblick auf die Erweiterung des Ziels der geplanten Akademie auf das gesamte Gebiet der Sozial- und Verwaltungswissenschaft zu lebhaften Kontroversen. Das überschreite, so die Kritiker, den unmittelbaren Praxisbezug der geplanten Akademie erheblich, weite ihn in den Bereich des Theoretischen aus, den zu vermitteln allein Aufgabe einer staatlichen Hochschule sein könne. Dem widersprach Adickes und wie er Andreas Voigt im Namen von Merton von Seiten des »Instituts für Gemeinwohl«. Theorie und Praxis hingen gerade auf den fraglichen Gebieten aufs engste zusammen. Voigt verwies außerdem darauf, dass Merton fast die Hälfte der für die Akademie benötigten Gelder aufzubringen bereit sei. So setzten sich Adickes und Voigt, sprich Merton, am Ende durch. Im Mai 1900 empfahl der eingesetzte Ausschuss mit Mehrheit die Annahme der vorbereiteten Satzung für die Akademie, legte deren Namen als »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften« fest und betonte bei dieser Gelegenheit, dass die Akademie »nicht ausschließlich der Ausbildung von Kaufleuten dienen, sondern bewusst auf eine breitere Basis gestellt werden und allen Berufen offenstehen sollte«. Als oberstes Verwaltungsgremium der Akademie wurde im September 1900 ein Personenkreis installiert, dem von Seiten der Stadt neben Adickes der für das Sozialwesen der Stadt zuständige Karl Flesch und der Direktor des städtischen Gymnasiums, Julius Ziehen, sowie von Seiten des »Instituts für Gemeinwohl« neben Merton noch Eugen Hartmann und Andreas Voigt angehörten. Zum 4 Ebda, 60 f.

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Vorsitzenden wurde Franz Adickes gewählt, der fortan die eigentliche Gründung der Frankfurter Universität wesentlich in die Hand nahm. Hinsichtlich der konkreten Gestalt, dem Aufbau und der Organisation der Akademie orientierte sich Adickes ganz an der Struktur der modernen deutschen Universität, allerdings unter gleichzeitiger Betonung ihrer inneren und äußeren Selbstständigkeit unter Abkehr von der dominierenden Stellung des Staates und der staatlichen Bürokratie, die er auch sonst zurückzudrängen bemüht war. An ihre Stelle sollte die weitgehende Freiheit der Wissenschaft und der von ihren Vertretern gewählten Organisationen treten, in Verantwortung gegenüber der Gesellschaft insgesamt, verkörpert durch ihre jeweiligen Repräsentanten. Im Falle Frankfurts sollten das die verschiedenen Geldgeber sein, die die Mittel zum Aufbau und Unterhalt der Akademie bereitgestellt hatten. Im Falle Frankfurts saßen im Großen Rat der 1901 formell gegründeten »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften« der Oberbürgermeister der Stadt und zwei weitere, vom Magistrat zu wählende Mitglieder ; drei von der Stadtverordnetenversammlung zu wählende Mitglieder ; sechs vom »Institut für Gemeinwohl« zu bestimmende Vertreter ; zwei von der Handelskammer zu wählende Mitglieder und schließlich ein von der »Polytechnischen Gesellschaft« entsandter Repräsentant. Dieser »Große Rat« unter ständigem Vorsitz des Oberbürgermeisters der Stadt Frankfurt am Main war für alle wichtigen Entscheidungen der Akademie zuständig: so für den Haushaltsplan, den An- und Verkauf von Grundeigentum, für die Wahl des Verwaltungsauschusses und schließlich, ganz entscheidend, für die »Organisation des Lehrkörpers«. Gerade das Letztere nahm Adickes sogleich selber in die Hand. Er hob von Anfang an hervor, dass es gelte, in allen Fragen, die die Personalstruktur und die einzelnen Lehrgebiete betrafen, unmittelbar anzuknüpfen an das, was seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts als Kern moderner Wissenschaft galt: deren grundlegende Verpflichtung auf die Erkenntnisse philosophischer Welterfahrung, die seither, vielerorts in Verbindung mit den auf den ersten Blick ganz lebens- und weltfremden humanistischen Bildungsfächern, ihren Siegeszug im höheren deutschen Bildungswesen angetreten hatten. Für Adickes galt in diesem Sinne die Fakultät, die dabei, sich selbst gleichzeitig grundlegend reformierend, bahnbrechend gewesen war, als Kern jeder modernen Universität. Und dementsprechend wandte sich sein Blick im Zusammenhang mit den Plänen der Errichtung einer höheren Bildungsanstalt, die er aus vielerlei Gründen begrüßte und förderte, sogleich der Frage zu, wie diese gleich den deutschen Universitäten im allgemeinen, deren Rang begründend, mit einer philosophischen Fakultät verbunden werden könnte. Unter dem Datum des 2. Oktober 1900, hat Adickes eine ausführliche Denkschrift über die Zusammenfassung der in Frankfurt bereits bestehenden wissenschaftlichen Institutionen und ihre »Ausgestaltung« zu einer, wie er es

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formulierte, »philosophischen Fakultät« verfasst.5 Er zählte dabei unter anderem auf: das »Senckenbergische Institut, die Museen und Unterrichtskurse der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, die Unterrichtsanstalten des Physikalischen Vereins, das Freie Deutsche Hochstift, die Freiherrlich C. v. Rothschild’sche Bibliothek, die Stadtbibliothek und das städtische historische Museum«. Sie würden »mit Recht, insofern sie ganz oder doch zum großen Teile aus freiwilligen Schenkungen und Stiftungen hervorgegangen sind, als ein besonderer Ruhmestitel für die Frankfurter Bürgerschaft und ein vollgültiges Zeugnis für die in ihr weitverbreitete opferbereite Liebe zur Wissenschaft angesehen«. In den folgenden Jahren hat Adickes alles daran gesetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Der Mann freilich, mit dem er seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Mobilisierung von Stiftungen und Spendengeldern aus dem Kreis des wohlhabenden Frankfurter Bürgertum aufs engste und sehr erfolgreich zusammenarbeitete, Wilhelm Merton, verfolgte dabei, wie sich dann immer deutlicher zeigte, andere Ziele. Es ging ihm um die Errichtung einer ganz auf die Praxis bezogenen Lehranstalt für Kaufleute und für im Bereich des Sozialen im weitesten Umfang tätige und engagierte Mitarbeiter, »Beamte«, wie er sie im Sprachgebrauch der Zeit nannte. Letztere sollten vor allem aus dem »Institut für Gemeinwohl« hervorgehen, also zumindest indirekt unter seiner Leitung stehen. Dabei sollte die Stadt jeweils hilfreich zur Seite stehen. Adickes hingegen verfolgte sehr klar das Ziel, zwar nicht formal, aber inhaltlich orientiert an der klassischen deutschen Universität, eine solche Universität als geistiges Zentrum in der Stadt zu errichten. Sie sollte zu annähernd gleichen Teilen von der Kommune und von privaten Stiftern und Geldgebern getragen, aber inhaltlich weitgehend von den Vorstellungen und Entscheidungen der in ihr tätigen Gelehrten bestimmt werden. In den Ideen von Adickes feierten in dieser Beziehung die ursprünglichen Vorstellungen und Ziele Wilhelm von Humboldts fröhliche Urständ, die diesen bei der Gründung der Universität Berlin geleitet hatten. In seiner Denkschrift von Anfang Oktober 1900 über die Errichtung zunächst einer philosophischen Fakultät unter Einschluss, wie er von Anfang an betonte, der Nationalökonomie, kommen die ihn zentral leitenden Gedanken sehr klar zum Ausdruck. Sicher stehe die zunächst geplante »Errichtung einer einzelnen Fakultät insofern nicht im Einklange mit den unser Universitätswesen beherrschenden allgemeinen Anschauungen«, räumte er ein, »insofern als letztere davon ausgehen, daß gerade die Zusammenfassung aller Fakultäten an einer Stelle das Wesen der deutschen Universitäten ausmache, und nur dadurch das Zerfallen der Universitäten in verschiedene höhere Fachschulen verhindert 5 Abgedruckt bei Wachsmuth, a.a.O., 138 – 142.

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werde. Indessen«, fuhr er fort, »erscheint doch unter besonderen Verhältnissen, wie sie […] hier in Frankfurt vorliegen, die Errichtung auch nur einer Fakultät keineswegs völlig ausgeschlossen, namentlich wenn es sich dabei um die Errichtung einer philosophischen, d. h. derjenigen Fakultät handelt, welche am wenigsten den Charakter einer besonderen Fachschule hat, sondern durch die Zusammenfassung verschiedener Bildungs-Elemente gerade die Gewähr bietet, daß die allgemeinen philosophischen Gesichtspunkte, welche für den Unterrichtsbetrieb auf Universitäten maßgebend sein sollen, zu ihrem Rechte kommen«.6 Nachdem er im Weiteren kurz betont hatte, dass die Angliederung einer zweiten Fakultät, einer juristischen, leicht zu bewerkstelligen sein werde, wandte sich Adickes der zentralen Frage der Kosten zu. Diese seien ohne Zweifel als sehr hoch zu kalkulieren. Man müsse sich dabei aber klar machen, welche erheblichen Summen bisher schon durch die Stiftungen wohlhabender Frankfurter Bürger zugunsten einzelner wissenschaftlicher Institutionen in der Stadt zusammengekommen seien. Schließlich sei gerade erst vor kurzem eine gewaltige Summe für die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften von privaten Geldgebern aufgebracht worden. Man könne daraus schließen, wie groß die Bereitschaft Frankfurter Bürger sei, mit großen Beträgen und Stiftungen solche wissenschaftlichen Institutionen zu fördern, und davon ausgehen, dass mit zunehmendem Wohlstand diese Bereitschaft noch weiter wachsen werde. Wichtig sei dabei vor allem, dass das Wissen, welche Bedeutung die Unterrichtstätigkeit gerade in den Bereichen der zu begründenden philosophischen Fakultät habe – in die er zunächst immer den nationalökonomischen und betriebswirtschaftlichen sowie den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich mit einbezog – in »immer weitere Kreise hineingetragen« werde. Nicht nur die potentiellen Geldgeber im engeren Sinne, so hieß das, sondern möglichst weite Kreise der Stadt insgesamt sollten für den Gedanken der Gründung einer wesentlich von privaten Stiftungsmitteln getragenen Universität in der Stadt gewonnen werden. Schon früh hat sich Adickes um die Billigung seiner Pläne von Seiten der Berliner Regierung bemüht, wobei seine Ansprechpartner vor allem der Finanzminister, sein Amtsvorgänger Johannes Miquel, und der für die Universitäten des Landes vor allem zuständige Ministerialdirektor Friedrich Theodor Althoff waren. Althoff hatte er schon zu Beginn seiner Amtszeit in Frankfurt kennengelernt. Mit ihm stand er seither in ständigem Briefwechsel und arbeitete mit ihm auch vielfach zusammen, so insbesondere, wie schon erwähnt, bei dem von Althoff entwickelten und von Adickes lebhaft unterstützten Plan, in Frankfurt ein gemeinsam vom preußischen Staat und der Stadt Frankfurt ge6 Wachsmuth, a.a.O., 139.

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tragenes Institut für experimentelle Therapie zu errichten unter Leitung des 1908 dann mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Serologen Paul Ehrlich. 1899 war dieses Institut eröffnet worden, in dem Adickes zugleich von früh an eine der Keimzellen einer künftigen medizinischen Fakultät einer Universität in Frankfurt sah. Miquel und Althoff gegenüber machte Adickes von Anfang an deutlich, dass es sich bei der geplanten Universität zwar, was die Inhalte anging, um eine Lehranstalt nach dem Muster der bestehenden staatlichen Universitäten handeln solle, dass sie aber in ihrem Aufbau und in ihrer Finanzierung vom Staat ganz unabhängig sein solle. So betonte er zum Abschluss seiner Denkschrift von 1900 noch einmal nachdrücklich: »Staatliche Hilfe ist der Hauptsache nach ausgeschlossen«. Adickes’ Ziel war also von allem Anfang an die Finanzierung der von ihm schon ganz früh geplanten Universität durch private Geldgeber und Stiftungen aus dem Kreis der wohlhabenden, immer rascher zu Reichtum gelangenden Bürger der Stadt. Ihnen und ihren Nachkommen den Sinn und die Vorteile einer solchen von ihnen getragenen – und zugleich ihren Namen verewigenden – Universität stets aufs neue vor Augen zu stellen, darin sah er neben der Verwaltungstätigkeit im engeren Sinne eines der Hauptziele seiner Tätigkeit als Oberbürgermeister der Stadt, ein Ziel, das dazu beitragen werde, die in wirtschaftlicher Beziehung immer stärker aufblühende Stadt gleichzeitig zu einem wissenschaftlichen und geistigen Zentrum in Südwestdeutschland zu machen. Der Weg bis zur Gründung der Universität verlief freilich sehr kurvenreich und begegnete mancherlei Hindernissen und Widerständen. Adickes ist diesen Weg, Pragmatiker, der er war, Station für Station gegangen, ohne genau zu wissen, ob er überhaupt und wenn ja, wann er zum Ziele führen werde. Kritiker und ablehnende Stimmen gab es reichlich. Adickes aber gelang es in den folgenden Jahren mit Blick auf die zu gründende Universität, neben den bereits vorhandenen Institutionen eine ganze Reihe von weiteren Stiftungen zu gewinnen. Ein entscheidender Anstoß, seine Pläne in Richtung einer vollen Universität voranzutreiben, kam für Adickes von der von Carl Franz und Friedrich August Martin Jügel zur Erinnerung an ihren Vater, einem wohlhabenden Frankfurter Buchhändler, errichteten »Carl Christian Jügel-Stiftung«, die im Februar 1901 nach dem Tode des letzten der beiden Brüder, Carl Franz Jügel, aktuell wurde. In dem Testament hieß es zu dem Vermächtnis von rund zwei Millionen Mark: »Indem wir dieses Stiftungsvermögen dem Gemeinwesen hiesiger Stadt widmen und hiermit den Wünschen unseres unvergeßlichen Vaters entsprechen, so wollen wir doch nicht, daß dasselbe in verschiedenen Richtungen zersplittert werde, sondern, damit durch vereinte Mittel umso Größeres erreicht werden könne, soll diese Stiftung mit dem Charakter einer pia causa einen einzigen

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Zweck verfolgen und zwar, sei es im Gebiete der öffentlichen Armen- und Krankenpflege, sei es im Gebiete des Schul- und Unterrichtswesens, zur Errichtung entweder eines allgemeinen städtischen Krankenhauses oder einer allgemeinen öffentlichen höheren Unterrichtsanstalt dienen.« Nach längeren Auseinandersetzungen, die sich um die Frage drehten, ob man nicht, einem gelegentlich geäußerten Gedanken des Stifters folgend, eine Wohltätigkeitsanstalt für die Aufnahme und Versorgung altersschwacher, hilfloser oder unheilbar kranker Personen gründen sollte – ein Gedanke, der in der Stadt großen Widerhall fand – setzte sich am Ende in der Stiftungsadministration unter Vorsitz von Adickes die Idee durch, das Stiftungsvermögen für die Errichtung einer akademischen Unterrichtsanstalt für die Gebiete Geschichte, Philosophie und deutscher Sprache und Literatur zu verwenden. Außer für den Kauf und den Bau eines entsprechenden Stiftungsgebäudes, des dann sogenannten Jügelhauses, sollte das Geld für die Kosten der Gehälter von vier Dozenten auf den genannten Gebieten verwendet werden. Schon seit Jahrzehnten existierten in Frankfurt die 1817 gegründete Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft und der 1824 von ihr abgespaltene Physikalische Verein. Gegen Anfang des 20. Jahrhunderts beschlossen beide Vereine und die Senckenbergische Stiftung, wesentlich auf Initiative von Adickes, ihre Gebäude nach deren Verkauf in einem Neubaukomplex an der Viktoria-Allee zusammenzuführen. 1906 waren die Rohbauten dafür fertiggestellt, einschließlich eines im Auftrag der Jügelstiftung errichteten Unterrichtsgebäudes, dem »Jügelhaus«. Dieses war so bemessen, dass darin nicht nur die Dozenturen für Geschichte, Philosophie, deutsche Sprache nebst ihren Seminaren Platz finden konnten, sondern auch die eben gegründete »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften«. Damit war auch räumlich die Basis geschaffen für die Errichtung einer philosophischen Fakultät unter Einschluss sowohl der Naturwissenschaften als auch der Nationalökonomie. In dem 1906 fertiggestellten Gebäudekomplex fand im Übrigen auch das Senckenbergische Museum mit seinen Sektionen für die beschreibenden Naturwissenschaften, Zoologie, Mineralogie, Geologie, Platz. So hat Adickes den Vorsitz im Großen Rat der Akademie mit der Leitung der Jügels’schen Stiftungsverwaltung verbunden und dafür gesorgt, dass bei der Anlage des Jügelhauses dieses nicht nur die vorgesehenen Dozenturen für Geschichte, Philosophie und deutsche Sprache und Literatur samt deren Seminaren beherbergen konnte, sondern das Jügelhaus in der Größe so bemessen war, dass auch die »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften« darin unterkommen konnte. In einem förmlichen Vertrag zwischen beiden Seiten vom 24. Februar 1904 wurde vereinbart, dass die vorgesehenen Lehrstühle der Jügelstiftung im äußeren Rahmen der Akademie errichtet werden und die Dozenten der Akademie ihre Vorlesungen und Übungen in dem Neubau abhalten

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sollten. »Die Bestallungsurkunden«, hieß es wörtlich, »werden gemeinschaftlich von der Verwaltung der Jügelschen Stiftung und der Akademie ausgefertigt. Die so ernannten Dozenten stehen in allen Beziehungen den übrigen Dozenten der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften gleich.« Das konnte man im Sinne Mertons so deuten, dass die Akademie nicht nur der Träger auch der neuen Dozenturen sein würde, sondern auch deren Leitungsorgan. Man konnte es aber auch so interpretieren, dass damit etwas ganz Neues ins Leben trete, in dem die Akademie als eigenständige Einrichtung Schritt für Schritt aufgehen werde. So hat es Adickes von früh auf gesehen. Während gleichzeitige Bestrebungen, die Krankenanstalten der Stadt in einer Art medizinischer Akademie zusammenzufassen und auf dieser Grundlage so etwas wie eine medizinische Fakultät zu errichten, nur zögerlich und mit vielen Rückschlägen vorankamen, gewannen die Pläne, eine große philosophische Fakultät unter Einschluss der Naturwissenschaften und der Nationalökonomie zu errichten, immer mehr an Fahrt. Namens der Verwaltung der vor kurzem nach dem Tod von Franziska Speyer begründeten Georg und Franziska Speyer’schen Studienstiftung – der Adickes vorstand – richtete er am 11. Dezember 1909 an den »Großen Rat« der Akademie, dem er gleichfalls vorsaß, ein Schreiben, in dem er über »die Art der Verwendung der vermehrten Einkunft« mitteilte, die Verwaltung sei »in Uebereinstimmung mit den wiederholt kundgegebenen Intentionen der Verstorbenen zu der Ueberzeugung gelangt, daß der Akademie und der Stadt Frankfurt a. M. am besten gedient wäre, wenn diese erweiterten Mittel verwandt würden, um die für Begründung einer juristischen und philosophischen Fakultät noch erforderlichen Lehrstühle zu errichten und gleichzeitig die Begründung einer Universität zu betreiben«. Gut vierzehn Tage später berichtete Adickes dann dem preußischen Kultusminister über die »Verhandlungen wegen Begründung einer Universität«, auf deren Grundlage »ein Allerhöchstes Privileg zur Begründung einer Universität erbeten werden kann«.7 In einem weitläufigen Überblick schilderte Adickes noch einmal die einzelnen Einrichtungen, die in Frankfurt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf den verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Gebieten entstanden seien – alle getragen von einzelnen wohlhabenden Bürgern oder von der Bürgerschaft insgesamt. Hingegen habe der Staat, also nach dem Verlust der politischen Selbständigkeit konkret der preußische Staat, hierzu bisher nur wenig beigetragen. Zwar müsse Frankfurt dankbar festhalten, dass die preußische Regierung zuletzt der neu gegründeten Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften bestimmte Rechte verliehen und sie damit in gewisser 7 Bericht des Oberbürgermeisters an den Kultusminister betr. Verhandlungen wegen Begründung einer Universität (handschriftlicher Entwurf): Wachsmuth, a. a. O., 160ff

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Weise staatlich anerkannt habe. Allein das genüge nicht, um, wie er sich etwas gewunden ausdrückte, »das Geschaffene und das mit bereits vorhandenen Mitteln und Dozenten müssen sich Studenten schaaren und die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften muß sich zur Universität erweitern dürfen, wenn nicht die fernere Entwicklung unterbunden und der von allen Seiten erhoffte neue Ausgangspunkt geistigen und wirtschaftlichen Aufschwungs im ersten Werden unterdrückt werden soll. Keine finanzielle Beihilfe«, so betonte Adickes, »nur Anerkennung und Verleihung der Universitätsrechte ist es, was erbeten werden soll.« Eine solche Anerkennung und Verleihung der Universitätsrechte an eine Institution, die von der Stadt Frankfurt und von Frankfurter Bürgern ins Leben gerufen und finanziell getragen werde, empfehle sich für den preußischen Staat auch aus ganz prinzipiellen Erwägungen. »Die geschichtliche Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß – im Gegensatz zu England und Amerika – die deutschen Universitäten ausschließlich von den einzelnen Staaten unterhalten werden. Wie stark die hieraus erwachsenden Aufwendungen die Staaten in jährlich steigendem Maße belasten und wie schwer die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse zu beschaffen sind, ist Ew. Exzellenz nur zu bekannt.« Das »Anwachsen des Staatsbedarfs für Kulturbedürfnisse aller Art« werde auch in Zukunft fortdauern und die Deckung des Bedarfs für die Hochschulen werde immer schwieriger werden. »Eine Entlastung des Staates in Bezug auf die Befriedigung der wissenschaftlichen und sonstigen universitären Anforderungen entspricht daher einem dringlichen staatlichen Interesse«. »Anerkannte Meister wissenschaftlicher Forschung und Lehre versicherten«, fügte Adickes hinzu, »daß mit den ihnen bekannten überaus reich dotierten amerikanischen Instituten auf die Dauer ein Mitbewerb nur möglich sein werde, wenn es auch bei uns gelinge, das Interesse und die Bereitwilligkeit von Privaten für die Förderung der Wissenschaft und ihrer Lehre zu erwecken.« Das sei nun hier in Frankfurt in großem Stile geschehen und nichts würde, fuhr Adickes fort, »für die Belebung und Entwicklung dieses Geistes der Hingabe an die allgemeinen Interessen verhängnisvoller sein, als wenn vom Standpunkt eines Staatsmonopols aus dem von privater Opfernwilligkeit geschaffenen Werk die unentbehrliche staatliche Anerkennung versagt würde«. In diesem Zusammenhang berief sich Adickes ausdrücklich auf Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher und ihre bei der Gründung der Universität Berlin maßgebenden Gedanken, dass die freie Forschung die Unabhängigkeit von den staatlichen Organen voraussetze, und der »Staat die Wissenschaften sich selbst überlassen und nur die ökonomische Leitung, die polizeiliche Oberaufsicht und die Beobachtung des unmittelbaren Einflusses dieser Anstalten auf den Staatsdienst sich vorbehalten solle«. Die in Frankfurt auf der Grundlage privater Initiative und mit Hilfe privater Mittel zu gründende Universität, für die er, Adi-

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ckes, nur die staatliche Anerkennung erbitte, entspreche also ganz den Ideen, die bei der Gründung der modernen deutschen Universität leitend gewesen seien und es, so sei er überzeugt, auch weiterhin sein müssten. Zwar seien die Universitäten in der neueren Zeit bisher praktisch alle auf staatliche Initiative hin entstanden, aber eine Stiftungsuniversität auf privater Grundlage, wie man sie jetzt in Frankfurt gründen wolle, sei, so fügte er hinzu, nach dem allgemeinen preußischen Landrecht keineswegs ausgeschlossen. Die Berufung auf das allgemeine preußische Landrecht wurde in formaler Hinsicht der entscheidende Schlüssel, um juristische Bedenken gegen die Errichtung einer vom Staat weitgehend unabhängigen Stiftungsuniversität auszuräumen. Der preußische Kultusminister Adam von Trott zu Solz stand diesen Ideen, wie Adickes aus mehreren Gesprächen wusste, durchaus wohlwollend gegenüber, wenn er auch immer wieder betonte, dass der preußische Staat Entscheidungen über die Struktur der angestrebten Universität und über die Berufung der einzelnen Professoren in der Hand behalten müsse. Er schloss sich dabei dem von Adickes vorgebrachten Argument an, dass die im Allgemeinen Landrecht (Teil II, Titel 12) festgelegten grundsätzlichen Bestimmungen »für die Wahrung der den heutigen Universitäten gegenüber geübten staatlichen Aufsichtsrechte völlig sichere Handhaben« böten. Derart vom preußischen Kultusminister zusätzlich ermutigt, legte Adickes, datiert von 6. März 1910, in einer eigenen Druckschrift »Vorläufige Gedanken betreffs Errichtung und Verfassung einer Universität und Handelshochschule in Frankfurt a. M.« vor ; in einer eigens zusammengestellten Liste ließ Adickes diese Denkschrift an mehr als 200 Personen und Institutionen in ganz Deutschland versenden.8 Darin hieß es: »Die Universität, welche mindestens die historischen Fakultäten – mit Ausnahme der theologischen – umfassen wird, soll auf derselben Grundlage voraussetzungsloser freier Forschung und Lehre, unabhängig von konfessionellen und politischen Richtungen errichtet und betrieben werden, wie die übrigen preußischen Universitäten.« Die »Berufung der Ordinarien« erfolge »durch S. M. den König, der Extraordinarien durch den Herrn Unterrichtsminister. Die Fakultäten sollen in mindestens gleichem Umfang wie bei den übrigen preußischen Universitäten für die Besetzung erledigter Ordinariate geeignete Persönlichkeiten, in der Regel drei, zur Berufung vorschlagen. Die Vorschlagsliste ist durch den Verwaltungsausschuss dem Herrn Unterrichtsminister einzureichen, welcher die Aufstellung einer anderen Vorschlagsliste verlangen kann, wenn ihm keiner der Vorgeschlagenen geeignet erscheint.« Was die Verfassung der Universität als Stiftung angehe, so hieß es: »Delegierte der Stadt und der übrigen […] Stiftungen und Gesellschaften bilden den »Großen Rat« zu Erledigung etwa derselben Geschäfte, wie sie jetzt der Große 8 Wachsmuth, a.a.O., 167 f.

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Rat bei der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften erledigt. Von und aus dem Großen Rat wird – gleichfalls wie bei der Akademie – ein Verwaltungsausschuss zur Bearbeitung der Personalien und der laufenden Verwaltungsgeschäfte gebildet.« Anders wie bei den staatlichen Universitäten bedürfe es keines Universitätskurators. Hingegen könne der territorial zuständige preußische Oberpräsident, wie bisher schon bei der Akademie, als Staatskommissar fungieren. Von dieser Grundlage aus hat Adickes in den nächsten Monaten zahlreiche weitere Spenden und Stiftungen eingeworben, die die geplante Universität auf eine breite finanzielle Grundlage stellten. Dem Anspruch der stiftenden Organisationen auf Vertretung in der Verwaltung war er dadurch entgegengekommen, dass er für jede eine Vertretung im Großen Rat und die Wahl von 1 – 2 Mitgliedern in einen engeren Ausschuss vorsah. Mit großer Befriedigung konnte er am Ende feststellen, dass durch Stiftungen und Vereine für den akademischen Betrieb bereits jährlich rund eine Million bereitstand. Dazu kam der jährliche Aufwand der Stadt für die Kliniken von etwa 750 000 Mark. Das entsprach zusammengenommen in etwa den Kosten einer mittleren preußischen Universität. Die Stadt sollte neben der bereits vor längerer Zeit vereinbarten jährlichen Subvention von 75 000 Mark für die »Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften«, die in der Universität aufgehen sollte, lediglich 63 000 Mark für Polikliniken zusätzlich aufbringen. Ungeachtet der Tatsache, dass das Geld für die Universität als private Stiftungseinrichtung bereits in vollem Umfang bereitstand und die Stadt nur eine verhältnismäßig kleine Summe zusätzlich aufwenden sollte, kam es über das Ganze in der Stadtverordnetenversammlung zu heftigen Auseinandersetzungen. Neben den Konservativen und den Sozialdemokraten, die, aus jeweils unterschiedlichen Gründen, prinzipiell gegen die Errichtung einer von der Stadt getragenen Stiftungsuniversität waren, gab es auch in den beiden großen Fraktionen, die den Oberbürgermeister trugen, also bei den Nationalliberalen und der Fortschrittlichen Volkspartei, zahlreiche Gegenstimmen. Sie artikulierten sehr verschiedenartige Gegenargumente, die aber gemeinsam darauf hinausliefen, eine Handelsstadt wie Frankfurt am Main benötige keine eigene Universität und schon gar keine, die sich in wesentlichen Teilen an den traditionellen preußischen Universitäten und nicht an den konkreten praktischen Bedürfnissen eines Handelszentrums orientiere. Hinzu komme, dass der preußische Staat, sprich die eher konservativ ausgerichtete preußische Regierung, nach wie vor einen entscheidenden Einfluss auf die personelle Zusammensetzung und auf die Ausrichtung der geplanten Universität besitzen werde. Unterstützt von einem engeren Kreis unter Führung von dem Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei, Dr. Heilbrunn, der als Berichterstatter eines eigens eingesetzten Sonderausschusses wirkte, konnte sich Adickes am Ende je-

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doch durchsetzen. Neben dem Widerstand aus Teilen der Stadtverordnetenversamlung, der auch in der Presse ein lebhaftes Echo fand, hatte Adickes auch gegen die in vielem sehr viel gefährlichere Opposition aus Kreisen der konkurrierenden Hochschulen zu kämpfen. Auf Initiative des Marburger Rektors beschloss die Rektorenkonferenz im März 1911 eine Eingabe an den preußischen Kultusminister. In ihr wurde »dem Plan der Frankfurter Stiftungsuniversität das alleinige Recht des preußischen Staates zur Gründung von Universitäten entgegen« gehalten und die preußische Regierung gebeten, »die nachgesuchte Genehmigung verweigern zu wollen«. Im weiteren hat die Rektorenkonferenz einen derartigen Vorstoß zwar nicht wiederholt, aber die Sache hatte doch so viel Aufsehen erregt, dass es sowohl im Kommunallandtag in Kassel zu einer Interpellation zugunsten Marburgs und zu einer ähnlichen Interpellation zugunsten Gießens im hessischen Landtag kam und die ganze Sache schließlich auch den preußischen Landtag beschäftigte. Hier allerdings entzog sich Trott zu Solz, der preußische Kultusminister – der ja durch Adickes seit längerem genau informiert war – zunächst jeder Auseinandersetzung, indem er erklärte, ein Antrag Frankfurts eine Universität zu gründen, sei bisher nicht gestellt worden. Wenn dies der Fall sein werde, werde er die Angelegenheit genau prüfen und seine Entscheidung dann selbstverständlich dem Landtag mitteilen. Seien die Voraussetzungen für eine staatliche Universität gegeben, so Trott zu Solz, »so würde die Genehmigung erteilt werden können, sind sie nicht gegeben, so wird sie versagt werden müssen«. Der Kultusminister berief für Ende September 1911 eine zweitägige Sitzung in seinem Haus ein, an der außer ihm selber sein Ministerialdirektor Dr. Naumann und der Universitätsdezernent Geheimrat Dr. Elster, sowie zeitweise Geheimrat Anschütz von der Berliner Universität als Sachverständiger teilnahmen. Von Seiten Frankfurts hatte Adickes eine ganze Delegation mitgebracht: neben zwei amtierenden Stadträten und drei Stadtverordneten noch je einen Vertreter der hauptsächlich die geplante Gründung tragenden Institutionen, des Instituts für Gemeinwohl, der Akademie für Sozial- und Handelswissenchaften, der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und des Physikalischen Vereins. In seiner Eröffnungsrede betonte der Minister, man sei zusammengekommen, um einen Weg zu finden, wie der Universitätsplan praktisch verwirklicht werden könne. Die Grundfrage sei, neben der Finanzierungsfrage, die Frage, welche Stellung die geplante neue Universität im und zum preußischen Staat einnehmen werde. Darüber kam es zu langen und im einzelnen höchst komplizierten Verhandlungen und nur dem »absolut guten Willen« aller Beteiligten sei es zu verdanken gewesen, wie Adickes zusammenfassend feststellte, dass die Verhandlungen am Ende nicht scheiterten. Einer der Hauptstreitpunkte war, dass die Besetzungsvorschläge für die Professuren vom Verwaltungsausschuss vor-

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gelegt würden, dem auch sonst eine übermächtige Stellung eingeräumt wurde. Vor allem Adickes setzte sich dann für den schliesslichen Kompromissvorschlag ein, dass der Berufungsvorschlag von den Fakultäten ausgehen und formuliert werden und vom Verwaltungsausschuss bestätigt werden solle – dem Ministerium war es darum zu tun, auf diese Weise eine direkte Beziehung zu den Fakultäten zu bekommen und nicht allein von dem Votum des Verwaltungsausschusses und dem, was dieser ihm vorsetze, abhängig zu sein. Auf der Grundlage der hier erzielten Vorschläge einigte sich das Ministerium und die Stadt, sprich Adickes, auf folgende Vorgehensweise: Magistrat, Korporationen und Vereine sollten zunächst einen Vertrag miteinander abschließen, in dem sie sich gegenseitig zu bestimmten Leistungen für eine zu errichtende Universität verpflichteten. Dieser Vertrag würde dann dem Minister eingereicht werden mit der Bitte, ihn als Grundlage anzuerkennen, auf der im Sinne des allgemeinen preußischen Landrechts die Universität als öffentlichen Korporation durch königliche Verordnung errichtet werden könne. Sich auf die entsprechenden Paragraphen des allgemeinen Landrechts zu berufen und auf diese Weise staatlich begründete und staatlich anerkannte private Korporationen juristisch auf eine Ebene zu heben, war ursprünglich ein Vorschlag des auch als Jurist allgemein anerkannten Frankfurter Oberbürgermeisters gewesen, den der Kultusminister und seine engeren Mitarbeiter dann ohne weiteres als tragfähig anerkannten. Stand so die äußere Form der neuen Hochschule fest, so war noch zu regeln, welche Fakultäten in ihr vereinigt sein sollten und wie ihre Leitung aussehen sollte. In Besprechungen zwischen dem Oberbürgermeister und dem Minister kam man darin überein, dass an der Spitze der neuen Hochschule unter Vorsitz des Oberbürgermeisters der Stadt ein »Großer Rat« stehen sollte, gebildet aus Vertretern der Stadt, des »Instituts für Gemeinwohl«, der Handelskammer, der Polytechnischen Gesellschaft sowie der großen Stiftungen und Stiftungsgesellschaften, ferner dem Rektor und Prorektor der neuen Hochschule. Dieser »Große Rat« habe vor allem den Haushaltsplan festzulegen, über An- und Verkauf von Grundeigentum zu entscheiden und das Kuratorium zu wählen. Dessen Aufgabe bestehe vor allem in der Verwaltung der Universität in Vermögensangelegenheiten. Auch an der Spitze des Kuratoriums sollte der Oberbürgermeister als der einzige staatliche Beamte in beiden Gremien treten. Über die Frage der Leitung der künftigen Universität verständigte man sich also vergleichsweise rasch zwischen dem Minister und dem Oberbürgermeister. Als schwieriger erwies sich die Frage nach den in ihr vereinigten Fakultäten. Hinsichtlich des Problems, ob man auch die Errichtung einer theologischen Fakultät ins Auge fassen solle, verwiesen beide Seiten auf die fernere Zukunft, wobei sie darin übereinstimmten, das eine, noch dazu gemischt konfessionelle, Handelsstadt einer oder auch zweier theologischer Fakultäten nicht dringend

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bedürfe. Energisch für die Errichtung einer beziehungsweise zweier theologischer Fakultäten plädierte von den einflussreichen Kräften und Personen in Preußen eigentlich nur Adolf Harnack, der evangelische Berliner Kirchenhistoriker, der eben, 1911, zum ersten Präsidenten der neugegründeten KaiserWilhelm-Gesellschaft gewählt worden war. Der eigentliche Startpunkt der ganzen Universitätsidee, wie sie Adickes von Anfang an ergriffen und vorangetrieben hatte, war der Vorschlag gewesen, eine philosophische Fakultät zu errichten, die 1810 auch den Kern der Berliner Universitätsgründung durch Wilhelm von Humboldt gebildet hatte und die seither ganz allgemein die innere Entwicklung der deutschen Universität bestimmte. Der Gedanke, eine solche philosophische Fakultät auch in Frankfurt zu errichten, war ein entscheidender Antrieb für viele der wohlhabenden Stifter gewesen, die binnen weniger Jahre die finanziellen Grundlagen für eine, wie man es jetzt nannte, »Stiftungsuniversität« geschaffen hatten, deren Errichtung nun kurz bevorstand. Freilich, diese philosophische Fakultät umfasste wie auch in den übrigen Universitäten in Deutschland zugleich die naturwissenschaftlichen Fächer, nur war deren Umfang aufgrund des Willens der Stifter von vornherein so groß, dass die philosophische Gesamtfakultät alle sonst üblichen Grenzen sprengte. Das Ministerium entschloss sich daher gemeinsam mit dem Vorsitzenden von »Großem Rat« und Kuratorium, Adickes, gleich zwei Fakultäten zu errichten, eine philosophische und eine naturwissenschaftliche – die erste selbstständige naturwissenschaftliche Fakultät in Deutschland überhaupt. Daneben sollten selbstverständlich eine medizinische und eine juristische Fakultät treten. Während die medizinische gleichsam organisch aus den schon bestehenden zahlreichen medizinischen Einrichtungen der Stadt gebildet werden konnte, glaubte man zunächst, die Ausgestaltung der engeren juristischen zu einer rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen vorantreiben zu können. Dabei bestand jedoch die Gefahr, dass die schon bestehende »Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften« gleichsam ein Fremdkörper in der Universität bleiben würde. Aus der Akademie kam dann jedoch der, auch von deren Hauptgründer, Wilhelm Merton, begrüßte, einstimmige Beschluss, »von vornherein die Errichtung einer besonderen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Aussicht zu nehmen. In diesem Vorschlag«, hieß es weiter, erblickt das Kollegium zugleich die beste und einfachste Lösung der Frage, wie künftig das Verhältnis der Handelshochschule zur Universität sich gestalten soll.« Auf diese Weise war bis Ende 1911 festgelegt, dass die künftige, vor allem durch private Stiftungen finanzierte Universität aus fünf Fakultäten bestehen sollte: aus einer philosophischen, einer naturwissenschaftlichen, einer juristischen, einer sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen und einer medizinischen Fakultät. Anfang April 1912 wurden der Stadtverordnetenversammlung der mit

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dem Kultusministerium verabredete Vertrag und der erste Haushaltsplan für die zu gründende Universität vorgelegt. In einer längeren Rede ging Adickes noch einmal auf die zentralen Punkte der Vorlage ein. Er betonte, dass die wesentlichen Punkte der Forderungen der Stadtverordnetenversammlung von Ende Juni des vergangenen Jahres, also vor den Verhandlungen mit dem preußischen Kultusministerium, erreicht worden seien. Die Selbständigkeit der Stiftungen und die besondere Stellung der Handelshochschule in der Form einer eigenständigen Fakultät der Universität sei gewahrt worden. Der Vertrag beurkunde formell, dass von einer Abhängigkeit der zu gründenden Hochschule vom Staat nicht die Rede sein könne. Stadt und Stiftungen hätten das Etatrecht erhalten. Mit dem Großen Rat und dem Kuratorium habe Frankfurt, sprich die Stadt und die Stiftungen, im Vergleich zu den anderen deutschen Universitäten zwei zentrale und unabhängige Leitungsorgane erhalten. Schließlich habe er jede prinzipielle Garantie der Stadt für die Universität abgelehnt, also von Seiten der Stadt auch keine zusätzliche finanzielle Belastung des Stadthaushaltes übernommen. Den Ausschussbericht erstattete wiederum der Stadtverordnete Heilbrunn. Er gipfelte in dem Vorschlag, »den Magistrat zu ermächtigen, den Universitätsantrag unter Zulassung etwa erforderlich werdender unerheblicher Änderungen abzuschließen«. Nach einer lebhaften Diskussion ergab die namentliche Abstimmung am 22. April 1912 43 Stimmen dafür und 26 Stimmen dagegen; neben einzelnen Mitgliedern der beiden liberalen Fraktionen verweigerten sowohl die Konservativen als auch die Sozialdemokraten dem Antrag ihre Zustimmung. Damit war von Seiten der Stadt der Beschluss zur Gründung einer Stiftungsuniversität in Frankfurt erfolgt. Knapp vier Wochen zuvor war im Preußischen Abgeordnetenhaus die ganze Frage behandelt worden. Der Kultusminister von Trott zu Solz hatte dabei sehr geschickt, um den Kritikern, die das alleinige Recht des Staates zur Gründung einer solchen Institution betonten, ihre Argumentationsbasis zu entziehen, betont, er trete für eine solche Gründung nur unter der Bedingung ein, dass »sie sich nach ihrer Gestaltung, nach ihrem ganzen Aufbau, nach den grundsätzlichen Bestimmungen, die für sie maßgebend sein sollen, als eine Veranstaltung des Staates im Sinne des Allgemeinen Landrechtes charakterisirt«. »Ist das der Fall« war er fortgefahren, »sind die Bestimmungen so gefaßt, daß diese Universität entsprechend der Vorschrift des Allgemeinen Landrechts als eine staatliche Veranstaltung angesehen werden kann, dann kann sie durch Königliche Verordnung privilegiert und ins Leben gerufen werden, aber auch nur durch Königliche Verordnung.« Er habe sich, führte der Kultusminister aus, »als die Frankfurter Herren an mich herantraten, von vornherein auf den Standpunkt gestellt, daß ich in der ganzen Angelegenheit nur dann überhaupt weitere Verhandlungen führen

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könnte, wenn alle die grundlegenden Bestimmungen, die wir an unseren anderen Universitäten haben, auch für Frankfurt am Main eingeführt werden, daß also nicht etwa die Stadt Frankfurt oder eine Gesamtheit von Stiftern sich dort zusammentun, ihrerseits ein Statut machen, nach dem eine Universität begründet werden soll, und dazu nur die staatliche Genehmigung eingeholt würde. Ich habe mich auf den Standpunkt gestellt«, fuhr er fort, »daß die Angelegenheit nur in der Weise geregelt werden könnte, daß der König kraft des ihm zustehenden Rechtes seinerseits das Privileg gibt, seinerseits die Universität begründet, seinerseits die Statuten erläßt, nach denen die Universität leben soll.« Der Minister ging dann im Einzelnen auf die Forderungen ein, die er an eine staatliche Universität stellen müsse – Forderungen, die Adickes in Wahrheit vorformuliert und präsentiert hatte. Er habe mit den Frankfurter Herren in diesem Sinne verhandelt, »habe meine Grundsätze dargelegt und muß nun abwarten, ob sie in Frankfurt Annahme finden. Geschieht das«, mit diesem Satz formulierte er zusammenfassend noch einmal die Bedingungen für seine Entscheidung, »stellen sich die Frankfurter Stellen auf den von mir gekennzeichneten Boden, treten sie dann mit ihren Anträgen an mich heran« – was ja schon längst geschehen war – »so werde ich in eine neue Prüfung aller Einzelheiten eintreten, und diese Prüfung wird sich wesentlich darauf zu beziehen haben, ob alle Voraussetzungen erfüllt sind, die die Universität als eine Veranstaltung des Staates im Sinne des Landrechts charakterisieren, und nur dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, würde ich mich für berechtigt halten, den Antrag an Allerhöchster Stelle vorzulegen.« Für den nicht näher Eingeweihten passte hinsichtlich des hier präsentierten Zeitablaufs alles zusammen. In Wahrheit jedoch war alles längst zwischen dem Minister und dem Frankfurter Oberbürgermeister ausgehandelt und es fehlte nur noch die Zustimmung der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung. Diese erfolgte, wie gesagt, am 22. April 1912 und damit war die Gründung der Universität als eine Stiftungsuniversität faktisch bereits beschlossen. Am Abend des gleichen Tages fand in der Festhalle in Anwesenheit von Tausenden von Frankfurtern eine Abschiedsfeier für den zum 30. September zurücktretenden Frankfurter Oberbürgermeister statt, dem am 2. Juli 1912 von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen worden war. Dass sie im Zeichen der formellen Gründung der Frankfurter Universität begangen wurde, die ihn in den letzten Jahren wie kaum etwas anderes beschäftigt hatte, fand er selber als eine Art symbolischen Akt. Er demonstrierte in seinen Augen, wie die unter seiner Leitung mächtig aufgeblühte Stadt sich zugleich anschickte, zu einem neuen geistigen Zentrum im deutschen Südwesten zu werden, so zeigend, wie materielle und geistige Erfolge, sich gegenseitig befruchtend, Hand in Hand gingen. Ja, dass geistiger und materieller Fortschritt jeweils Kehrseiten des gleichen Ideals, des Ideals der bürgerlichen

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Gesellschaft seien, in dem er selber aufgebracht worden war und in dessen Zeichen er seine ganze politische Laufbahn verbracht hatte. Dass diese bürgerliche Gesellschaft nicht oder doch nicht in erster Linie, wie die politischen Gegner behaupteten, eine Klassengesellschaft sei, sondern das Volk, die jeweilige kommunale Gesellschaft als ganze umfasse, war seine tiefste Überzeugung und ebenso, dass ihr zu dienen eben nicht vom bloßen Klasseninteresse diktiert sei. Und in diesem Sinne empfand er die Stiftung einer Universität durch die Stadtbürgergesellschaft nicht nur als Antwort auf ganz praktische Bedürfnisse und Interessen, also als einen pragmatischen, sondern zugleich als einen symbolischen Akt, als Bekundung des Willens der Bürgergesellschaft als ganzer, gemeinsam den Weg in die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiten. In solchem Sinne sah Adickes in der Gründung der Frankfurter Stiftungsuniversität die Krönung seines Lebenswerkes und zugleich den Auftakt zur Selbstvollendung der liberalen individualistischen bürgerlichen Gesellschaft. Schon im Mai 1912 hatte der preußische König, den letzten Akt der Gründung der Frankfurter Universität einleitend, formell seine Zustimmung zu dem ganzen Verfahren gegeben. Es erfülle ihn mit Befriedigung, ließ er den Kultusminister am 18. Mai 1912 wissen, »daß Dank dem opferfreudigen Sinn der Stifter für dieses Vorhaben die Mittel zum weitaus größten Teil gesichert sind«. Er wolle daher »demnächst genehmigen, daß der Plan der Errichtung einer Universität in Frankfurt am Main weiter verfolgt wird, und beauftrage Sie, Mir den Entwurf einer Universitätssatzung vorzulegen, sobald der Nachweis der erforderlichen Mittel in vollem Umfange erbracht ist«. Am 10. Juni 1914 verfügte der preußische König, gegengezeichnet von preußischen Kultusminister : »Aus Ihrem Bericht vom 4. Juni ds. Jahres habe Ich ersehen, daß die Zuwendungen zu Gunsten einer Universität in Frankfurt am Main die Möglichkeit geben, sie aus eigenen Mitteln zu unterhalten. Da auch im Übrigen die Vorbereitungen soweit gediehen sind, daß im Winterhalbjahr 1914/ 15 mit dem Unterricht begonnen werden kann, will Ich nunmehr die Universität zu Frankfurt am Main hierdurch in Gnaden errichten und genehmigen, daß sie in den Genuß der ihr zugewandten Rechte tritt.«9 Wegen des Ausbruchs des Krieges zwischen den fünf Großmächten und ihren jeweiligen Alliierten Ende Juli/Anfang August, der sich binnen kurzem zu einem Weltkrieg entwickelte, wurden die geplante feierliche Eröffnung und die vorgesehenen Festlichkeiten in diesem Zusammenhang abgesagt. In einem Erlass vom 8. August 1914 erklärte der Minister : »Von einer feierlichen Eröffnung der Universität zu Frankfurt, wie sie in Aussicht genommen war, wird unter den gegenwärtigen Verhältnissen Abstand genommen werden müssen. Wie im Jahre 9 Zit. n. Wachsmuth, a.a.O., 96.

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1810«, fuhr er, die Traditionslinie bewusst unterstreichend, fort, »die Universität Berlin ihre Lehrtätigkeit ohne weiteres begonnen hat, so dürfte auch in Frankfurt die Aufnahme der Vorlesungen zu Anfang des bevorstehenden Wintersemesters ohne vorausgehende besondere Feierlichkeit zu erfolgen haben.« Zehn Tage später, am 18. August, ernannte er auf Vorschlag des »Großen Rates« Adickes zum Vorsitzenden des neu geschaffenen Kuratoriums. Für diese Position war laut Statut und Stiftungsvertrag eigentlich der neugewählte Oberbürgermeister Voigt vorgesehen. Dass er davon abweichend den eigentlichen Gründer der Universität in das Amt an der Spitze der neuen Universität berief, fand in der Stadt einhellige Zustimmung. Voigt wurde zu seinem Stellvertreter bestellt. Am 3. Oktober 1914 wurde Adickes vom Kaiser, dessen zentrale Rolle bei dem Ganzen zusätzlich unterstreichend, zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt mit dem Titel Excellenz. Knapp drei Wochen später übersandte der Minister dem Rektor und dem Senat der Universität zu Frankfurt die »die von Seiner Majestät dem Kaiser und König Allerhöchst vollzogene Errichtungsurkunde und Satzung« mit seinen »herzlichsten Glück- und Segenswünschen«. »In großer, ernster Zeit«, so Trott zu Solz, »tritt die neue deutsche Hochschule, die der Opferwilligkeit Frankfurter Bürger ihre Entstehung verdankt, an die Seite ihrer älteren Schwesteranstalten.« Am 26. Oktober 1914 wurde die Universität in der Aula des Jügelhauses feierlich eröffnet. Die Satzung der Universität trage »das weltgeschichtliche Datum des 1. August 1914, des Tages, an dem der Kaiser zur Verteidigung des Vaterlandes die Mobilmachung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte anordnete. Die akademische Jugend ist in großer Zahl zu den Fahnen geeilt, und viele Lehrer der Universität stehen im Westen und im Osten vor den Feinden im Feld. Da werden die Hörsäle ›ruhmvoll verödet‹ sein, jene »fausta infrequentia« aufweisen, die nach den Worten August Boeckh’s die Universität Berlin in den Freiheitskriegen zierte. Aber die Zurückgebliebenen werden nun auch an der neuen Stätte wissenschaftlicher Lehre und Forschung im Herzen Deutschlands in treuer Pflichterfüllung ihre Arbeit aufnehmen. Auch das ist Dienst am Vaterlande. Jedermann auf seinem Posten! Und so möge die wenngleich kleine Zahl der Lehrenden und Lernenden sich der auch der Universität Frankfurt obliegenden Aufgabe widmen: die geistigen und sittlichen Werte menschlichen Lebens mehren zu helfen, vor Augen den Imperativ der Pflicht, im Herzen den felsenfesten Glauben an die Zukunftsmacht des deutschen Volkes.«10 Anfang November traten unter Vorsitz von Adickes Kuratorium und »Großer Rat« der Universität erstmals zusammen. Damit waren alle Institutionen der neuen Universität ins Leben getreten. Freilich, wie der Minister richtig pro10 Wachsmuth, a.a.O., 255 f.

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phezeit hatte, es herrschte »fausta infrequentia«, und im Unterschied zu der Zeit der Freiheitskriege war sie sehr viel größer als damals und wuchs ständig an. Und die Lebensumstände im ganzen Land verschlechterten sich von Monat zu Monat. Am Ende kam es zum Sturz des Kaisers, zur revolutionären Ablösung der bis dahin Regierenden und der Bildung einer Revolutionsregierung, die nicht nur von Rechts, sondern auch von Links erbittert bekämpft wurde. Dazu kamen harte Friedensbedingungen, die von weiten Teilen der Bevölkerung als jedes Maß überschreitendes Friedensdiktat empfunden wurden. Zwar hielten auch die nun, 1918/19, mit Zentrum und Linksliberalen an die Macht gekommenen Sozialdemokraten an der vor 1914 begründeten und zu Beginn des Krieges ins Leben getretenen Universität fest, deren Errichtung sie vor 1914 bekämpft hatten. Aber die finanziellen Grundlagen, auf denen die Stiftungsuniversität beruhte, wurden schon während des Krieges immer schmaler und verschwanden in der nachfolgenden Inflationszeit schrittweise fast ganz. Die Stadt sah sich mehr und mehr gezwungen, die Finanzierung, obwohl sie unter den Kriegsfolgelasten selbst schon fast zusammenbrach, in die eigene Hand zu nehmen. Sie tat das nicht zuletzt, weil die Universität trotz aller äußeren Belastungen als geistiges und wissenschaftliches Zentrum mächtig aufblühte und sich auf fast allen Gebieten, ganz im Sinne ihrer Stifter und Gründer, als ein Ort entwickelte, von dem für das geistige und wissenschaftliche Leben starke Impulse ausgingen. Vor allem auch hinsichtlich der Erforschung der sozialen Grundlagen der modernen Gesellschaft und der in ihr zu Tage tretenden Konflikte, also auf dem Feld, auf das sich Wilhelm Merton mit seinen Gründungen und Stiftungen in erster Linie konzentriert hatte, leistete sie in Begründung, Entwicklung und Verbreitung der neuen Wissenschaft der Soziologie Wegweisendes. Aber auch auf anderen Gebieten, im Bereich der Medizin, der Naturwissenschaften ganz allgemein und auch der Geisteswissenschaften, trat sie bis 1933 zum Teil mit bedeutenden Leistungen hervor und rückte binnen weniger Jahre mit an die Spitze der deutschen Universitäten. Das ließ vor allem auch auf Seiten der Sozialdemokratie, der nun politisch führenden Kraft in dem einst über Jahrzehnte von den Konservativen beherrschten Preußen, die ursprünglich kritischen Stimmen mehr und mehr verstummen. Die Universität Frankfurt erschien, als ein weithin anerkanntes wissenschaftliches Unternehmen, zugleich als ein geistiges und kulturelles Zentrum der Republik, bestimmt und getragen vom Geist des zukunftsorientierten liberalen Bürgertums der Stadt, dessen Stiftungen sie ihre Existenz verdankte.

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Klaus Dicke / Florian Weber

Theodor Heuss und Ernst Abbe

Theodor Heuss hat als Journalist und Politiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, als Mitglied des Parlamentarischen Rates und schließlich als erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland Geschichte »geschrieben« – im doppelten Wortsinn: Heuss, der über vier politische Systeme hinweg in Deutschland »vernetzt« gewesen ist wie wenige andere, war politischer Akteur und Chronist mit einem sehr spezifischen historiographischen Verständnis in einem.1 Diese eigentümliche, einem bildungsbürgerlichen Selbstverständnis entspringende Mischung aus Politik und Historiographie soll im Folgenden an einem Fallbeispiel näher vorgestellt werden, das sowohl in Würdigung des Historikers Hans-Werner Hahn als auch im WürttembergischJenaer Mikrokosmos besondere Aufmerksamkeit beanspruchen darf: dem Verhältnis von Theodor Heuss zu dem Physiker, Unternehmer und Sozialpolitiker Ernst Abbe. Zwei in jüngster Vergangenheit publizierte voluminöse HeussBiographien2 und die Dokumentationen des Stuttgarter Heuss-Archivs helfen bei der Erschließung des Materials zu der alle Lebensphasen von Heuss umfassenden Beschäftigung mit Abbe, in der Politik und Historiographie zusammenfließen. An eine Chronologie dieser Beschäftigung (1.) schließen sich eine Betrachtung des historiographischen Verständnisses von Theodor Heuss (2.) sowie eine Rekonstruktion des von ihm tradierten Bildes Ernst Abbes (3.) an. Die Untersuchung mündet in einige Heuss als Abbe-Biographen würdigende Schlussfolgerungen (4.).

1 Für Hilfestellung bei der Recherche und die Bereitstellung von Archivmaterial danken die Autoren Dr. Kathrin Fastnacht (Bosch-Archiv), Dr. Martin Furtwängler (Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), Dr. Thomas Hertfelder (Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus) sowie Dr. Wolfgang Wimmer (Carl Zeiss Archiv). 2 Peter Merseburger : Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. München 2012; Joachim Radkau: Theodor Heuss. München 2013.

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1.

Klaus Dicke / Florian Weber

Wie kam Heuss zu Abbe? Chronologie einer Beziehung

Dem Namen Ernst Abbes dürfte Theodor Heuss erstmals im Kolleg seines akademischen Lehrers Lujo Brentano begegnet sein. Abbe, der erfolgreiche Wissenschaftler, Unternehmer und für eine sozialpolitisch verantwortliche Unternehmensphilosophie ganz im Sinne der arbeitssoziologischen Lehren Brentanos stehende Verfasser des Zeiss-Statuts war eine der Bezugsfiguren für dessen Interesse an Fragen der Arbeitsorganisation und Betriebsverfassung, wie auch umgekehrt Brentanos Arbeiten Abbe inspiriert haben.3 Brentano reklamierte für sich, dass seine Untersuchung »Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitsleistung«4 »Abbe zu seinen einschlägigen Untersuchungen veranlaßt« habe und betonte eine »Übereinstimmung« im Ergebnis.5 Diese Übereinstimmung bestand darin, dass Brentano im Unterschied zu anderen »Kathedersozialisten« es nicht in erster Linie als die Aufgabe des Staates ansah, für die Belange der Arbeiterschaft einzutreten; vielmehr setzte er auf einen kooperativen Aushandlungsprozess zwischen Unternehmern und Arbeitern. Er betonte, dass es aufgrund des abnehmenden Grenznutzens der Arbeit im Interesse der Unternehmer selbst sei, den Arbeitstag auf acht Stunden zu beschränken. Diese Argumentation machte Abbe sich zu eigen: Er begründete sein Argument für die Verkürzung der Arbeitszeit »ökonomisch« und nicht »sozialpolitisch«; modern gesprochen entwickelte er »eine neoklassische Bedingungsgleichung für das physiologische Gleichgewicht der industriellen Arbeitsleistung«.6 Und auch im Milieu des sozialen Liberalismus, der politischen Heimat von Theodor Heuss, war Abbe kein Unbekannter : Er galt als »politisch radikalliberaler Individualist«7 und wurde als »kräftiger Parteigänger des Eugen

3 Lujo Brentano überschrieb seine Erinnerungen mit »Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands« (Jena 1931). Zu Brentano und Abbe s. Theodor Heuss: Robert Bosch. Leben und Leistung. München 2. Aufl. 1981, S. 116; ders.: Ernst Abbe, in: ders.: Würdigungen. Reden, Aufsätze und Briefe aus den Jahren 1949 – 1955, hg. von Hans Bott. Tübingen 1955, S. 148 – 159 (151 f.). Zur Resonanz von Abbes Stiftungsstatut vgl. nur die Bemerkungen Walther Rathenaus und Gustav von Schmollers in: Walther Rathenau: Hauptwerke und Gespräche (Walther Rathenau-Gesamtausgabe, Bd. II), hg. von Hans Dieter Hellige und Ernst Schulin. München 1977, S. 376, 567. 4 Lujo Brentano: Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung. Berlin 2. Aufl. 1893. 5 Brentano: Mein Leben (wie Anm. 3), S. 191. 6 Hans G. Nutzinger : Ernst Abbe als Sozialreformer, in: Antje Klemm / Nikolaus Knoepffler (Hg.): Ernst Abbe als Unternehmer und Sozialreformer. Ein Beitrag zur Wirtschaftsethik (Reihe ta ethica, Band 2). München 2007, S. 37 – 58 (56). 7 Theodor Heuss: Abbe, Ernst Carl, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 2 – 4 (3) [Onlinefassung]; URL: http://.deutsche-biographie.de/pnd118646419.html [13. 03. 2012].

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Richter«8 dem sozial-liberalen Milieu des Kaiserreichs zugeordnet. Abbe war zunächst Mitglied im deutschen Nationalverein, später Mitbegründer des Jenaer Freisinnigen Vereins (1884); er beteiligte sich u. a. an der Programmdiskussion der 1893 von Eugen Richter gegründeten Freisinnigen Volkspartei. Zudem waren beide, Heuss und Abbe, durch Friedrich Naumann geprägt. Abbe spricht von Naumann »mit großer Bewunderung«.9 Heuss zählt zum sog. NaumannKreis und prägt dessen Rezeption in Deutschland maßgeblich. Bei den Vorarbeiten zu seiner Naumann-Biographie schreibt Heuss 1921 u. a. an die Carl Zeiss Stiftung mit der Bitte, ihm aus »Abbes Hinterlassenschaft Briefe von Naumann«10 zur Verfügung zu stellen. Kontakte zur Zeiss Stiftung spielten für Heuss Anfang der zwanziger Jahre ein weiteres Mal eine Rolle: Als Robert Bosch sich mit dem Gedanken trug, sein Unternehmen in eine Stiftung umzuwandeln, wollte er sich der Erfahrung des Zeiss-Werkes mit dem Stiftungsstatut vergewissern. Es war wohl Theodor Heuss, der entsprechende Erkundungen in Jena einholte,11 vielleicht in Verbindung zu seinem privaten Kontakt zu seiner Freundin Lulu von Strauß und Thorney, die seit 1916 mit dem Jenaer Verleger Eugen Diederichs verheiratet war und in Jena wohnte.12 Und schließlich teilten Heuss und Abbe als Liberale ein Interesse an der Sozialdemokratie, ohne ihr anzugehören: Abbe hatte sich um die Jahrhundertwende publizistisch mehrfach gegen Beschränkungen der Versammlungsfreiheit der Arbeiterschaft gerichtet, und Heuss galt innerhalb des Naumann-Kreises als »Experte für die Sozialdemokratie«13 und berichtete in der 8 Heuss: Würdigungen (Anm. 3), S. 157. 9 Theodor Heuss: Anton Dohrn in Neapel. Berlin/Zürich 1940, S. 272, aus einem Brief Dohrns zitierend. 10 Heuss’ Schreiben vom 16. 7. 1921 findet sich im Carl Zeiss Archiv unter der Signatur BACZ 1161. – Siehe auch Michael Dorrmann (Hg.): Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918 – 1933. München 2008, S. 157 ff. 11 Hinweise auf diese Erkundungsreise von Heuss finden sich bei Rolf Walter : Die Ressource »Wissen« und ihre Nutzung. Ernst Abbe und der Jenaer Aufschwung um 1900, in: KlausMichael Kodalle (Hg.): Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900 – 1940 (Kritisches Jahrbuch der Philosophie Bd. 5). Würzburg 2000, S. 11 – 23 (17) sowie bei Armin Hermann: Carl Zeiss. Die abenteuerliche Geschichte einer deutschen Firma. München/Zürich 1992, S. 326. – Leider ließen sich weder in den Archiven der Bosch-, noch der Carl Zeiss Stiftung Quellen-Belege dafür auffinden. Stattdessen findet sich ein von Bosch in Auftrag gegebener Bericht Theodor Bäuerles aus dem Jahr 1939 mit dem Titel »Bericht über eine Reise nach Jena zum Studium der sozialen, kulturellen und traditionspflegerischen Einrichtungen der Zeiss-Werke am 1./2. November 1939.« Bezüge auf mögliche Vorarbeiten von Heuss sind jedoch nicht enthalten (BACZ 28263). 12 So kündet Heuss in einem Schreiben an Herrn Dr. Schomerus von der Carl Zeiss Stiftung vom 8. Dezember 1930 einen Besuch der »Witwe Eugen Diederichs« an (BACZ 731). 13 Thomas Hertfelder : Das symbolische Kapital der Bildung: Theodor Heuss, in: Gangolf Hübinger / ders. (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, S. 93 – 113 (96).

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»Hilfe« regelmäßig auf der Basis teilnehmender Beobachtung, die ihn 1913 auch nach Jena führte, über deren Programmdiskussionen. Man kann also insgesamt davon ausgehen, dass Person, Werk und Erfolg Abbes bereits dem jungen Studenten und Journalisten Theodor Heuss wohl bekannt waren. Eine zweite Phase der Befassung mit Ernst Abbe fällt in die Zeit des Nationalsozialismus, in der Heuss als biographischer Publizist seinen Lebensunterhalt bestritt. In den zehn Jahren zwischen 1937 und 1946 veröffentlicht er fünf Biographien in Buchform und eine Fülle biographischer Artikel vorwiegend in der »Frankfurter Zeitung«, ehe die Sammlung »Deutsche Gestalten« 1947 die Biographien-Phase beschließt, an die freilich zahlreiche »Würdigungen« des Bundespräsidenten anknüpfen sollten.14 Die fünf in Buchform veröffentlichten Biographien über Friedrich Naumann (1937), den Architekten Hans Poelzig (1939), den Biologen Anton Dohrn (1940), Justus Liebig (1942) sowie Robert Bosch (1946) weisen eine interessante innere Systematik auf: Alle Porträtierten entstammen dem Milieu des sozialen Liberalismus bzw. im Falle Liebigs dem weiteren Familienkreis; die Biographien über Naumann und Poelzig reflektieren die geistige Prägung des Autors im Naumann-Kreis15 und seine Tätigkeit als Vorstand im Deutschen Werkbund16, während die Lebenswerke von Dohrn, Liebig und Bosch jenes Dreieck aus naturwissenschaftlicher Forschung, industrieller Verwertung und sozial-liberaler Gesinnung aufweisen, das auch für Abbe kennzeichnend war. Im Ergebnis spielt Ernst Abbe im biographischen Werk aus dieser Lebensphase von Heuss durchaus mehr als eine Nebenrolle: Am 23. Januar 1940 veröffentlicht Heuss in der Frankfurter Zeitung einen Essay über Abbe aus Anlass von dessen 100. Geburtstag, der unter dem Titel »Der Professor wird Unternehmer« Abbes Lebenswerk und die Erfolgsgeschichte der Zeiss Stiftung ausführlich und anschaulich würdigt.17 Der Artikel bildet zugleich die Grundlage für den Eintrag »Ernst Abbe« in der Neuen Deutschen Biographie (1944) aus der Feder von Theodor Heuss und die Aufnahme einer Würdigung Abbes von Walter Bauersfeld in die Neuausgabe der »Großen Deutschen« 1956.18 In der Dohrn-Biographie finden sich zahlreiche Hinweise auf das enge Zusammenwirken zwischen dem Haeckel-Schüler und Leiter der meeresbiologischen Forschungsanstalt in Neapel Anton Dohrn und Ernst Abbe, die nicht nur das 14 Vgl. Merseburger (Anm. 2), S. 340 ff.; Radkau (Anm. 2), S. 191 ff. 15 Ursula Krey : Demokratie durch Opposition: Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Hübinger / Hertfelder : Kritk und Mandat (Anm. 13), S. 71 – 92. 16 Radkau (Anm. 2), S. 60 ff.; 113 ff. 17 Theodor Heuss: Der Professor wird Unternehmer. Zum 100. Geburtstage von Ernst Abbe, in: Frankfurter Zeitung, 84. Jgg., Nr. 39, 23. 01. 1940 , S. 1 f. 18 Walther Bauersfeld: Ernst Abbe 1840 – 1905, in: Hermann Heimpel / Theodor Heuss (Hg.): Die großen Deutschen. Berlin 1956, S. 562 – 571.

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Bild persönlicher Freundschaft, sondern auch einer engen Verflechtung von Wissenschaft und Wirtschaft zwischen Jena und Neapel zeichnen. Und die Biographie Robert Boschs zeigt in zahlreichen Parallelen zwischen Abbe und Bosch das Bild sozialpolitisch motivierter Innovation industrieller Betriebsverfassung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, das von überraschender Aktualität und schon deshalb eine nähere Betrachtung durchaus wert ist. Die historischen und biographischen Studien von Theodor Heuss haben ihn mit einem geistigen Kapital ausgestattet, das dem liberalen Politiker und dem Bundespräsidenten in den Gründungs- und Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland zugute kam und so manche Zinsen trug. Auch seine Beschäftigung mit Abbe sollte sich auszahlen: Im April und Mai 1946 hatte sich das württemberg-badische Kabinett mit dem Antrag einer Förderung für die Firma Zeiss für eine Niederlassung in Württemberg zu befassen.19 Für Heuss, der dem Kabinett als »Kultminister« angehörte, war »es eine persönliche Genugtuung, dass ich im Kabinett ein schönes Plädoyer für Zeiß, für Abbe ablegen und sagen konnte: Wenn diese Männer zu uns kommen, wenn sie bei uns bleiben, so haben sie gerade in unserem Land die besten Chancen, ihre alte Wirkung zurückzugewinnen«. Daran erinnerte der Bundespräsident Theodor Heuss, als er am 1. Mai 1954 das Zeiss-Werk in Oberkochen besuchte und dort eine in der Memoria des Konzerns bewahrte Rede20 hielt. Bei dieser Gelegenheit ist über eine letzte Begegnung gesprochen worden, die Heuss mit Abbe und seinem Werk hatte: Die Carl Zeiss Stiftung hatte am 26. Mai 1955 beschlossen, das Amt der Stiftungsverwaltung dem Bundespräsidenten qua Amt zu übertragen.21 Heuss hat sich im April 1957 grundsätzlich bereit erklärt, als Person und im Nebenamt diese Funktion zu übernehmen. Im Lichte der gerichtlichen Auseinandersetzungen über die Stiftung entschied diese sich jedoch Mitte 1958, das Amt dem Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg zu übertragen. Heuss erklärte sich damit einverstanden, und im Protokoll eines Besuchs der Stiftungsleitung beim Bundespräsidenten am 22. Juli 1959 heißt es, Heuss hoffe, »auch ohne besonderes Amt ab und zu für Zeiss und Schott ein gutes Wort eingelegt zu haben. Dazu hätten sich in seiner Stuttgarter und Bonner Zeit wiederholt Anlässe ergeben. So habe er zum Beispiel auch mit dem Negus über Zeiss gesprochen und ihm an diesem Beispiel die Folgen der 19 Der Antrag auf Förderung stand auf den Tagesordnungen der Sitzungen vom 11. April und 16. Mai 1946. Für einen Einblick in die noch unveröffentlichten Sitzungsprotokolle des Württembergischen Kabinetts – einsehbar im Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) unter der Signatur EA 1/920 Bü 139 – danken wir Dr. Martin Furtwängler. 20 Heuss: Würdigungen (Anm. 3), Zitat S. 148. Zum Besuch in Oberkochen s. Hermann: Carl Zeiss (Anm. 11), S. 176 ff. 21 Carl Zeiss Archiv, CZO 000285.

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Zerreissung Deutschlands, aber auch den Aufbauwillen tüchtiger Männer schildern können«.22 Ehe wir uns Heuss’ Texten zu Abbe näher zuwenden, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welche Grundsätze in seiner biographischen Werkstatt leitend gewesen sind.

2.

Heuss als Geschichtsschreiber

Theodor Heuss war durch eine kaum überschaubare Korrespondenz, aber auch durch Reisen und persönliche Gespräche in einer Dichte »vernetzt«, wie sie auch in Zeiten von E-Mail und SMS kaum erreichbar sein dürfte. Namentlich in seinen präsidialen Reden liebte er Anekdoten und charakterisierende Episoden, um die er bei seinem Reservoir historischen Detailwissens, keineswegs nur des 19. Jahrhunderts, nie verlegen war. Theoriegeleitete Strukturanalysen hingegen waren seine Sache nicht. Trotz der historischen Vorlesungen, die er als Dozent der Berliner Hochschule für Politik hielt und der kurzzeitigen Honorarprofessur an der Technischen Universität Stuttgart wird man in Heuss bestenfalls einen Außenseiter der Historikerzunft sehen können. Gleichwohl lassen sich einige historiographische Maximen festhalten, die für die Beurteilung vor allem seines biographischen Schaffens nicht unerheblich sind. Zunächst lässt sich jenseits der Notwendigkeit des Broterwerbs in den dreißiger und vierziger Jahren folgendes Motivbündel seines biographischen Schaffens23 rekonstruieren: Heuss dachte in persönlichen Kommunikationsstrukturen, in geistigen Netzen. Er kannte die überwiegende Zahl der von ihm gewürdigten Personen als Zeitgenossen, genauer : als ihm in gewisser Weise sympathische und nahestehende Zeitgenossen. Das gibt den Biographien und »Würdigungen« plastischen, lebendigen, oft liebenswürdigen Charakter. Er lässt seine Helden zu den Lesern sprechen und zieht diese so gleichsam in einen Sog der Empathie. Fokus seiner Darstellungen sind charakteristische Merkmale oder Geschichten eines typischen, ihm sympathischen, vor allem aber prägenden »Menschentums«, so ein häufig begegnender Begriff, hinter dem nicht selten das liberal-humanistische Motiv der Freiheits- und Bildungsförderung durch gelebtes Beispiel24 erkennbar wird. Ebenso wie das Gespräch ist das Schreiben für ihn Lust an der Kommunikation; seine Formulierungen in einem uns heute vielfach fremd klingenden altdeutschen Stil können nebulös sein, können aber 22 »Niederschrift über einen Besuch beim Bundespräsidenten Herrn Professor Dr. Theodor Heuss am 22. Juli 1959 in Bonn«, Carl Zeiss Archiv CZO 000169. Zum Hintergrund Hermann: Carl Zeiss (Anm. 11), S. 188 ff.; S. 326 ff. 23 Radkau (Anm. 2), S. 218 ff. 24 Vgl. etwa Theodor Heuss: Friedrich Ebert, in: Würdigungen (Anm. 3), S. 209 – 221 (213 f.).

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auch in unprätentiöser Verständlichkeit uns heute in modernen technischen Termini bekannte Sachverhalte herauspräparieren.25 Ein namentlich beim Bundespräsidenten immer wiederkehrendes Motiv ist die gegen Restaurationstendenzen sich abgrenzende Wahrung historischer Kontinuität im Geschichts- oder Nationalbewusstsein. Im Geburtstagsbrief an den »Jahrgangsgenossen« Edwin Redslob schreibt er 1954: »Die Welt unserer Jugend ist zerschlagen und nur ›sehr alte Herren‹ bleiben bemüht, ihre Formen und Gesinnungen zu restaurieren. Aber wir, die wir sie zugleich naiv dankbar und sentimental kritisch erfahren und ihre Lehren in uns bewahrt haben, erkennen, dass es schön und wohl auch wichtig ist, über den Riß der Zeiten hinweg Kräfte und Gesinnungen der historischen Kontinuität zu bewahren. Eine der Funktionen des Jahrganges 1884!«26

Und im Geburtstagsbrief für Alexander Rüstow bekennt er 1955, es sei ihm ein »Bedürfnis […], mich ein wenig um zerdehnte, wenn nicht zerrissene Kontinuitäten zu kümmern«. Dies sei »gerade auch die Aufgabe unserer Generation«. Ohne Ängste gehe es darum, »verschüttete oder bedrohte Werte vor dem Schlagwortverschleiß zu retten«.27 Dem vor allem dienen auch die zahlreichen historischen Analogien in seinen Reden. Eine speziell auf das Biographische zielende systematische Darlegung findet sich in der von Heuss verfassten Einleitung zur Neuausgabe der »Großen Deutschen« von 1956. In Auseinandersetzung mit Carl Jacob Burckhardt und mit Seitenhieb auf den Persönlichkeitskult im real existierenden Sozialismus geht Heuss der Frage nach, was historische »Größe« v. a. auch angesichts der historischen Bedingtheit solchen Urteils ausmache. Maßstab ist für ihn moralische Leidenschaft, wie er sie z. B. am Freiherrn vom Stein ausmacht,28 und die »Lebenserhöhung des einzelnen Menschen«.29 Bemerkenswert ist hier, dass er in einem Punkt Burckhardt in dessen ästhetisch, man könnte auch sagen aristotelisch begründeten Misstrauen korrigiert: Leistungen in Naturwissenschaft 25 In einem Brief an den Bundesfinanzminister vom 27. 11. 1953 schreibt Heuss, die Kirchen seien »in eine höchst eigentümliche volkspolitische (nicht staatliche!) Funktion und Verantwortung eingerückt« – eine frühe Umschreibung dessen, was heute »Zivilgesellschaft« genannt wird. Der Brief wird zitiert bei Karoline Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften im geteilten Deutschland. Am Beispiel der Landeskirchen Württemberg und Thüringen. Göttingen 2006, S. 307. – Freilich hat die in der Tat sehr eigene Sprache Heuss’ auch auf Zeitgenossen abschreckende Wirkungen gezeitigt und den Spott etwa Dolf Sternbergers hervorgerufen. Vgl. Radkau (Anm. 2), S. 313 f.; Merseburger (Anm. 2), S. 582. 26 Theodor Heuss: Edwin Redslob, in: Würdigungen (Anm. 3), S. 308 – 312 (312). 27 Theodor Heuss: Alexander Rüstow, in: Würdigungen (Anm. 3), S. 313 – 317 (316). 28 Theodor Heuss: Über Maßstäbe geschichtlicher Würdigung, in: Hermann Heimpel / Theodor Heuss / Benno Reifenberg (Hg.): Die großen Deutschen. Berlin 1956 (Neudruck Gütersloh 1978), S. 9 – 17. 29 Theodor Heuss: Hans Böckler, in: Würdigungen (Anm. 3), S. 222 – 226 (225).

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und Technik wurden von jenem ob ihrer Nähe zur Ökonomie und Utilität vom Urteil historischer Größe ausgenommen; sie hätten »es eben nicht mit dem Weltganzen zu tun«. Sicher könne man hier – so Heuss in einer Zeit, der der Hirsch-Index noch fremd war – nicht etwa die Zahl der Patente als Maßstab gelten lassen. »Doch gibt es in diesem Bereich, wo die individuelle Spontaneität seltener ist als der Ausbau vorangegangener Forschung (die ja immer nur neue Rätsel stellt), Erscheinungen, auf die um ihrer Persönlichkeit wie um ihrer weiten Wirkung willen der Begriff der Größe gerade hinwandert: Liebig, Werner Siemens, Abbe, Röntgen.« Die beispielhaft Genannten »haben das Weltbild mit gewandelt und, indem sie das taten, ihre ›Seelengröße‹ (Burckhardts Begriff, K.D. / F.W.) behauptet«. Neben Röntgens Entdeckung hebt Heuss »Ernst Abbes wunderbares Bemühen [hervor], die physikalischen Erkenntnisse und technischen Geschicklichkeiten in ein System sozialer Gerechtigkeit und kulturpolitischer Verantwortung einzugliedern«. Damit sei »das Maßstäbliche geweitet und zugleich begrenzt«.30 Hier wie in einer Reihe technisch-naturwissenschaftlichen Themen gewidmeten Reden sucht Heuss eine weit verbreitete Fehldeutung und -bewertung »der Technik als Geschichtsfaktor«31 zu korrigieren. »[D]er Brückenschlag von der traditionellen Gebildetenkultur zu dieser neuen Welt der Technik wird zu einem lebenslangen Leitmotiv der Heuss-Welt, und dies mit steigender Tendenz.«32 Dieses Leitmotiv wird auch in dem Bild erkennbar, das Heuss von Ernst Abbe gezeichnet hat.

3.

Das Bild Ernst Abbes in Heuss’scher Überlieferung

Das Abbe-Bild von Heuss gewinnt Kontur vor dem Hintergrund seines eben skizzierten Bemühens einer Rekonstruktion nicht zerrissener Kontinuitäten. Heuss porträtiert Abbe als Mitglied der sozialliberalen Denktradition und des Nauman-Kreises, denen er selbst zugehört. Nach Hertfelder lässt sich der »spezifisch intellektuelle Habitus des Naumann-Kreises« durch drei Merkmale charakterisieren, die sich im Abbe-Bild von Heuss wiederfinden: »die Orientierung am kulturprotestantischen Leitwert der Autonomie, die diskursive Vergewisserung der politischen und weltanschaulichen Grundlagen des sozialen Liberalismus und schließlich die von Naumann dabei vielfach beanspruchte wissenschaftliche Schützenhilfe.«33 30 31 32 33

Heuss: Über Maßstäbe (Anm. 28), S. 15. Theodor Heuss: Nikolaus August Otto, in: Würdigungen (Anm. 3), S. 140 – 147 (140). Radkau (Anm. 2), S. 24. Hertfelder, Symbolisches Kapital (Anm. 13), S. 96.

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Den konsistentesten biographischen Abriss bietet neben dem Artikel in der Frankfurter Zeitung (FZ) der Eintrag in die Neue Deutsche Biographie (NDB), der auch wegen der Angaben der von Heuss verwendeten Literatur wertvoll ist. Als prägend hebt Heuss die Herkunft des hochbegabten Ernst Abbe aus einfachsten Eisenacher Verhältnissen und die daraus resultierende »strengste Sparsamkeit« beim Studium in Jena und Göttingen hervor. In der FZ zitiert er eine der wenigen persönlichen Reminiszenzen Abbes an die Arbeitswirklichkeit seines Vaters anlässlich eines Vortrages über die Verkürzung der Arbeitszeit.34 Zusammen mit einem vom Vater übernommenen »humanitär gefärbte[n] Achtundvierzigertum«, das er »verhalten bewahrt«35 habe, sieht er hier den »Schlüssel zu den Kräften, die den Mann zutiefst beherrschten« und seiner »moralische[n] Energie«.36 Dies äußerte sich u. a. in einer Abbe etwa von Bosch gerade unterscheidenden »kunstvoll puritanische[n] Begrenzung des Gewinnstrebens«37 und lasse ihn, der aus der Kirche ausgetreten war, als »eminent protestantischen Typus« erscheinen (FZ). Diese Skizze der »weltanschaulichen Grundlagen« eines sozialen Liberalismus christlicher Prägung verbindet sich in Heuss’ Abbe-Portrait mit einer Betonung der Orientierung am Prinzip der Autonomie: Abbes ethischer Liberalismus sei dem »Respekt vor der freien Selbstverantwortung des Menschen, gleichviel welchen Glaubens, welcher Partei, welcher Herkunft« als »innerste[m] Antrieb seines sozialen Tuns« entsprungen; »er will den Menschen helfen, Mensch zu sein.«38 Er habe sich selbst nicht geschont, wird vorgestellt als »erst und schwerlebig«, ein Mann von »naiver Selbstsucht«, von »gezügelter Denkenergie« und »tapfere[r] Haltung, auch in Mißerfolgen«.39 Auch das dritte von Hertfelder beschriebene Moment der Beanspruchung »wissenschaftlicher Schützenhilfe« prägt Heuss’ Darstellung. In seinem ganzen Denken habe Abbe den »ziemlich zuversichtliche[n] Positivismus seiner Generation«40 geteilt; er sei ein »Mann eines exakten Rationalismus« (FZ), von praktischer Erfahrung, nicht dogmatischer Vertretung gewesen.41 Seine wissenschaftlichen Leistungen werden referiert, wobei Heuss mehrfach das genaue Studium von Fehlerquellen, dem schon die Habilitationsschrift »Über die Gesetzmäßigkeit in der Verteilung der Fehler bei Beobachtungsreihen« gewidmet 34 Ernst Abbe: Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Verkürzung des industriellen Arbeitstages, in: Sozialpolitische Schriften von Ernst Abbe. 2. Aufl. Jena 1921, S. 203 – 249 (241). 35 Heuss, Professor (Anm. 17); Heuss, Dohrn (Anm. 9), S. 66. 36 Heuss, Professor (Anm. 17); Heuss, Dohrn (Anm. 9), S. 66. 37 Heuss, Bosch (Anm. 3), S. 319. 38 Heuss, Würdigungen (Anm. 3), S. 158 f. 39 Heuss, Dohrn (Anm. 9), S. 255; 67. 40 Heuss, Bosch (Anm. 3), S. 371. 41 Heuss, Würdigungen (Anm. 3).

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war42, als Abbes methodischen Weg zu neuen Erkenntnissen hervorhebt. Stärker noch wird Abbe, der Autor des Zeiss Statuts als weitsichtiger Unternehmensverfassung, als Pionier bei der Einführung des Acht-Stunden-Tages, als Genius in der Verbindung von Forschung und technischem Geschick sowie als Förderer von Volksbildung und Universität in Jena gewürdigt. Er »hatte seinen inneren Beruf in der freien Verbindung der wissenschaftlichen mit der technisch-fabrikatorischen und organisatorischen Arbeit gefunden« (FZ). Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist die Schilderung der lebenslangen Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Abbe und Dohrn in der DohrnBiographie. Im Briefwechsel zwischen Neapel und Jena und in den persönlichen Begegnungen, seit beide sich in den 1860er Jahren als Dozenten in Stoys »Jenaer Lehranstalt« kennen lernten, ersteht das Bild einer höchst modernen pragmatisch-kooperativen Interdisziplinarität. Abbe lieferte oder stiftete Dohrn die für seine Arbeit notwendigen optischen Geräte, vor allem Mikroskope, und zwar auf die ihm von Dohrn mitgeteilten Anforderungen hin abgestimmt: »[Abbe] empfing von dort Anregung, die Kontrolle der Praxis, das kritische Mitdenken der Erfahrung. Die Station wurde auch die Stelle, wo fremde Forscher zum ersten Mal den Zeißschen Erzeugnissen begegneten und sie erwarben, um dann in ihrer Heimat den Ruhm der deutschen Arbeitsüberlegenheit zu künden. Fast wirkte die Station wie eine Art von Export-Musterlager, und Dohrn freut sich, wenn er Abbe schreiben kann, Balfour etwa habe diesen Apparat erworben und wünsche noch jenen.«

Und so überrascht es nicht, dass der für Mikroskopie zuständige Mitarbeiter Dohrns, P. Mayer, »das für lange Zeit führende Lehrbuch über die mikroskopische Technik geschrieben« habe.43

4.

Schluss

Angesichts des Fehlens einer modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Biographie Ernst Abbes44 verdienen die Arbeiten von Theodor Heuss zu 42 Bauersfeld, Abbe (Anm. 18), S. 563. 43 Zu Abbes Einfluss auf die Entwicklung der Mikroskopie s. Dieter Gerlach: Ernst Abbe und die Weiterentwicklung der Mikroskopoptik, in: ders. (Hg.): Geschichte der Mikroskopie. Frankfurt a. M. 2009, S. 399 – 462. 44 Einen detaillierten Überblick über das Schrifttum zu Abbe bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gibt Wolfgang Wimmer : Abbe und Jena: Zur Rezeption Abbes zwischen 1905 und 1945, in: Jürgen John / Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena: ein nationaler Erinnerungsort? Köln u. a. 2007, S. 471 – 481. Aus den frühen Biographien ragt heraus: Felix Auerbach: Ernst Abbe. Sein Leben, sein Wirken, seine Persönlichkeit. Nach den Quellen und aus eigener Erfahrung geschildert von Felix Auerbach. Leipzig 1918 (Reprint 2011). Unter den nach 1945 erschienen Werken sind zu nennen: Hans Ebeling: Ernst Abbe: Praktischer Gelehrter und Sozialist. Berlin / Hamburg 1948; Harald Volkmann: Carl Zeiss und Ernst Abbe – ihr Leben und ihr

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Abbe und die Zeugnisse seiner Begegnungen mit dessen Werk in zweifacher Hinsicht Interesse: Erstens als Quelle vor allem für die Eindrücke, die Abbes Werk bei einem zeitnahen und aufgrund zumindest teilweise gemeinsamer geistiger Herkunft vertrauten Beobachter hinterlassen hat, und zweitens als empathischer Porträtist des »merkwürdigen und bedeutenden Menschentums« (NDB) Ernst Abbes, mit dem persönlich »warm« zu werden über seine schriftlichen Hinterlassenschaft sicher schwer fällt. Überdies wird selbst bei flüchtiger Durchsicht der Heuss’schen Würdigungen Ernst Abbes deutlich, dass sich nicht nur, aber auch aus der Perspektive des JenaWürttembergischen Mikrokosmos eine nähere Beschäftigung mit den Schriften, Reden und Briefen von Theodor Heuss lohnt: Zweimal geriet die Universität Jena in sein Blickfeld, einmal durch die von Ernst Haeckel, dem »damalige[n] Fürst [en] im Reich der Subalternität« entfachte Hodler-Affäre 1914, die dem Gedächtnis des Hodler-Fans Theodor Heus verhaftet blieb45, und zum andern 1955, als er die Reise Thomas Manns nach Weimar zum Schiller-Jubiläum unterstützte,46 bei der diesem die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität verliehen wurde. Über Lulu von Strauss und Thorney hatte Heuss seit 1916 persönliche Beziehungen nach Jena, das er mehrfach besuchte. Sein präsidialer Besuch in Oberkochen 1954 ist wegen des gedanklichen Brückenschlags zwischen dem neuen Zeiss-Werk und der Jenaer Herkunft der Erinnerung wert, weckt aber auch aufgrund der Bemerkungen in seiner Ansprache Interesse für das Agieren des Bundespräsidenten in den betriebsverfassungsrechtlichen und in den deutschlandpolitischen Debatten der fünfziger Jahre.

Werk. München u. a. 1966; Joachim Wittig: Ernst Abbe, Leipzig 1989; Rüdiger Stolz (Hg.): Carl Zeiss und Ernst Abbe: Leben, Wirken und Bedeutung. Wissenschaftshistorische Abhandlung. Jena 1994; Bernd Dörband / Henriette Müller: Ernst Abbe – das unbekannte Genie: Spurensuche in Jena, Eisenach, Göttingen und Frankfurt am Main. Jena 2005; Kerstin Gerth, unter Mitw. von Wolfgang Wimmer : Ernst Abbe: 1840 – 1905. Wissenschaftler, Unternehmer, Sozialreformer, Jena u. a. 2005. 45 Heuss, Würdigungen (Anm. 3), S. 105. 46 Radkau (Anm. 2), S. 415. – Zur politischen Instrumentalisierung der Schiller-Jubiläen Ost und West 1955 s. Stefan Matuschek: Das Ende der Nationalfigur. Schiller-Feiern der fünfziger Jahre in Ost und West, in: Klaus Manger / Gottfried Willems (Hg.): Schiller im Gespräch der Wissenschaften. Heidelberg 2005, S. 9 – 36 (zu Heuss S. 16 f.). Die Unterstützung der Teilnahme Manns an der Weimarer Schiller-Feier wird bei Matuschek nicht erwähnt. – Vgl. auch Marcus Müggenburg / Rita Seifert: Die »Deutsche Schiller-Ehrung« in Jena und Weimar 1955 – Die Kontroverse um die Ehrenpromotion von Thomas Mann, in: Joachim Bauer / Klaus Dicke / Stefan Matuschek (Hg.): Patron Schiller. Friedrich Schiller und die Universität Jena. Jena 2009, S. 112 – 124.

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Norbert Frei

Fritz Bauer oder: Wann wird ein Held zum Helden?

»Vorbilder für Deutsche« hieß das neue Lesebuch, mit dem Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher 1974 an die Öffentlichkeit traten. Die beiden Jungstars der traditionsreichen Münchner Zeitungswissenschaft, die sich gerade zur Kommunikationswissenschaft umerfand, ließen ihren »Versäumten Lektionen« von 1965 damit ein biographisches Brevier zur deutschen Geschichte folgen, das sich als dezidiert vernunftgeleitete, sozialdemokratische Antwort auf die »antiautoritären« Herausforderungen der damals noch nicht auf den Begriff gebrachten Achtundsechziger verstand: eine moderne, mit ihrem anachronistischen Titel spielende »Korrektur einer Heldengalerie«, die zu diesem Behufe 21 Persönlichkeiten präsentierte, die im bundesrepublikanischen Kanon zwar nicht als völlig unbekannt, aber auch nicht gerade als populär gelten konnten. Rosa Luxemburg war nicht nur die einzige Frau in dieser Auswahl, sie war fraglos auch die politisch umstrittenste der Porträtierten, unter denen sich neben Intellektuellen (wie Theodor Geiger, Max Weber, Karl R. Popper), Politikern (Julius Leber, Waldemar von Knoeringen, Walter Rathenau) und Publizisten (Ludwig Marcuse, Carl von Ossietzky, Reinhold Scheider) auch ein paar Juristen befanden. Einer von ihnen war der 1968 verstorbene Fritz Bauer. Seit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965), der den hessischen Generalstaatsanwalt weltweit in die Schlagzeilen gebracht hatte, war fast ein Jahrzehnt vergangen, und wie es schien, war Bauer inzwischen ziemlich vergessen. Sein jüngerer juristischer Kollege und Freund Rudolf Wassermann, damals Oberlandesgerichtspräsident in Braunschweig, versuchte erst gar nicht, etwas anderes zu suggerieren: »Ob ihm Nachruhm beschieden sein wird, ist nicht sicher. Schon der Große Brockhaus, die Ruhmeshalle unseres Bildungsbürgertums, erwähnt ihn nicht. Die Justizgeschichte, in der er so manches Kapitel geschrieben hat, ist kein Fach, dem Beachtung gewiss ist, und gerade auf diesem Sektor ist auch das Gedächtnis sehr kurzlebig. Unsere Strafrechtswissenschaft, die für Außenseiter und die Anstöße, die sie von diesen erhält, nur wenig übrig hat, wird ihn, wie mir scheint, wohl nur als Merkwürdigkeit

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gleichsam in einer Fußnote würdigen, sofern sie ihn nicht etwa als Negativsymbol für ihre weitere Entwicklung benötigt.«1 Das alles ist nun vierzig Jahre her, und weit mehr noch als die jungen Münchner Aufklärer es im Sinne gehabt haben konnten, ist aus Fritz Bauer, dem Vergessenen, Fritz Bauer, das Vorbild, geworden. Vermutlich fände das von Rudolf Wassermann noch so skeptisch apostrophierte Bildungsbürgertum in seiner heutigen, vom untergegangenen Großen Brockhaus auf Wikipedia umtrainierten Ausprägung nicht einmal mehr etwas dabei, Fritz Bauer eine Kultfigur zu nennen. Im Jahr 2013 jedenfalls, zu seinem 110. Geburtstag beziehungsweise seinem 45. Todestag – die beide Daten fielen mit dem 50. Jahrestag des Prozessbeginns in Frankfurt am Main mehr oder weniger zusammen –, war Fritz Bauer medial präsent wie kaum zu seinen Lebzeiten. Sowohl die ARD als auch das ZDF informierten über Person und Werk in Dokumentarfilmen2, die überregionale Presse berichtete ausführlich, und eine neue, journalistisch schlanke Biographie erfuhr viel Aufmerksamkeit3. Die Stadt Frankfurt am Main begründete im Römer, wo der Auschwitz-Prozess eröffnet worden war, eine Vortragsreihe unter dem Rubrum »Fritz Bauer Lectures« und brachte eine Gedenktafel an. Ebenfalls an seinem letzten Wirkungsort würdigte im Frühjahr 2014 erstmals eine ganz auf die Person Fritz Bauer konzentrierte Ausstellung samt umfangreichem Begleitprogramm den »bedeutendsten und juristisch einflussreichsten jüdischen Remigranten im Nachkriegsdeutschland«4. Aber auch schon vor den runden Jahrestagen war Bauer in jüngerer Zeit verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit geraten. Irmtrud Wojak, die vormalige stellvertretende Direktorin des bereits 1995 nach Fritz Bauer benannten Frankfurter »Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte und Wirkung des Holocaust«, fasste ihre langjährigen biographischen Forschungen über Bauer in einer umfangreichen Habilitationsschrift zusammen, die 2009 als Buch erschien5. Im Jahr darauf machte ein Dokumentarfilm6 mit der haltlosen Insi1 Rudolf Wassermann: Fritz Bauer (1903 – 1968), in: Peter Glotz/Wolfgang R. Langenbucher (Hg.), Vorbilder für Deutsche. Korrektur einer Heldengalerie, München 1974, S. 296 – 309, hier 308. 2 Rolf Bickel/Dietrich Wagner : Auschwitz vor Gericht. Dokumentarfilm, Erstausstrahlung ARD 9. 12. 2013; Peter Hartl/Andrzej Klamt: Mörder unter uns. Fritz Bauers Kampf. Dokumentarfilm, Erstausstrahlung ZDF 26. 1. 2014. 3 Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München 2013. 4 Vgl. den Katalog zur Ausstellung: Fritz Bauer, der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht, Hg. von Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross, Frankfurt am Main/New York 2014, S. 7. 5 Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903 – 1968. Eine Biographie, München 2009; vgl. auch Fritz Bauer : Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, Hg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main/New York 1998. 6 Ilona Ziok: Fritz Bauer – Tod auf Raten. Dokumentarfilm, Deutschland 2010.

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nuation Furore, Bauer sei möglicherweise eines unnatürlichen Todes gestorben7. 2012 erhielt eine Straße in einem Frankfurter Neubaugebiet Fritz Bauers Namen, und auch an seinen beiden früheren beruflichen Stationen gab es demonstrative Gesten der öffentlichen Anerkennung: In seiner Heimatstadt Stuttgart, wo der junge Sozialdemokrat zwischen 1928 und 1933 als Gerichtsassessor beziehungsweise als Richter tätig gewesen war, wurde der Große Veranstaltungssaal des Amtsgerichts nach ihm benannt, und in Braunschweig, wo der damals gerade erst aus dem skandinavischen Exil Zurückgekehrte zwischen 1949 und 1956 als Landgerichtsdirektor beziehungsweise als Generalstaatsanwalt wirkte, ziert sein Name seit Herbst 2012 den Platz vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft; ergänzend dazu fand im Landgericht eine Ausstellung über den dort von Bauer angestrengten sogenannten Remer-Prozess8 statt. Die neuerbaute Justizvollzugsanstalt im hessischen Darmstadt trägt bereits seit ihrer Eröffnung 1969 den Namen »Fritz-Bauer-Haus«. Hinter den damit längst nicht vollständig aufgeführten Ehrungen und Erinnerungen stehen inzwischen mehr denn je nicht nur politische Institutionen und staatliche Einrichtungen, sondern Aktivisten jener vielbeschworenen Zivilgesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Namen und die Leistungen Fritz Bauers im öffentlichen Bewusstsein zu halten9. Dieses noch relativ neue Kommemorationsbedürfnis will selbstredend vor dem Hintergrund einer bundesrepublikanischen Erinnerungskultur verstanden werden, wie sie sich seit den späten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an der sich damals geradezu schlagartig vertiefenden gesellschaftlichen Wahrnehmung des Judenmords entfaltet hat. In der Rückschau fällt allerdings auf – und die Geschichte des Gedenkens an Fritz Bauer ist dafür ein deutliches Beispiel –, dass nach der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie und dem von ihr ausgelösten »Holocaust-Schock« (1979), pointiert gesagt, nicht etwa die Hinwendung zu den Opfern und den Überlebenden, sondern eine Fokussierung auf die Täter folgte. Das Hauptaugenmerk der sich international ausweitenden Holocaust-Historiographie der späten achtziger und neunziger Jahre lag, zumal in Deutschland, bekanntlich auf der »Täterforschung«10. In diesem Kontext wiederum erfuhr die lange vernachlässigte zeit7 Vgl. Dieter Schenk: Die Todesumstände von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903 – 1968), in: Einsichten 08 (Herbst 2012), S. 38 – 43. 8 Dazu meine Studie: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996 (Neuausgabe 2012), S. 326 – 360; Fritz Bauers Plädoyer im Remer-Prozess abgedruckt in: ders., Humanität (wie Anm. 5), S. 169 – 179. 9 Verwiesen sei hier nur auf das Kalendarium des »Fritz-Bauer-Freundeskreises«, den Udo Dittmann (Akademie Biggesee) organisiert. 10 Vgl. Frank Bajohr : Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, URL: http://docupedia.de/zg/ [18. 6. 2013].

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geschichtliche Erforschung der Konzentrations- und Vernichtungslager eine bis heute anhaltende Aktualisierung, während das historiographische Interesse an den von der nationalsozialistischen Politik der »Endlösung« betroffenen Individuen deutlich jüngeren Datums ist11. Begreift man Fritz Bauer nicht nur als den vielleicht Entschlossensten unter den wenigen bereits in den fünfziger Jahren hervortretenden Promotoren westdeutscher »Vergangenheitsbewältigung«, sondern auch als einen jener deutschen Juden, die Dank ihrer vergleichsweise frühen (und deshalb typischerweise stärker politisch als »rassisch« motivierten) Emigration überlebten, so wird erklärlich, warum seine breite gesellschaftliche Anerkennung bis in die neunziger Jahre auf sich warten ließ. Dann nämlich verweist Bauers postume Wirkungsgeschichte auf den gelegentlich zwar etwas deterministisch formulierten12, aber prinzipiell gar nicht zu bestreitenden Zusammenhang von Historiographie, Zeitgenossenschaft und Generationalität13. Und es ist dieser Zusammenhang, der Bauers Biographie gewissermaßen als konkrete Antwort auf die abstrakte Frage erscheinen lässt, wann ein Held zum Helden wird. Mit dem Geburtsjahrgang 1903 gehört Fritz Bauer exakt zur ersten von drei politischen Generationen im 20. Jahrhundert14. Als durch den Weltkrieg geprägte, aber nicht mehr zum Einsatz gekommene »Kriegsjugendgeneration« beziehungsweise als »Generation des Unbedingten« war diese inzwischen eingehend Thema der historischen Forschung und muss in ihrer verbreiteten, frühen ideologischen Empfänglichkeit für den Nationalsozialismus und ihrem anschließenden, geradezu kollektiven Engagement im »Dritten Reich« hier nicht mehr näher beschrieben werden15. Dies umso weniger, als ihre Relevanz in unserem Zusammenhang sich erst nach 1945 respektive nach dem Ende des säuberungspolitischen Transitoriums der unmittelbaren Besatzungsherrschaft ergibt: nämlich in dem Moment, als diese vormaligen Funktionseliten des »Führerstaates« den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau im Westen (und

11 Maßstäbe dafür setzte Saul Friedländer : Das Dritte Reich und die Juden. Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939, Bd. 2: Die Jahre der Vernichtung 1939 – 1945, München 1998, 2006; vgl. auch ders., Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007. 12 So die Tendenz der vielbeachteten Studie von Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. 13 Zum Konzept der Generationalität vgl. Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 8(2005), S. 3 – 9. 14 Ulrich Herbert: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S 95 – 115. 15 Vgl. dazu vor allem die aufeinanderfolgenden Studien von Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903 – 1989, Bonn 1996, und Michael Wildt: Generation des Unbedingten, Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

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in geringerem Maße auch im Osten) Deutschlands in die Hand bekamen16. Von diesem Moment an stand die übergroße, politisch mehr oder weniger kompromittierte Mehrheit dieser Alterskohorte einer ausgesprochenen Minderheit von Generationsgenossen gegenüber, die aus Exil, Widerstand, »innerer Emigration« oder auch nur aus dem gesellschaftlichen Abseits zurückgekehrt waren – und die allein schon durch ihre Präsenz den allgegenwärtigen Diskurs über die vermeintliche Unausweichlichkeit vorangegangener Mitläufer- und Mittäterschaft dementierten. In diese Situation hinein nahm auch der Remigrant Fritz Bauer Ende der vierziger Jahre erneut seine Tätigkeit als Justizjurist auf: im Rahmen einer bundesrepublikanischen Justiz also, die wie kein anderes staatliches oder gesellschaftliches Subsystem von einer nahezu vollständig wiederhergestellten personellen Kontinuität gekennzeichnet war. Aus dieser eklatanten Außenseiterposition heraus erklärte sich die Aufmerksamkeit, die der bereits erwähnte, von Bauer 1952 in Braunschweig angestrengte Prozess gegen die Verunglimpfung der Verschwörer des 20. Juli 1944 jedenfalls in der reedukatorisch gesonnenen vormaligen Lizenzpresse fand. Und ein Jahrzehnt später erklärte sich daraus die – begrenzte – Unterstützung, die seine Vorbereitung und Durchsetzung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses in einer zu Teilen mittlerweile (selbst-)kritischer werdenden Öffentlichkeit erfuhr. »Gerichtstag halten über uns selbst, über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte«, lautete die Formulierung, mit der Fritz Bauer die Aufgabe einer ganz und gar aufklärerisch gemeinten »Vergangenheitsbewältigung« damals umschrieb. Der Satz ist mittlerweile fast schon ein geflügeltes Wort17, doch kaum je ist er auf das »Wir« hin befragt worden, welches Bauer 1962 geraten schien. Offenkundig war das Kollektivpronomen, die eigene Lebensgeschichte geradezu verleugnend, in eine gesellschaftliche Konstellation hinein gesprochen, in der die vormaligen NS-Funktionseliten unübersehbar das Sagen hatten: die Generation der Kriegsjugend des Ersten Weltkriegs also, der Bauer zwar angehörte, deren politische Schuld er aber nicht zu teilen hatte. Daran zu erinnern oder gar auf diesen Unterschied zu pochen – das schien sich, kaum zwei Jahrzehnte nach Ende der Hitler-Zeit, nicht zu empfehlen. Jedenfalls nicht für einen humanistischen Erzieher, der etwas bewirken wollte.

16 Vgl. dazu mein Überblick: Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz, in: Norbert Frei (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main/New York 2001, S. 303 – 335. 17 Wohl auch, weil er inzwischen als Buchtitel diente: Irmtrud Wojak (Hg): »Gerichtstag halten über uns selbst…«. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Frankfurt am Main/New York 2001.

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Tatsächlich setzte Fritz Bauer in den sechziger Jahren auf die jungen Deutschen. Erhalten gebliebene Fernsehaufnahmen18 zeigen ihn im emphatischen Gespräch mit den inzwischen herangewachsenen Kriegs- und Nachkriegskindern, die ihm zwar eben noch (wie manch anderem Intellektuellen) als zu brav erschienen, die aber doch schon im Begriff standen, sich als die dritte politische Generation in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuschreiben. Als Bauer, pessimistisch und erschöpft, am 1. Juli 1968 starb, war die Außerparlamentarische Opposition an ihrem Kulminationspunkt angelangt. Ironischerweise war dies zugleich der Moment, in dem das kritisch-diskursive Interesse an einer Auseinandersetzung mit der »unbewältigten Vergangenheit«, das den studentischen Protest in seinen Anfängen in erheblichem Maße gespeist hatte, zugunsten abstrakter Faschismustheorien und einer universalisierten Kapitalismuskritik zurücktrat19. Faktisch waren es denn auch nicht die Achtundsechziger (sie waren zu Bauers Lebzeiten einfach noch nicht alt genug), sondern die aufklärerisch Gesonnenen aus der Generation der Flakhelfer und jungen Frontsoldaten – mithin die zweite politische Generation im 20. Jahrhundert –, auf deren professionelle und politische Unterstützung der hessische Generalstaatsanwalt zählen musste und zählen konnte. An der Vorbereitung und Durchführung des Auschwitz-Prozesses ist dies gut zu studieren: Sowohl auf Seiten der zeitgeschichtlichen Gutachter, die Bauer mit der ihm so wichtigen Aufgabe einer Kontextualisierung des Tatgeschehens beauftragte, als auch unter seinen für den Prozess abgestellten Staatsanwälten dominierte die Generation der einstigen Hitlerjungen20. Das »Pathos der Nüchternheit«, mit dem diese »skeptische Generation« – in der Geschichtswissenschaft wie in der Justiz – an ihre Aufgabe ging, vertrug sich freilich nur bedingt mit dem Temperament des Aufklärers Bauer. So mag es auch nicht verwundern, wenn Oberstaatsanwalt a.D. Johannes Warlo, Jahrgang 1927 und damals einer von Bauers jungen Mitarbeitern, in einem Interview aus Anlass der Frankfurter Ausstellung eine in den letzten Jahren oft zitierte Bemerkung relativierte: »Es ist ein Ausspruch immer wieder überliefert worden: Bauer habe gesagt, wenn er sein Dienstzimmer verlasse, dann betrete er feindliches Ausland. Aber das stimmt nicht. Ich weiß nicht, woher das kommt. Er hat das wohl auch nicht so ernst gemeint.«21 Ähnliches 18 Vgl. Anm. 2. 19 Dazu meine Darstellung: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München 2008, bes. S. 77 – 88. 20 Eine Ausnahme auf Seiten der Historiker war Helmut Krausnick, Jahrgang 1905, seit 1932 Mitglied der NSDAP und seit 1959 Generalsekretär des Instituts für Zeitgeschichte; vgl. Wolfgang Benz (Hg.): Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1980, S. 10 f. 21 Aufschlussreich dazu jetzt das Zeitzeugengespräch mit Bauers ehemaligem Mitarbeiter

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mag für den ebenfalls wiederholt kolportierten Satz Fritz Bauers gelten: »In der Justiz lebe ich wie im Exil.«22 Wie ernst Fritz Bauer solche Sentenzen waren, wird nicht mehr völlig zu klären sein; aber vieles spricht dafür, dass sie auch momentane Stimmungen ausdrückten und deshalb der Kontextualisierung bedürfen. Gegen große Teile der eigenen Generation gemünzt und von diesen auch so verstanden, waren sie für die politisch wachen Jüngeren damals attraktiv – und werden heute mehr denn je honoriert: Weil sie besser als Bauers mitunter komplizierte und nicht immer konsistente juristische Rhetorik geeignet sind, einen couragierten Staatsanwalt zum einsamen Helden zu stilisieren, mit dessen Kampf für die Ahndung von NS-Verbrechen man sich identifizieren kann. So ist Fritz Bauer zwar nicht, wie die sozialdemokratischen Modernisierer aus München hofften, in den unruhigen Siebzigern zum Vorbild für die Deutschen geworden, wohl aber in der neuen Generationenkonstellation der Neunziger : als die Funktionseliten der NS-Zeit gestorben, die Flakhelfer in den Ruhestand gegangen und die Achtundsechziger auf dem Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit angekommen waren. Es war der Moment, in dem eine heute weithin akzeptierte »Erinnerungskultur« an die Stelle des gleichsam subjektlos gewordenen Ringens um eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit trat.

Oberstaatsanwalt a.D. Johannes Warlo: »Er war misstrauisch, aus gutem Grund«, in: Fritz Bauer, der Staatsanwalt (wie Anm. 4). 22 Dazu jetzt skeptisch Herta Däubler-Gmelin: Fritz Bauer – ein herausragender Jurist und Sozialdemokrat, in: Fritz Bauer, der Staatsanwalt (wie Anm. 4), S. 15 – 28, hier S. 17.

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Vormärz und Nation

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Georg Schmidt

»Deutscher Geist« oder »Ereignis Weimar-Jena«? Geschichtswissenschaftliche und mythische Erzählungen

Der greise Friedrich Meinecke wollte 1946 den »Parasiten des Hitlertums« aus dem deutschen Blut vertreiben und gleichzeitig den »deutschen Geist« retten. Die Lage schien ihm wenig ermutigend: Den deutschen Nationalstaat gab es nicht mehr, deutsches Land war verloren und Fremdherrschaft drohte als Schicksal für lange Zeit. In seinem Büchlein »Die deutsche Katastrophe« beließ es der angesehene Historiker, der sich den Nazis nicht angebiedert hatte, nicht bei der Ursachenanalyse, sondern wollte Orientierung bieten für eine bessere Zukunft: »Das Werk der Bismarckzeit ist uns durch eigenes Verschulden zerschlagen worden, und über seine Ruinen hinüber müssen wir Pfade zur Goethezeit zurücksuchen.« Es bedürfe keiner »radikalen Umschulung«, wohl aber der »Verinnerlichung unseres Daseins« durch »Religion« und die »Kultur des Deutschen Geistes«, denn dieser habe noch »seine besondere und unersetzliche Mission innerhalb der abendländischen Gemeinschaft zu erfüllen.« Überall in Deutschland sollten »Goethegemeinden« entstehen, um »die lebendigsten Zeugnisse des großen deutschen Geistes […] in die Herzen zu tragen«. In der »Gedankendichtung von der Art der Goetheschen und Schillerschen«, das »Deutscheste vom Deutschen«, könne man »in allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas Unzerstörbares, einen deutschen character indelebilis spüren.«1 Meinecke wollte dort wieder anknüpfen, wo seines Erachtens die geistigen Wurzeln des deutschen Nationalstaates lagen. Um den Deutschen den Weg zurück in die Völkergemeinschaft zu bahnen, kam es bei der nun von Meinecke anvisierten Wiederholung der Nationalstaatswerdung darauf an, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und machtpolitische Verirrungen zu meiden. Die als vorbildhaft gepriesene Arbeitsteilung zwischen dem innerlich-privaten Kern 1 Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Wiesbaden 6 1965 (zuerst 1946), Zitate S. 141, 168, 176, 173 und 174 f. Ich danke Frau Dr. Stefanie Freyer und Herrn Dr. Andreas Klinger (beide Jena) für wertvolle Hinweise und kritische Kommentare, Herrn Marcus Stiebing (Jena) für seine Hilfe bei der Literaturrecherche.

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von Geist, Bildung sowie Hochkultur und der machtpolitischen Sphäre musste neu kodiert werden. Die Macht hatte versagt, nicht der Geist. Während das politische System demokratisch wurde, blieben die Dichter, Denker und Musiker das Pfund, mit dem auch international gewuchert werden konnte. Goethe und die Hochkultur sollten für die Deutschen bürgen, nachdem selbst Martin Luther an den Beginn der Entwicklung gerückt worden war, die angeblich zu Hitler geführt hatte.2 Das selbsternannte Volk der Dichter und Denker hatte sich der westlichen Zivilisation verweigert und war in die Barbarei zurückgefallen. Um die Katastrophe ohne Identitätsverlust zu überwinden, gab Meinecke die ohnehin nicht zu rettende Machtpolitik preis und führte den Topos »deutscher Geist« gegen die »Umerziehungspläne« der Alliierten ins Feld. Meinecke, der in der historistischen Tradition Leopold von Rankes stand, wollte nicht nur »verstehen«, sondern Handeln anleiten. Er hatte 1908 in seinem Buch »Weltbürgertum und Nationalstaat« den Bismarck’schen Nationalstaat aus dem kosmopolitisch-kulturnationalen Denken der Klassiker und aus dem preußisch-deutschen Willen zum Staat abgeleitet.3 Hier standen »Geist und Macht«, »Weimar und Berlin« nicht nebeneinander, sondern arbeiteten aufeinander bezogen dem Nationalstaat vor. Diese Metaerzählung des deutschen Weges zum Nationalstaat war 1945 zu Ende und wurde nun zum deutschen Sonderweg.4 Um dem vermeintlich unzerstörbaren deutschen Wesen Halt zu bieten und die nationale Einheit in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu fundieren, bedurfte es aus Meineckes Sicht einer neuen Erzählung, in deren Zentrum der deutsche Geist und seine europäische Mission stehen sollten. Meineckes Identitätsprojekt, »Weimar« gegen »Berlin« bzw. »Goethe« gegen »Hitler« auszuspielen, war ein publizistischer Erfolg. Der Platz der Klassiker, ja der Dichter, Denker und Künstler überhaupt, sollte auch weiterhin außerhalb der politischen Arena sein. Sie standen für »Tiefe«, »Bildung« und Hochkultur. Meinecke und seine Anhänger wollten es auf dem »langen Weg nach Westen«5 bei »Geist und Macht« bzw. bei der Trennung von »deutscher« Hochkultur und »fremder« Machtpolitik belassen. Die breite Öffentlichkeit interessierte sich ohnehin primär für materielle 2 Vgl. Peter F. Wiener : Martin Luther. Hitler’s spiritual ancestor. Foreword by Frank R. Zindler, 2nd American Ed., Cranford 1999; vgl. auch Dietrich Kuessner : Luther – Hitler. Ein Blick in die Schreckenskammern der Luther-Jubiläen 1933 bis 1946, verfügbar unter : http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu103/luthit.htm [21. 10. 2013]. 3 Vgl. Georg Schmidt: Friedrich Meineckes Kulturnation. Zum historischen Kontext nationaler Ideen in Weimar-Jena um 1800, in: Historische Zeitschrift 2007/284, S. 597 – 621. 4 Vgl. Hans-Werner Hahn: Vormärz und Revolution. Politik und Gesellschaft 1830 – 1848/49, in: Ders. / Helmut Berding (Hg.): Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49. Stuttgart 2010 (=Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 14), S. 654 f. 5 Vgl. Heinrich August Winkler : Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. München 2000.

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»Deutscher Geist« oder »Ereignis Weimar-Jena«?

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Dinge und machte die Demokratie zum Erfolg, weil sie Wohlstand brachte. Die nationale Identität eines geteilten Landes schien ein antiquarisches Problem, das eigentlich nur noch Künstler und Schriftsteller beschäftigte. Die Politiker begannen, die eigene Vergangenheit in Europa zu entsorgen. Die Geschichtswissenschaft fokussierte das »Nie wieder« und konzentrierte sich im Übrigen auf das »Verstehen-Wollen« einer fernen Vergangenheit, die mit der Gegenwart offensichtlich nichts mehr zu tun hatte. Die vielen »turns« haben diese im Grunde unpolitische Haltung weiter verstärkt. Der Wunsch, die Vergangenheit unabhängig, unparteiisch und »objektiv« – wenigstens im Sinn einer regulativen Idee – zu rekonstruieren, zu verstehen und zu erzählen, war übermächtig. Die alten Metaerzählungen, die teleologisch auf den Nationalstaat ausgerichtet waren, wurden nicht grundlegend erneuert, sondern lediglich mit Blick auf den deutschen Sonderweg modifiziert. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung orientiert sich weiter an einem Geschichtsbild, das auf 1945 zulief. Sie erklärt nicht die Gegenwart, sondern die Vorgegenwart als Folge der älteren Vergangenheit. Da jedoch auch die Geschichtswissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft neben den Geboten eines theoretisch reflektierten und methodisch kontrollierten Vorgehens einem gewissen Legitimierungszwang unterliegt, gab es hin und wieder Kritik und die Frage nach der Relevanz wurde in den 1970er Jahren lauter. Die damaligen Antworten gelten auch heute noch. Geschichte als Wissenschaft ist daher gut beraten, wenn sie etwa den hermeneutischen Zirkel, ihr wichtigstes Erkenntnisinstrument, offensiv als ihr Laboratorium vertritt und verständlich macht: Gefunden oder erkannt wird, wonach gesucht oder gefragt wurde. Die Quellen antworten nur auf präzise und sinnvolle Fragen, die darüber entscheiden, ob die Vergangenheit der Gegenwart etwas Relevantes und Orientierendes zu sagen hat oder ob sie schweigt bzw. lediglich immer neue Details ihrer prinzipiellen Andersartigkeit preisgibt. Meinecke ergriff jedenfalls 1946 die Chance, eine neue wissenschaftliche, also referenzgesicherte, methodologisch und theoretisch reflektierte Erzählung zu konstruieren. Sie verband Gegenwart und Vergangenheit auf eine Art und Weise, die allerdings bereits von vielen Zeitgenossen kritisiert wurde und heute als Mythos gilt. Meineckes »deutscher Geist« bot jedoch ein stimmiges und relevantes Bild der Vergangenheit für die Gegenwart, denn auch »Mythen sind keine Lügengeschichten«.6

6 Dieter Langewiesche: Wozu Geschichtsmythen?, in: Edita Ivanickova u. a. (Hg.): Mythen und Politik im 20. Jahrhundert. Deutsche, Slowaken, Tschechen. Essen 2013, S. 7 – 24, hier S. 7.

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Geschichtserzählung oder Mythos

Die Geschichtswissenschaft modelliert vergangenes Geschehen zu den Vorstellungen, die als Geschichte verstanden werden. Ihre Erzählungen werden von der Fachöffentlichkeit akzeptiert, wenn sie (1.) theoretisch reflektiert und methodisch nachvollziehbar sind, (2.) das Koselleck’sche »Vetorecht« der Quellen nicht verletzen7, (3.) stimmig und konsistent argumentieren und (4.) plausibel, relevant und orientierend erscheinen. Kritik führt zu neuen Darstellungen, die diese Kriterien in ihrer Zeit angemessener erfüllen. Dies meint nicht, sich »objektiver« der »unverzerrten Wahrheit über die Vergangenheit« zu nähern oder »Halt« in der »wirklichen Erfahrung der Vergangenheit« zu suchen.8 Selbst als regulative Idee sind die historische Wahrheit und die wirkliche Vergangenheit methodisch nicht operationalisierbar, weil es dafür keinen Maßstab gibt. Meineckes Deutung der deutschen Katastrophe ist eine wissenschaftliche Erzählung. Sein bedingtes »Weiter so« irritierte jedoch diejenigen, die im deutschen Weg jenseits westlicher Zivilisation und »demokratischer Gleichmacherei« die Ursachen für das Nazi-Regime und den Holocaust erblickten. Der emigrierte Germanist Richard Alewyn platzierte deswegen 1949 »Buchenwald« zwischen »uns« und »Weimar«. Er monierte, dass die Deutschen nicht gleichzeitig Goethe rühmen und Hitler leugnen könnten. »Es gibt nur Goethe und Hitler, die Humanität und die Bestialität. Es kann, zumindest für die heute lebenden Generationen, nicht zwei Deutschlands geben.«9 Alewyn machte nicht Goethe oder die Klassiker, sondern die Deutschen für die Verbrechen Hitlers und der Nazis verantwortlich. Er wandte sich gegen die Trennung von hoher Kultur und niederer Politik.10 Im Osten nahm zur gleichen Zeit Johannes R. Becher Goethe als Befreier wahrer Menschlichkeit in Anspruch, um unter den eigenen revolutionären Bedingungen die Einheit von Geist und Macht zu beschwören.11 Während demnach die Metaerzählung von Geist und Macht in der DDR mit der Herrschaft des Volkes vollendet wurde, imaginierte Meinecke die Klassiker, um den »Erfahrungsraum« nicht zu verlieren, dem er sich selbst zurechnete und 7 Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders. (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 41985, S. 176 – 207, Zitat S. 206. 8 Thomas Nipperdey : Kann Geschichte objektiv sein? (zuerst 1979) in: Paul Nolte (Hg.): Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays. München 2013, S. 62 – 83, hier bes. S. 82 f. 9 Richard Alewyn: Goethe als Alibi, in: Hamburg Akademische Rundschau 1948/50 (3/8 – 10), S. 685 – 687. 10 Vgl. Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München / Wien 2006, S. 388 f. 11 Zit. n. Gerhard Sauder: Die Goethe-Eiche. Weimar und Buchenwald, in: Bernhard Beutler / Anke Bosse (Hg.): Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa, Köln u. a. 2000, S. 473 – 495, hier S. 489.

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den er mit geprägt hatte.12 Alewyn widersprach: Der Geist lasse sich nicht von der Macht isolieren. Die deutsche Identität war mehr als eine Subtraktionsaufgabe. Der Dissens blieb unausgetragen, weil in der Bundesrepublik auf eine Vergewisserung durch Fernerinnerung letztlich verzichtet wurde.13 Die alten, identitätsstiftenden Erzählungen verloren daher mit Blick auf Gegenwart und Zukunft ihren Sinn: Der germanisch-deutsche Befreiungskampf gegen Rom, die Translation des Reiches auf die Deutschen, die staatliche Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches, Luthers Standhaftigkeit oder König Friedrichs II. Wille zur Macht taugten ebenso wie Luthers Trennung von innerer und äußerer Freiheit nur noch als ferne Ursachen des deutschen Sonderweges. Im Taumel des sozialtechnologisch inspirierten Gestaltungswillens wurde die eigene Vergangenheit vergessen oder zur didaktisch aufbereiteten Lehre für die Menschheit: der Weg ins Verhängnis. Wenn dann doch einmal das Heilige Römische Reich geschichtspolitisch als historisches Kerneuropa in Stellung gebracht wurde, hagelte es Kritik. Die Deutschen sprächen von Europa, um ihre Hegemonie über Europa zu kaschieren. Hier rächte sich, dass die Meistererzählungen nicht mehr fortgeschrieben und angepasst worden waren: Sie wirkten weiter, wenn nicht in Deutschland, so bei den Nachbarn, wenn nicht wissenschaftlich abgesichert, so als Mythen.14 Als solche waren und sind sie unwiderlegbar. Bezeichnend ist, dass selbst die Präambel des Grundgesetzes 1949 nicht ohne Mythos auskam: Sie postulierte eine Verantwortung vor Gott und den Menschen, die nationale und staatliche Einheit zu wahren.15 Diese Pflicht musste offensichtlich niemand begründen. Sie verstand sich von selbst und legitimierte das Ziel der Wiedervereinigung mit der synchronen Einheit der deutschen Länder und einer diachronen des deutschen Volkes. Die Überzeugung, dass die Gegenwart sich über die Zeiten hinweg mit einem bleibenden Ursprung verbinden lässt, gehört zum Grundbestand des Mythenarsenals aller Völker. Mythen werden hier in diesem Sinn als historische Erzählungen verstanden, die aus kulturellen Versatzstücken einer bereits gedeuteten Vergangenheit entstehen, um die Gegenwart anzuleiten. Mythen definieren Ursprünge, reduzieren Komplexität und verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um Identität zu stiften sowie Denken und Handeln zu motivieren. Sie können transzendentale Erklärungen beinhalten, müssen keiner vernunft12 Vgl. Reinhart Koselleck: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien«, in: Ders.: Vergangene Zukunft (wie Anm. 7), S. 349 – 375. 13 Vgl. Karl Heinz Bohrer : Erinnerungslosigkeit. Ein Defizit der gesellschaftskritischen Intelligenz, in: Frankfurter Rundschau 2006/137 (16. Juni 2006), S. 20 f. 14 Vgl. Herfried Münkler : Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009. Vgl. auch Joachim Bauer : Universitätsgeschichte und Mythos-Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548 – 1858. Stuttgart 2012. 15 Vgl. Langewiesche: Geschichtsmythen (wie Anm. 6), S. 20 ff.

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gemäßen Überprüfung standhalten und sind so flexibel, dass sie leicht an veränderte Umstände anzupassen sind. Mythen beanspruchen überzeitliche Geltung und verheißen Wahrheit für alle Zeiten.16 Sie beschwören eine Welt, die nicht vergehen soll und entziehen ihre archaischen, auf Analogien basierenden und Wiederholung fordernden überzeitlichen Erklärungsmuster jeder methodologischen Kontrolle. Sie werden geglaubt und bleiben so lange gültig, wie die Gesellschaft dies will. Hat ihre Erklärungsleistung sich erübrigt, werden sie vergessen. Mythen mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln zu dekonstruieren oder zu delegitimieren, ist vergebens, weil sie in anderen Kontexten wirken. Darin liegt ihre Bedeutung für die Identität und die Integration eines vorgeblichen Ganzen. Diese Fragen beschäftigen jedoch auch die wissenschaftliche Geschichtsschreibung und deswegen kann sie sich der »Arbeit am Mythos« nicht entziehen.17 Dazu ist die Gegenwart kritisch mit der Vergangenheit zu konfrontieren, um die Eindimensionalität des Mythos durch alternative Deutungen zu relativieren. Dass die Gegenwart die Deutungshoheit über die Vergangenheit besitzt, davon waren im Übrigen schon die Universalhistorie des 18. Jahrhunderts und mit ihr Goethe und Schiller überzeugt.

2.

Schiller und Goethe über Geschichtsschreibung

Schiller erläutert in seiner Erzählung »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« sein historiographisches Konzept.18 Geschichte wird konstruiert durch das Analogisieren von Aktuellem mit Vergangenem. Gegenüber dem Roman besitze die Geschichtserzählung den Vorzug der Wahrheit. Doch »die philosophische und Kunstwahrheit« habe »eben soviel Werth […] als die historische«. Auch »die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden.«19 Schillers Geschichtsschreibung verknüpft die Wahrheit der Quellen mit der inspirativen poetischen Wahrheit. Die aufgrund lückenhafter Überlieferung fehlenden Bindungsglieder reizten den »philosophischen Geist […] sie zu be16 Vgl. ebd., S. 7. 17 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. 18 Vgl. zum Folgenden: Georg Schmidt: Ästhetische Geschichtsdeutungen. Friedrich Schiller und Carl Theodor von Piloty über den Dreißigjährigen Krieg, in: Axel Schröter (Hg.): Musik – Politik – Ästhetik. Detlef Altenburg zum 65. Geburtstag. Sinzig 2012, S. 36 – 48; Ders.: Friedrich Schiller und seine »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges«, in: Klaus Manger / Gottfried Willems (Hg.): Schiller im Gespräch der Wissenschaften. Heidelberg 2005, S. 79 – 105. Dort auch weitere Nachweise. 19 Schiller an Caroline von Beulwitz, geb. Lengefeld, 1788, Dez. 10. und 11., in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 25, hg. v. Eberhard Haufe, Weimar 1979, S. 154.

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herrschen.«20 Schiller sucht nach einer empirischen Erfahrung, die den ständigen Kampf zwischen Herrschsucht und Freiheitsstreben verbürgt. Er betont die Subjektivität jeder Erkenntnis. Der »Trieb nach Übereinstimmung« lasse in der »Vorstellung« die Gegebenheiten als eine Kette erscheinen und damit ein zusammenhängendes Ganzes entstehen. Der Historiker »bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.«21 Schiller erkannte, dass sich im vergangenen Geschehen die eigenen Vorstellungen mit einer Fülle von Fakten bestätigen oder widerlegen lassen. Fakten besitzen keinen Sinn, wenn sie nicht in Kontexte gebracht werden: Deshalb müsse der philosophische Kopf als Prinzipienlieferant beispielsweise das neuzeitliche Europa als einzigartige Symbiose von Freiheit und Kultur erzählen. Der Mythos Europa hatte bereits im späten 18. Jahrhundert Konjunktur. Die Ansicht, dass Geschichte im Kopf des Betrachters entsteht, teilte auch Goethe. Seines Erachtens konnte der Historiker nur so schreiben, »als wenn er damals selbst dabei gewesen wäre, nicht aber, was vormals war und damals bewegte«.22 Am Beginn des Fausts spricht der Famulus Wagner vom zivilisatorischen Fortschritt, dessen er sich durch Vergleich mit der griechischen Dichtung vergewissern will: »Verzeiht! Es ist ein groß Ergetzen Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, zu schauen wie vor uns ein weiser Mann gedacht, Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.«

Faust erwidert skeptisch: O ja, bis an die Sterne weit! Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln; Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.«23

Faust bezieht Position: Vergangene Zeiten sind vorüber, sie spiegeln sich im Kopf des Beobachters, wobei die Narration von aktuellen Problemen, Fragen und Gefühlen überlagert wird. Den »Geist der Zeiten« schaffen die Menschen, indem sie das vergangene Geschehen und die überlieferten Artefakte formieren 20 Schiller an Körner, 1788, Jan. 7., in: Ebd., Bd. 25, S. 2 f. 21 Friedrich Schiller : Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4, München 71988, S. 749 – 767, hier S. 764. 22 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen (651), in: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. II, Bd. 42, Weimar 1907, S. 188 (künftig WA). 23 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, in: WA I, Bd. 14, Vs. 570 – 579.

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und deuten. Sie bringen mehr oder weniger zufällige Überreste in eine zeitliche und kausale Ordnung und kreieren Entwicklung und Fortschritt. Wesentlich weiter ist die Geschichtstheorie heute auch nicht.

3.

Das Ereignis Weimar-Jena

Diese Aktualität der Klassiker bildete einen Ausgangspunkt für den Jenaer Sonderforschungsbereich, der unter maßgeblicher Mitwirkung Hans-Werner Hahns und der Neueren Geschichte das »Weimar-Jenaische Wesen«24 als »Ereignis Weimar-Jena« deutete. Die beteiligten historischen Disziplinen interessierten sich angesichts einer pluralen, wirtschaftlich globalisierten Welt, in der religiöser Fundamentalismus zum Problem geworden ist, vorrangig für den gesellschaftlichen Wandel und die politische Kultur des Ereignisraumes. In Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach gab es um 1800 weder eine nationalstaatliche Aufbruchstimmung noch eine artikulierte Erbfeindschaft gegen Frankreich, auch keine Menschenrechte und keine Demokratie. Der Herzog bestimmte die Richtlinien der Politik: Er maßregelte Professoren, die allzu forsch die Grenzen obrigkeitlicher Macht testen wollten, ließ studentische Demonstration und Geheimgesellschaften überwachen und zog gegen die Französische Revolution und für Preußen in den Krieg.25 All dies änderte jedoch nichts daran, dass in Weimar-Jena manches gedacht und getan wurde, was andernorts so nicht möglich gewesen wäre. Schiller und Goethe wandten sich gegen Machtpolitik und Parteienstreit, der die Gesellschaften entzweie. Sie förderten philosophisch-politische Grundlagenreflexionen und verfolgten kosmopolitische Ideale. Ihr Entwurf forderte individuelle Vervollkommnung. Die Menschen sollten sich bilden, um vernünftig mit der möglich gewordenen Freiheit umzugehen. Mit diesem elaborierten politischen Programm wollten sie der Nation einen kulturellen Mittelpunkt anstelle des fehlenden Machtzentrums geben. An einen Dualismus der beiden Sphären, an eine Überhöhung des Geistig-Kulturellen als bürgerlicher Rückzugsraum, war damals nicht gedacht worden. Die nicht machtpolitisch bestimmte deutsche Nation wurde in Weimar als eine Art Vorreitergesellschaft inszeniert. Hier schien – wenigstens in einigen eng begrenzten Zirkeln – die Pluralität zu existieren, die nicht Stillstand erzeugte, sondern den dynamischen Wettbewerb der klugen Geister, Ideen und Stile. Goethe und Schiller lebten in einem politischen Mehrebenensystem, dem Hei24 Goethe an Gottlob Voigt, 1807, Mai 1., in: WA IV, Bd. 19, S. 316 – 319, Zitat S. 319. 25 Vgl. W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar. München 1999.

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ligen Römischen Reich deutscher Nation, in dem sich lokale, regionale und nationale Identitäten überlagerten.26 Goethe hatte das kleine Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach mit den Mitteln des Zwangsstaates nicht zum aufgeklärten Musterstaat umformen können.27 Seine damaligen Erfahrungen waren wichtig. Er forderte, mit den Betroffenen zu reden, sie zu überzeugen, denn das heiße »verändern, nicht verändern wollen«.28 Es sind nicht, zumindest nicht in erster Linie die Klassiker, die ihre Ideale in unerreichbaren Höhen ansiedelten und damit »die gefährlich unpolitische Tradition des deutschen Bildungsbürgertums« begründeten29, sondern ihre späteren Interpreten. Parallel zum Niedergang des kosmopolitischen Denkens formierten die deutschen Romantiker einen national intonierten Universalismus: die Vorbildhaftigkeit der durch die katholische Kirche und das mittelalterliche, deutsch verstandene Reich erzeugten Einheit des Abendlandes. Nach Schillers Tod und dem Ende des Alten Reiches wurde die »Weimar-Jenaer« Konstellation brüchig. Napoleon provozierte die nationalen Kräfte auch unter den Jenaer Professoren.30 Während die Burschenschaften mit dem Wartburgfest 1817 ein nationales Fanal inszenierten, wurde es für den sich selbst als unzeitgemäß historisierenden Goethe einsam auf dem Gipfel. Er fürchtete den Umsturz, der das »Alte« fortreißt und thematisierte den Übergang in Faust II. Er konnte Industrialisierung, Nationalisierung und Revolution, die allgemeine Beschleunigung und die Entfremdung des Menschen nur noch diagnostizieren. Perspektiven erkannte er keine mehr und Partei ergreifen wollte er nicht.31 Goethe verharrte in der Trias aus Weltbürgertum, national-kultureller Einheit und staatlicher Vielfalt, die das politische Denken im Ereignis Weimar-Jena geprägt hatten. Der Preis einer nationalstaatlichen Umwälzung, die auch in Deutschland klassische Werke nach französischem Muster entstehen lassen könne, schien ihm zu hoch.32

26 Vgl. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495 – 1806. München 1999; Ders.: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009. 27 Vgl. Marcus Ventzke: Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775 – 1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft? Köln 2004; Georg Schmidt: Goethe: Politisches Denken und regional orientierte Praxis im Alten Reich, in: Goethe-Jahrbuch 1995/112, S. 197 – 212. 28 Vgl. Goethe an Carl August, 1784, Nov. 26., in: WA IV, Bd. 6, S. 395 – 399, Zitat S. 397. Vgl. Andreas Krause: Verwaltungsdienst im Schatten des »Weimarer Musensitzes«. Beamte in Sachsen-Weimar-Eisenach zwischen 1770 und 1830. Jena 2010. 29 Peter Merseburger : Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht. Stuttgart 1998, S. 10. 30 Vgl. Klaus Ries: Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 2007. 31 Hans-Werner Hahn: »Am Vorabend einer großen Explosion.« Europäische Revolutionen und das Ende des »Ereignisses Weimar-Jena«, in: Olaf Breidbach (Hg.): Vom Ende des Ereignisses. München 2011, S. 93 – 105. 32 Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sanscülottismus. WA I, Bd. 40, S. 196 – 203.

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Dichter werden unpolitisch

Mit ihrem »Es gehört nun einmal zum Wesen der Weimarer Hofklassik, daß hier zwei hochbedeutende Dichter die Forderung des Tages bewußt ignorieren«33 zerstörten Reinhold Grimm und Jost Hermand 1971 keine Klassik-Legende. Sie schrieben das zum Mythos geronnene Konstrukt »unpolitischer Dichter« fort – der Ausgangspunkt der Meistererzählung von Geist und Macht. Eine »Weimarer Hofklassik« hat es jedoch nie gegeben34 und welche »Forderungen des Tages« Goethe und Schiller übersahen, bleibt im Dunkeln. Das Bild vom »Musenhof« entstand 1844 parallel zur Vorstellung von unpolitischen Dichtern bzw. Klassikern.35 Suggeriert wurde ein den Sorgen und Nöten des Tages entrücktes, überzeitliches Spiel der Musen, in dem für Politik als »garstig Lied« angeblich kein Platz war. Dieses Konstrukt machte Goethe und Schiller verfügbar für politische Inanspruchnahmen. Ein unpolitischer Goethe eignete sich zum deutschen Genius, der Napoleonanhänger nicht. Für den Nationaldichter Schiller war es besser, sich in die ferne Vergangenheit zurückgezogen zu haben, als Bürger der Französischen Revolution gewesen zu sein. Der deutsche Nationalstaat inszenierte die unpolitischen Dichterdioskuren, weil er mit den sperrigen Kosmopoliten wenig anfangen konnte. Während Goethes 100. Geburtstag 1849 noch fast unbeachtet blieb36, gerieten zehn Jahre später die Schiller-Feiern zum (be)rauschenden nationalen Fest. Im Sog Schillers wurde Goethe populär, als am 4. September 1857 in Weimar das Goethe-SchillerDenkmal enthüllt wurde. Es steht vor dem Weimarer Theater, nicht etwa im Schloss oder auf dem Marktplatz, den Foren der Politik. Die Illusion war perfekt und der Mythos konnte auch nach 1989 fortgeschrieben werden: »Wir bleiben hier«.37 Die weltoffene, plurale und dennoch national integrierende politische Deutungskultur der Protagonisten des Ereignisses hatten schon die sogenannten politischen Dichter der folgenden Generation nicht mehr verstanden: Der Burschenschaftler Wolfgang Menzel denunzierte Goethe als Opportunisten, der 33 Reinhold Grimm / Jost Hermand (Hg.): Die Klassik-Legende. Frankfurt a. M. 1971, Vorwort S. 7 – 16, Zitat S. 11. Ebenso Gottfried Willems: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3, Köln u. a. 2013, S. 18 ff. Er spricht von Klassik-Mythos. 34 Vgl. Stefanie Freyer: Der Weimarer Hof um 1800. Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos. München 2013. 35 Vgl. Wilhelm Wachsmuth: Weimars Musenhof in den Jahren 1772 bis 1807. Berlin 1844; Gordon A. Craig: Die Politik der Unpolitischen. Deutsche Schriftsteller und die Macht 1770 – 1871. München 1973; Joachim Berger (Hg.): Der Musenhof Anna Amalias. Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei im klassischen Weimar. Köln 2001. 36 Zu dem revolutionären Kontext vgl. Hahn: Vormärz (wie Anm. 4), S. 637 – 655. 37 Vgl. https://www.wir-waren-so-frei.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/6390 [26. 11. 2013].

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dem Feind in die Hände gearbeitet habe, »der uns zu Schwächlingen machte, während wir des Heldentums am meisten bedurften«.38 Ludwig Börne schalt Goethe einen »Fürstenknecht« und »Stabilitätsnarren«, Heinrich Heine intonierte die »Kunstbehaglichkeit des großen Zeitablehnungsgenies«.39 Der von der Gegenwart her urteilende Wilhelm Wachsmuth forderte 1844, die Werke Schillers und Goethes nicht aus der Sicht »eines durch und durch mit politischem Dichten und Trachten zersetzten und die Erscheinungen der politischen Gegenwart in Prosa und Versen verfolgenden jüngeren Geschlechts« zu beurteilen.40 Schillers Literatur habe »zur Erweckung und Erhebung deutscher Gesinnung gewirkt«, während alles »Ueberdeutschthum« heute niemanden mehr bewege.41 Gegen die Wucht der nationalstaatlichen Bewegung konnten sich die beiden anderen Enden der deutschen Aufklärung – der Kosmopolitismus und der Universalismus – nicht behaupten. Während das sogenannte »junge Deutschland« Goethe wegen seiner Sympathien mit dem Metternichschen System anfeindete, bewerteten Nationalisten, Liberale und Katholiken seine angebliche politische Enthaltsamkeit als »fatale Charakterschwäche«.42 Dem toten Goethe wurde vorgeworfen, keinen politischen Standpunkt besessen zu haben. Emanuel Geibels »Und es mag am deutschen Wesen, einmal noch die Welt genesen«43, ergänzte sich nun mit dem imperialen »Deutschland, Deutschland über alles«. Während Hegel zum preußisch-deutschen Staatsphilosophen aufstieg, wurden Goethe als »politikfern« und Schiller als politisch unbedarft dargestellt, um sie als »Klassiker« rühmen zu können. Der Historiker Georg Gottfried Gervinus, ein Mitglied der Göttinger Sieben und der Frankfurter Nationalversammlung, machte mit seiner »Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen« (1837 – 42) aus der Not eine Tugend. Aus den politisch eher unzuverlässigen Klassikern wurden die unpolitischen. Nun galt, dass Goethe und Schiller mit ihrer Literatur die Nation reif gemacht hatten für die politische Freiheit.44 Carl Gustav Carus schrieb 1843 in

38 Zit. n. Karl Robert von Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1, München 1980, S. 102. 39 Heine an Varnhagen von Ense, 1830, Feb. 27, zit. n. Merseburger: Mythos (wie Anm. 29), S. 169. 40 Wachsmuth: Musenhof (wie Anm. 35), S. 115. 41 Ebd., S. 117. 42 Wolfgang Leppmann: Goethe und die Deutschen. Der Nachruhm eines Dichters im Wandel der Zeit und der Weltanschauungen. Bern / München 1982, S. 53. 43 Zit. n. Heinrich Lutz: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 – 1866. Berlin 1985, S. 376. 44 Vgl. Mandelkow: Goethe (wie Anm. 38), S. 122. Vgl. Gordon A. Craig: Gervinus und die deutsche Einheit, in: Ders.: Politik (wie Anm. 35), S. 191 – 208.

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seiner Biographie dem Naturforscher Goethe die angeblich deutschen Werte zu: Universalität und Tiefe, Beharrlichkeit und einen Kosmopolitismus der Tat.45 Gemäß den Erfordernissen der Zeit versöhnte nach der Reichsgründung 1871 der bewusst von der Gegenwart aus urteilende Hermann Grimm die Klassiker mit dem Nationalstaat.46 Goethe und Bismarck, Weimar und Berlin, Geist und Macht, standen fortan für den deutschen Weg – für Hochkultur und Obrigkeitsstaat gegen westliche Zivilisation und Demokratie. Die harmonisierenden Formeln deuteten zwar auf ein eher unbewusstes Zusammenspiel – im Rücken der Akteure – bei der Genese des Nationalstaates, signalisierten aber keine intensive Kooperation, sondern ein Nebeneinander, insbesondere die gewollte Politikferne der Intellektuellen.47 Die Dichter sollten sich politisch nicht engagieren. Viktor Hehn spielte in den 1880er Jahren Goethes und Schillers humanen Universalismus gegen die Politisierung im Vormärz aus. Der Dichter wolle nicht politisch wirken: »Ein Kunstwerk mit politischer Tendenz ist ein Unding«.48 Hehn griff hier die alte Kontroverse zwischen Ferdinand Freilingrath und Georg Herwegh aus dem Jahr 1841 wieder auf. Freilingrath hatte damals postuliert, dass der Dichter auf einer »höheren Warte« stehe als »auf den Zinnen der Partei«. Herwegh widersprach entschieden.49 Der neuhumanistisch-elitäre bürgerliche Wertehimmel des Wilhelminismus sowie die angebliche ästhetische und geistig-kulturelle Überlegenheit Deutschlands beruhten jedoch auf der Politikferne seiner Dichter und Denker, die sich vom Parteienstreit nicht ablenken oder irritieren ließen. Für Heinrich von Treitschke gewannen die Deutschen durch die Komplementarität von Geist und Macht unter den europäischen Kulturvölkern einen Platz, »den niemand sonst auf der Welt ausfüllen konnte. Begeistert sprach die Jugend von deutscher Tiefe, deutschem Idealismus, deutscher Universalität«.50 Die Politik lag dagegen in den Händen der Könige und Fürsten sowie ihrer Regierungen. Der preußischdeutsche Machtstaat exkulpierte die Klassiker, die sich in ihrer Sphäre sicher fühlen durften. Sie waren schuldlos an der »Demütigung ihres Vaterlandes« durch Napoleon, denn sie hatten das »Eigenste unseres Volkes« gehütet. »Aus

45 Vgl. Leppmann: (wie Anm. 42), Goethe, S. 88. 46 Vgl. Hermann Grimm: Goethe. Vorlesungen gehalten an der kgl. Universität zu Berlin. 2 Bde., Berlin 1877. 47 Vgl. Mandelkow: Goethe (wie Anm. 38), S, 205 – 211. 48 Viktor Hehn: Einleitung, in: Eduard von der Hellen (Hg.): Über Goethes Gedichte. Aus dessen Nachlaß. Stuttgart / Berlin 1911, S. 1 – 59, Zitat S. 54 f. 49 Diesen Hinweis verdanke ich Klaus Ries; vgl. dazu Wolfgang Hardtwig: Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum. München 1998, S. 136. 50 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Tl. 1: Bis zum zweiten Pariser Friede. Leipzig 1927 (zuerst 1879), S. 189.

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der Durchbildung der freien Persönlichkeit ging unsere politische Freiheit, ging die Unabhängigkeit des deutschen Staates hervor.«51 Houston Stewart Chamberlain verband 1912 seine Würdigung Goethes und der elitären deutschen Kultur mit einer klaren Absage an die westliche Zivilisation und Demokratie.52 Auch Thomas Mann teilte diese Ansicht, als er 1917 in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« über die Trennung von Kultur und Politik sowie das Wesen des deutschen Volkes orakelte. »Der politische Geist, widerdeutsch als Geist, ist mit logischer Notwendigkeit deutschfeindlich als Politik«, denn diese sei dem deutschen Wesen fremd. Das »grundunpolitische« deutsche Volk werde die Demokratie niemals lieben, weil der »Obrigkeitsstaat« die ihm angemessene und von ihm gewollte Staatsform sei. »Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation […]; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.«53 Thomas Mann folgte Meinecke, für den »die Menschheitsnation Schillers den Nationalstaat Bismarcks« geschaffen hatte.54 Wie viele deutsche Intellektuelle nahm er den Ersten Weltkrieg als einen Krieg gegen die deutsche Kultur wahr, zumal die Westmächte vom Krieg für die Zivilisation sprachen.55 Als Friedrich Ebert 1919 die Wende zurück zur geistigen Größe propagierte56, wollte er ein neues Zeitalter einläuten, vertiefte jedoch den Graben zwischen den Verfechtern der (Hoch-) Kultur und der ihnen fremden Politik einer ungeliebten demokratischen Republik, obwohl diese sich symbolträchtig in Weimar konstituiert hatte. Die Trennung von Geist und Macht, das Defizit des Wilhelminischen Kaiserreichs, lebte in der Weimarer Republik fort. Viele Intellektuelle strebten nun nach der Wiederkehr eines integrierenden Reiches, das es zuvor aber nie gegebenen hatte.57 Darauf konnte das Nazi-Regime aufbauen. Nach der totalen Niederlage war alles anders. Goethe und Schiller aber blieben unpolitisch und wurden als Weimarer Klassiker und Kosmopoliten tradiert. Dieses Bild reichte in dem Moment nicht mehr aus, als die europäische Einigung die deutsche Einheit verkraften musste, und die Nachbarn wissen wollten, was die deutsche Nation außer falschen Weichenstellungen in das gemeinsame Haus einbringe. Die politische Deutungskultur nahm daraufhin die 51 Ebd., S. 198. 52 Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832. München 1912. 53 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt a. M. 1968, S. 22 f. 54 Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des Deutschen Nationalstaates, München / Berlin 21911, S. 301. 55 Lepenies: Kultur (wie Anm. 10), S. 49. 56 Merseburger: Mythos (wie Anm. 29), S. 285 ff. 57 Lothar Kettenacker : Der Mythos vom Reich, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983, S. 261 – 289.

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deutschen Weltbürger und ihre kosmopolitischen Diskurse in den Blick58, die sie durch Relektüre wiederentdeckte.

5.

Fazit: Geschichtserzählung und Mythos

Das »Ereignis Weimar-Jena« ist der Versuch, die kosmopolitische Kultur eines noch nicht nationalstaatlichen Deutschlands auf ihrem Höhepunkt gegen die nunmehr mythische Vereinnahmung als »deutscher Geist« für die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zu retten. Auch im 19. Jahrhundert (re)konstruierten die Geisteswissenschaften die Vergangenheit für den Gebrauch der Gegenwart. Sie versöhnten Geist und Macht, Weimar und Berlin, indem sie die Dichter und Denker als unpolitisch charakterisierten, um sie für Genese und Prestige des Nationalstaats zu vereinnahmen. Thomas Mann und die Abstinenz der Intellektuellen von der Politik zeigen, dass und wie diese Erzählungen gewirkt haben. Es wäre verfehlt, den damaligen Historikern vorzuwerfen, die Vergangenheit nach den nationalstaatlichen Maßstäben ihrer Zeit gedeutet zu haben. Nach 1945 war der deutsche Nationalstaat besiegt. Das politische System wurde von Grund auf neu formiert. Die Idee eines spezifischen »deutschen Geistes« wurde dennoch von denjenigen weiter verfolgt, die wie Meinecke diese, der Politik angeblich entzogene, Sphäre selbst kreiert und es sich in ihr eingerichtet hatten. Manche von ihnen hatten so das Nazi-Regime überlebt. Meinecke und viele, die in der Bundesrepublik nach Goethe, Schiller und den Dichtern und Denkern riefen, suchten Bestätigung und Halt für ihren bisherigen Weg jenseits der unmittelbaren politischen Einmischung. Sie fragten nicht nach Analogien und nach der Möglichkeit, die demokratischen Werte und Tugenden oder die europäische Einigung direkt mit den freiheitlichen und kosmopolitischen Idealen der Dichter und Denker in eine neue erhellende Beziehung zu setzen.59 Da sich die jüngeren Künstler und Schriftsteller aktiv für die Demokratie engagierten, verblasste der »deutsche Geist« als geschichtswissenschaftlicher Ansatz zur Erklärung der Gegenwart. Der Mythos aber blieb und wird immer dann aktiviert, wenn es gilt, das angeblich bessere Gestern gegen das Neue zu beschwören. Wissenschaftliche und mythische Erzählungen ähneln sich und verfolgen oft die gleichen orientierenden Ziele. Eine Geschichtswissenschaft, die darauf verzichtet, legitimierende, referenzgesicherte und orientierende Identitätserzäh58 Vgl. Gonthier-Louis Fink / Andreas Klinger (Hg.): Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800. Frankfurt a. M. 2004. 59 Georg Schmidt: Brücken schlagen, Analogien bilden. Überlegungen zur historischen Selbstvergewisserung des modernen Staates, in: Olaf Breidbach / Hartmut Rosa (Hg.): Laboratorium Aufklärung. München 2010, S. 19 – 35.

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lung in aktueller Absicht zu entwerfen, überlässt dieses wichtige Feld dem Mythos. In Deutschland stammen die mythischen Versatzstücke aus der Zeit eines machtbewussten Nationalstaates und können deswegen das heutige Deutschland in der Europäischen Union nur unbefriedigend fundieren. Es fehlt eine neue Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, für die der Nationalstaat nicht mehr Vollendung und Ziel, sondern eine wichtige Etappe auf dem Pfad zu Frieden, Freiheit und einer selbst zu gestaltenden Zukunft im Vereinten Europa darstellt. Schillers Freiheit und Kultur in einem friedlichen Europa, Goethes gewaltfreies Miteinander, Herders Humanität oder Wielands Verfassungspatriotismus könnten dem Mythos Europa kosmopolitisch ein wenig auf die Sprünge helfen. Das »Ereignis Weimar-Jena« hat der Gegenwart jedenfalls weit mehr zu sagen als die retrospektive Beschwörung des »deutschen Geistes«.

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Wir schreiben das Jahr 1808. Napoleon steht auf dem Höhepunkt seiner Macht1. Sein Imperium erstreckt sich in West-Ost-Richtung von Spanien bis Polen (das er ins Herzogtum Warschau umgewandelt hat) und in Nord-Süd-Richtung von Dänemark-Norwegen (die in einer Union zusammenstehen) bis zum Königreich Neapel. In gerade einmal zehn Jahren (seit seiner »Machtergreifung«, wie man dies heute zuweilen nennt2, von 1799) hat es der General der Revolution verstanden, fast ganz West-Europa (mit Ausnahme von England, Portugal und Schweden) unter seine Herrschaft zu bringen. Er versuchte in diesen Gebieten, seine Herrschaftsform durchzusetzen und sie zugleich als militärische Aufmarsch- und Ausbeutungsgebiete zu nutzen: Deswegen stand seine Herrschaft von Anfang an im Spannungsfeld zwischen Eroberung und Befreiung, war von Anfang an von einer extremen Widersprüchlichkeit und Ambivalenz geprägt. Napoleon war nicht einfach nur der Imperator, er war zugleich auch der Modernisierer Europas, er war »Revolutionär und Monarch«, wie Roger Dufraisse seine Biographie so treffend betitelte3. Wenige Zeitgenossen hatten diese Doppeldeutigkeit in ihrer ganzen Komplexität verstanden und Napoleon dafür auch verehrt: Einer davon war Goethe (ein anderer – ebenfalls Weimarer Dichter und Publizist – war Wieland und wieder ein anderer, der gleichfalls zunächst noch an der Universität Jena lehrte, bevor er seine großartige Karriere in Berlin begann, war Hegel, für den Napoleon bekanntlich der »Weltgeist« bzw. exakt die »Weltseele (…), auf einem Pferde sitzend«, verkörperte4). Napoleon stand also auf der Höhe seiner Macht, zugleich wies aber seine 1 Vgl. zum historischen Kontext in Bezug auf Deutschland sowohl was die Darstellung der Ereignisse als auch die Grundprobleme der Forschung betrifft Hans-Werner Hahn/ Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49, Stuttgart 2010, bes. S. 35 ff. und S. 49 ff. 2 So Johannes Willms: Napoleon. Eine Biographie, München 2005, S. 187. 3 Roger Dufraisse: Napoleon. Revolutionär und Monarch. Eine Biographie, München 1994. 4 So Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hegel an Niethammer am 13. Octbr. 1806, in: J. Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bd. I, Hamburg 1969, S. 119 – 121, hier : S. 120.

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Macht im Jahre 1808 bereits erste Risse auf5. Sein Universalmonarchiegedanke, der an römische und karolingische Traditionen anknüpfte, das »Grande Empire« (im Unterschied zum »Empire« in Frankreich selbst) degenerierte mehr und mehr zu einer altständischen, absolutistisch-höfischen Form von Herrschaft und Machtentfaltung: Napoleon ließ seine Brüder als Majestäten in Neapel, Holland, Spanien, Italien und im deutschen Einflussbereich des von ihm sogenannten »Rheinbundes« (eines urfranzösischen Geschöpfes) einsetzen und er selbst, bislang kinderlos, heiratete schließlich die Tochter des österreichischen Kaisers Franz, Marie Luise, um so sein Erbkaisertum, das er bislang auf seine Brüder beschränken musste, im eigenen Stamm weiterführen zu können (1811, gegen Ende seiner Herrschaft, wurde ihm schließlich ein Sohn geboren, den er noch in Italien als König und Nachfolger seines Adoptivsohnes einsetzte). Ferner bediente er sich des ganz traditionellen Mittels der Einheiratung seiner Familie in alte europäische Dynastien (Verbindungen, die später allesamt wieder rückgängig gemacht wurden, weil sie als »unstandesgemäß« galten): Seinen Stiefsohn EugÀne Beauharnais, Vizekönig von Italien, verheiratete er mit der Tochter Auguste des frisch gekürten bayerischen Königs, der badische Kronprinz heiratete Stephanie Beauharnais und Jerome, sein jüngster Bruder, erhielt die württembergische Königstochter Katharina; nur Lucien entzog sich als überzeugter Republikaner diesem Spiel des Ancien R¦gime. Napoleon betrieb also auf der einen Seite eine ganz und gar altadelige Familien- und Heiratspolitik. So ließ er auch den alten Geburtsadel wieder aufleben, der neben dem eigens von ihm geschaffenen Verdienstadel weiter bestand. Genau so sah auch sein Hofstaat aus: Er las nunmehr als Privatlektüre u. a. die Zeremonienbücher von Ludwig XIV., um den täglichen Ablauf am Hof in angemessener Form zu zelebrieren, er ließ höfische Riten mit Hilfe von eigens dafür angefertigten Puppen einüben und inszenierte sich und seine Person mit einem Pomp, den jeden Aufklärer entsetzt und zu Tode erschreckt hätte. Johannes Willms spricht nicht zu Unrecht von »Operettenschwindel«6. Beispielsweise musste sein Namenstag in allen Gebieten großartig als Feiertag begangen werden und er ließ eigens einen kirchlichen Katechismus einführen, in welchem er sich selbst als das Ebenbild Gottes auf Erden bezeichnete. Dies alles waren regelrecht rückwärtsgewandte, vergangenheitsorientierte Züge seiner Herrschaft, die deutlich machten, dass Napoleon sich offenbar den Monarchien Europas anzupassen versuchte, um so von gleich zu gleich den alten Fürstenhäusern entgegenzutreten. Die Neuere Kulturgeschichte spricht gerne von dem Vorgang der »Akkulturation« und meint dabei vor allem die autonome Anpas5 Für das Folgende Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien R¦gime zum Wiener Kongress. 4. überarb. Aufl. München 2001, S. 38 ff.; s. dazu im Detail auch Willms, Napoleon, S. 373 ff. 6 Willms: Napoleon, S. 379.

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sung der Kultur der unteren Gesellschaftsschichten an höhere Formen der Lebenskultur : also nicht nur Anpassung, sondern auch Umformung und ganz eigene Aneignung, d. h. Ausfüllung mit »Eigen-Sinn«7. An Napoleon lässt sich dieser Prozess der Akkulturation sehr anschaulich beobachten. Das aber war nur die eine Seite seiner Herrschaft über Europa. Auf der anderen Seite hielt er an den politisch-gesellschaftlichen Errungenschaften der Revolution fest und versuchte sie auch in die eroberten Gebiete zu exportieren. »Je suis la r¦volution francaise« – »ich bin die Französische Revolution« – mit diesem Satz ist er in Frankreich an die Macht gekommen und ihn versuchte er nun auch in den eroberten Ländern durchzusetzen8. Schon mit der Familienpolitik und der Einheiratung wollte er deutlich machen, dass es ihm nicht allein um Annexion ging, nicht einfach um Einverleibung der eroberten Gebiete, sondern diese Länder sollten auch ihre relative Unabhängigkeit bewahren. Das Konzept der Tochterrepubliken (der »r¦publiques soeurs«) blieb weiterhin aufrechterhalten. Das Zauberwort lautete: Souveränität, die diesen Staaten übertragen wurde9. Das wurde zu einem wichtigen Punkt in der künftigen Entwicklung all dieser Staaten, die süddeutschen Herrschaftsgebiete etwa (Bayern, Baden, Württemberg) wollten diese Souveränität später nicht mehr abgeben – auch von daher war der Entwicklung zu einem deutschen Nationalstaat hier bereits ein Riegel vorgeschoben worden. Ja man kann sagen, dass die spätere Gründung des Deutschen Bundes von 1815 als eines Staatenbundes bereits durch die napoleonische Politik der Souveräntitäsverleihung in gewisser Weise präjudiziert wurde. Eine paradoxe Wirkung: der Mann, der territoriale Ordnung in die deutschen Verhältnisse brachte und zugleich eine bislang ungekannte Nationalisierungswelle, die sich auch am Rheinbundmodell orientierte10, in Deutschland auslöste, blockierte wiederum mit seiner Politik den Weg zu einem deutschen Nationalstaat, der bekanntlich erst ein dreiviertel Jahrhundert später beschritten wurde. Das zweite neben der Verleihung der staatlichen Souveränität (die in manchen Gebieten wie etwa in Sachsen-Weimar-Eisenach, wo Goethe gemeinsam mit Carl August »residierte«, in der Tat eine relativ weitgehende Autonomie nach sich zog) war die Verfassungspolitik, d. h. die Übertragung revolutionärer Ver-

7 Grundlegend dazu Robert Muchembled: Kultur des Volks – Kultur der Eliten: Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 1982. 8 Fehrenbach: Ancien R¦gime, zit. S.39. 9 Vgl. Eberhard Weis: Napoleon und der Rheinbund, in: Ders. (Hg.): Deutschland und Frankreich um 1800. Aufklärung, Revolution, Reform, München 1990, S. 196 ff. 10 Vgl. dazu Gerhard Schuck: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik. Stuttgart 1994.

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fassungselemente auf die eroberten Gebiete11. Damit wurde schon zur Zeit der Tochterrepubliken von 1795 bis 1799 begonnen und dies wurde jetzt durch die Umformung in regelrechte Satellitenstaaten noch weiter fortgeführt. Alle Gebiete waren von dieser mehr oder weniger modernen Verfassungspolitik ergriffen und sie sollte ebenfalls im 19. Jahrhundert ein Eckpfeiler des liberalnationalen Kampfes in diesen Ländern werden. Ob das in Holland oder in der Schweiz, in Italien (d. h. der wiederrichteten Cisalpinischen und Ligurischen Republik und dann den beiden Königreichen Italien und Neapel) oder in Polen und Spanien war, überall führte Napoleon Verfassungen nach französischem Vorbild ein, die mehr oder weniger funktionierten und den Ländern einen wichtigen Anschub für die späteren Kämpfe um nationale Einheit und gesellschaftliche Modernisierung gaben. Hier fand gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein ganz wichtiger, wenn nicht überhaupt der entscheidende Modernisierungsschub statt. Die Schweiz hatte 1803 eine sog. Mediationsakte erhalten, die den alten Staatenbund wiederherstellen sollte, weil der Bürgerkrieg dem Land keine Ruhe ließ. In den italienischen Gebieten hatte die zweite französische Expansion seit 1800 eine Dreiteilung des Landes nach sich gezogen, wobei die oberitalienischen Gebiete ganz von Frankreich annektiert und als Departements verwaltet wurden, während die Revolutionierung im Königreich Neapel erst 1806 einsetzte. Polen hatte gleich nach der Schaffung des Großherzogtums Warschau im Juli 1807 eine Verfassung erhalten, die das französische Modell, d. h. die Gleichheit der Bürger und ihr Schutz durch unabhängige Gerichte auf Polen übertrug (die Rechtsgleichheit wurde hier allerdings nicht auf die Juden übertragen). Die Exekutive lag beim König von Sachsen, der ja mit dem neu geschaffenen Großherzogtum in Personalunion stand und zugleich Mitglied des napoleonischen Rheinbundes war (ihm war jedoch ein Ministerrat zur Seite gestellt, der von einem französischen Botschafter kontrolliert wurde, so dass das Großherzogtum Warschau faktisch ein Satellitenstaat Napoleons war). Auch in Spanien war es 1808 zum Erlass einer Verfassung gekommen, die allerdings wegen des gleichzeitig ausbrechenden Aufstandes nicht mehr als ein theoretisches Programm blieb, das kaum Wirkung in der Praxis zeigte. Spanien sollte auch das napoleonische Imperium ins Wanken bringen. In Deutschland schließlich hatte Napoleon mit der Errichtung des Rheinbundes von 1806 sich eine ganz wichtige und auch territorial enorm große Einflusssphäre geschaffen12. Deutschland zerfiel damit in drei große Teile: Österreich, Preußen und den Rheinbund. Der Rheinbund umfasste zunächst 11 Vgl. zum Folgenden: Bernd Wunder : Europäische Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution 1789 – 1815, Stuttgart 2001, S. 148 ff. 12 Vgl. zum Folgenden im Überblick: Fehrenbach: Ancien R¦gime. S.82 ff.

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16 süd- und westdeutsche Gebiete, in der Folge traten weitere hinzu, am Ende waren es zeitweise 37 Staaten. Mit dem Anschluss Sachsens 1807 und der beiden Mecklenburg und Oldenburgs 1808 erreichte der Rheinbund seine größte Ausdehnung, indem er nun bis zur Ostsee reichte und einen regelrechten Keil zwischen Preußen und Österreich schob (genauso wie Napoleon sich dies auch vorgestellt hatte). Man kann (und die Forschung hat sich darauf geeinigt) die Rheinbundgebiete der Übersicht halber in drei »Gürtel« einteilen13 : 1. Die klassischen Rheinbundstaaten im Süden bzw. Südwesten Deutschlands (Bayern, Württemberg und Baden), in welchen der napoleonische Modernisierungsimpuls auf einen fruchtbaren reformabsolutistischen Boden fiel; 2. die sogenannten »Modellstaaten« (das Großherzogtum Berg sowie das neu geschaffene Königreich Westphalen), die das napoleonische Vorbild am meisten kopierten und auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen suchten. Und schließlich: 3. Die Mittel- und Norddeutschen Staaten, die am wenigsten den Einfluss des napoleonischen Systems erlebten, auch weil sich dort am wenigsten territorial veränderte, so dass eine Reformtätigkeit nicht unbedingt erforderlich war (wie z. B. im Kleinstaat Sachsen-Weimar-Eisenach, in welchem Goethe wirkte). Der Rheinbund war gewiss in erster Linie »ein reines Militärbündnis«, wie Eberhard Weis dies einmal formulierte, ein Truppenaufmarschgebiet, das Napoleon Unterstützung und Hilfe sowie Kontributionen und Kriegslasten zu leisten hatte. Insgesamt rund 120.000 Soldaten stellte dieses »Dritte Deutschland« Napoleon zur Verfügung: Ein Offensiv- und Defensiv-Bündnis, das der Ausweitung und Absicherung des französischen Kaiserreichs diente14. Aber der Rheinbund war zugleich mehr als dies: Er stellte auch ein Modernisierungsmodell ersten Ranges dar, das Deutschland (wie den anderen europäischen Satellitenstaaten) einen wichtigen Impuls, ja wahrscheinlich den entscheidenden Impuls auf dem Weg in die Moderne gab. Schon der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, der nach dem Friede von Lun¦ville (1801) die Entschädigungsfrage regelte und das große Reformwerk von Säkularisation der Klöster und Mediatisierung der kleinen und mittleren Staaten bewerkstelligte, stellte eine territoriale Flurbereinigung, eine »Territorialrevolution« dar, auf welcher dann die Reformen des Rheinbundes auf- und weiterbauen konnten. Ohne Napoleon – das muss man deutlich sagen – hätte Deutschland dieses enorme 13 Vgl. zum Folgenden im einzelnen Helmut Berding/ Hans-Peter Ullmann: Veränderungen in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.): Deutschland zwischen Revolution und Restauration. Königstein/Ts. 1981, S.11 – 40. 14 Eberhard Weis: Napoleon und der Rheinbund, in: Ders. (Hg.): Deutschland und Frankreich um 1800. Aufklärung, Revolution, Reform, München 1990, S. 186 – 217, zit. S. 186.

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Reformwerk so schnell und so grundstürzend (so qualitativ neuartig!) niemals geschafft. Von daher war die napoleonische Herrschaft mehr als eine bloße »Fremdherrschaft«, das muss man gerade heute wieder deutlich betonen: die alte nationale Lesart der deutschen, borussischen Historiographie seit Heinrich von Treitschke war auch eine preußische Propaganda und eine konservative Ideologie. Bis in die 1970er Jahre herrschte sie vor und prägte das Bild von der Franzosenzeit als einer fremden ausbeuterischen Herrschaft. Heute wissen wir wesentlich mehr über das Reformwerk in den einzelnen Rheinbundstaaten, und die Rheinbundreformen stehen heute durchaus gleichberechtigt neben den großen preußischen Reformen, den Stein-Hardenbergschen Reformen, die jahrzehntelang gegen das napoleonische Reformwerk ausgespielt wurden15. Von daher hat der erste Satz des bekannten Werkes von Thomas Nipperdey zum 19. Jahrhundert für Deutschland ebenso wie für Europa seine volle Berechtigung, wenn er in gleichsam biblischer Anleihe schrieb: »Am Anfang war Napoleon«16. Auch Goethe sah dies erstaunlicherweise schon so, auch für ihn stand Napoleon am Anfang einer ganz neuen, modernen Entwicklung, gegen die der Weimarer Dichterfürst sich eigentlich zeit seines Lebens gesträubt hatte. Napoleon verkörperte die moderne Welt und Goethe immer noch das Ancien R¦gime17. Zu einer ersten Begegnung hätte es schon unmittelbar nach der für Preußen so verheerenden Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 kommen sollen18. Napoleon ritt nämlich am Nachmittag des darauffolgenden 15 Vgl. zur Forschung den besten Überblick über die Forschung bei Fehrenbach: Ancien R¦gime, S. 213 ff.; s. im Einzelnen auch: dies.: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napol¦on in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974, 3. Aufl. 1983; Helmut Berding: Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807 – 1813, Göttingen 1973; Eberhard Weis (Hg.): Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984; zu den Rheinbundreformen in Sachsen-WeimarEisenach vgl. die für Dezember 2014 angekündigte, kommentierte Quellenedition: Gerhard Müller (Bearb.): Thüringische Staaten. Sachsen-Weimar-Eisenach 1806 – 1813 (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; 9), München 2014. 16 Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München zweite unver. Aufl. 1984, S. 11; s. aber auch die durchaus wieder relativierenden Ausführungen bei der Behandlung der rheinbündischen Reformen ebd. S. 78 f. 17 Vgl. zum Folgenden den dichten, fast ausschließlich auf die Weimarer Verhältnisse konzentrierten, den Kontext jedoch weitgehend vernachlässigenden Essay von Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, München 2008. 18 Vgl. zur Schlacht und ihrer Wirkung im 19. Jahrhundert: Hans-Werner Hahn: »Ohne Jena kein Sedan«. Die Erfahrung der Niederlage von 1806 und ihre Bedeutung für die deutsche Politik und Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 285 (2007), S. 599 – 642; ders.: Die Schlacht von Jena und Auerstedt und die deutsche Politik zwischen 1806 und 1871, in: K. Breitenborn/J.H. Ulbricht (Hg.): Jena und Auerstedt. Ereignis und Erinnerung in europäischer, nationaler und regionaler Perspektive, Dößel 2007, S. 51 – 78.

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Tages, am 15. Oktober also, in den Hof des Weimarer Schlosses ein. Auf dem Treppenaufgang traf er die tapfere Gattin des immer noch in preußischen Diensten stehenden Weimarer Herzogs Carl August, die Herzogin Luise aus dem Hause Hessen-Darmstadt, die ihn wahrscheinlich nicht nur wegen ihres Namens, sondern auch aufgrund ihres ganzen Auftretens an die preußische Luise erinnerte. Bei dem ersten Zusammentreffen jedenfalls, der berühmten Treppenszene im Weimarer Schloss, hatte die Herzogin noch keine Chance, ihren Mut unter Beweis zu stellen; denn Napoleon, der gerade Preußen und damit auch den Weimarer Herzog fulminant geschlagen hatte, schleuderte ihr nur im Vorbeigehen auf dem Weg nach oben die Worte entgegen: »Je vous plains, Madame: j’¦craserai vortre mari«19. In der Tat war es Napoleons Absicht, den Weimarer Herzog politisch zu vernichten. Goethe hatte wahrscheinlich von dieser Szene gehört, sehr schnell hatte sie sich in Weimar herum gesprochen; und vielleicht war die Kunde davon auch der Grund, weshalb Goethe sich am darauffolgenden Tag, dem 16. Oktober, nicht im Schloss einfand. An jenem Tag sollte nämlich eine kleine Audienz beim Kaiser und neuen Herrscher von Weimar stattfinden. Die beiden Vertreter des Geheimen Consiliums, die Weimarer Geheimräte Voigt und Wolzogen wollten Napoleon von der kulturellen Bedeutung Weimars überzeugen und ihrem Wunsch Ausdruck verleihen, dass das kleine Herzogtum daher auf gar keinen Fall vom französischen Staat geschluckt oder in ein anderes fremdes Territorium integriert werden dürfe. Wolzogen gab die Losung aus: »Seine Kaiserliche Majestät möge geruhen, Weimar als einen Sammelpunkte der deutschen Literatur anzusehen, und gestatten, daß die Vertreter der Regierung des Glückes teilhaftig würden, Seiner Kaiserlichen Majestät ihre respektvolle Ehrfurcht zu bezeigen und den Ausdruck ihrer vollkommenen Unterwerfung vor seinen Thron zu bringen«20. Kein anderer konnte diesem Wunsch mehr Nachdruck verleihen als Goethe: Er sollte gewissermaßen als die Personifizierung der Weimarer Kultur schlechthin vor Napoleon treten und allein durch sein Erscheinen den Imperator besänftigen und überzeugen. Aber Goethe kam nicht. Am Tage zuvor hatte er alle Hände voll zu tun mit der »Sicherung« seines Hauses, wie er im Tagebuch vermerkte21: Französische Soldaten waren nämlich am Abend nach der Schlacht, besser gesagt tief in der Nacht in Goethes Wohnhaus eingedrungen. Friedrich Wilhelm Riemer, damals Goethes rechte Hand, versuchte sie noch zu beschwichtigen, doch als dies nicht gelang, rief er nach Goethe, der »obgleich schon ausgekleidet und nur im weiten Nachtrock« die Treppe hinab schritt und mit »Ehrfurcht gebietender Gestalt« und »geistvolle(r)

19 Zit. nach Seibt, Goethe, S. 14. 20 Ebd., S. 27. 21 Ebd., S. 23.

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Miene« die Soldaten zu besänftigen wusste22. Was Riemer allerdings nicht wusste und erst am Morgen des 15. Oktober erfuhr, war, dass die beiden französischen Marodeurs nicht sogleich zu Bett gingen, sondern »dem Hausherrn auf das Zimmer gerückt« waren und »sein Leben bedroht« hatten23. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich auch diese Nachricht durch Weimar und wurde mit Gerüchten weiter ausgeschmückt: Christiane Vulpius, die Lebensgefährtin Goethes, habe sich vor den Dichter geworfen und ihn auf die Weise gerettet, dass sie den französischen Soldaten ein paar silberne Leuchter schenkte und so weiter und so fort. Gleichwie die Gerüchteküche in Weimar brodelte, Goethe stand in jenen Tagen tatsächlich ganz erheblich unter Druck: »schrecklich«, notierte er nur kurz ins Tagebuch24 ; vor allem um seine »Papiere«, die noch nicht zum Druck gebracht waren, machte er sich die meiste Sorge. In dieser Situation war es nur allzu verständlich, dass er einen Tag später, am 16. Oktober, nicht zur Audienz bei Napoleon erschien. Er entschuldigte sich mit einer kleinen Bleistiftnotiz, die er dem Geheimrat Voigt überbringen ließ: »In dem schrecklichen Augenblicke ergreift mich mein altes Übel. Entschuldigen Sie mein Außenbleiben«25. Über das angesprochene »Übel« ist viel spekuliert worden. Man hat sich in der Forschung mehrheitlich auf die schmerzhaften Nierenkoliken geeinigt, die Goethe seit geraumer Zeit heimsuchten und die er tatsächlich selbst häufig als das »Übel« bezeichnete. Aber wahrscheinlich hat der Feuilletonist und Literaturkritiker Gustav Seibt, der sich sehr intensiv mit dieser Materie beschäftigt hat, recht, wenn er behauptet, dass Goethe wohl in erster Linie »gekniffen« habe26 ; denn schon ein paar Tage später schrieb er an Schelling, indem er auf die »schrecklich dringenden Ereignisse« zurückblickte, einen Brief, den er mit den dekuvrierenden Worten begann: »Meine Gesundheit hat kaum gewankt, und ich befinde mich seit meiner Rückkehr aus Carlsbad (wo er sich in der ersten Jahreshälfte aufhielt, K.R.) unausgesetzt so wohl, als ich nur wünschen darf«27. Außerdem war Goethe seit dem 14. Oktober bis ans Monatsende fast jeden Tag am Weimarer Hof, aber eben gerade nicht an jenem 16. Oktober, wo die Audienz stattfinden sollte. Goethe hatte wahrscheinlich von der ungestümen Art Napoleons gehört, wie dieser der Weimarer Herzogin am Tag zuvor begegnet war, und es vorgezogen, nicht oder besser noch nicht mit dem Kaiser direkt in Kontakt zu treten. Aber auch diese Nicht-Begegnung hatte eine enorme Wirkung auf das Leben Goethes28. Die politische Krise unmittelbar nach der Schlacht vom 22 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd. Zum Folgenden ebd., S. 30 ff.

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14. Oktober 1806 löste zweierlei bei Goethe aus: Zum einen heiratete er nun endlich seine – wie er schrieb – »kleine Freundin«, Christiane Vulpius, mit der er schon lange liiert war und auch einen gemeinsamen Sohn, August, hatte, der im Krisenjahr 1806 bereits 17 Jahre alt war und gleich als Trauzeuge (neben Riemer) fungieren konnte (in die Trauringe ließ er übrigens den 14. Oktober eingravieren, obwohl die Hochzeit ein paar Tage später stattfand). Und zum anderen regelte Goethe nunmehr seine Eigentumsverhältnisse, indem er dem Herzog in einem grandios formulierten Brief klarmachte, dass er das von diesem urkundlich geschenkte Haus am Frauenplan zu vollem Eigentum erwerben möchte, um so für seine Erben klare und sichere Verhältnisse zu schaffen: »Wenn alle Bande sich lösen, wird man zu dem häuslichen zurückgewiesen, und überhaupt mag man jetzt nur gerne nach innen sehen« – so schrieb er an den Herzog nicht ohne einen augenzwinkernden Verweis auf den Umstand, dass dessen Geliebte, die Schauspielerin Caroline Jagemann, diesem gerade einen Sohn geschenkt hatte. Carl August gab sogleich klein bei, obwohl er erst jetzt beiläufig von der Heirat seines Freundes erfahren hatte, und gewährte ihm das volle Eigentum am Haus mit dem freundschaftlichen Zusatz: »genieße lange diese angenehme Lage!«29. Hier kann man Seibt folgen, wenn er die Anforderung und die Handlung Goethes wie folgt interpretiert: »Was Goethe vom Herzog begehrte, war im Kern eine Verminderung der Abhängigkeit, wenn man so will: bürgerliche Selbständigkeit an Stelle feudaler Gnade«. In Goethe vollzog sich sozusagen der »Strom der Zeit«: erst jetzt wurde er »zu einem regelrechten bürgerlichen Familienvater und Hausbesitzer« und streifte dabei die »höfischfeudale(n) Züge seiner Existenz« ab30. Die moderne Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft vollzog sich sozusagen in der Person Goethes. Die bloße Anwesenheit Napoleons, des Modernisierers Europas, hatte offenbar auch den klassischen Repräsentanten des Ancien R¦gime in Bewegung gesetzt: Von dem Imperator ging eine Anziehungskraft aus, der sich auch ein Goethe nicht entziehen konnte. Der Weimarer Dichterfürst war mit einem Schlage zu einem modernen Staatsbürger geworden. Das war der erste, rein virtuelle Kontakt, der bereits Enormes bewirkte, viel mehr hätte auch eine persönliche Zusammenkunft nicht ausrichten können. Es sollte nochmals zwei Jahre dauern, bis Goethe und Napoleon direkt aufeinander trafen: Der Anlass war der Erfurter Fürstenkongress, den Napoleon vom 27. September bis zum 14. Oktober 1808 in der thüringischen Stadt inszenieren ließ und bei dem sich die beiden Größen von Macht und Geist am Vormittag des 2. Oktober zum ersten Mal persönlich trafen31. Mittlerweile war 29 Ebd., S. 36. 30 Ebd., S. 36 f. 31 Vgl. zum Erfurter Fürstentag die Beiträge in: Rudolf Benl (Hg.): Der Erfurter Fürstenkon-

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einiges passiert in Sachsen-Weimar-Eisenach wie überhaupt im deutschen Staatengebiet und in Europa nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation32. Das kleine Herzogtum hatte es tatsächlich geschafft, seine Souveränität aufrechtzuerhalten33. Im Frieden von Posen am 11. Dezember 1806, der den Kriegszustand zwischen Frankreich und dem mit Preußen verbündeten Kurfürstentum Sachsen beendete, konnte Weimar als »souveräner Staat« in den von Napoleon gegründeten Rheinbund aufgenommen werden. Dem kleinen Weimarer Herzogtum war es gelungen, »souverän« zu bleiben. Das war mehr als erstaunlich, denn Napoleon hatte wirklich (und auch durchaus verständlicherweise) vor, mit dem einzigen thüringischen Staat, der sich im Herbst 1806 mit ihm im Kriegszustand befunden hatte, hart ins Gericht zu gehen, zumal sich der Herzog, Carl August, zunächst einfach nicht blicken ließ, um mit ihm zu verhandeln – das mindeste, was man verlangen konnte! Binnen 24 Stunden habe er im Weimarer Schloss zu erscheinen, tobte der Kaiser, ansonsten drohe ihm der Thronverlust. Der Geheime Rat Wolzogen schrieb am 17. Oktober an Carl August: »In vier Tagen sind viele Jahrhunderte durchlebt, so häufen sich die Begebenheiten. Der Kaiser Bonaparte hat es nicht gut aufgenommen, daß Euer Durchlaucht gegen die Franzosen dienen und Kontingent gestellt haben. Das Land wird als feindlich angesehen und behandelt – und vielleicht ganz weggenommen, wenn nicht schleunige Maßregeln getroffen werden«34. Dass es dann doch nicht dazu kam, dass das Land »ganz weggenommen«, sondern vielmehr als souveräner Staat dem Rheinbund angegliedert wurde, hatte viele Gründe, über die bis heute in der Forschung gestritten wird35. Ein ganz wesentlicher ist gewiss die Tatsache, dass Napoleon auf die russische Verwandtschaft des Weimarer Herzogshauses Rücksicht nahm, war doch die Schwiegertochter Carl Augusts, die Erbherzogin Maria Pawlowna, die jüngere Schwester des russischen Zaren Alexander I. Ein anderer ebenfalls nicht un-

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greß 1808: Hintergründe, Ablauf, Wirkung, Erfurt 2008; s. a. Gunther Mai: Das Erfurter Kaisertreffen 1808: höfisches Zeremoniell – symbolische Ordnung – inszenierte Macht. In: Zeitschrift für thüringische Geschichte, 2010/64, S. 269 – 300. Vgl. dazu Hahn/Berding: Reformen, S. 35 ff; s.a. zur Neubewertung der thüringischen Kleinstaatenwelt in der Forschung: Hans-Werner Hahn: Thüringen im 19. Jahrhundert. Paradigmenwechsel in der Erforschung kleinstaatlicher Strukturen und politisch-sozialer Wandlungsprozesse, in: Matthias Werner (Hg.): Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 377 – 404. Vgl. zum Folgenden Werner Greiling: Napoleon in Thüringen. Wirkung – Wahrnehmung – Erinnerung, Erfurt 2006, S. 85 ff. Ebd., S. 90. Vgl. Gerhard Müller : Friedrich von Müller, Goethe und der Rheinbund, in: Detlef Ignasiak/ Frank Lindner (Hg.), Goethe-Spuren in Literatur, Kunst, Philosophie, Politik, Pädagogik und Übersetzung, Bucha bei Jena 2009, S. 70 – 84 sowie ders., Kultur als Politik in SachsenWeimar-Eisenach, in: Lothar Ehrlich/Georg Schmidt (Hg.): Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 67 – 84.

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wichtiger Grund bestand darin, dass Weimar als kulturelles Zentrum neben dem zeitweisen Wegfall von Berlin nach der verheerenden Niederlage Preußens immer mehr an Bedeutung, nunmehr auch an politischer Bedeutung gewann, was nicht zuletzt von Goethe und anderen Kulturbeflissenen in Weimar ganz bewusst gegenüber Napoleon ins Spiel gebracht wurde. Die (von dem bekannten Philosophen Hans Blumenberg sogenannte) »Arbeit am Mythos« begann nicht erst 1806/08, sondern bereits vorher, aber sie wurde ab dann ganz entscheidend forciert, und zwar vor allem dadurch, dass Goethe es verstanden hatte, »dem fremden Blick« des Kaisers »unverwandt standzuhalten«36. In der prekären Situation von 1806 wurde die spätestens seit dem Friede von Basel 1795 und der damit für Norddeutschland einkehrenden, rund zehnjährigen Ruhephase immer wieder inszenierte und vielbeschworene Kultur von Weimar-Jena, jene interessante Mischung von Klassik, Idealismus und Romantik, zu einer politischen Ressource ersten Ranges37. Man muss allerdings gleich hinzufügen, dass Weimar in Frankreich, ja überhaupt in Europa längst eine feste Größe war, in gewisser Weise bereits ein kultureller Exportschlager darstellte38. Dafür hatten Männer wie Wilhelm von Humboldt, der 1797 für kurze Zeit nach Paris ging, und vor allem Karl August Böttiger, die Klatschbase der Weimarer Klassik, längst gesorgt. Gerade der »Klatschjournalist« (Seibt) Böttiger, seit 1791 Direktor des Weimarer Gymnasiums und einer der besten Bekannten Wielands und selbst bemühter Literat, war Ende der 1790er Jahren wohl die Informationsquelle schlechthin in Paris39. Er tauschte sich, gewiss nicht uneigennützig und weniger im Sinne einer offiziellen Propagandastrategie, permament mit Aubin-Louis Millin, dem Konservator der Antikensammlung in der Pariser Nationalbibliothek und Redakteur des europaweit bekannten »Magasin encyclop¦dique«, aus40. Millin wiederum, Literat und Kunstbessener, der während der Jakobinerdikatur im Gefängnis gesessen hatte, war an allem und jedem, was Kunst betraf, und vor allem an Weimar im besonderen interessiert. Die Wieland- und Schiller-Rezeption in Paris gehen wohl im Wesentlichen auf 36 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 2006, S. 513. 37 Vgl. zu diesem Konzept und seiner Umsetzung in Sachsen-Weimar-Eisenach nach 1806: Klaus Ries: Kultur als Politik. Das »Ereignis Weimar-Jena« und die Möglichkeiten und Grenzen einer »Kulturgeschichte des Politischen«, in: HZ 2007/285, S. 303 – 354. 38 Vgl. die ersten Ansätze für diesen spannungsreichen Komplex bei: Alexander Schmidt: Prestige, Kultur und Außendarstellung. Überlegungen zur Politik Sachsen-Weimar-Eisenachs im Rheinbund (1806 – 1813), in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 06/ 2005/ 59/60, S. 177 ff. 39 Vgl. zu Böttiger Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760 – 1835). Weltmann und Gelehrter. Heidelberg 2006. 40 Vgl. dazu GeneviÀve Espagne/B¦n¦dicte Savoy (Hg.): Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclop¦dique – Les lettres — Karl August Böttiger. (Europaea Memoria. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen 41) Hildesheim 2005.

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diesen deutsch-französischen Kulturtransfer, der in Böttiger und Millin seine frühen Protagonisten fand, zurück. Im »Magasin encyclop¦dique« erschien im Oktober 1805 ein über vierzigseitiger Nachruf auf den soeben verstorbenen Friedrich Schiller ; und Johann Gottfried Herder war ebenfalls kurz nach seinem Tod Ende 1803 in den »Archives litt¦raires de l’Europe« in aller Breite gewürdigt worden. Beide Nachrufe strichen Weimar – getreu dem alten Diktum Wielands – als das »Athen Deutschlands« heraus, das der Herzog zum »Zentrum der Aufklärung und zum Gerichtshof des guten Geschmacks« gemacht habe41. Wilhelm von Humboldt wirkte in seiner Pariser Zeit von 1797 bis 1799 wohl in die gleiche Richtung. Das heißt: Schon lange vor Madame de StaÚls Werbung, die mit ihrem Aufenthalt an der Ilm 1803/04 einsetzte und in ihrer Publikation »De l’Allemagne« 1813 den Höhepunkt fand, war Weimar auch in Paris als kultureller Faktor bekannt. Allein im Moniteur waren vor 1806 zahlreiche Artikel erschienen, in welchen Weimar mehrfach auf der Titelseite auftauchte und u. a. über das Weimarer Erziehungsinstitut, das nunmehr Jean Joseph Mounier, der ehemals erste Präsident der Pariser Nationalversammlung, leitete, berichtet wurde42. Es ist gewiss nicht übertrieben, zu behaupten, dass das europaweit und vor allem in Frankreich bereits vorhandene Wissen um die Bedeutung der Kultur WeimarJenas bei Napoleon eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich seines anfänglich ungestümen Wunsches nach Zerschlagung oder Zerstückelung des ernestinischen Kleinstaates befördert hat43. Schon beim zweiten Zusammentreffen mit der Weimarer Herzogin Luise im Schloss am 16. Oktober deutete Napoleon an, dass er »gesprächsbereit« sei44 und beim sofortigen Ausscheiden des Herzogs aus preußischen Diensten eventuell dessen Land verschonen wolle45. Ein Jahr später, noch aus dem Hauptquartier von Tilsit während der Friedensverhandlungen Anfang Juli 1807, kondolierte der Kaiser bereits dem Weimarer Herzog zum Tod der Mutter (und Obervormünderin) Anna Amalia, unterzeichnet hatte er das Kondolenzschreiben an den ein Jahr zuvor noch auf preußischer Seite kämpfenden Landesherrn mit: »Votre Cousin«46. Noch bevor der Frieden mit Sachsen-Weimar geschlossen und der Eintritt in den Rheinbund vollzogen wurde, ließ Goethe über den Weimarer Kunsthisto41 Zit. nach Ereignis Weimar. Anna Amalia, Carl August und das Entstehen der Klassik 1757 – 1807. Katalog zur Ausstellung im Schlossmuseum Weimar. Hrsg. v. d. Klassik Stiftung Weimar u. d. SFB 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« der FSU Jena. Weimar 2007, S. 286. 42 Vgl. die Auswertung bei Schmidt, Prestige, S. 178 f. 43 Vgl. dazu Hans Tümmler : Carl August von Weimar, Goethes Freund. Eine vorwiegend politische Biographie. Stuttgart 1978, S. 158 ff. 44 Seibt: Goethe, S. 14. 45 Tümmler : Carl August, S. 160. 46 Zit. n. Ereignis Weimar, S. 294.

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riker und Romanisten Carl Ludwig Fernow seine kultur-nationale Haltung durchsickern, die fortan als programmatische Leitlinie der Politik SachsenWeimar-Eisenachs gelten konnte: Auch er, Goethe, würde gewiss trauern »um des Deutschen Reiches Untergang, aber Deutschland, u. was mehr ist, Deutscher Geist, Deutsche Bildung, Deutsche Sprache wird nicht untergehen, was für Calamitäten uns auch noch treffen mögen. Wie könnte das je untergehen, was Deutscher Geist für die Bildung der Menschheit gewirkt hat! (…) Möchten doch nun unsere deutschen Autoren, die eigentlich jetzt kein anderes Vaterland mehr haben, als das literarische, das Gebäude, in dem sie geistig wohnen, desto mehr in Ehren halten u. desto eifriger aus- und anbauen. Können wir unsere Literatur blühend erhalten oder nur vervollkommnen, so wird uns niemand, im Gegenteil, wir werden endlich unseren Besieger überwinden (…). Behalten wir nur eine Literatur, so bleiben wir auch eine Nation; und wenn unsere Schriftsteller (…) alle ihre Kraft u. ihren Nationalgeist aufbieten, sie zu immer höherer Vollkommenheit auszubilden, so werden wir die Zeit der Trübsal nicht nur glücklich überstehen, sondern auch geläutert im Feuer derselben (…) siegreich aus dem langen Kampfe hervorgehen, wenn längst die Gebeine unserer stolzen Eroberer zu ihren Vätern versammelt sind«47. Die deutsche Kultur mit ihrem Mittelpunkt in Weimar hochhalten, um die eigene kulturelle Existenz zu sichern und auszubauen: Das war die Linie, die man fortan in Sachsen-Weimar-Eisenach verfolgte, und dies entsprach auch ganz der Vorstellung des Weimarer Regierungsrates Voigt, der schon kurz nach der Schlacht von 1806 die Losung ausgab: »Nur durch unsere Literatur bleiben wir noch Deutsche«48. Kultur im weitesten Sinne wurde jetzt immer deutlicher, viel deutlicher als je zuvor, zum nationalpolitischen Instrument, ja zum Kampfmittel politisch-territorialer Selbsterhaltung. Neben der kulturellen Arbeit und ganz eng mit ihr in Verbindung stand die eigentliche Politik, die vom Herzog in dem ihm noch verbliebenen Handlungsrahmen weiter betrieben wurde. Carl August machte keinen Hehl aus seiner antinapoleonischen Haltung. Er, der Großneffe Friedrichs des Großen, verachtete allein schon aus geburtsständischer Distinktion den Korsen, der aus dem Sumpf der Revolution emporgestiegen und dem er sich schon deswegen nicht zu unterwerfen gewillt war. Außerdem hatte Carl August, wenn auch erfolglos, seit den 1780er Jahren mit seiner Fürstenbundpolitik in gewisser Weise eine zwischen den beiden Großmächten stehende politische Einheitsidee des Dritten Deutschlands verfolgt, die er nie so richtig aufgab und nun zu seinem 47 Fernow an Böttiger v. 30. 11. 1806 zit. aus dem Nachlass Böttiger nach Gerhard Müller : Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena. Heidelberg 2006, S. 538. 48 Zit. n. Hans Tümmler : Die Zeit Carl Augusts von Weimar 1775 – 1828, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. 5,1,2: Politische Geschichte in der Neuzeit, Köln/Wien 1984, S. 646 – 672, hier S. 649.

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Missfallen im napoleonischen Rheinbund fatalerweise verwirklicht sehen musste49. Auch dies hat seine »nationalen« Vorbehalte gegen das »Militärbündnis« napoleonischer Provenienz gewiss befördert. Noch Ende 1806 hegte er den Plan, eine »deutsche politische Zeitung« zu gründen, die überregionale Verbreitung finden sollte und »auf den Geist und die Stimmung von Norddeutschland wirken könnte«50. Damit befand sich Carl August im Einklang mit der preußischen Kriegspartei, die zu jener Zeit eine Insurrektion gegen Frankreich in Norddeutschland plante. Der Weimarer Hauptverleger und Legationsrat Friedrich Justin Bertuch, dem er diesen Plan angetragen hatte, äußerte schwere Bedenken und begrub das Unternehmen, weil man in Weimar nicht mehr über die nötige infrastrukturelle Ausstattung zur deutschlandweiten Verbreitung einer solchen Zeitung verfügte und außerdem ein »tüchtiger, weltkluger« Redakteur (Bertuch dachte noch an den berühmten Schweizer Historiker Johannes von Müller, der gerade dabei war, zu Napoleon überzulaufen) fehlte51. Der Plan des Herzogs zur Gründung einer politischen Zeitschrift stand in auffälligem Zusammenhang mit der zur gleichen Zeit von Goethe gehegten Idee, mittels der Kultur im nördlichen Deutschland zu wirken. Anfang 1807 schrieb der Dichter erneut an Böttiger, dass man vor allem in Sachsen, das bislang von allen Erschütterungen weitgehend verschont geblieben sei und daher günstige Voraussetzungen für einen Neuanfang biete, »jetzt mehr als je zusammenhalten« möge, »da Dresden u. Leipzig, Jena u. Weimar künftig der Hauptsitz der germanischen Geisteskultur im nördlichen Deutschland bleiben dürften (…). Alle (…) Neckereien (…) würden jetzt höchst nachteilig werden, wenn sie dazu beitragen könnten, dass die Franzosen die einzige Achtung, die sie jetzt noch für die Deutschen haben könnten, die Achtung für unsere Kultur und für unser geistiges Streben, wovon sie jetzt als Augenzeugen genauer und besser als je unterrichtet werden können, verlieren müßten. Es sei also jetzt, wo alles auf der Spitze stehe, eine wahre Verräterei, mit dem alten Leichtsinne fortzufahren, Orte, welche als ein Sitz der Kultur, u. Männer, welche als tätige Beförderer derselben einige Ansprüche auf öffentliche Achtung haben können, unwürdig zu behandeln (…). Besonders müsse Weimar u. diejenigen in W[eimar], welche zum Teil dazu beigetragen haben, auch selbst in den Augen der Franzosen unsere 49 Vgl. zur Fürstenbundidee Carl Augusts vgl. Georg Schmidt: Reichspatriotische Visionen: Ernst II. von Sachsen-Gotha, Carl August von Sachsen-Weimar und der Fürstenbund (1785 – 1788), in: Werner Greiling/ Andreas Klinger/ Christoph Köhler (Hg.): Ernst II. von SachsenGotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Köln/ Weimar/ Wien 2005, S. 57 – 84. 50 Bertuch an Müller 1. 1. 1807 in: Hans Tümmler (Bearb.)/Willy Andreas (Hg.): Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Bd. 2, Stuttgart 1958, S. 408. 51 Ebd., S. 408 – 410, zit. S. 409.

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Literatur achtungswürdig zu machen, jetzt mit gebührender Rücksicht behandelt werden, um so mehr, da der K[aiser] Napoleon selbst auf W[eimar] aufmerksam geworden sei, so dass er den berühmten Johannes Müller in einer Unterredung gefragt hat, ob denn Weimar auch in Deutschland wegen seiner höheren Bildung in demselben Ansehen stehe wie bei den französischen Gelehrten?«52. Die Weimarer Kultur war ganz offensichtlich um 1806/07 zu einem politischen Machtfaktor geworden und es scheint so, als ob beide Kräfte, die politische Seite um Carl August und die geistig-kulturelle um Goethe, ineinander wirkten, ohne dass dies vielleicht in jedem Falle so intendiert gewesen war. Es ist daher wohl nicht nur eine »nationale« Übertreibung gewesen, wenn der preußische Offizier, Carl von Müffling, der bezeichnenderweise schon bald darauf in Weimarer Dienste eintreten sollte, aus der Rückschau in seinen Memoiren von 1844 schrieb: »Der geheime Plan des Herzogs von Weimar ging dahin, so wie seine Residenz bisher der Central-Punkt Deutschlands für Kunst und Wissenschaft war, es nun auch zum Central-Punkt der deutschen Freiheit zu machen, so weit die Verhältnisse es gestatteten, ohne die Aufmerksamkeit des französischen Machthabers auf sich zu ziehen, da ein so kleiner Staat, als das Herzogthum Weimar, sich nicht zu widersetzten vermochte«.53 Müffling formulierte hier klar und deutlich das Programm »Kultur als Politikersatz«, welches in Weimar zunehmend eine Rolle zu spielen begann. Vielleicht wirkte tatsächlich der Wegfall Berlins nach der Schlacht von 1806 als eines dezidiert kulturnational inszenierten Konkurrenzunternehmens zusätzlich beflügelnd auf die Weimarer Geisteselite: Die in Weimar stets vorhandene Betonung des Weltbürgerlichen, des »Universalistischen«, neben und zum Teil über dem Nationalen war auch ein Stück kompensatorischer Profilierung gegenüber Berlin, die nach der Zerschlagung Preußens in dieser Form nicht mehr vonnöten war. Mehrere Dinge wirkten also zusammen, um Weimar-Jena einen nationalen Anstrich geben zu können und auch zu geben. Aber man musste vorsichtig agieren, im »Geheimen«, wie Müffling meinte, weil man unter ständiger Beobachtung der französischen Geheimpolizei stand und »die russische Partie« nicht allein vor dem Zugriff Frankreichs ausreichen mochte. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Tatsache zu sehen, dass man von Seiten der Weimarer Herrschaft Napoleon antrug, bei der Taufe der Tochter Maria Pawlownas zu Beginn des Jahres 1808 Pate zu stehen, was dieser wiederum nur unter der Bedingung zusagte, dass er an erster Stelle (d. h. vor dem Weimarer Herzog!) genannt werde – eine Bedingung,

52 Fernow im Auftrag von Goethe an Böttiger v. 7. 1. 1807 zit. aus dem Nachlass Böttiger nach Müller, Regieren, S. 538 f. 53 Friedrich Carl Ferdinand Freiherr von Müffling: Aus meinem Leben. Zwei Theile in einem Band. Berlin 1851, S. 21.

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die man ihm schließlich auch gewährte54. Das war das Ausspielen der russischen Karte, um Zeit zu gewinnen und den Eroberer in Sicherheit zu wiegen55 ; für relativ wenig Einsatz konnte man ziemlich viel herausschlagen und zunächst einmal schien diese Strategie auch aufzugehen. Einen letzten Höhepunkt fand dieses »harmonische Miteinander« schließlich bei dem berühmt-berüchtigten Erfurter Fürstenkongress vom 27. September bis zum 14. Oktober 1808, den Napoleon eigentlich inszenierte, um den Zaren Alexander I. auf seine Seite zu ziehen, denn in Spanien hatte er sich durch die unrechtmäßige Absetzung des bourbonischen Königshauses unglaubwürdig gemacht und einen Aufstand provoziert, der wie ein Flächenbrand durchs Land zog und offenbar nicht mehr auszutreten war. Für kurze Zeit schien das Schreckgespenst eines Zweifrontenkrieges am Horizont, denn Österreich begann angesichts der spanischen Ereignisse mobil zu machen und eine Nationalkriegspropaganda, romantisch und militant zugleich, auszurufen, so dass Napoleon Macht demonstrieren musste. Erfurt, die einstige kurmainzische Exklave, mit dem Länderschacher im Gefolge des Lun¦viller Friedens von 1801 preußisch geworden und seit 1806 als »Domaine reserv¦e — l’Empereur« direkt dem Kaiser unterstellt, also gewissermaßen seine eigene, »persönliche« Stadt und Festung hatte er dafür ausersehen56. Noch nie zuvor hatte Erfurt, eine Stadt von gerade einmal 16.000 Einwohnern, einen derartigen Pomp erlebt: 54 Monarchen und Staatsmänner zählte man, neben den Kaisern und Königen 18 regierende Fürsten und Fürstinnen, sechs Erbprinzen sowie 24 weitere Prinzen und Minister, die meisten untergebracht in Bürgerhäusern, Napoleon logierte in der Statthalterei und der Weimarer Herzog in seinem Geleitshaus, der Zar am Anger unweit des Rathauses. Die Machtdemonstration bzw. -inszenierung Napoleons war ein voller Erfolg: »Ich habe damals in Erfurt nicht einen Mann gesehen«, so notierte der französische Außenminister Talleyrand, »nicht einen! der es gewagt hätte, furchtlos und frei die Hand auf die Mähne des Löwen zu legen«57. Politisch gesehen kam bei der ganzen Sache nicht viel heraus, man hat vielmehr den Eindruck, dass dieser Kongress tatsächlich viel eher bloß »tanzte« als der sieben Jahre später stattfindende Wiener Kongress, von dem dies bekanntlich gerne behauptet wird, bei dem jedoch in Wirklichkeit Bedeutendes für Europa – sowohl innen- als auch außenpolitisch – beschlossen wurde. In Erfurt 54 Dazu mit Quellenabdruck Hans Tümmler : Gevatter Napoleon. Ein Kapitel weimarischer Rheinbundpolitik aus dem Jahre 1808, in: Archiv für Kulturgeschichte 1970/52, S. 313 – 318. Zu allen Paten vgl. das Taufregister der Hofkirche Weimar für das Jahr 1808 im Kirchenarchiv Weimar. 55 Dagegen Schmidt: Prestige, S. 176, der dies als den Versuch, Prestigeverlust zu kompensieren, deutet. 56 Vgl. dazu nochmals Benl: Erfurter Fürstenkongreß. 57 Zit. nach Seibt: Goethe, S. 97.

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kam man nicht über Absichtserklärungen hinaus, der Zar und Napoleon versicherten sich gegenseitig des Friedens, der aber bekanntlich nicht lange hielt; vielleicht war es tatsächlich so, wie Talleyrand, der wendige und windige Außenminister Frankreichs, später in seinen Memoiren festhielt, dass er in Erfurt bereits Europa vor Napoleon gerettet habe, indem er insgeheim mit dem Zaren konferierte und solche Sätze losließ wie: »Das französische Volk ist zivilisiert, sein Herrscher ist es nicht; der Herrscher Russlands ist zivilisiert, und sein Volk ist es nicht. Daher sollte der Herrscher Russlands zum Verbündeten des französischen Volkes werden«58. Während der Zar begeistert war von der Brillianz und Formulierkunst des französischen Großkämmerers und sich dessen Wortspiele sogar auf Spickzettel notierte, damit er sie für Konferenzen bereithielt, sollte Napoleon später, als ihm allmählich klar wurde, welches Spiel Talleyrand in Erfurt schon betrieben hatte, diesem, nachdem er ihn entlassen hatte, die berühmten Worte entgegenschleudern: Sie sind ein »Stück Scheiße in einem Seidenstrumpf«59. Das einzig Bedeutende und für die Nachwelt bleibende vom Erfurter Fürstenkongress war dann wohl wirklich das Treffen zwischen Napoleon und Goethe, über das so viel schon geschrieben wurde, von Friedrich Nietzsche über Paul Val¦ry bis Thomas Mann, der die ganze Angelegenheit in seiner »Lotte in Weimar« wohl noch am besten getroffen hat, wenn er festhielt: »Er (Goethe, K.R.) sah in dem Kaiser nun einmal den Jupiter, das weltordnende Haupt, und in seiner deutschen Staatenbildung, der Zusammenfassung der südlichen, alt- und eigentlich deutschen Gebiete im Rheinbunde, etwas Neues, Frisches und Hoffnungsvolles, wovon er sich Glückliches versprach für die Steigerung und Läuterung deutschen Geisteslebens im fruchtbaren Verkehr (sic!) mit der französischen Kultur, der er selbst so viel zu danken erklärte«60. Damit hat Thomas Mann die Sache wirklich auf den Punkt gebracht: Es war nicht nur so, dass Goethe die deutsche Kultur hochhalten und retten wollte, sondern dass er sie »im fruchtbaren Verkehr mit der französischen Kultur« ausbauen und erweitern wollte und so in Napoleon auch einen Retter und Vollender dieses kultur-nationalen Projektes erblickte. Bis zum Ende blieb er ihm deswegen treu – und vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass er sich sein Leben lang ausschwieg über das sagenumwobenene Treffen an jenem Vormittag gegen 10 Uhr des 2. Oktober 1808, als ihn Napoleon im Audienzzimmer der Erfurter Statthalterei mit dem bis heute bekannten und vielfach (beinahe bis zur Lächerlichkeit) gedeuteten Satz: »Voila« bzw. »vous Þtes un homme« begrüßte61. Es entspann 58 59 60 61

Zit. nach ebd., S. 101. Zit. nach ebd., S. 149. Thomas Mann: Lotte in Weimar, Frankfurt a.M. 1990, S.149. Goethes Skizze »Unterredung mit Napoleon« (Nachtrag 1824) in: Johann Wolfgang Goethe,

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sich ein Gespräch, bei dem deutlich wurde, dass der französische Imperator sich bestens auskannte über deutsche Kultur und über Goethes Werke; insbesondere über den »Werther«, den der Kaiser – so Goethe – »durch und durch mochte studi[ejrt haben«62 und den er – wie er später an Goethe schrieb – insgesamt sieben Mal gelesen hatte, geriet man regelrecht in ein kleines Zwiegespräch. Napoleon schien sich ganz offenbar in der Rolle des Kunst- und Kulturbeflissenen zu gefallen, denn er parlierte in Erfurt nicht nur mit Goethe, sondern auch mit Wieland, zeichnete diesen wie den Dichterfürsten mit einem Ehrenorden aus, den Goethe sich fortan, zuweilen zum Spott einiger Weimarer Bürger, jeden Tag demonstrativ ans Revers steckte. Der Kaiser hatte offenbar das kulturelle Kapital Weimars nicht nur hingenommen, sondern in sein eigenes Konzept der »moralischen Eroberungen« eingebaut63. Das exakt ist gemeint mit dem »fruchtbaren Verkehr«, von dem Thomas Mann in seiner »Lotte« sprach und der für kurze Zeit die realistische Möglichkeit eines harmonischen Miteinanders, von dem beide Seiten profitieren konnten, bot. Aber der Schein trog. Unter der Oberfläche brodelte es, die Intrigen Talleyrands zeigten dies, und es braute sich eine nationale Opposition zusammen, die Napoleon vielleicht sogar schon erkannt hatte und in Erfurt bereits zu kanalisieren versuchte (zumindest nimmt dies ein Teil der Forschung an)64. In jedem Falle ließ er gleich nach dem Erfurter Treffen den Briefwechsel des herzoglichen Paares überwachen. Napoleon hatte dem Weimarer Landesherrn von Anfang an nicht getraut und er hatte auch gute Gründe dafür. Nach Erfurt wurde dies immer offensichtlicher. Die Berufung des preußischen Offiziers und nationalen Haudegens von Müffling in die zivile Verwaltung Weimars an relativ exponierter Stellung, nämlich als ordentliches Mitglied des Geheimen Consils, ist nur das prominenteste Beispiel; ein anderes ist die Einstellung Rühle von Liliensterns, eines durch und durch antifranzösischen preußischen Generalleutnants und Militärschriftstellers und engen Freundes Heinrich von Kleists, dem der Weimarer Herzog sogar die Erziehung seines Sohnes Bernhard übertrug65. Carl August hatte nie einen Hehl aus seiner antinapoleonischen Haltung gemacht, während Goethe weiterhin auf Kooperationskurs blieb. Man kann das Erfurter Fürstentreffen, auf dem der Kaiser der Franzosen und

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Tag- und Jahreshefte. Hrsg. v. Irmtraut Schmid, (Frankfurter Ausgabe, Bd. I/17), Frankfurt am Main 1994, S. 376 – 384, zit. S.379. Vgl. dazu Andreas Fischer : Goethe und Napoleon. Eine Studie. Mit einem Anhang: Weimar und Napoleon und einem Facsimile des Dankschreibens Goethes an Lac¦pÀde, Großkanzler der Ehrenlegion. 2., erw. Aufl. Frauenfeld 1900 sowie Willy Andreas: Carl August von Weimar und Napoleon. Leipzig 1942, 210 – 238. Goethes Skizze »Unterredung«, zit. S.380. Vgl. zu dem Konzept und seiner praktischen Umsetzung Müller: Regieren, S. 536 ff. Vgl. Gonthier-Louis Fink: Goethe und Napoleon, in: Goethe-Jahrbuch 1990/107, S. 81 – 101, hier S. 85 f. Dazu Andreas, Carl August, S. 25.

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der russische Zar in Anwesenheit der Rheinbundfürsten ihre Interessensphären absteckten, als Höhe- und Wendepunkt im Verhältnis Weimar-Paris ansehen. Noch einmal war der Schein gegenseitiger Anerkennung gewahrt worden, danach jedoch zerbrach diese unheilige Allianz, die ohnehin nur auf dünnes Eis gebaut war. Das Jahr 1808, als der spanische Aufstand gegen die napoleonische Vormacht ausbrach und deutlich machte, dass der scheinbar Unbesiegbare letztlich doch besiegbar war, stellte eine wichtige Zäsur, vielleicht die entscheidende Zäsur in Napoleons Herrschaft dar. Der Nimbus des Immer-Siegreichen zerbrach allmählich, denn es war nicht irgendein Aufstand, der hier ausgebrochen war : In Spanien handelte es sich vielmehr um eine nationale Erhebung des Volkes, das die Selbstbestimmungsprinzipien der Französischen Revolution (die spätere Parole »Friede den Hütten, Krieg den Palästen«) jetzt gegen den »Sohn« und Erben dieser Revolution selbst wandte und so die ganze Ambivalenz des napoleonischen Herrschaftssystems, jene eigentümliche Mischung von absolutistischen, rückwärtsgewandten und revolutionären, fortschrittlichen Elementen, vor aller Öffentlichkeit bloß stellte66. 1808 war das eigentliche Wendejahr für Napoleon. Er selbst konnte vielleicht noch nichts davon spüren, aber wir wissen es im Nachhinein besser : von Madrid führt eine ziemlich gerade Linie nach Moskau und schließlich nach Leipzig, wo im Oktober 1813 die sog. Völkerschlacht stattfand und der napoleonischen Herrschaft über Europa endgültig den Todesstoß versetzte (die »Hundert-Tage-Herrschaft«, d. h. die »Invasion eines Landes durch einen Mann«, wie Chateaubriand böswillig und treffend zugleich formulierte67, kann man hier getrost beiseitelassen). Goethe notierte am Tage der Leipziger Schlacht in sein Tagebuch: »Unglückstag« und meinte damit nicht nur, dass bei der Schlacht mehr als hunderttausend Gefallene zu beklagen waren68. Als die Hetze auf Napoleon losging und selbst ein Mann wie der Weimarer Regierungsrat Voigt, der immer hinter Napoleon stand, ins feindliche Lager überwechselte, schrieb Goethe an Varnhagen von Ense: »Lasst mir meinen Kaiser in Ruh«69. Bis zum Ende seiner Tage hielt er an der Größe der Person fest, an dem er vor allem die Entschlussfreudigkeit und den Tatendrang, die »Entschiedenheit«70, bewunderte (noch im Alter und in Krankheit konnte er seinen Arzt auffordern, »napoleontisch« vorzugehen und das hieß mit aller Entschiedenheit71): Nur deswegen funktionierte auch diese Begegnung von Geist und Politik, die eigentlich eine Begegnung von gleich zu gleich war, weil der eine

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Dazu Fehrenbach: Ancien R¦gime, S.53 f., zit. S. 54. Zit. nach Volker Ullrich: Napoleon, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 129. Zit. nach Seibt: Goethe, S. 207. Zit. nach ebd., S. 208. Ebd., S. 219. Ebd., S. 233.

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(Napoleon) sich als Kulturgröße gab und der andere (Goethe) Kultur als Politik inszenierte72.

72 Vgl. dazu nochmals Ries: Kultur; zur gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive vgl. HansWerner Hahn: Gesellschaftlicher Wandel und kulturelle Blüte: Die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen des Ereignisses Weimar-Jena im Spiegel der neueren Forschung, in: Lothar Ehrlich/Georg Schmidt (Hg.): Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 47 – 66.

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Hans-Christof Kraus

Nationalgeschichte in politischer Absicht – Heinrich Ludens »Geschichte des teutschen Volkes« »Es ist mit Völkern wie mit einzelnen Menschen. Abhängig von dem Zusammenhange der Dinge und von der ewigen Waltung, verfolgen sie die Bahnen, die sich vor ihnen öffnen; und nicht selten kommen sie an ein Ziel, zu welchem sie nicht hingestrebet haben«. Heinrich Luden (Geschichte des teutschen Volkes II, 243)

Heinrich Luden sei – heißt es im 1863 erschienenen zwölften Band des von Hermann Wagener herausgegebenen »Staats- und Gesellschafts-Lexikons« – zwar »ein nicht unbedeutender Geschichtschreiber« gewesen, »wenn auch nicht der denkendste Historiker der Deutschen, wie Palacky´ in der ›Geschichte von Böhmen‹ […] behauptet«. Und »sein Hauptwerk: ›Geschichte des teutschen Volkes‹ (Gotha 1825 – 37)« habe Luden ebenfalls »nicht weiter als bis zum zwölften Bande vollendet« und sei damit »nur bis in die Zeiten der Hohenstaufen gelangt. Obgleich manche Abschnitte trefflich behandelt sind, so ist doch der historische Stoff zu wenig bewältigt; die Darstellung verliert sich in mancherlei Abschweifungen und in maßlose Breite«1. Dieses Zitat aus einer konservativen Enzyklopädie der Jahrhundertmitte – sehr wahrscheinlich verfasst von einem Schüler Ludens, dem an der Universität Halle lehrenden Historiker Heinrich Leo2 – belegt bereits recht anschaulich die Distanz, aus der selbst die jüngeren Zeitgenossen Ludens Persönlichkeit und sein Hauptwerk nicht einmal zwei Jahrzehnte nach seinem Tod (1847) betrachteten: Respekt – jedoch verbunden mit deutlich artikulierter Kritik. Ähnlich fiel – übrigens ebenfalls 1863 – das Urteil Leopold Rankes aus; in der Einleitung zu seiner in diesem Jahr an der Universität Berlin gehaltenen Vor1 Die Zitate aus: [Anonym], »Luden (Heinrich)«, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon. In Verbindung mit deutschen Gelehrten und Staatsmännern hrsg. v. Hermann Wagener, Bd. XII, Berlin 1863, S. 440 f. 2 Heinrich Leo hörte 1817 in Jena Ludens Vorlesungen, vgl. Christoph Freiherr von Maltzahn, Heinrich Leo (1799 – 1878). Ein politisches Gelehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik, Göttingen 1979, S. 23; seine Jenenser Studienzeit hat Leo im Rückblick recht anschaulich beschrieben, siehe Heinrich Leo, Meine Jugendzeit, Gotha 1880, S. 92 ff., zu Luden die Bemerkungen S. 93, 194, 213 u. a..

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lesung über deutsche Geschichte des Mittelalters heißt es über Ludens Werk, dessen »Geschichte« sei zwar »eine neue Durcharbeitung des vorhandenen Stoffes: aber Luden, der ein guter Dozent war und Verdienst hatte, mißkannte dabei sein Talent: eine leichtere Darstellung würde ihm besser gelungen sein; diese wurde schwerfällig und willkürlich, in bezug auf Gelehrsamkeit ungenügend«3. Dabei war Luden noch eine Generation zuvor zu den gefeierten Geschichtsschreibern Deutschlands gezählt worden; ebenfalls galt er innerhalb der akademischen Öffentlichkeit als eine der großen Leuchten der Universität Jena, deren Lehrkörper er fast vier Jahrzehnte lang angehörte4. Während seiner »Höhezeit« wurde Luden in der Tat, wie treffend gesagt wurde, nicht nur »im deutschen Geistesraum außerordentlich viel gelesen und bewundert«5, und auch seine von ihm aufgezeichnete, nachmals zu Recht berühmte ausführliche Unterhaltung mit Goethe über Geschichte aus dem August 1806 zählt immer noch zu den bedeutendsten Überlieferungen eines Goethe-Gesprächs6. Der neueren historischen Forschung ist Luden nicht zuletzt durch seine zeitweilig sehr ausgedehnte publizistische und politische Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift »Nemesis« sowie als weimaranischer Landtagsabgeordneter, also in seiner Eigenschaft als einer der frühen »politischen Professoren« in Deutschland, ein lohnendes Forschungsobjekt geblieben7. Zu den »Vergessenen« der deutschen Geistesgeschichte zählt Heinrich Luden also keineswegs.

3 Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlass, Bd. IV: Vorlesungseinleitungen, hrsg. v. Volker Dotterweich / Walther Peter Fuchs, München – Wien 1975, S. 334. 4 Siehe aus der Literatur : Dietrich Schäfer, Heinrich Luden, in: derselbe, Aufsätze, Vorträge und Reden, Bd. 1, Jena 1913, S. 140 – 168; Johannes Haage, Heinrich Luden, seine Persönlichkeit und seine Geschichtsauffassung, phil. Diss. Leipzig 1930; Klaus Goebel, Heinrich Luden. Sein Staatsbegriff und sein Einfluß auf die deutsche Verfassungsbewegung, phil. Diss. Saarbrücken 1968; Karl Obermann, Heinrich Luden, in: Joachim Streisand (Hg.), Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. I, Berlin (Ost) 1969, S. 93 – 104; Ralph Marks, Die Entwicklung nationaler Geschichtsschreibung. Luden und seine Zeit, Frankfurt a. M. u. a. 1987. 5 Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. I, 3. Aufl. München – Salzburg 1963, S. 223; auch Srbik weist darauf hin, dass »die westslawische, besonders die tschechische Renaissance […] ihm viel Dank gewußt« habe: »Ein Kollar, ein Sˇafarˇik waren ihm verpflichtet, und besonders Palacky, der von seinem Lehrer sagte, er habe von ihm die Geschichte mit philosophischem und politischem Geist zu betrachten gelernt. Er nannte ihn den denkendsten der deutschen Historiker und einen der scharfsinnigsten Geschichtsforscher der Zeit« (ebd.). 6 Erstmals veröffentlicht in: Heinrich Luden, Rückblicke in mein Leben, Jena 1847, S. 20 – 74; im Auszug (und mit eher knapper Kommentierung) neuerdings abgedruckt in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 33 (= II. Abt., Bd. 6, hrsg. v. Rose Unterberger), Frankfurt a. M. 1993, S. 79 – 111; vgl. S. 838 – 840. 7 Vgl. vor allem Klaus Ries, Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2007, bes. S. 168 ff., 201 ff., 230 ff., 391 ff., 451 ff. u. passim, sowie Gerhard Müller, Heinrich Luden und der Landtag von Sachsen-Weimar-Ei-

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Als heute vollkommen aus dem Blick geraten und kaum noch beachtet darf hingegen seine im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Leistung gelten, also sein historiographisches Werk, darunter vor allem seine sehr umfangreiche zwölfbändige »Geschichte des teutschen Volkes«, die man wohl als sein Hauptwerk ansehen kann8. Diejenigen Forscher, die sich in den letzten Jahrzehnten mit diesem Werk näher befasst haben (es sind wenig genug), taten dies aus sehr unterschiedlichem Blickwinkel: Ludens »Geschichte« wurde etwa – aus der Binnenperspektive der deutschen Historiographiegeschichte – als nicht unbedeutendes und zugleich sehr typisches Werk des Übergangs von der traditionellen, stark juristisch geprägten »Reichshistorie« zu einer neuen, die vormals dominierenden verfassungs- und rechtshistorischen Paradigmen überwindenden Volks- und Nationalgeschichte interpretiert9. Im Rahmen einer anderen Fragestellung wurde Ludens Hauptwerk etwas später als aussagekräftiges Beispiel für die historiographische »Konstruktion« eines frühliberal grundierten, spezifisch »teutschen« Nationalbewusstseins im Kontext der geistigen und politischen Veränderungen in Deutschland während der Restaurationsära nach 1815 näher in den Blick genommen10. Doch das sind Ausnahmen: Ludens »Geschichte des teutschen Volkes« wird heute (vermutlich schon wegen des Titels) nicht mehr gelesen; es wird im besten Fall wohl noch als ein wenigstens vom Umfang her eindrucksvolles Monument deutschen Gelehrtenfleißes des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen. Dennoch lohnt es sich, gelegentlich einen Blick in die vor fast zwei Jahrhunderten in den Druck gegebenen Bände zu werfen, denn die Konsequenz und Beharrlichkeit bei der Durchführung des bereits sehr früh gefassten Vorhabens dieser umfangreichen Arbeit sowie die Art und Weise, wie in dieser Geschichtsdarstellung wissenschaftlicher Erkenntniswille, politisches Anliegen und ästhetischer Gestaltungsanspruch in einem einzigen großen Werk miteinander verbunden worden sind, vermag auch noch dem heutigen Betrachter Respekt abzunötigen. Eben diese Aspekte sollen im Folgenden etwas näher beleuchtet werden: zuerst die historiographischen Fragestellungen und theoretischen Voraussetzungen Ludens (1.), sodann Aufbau und Durchführung sowie ausgewählte inhaltliche Aspekte der »Geschichte des teutschen Volkes« senach. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Parlamentarismus in Thüringen, in: Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Heft 10, Weimar 1998, S. 11 – 177. 8 Heinrich Luden, Geschichte des teutschen Volkes, Bde. I – XII, Gotha 1825 – 1837. 9 Vgl. Günter Wichert, Von der Reichsgeschichte zur Geschichte des deutschen Volkes. Der Wandel von Darstellungsansätzen und Geschichtsauffassung in Darstellungen »Deutscher Geschichte« um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, phil. Diss. (masch.) Göttingen 1968, S. 160 – 191. 10 Vgl. Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770 – 1840), Frankfurt a. M. – New York 1998, S. 308 ff.

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(2.), drittens das politisch-pädagogische Anliegen Ludens (3.), endlich sein Verständnis von Volksgeschichte sowie ausgewählte geschichtsphilosophische Aspekte (4.).

1. Moderne Geschichtsschreibung, die diesen Namen wirklich verdient, ist zuerst das Resultat wissenschaftlicher Forschung, die jeder Darstellung vorausgehen muss und die, da sie nie endet, irgendwann über jede vollendete, abgeschlossene Darstellung wiederum hinausgeht. Und es ist bemerkenswert, dass Luden – etwa zeitgleich mit Wilhelm von Humboldt, aber wohl ohne von dessen Konzeptionen etwas zu wissen – genau diesen Aspekt auf den Begriff gebracht hat, wenn er im Vorwort zum Gesamtwerk seiner »Geschichte des teutschen Volkes« auf die Vorläufigkeit und das prinzipiell Unabgeschlossene aller Geschichtsschreibung hinweist und feststellt, es könne »kein Nachtheil für das Vaterland seyn, wenn die Geschichte desselben fortwährend bearbeitet würde«, also immer wieder aufgrund neuer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse Verbesserung erfahre. Aus genau diesem Grund werde, fügt Luden an, auch seine eigene Darstellung »in der Folge der Zeit« einmal zu denjenigen Büchern gehören, die »mit anderen Versuchen auf die Seite gelegt, und entweder vergessen, oder angesehen werden als ein Zeugniß der Mangelhaftigkeit unserer Kenntnisse, unserer Einsichten und unserer Kunst«11. Dies berührt sich eng mit Humboldts (in dieser Formulierung damals noch unbekannten, weil erst viel später publizierten) Bemerkungen über die spezifische Eigenart der Universitäten als Bildungs- und Forschungsinstitutionen, deren Besonderheit gerade darin bestehe, »dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben«12 – also die Forschung als prinzipiell unendlichen Prozess begreifen. Ebenfalls deutet sich in Ludens methodischen Reflexionen bereits Droysens spätere Feststellung wenigstens an, dass die Hauptaufgabe des Historikers letztlich darin zu finden sei, »forschend zu verstehen«13. Dass auch Heinrich Luden, mit Humboldt zu sprechen, »immer im Forschen« 11 Die Zitate: Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. I, S. XII. 12 Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: derselbe, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner / Klaus Giel, Darmstadt 1982, S. 255 – 266, hier S. 256. 13 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. Rudolf Hübner, 8. Aufl. München – Wien 1977, S. 26; Droysen definiert historische Forschung, ebd., S. 359, als eine Vorgehensweise, »die von der Gegenwart aus und aus gewissen in ihr vorhandenen Elementen, die sie als historisches Material benutzt, Vorstellungen von Vorgängen und Zuständen der Vergangenheiten zu gewinnen weiß«.

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geblieben ist, auch und gerade als Verfasser seiner zwölfbändigen »Geschichte des teutschen Volkes«, lässt sich vielfach belegen: so etwa mit seiner Erörterung der seit Friedrich Schlegels einschlägiger Schrift über Sprache und Weisheit der »Indier« breit diskutierten Frage einer Verwandtschaft oder Abstammungsgemeinschaft der »Teutschen«, bzw. der germanischen Völker in Europa mit Persern und Indern14, die 1816 u. a. von Franz Bopp in sprachgeschichtlicher Perspektive neu aufgerollt worden war15 und seitdem die wissenschaftliche Welt intensiv beschäftigte. Auch Luden griff die hiermit verbundenen Fragen im ersten Band seiner »Geschichte« ausdrücklich und in kritischer Auseinandersetzung auf16, befand sich somit also in dieser Hinsicht auf der Höhe der Forschungsdebatten seiner Zeit. Zu einer im modernen Sinne »forschenden«, also wissenschaftlich-exakten Historiographie gehört ebenfalls ein deutliches Bekenntnis der Grenzen des eigenen Wissens – und eben diese wurden Luden im Verlauf des Fortgangs seiner anstrengenden, thematisch weit ausgreifenden Arbeit zunehmend deutlicher bewusst. Da niemand »ueber das Maß seiner Einsicht und seines Verstandes« hinausgehen könne, sei es durchaus »keine Gotteslästerung, sich mit Bestimmtheit zu sagen, daß man in der Geschichte nicht wisse, was man nicht weiß, und nicht begreife, was man nicht begreift« – im Gegenteil: »es scheinet mir ein Frevel, Etwas als wahr und gewiß in die Geschichte einzutragen, was nicht auf feste Gründe gestellet werden kann, oder Etwas als wahr und gewiß in der Geschichte stehen zu lassen, was nicht, wie man erkannt zu haben glaubt, auf festen Gründen ruhet«17. Im Zeitalter der Herrschaft Hegels über die Köpfe vieler Zeitgenossen wurde hier von Luden jeder Art von spekulativer Geschichte eine klare Absage erteilt18. Die »festen Gründe«, die Luden hier als Fundament jeder seriösen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die diesen Namen verdiene, benennt, sind die einer quellenfundierten, diese Quellen kritisch interpretierenden, d. h. also: 14 Friedrich Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808), in: derselbe, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, Bd. VIII, München – Paderborn – Wien 1975, S. 105 – 433. 15 Franz Bopp, Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache, hrsg. v. Karl Joseph Windischmann, Frankfurt a. M. 1816. 16 Vgl. Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. I, S. 14 ff. 17 Ebenda, Bd. IV, S. IX (Vorrede zum vierten Band, erschienen 1828). Siehe auch die Bemerkungen ebenda, Bd. I, S. 102, Bd. II, S. 323, und Bd. III, S. 231. 18 Die These von Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland – Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, Stuttgart 1921, S. 142 ff., der eine deutliche Nähe Ludens und Hegels konstruiert und dessen Interpretation sich auch Friedrich Meinecke, Werke, Bd. V: Weltbürgertum und Nationalstaat, hrsg. v. Hans Herzfeld, München 1969, S. 184, Anm. 8, angeschlossen hat, lässt sich lediglich auf einzelne Aspekte ihres beiderseitigen politischen Denkens beziehen, kaum jedoch auf Ludens Geschichtsauffassung und erst recht nicht auf seine historiographische Praxis.

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in diesem Sinne forschend vorgehenden Darstellung. Er selbst könne sagen, bemerkt Luden über sein Werk, »daß kaum irgend eine Begebenheit, daß kaum irgend ein Ereigniß, ja daß selten eine einzelne Thatsache in dem Werk erzählt […] sei, ohne daß derselben irgend eine neue Seite abgewonnen, ohne daß irgend ein neuer Lichtstrahl auf dieselbe geworfen worden. […] Und doch habe ich nur aus Quellen geschöpfet, die seit langer Zeit geöffnet und Allen zugänglich waren, welche sich bisher mit der Geschichte unseres Vaterlandes beschäftiget haben!«19 Geschichtsschreibung ist für den Jenenser Historiker quellenfundierte Rekonstruktion, Interpretation, Deutung und Erklärung der Vergangenheit – ein Vorgehen, das wiederum ohne Kritik auch und gerade der bereits bekannten und schon vielfach ausgewerteten Quellen nicht möglich ist. Das hatte Luden bereits in seinem berühmten Gespräch mit Goethe am 19. August 1806 als noch junger, soeben an die Universität Jena berufener Dozent der Geschichte betont20, und daran hat er auch später stets festgehalten. Tatsächlich hat Luden – was bisher kaum bemerkt, geschweige denn angemessen gewürdigt und untersucht worden ist21 – in seine »Geschichte des teutschen Volkes« eine Fülle von Nachweisen und quellenkritischen Erörterungen eingefügt, die den hohen wissenschaftlichen Standard der Geschichtsschreibung Ludens, natürlich im Rahmen des im frühen 19. Jahrhundert Üblichen, belegen und aufgrund deren Rankes abschätziges Urteil22 mit einem Fragezeichen versehen werden muss. Vor allem mit Tacitus, dessen »Germania« eine der Hauptquellen für die von Luden in den ersten Bänden behandelte germanische Zeit darstellt, hat sich der Historiker intensiv und partiell überaus kritisch auseinandergesetzt23, nicht ohne ihm am Ende dennoch das höchste Lob auszusprechen: »Tacitus hat durch die Darstellung des Lebens jener Völker [der germanischen Stämme um die Zeitenwende, H.-C.K.] die Schmach zerstöret, welche die Römer über sie zu bringen gesuchet hatten, und ihnen die Theilnahme späterer Menschengeschlechter auf immer gesichert«24. – Vergleichbare Erörterungen finden sich ebenfalls zu Gregor von Tours25, zur Entstehung der

19 Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8) Bd. IV, S. V. 20 Vgl. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 33 (Anm. 6), S. 97 f., 102 ff.; vgl. Luden, Rückblicke in mein Leben (Anm. 6), S. 56, 62 ff. 21 Eine positive Ausnahme ist: James Westfall Thompson / Bernhard J. Holm, A History of Historical Writing, Bd. II: The Eighteenth and Nineteenth Century, Gloucester, Mass. 1967, S. 140. 22 Siehe oben, vor Anm. 3. 23 Siehe zur Kritik des Tacitus u. a. Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. I, S. 273, 431 ff., 478 u. a. 24 Ebenda, Bd. II, S. 261. 25 Vgl. ebenda, Bd. III, 223 ff., 699 f.

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Lex Salica26, zu Einhard27, zum Geschichtswerk Ottos von Freising28 und zu anderen zentralen Quellen der frühen deutschen Geschichte. Gleichwohl hat Luden letzten Endes in der Quellenkritik nicht das Hauptgeschäft des Historikers gesehen, sondern in der großen zusammenfassenden und vor allem deutenden Darstellung. Der besonderen Schwierigkeiten hierbei war er sich, wenn man den Aufzeichnungen seines berühmten Goethe-Gesprächs folgen darf, durchaus bewusst: »Die Erzählung großer und komplizierter Ereignisse und Begebenheiten […], wie sie im Leben der Völker und Staaten vorkommen«, heißt es dort, »hat denn doch wohl einige Schwierigkeiten, die nicht oft überwunden werden«, denn »die bloße Beschreibung geschichtlicher Dinge oder die bloße Erzählung der Begebenheiten« stelle durchaus nicht »die Hauptsache bei dem Lehren der Geschichte« dar, vielmehr solle »durch die Erzählung der Sinn und die Bedeutung der Begebenheiten erkennbar gemacht werden«29. In diesem Sinne bewegt sich Ludens »Geschichte« denn auch im Spannungsfeld zwischen kritischer Rezeption der Quellen und inhaltlich ebenso wie sprachlich anspruchsvoller Darstellung von wahrlich epischer Breite, die von zeitgenössischen wie späteren Lesern gelegentlich als zu ausufernd empfunden30, vom Autor selbst aber stets verteidigt worden ist31.

2. Für Luden beginnt die Geschichte des deutschen Volkes – nicht die Geschichte Deutschlands – bereits in der römischen Antike mit den ersten Begegnungen der Römer und der germanischen Stämme auf dem Gebiet des späteren deutschen Reichs. So vorsichtig-zurückhaltend er sich auch über die Ursprünge und Anfänge der germanischen Urgeschichte äußert32, so klar stellt sich ihm jedoch eine Tatsache dar : Die von ihm eingehend geschilderte Schlacht am Teutoburger Wald33 bedeutete nicht nur eine weltgeschichtliche Wende, indem sie den mili26 27 28 29 30 31

32 33

Vgl. ebenda, Bd. III, S. 736 ff. Vgl. ebenda, Bd. IV, S. 265 f., 514 ff. Vgl. ebenda, Bd. X, S. 577 ff. u. passim. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 33 (Anm. 6), S. 96; vgl. Luden, Rückblicke in mein Leben (Anm. 6), S. 54. Vgl. Schäfer, Heinrich Luden (Anm. 4), S. 163; positivere Einschätzung wiederum bei Thompson / Holm, A History of Historical Writing (Anm. 21), Bd. II, S. 140. Vgl. Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. IV, S. XXX f.; Er selbst würde als Historiker, bemerkt Luden hier, sich »nicht eben zu schämen haben, wenn ich in hundert Bänden die Geschichte meines Volkes und Vaterlandes gut beschriebe; wenigstens möchte ich sie lieber gut in hundert Bänden beschrieben haben, als schlecht in zehn« (ebenda, S. XXX). Vgl. ebenda, Bd. I, S. 5 ff. u. passim. Vgl. ebenda, Bd. I, S. 274 – 283.

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tärisch-politischen Ausbreitungsbestrebungen der Römern im Norden eine deutliche Grenze setzte34, sondern darüber hinaus auch den allerersten Erfolg genuin deutscher Freiheitsbestrebungen: »Die teutschen Völker auf der rechten Seite des Rheines hatten in dem Bewußtsein ihrer Thaten die sicherste Bürgschaft für ihre Selbständigkeit […]. Also war ihnen erlaubt, ihre Eigenthümlichkeit frei zu entwickeln und auszubilden. Das war der hohe Preis ihrer Anstrengung und Aufopferung, daß sie, ohne Zwang und ohne Dienst, ein teutsches Leben leben, und dasselbe mit stolzer Zuversicht in die folgenden Jahrhunderte stellen durften«35. Ludens Darstellung wirkte mit dieser Deutung also kräftig mit an der Etablierung des Mythos von der Varus-Schlacht als erstem germanisch-deutschen Einigungs- und Freiheitskrieg gegen eine drohende Fremdherrschaft. Dem steht in Ludens Perspektive auch nicht die Tatsache entgegen, dass aus den anschließend folgenden sechs bis sieben dunklen Jahrhunderten der Geschichte der Germanen – sprich der »Teutschen« – kaum die Erkenntnis eines weiteren politischen Aufstiegs zu gewinnen ist. Herausragende Ereignisse, die von ihm wiederum breit dargestellt werden, sind für Luden erst die Anfänge und der Aufstieg Karls des Großen sowie die Begründung des Frankenreiches. Die brillante Charakteristik dieses in jeder Hinsicht herausragenden Herrschers gehört zu den Glanzstücken von Ludens Geschichtswerk36, auch wenn er dessen Schattenseiten, Karls Gewaltsamkeit und zuweilen äußerste Brutalität, keineswegs unterschlägt, sondern ausdrücklich benennt und rügt37. Mit den meisten Zeitgenossen unter den deutschen Historikern war sich Luden darin einig, dass der im August des Jahres 843 von den drei Enkeln Karls geschlossene Teilungsvertrag von Verdun als eigentliches Gründungsdatum eines »teutschen« Reichs anzusehen sei.38 Die Einheit der »Teutschen« bleibt auch weiterhin das zentrale Thema, ja in gewisser Weise der Leitfaden der folgenden Darstellung Ludens, der es bei34 Vgl. ebenda, Bd. I, S. 427: »Was der große Tag im teutoburger Walde gerettet und gewonnen hatte, das war erhalten und befestiget durch alle folgenden Ereignisse. Die Welt war vor der Knechtschaft gesichert. Rom’s Gewalt hatte ihre Grenze. Durch die kühne Unternehmung des besonnenen Civilis selbst an dieser Gränze furchtbar erschüttert, konnte sie an Erweiterung nicht mehr denken; sie mußte froh sein, wenn sie nicht von Neuem zur Vertheidigung genöthiget ward«. 35 Ebenda, Bd. I, S. 427. 36 Ebenda, Bd. IV, S. 265 – 270; siehe bes. die Bemerkung S. 269: »Karl hat einen Einfluß auf die Welt gehabt, den kein Mensch zu überrechnen vermag. Nicht nur sein Zeitalter, sondern auch alle späteren Geschlechter haben diesen Einfluß gefühlet bis diesen Tag«. 37 Vgl. ebenda, Bd. IV, S. 268 f.; an späterer Stelle des Werkes erinnert Luden an die »Gräuel von Verden«, die »der Unterdrücker der Sachsen, ein großer Schlächter«, zu verantworten habe; ebenda, Bd. VII, S. 87. 38 Ebenda, Bd. V, S. 451: »Der Vertrag zu Verdün, der, wie ein französisches, so ein teutsches Reich gründete…«.

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spielsweise als die größte Leistung König Heinrichs I. ansieht, »alle teutschen Völker diesseits des Rheines […] von Neuem zu Einem Reiche vereiniget«39 zu haben. Dem Abwehrkampf gegen die Slawen und die Einbrüche der Völker aus dem Osten schreibt der Historiker ebenfalls eine politisch integrative Funktion für die »Teutschen« zu; die siegreiche Schlacht Ottos des Großen gegen die Ungarn auf dem Lechfeld (10. August 955) schildert Luden denn auch überaus anschaulich40 – ohne jedoch die frühen Gegner der Deutschen und ihres Herrschers abwertend zu beschreiben. Patriotismus in der Historiographie beinhaltet für Luden gerade keine negative Schilderung oder feindselige Charakterisierung der Gegner – ob es sich nun um die Ungarn oder um die slawischen Völker handelt41 –, sondern bei ihm findet sich eine überraschend sachliche, fast neutrale Wertung: Die Unterlegenen sind für ihn nicht etwa die »Primitiveren«, erst recht nicht die »Kulturlosen« oder gar die Barbaren, sondern die in einer historisch gegebenen, konkreten Lage eben militärisch Schwächeren, nicht mehr und nicht weniger. Der große Konflikt des – zuerst von Otto dem Großen glanzvoll erneuerten42 – Kaisertums mit dem Papst seit dem frühen 11. Jahrhundert43, der Investiturstreit, die legendäre Begegnung von Canossa (die Luden in traditioneller Deutung als Unterwerfung Heinrichs IV. unter Gregor VII. auffasst)44, sodann die Kämpfe der Staufer gegen innere Konkurrenten und äußere Widersacher bilden weitere Höhepunkte der Darstellung, wobei – trotz einer durchaus differenzierten Einschätzung der Kreuzzüge45 – die außerdeutschen Aktivitäten vor allem der staufischen Kaiser eine deutlich negative Bewertung erfahren: Am Ende der Herrschaft des großen Friedrich Barbarossa, dessen historischer Rang als solcher keineswegs in Frage gestellt wird46, bleibt schließlich doch – vor allem als Folge seiner langen Abwesenheit aus Deutschland – nur ein großes Zerstörungswerk übrig, denn »das teutsche Reich war durch Friedrich’s unglückliche Bestrebungen dergestalt aufgelöset und erschöpfet, daß fortan von einem einigen Reiche nur noch gesprochen werden konnte, als von einer Erinnerung oder von einer Sehnsucht. Mit der Vernichtung seiner Entwürfe war auch das Reich vernichtet, nicht dem Namen nach, aber in der That und Wahrheit. Das Leben des teutschen Volkes mochte sich fernerhin noch rege genug, kräftig und schön 39 Ebenda, Bd. VI, S. 351; zur Würdigung Heinrichs I. siehe auch S. 339 ff. 40 Vgl. ebenda, Bd. VII, S. 80 ff. 41 Zu den Kämpfen gegen die Slawen siehe etwa die Schilderungen ebenda, Bd. VI, S. 387 ff., 453 ff. u. a. 42 Vgl. ebenda, Bd. VII, S. 109. 43 Vgl. ebenda, Bd. IX, S. 27 ff. u. passim. 44 Vgl. ebenda, Bd. IX, S. 113 ff. 45 Vgl. ebenda, Bd. IX, S. 262 ff. 46 Siehe die sehr anschauliche Charakteristik und die Bemerkungen ebenda, Bd. X, S. 301 ff.

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in den Gliedern des Leibes zeigen, aber dem Leibe fehlte das Haupt, den Gliedern zu gebieten, es fehlte die Seele, Alle mit Einem Gefühle zu erfüllen, mit Einem Willen zu durchdringen. Die Glieder mußten ein abgesondertes Leben leben, und konnten nicht mehr ein Ganzes bilden«47. Dem entspricht der Tenor der weiteren Darstellung der politischen Entwicklung Deutschlands, die mit dem zwölften Band und der Geschichte des, so Ludens Deutung, an seiner eigenen Machtgier scheiternden Friedrich II. abbricht48. Zu den besonders bemerkenswerten Aspekten des Ludenschen Geschichtswerks zählt die Tatsache, dass sich sein Verfasser nicht nur auf die politische Geschichte im engeren Sinne beschränkt, sondern der Darstellung um breite Kapitel zu den, wie er selbst formuliert, »gesellschaftlichen Verhältnisse[n] der teutschen Völker«49, also zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, auch zur Kulturgeschichte der Deutschen seit dem Beginn ihrer historischen Existenz ergänzt hat. Luden thematisiert in diesen Abschnitten seines Werkes nicht nur eingehend die gewissermaßen »natürlichen« Voraussetzungen, so etwa Landschaft, Fauna und Flora der altgermanischen Welt50, sondern auch deren »Stämme und Völker«, ihre Sozialverfassung – von Luden mit einem zeitgemäßen Anachronismus als »bürgerliche Gesellschaft« bezeichnet51 –, sodann die »Kriegsverfassung« der Germanen, ihre ökonomischen Verhältnisse, endlich ihre religiösen Kulte sowie ihr »häusliches und geselliges Leben«52. Durchaus bemerkenswerte Abschnitte – bedenkt man deren Entstehungszeit und wissenschaftshistorischen Kontext – widmet Heinrich Luden in den weiteren Bänden seines Werkes auch der Verfassungs- und Rechtsgeschichte des Frankenund Karolingerreichs53, wenngleich deren stark idealisierende Tendenz – trotz zeitgemäßer, hier und da sogar modern anmutender Begrifflichkeit54 – immer wieder kaum zu übersehen ist55. 47 Ebenda, Bd. XI, 445. 48 Vgl. ebenda, Bd. XII, S. 317 ff. – Geplant war ursprünglich, die »Geschichte des teutschen Volkes« bis zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert fortzuführen; siehe dazu die Bemerkungen Ludens ebenda, Bd. IV, S. XXXI. 49 Ebenda, Bd. I, S. 425. 50 Vgl. ebenda, Bd. I, S. 437 ff. 51 Ebenda, Bd. I, S. 455, 479. 52 Vgl. ebenda, Bd. I, S. 515 ff., 536 ff., 555 ff., 577 ff. 53 Vgl. ebenda, Bd. III, S. 232 ff.; Bd. V, S. 137 ff.; siehe auch die ausführlichen Erörterungen zur Entstehung und Bedeutung der Lex Salica, ebenda, Bd. III, S. 242 ff., 320 ff., sowie zur Entstehung des Lehnswesens, Bd. III, S. 285 ff. 54 Vgl. pars pro toto etwa ebenda, Bd. I, S. 10 (»gesellschaftliche Verhältnisse«), S. 327 (»gesellschaftliche Bedürfnisse«), S. 479 (»bürgerliche Gesellschaft«), Bd. III, S. 242 (»MenschenClassen«) – usw. 55 Siehe besonders die Bemerkungen am Schluss der eingehenden Schilderung des »Gerichtswesens« der Germanen, ebenda, Bd. III, S. 385 ff., hier bes. S. 406.

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Auch der letzte, der zwölfte Band der »Geschichte des teutschen Volkes« enthält noch einmal einen ausführlichen strukturgeschichtlichen Darstellungsteil56, in dem nicht nur die Entwicklung des Adels, die Stellung der Unfreien, die Aus- und Fortbildung des hochmittelalterlichen Rechtswesens bis hin zur Feme57, sondern vor allem auch die Herausbildung eines neuen freien Städtewesens, in dessen Folge zugleich ein Aufschwung des Handels ermöglicht wurde – erkennbar etwa an den ersten Anfängen der Hanse58 – dargelegt wird. Diese Entwicklung wertet Luden freilich weniger als Bourgeois, sondern eher als Citoyen, wenn er gerade nicht deren ökonomischen Nutzen, sondern eher die politischen Defizite hervorhebt: Er verschweigt keineswegs, dass der Aufstieg der freien Städte eben nur durch die Schwäche, letzten Endes durch das Fehlen einer deutschen kaiserlichen Zentralgewalt ermöglicht worden ist59. Ein »tiefes Gemüth« – bemerkt Luden an markanter Stelle –, durchdrungen »von der heiligsten Sehnsucht im irdischen Leben, von der Sehnsucht nach der lebendigen Einheit des teutschen Volkes, nach einem großen, starken und freien Vaterlande«, werde sich auch beim Anblick des neuen freien Städtetums »eines schmerzlichen Gefühles nicht erwehren können; denn durch die selbständigen Gemeinden wurde das teutsche Reich […] noch mehr aus einander getrieben, noch mehr gespalten und zerrissen; und nicht nur die Gränzsteine wurden häufiger, sondern auch die Seelen der Menschen wurden verworren und geschieden, weil innerhalb der Mauer […] die Liebe zur Freiheit Nahrung fand, außerhalb der Mauer hingegen das Gebot dienstbarer Herren von Unfreien, Hörigen und Knechten befolget werden mußte«60. Die Einheit ging verloren, die Freiheit wurde auf den engen Raum innerhalb der Stadtmauern beschränkt, der Zusammenhalt zwischen Fürst und Volk wurde durch die Verhältnisse unmöglich gemacht61.

3. Das Hauptziel der Geschichtsschreibung von Heinrich Luden, konzipiert bereits unter dem Eindruck des säkularen historischen Umbruchs von 1806/07, war, wie ein kenntnisreicher englischer Kritiker einmal bemerkte, vor allem »politisch und ethisch« motiviert, denn Luden hoffte, sein großes Geschichtswerk »würde 56 57 58 59 60 61

Ebenda, Bd. XII, S. 414 – 528. Vgl. ebenda, Bd. XII, S. 455 ff., 462 ff., 486 ff., 493 ff. u. a. Vgl. ebenda, Bd. XII, S. 414 ff., 428 ff. Vgl. ebenda, Bd. XII, S. 435 ff. Alle Zitate: ebenda, Bd. XII, 449 f. Auf die zentrale Bedeutung der Idee einer Einheit von Fürst und Volk für das historischpolitische Denken Ludens weist zu Recht hin: Ries, Wort und Tat (Anm. 7), S. 238.

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die politische Gesinnung stärken. Dieser Zweck wurde erreicht, doch kein anderes Werk ist so rasch überholt wie ein patriotisches Geschichtsbuch«62. Tatsächlich hatte Luden bereits in seinen 1808 als Vorlesungseinleitung gesprochenen und rasch gedruckten »Worte[n] über das Studium der vaterländischen Geschichte«63 vor allem Trost (angesichts des deutschen Niedergangs) spenden und Hoffnung (auf einen deutschen Wiederaufstieg) vermitteln wollen64. Da die Zeit »ernst« sei und »einen ernsten Sinn« erfordere, komme es jetzt nicht auf »spitzfindige Grübeleien«, sondern zuerst und vor allem auf eine intensive Vergegenwärtigung der deutschen Vergangenheit an: »Indem ich es unternehme, die Geschichte des Vaterlandes zu erzählen«, so Luden weiter, »ist es mein Hauptwunsch, etwas dazu beizutragen, daß der notwendige Vaterlandsgeist in uns geweckt, erhalten, genährt werde«65. Ludens Patriotismus als Historiograph des »teutschen Volkes« zeigt sich in seinem umfangreichen Werk auf mehrfache Weise; zuerst vielleicht am auffälligsten in der stark idealisierenden Darstellung der Deutschen selbst und einiger ihrer herausragenden historischen Gestalten: So rühmt Luden bereits im ersten Band seiner Geschichte bei der Beschreibung der Germanen deren »hohe Gestalt«, sodann »die Weiße ihrer Haut, […] das goldgelbe Haar und […] das blaue Auge, in welchem Stolz, Trotz und die Hoheit der Gesinnung wohnte«; diese »Auszeichnung« sei »Männern und Frauen gemein bei allen teutschen Völkern« gewesen und habe zugleich die Bewunderung und den Neid der Römer erregt66. Dem physischen entspricht auch das moralische Ideal: »Während die Höfe der fränkischen Könige in Gallien«, heißt es im Abschnitt über das 6. Jahrhundert, »die Bühnen schmutziger Wollust, niedriger Ränke, blutiger Arglist und jeglicher Häßlichkeit gewesen sein mögen [!]«, herrschte zur gleichen Zeit »auf den Gehöfden freier Männer in Teutschland die alte Scham und Sittsamkeit, die vaterländische Einfachheit und die fromme Liebe«67. Höchste menschliche und moralische Eigenschaften werden (wenn auch gelegentlich mit einigen wenigen 62 George Peabody Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert. Vom Verfasser neubearbeitete deutsche Ausgabe, Frankfurt a. M. 1964 (erstmals 1913 erschienen), S. 83. 63 Jetzt und im Folgenden zitiert nach der Neuausgabe: Heinrich Luden, Über das Studium der vaterländischen Geschichte, Darmstadt 1955; siehe zu dieser frühen Schrift Ludens auch die treffenden Beobachtungen bei Ries, Wort und Tat (Anm. 7), S. 170 ff. 64 Vgl. Luden, Über das Studium (Anm. 63), S. 34. 65 Alle Zitate: ebenda, S. 59 f.; er selbst hoffe, fügte Luden hinzu, dass ihm zwei Dinge gelingen möchten, nämlich »einmal Ihnen stets das Vaterland in seiner Geschichte gegenwärtig zu erhalten, und zweitens, zu zeigen, wie die Geschichte des Vaterlandes studiert werden müsse; und das darf ich Ihnen versichern, daß ich diese Geschichte mit einem wahrhaftig deutschen Gemüte, mit dem reinsten und besten Willen darstellen werde« (ebenda, S. 60). 66 Die Zitate: Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. I, S. 449 f.; vgl. auch ebenda, S. 450 ff. 67 Ebenda, Bd. III, S. 443.

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einschränkenden Bemerkungen) ebenfalls Arminius, Karl dem Großen, Heinrich I., Otto dem Großen und Friedrich Barbarossa zugeschrieben68. Die patriotisch grundierte politische Pädagogik Ludens zeigt sich im Weiteren auch in den Lehren, die der Historiker aus der Vergangenheit ziehen zu können meint. Er zählt in der Tat zu den entschiedensten Kritikern der Italienpolitik der deutschen Könige und Kaiser : »Wie anders möchte es um Teutschland aussehen«, bemerkt er, »wenn Otto der Große seines Vaters Unternehmungen nach Norden hin fortgesetzet, wenn er sich nicht damit begnüget hätte, die Lanze ins Wasser zu werfen, um alsdann Teutschlands Macht in entgegengesetzter, in verkehrter Richtung zu verbrauchen!«69 Hingegen war, wie Luden an anderer Stelle anmerkt, »die Verbindung zwischen Teutschland und Italien« stets »gegen Gott und Natur, und der Gewinn, den Teutschland vielleicht aus dieser Verbindung gezogen haben mag, war wenigstens von sehr zweideutiger Art«70. Nicht zuletzt deshalb habe im Grunde bereits mit dem Ende der Regierung Friedrichs I. der Zerfall des Reiches begonnen71 – bis dann schließlich sechs Jahrhunderte später, am Ende dieser Entwicklung, »im ungeheuern Wechsel der Dinge, vor unseren Augen das teutsche Reich aus einander gefallen, und die römische Kaiserkrone so glanzlos niedergelegt worden ist, daß Niemand es der Mühe werth gehalten hat, sie aufzuheben«72. Für Heinrich Luden war das Ereignis von 1806 zugleich der Fluchtpunkt wie auch der Ausgangspunkt seiner historischen Darstellung: Schon im (auf den 17. Oktober 1825 datierten) Vorwort zum Gesamtwerk heißt es – mit Bezugnahme auf die »furchtbare Gewalt des unerhörten Unglücks, das vor einem Menschen-Alter über das Vaterland herein zu brechen begann« – lapidar : »Die Unerträglichkeit der Gegenwart trieb in die Vergangenheit«73. Die kaum zu übersehenden Ähnlichkeiten zeigen sich besonders in der Schilderung der jahrhundertelangen Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen, 68 Vgl. etwa ebenda, Bd. I, S. 327 ff.; Bd. V, S. 99; Bd. VI, S. 345, 362 ff., 441; Bd. VII, S. 89 ff.; Bd. X, S. 301 ff. u. a. 69 Ebenda, Bd. VIII, S. 589; er fügt an: »es ist eine unzweifelhafte Wahrheit, daß die Bildung eines Volkes desto vielseitiger und eben deßwegen desto rascher und lebendiger werde, je länger die Küste des Landes ist, das von diesem Volke bewohnet wird. Und welch’ eine Küsten-Strecke von Danzig bis Dünkerken um Seeland und Jütland hinum!« (ebenda). 70 Ebenda, Bd. XI, S. 444; er fügt an, dass auch die Beibehaltung der Bezeichnung »römisches Reich« insofern mehr oder weniger verderblich gewesen sei, als dieser Beiname, »an frühere Tage mahnend, auch noch in späteren Tagen reizen und locken« musste – freilich stets in die verkehrte Richtung, eben nach Süden und nicht nach Norden und Osten. – Srbik, Geist und Geschichte (Anm. 5), Bd. I, S. 223, rechnet Luden wegen seiner deutlichen Ablehnung der Italienpolitik der deutschen Herrscher unter die Vorläufer Heinrich von Sybels. 71 Vgl. Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. XII, S. 431 f. 72 Ebenda, Bd. VII, S. 109. 73 Die Zitate: ebenda, Bd. I, S. VI (Vorwort); vgl. dazu auch die entsprechenden Bemerkungen aus dem Jahr 1808 in: Luden, Über das Studium (Anm. 63), S. 57 ff.

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die der Historiker zum (erst 1815 beendeten) deutsch-französischen Konflikt in Parallele setzt74. Ludens Ausführungen zu den moralischen Eigenschaften der Germanen, zur – am abschreckenden Beispiel Catilinas erläuterten – Dekadenz und Verworfenheit der Römer75, zu dem von den »teutschen Völker[n]« gehegten »gerechten Hasse wider Rom«76, der gleichwohl nicht zu schrecklicher Rache, sondern nach Luden zu einer ausgesprochen milden Behandlung der den »Teutschen« später unterlegenen und von ihnen besiegten Römer führte, – dies alles enthält eine Fülle von (seinerzeit recht leicht erkennbaren) Anspielungen auf die deutsch-französischen Konflikte in der Revolutions- und Napoleonzeit77. Obwohl Luden mit Blick auf das Reichsende von 1806 die deutsche Geschichte zwar durchaus nicht als Verfallsgeschichte schreibt, sieht er doch im offenkundigen Verfehlen deutscher Einheit und Einigkeit deren zentrales, auch noch die eigene Gegenwart – die Zeit vor, um und nach 1815 – prägendes Problem, das seinen Lesern in gewisser Weise von ihm ex negativo verdeutlicht wird, am Beispiel der Ära Friedrich Barbarossas, in der nach der Deutung Ludens die Wendung zum Negativen geschah: »Ganz Teutschland« habe in Friedrich I. »den einzigen König« erblickt, der über den Willen und die Kraft verfügte, »den Gebrechen abzuhelfen, an welchen es so lange und so schwer gelitten hatte«; freilich habe »Teutschland […] sich seines schönen Glaubens an die Zukunft nicht lange erfreuet, und ist in seinen Hoffnungen schwer getäuschet worden. Von seinem eigenen Könige versäumet, verkannt, mißachtet, hat es […] sich selbst auf eine jammervolle Weise bekämpft, zerfleischet und seine eigenen Kräfte verzehret«, sei am Ende »gleichsam an der Möglichkeit der Heilung verzweifelt« und habe, »ermüdet und verzaget, auf sein altes menschliches Streben nach der lebensvollen Vereinigung aller teutschen Völker zu einem einigen mächtigen Reiche unter einem starken Könige, wie für alle Zukunft, Verzicht geleistet«78.

74 Dabei vermied Luden jedoch ausdrücklich die gefährliche These einer vermeintlichen deutsch-französischen »Erbfeindschaft«, die um 1815 von einem anderen deutschen Historiker begründet und vertreten wurde: Friedrich Rühs, Historische Entwickelung des Einflusses Frankreichs und der Franzosen auf Deutschland und die Deutschen, Berlin 1815. 75 Vgl. Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. I, S. 25 ff., S. 60 (Catilina). 76 Ebenda, Bd. II, S. 131. 77 Luden merkt, ebenda, Bd. II, S. 367, über die Eroberung Roms durch Alarich und seine Goten (im Jahr 410) an: »Schmachvoller als Rom ist keine Stadt in die Hand ihrer Feinde gefallen, und weniger als Rom hat keine eroberte Stadt von ihren Besiegern erduldet. Rom’s Leiden waren sittlicher Art und lagen in ihr selbst; die Eroberer waren roh, aber menschlich und mild«. Die Parallelen zur Besetzung von Paris durch die vereinigten Truppen der gegen Napoleons Kaiserreich verbündeten Mächte (April 1814) sind an dieser Stelle geradezu überdeutlich zu erkennen. 78 Alle Zitate: Ebenda, Bd. X, S. 297 f.

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4. Am Beginn seiner zweiten Vorlesung »über das Studium der vaterländischen Geschichte« stellt Luden fest, »die Liebe zur Geschichte geht gewöhnlich von der Liebe der vaterländischen Geschichte aus, und diese ist nur, wo Volkssinn ist«, denn »das wissenschaftliche Streben der Gebildeten und der Geist des eigentlichen Volkes stehen überall in enger Verbindung, solange jenes Streben national bleibt; die Wissenschaft durchstrebt die ganze Volksmasse; es besteht bei aller Höhe, die sie erreicht, eine Harmonie zwischen ihr und dem Volk«79. Diese Feststellung, die sich in eigentümlicher Weise berührt mit der zur gleichen Zeit entstehenden Grundkonzeption der historischen Rechtsschule Savignys80, findet sich in nuce bereits ebenfalls in dem berühmten Goethe-Gespräch von 1806: »Was uns ein Volk hinterläßt«, heißt es dort – als Äußerung Ludens zu Goethe –, »ist der Geist seines Lebens. Wir müssen uns nur bemühen, die Erbschaft gehörig zu würdigen und zu benutzen, und uns nicht mit dem Inventario begnügen. Wir müssen die Geschichte des Volkes studieren, und, was sie zeigt, verwenden. Denn die Geschichte eines Volkes ist das Leben des Volkes«81. Dieses historiographische Programm hat Luden in seiner »Geschichte« tatsächlich umzusetzen versucht. Es sei sein Bestreben, heißt es bereits im Vorwort zum ersten Band (1825), »das Leben des teutschen Volkes und den Gang desselben durch die Zeit zu erkennen«82, und in der programmatisch ebenfalls sehr wichtigen »Vorrede« zum vierten Band (1828) hat er nochmals ausdrücklich hervorgehoben, dass er bei Beginn seines Unternehmens »eine Geschichte des teutschen Volkes angekündiget habe und nicht eine Geschichte Teutschlands, und nicht eine Geschichte des teutschen Reiches«83. Vier Aspekte dieses im frühen 19. Jahrhundert neu begründeten Ansatzes einer deutschen Geschichte als Volksgeschichte sind hier zentral: Erstens der hiermit zu erfassende größere Zeitraum, denn für Luden ist es klar, dass es ein »teutsches« Volk lange vor der Entstehung eines deutschen politischen Gemeinwesens, eines Staates oder Reichs, gegeben hat. Volksgeschichte greift also tiefer in die Vergangenheit zurück, macht damit Ursprünge sichtbar, die andere Ansätze notwendig verfehlen müssen84. Zweitens wendet 79 Die Zitate: Luden, Über das Studium (Anm. 63), S. 23. 80 Diesem Aspekt kann an dieser Stelle nicht weiter im Detail nachgegangen werden; verwiesen sei hier nur auf die berühmte Programmschrift der historischen Schule: Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, bes. S. 8 ff. u. passim. 81 Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 33 (Anm. 6), S. 99; vgl. Luden, Rückblicke in mein Leben (Anm. 6), S. 58. 82 Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. I, S. XIII. 83 Ebenda, Bd. IV, S. XXXI. 84 Luden stellt in diesem Zusammenhang fest, dass aus volksgeschichtlicher Perspektive die

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sich der volksgeschichtliche Ansatz gegen eine Überschätzung bzw. gegen die ausschließliche Vorherrschaft einer vornehmlich reichs- und institutionengeschichtlichen oder auch einer herrscher- und politikzentrierten historiographischen Perspektive. Auch die Geschichte des Mittelalters ist nach Luden primär als Entwicklungsgeschichte des deutschen Volkes in seinen Stämmen aufzufassen, damit keineswegs lediglich als Geschichte seiner Herrscher und als Reichsgeschichte. Drittens gehört zur Volksgeschichte nicht zuletzt auch die Darstellung der geographischen, sozialen, wirtschaftlichen, militärischen, rechtlichen und geistig-kulturellen Dimensionen in der Vergangenheit eines Volkes, einschließlich der »häuslichen Verhältnisse« und des Alltagslebens – auch wenn die letztgenannten Aspekte in Ludens Darstellung meistens nur knapp gestreift, aber nicht breiter ausgeführt werden. Wenigstens potentiell zielt Ludens Ansatz damit auf eine histoire totale, wie man ein Jahrhundert später gesagt hätte. Und viertens endlich besitzt die seiner Geschichtsschreibung zugrunde liegende Hauptthese, dass die Menschen und Völker historisch gesehen vor den Fürsten vorhanden sind und daher das (historisch substanzielle) Volk auch politisch vor seinen (historisch akzidentellen) Herrschern rangiert85, auch eine konkret politische Aussage – eine Aussage zudem, die in der Entstehungszeit des Ludenschen Geschichtswerks, der Restauration und des Vormärz, zugleich als indirekte Kritik an den bestehenden Zuständen gelesen werden durfte. Gerade in diesem Zusammenhang ist nicht zu vergessen, dass der führende konservative Staatstheoretiker der Restaurationsära, Carl Ludwig von Haller, in dieser Frage genau die entgegengesetzte Auffassung vertrat: »Ich behaupte«, hieß es schon in der »Vorrede« zum ersten Band seines staatstheoretischen Hauptwerks, der »Restauration der Staats-Wissenschaft« (zuerst 1817), »statt des Gangs von unten herauf, den Gang von oben herab; und lasse den Vater vor den Kindern, nicht die Kinder vor dem Vater, den Fürsten vor dem Volk, nicht das Volk vor dem Fürsten erscheinen«86. Ludens volksgeschichtlicher Ansatz widersprach der restaurativen Staatslehre also in einem ihrer wesentlichen Leitsätze diametral, und dies dürfte den aufmerksamen und politisch informierten Zeitgenossen auch nicht verborgen geblieben sein. Überhaupt war und blieb Heinrich Luden auch darin ein Kind seiner Zeit, dass er nicht nur seine freiheitlichen Überzeugungen auch in Zeiten starken politischen Gegenwindes bewahrte und weiterhin für sie, wenn auch in der Form Geschichte der Deutschen »ungefähr hundert Jahre vor Christi Geburt angefangen« habe (ebenda, Bd. IV, S. XXXI). 85 Siehe ebenda, Bd. I, S. 3 ff., 11 ff. u. passim. 86 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlichgeselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt [sic], Bde. I – VI, 2. Aufl. Winterthur 1820 – 1834, hier Bd. I, S. XLIX f.

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vergleichsweise zurückhaltend, eintrat, sondern auch seine im Ganzen doch eher hoffnungsvolle Gesamtsicht der deutschen und der allgemeinen Geschichte nicht aufzugeben bereit war. Sein Grundvertrauen auf einen vernünftigen, letztlich doch, aller Umwege zum Trotz, dem »Guten« zugewandten Gang der Geschichte ließ er sich nicht nehmen; die mehr als ein Jahrhundert nach ihm so beliebte »kontrafaktische« Geschichtsbetrachtung war und blieb ihm fremd. An eher versteckter Stelle seines fünften Bandes hat er dies einmal sehr deutlich ausgesprochen – und man wird in dieser Äußerung sicher eine Grundsatzaussage Ludens über sein Verständnis von Geschichte sehen können: »[…] es ist ein verwegenes Unternehmen, zu bestimmen, wie Heute sein würde, wenn Gestern nicht gewesen wäre, nachdem es gewesen ist. Die Geschichte hält fest, was sich ihr als Erscheinung des Lebens der Menschen darbietet, und suchet es zu erklären nach seinem Ursprunge, zu verstehen nach seiner Bedeutung, zu würdigen nach seiner Wirkung, stets die Entwickelung des Geistes verfolgend, die ihre Aufgabe ist. […] der Geschichte aber würde ihr Boden entzogen werden, wenn das Schicksal von Völkern und Staaten […] nicht bestimmt würde durch die Natur des Menschen-Geistes und durch die Waltung der ewigen Wahrheit«87.

87 Luden, Geschichte des teutschen Volkes (Anm. 8), Bd. V, S. 475 f.

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Wehrhafte Männlichkeit und patriotische Weiblichkeit. Geschlechterbilder und die politische Mobilisierung der Jenaer Studenten 1813/14

Die militärischen Veränderungen im Zuge der napoleonischen Kriege von 1813/14 waren verbunden mit dem Entwurf einer neuen Männlichkeit, der patriotische Wehrhaftigkeit und staatsbürgerliche Rechte eng miteinander verknüpfte.1 Als Verteidigung des Vaterlands wurde der Krieg gegen die napoleonische Armee zum Recht und zur Pflicht aller jungen Männer jenseits ihrer ständischen, regionalen und konfessionellen Herkunft. Die patriotische Mobilisierung der Jenaer Studenten steht paradigmatisch für die integrierende und identitätsstiftende Funktion der Freiheitskriege und für die Bildung einer »intergenerationellen Wertegemeinschaft« (Klaus Ries), deren oberstes Ziel die Schaffung einer deutschen Nation war.2 Im Folgenden wird die Relevanz von Geschlechterbildern im Rahmen dieser Entwicklungen beleuchtet und danach gefragt, wieweit Frauen teilhatten an einer über gemeinsame Erfahrungen und Erwartungen gestifteten stände- und generationenübergreifenden Wertegemeinschaft von 1813/14.3 Die Gründung der Jenaer Burschenschaft erfolgte 1815 aus der Erfahrung der Freiheitskriege heraus in gesamtdeutscher Absicht. Sie war ein entscheidender Katalysator für die Entstehung eines deutschen Nationalbewusstseins. Ihre Gründer hatten überwiegend als Freiwillige, vor allem im Lützower, aber auch in 1 Karen Hagemann: »Männlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens. Paderborn, 2002. 2 Klaus Ries: Ehre und Nation. Die Bildung einer intergenerationellen Wertegemeinschaft aus dem Geiste des Freiheitskrieges, in: Matthias Berg / Jens Thiel / Peter Th. Walther (Hg.): Mit Feder und Schwert. Militär und Wissenschaft – Wissenschaftler und Krieg. Stuttgart 2009, S. 95 – 106, hier S. 100. Vgl. allg. a. Wolfgang Hardtwig: Protestformen und Organisationsstrukturen der deutschen Burschenschaft 1815 – 1833, in: Helmut Reinalter (Hg.): Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815 – 1848/49. Frankfurt am Main 1986, S. 37 – 76. 3 Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive zum Generationenbegriff vgl. allg. Christina Benninghaus, Das Geschlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit um 1930, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 127 – 158.

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anderen Freikorps gekämpft.4 Die, die hier ihren Kampfgeist bewiesen hatten, so die Vorstellung der Burschenschaft, sollten nun auch zur politischen Mitsprache berechtigt sein. Dies entsprach der in der Französischen Revolution entwickelten Vorstellung des »Bürgersoldaten«5, an die der burschenschaftliche Mythos einer »Nation in Waffen« anknüpfte. Nicht das Privileg adliger Geburt, sondern kämpferische Tugend und individuell erworbene militärische Ehre sollten Grundlage politischer Partizipation sein.6 Die idealisierte Verknüpfung von Wehrhaftigkeit und staatsbürgerlichen Rechten integrierte Männer ganz unterschiedlicher Herkunft, Konfession und Schicht. Sie hatte aber auch eine exklusive Seite. Frauen blieben am Rande der von der Burschenschaft imaginierten Nation. Da sie als nicht wehrfähig angesehen wurden, schien ihnen auch die entscheidende Eigenschaft zur politisch aktiven Staatsbürgerschaft zu fehlen.7 Die Verbindung von Nationalsinn und Kampfgeist trug deshalb wesentlich dazu bei, die Differenz zwischen Frauen und Männern bzw. zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit in der modernen Gesellschaft neu zu konturieren.8 Die Männer verteidigten das Land und beschützten »Heim und Herd«, welche zu hüten nun gewissermaßen zur ersten Bürgerpflicht der Frauen in ihrer Rolle als treue Gattinnen und fürsorgliche

4 Zur Burschenschaft vgl. allg. Harald Lönnecker : Studenten und Gesellschaft, Studenten in der Gesellschaft. Versuch eines Überblicks seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Universität im öffentlichen Raum. Basel 2008, S. 387 – 438. Jenaische Burschenschaft Arminia, Germania und Teutonia (Hg.): 175 Jahre Jenaische Burschenschaft. 1815 – 1990. Mainz 1990 u. Robert Keil / Richard Keil: Die Gründung der deutschen Burschenschaft in Jena. 2. Auflage, Jena 1883. 5 Vgl. Ute Frevert: Citizen-Soldiers: General Conscription in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Elisabeth Krimmer / Patricia Anne Simpson (Hg.): Enlightened War. German Theories and Cultures of Warfare from Frederick the Great to Clausewitz. Rochester (New York) 2011, S. 219 – 237; Claudia Opitz: Der Bürger wird Soldat – und die Bürgerin? Die Revolution, der Krieg und die Stellung der Frauen nach 1789, in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760 – 1830. Marburg 1989, S. 38 – 54. 6 Karin Breuer : Competing Masculinities. Fraternities, Gender and Nationality in the German Confederation 1815 – 30, in: Gender & History 2008/20/2, S. 270 – 287, S. 276. Dass auch in den Freikorps die Desertionszahlen hoch waren, wurde dabei nicht thematisiert. Zu Männlichkeitskonzepten in den Freikorps vgl. a. dies: »Heran, heran, zu Sieg oder Tod!«. Entwürfe patriotisch-wehrhafter Männlichkeit in der Zeit der Befreiungskriege, in: Thomas Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 51 – 68. 7 Vgl. Karin Breuer : The Limits of Inclusivity : Student Constructions of Germanness in the Wake of the Wars of Liberation, in: Women and Language 2004/27/2, S. 59 – 62. 8 Vgl. Karen Hagemann: Der »Bürger« als »Nationalkrieger«. Entwürfe von Militär, Nation und Männlichkeit in der Zeit der Freiheitskriege, in: Karen Hagemann / Ralf Pröve (Hg.): Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel. Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 74 – 102.

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Mütter wurde:9 »Haus und Reich muß zu Grunde geh’n«, so formulierte Ernst Moritz Arndt 1813 diese Aufgabenteilung für das Vaterland, »wenn der Mann nicht die Waffen trägt / Und das Weib sich nicht fleißig am Herde regt«.10 An der Aufrechterhaltung der als »natürlich« verstandenen Polarität von wehrhaftem Mann und häuslicher Frau hing gewissermaßen das Wohl der Nation. Das Privileg, Waffen zu tragen, war stets ein zentrales Zeichen studentischer Unabhängigkeit und Ehre gewesen. Waffen gehörten zum studentischen Habitus und waren Demonstration von Männlichkeit.11 Die Burschenschaft von 1815 knüpfte an die traditionelle studentische Duellkultur an, gab ihr aber eine neue Richtung: Nach den napoleonischen Kriegen entwickelte sich das Waffentragen vom Symbol des studentischen Sonderstatus zum Zeichen des Nationalsinns. So wurde das sogenannte »Burschenschwert« als wichtiger Bestandteil der burschenschaftlichen nationalen Symbolik beim Wartburgfest am 18. Oktober 1817 dem Zug der Studenten vorangetragen. Auch das Siegel der Jenaer Burschenschaft zeigte zwei gekreuzte Schwerter und die Initialen »E[hre], F[reiheit], V[aterland]«.12 Im Leben der Studenten habe sich, so die Verfassungsurkunde der Burschenschaft von 1815, »[e]in männlicher, ritterlicher Sinn, der den Gelehrten vom tapfern Wehr- und Ehrenhaften Mann nicht trennt, sondern innig vereint, der die Freiheit, das Recht und die Ehre mit eignem waffenkundigen Arme und durch des Schwerdts Entscheidung vertheidigt […] immer erhalten und bewährt.«13 Die im studentischen Duell geübte Kampfkraft, so suggerierte die Verfassungsurkunde, hätte die militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld von Jena und Auerstedt 1806 verhindern können. Nun galt es, sich für mögliche kommende Kämpfe zu rüsten. Mit dieser neuen Deutung der studentischen Duellkultur verband sich auch ein neuer Begriff von Ehre. Gegen Vorstellungen von »Burschenehre« und 9 Vgl. Karen Hagemann: Nation, Krieg und Geschlechterordnung. Zum kulturellen und politischen Diskurs in der Zeit der antinapolonischen Erhebung Preußens 1806 – 1815, in: Geschichte und Gesellschaft 1996/22/4, S. 562 – 591, S. 562. Vgl. a. Karen Hagemann, Heldenmütter, Kriegerbräute und Amazonen. Entwürfe »patriotischer« Weiblichkeit zur Zeit der Freiheitskriege, in: Ute Frevert (Hg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1997, S. 174 – 200, S. 178 f. 10 Ernst Moritz Arndt: Grundlinien einer teutschen Kriegsordnung. Leipzig 1813, Titelblatt. 11 Vgl. Barbara Krug-Richter : Studentenleben. Kulturhistorische Perspektiven auf die frühneuzeitliche Universität, in: Horst Carl / Friedrich Lenger (Hg.): Universalität in der Provinz. Die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten. Darmstadt 2009, S. 273 – 288. 12 Jenaische Burschenschaft Arminia, Germania und Teutonia (Hg.): 175 Jahre Jenaische Burschenschaft, S. 56. 13 Hermann Haupt: Die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft vom 12. Juni 1815, in: Hermann Haupt (Hg.): Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung. Band 1, 2. Auflage, Heidelberg 1966, S. 114 – 161, S. 114.

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»Burschenfreiheit«, deren Grundlage bloße Raufsucht und Renommisterei waren, grenzte sich die Burschenschaft deutlich ab und bezog den Ehrbegriff nun auf den idealisierten Mut und die Tapferkeit auf dem Schlachtfeld.14 Nicht mehr in willkürlichen studentischen Händeln sollte sich der Kampf um Ehre ausdrücken, sondern im Kampf für die Freiheit der künftigen Nation.15 Das Üben in den Waffen war notwendig, weil prinzipiell jeder Burschenschaftler bereit und in der Lage sein musste, die Ideale des politischen Gemeinwesens zu verteidigen. So schrieb Heinrich Luden 1816 einem Studenten ins Stammbuch: »das Schwert ist noth und noth ist auch das Wort! Drum willst du Jüngling nur das Vaterland so suche Meisterschaft im Schwert und Wort.«16 Im Duell bewiesen sich Disziplin, Furchtlosigkeit und dadurch auch Mannhaftigkeit. Die Ehre, die hier erworben wurde, war zwar keine ständische Ehre mehr, aber sie blieb ein spezifisch männliches Attribut.17 Die Kampfbereitschaft für das deutsche Vaterland machte die Vertrautheit mit den Waffen notwendig, und im Waffengebrauch lernten die Studenten soziale Codes, zu denen Frauen keinen Zugang hatten.18 Frauen sollten geehrt werden, aber die Ehre der Männer konnten sie nicht besitzen. Dass sich die Nation als »Brüderbund von Männern« konstituierte, bedeutete jedoch nicht, dass Frauen ihren Wirkungskreis allein auf den ihnen zugeschriebenen häuslichen Kreis beschränkten. Zwar haben nur sehr wenige Frauen aktiv an den Kämpfen der napoleonischen Kriege, in der Regel als Männer verkleidet, teilgenommen19, allerdings eröffneten sich für Frauen in den napoleonischen Kriegen vielfältige Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Partizipation durch spezifisch weibliche Handlungsmuster. Während die Männer kämpften und damit ihren Anspruch auf politische Teilhabe untermauerten, entstanden in vielen deutschen Städten Vereine »patriotischer Frauen und Jungfrauen«, die sich um die Ausrüstung der Freiwilligen und die Pflege verwundeter Soldaten kümmerten.20 Diese Vereine, die sich als weibliche Pen14 Vgl. Robert Keil / Richard Keil: Die Gründung, siehe hier zum burschenschaftlichen Ehrbegriff: S. 55, S. 71, S. 80 u. S. 288. 15 Zur Redefinition von Ehre in der Burschenschaft vgl. Karin Breuer: The Limits of Inclusivity, S. 59 – 62, S. 61. Zu Wandel und Kontinuität des studentischen Ehrbegriffs vgl. a. Joachim Bauer u. a. (Hg.): Die Universität Jena in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2008, S. 140 f. 16 Robert Keil / Richard Keil: Die Gründung, S. 79. 17 Vgl. Karin Breuer : Competing Masculinities, S. 270 – 287, S. 278 f. 18 Vgl. Karin Breuer : The Limits of Inclusivity, S. 59 – 62, S. 61. 19 Vgl. Karen Hagemann: »Heroic Virgins« and »Belliciose Amazons«. Armed Women, the Gender Order and the German Public during and after the Anti-Napoleonic Wars, in: European History Quarterly 2007/37, S. 507 – 527. 20 Der Verbreitungsgrad dieser Vereine ist beachtlich. In Preußen sollen während der Freiheitskriege 258 Frauenvereine bestanden haben; vgl. Luise Scheffen-Döring: Frauenbewegung und christliche Liebestätigkeit. Leipzig 1917, S. 12. Dirk Reder hat allein für die preußische Rheinprovinz in 79 Orten Frauenvereine nachgewiesen; Dirk Reder : »Im Felde

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dants zu den militärischen Freikorps verstanden, entfalteten eine Vielzahl von Aktivitäten, um den Freiheitskampf zu unterstützen. Sie zupften Verbandsmaterial, sammelten Geld und Unterschriften, spendeten Schmuck, veranstalteten Lotterien und Basare, nähten Fahnen, Bänder und Uniformen. Sie besuchten Versammlungen und Feste und riefen zum Boykott ausländischer Produkte auf, um die heimische Wirtschaft zu stärken. Mit der politischen Akzentuierung solcher Aktionen hat die historische Frauen- und Geschlechterforschung den Blick auf Frauen als handelnde politische Subjekte in und nach den napoleonischen Kriegen gelenkt.21 Auch wenn sie an den Kampfhandlungen nicht direkt beteiligt waren, demonstrierten Frauen doch ihren Patriotismus, indem sie Aufgaben übernahmen, die für den Krieg unmittelbar wichtig waren. Ohne die Ausrüstung, die sie von den Frauenvereinen erhielten, hätten viele unbemittelte Freiwillige gar nicht am Krieg teilnehmen können. Ebenso wäre die Pflege der Verwundeten angesichts der desolaten Situation in den Lazaretten ohne das weibliche freiwillige Engagement kaum zu bewältigen gewesen. Der Einsatz der Frauenvereine für Freiwillige und Verletzte stellte also eine wichtige Voraussetzung für die Kriegsführung dar.22 Auch im Falle des Kommandanten Lützow ist festzuhalten, dass seine Frau, Elisa von Lützow geb. Gräfin von Ahlefeldt-Laurvig (1788 – 1855), einen wesentlichen Anteil an der Errichtung des Freikorps hatte. Sie sammelte Geld, Kleider, Ausrüstungsstücke sowie Waffen und verschaffte durch ihre familiären Kontakte dem Korps eine Anzahl von Pferden. Darüber hinaus war sie auch an der Soldatenwerbung beteiligt und verpflichtete in verschiedenen Städten Freiwillige.23 Bei der Mobilisierung der Jenaer Studenten saß sie in Abwesenheit ihres Mannes, der sich mit seinem Stab in Leipzig aufhielt, im Büro der Werber im alten Regierungsgebäude in der Johannisgasse und veranlasste die Studenten zur Einschreibung in die Listen.24 Im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach bildete sich im Dezember 1813 unter der Schirmherrschaft der Großherzogin Maria Pawlowna eine »Gesellschaft patriotischer Frauen«, die in Weimar ein Spital einrichtete, Verwundete

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Soldat mit Soldat, daheim Männerbund mit Männerbund, Frauenverein mit Frauenverein«. Der Patriotische Frauenverein Köln in Krieg und Armenpflege 1813 – 1826, in: Geschichte in Köln 1992/32, S. 53 – 76, S. 71. Vgl. etwa als »Pionierstudie« Carola Lipp (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Bühl-Moos 1986. Vgl. Dirk Reder : Frauenbewegung und Nation. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813 – 1830). Köln 1998, S. 369 – 381, S. 423. Frank Bauer: Horrido Lützow! Geschichte und Tradition des Lützower Freikorps. München 2000, S. 50. Robert Keil / Richard Keil: Die Gründung, S. 45.

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pflegte sowie Bekleidung sammelte und austeilte.25 Darüber hinaus existierten im Herzogtum während der Freiheitskriege in mehreren Orten Fraueninitiativen, die Charpie zupften, Wäsche und Kleidung für die Soldaten fertigten und die Fürsorge für Invalide übernahmen.26 In Jena war 1813 ein Frauenverein entstanden, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, »nicht nur kranken und verwundeten vaterländischen Kriegern eine Labung zu verschaffen, Witwen und Waisen der Gebliebenen zu unterstützen, sondern auch die traurige Lage derer, die in unseren Landen durch den Krieg am meisten gelitten, etwas zu erleichtern.«27 Hier deutet sich bereits an, dass die Frauenvereine ihre Arbeit mit dem Ende der Kriegshandlungen nicht als beendet ansahen, dass sie vielmehr danach strebten, ihr Engagement über den Krieg hinaus in den Bereich einer allgemeiner verstandenen sozialen Fürsorge und Armutsbekämpfung auszuweiten. Am 20. September 1815 trat erneut ein Kreis von Jenaer Frauen mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, in dem sie an ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger appellierten, ihre Fürsorgearbeit für Verwundete, Witwen und Waisen mit Geld und Kleidungsstücken zu unterstützen.28 Binnen weniger Monate fanden sich in Jena fast hundert Frauen in einem »Verein patriotischer Frauen und Jungfrauen« zusammen, der sich neben der Unterstützung von Soldaten und deren Angehörigen sowie der Ausstattung von Waisenkindern mit Kleidung auch den Betrieb einer Industrieschule für Mädchen zur Aufgabe machte.29 Die Mitglieder des Vereins gehörten vornehmlich der städtischen akademischen und administrativen Elite an.30 In einem detaillierten »Plan des Frauen25 Vgl. Dirk Reder : Frauenbewegung und Nation, S. 250 u. S. 371; u. Reinhard Jonscher : Kleine thüringische Geschichte. Jena 1993, S. 269. 26 Vgl. Dirk Reder, Frauenbewegung und Nation, S. 258 f.; u. Zentraldirektion des Patriotischen Instituts der Frauenvereine im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Findbuch, hrsg. v. Thüringischen Staatsarchiv Weimar. Weimar 1972. Manche dieser Initiativen und Aktionen wurden durch Männer angeregt; vgl. etwa für das Weimarer Beispiel Julia A. Schmidt-Funke, Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch. Köln u. a. 2005, S. 135 – 139 u. 366 – 369. 27 Christine Theml: Die ersten Frauenvereine in Thüringen, in: Thüringen. Blätter zur Landeskunde 1993, 8 S. o. P., S. 2. 28 Vgl. Christine Theml: Die ersten Frauenvereine, S. 3; u. Helene Gaue: Hundertzehn Jahre Haupt-Frauenverein Jena. Jena 1925, S. 3 f.; siehe auch Hermann Knott: Hundert Jahre des Patriotischen Instituts der Frauenvereine im Großherzogtum Sachsen. Weimar 1915; u. Johanna Sänger : Partizipationsgewinn durch Institutionalisierung? Frauen und Frauenverein in öffentlichen Festen, in: Johanna Sänger / Lars Deile (Hg.): Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800. Köln u. a. 2005, S. 142 – 157; Statuten sind überliefert vom Jenaer (1815) und vom Weimarer Frauenverein (1817). 29 Vgl. Christine Theml: Die ersten Frauenvereine, S. 3. 30 Unter ihnen Henriette Voigt, geb. von Eckhardt, Sylvie Köthe, geb. von Ziegesar, Caroline Marezoll, geb. Mayenberg, Charlotte Vogel, geb. Cuno, und Marianne Schwarze, geb. Reimann. Erste Vorsteherin des Vereins war Friederike Juliane Griesbach, geb. Schütz; vgl. Johanna Sänger : Partizipationsgewinn durch Institutionalisierung, S. 154. Vgl. a. Christine Theml: Der erste Frauenverein, S. 5; u. Dirk Reder : Frauenbewegung und Nation, S. 259.

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Vereins«, den die Gründerinnen im Oktober 1815 veröffentlichten, wurde allerdings der stände- und generationenübergreifende Charakter des Vereins betont: Mitglied könne jede verheiratete als auch unverheiratete Frau werden, die sich in die Liste eintrüge, zu ehrenamtlicher Mitarbeit verpflichte oder einen finanziellen Beitrag leiste.31 »Nicht bloß die reiche Frau«, so wurde betont, »kann wohlthätig seyn«, vielmehr könne jede »biedersinnige deutsche Frau« dem Verein nützen, entweder »durch ihre Einsichten, Erfahrungen, Bekanntschaften und Verbindungen« oder indem sie »kleinere Arbeiten […] unentgeldlich übernimmt«; wichtig sei nur »ächter Schwesternsinn, und Eifer für die gute Sache«.32 In ihrem Verein legten die Frauen also Wert auf die Regeln der neuen bürgerlichen Interaktionsformen: die ständeübergreifende Offenheit ihrer Zusammenhänge, die ebenso wie bei den männlichen Vereinigungen der Zeit freilich mehr postuliert als real war, und die demokratische Organisation im Innern. Die Vorsteherinnen wurden per Wahl berufen und trafen sich wöchentlich, um über die Verwendung der gesammelten Gelder gemeinsam zu beraten und zu entscheiden. Zwar verblieben die Handlungsmuster des Vereins im Rahmen der weiblichen Rolle des »Heilen, Pflegen und Helfens«, also einer geradezu klassischen Aufgabenzuweisung an Frauen, dies sollte aber nicht dazu führen, diesen Tätigkeiten den politischen Gehalt abzusprechen. Im Engagement der Jenaer Frauen drückte sich ein deutlicher Anspruch auf eigenständige Teilnahme an der entstehenden deutschen Nationalbewegung aus. Nicht zuletzt sammelten sie in ihrem Verein Organisationserfahrungen und Erfahrungen im Umgang mit Öffentlichkeit. Die breite Unterstützung, die der Frauenverein in der Jenaer Öffentlichkeit fand, deutet darauf hin, dass dessen Tätigkeit wenig umstritten war. Mit seinen Aktivitäten war er gut integriert in das soziale Netzwerk der Stadt. Den Großteil seiner Einnahmen erhielt er aus Kollekten, die zu verschiedenen Terminen im Kirchenjahr und anlässlich von Festen und Feiern eingesammelt wurden, zudem erhielt der Verein die Einnahmen von Konzerten im »Gasthaus zur Rose«.33 Dass der Jenaer Frauenverein sich nicht als eine rein karitative Einrichtung verstand, sondern als Teil der entstehenden deutschen Nationalbewegung, zeigte sich anlässlich des Festes zur Erinnerung an den zweiten Jahrestag der Einnahme von Paris. Bei einer Feier am 31. März 1816 überreichte der Frauenverein der Burschenschaft eine goldumsäumte rot-schwarz-rote und in der Mitte mit einem goldenen Eichenzweig versehene Fahne, die sich heute im Jenaer Stadt-

31 Vgl. »Für die Jenaischen Frauen und Jungfrauen« / »Plan des Frauen-Vereins«, in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW): Zentraldirektion des Patriotischen Instituts der Frauenvereine im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach Nr. 326, Bl. 3 – 6. 32 »Für die Jenaischen Frauen und Jungfrauen« / »Plan des Frauen-Vereins«, Bl. 5 recto. 33 Vgl. Johanna Sänger : Partizipationsgewinn durch Institutionalisierung, S. 142 – 157, S. 152 f.

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museum befindet.34 Auf der unteren roten Bahn war die Widmung »Von den Frauen und Jungfrauen zu Jena am 31. März 1816« gestickt, die Spitze der Fahnenstange war mit den Initialen des Wahlspruchs der Burschenschaft »Ehre, Freiheit, Vaterland« verziert.35 Vorbildhaft für die Farben der Fahne waren die Farben der Uniformen des Lützower Freikorps. Auch wenn es sich bei der Fahne noch nicht um die deutsche Trikolore handelte, wurden doch bereits deutliche politische Bezüge hergestellt. So heißt es im Festgedicht zur Fahnenweihe von Heinrich Netto u. a.: »Die Farben Roth und Schwarz mit Gold umzogen, / Sie deuten einen tiefen, heil’gen Sinn: / Der Jüngling soll von jugendlichen Freuden / Den hohen Ernst des Lebens nimmer scheiden / […] / Fest wie der goldene Saum die Fahn’ umwunden, / So sei er Gott und Vaterland verbunden!«36 Die Fahne wurde am 18. Oktober 1817 zum Wartburgfest mitgeführt und danach zum »Wahrzeichen der gesamten deutschen Burschenschaft«.37 Das Sticken und Nähen von Fahnen symbolisierte in besonderer Weise die Teilnahme von Frauen an der Nationalbewegung, denn Fahnen waren nicht nur bunte Stofftücher, sondern Heer- und Herrschaftszeichen, die als wichtige Identitätsobjekte von den Truppen als kostbarer Besitz geschützt und gepflegt wurden. Gewissermaßen als Heerzeichen künftiger Kämpfe symbolisierte die Fahne des Jenaer Frauenvereins die Fortführung des Kampfes für die Freiheit des Vaterlandes.38 Indem die Frauen die Fahne für die Burschenschaft fertigten und dieser öffentlich übergaben, zeigten sie deutlich, dass sie die politischen Ziele der Burschenschaft unterstützten. Gewissermaßen stellvertretend für die Frauen zog die Fahne mit auf das politische »Schlachtfeld« und feuerte die Männer an, für Freiheit und Nation zu kämpfen. Die von den Frauen gefertigte Fahne sollte die Männer auch daran erinnern, was es zu verteidigen galt: Heim und Herd. Diese Mahnung war durch die Fahne immer präsent. Das Fahnensticken spielte sich zwar im Rahmen »weiblicher Tätigkeiten« ab, es war aber keineswegs unpolitisch, sondern ein eindeutiges politisches Bekenntnis, das die Einbettung des Frauenvereins in den größeren Zusammenhang der deutschen Nationalbewegung deutlich machte. 34 Stadtmuseum Jena, Leihgabe der Jenaer Burschenschaften, o. Inventarnr. 35 Vgl. Dirk Reder : Frauenbewegung und Nation, S. 427. 36 Gustav Heinrich Schneider : Die Burschenschaft Germania zu Jena, Berlin 1897, S. 41; vgl. a. Falk Grünebaum: Deutsche Farben. Die Entwicklung von Schwarz-Rot-Gold unter besonderer Berücksichtigung der Burschenschaft, in: Klaus Gerstein / Friedhelm Golücke/Peter Krause (Hg.): GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte. Bd. 7. Würzburg u. a. 2004. 37 Frank Bauer : Horrido Lützow! S. 241. 38 Vgl. allg. Ute Planert: Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: dies (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne. Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 15 – 65, S. 42 u. Karen Hagemann: »Männlicher Muth und Teutsche Ehre«.

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Dieser Zusammenhang wurde von den Zeitgenossen auch gesehen. Heinrich Netto hob in seinem Festgedicht zur Fahnenweihe 1816 die »edlen vaterländischen Gesinnungen« hervor, die die »biedern deutschen Frauen und Jungfrauen dieser Stadt […] durch Ueberreichung einer Fahne an die Studirenden unserer Akademie […] an den Tag« gelegt hätten.39 Gleichzeitig betonte er aber auch die Differenz, die zwischen dem Jünglingsbund der Burschenschaft als dem eigentlichen Träger der deutschen Nationalbewegung und den Frauen bestand. Deren Engagement diente dazu, die Erfahrungen, Handlungen und Ziele der Männer zu erkennen, zu fördern und zu bekräftigen40 ; im eigentlichen Sinn Teil hatten sie aber daran nicht. Daher muss die Antwort auf die Frage, ob die zur Zeit der Freiheitskriege engagierten Frauen und Mädchen einer über gemeinsame Erfahrungen und Erwartungen geformten »intergenerationellen Wertegemeinschaft von 1813/14« angehörten, zwiespältig ausfallen. Versteht man diese als eine durch fundamentale gemeinsame Erlebnisse geprägte Imagined Community41, so war die Nationalbewegung die Sache der durch die Erfahrungen in den Freikorps geprägten jungen Männer. Militär und Universität waren die zentralen, exklusiv männlichen Orte, an denen sich die Wertegemeinschaft von 1813/14 konstituierte. Frauen stand deshalb die Partizipation an gemeinsam verbindenden Erlebnissen nicht offen. Privilegiert und zur Norm erhoben wurden die Erfahrungen einer universitären männlichen Elite, deren Selbststilisierung als einer durch den Krieg geschaffenen Wertegemeinschaft ermöglichte, weibliches Engagement zu vernachlässigen.42 Die Erfahrungen und Handlungsbereiche von Frauen flossen nicht oder nur sehr begrenzt in diese Imagined Community ein. Mehr noch: Indem sie die Geschlechterdifferenz kultivierte, konstituierte sich die Wertegemeinschaft von 1813/14 gerade in Abgrenzung von Frauen. Jedoch: Bürgerliche Frauen konnten im Zuge der napoleonischen Kriege öffentliche Räume für sich erobern. Die Handlungsmuster, die sich in der Zeit der Freiheitskriege entwickelten, hatten bis zum Ersten Weltkrieg Vorbildfunktion. Wohltätigkeit und patriotisches Engagement verbanden sich zu einem Verhaltensrepertoire, das noch bis ins 20. Jahrhundert hinein für das Handeln von bürgerlichen Frauen im öffentlichen politischen Raum paradigmatisch sein sollte. 39 Gustav Heinrich Schneider : Die Burschenschaft, S. 41. 40 Gustav Heinrich Schneider : Die Burschenschaft, S. 41. 41 So Christina Benninghaus zur Definition von »Generation« in Anschluss an Karl Mannheim; vgl. Christina Benninghaus: Das Geschlecht der Generation, S. 127 – 158, hier S. 140. 42 Diese These, die Christina Benninghaus in Bezug auf die Generationenerfahrung der Kriegsteilnehmer 1914/18 entwickelt hat, scheint mir auch auf die Frage der »Generation« bzw. »intergenerationellen Wertegemeinschaft« von 1813/14 anwendbar zu sein; vgl. Christina Benninghaus: Das Geschlecht der Generation, S. 127 – 158, S. 138, 141, 146, 156.

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Die Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung und ihre Mitglieder 1816 – 1820

Zur Arbeitsweise und Geschäftstätigkeit der Deutschen Bundesversammlung – sie wird in Anlehnung an den in Regensburg tagenden Immerwährenden Reichstag des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation auch als Bundestag bezeichnet – gibt es nur wenige Untersuchungen, aber viele Vermutungen und (Vor-)Urteile. Mit der im Thurn und Taxis Palais in Frankfurt am Main tagenden Versammlung wird im Allgemeinen eine umständliche Arbeitsweise und mangelnde Geschäftserledigung verbunden1, die es in einzelnen Phasen der Bundesgeschichte fraglos gegeben hat. Für die ersten Jahre nach Eröffnung des Bundestags ist eine solche Bewertung allerdings völlig unangemessen angesichts des ernormen Arbeitspensums, das die Frankfurter Versammlung zu erledigen hatte, und des außergewöhnlichen Engagements ihrer führenden Mitglieder. Um zu einer angemessenen Beurteilung zu kommen, muss man zunächst einige Grunddaten in Erinnerung rufen. Der Frankfurter Bundestag war eine Versammlung von Bevollmächtigten der Bundesstaaten, von denen elf über eine Virilstimme verfügten, während die kleineren Bundesmitglieder in sechs Kurien zusammengefasst waren. Von diesen Kurien besaßen vier einen festen gemeinsamen Bundestagsgesandten (die 12., 14., 15. und 16. Stimme), Braunschweig und Nassau (13. Stimme) sowie die vier Freien Städte (17. Stimme) wechselten sich hingegen in der Führung der Gesamtstimme nach einem festgelegten Turnus ab. Üblicherweise waren also 16 bis 20 Bundestagsgesandte in Frankfurt anwesend2, auf deren Schultern die gesamte Arbeitslast der Bundesversamm1 Vgl. z. B. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. T. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig 1927, S. 143 ff. Zur lange Zeit negativen Bewertung des Deutschen Bundes siehe den Forschungsüberblick bei Jürgen Müller: Der Deutsche Bund 1815 – 1866. München 2006, S. 51 – 88. 2 Aufgrund der vormundschaftlichen Regierung des Königs von Hannover im Herzogtum Braunschweig wurde die braunschweigische Stimme in dem hier betrachteten Zeitraum von dem hannoverschen Bundestagsgesandten geführt. Vgl. Tobias C. Bringmann: Handbuch der Diplomatie 1816 – 1963. Auswärtige Missionschefs in Deutschland und deutsche Missionschefs im Ausland von Metternich bis Adenauer. München 2001, S. 55 u. 208.

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lung ruhte. Die Gesandten wurden dabei in der Regel durch einen Legationssekretär und ein bis zwei Schreiber unterstützt. Hinzu kamen die wenigen Bediensteten der Bundeskanzlei: neben dem Direktor (der zugleich Protokollführer war) je ein Kassierer, Kontrolleur und Registrator, zwei bis drei Kanzlisten und Kanzleidiener sowie der Kassendiener.3 Alles in allem ein sehr überschaubarer Personenkreis. Das Geschäftsverfahren des Bundestags wurde durch die Vorläufige Geschäftsordnung vom 14. November 1816 geregelt. Sie enthielt Bestimmungen über Zeit, Ort und den Ablauf der Bundestagssitzungen, die Ordnung der Verhandlungsgegenstände, den Geschäftsgang und die Abstimmungsmodi, die Protokollführung, Archivierung und Publikation der Verhandlungen und Beschlüsse der Bundesversammlung. Die Geschäftsordnung zeichnete sich entgegen älteren Auffassungen4 durch ein »Höchstmaß an Elastizität aus und erlaubte in nahezu allen Verfahrensstadien einen bemerkenswerten Grad der Flexibilität«5, indem etwa ein jederzeitiger Wechsel zwischen förmlichen und vertraulichen Sitzungen möglich war, informelle Vorabsprachen nicht protokolliert wurden und »sogar unverbindliche Probeabstimmungen«6 statthaft waren. Dadurch war es möglich, den Willensbildungsprozess schon vor der Instruktionseinholung weit voranzutreiben. Konsensuale Lösungen wurden somit erleichtert, anstehende Entscheidungen konnten aber auch hinausgezögert werden. Dafür waren aber in erster Linie die Regierungen verantwortlich und nicht die Bundestagsgesandten. Von Sonderfällen abgesehen, musste die Tagesordnung nicht förmlich mitgeteilt werden und konnte auch nach Sitzungsbeginn jederzeit abgeändert werden. Das in der Bundesakte festgelegte Mehrheitsprinzip wurde zudem präzisiert: Stimmenthaltungen wirkten nun mehrheitsverstärkend. Auf Antrag des Bremer Bundestagsgesandten Johann Smidt war den kleineren Bundesstaaten außerdem zugebilligt worden, dass auch die turnusmäßig nicht stimmführenden Gesandten an den Sitzungen teilnehmen durften. Allen Bundestagsgesandten stand außerdem ein jederzeitiges Antragsrecht zu, und bei Abstimmungen mit zweifelhaftem Ausgang konnte der Präsidialgesandte deren Wiederholung anberaumen. Nicht zuletzt hatten die Gesandten das Recht, ihre Abstimmung nachträglich abzuändern. Die Vorläu3 Vgl. den Überblick bei Rüdiger Moldenhauer : Aktenbestand und Geschäftsverfahren der Deutschen Bundesversammlung (1816 – 1866), in: Archivalische Zeitschrift 1978/74, S. 35 – 76. 4 Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, T. 2, S. 147, spricht von einer »lächerlich schwerfällige[n] Geschäftsordnung«. 5 Michael Kotulla: Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. Bd. 1: Gesamtdeutschland, Anhaltische Staaten, Baden. Berlin/Heidelberg/ New York 2006, S. 62. 6 Ebd.

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fige Geschäftsordnung brachte also keine »augenfällige ›machtrelevante‹ Dominanz einzelner Mächte« zum Ausdruck, sondern betonte vielmehr die rechtliche Gleichheit der Bundesglieder.7 Nach der Geschäftsordnung sollten ordentliche Sitzungen jeden Montag und Donnerstag von 10 bis 13 Uhr stattfinden; seit 1819 kam der Bundestag dann nur noch einmal pro Woche, und zwar am Donnerstag, zusammen. Im Bedarfsfall konnten neben den ordentlichen auch außerordentliche Sitzungen anberaumt werden. Zwischen 1816 und 1820 fanden insgesamt 195 Sitzungen statt.8 Die eigentliche Arbeit des Bundestages wurde allerdings zwischen den Sitzungen erledigt. Und das war in den ersten Jahren nicht gerade wenig, hatte doch die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 als das »erste Geschäft der Bundesversammlung nach ihrer Eröffnung […] die Abfassung der Grundgesetze des Bundes und dessen organische Einrichtung in Rücksicht auf seine auswärtigen, militärischen und inneren Verhältnisse« zur Aufgabe gemacht.9 Das war nicht nur ein gewaltiges Arbeitspensum, sondern auch mit der Schwierigkeit verbunden, die widerstreitenden Vorstellungen und Interessen der Bundesstaaten unter einen Hut zu bringen. Zu den Kernaufgaben des Bundestags gehörte zudem die Bearbeitung von Eingaben und Beschwerden von Privatpersonen, Korporationen und gesellschaftlichen Gruppen, die seit Herbst 1816 in großer Zahl bei der Bundesversammlung eingingen. Sie betrafen einerseits Rechte und materielle Entschädigungen von Angehörigen gesellschaftlicher Gruppen (z. B. Standesherren und Reichsritter, überrheinische Geistlichkeit, Mitglieder und Bedienstete ehemaliger Korporationen), die durch den Umwälzungsprozess zu Beginn des 19. Jahrhunderts und den Untergang des Alten Reichs Verluste erlitten hatten. Andererseits gingen Schriften und Petitionen von Vertretern neuer Interessengruppen ein, die eine Handlungsaufforderung an die Bundesversammlung insbesondere in Fragen von Handel und Verkehr, Freiheits- und Bürgerrechten enthielten und deren Erledigung ein Indikator dafür war, inwieweit sich der Bundestag der Sorgen und Interessen von Teilen der Bevölkerung annahm. Die Bundesversammlung entzog sich dieser Aufgabe nicht, sondern widmete ihr große Aufmerksamkeit. Angesichts dieses umfangreichen Arbeitsprogramms unterbreitete der österreichische Präsidialgesandte Johann Rudolf Graf von Buol-Schauenstein (1763 – 1834) schon in seinem programmatischen Vortrag vom 11. November 7 Vgl. Kotulla: Deutsches Verfassungsrecht (wie Anm. 5), Zitat S. 62. 8 Vgl. Moldenhauer : Aktenbestand und Geschäftsverfahren der Deutschen Bundesversammlung (wie Anm. 3), S. 45 f.; Heinrich Otto Meisner : Die Protokolle des Deutschen Bundestages von 1816 – 1866, in: Archivalische Zeitschrift 47, 1951, S. 1–22, hier S. 14 u. 22. 9 Vgl. Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. I, Bd. 1: Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813 – 1815. Bearb. v. Eckhardt Treichel. München 2000 (künftig: QGDB I/1), Zitat S. 1512 (Artikel 10).

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1816 erste Vorschläge zur Organisation der Arbeit der Bundesversammlung. Buol ging davon aus, dass der Bundestag neben der Festsetzung des »äußern Organism des Bundes« eine Vielzahl von Geschäften zu erledigen haben werde. Deshalb sei es zweckmäßig, viele Angelegenheiten zunächst »einer Bearbeitung und Vorbereitung durch Ausschüsse zu übergeben«, ehe die eigentliche Beratung und Abstimmung im Engeren Rat bzw. im Plenum der Bundesversammlung erfolge.10 Bereits in der nächsten Bundestagssitzung vom 14. November 1816 wurde dann eine erste Kommission, die sogenannte Reklamations- oder Eingabenkommission auf Antrag Buols und Vorschlag des hannoverschen Bundestagsgesandten Georg Friedrich von Martens (1756 – 1821) gebildet.11 Sie war eine ständige Einrichtung, deren Mitglieder jedoch dreimal im Jahr erneuert wurden. Ihre Bestellung wie auch diejenige anderer Kommissionen, die nur für eine bestimmte Aufgabe eingesetzt wurden, erfolgte im Engeren Rat durch geheime Wahl per Stimmzettel. Je nach Auftrag erarbeitete die Kommission ein gemeinsames Gutachten, dem in Einzelfällen auch Sondervoten einzelner Kommissionsmitglieder beigefügt werden konnten, einen Vortrag oder Bericht. In manchen Fällen wurde auch ein Gesetz- oder Verordnungsentwurf beigefügt. Das Beratungsergebnis wurde dann von einem Kommissionsmitglied im Engeren Rat vorgetragen und zu Protokoll genommen. Bisweilen ging der Wahl einer Kommission zunächst die Bestellung eines Bundestagsgesandten voraus, der mit der Sammlung und Aufbereitung von Materialien beauftragt wurde, um für die weiteren Verhandlungen eine gesicherte Diskussionsgrundlage zu schaffen. Über die internen Kommissionsberatungen ist im Allgemeinen wenig bekannt. In den Akten der Bundeskanzleidirektion sind zumeist nur die benutzten Materialien (Gesetze, Verordnungen, Gutachten, Gerichtsurteile, Ver10 Vgl. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung nebst den loco dictaturae gedruckten Beilagen (künftig: ProtDBV) 1816, 2. Sitzung vom 11. November 1816, § 7, S. 36-42, die Zitate S. 40. 11 Vgl. ProtDBV 1816, 3. Sitzung vom 14. November 1816, § 5, S. 55 und 5. Sitzung vom 21. November 1816, Beilage 5, S. 71. Zu den Kommissionen der Bundesversammlung vgl. Johann Ludwig Klüber : Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1840, Ndr. ebd. 1975, § 152, S. 181 – 183; Wolfram Siemann: Wandel der Politik – Wandel der Staatsgewalt. Der Deutsche Bund in der Spannung zwischen »Gesammt-Macht« und »völkerrechtlichem Verein«, in: Helmut Rumpler (Hg.): Deutscher Bund und deutsche Frage 1815 – 1866. Wien/München 1990, S. 59 – 73, hier S. 63 ff.; und Carl von Kaltenborn: Geschichte der Deutschen Bundesverhältnisse und Einheitsbestrebungen von 1806 bis 1856 unter Berücksichtigung der Entwicklung der Landesverfassungen. Bd. 1. Berlin 1857, S. 300 f.; Jürgen Müller : Der Deutsche Bund und die ökonomische Nationsbildung. Die Ausschüsse und Kommissionen des Deutschen Bundes als Faktoren politischer Integration, in: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2012, S. 283 – 302, hier S. 285 ff.

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waltungsbescheide, Statistiken) sowie die Beratungsergebnisse (Gutachten, Vortrag, Bericht, Gesetzentwurf) überliefert, während der Verlauf der internen Diskussionen nicht dokumentiert wurde.12 In Einzelfällen kann dies allenfalls auf Grundlage der Berichte einzelner Kommissionsmitglieder rekonstruiert werden.13 Angesichts der Fülle von Eingaben14 musste die Reklamationskommission grundsätzlich arbeitsteilig verfahren. Jedes Mitglied erhielt eine bestimmte Anzahl davon zur Bearbeitung zugewiesen, und das Ergebnis wurde vom jeweiligen Berichterstatter im Engeren Rat vorgetragen und zu Protokoll gegeben. Da es häufig um komplizierte Rechtsfragen ging, war die Begutachtung teilweise sehr zeitaufwändig und konnte in nicht wenigen Fällen erst nach Jahren abgeschlossen werden. Die personellen Ressourcen der Bundesversammlung wurden dadurch in erheblichem Maße gebunden, so dass Ende 1817 Überlegungen angestellt wurden, wie man der Flut von Eingaben und Reklamationen Herr werden könne. Da »jedem Deutschen der Weg an die Bundesversammlung jederzeit offen stehen«15 müsse, viele Privatreklamationen jedoch in einer unangemessenen und unschicklichen Weise abgefasst und eingereicht würden, wurde auf Antrag des Bundestagsgesandten Jacob Friedrich Freiherr von Leonhardi (1778 – 1839)16 eine Kommission gewählt, um zu prüfen, ob es nicht sinnvoll sei, Agenten zu bestellen, die für die Einhaltung der nötigen Formen Sorge zu tragen hätten. Die Kommission wog in ihrem Gutachten die Vor- und Nachteile einer solchen Einrichtung gegeneinander ab und unterbreitete Vorschläge sowohl über die Art und Weise der Einreichung von Vorstellungen an die Bundesversammlung als auch zum Wirkungskreis und den persönlichen Verhältnissen der zu bestellenden Agenten. Zugleich wurden einige Frankfurter Juristen benannt, die zur Übernahme dieser Funktion bereit seien.17 Der Bundestag behandelte diese Angelegenheit allerdings nur in vertraulicher Sitzung und erließ lediglich allgemeine Richtlinien, während auf die Bestellung offizieller Agenten verzichtet wurde.18 Der weitergehende Vorschlag des mecklenburgischen Bundestagsge12 Vgl. etwa Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, DB I/1, Nr. 22, T. 1 – 2 (Austrägalverfahren); ebd. Nr. 303, T. 1 – 3 (Büchernachdruck); ebd. Nr. 332, T. 1 – 3 (Pressefreiheit). 13 Vgl. z. B. Ludwig Gieseke: Günther Heinrich von Berg und der Frankfurter Urheberrechtsentwurf von 1819, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 2002/56, S. 163 – 178. 14 Vgl. die Übersicht in ProtDBV, 1817, S. 915 – 929 (1816: 113 Nummern im Einreichungsprotokoll, 1817: 353 Nummern); ProtDBV 1818, S. 689 – 696 (191 Nummern); ProtDBV 1819, S. 729 – 736 (132 Nummern); ProtDBV 1820, S.735 – 742 (113 Nummern). 15 Kommissionsgutachten vom 24. November 1817, ProtDBV 1817, Beilage 77, S. 767. 16 Vgl. Wolfgang Klötzer (Hg.): Frankfurter Biographie: Personengeschichtliches Lexikon. Bd. 1. Frankfurt am Main 1994, S. 452; Deutsches Biographisches Archiv (künftig: DBA). München u. a. 1982 ff., hier : I, 755, 170 – 180. 17 Vgl. Kommissionsgutachten vom 24. November 1817, ProtDBV 1817, Beilage 77, S. 767-773. 18 Vgl. Bundesbeschluss über die Abfassung und Einreichung von Privatreklamationen bei der Bundesversammlung vom 11. Dezember 1817, ProtDBV 1817, § 412, S. 813 f.

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sandten Leopold von Plessen (1769 – 1837) vom Sommer 1817, die Entscheidung wichtiger Privatreklamationen einer permanenten Austrägalinstanz zu übertragen19, war wegen des Einstimmigkeitsgebots für die Etablierung organischer Bundeseinrichtungen von vornherein chancenlos. Eine solche Instanz hätte den Bundestag freilich erheblich entlasten, die Bearbeitungszeit verkürzen und zugleich ein rechtsförmiges Verfahren garantieren können. Nachdem eine größere Anzahl von Kommissionen gebildet worden war, wuchs das Bedürfnis, auch für diese eine Geschäftsordnung zu erlassen. Die gewählte Kommission (Martens, Wangenheim, Berg, Danz) legte innerhalb von drei Wochen ein ausführliches Gutachten20 nebst Entwurf einer Geschäftsordnung für die Bundestagskommissionen21 vor, der ohne große Diskussion am 29. April 1819 angenommen wurde22. Ziel der Geschäftsordnung war neben der Präzisierung bislang unbestimmt gebliebener Punkte vor allem die Beschleunigung der Kommissionstätigkeit, die nicht zuletzt wegen Krankheit oder Abwesenheit einzelner Mitglieder des Öfteren ins Stocken geriet. Eingeführt wurde deshalb die Wahl von Stellvertretern, die einsprangen, wenn ordentliche Kommissionsmitglieder verhindert waren, sowie die Erstellung von Übersichten über den Stand der Geschäftstätigkeit. Letzteres betraf vor allem die Reklamationskommission, die sämtliche Privateingaben und Reklamationen aller Art, einschließlich Schriften, Zeichnungen, Erfindungen und Projekte zugewiesen erhielt und zunächst darüber entscheiden musste, ob die Sache überhaupt vor den Bundestag gehörte oder nicht. Für sie wurden nun drei Erledigungstermine im Jahr festgesetzt. Über die Zusammensetzung der Bundestagskommissionen ist bislang wenig bekannt, obwohl eine solche Untersuchung in zweierlei Hinsicht aufschlussreich ist: Zunächst gibt sie Hinweise zur persönlichen Reputation und zum politischen Gewicht der einzelnen Bundestagsgesandten. Da diese auch für bestimmte Richtungen in der Bundespolitik standen, kann der statistische Befund aber auch zu einer genaueren Einschätzung der internen Kräfteverhältnisse und damit der inhaltlichen Ausrichtung der Bundesversammlung beitragen. Dazu existieren bislang eher widersprüchliche Einschätzungen23 als systematische 19 Vgl. ProtDBV 1817, 26. Sitzung vom 5. Mai 1817, § 152, 292 – 294, hier S. 293. 20 Vgl. ProtDBV 1819, 14. Sitzung vom 22. April 1819, Beilage 10, S. 174 ff. (7 unpaginierte Seiten). 21 Vgl. ProtDBV 1819, 14. Sitzung vom 22. April 1819, Beilage 11, S. [183 – 185]. 22 Vgl. ProtDBV 1819, 15. Sitzung vom 29. April 1819, § 65, S. 193. 23 So konstatiert Karl Otmar Freiherr von Aretin an einer Stelle, dass es dem bayerischen Bundestagsgesandten Johann Adam von Aretin zusammen mit seinem württembergischen Kollegen Karl August von Wangenheim gelungen sein, »die Geschäfte des Bundestags weitgehend in seine Hand zu bekommen« (Neue deutsche Biographie [künftig: NDB]. Bd. 1. Berlin 1953, S. 347), während an anderer Stelle ausgeführt wird, daß Buol den Bundestag beherrscht habe. Vgl. Karl Otmar von Aretin: Die deutsche Politik Bayerns in der Zeit der

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Analysen. Die Untersuchung der Mitglieder der Bundestagskommissionen in den Jahren 1816 – 1820 kann deshalb zumindest für die erste Generation der Bundestagsgesandten konkrete Hinweise geben. Identifiziert wurden insgesamt 54 Kommissionen.24 Diese bestanden überwiegend aus drei oder fünf Mitgliedern, in einzelnen Fällen wurden aber auch Zweier-, Vierer-, Sechser- oder Siebenerkommissionen gebildet. Das hing von der Bedeutung und Komplexität der zu bearbeitenden Materie ab. Ergänzungswahlen im Jahr 1820 für verstorbene oder abberufene Bundestagsgesandte werden in der statistischen Übersicht (vgl. Tabelle 1) nicht berücksichtigt, fließen aber in die Bewertung einzelner Ergebnisse mit ein. Der statistische Befund liefert ein in mehrfacher Hinsicht eindeutiges Ergebnis. Auf der Beliebtheitsskala ganz oben rangiert eine achtköpfige Spitzengruppe (Martens, Plessen, Berg, Aretin, Wangenheim, Buol, Goltz, Eyben), die sich deutlich von den übrigen Bundestagsgesandten abhebt und als der innere Führungszirkel des Bundestags angesehen werden muss: Auf ihn entfallen 178 der 219 Kommissionsplätze (81,3 %). Angeführt wird er von dem hannoverschen Vertreter Georg Friedrich von Martens25, einem renommierten Völkerrechtler, der in der Bundesversammlung großes Ansehen genoss, neben seiner Kommissionstätigkeit auch zahlreiche Einzelgutachten verfasste und bei Verhinderung des österreichischen Präsidialgesandten mit der Führung des Bundestagspräsidiums beauftragt wurde. Ihm folgen mit Leopold von Plessen26 und Günther Heinrich von Berg (1765 – 1843)27 die beiden profiliertesten und einflussreichsten Vertreter der sogenannten mindermächtigen deutschen Staaten, die bei den Kommissionswahlen fast immer Spitzenergebnisse erzielten, die über die eigene Statusgruppe hinausweisen. Danach kommt mit dem bayerischen Bundestagsgesandten Johann Adam Freiherr von Aretin (1769 – 1822) der

24

25 26 27

staatlichen Entwicklung des Deutschen Bundes 1814 – 1820. Diss. phil. (masch.) München 1954, S. 138. Die dreimal im Jahr personell erneuerte Reklamationskommission wurde jedesmal als neue Kommission gewertet, hingegen die am 20. September 1819 gewählte Kommission für alle auf die Exekution der Bundestagsbeschlüsse Bezug habenden Eingaben und Berichte, die am 15. Juni 1820 in gleicher Zusammensetzung lediglich erneuert wurde, nur einmal gezählt. Vgl. ProtDBV 1816, S. 55, 59 f., 107, 210; ProtDBV 1817, S. 19 f., 200, 272, 278, 343 f., 384, 484, 606 f., 651, 716, 721, 750, 754, 868 f.; ProtDBV 1818, S. 3, 3 f., 45, 228 f., 231, 253, 302 f., 308 f., 349 f., 370, 382 f., 459 f., 490, 538 f.; ProtDBV 1819, S. 36, 149 f., 228, 274 f., 537, 673, 676 f.; ProtDBV 1820, S. 30, 55, 97 – 99, 227 – 229, 381 f., 425 f. Vgl. NDB, Bd. 16, S. 269 – 271. Vgl. L[udwig] von Hirschfeld: Ein Staatsmann der alten Schule. Aus dem Leben des mecklenburgischen Ministers Leopold von Plessen, in: ders.: Von einem deutschen Fürstenhofe. Geschichtliche Erinnerungen aus Alt-Mecklenburg. Bd. 2. Wismar 1896, S. 1 – 263. Vgl. Martin Sellmann: Günther Heinrich von Berg 1765 – 1843. Ein Württemberger als Beamter und Staatsmann in Diensten niedersächsischer Staaten zur Zeit der Aufklärung und Restauration. Oldenburg 1982.

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Vertreter des größten deutschen Mittelstaats, der nach dem Sturz des Grafen Montgelas maßgeblich am Kurswechsel der bayerischen Bundespolitik beteiligt war, auf die Befürworter einer organischen Fortbildung des Deutschen Bundes zuging und durch diplomatisches Geschick und enorme Schaffenskraft die Anerkennung seiner Kollegen erringen konnte.28 Mit etwas Abstand folgen dann der für seine Triasideen bekannte württembergische Gesandte Karl August Freiherr von Wangenheim (1773 – 1850)29, die Vertreter der beiden deutschen Großmächte Graf Buol-Schauenstein30 und August Friedrich Ferdinand Graf von der Goltz (1765-1832)31 sowie am Ende der dänisch-holsteinische Bundestagsgesandte Friedrich Graf von Eyben (1770 – 1825)32, der in vielem den Positionen der Mindermächtigen zuneigte. Diese acht Bundestagsgesandten genossen das besondere Vertrauen der Bundesversammlung und stemmten zugleich die Hauptlast der anfallenden Geschäfte. In größerem Abstand folgen dann die Vertreter zweier Mittelstaaten, der badische Bundestagsgesandte Karl Christian Freiherr von Berckheim (1774 – 1849)33 und sein kurhessischer Kollege Georg Ferdinand Freiherr von Lepel (1779 – 1873)34, 14 weitere Bundestagsgesandte wurden hingegen nur sporadisch in eine Kommission gewählt: Noch am häufigsten waren das die sich in der Stimmführung abwechselnden Bevollmächtigten der vier Freien Städte – Johann Ernst Friedrich Danz (1759 – 1838)35, Johann Smidt (1773 – 1857)36, Johann Friedrich Hach (1769 – 1851)37, Johann[es] Michael Gries (1772 – 1827)38 –, die zusammen neunmal zum Zuge kamen. Dagegen wurde der auf dem Wiener Kongreß noch zu den Wortführern der mindermächtigen deutschen Staaten gehörende niederländisch-luxemburgische Gesandte Hans Christoph Reichsfreiherr von Gagern (1766 – 1852)39 nur einmal in eine Kommission gewählt. 28 Vgl. Aretin: Die deutsche Politik Bayerns (wie Anm. 23), bes. S. 92 – 165. 29 Vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie (künftig: DBE). Bd. 10. München 2001, S. 330; Curt Albrecht: Die Triaspolitik des Freiherrn Karl August von Wangenheim. Stuttgart 1914. 30 Vgl. Hertha Bednar : Buol-Schauenstein und die Anfänge des deutschen Bundes. Diss. phil. (masch.) Wien 1940. 31 Vgl. NDB, Bd. 6, S. 628 f. 32 Vgl. Dansk biografisk Leksikon. Bd. 4. Kopenhagen 1934, S. 645 f. 33 Vgl. NDB, Bd. 2, S. 148. 34 Vgl. NDB, Bd. 14, S. 302 – 304. 35 Vgl. DBE, Bd. 2, S. 444. 36 Vgl. Wilhelm von Bippen: Johann Smidt, ein hanseatischer Staatsmann. Stuttgart/Berlin 1921. 37 Vgl. Joh[annes] Kretzschmar : Johann Friedrich Hach. Senator und Oberappellationsrat in Lübeck. Lübeck 1926. 38 Vgl. DBE, Bd. 4, S. 163. 39 Vgl. Hellmuth Rössler : Zwischen Revolution und Reaktion. Ein Lebensbild des Reichsfreiherrn Hans Christoph von Gagern 1766 – 1852. Göttingen/Berlin/Frankfurt am Main 1958, S. 187 – 221.

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Dieser war für seine Weitschweifigkeit bekannt, so dass man auf seine Mitarbeit offenbar lieber verzichtete. Zwei Bundestagsgesandte wurden sogar in keine Kommission gewählt, was in erster Linie persönliche Gründe hatte. Der nassauische Vertreter Ernst Freiherr Marschall von Bieberstein (1770 – 1834) bekleidete zugleich das Amt des dirigierenden Staatsministers; er kam deshalb nur zu den Bundestagssitzungen von Wiesbaden nach Frankfurt, wenn Nassau die Stimme der 13. Kurie führte, und war damit für Kommissionsarbeiten nicht verfügbar. Das Königreich Sachsen hatte mit Karl Graf von Schlitz, genannt von Görtz (1752 – 1826)40 einen schon recht betagten und ständig kränkelnden Diplomaten entsandt, der sich im Engeren Rat häufig vertreten lassen musste und deshalb auch für Kommissionsarbeiten weitgehend ausfiel. Sein Nachfolger Hans August Fürchtegott von Globig (1773 – 1832)41 wurde dagegen noch im Jahr seines Dienstantritts (1820) in zwei Kommissionen gewählt. Schaut man sich die Kommissionen im Einzelnen an, dann sticht ihre politische Ausgewogenheit ins Auge. Das gilt vor allem für diejenigen Kommissionen, die sich mit den wichtigen Fragen der Verfassung, Organisation und den Kompetenzen des Bundes beschäftigten. Da hier einstimmige Beschlüsse zwingend vorgeschrieben waren, lag es nahe, schon in den Kommissionen auf eine Konsenslösung hinzuarbeiten. Neben den beiden Vertretern Österreichs und Preußens (Buol, Goltz), ohne deren Zustimmung kein Beschluss gefasst werden konnte, waren darin stets auch die Mittelstaaten (vor allem Martens, Aretin, Wangenheim) und die Kleinstaaten (vor allem Plessen, Berg, Eyben) repräsentiert. Hingegen wurden in die Reklamationskommissionen nur Gesandte der Mittel- und Kleinstaaten gewählt. Gleiches trifft auch für die zumeist dreiköpfigen Kommissionen zu, die sich mit der Vermittlung von Streitfällen zwischen Bundesstaaten sowie spezielleren Themen beschäftigten; manche von ihnen bestanden sogar nur aus Vertretern der kleineren Bundesstaaten. Daneben spielten fachliche Qualifikationen eine nicht zu unterschätzende Rolle, wurden doch in Angelegenheiten, in denen juristischer Sachverstand gefragt war, immer wieder die ehemaligen Rechtsprofessoren Martens und Berg sowie Bundestagsgesandte mit umfassender Verwaltungserfahrung wie Plessen, Aretin, Wangenheim, Lepel und Berckheim in entsprechende Kommissionen gewählt. Obwohl die Masse der Bundestagsgeschäfte von wenigen Gesandten bewältigt wurde, war die Bundesversammlung durchaus zu zügiger Geschäftserledigung

40 Vgl. NDB, Bd. 6, S. 536. 41 Vgl. DBA I, 397, 75 f.

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in der Lage. Von 44 Kommissionen42 legte bis Ende 1820 gut die Hälfte (23) ihr Beratungsergebnis (Bericht, Gutachten, Vortrag, Gesetzentwurf) vor. Bei sieben geschah dies in weniger als einem Monat, drei Kommissionen benötigten einen bis drei Monate, fünf Kommissionen vier bis sechs Monate, drei Kommissionen sieben bis zwölf Monate, vier Kommissionen ein bis zwei Jahre und eine Kommission mehr als zwei Jahre. Zwei Drittel dieser Kommissionen (15 von 23) konnten ihre Aufgabe also binnen eines halben Jahres erledigen – ein auch nach heutigen Maßstäben durchaus akzeptabler Zeitraum. Vor allem die Begutachtung von Streitsachen der Bundesstaaten untereinander zog sich oft in die Länge, da sie eine gründliche Einarbeitung in komplizierte Rechtsfälle erforderte, deren Ursprünge nicht selten bis in die fernere Vergangenheit zurückverfolgt werden mussten. In anderen Fällen wurde die Beendigung von Kommissionsarbeiten absichtlich hinausgezögert, während die Kommission zur Begutachtung gleichförmiger Verfügungen über die Pressefreiheit auf Weisung Metternichs von Buol offenbar niemals einberufen wurde.43 Über die persönliche Reputation der Bundestagsgesandten hinaus gibt die Zusammensetzung der Bundestagskommissionen aber auch Aufschluss über die inhaltliche Ausrichtung der Bundesversammlung. In den Kommissionen dominierte der Personenkreis, der das »Gebäude des großen National-Bundes«44 vollenden und die »staatsrechtlichen Elemente der Bundesverfassung«45 weiterentwickeln wollte. Dazu gehörten insbesondere die führenden Vertreter der deutschen Mittel- und Kleinstaaten (Martens, Wangenheim, Plessen, Berg, Eyben, Hach, Smidt). Deren Ideen und Vorschläge, die in zahlreichen Kommissionsgutachten und Gesetzentwürfen ihren Niederschlag fanden, zielten im Allgemeinen auf eine behutsame Vorgehensweise und langfristige Entwicklung. Der föderative und nationale Charakter des Deutschen Bundes wurde dabei stets betont, die innere Nationsbildung aber noch nicht in Richtung eines nationalen Bundes- oder Einheitsstaats betrieben.46 Jenseits theoretischer Debatten über den Charakter des Deutschen Bundes – Staatenbund oder Bundesstaat – konzentrierte man sich zunächst auf pragmatische Lösungen für diejenigen Materien, die der Bundesversammlung durch die Bundesakte zur Erledigung aufge42 Die zehn Reklamationskommissionen bleiben hier unberücksichtigt, da ihre Mitglieder nur Einzelberichte vorlegten. 43 Vgl. Ulrich Eisenhart: Die Garantie der Presse in der Bundesakte von 1815, in: Der Staat 1971/10, S. 339 – 356, hier S. 349 ff. 44 Vgl. Vortrag Buols vom 11. November 1816, ProtDBV 1816, Zitat S. 37. 45 Vgl. Ernst Rudolf Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1. Ndr. der 2., verb. Aufl. Stuttgart u. a. 1975, Zitat S. 666. 46 Zum Konzept der »föderativen Nation« vgl. Dieter Langewiesche / Georg Schmidt (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 1999; und Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000.

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geben worden waren. Aufgrund ungenauer und widersprüchlicher Bestimmungen der Bundesakte war das freilich ein schwieriges Unterfangen und führte in vielen Fällen auch nicht zu raschen und befriedigenden Lösungen. Dennoch suchte die reformbereite Gruppe von Bundestagsgesandten immer wieder nach Auswegen aus der durch das Einstimmigkeitsgebot des Artikels 7 der Bundesakte drohenden Blockadesituation. Der Beschluss über die provisorische Kompetenz der Bundesversammlung vom 12. Juni 181747, der unter maßgeblicher Beteiligung Buols, von der Goltz’ und Aretins zustande kam und provisorische Mehrheitsentscheidungen über Detailfragen organischer Regelungen ermöglichte, hätte einen praktikablen Ausweg eröffnen können. Da viele Vorschläge zudem auf freie Vereinbarungen zwischen den Bundesstaaten hinausliefen, hätten sie zunächst viel weniger in die Innenpolitik der Bundesstaaten eingegriffen, als dies vielfach befürchtet oder unterstellt und dann von Metternich im Rahmen der von ihm herbeigeführten restaurativen Wende von 1819/20 auch betrieben wurde.48

47 Vgl. ProtDBV 1817, 34. Sitzung vom 12. Juni 1817, § 223, S. 448 – 453 und 457. 48 Vgl. dazu: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. I, Bd. 2: Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815 – 1819. Bearb. v. Eckhardt Treichel (im Druck); sowie Wolf D. Gruner : Der Deutsche Bund 1815 – 1866. München 2012, S. 29 ff.

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Vermittlung von Rechtsstreitigkeiten zwischen Bundesstaaten (8)

Rechte einzelner Personen, Korporationen oder Bevölkerungsgruppen (12)

Handel und Verkehr, Freiheitsund Bürgerrechte (9)

28 26

23 19

18 15

14 9

8 4

3 2

2 2

2 2

Aretin Wangenheim

Buol Goltz

Eyben Berckheim

Lepel Danz

Mandelsloh Hach

Smidt Gruben

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Beust Globig

3,7 % 3,7 %

3,7 % 3,7 %

5,6 % 3,7 %

14,8 % 7,4 %

25,9 % 16,7 %

33,3 % 27,8 %

42,6 % 35,2 %

51,8 % 48,1 %

1 ¢

1 1

2 2

4 1

2 3

¢ ¢

7 6

6 6

10,0 % ¢

10,0 % 10,0 %

20,0 % 20,0 %

40,0 % 10,0 %

20,0 % 30,0 %

¢ ¢

70,0 % 60,0 %

60,0 % 60,0 %

¢ 1

1 ¢

¢ ¢

1 1

4 1

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7 5

10 8

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6,7 % ¢

¢ ¢

6,7 % 6,7 %

26,7 % 6,7 %

53,3 % 46,7 %

46,7 % 33,3 %

66,7 % 53,3 %

¢ 1

¢ ¢

¢ ¢

1 ¢

2 1

1 1

2 3

5 2

¢ 12,5 %

¢ ¢

¢ ¢

12,5 % ¢

25,0 % 12,5 %

12,5 % 12,5 %

25,0 % 37,5 %

62,5 % 25,0 %

1 ¢

¢ 1

¢ ¢

2 1

2 ¢

4 3

2 2

6 6

8,3 % ¢

¢ 8,3 %

¢ ¢

16,7 % 8,3 %

16,7 % ¢

33,3 % 25,0 %

16,7 % 16,7 %

50,0 % 50,0 %

¢ ¢

¢ ¢

1 ¢

¢ 1

4 4

5 4

5 3

1 4

¢ ¢

¢ ¢

11,1 % ¢

¢ 11,1 %

44,4 % 44,4 %

55,5 % 44,4 %

55,5 % 33,3 %

11,1 % 44,4 %

Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent 35 64,8 % 10 100,0 % 7 46,7 % 4 50,0 % 9 75,0 % 5 55,5 %

Plessen Berg

Martens

Tabelle 1: Die Zusammensetzung der Bundestagskommissionen 1816 – 1820 Verfassung, OrgaEingaben und Sämtliche nisation und KomReklamationen Kommissionen petenzen des (10) (54) Deutschen Bundes (15)

358 Eckhardt Treichel

1 1

1 1

1 219

Gagern Leonhardi

Grünne Harnier

Gries Gesamt

Carlshausen Hendrich

Eingaben und Reklamationen (10)

Verfassung, Organisation und Kompetenzen des Deutschen Bundes (15)

Vermittlung von Rechtsstreitigkeiten zwischen Bundesstaaten (8)

1,8 % 54

1,8 % 1,8 %

1,8 % 1,8 %

¢ 52

¢ ¢

¢ ¢

¢ 10

¢ ¢

¢ ¢

¢ 64

1 1

¢ 1

¢ 15

6,7 % 6,7 %

¢ 6,7 %

¢ 23

¢ ¢

¢ ¢

¢ 8

¢ ¢

¢ ¢

¢ 41

¢ ¢

¢ ¢

¢ 12

¢ ¢

¢ ¢

1 39

¢ ¢

1 ¢

11,1 % 9

¢ ¢

11,1 % ¢

Rechte einzelner Handel und VerPersonen, Korpokehr, Freiheitsrationen oder und Bürgerrechte Bevölkerungs(9) gruppen (12) Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent 1 1,8 % ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ 1 8,3 % ¢ ¢ 1 1,8 % ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ 1 8,3 % ¢ ¢

Sämtliche Kommissionen (54)

Tabelle 1: Die Zusammensetzung der Bundestagskommissionen 1816 – 1820

(Fortsetzung)

Die Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung

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359

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Erich Schunk

»Schwarz, roth und Gold«. Popularisierung und Unterdrückung eines politischen Symbols zur Zeit des Hambacher Festes

Die übliche, fast schon zu einer Ikone gewordene bildliche Darstellung des Hambacher Festes zeigt einen endlosen Zug feiernder Menschen, der sich den Berg zur Schlossruine hinaufbewegt. Gemeinsames Abzeichen der Teilnehmer sind die »deutschen« Farben Schwarz-Rot-Gold: meist als Kokarde, überall auch als Fahne, von einer großen im Vordergrund bis ganz hinauf zu jener oben auf dem höchsten Turm. Bänder in dieser Farbkombination waren seit den 1820er Jahren Erkennungszeichen der offiziell verbotenen, von einer studentischen Minderheit getragenen deutschen Burschenschaft.1 Jetzt aber, am 27. Mai 1832 wurde Schwarz-Rot-Gold mit einem Mal demonstrativ von weit über 20 000 Festbesuchern als politisches Symbol in aller Öffentlichkeit getragen. Wie kam es dazu? Von wem wurden diese Fahnen und Kokarden überhaupt hergestellt, wie konnten sie sich so schnell verbreiten? Wie reagierten die Behörden und Regierungen? Kamen in Popularisierung und Unterdrückung auch das jeweilige Symbolverständnis und die politische Bedeutung zum Ausdruck, die man 1832 Schwarz-Rot-Gold zulegte?2

1. Es gab verschiedene Impulse zur Herstellung deutschfarbener Abzeichen. Einmal mehr zeigte sich die wichtige Rolle der Presse im Vorfeld des Hambacher Festes auch hier. Der in Mannheim erscheinende »Wächter am Rhein« meldete, bereits in der zweiten Maiwoche 1832 sei die Produktion von Abzeichen für das 1 Paul Wentzcke: Die deutschen Farben, ihre Entwicklung und Deutung sowie ihre Stellung in der deutschen Geschichte. Heidelberg 1927, S. 155. 2 Für den hier behandelten Zeitraum konzentriert sich die Forschung meist auf die Genealogie von Schwarz-Rot-Gold; vgl. zuletzt: Peter Reichel: Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung. Nationalsymbole in Reich und Republik. Göttingen 2012; mit regionalem Bezug: Joachim Kermann: Die Pfalz und die Entstehung der deutschen Nationalfarben Schwarz-RotGold, in: Mitt.HVPfalz 1993/91, S. 377 – 400.

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Erich Schunk

»auf den 27. Mai angekündigte Volksfest« angelaufen: »Frauen und Jungfrauen bereiten deutsche Cocarden und Fahnen (schwarz, roth und Gold) mit sinnvollen, gestickten Inschriften. Sie wollen nicht in eitlem Putz, sondern in höchst einfacher Kleidung erscheinen, und ohne andern Schmuck, als die deutsche Nationalfarbe an dem Haupte oder auf der Brust. Niemand will ohne Cocarde kommen.«3 Die Zeitung wurde von Franz Stromeyer herausgegeben, einem ehemaligen Mitarbeiter an Siebenpfeiffers »Westboten«, und viele ihrer Berichte waren so formuliert, dass sie auch als Aufforderung zu politischer Aktivität gelesen werden konnten. Ein Handlungsgehilfe aus Kaiserslautern erklärte später, »in mehreren Journalen [seien] die Farben roth, schwarz u. gelb, als die altdeutschen u. als diejenigen bezeichnet worden, die auf dem Hambacher Feste, u. zu dessen Feyer getragen werden würden«. Der Zweibrücker Landkommissär bestätigte, dass »in öffentlichen Blättern deren nähere Beschreibung zu Jedermanns Kenntniß kam«.4 In anderen Fällen gaben namentlich meist nicht genannte Personen den Anstoß zu Produktion und Verkauf der Abzeichen. In Speyer waren es drei Fremde, der Kleidung nach Studenten, in Kaiserslautern »drey bürgerlich gekleidete Personen« aus einem Nachbarort. Sie ließen sich von einem Hutmacher eine Handvoll »Cocarden mit den altdeutschen Farben« anfertigen. Die Nachfrage war dann so stark, dass man zu dritt in der Werkstätte daran arbeitete. Auch in Neustadt stärkte die Ankunft von Auswärtigen die Nachfrage; das schwarz-rot-goldene Uhrenband des aus Straßburg angereisten Harro Harring fiel besonders auf. Kaufmann Voelcker handelte bereits vierzehn Tage vor dem Fest mit Kokarden und ließ, wie Buchhändler Christmann, durch seine eigenen Tagelöhner die begehrten Abzeichen herstellen.5 Sie wurden meist aus Papier oder einfachen Textilien angefertigt. Es wurden aber auch Luxusprodukte angeboten, im Neustadter Wochenblatt zum Beispiel »seidene ächte altdeutsche Kokarden«.6 Mit der Herstellung der Fahnen beauftragte man Frauen. In Annweiler etwa taten sich an die dreißig junge Leute zusammen und ließen freitags vor dem Fest in der Gastwirtschaft der Witwe Kinkle durch deren Tochter und ihre beiden Freundinnen eine »Fahne von schwarz roth und gelber Farbe« nähen.7 Die Hambacher Hauptfahne wurde vermutlich ebenfalls von weiblicher Hand gefertigt, ganz sicher die auf dem Schloss daneben aufgepflanzte polnische Fahne,

3 4 5 6 7

Der Wächter am Rhein 1832/45 (16. Mai 1832). LAS (=Landesarchiv Speyer) J1, Nr. 1, Bl. 107 u. 148. Ebd., Bl. 38, 47 – 51, 66 u. 107. Kermann: Pfalz (wie Anm. 2), S. 387; Neustadter Wochenblatt 1832/21 (25. Mai 1832). LAS J1,Nr. 1, Bll. 7 u. 9.

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»Schwarz, roth und Gold«

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für deren Produktion am Ende des Festes polnische Delegierte den »edle(n) Frauen und Jungfrauen Neustadts« dankten.8 Viele auswärtige Festbesucher waren bereits bei der Anreise mit »deutschen« Farben ausgestattet und erregten dadurch Aufsehen. Die Mainzer durften ihre Abzeichen zwar innerhalb der eigenen Festungsmauern nicht tragen, aber bei der Fahrt durch Frankenthal zeigte man sie. Ebenso animierten Wagen aus Kirchheimbolanden »mit Musik und Fahnen wie auch Cocarden« die Einwohner von Grünstadt dazu, sich selbst Kokarden anzufertigen. Pfarrer Hochdörfer aus Sembach, einer der Redner auf dem Schloss, ließ seinem Kutscher eine selbst gemachte Kokarde an die Mütze heften und die »Chaise mit einem deutschen Fähngen zieren«. Als er nach Neustadt kam, sah er »die schon zu Tausenden daselbst anwesenden Festbesucher die teutschen NationalFarben theils in Bändern meistens aber in Kokarden tragen«.9 Philipp Abresch, ein 28-jähriger »Ökonom« aus Neustadt trug am Morgen des 27. Mai 1832 die schwarz-rot-goldene Hauptfahne mit der Aufschrift »Deutschlands Wiedergeburt« zum Schloss hinauf. Der Festzug war in verschiedene Abteilungen gegliedert, vor jeder wurde eine Fahne hergetragen, auch vor den Heidelberger Studenten, die aber vor allem durch ihre »deutsche Tracht« auffielen.10 Außerdem wurden eine polnische Fahne, eine Fahne der Not leidenden Winzer und die blau-weiße Deidesheimer Gemeindefahne – von manchen irrtümlich für die bayerische Flagge gehalten – mitgeführt. Auf dem Festgelände hielten »Kokardenbuben« die Abzeichen päckchenweise »den Anströmenden mit dem Ruf: es lebe die Freiheit! entgegen«. Abresch pflanzte seine Fahne auf dem höchsten Turm auf. Der Berg war mit Menschen übersät. »Alle Anwesenden, wenigstens nur mit seltenen Ausnahmen, trugen deutsche Cocarden und Bänder.«11 Schwarz-Rot-Gold war für die Feiernden zum gemeinsamen politischen Symbol geworden. Weder in der unmittelbaren Vorgeschichte des Festes noch am 27. Mai 1832 selbst hatte jemand in einem aufrüttelnden Appell diese Farben als nationales Emblem proklamiert. Man diskutierte auch nicht darüber, ob sie ein angemessenes Symbol seien, sie wurden allgemein akzeptiert. Nur zwei Redner verwiesen, und dann erst am Schluss ihrer Ausführungen, auf das 8 Johann Georg August Wirth: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Neustadt 1832, S. 98; Lutz Frisch: Deutschlands Wiedergeburt. Neustadter Bürger und das Hambacher Fest 1832. Neustadt an der Weinstraße 2012, S. 159. 9 Hans Goldschmidt u. a. (Hg.): Ein Jahrhundert Deutscher Geschichte. Reichsgedanke und Reich 1815 – 1919. Berlin 1928, Faksimile Nr. 8; LAS J1, Nr. 1, Bll. 36 u. 83 f. 10 Severin Roeseling: Burschenehre und Bürgerrecht. Die Geschichte der Heidelberger Burschenschaft von 1828 bis 1834. Heidelberg 1999, S. 233 f. 11 J. N. Miller : Geschichte der neuesten Ereignisse in Rheinbaiern. Weissenburg 1833, S. 142 u. 147.

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Symbol. Johann Philipp Becker verband seinen Hochruf auf Deutschland mit der Hoffnung, der »goldene Schimmer Seiner Freiheits-Fahne bleiche nimmer!«, und Stromeyer erklärte die »teutsche Farbe« zum Schmuck der Anwesenden und »ein einiges Teutschland« zu ihrem Ziel. Auch in den Liedern kam Schwarz-RotGold kaum vor. Nur Siebenpfeiffer sprach gleich zu Beginn seines bekannten Festliedes davon, »hoch flattern die deutschen Farben«, und im weiteren Text ironisierte er den Umgang der Badener, Bayern und Hessen mit ihren Landesfarben. Er forderte »eine Farb’ und ein Vaterland!« Wie die Nationalfarben konkret aussehen sollten, brauchte er angesichts ihrer Allpräsenz nicht zu beschreiben.12 Erst beim endgültigen Abschluss des Festes am 1. Juni rückte Notar Müller aus Neustadt anlässlich der Abnahme der polnischen und der deutschen Fahne Schwarz-Rot-Gold ins Zentrum: Indem man »die Fahne, das Symbol der Einigung Deutschlands« abnehme, beendige man die Feier zwar äußerlich, »der Geist des Festes« aber solle sich fortpflanzen und Stärke verleihen »zum muthigen ausdauernden Kampfe für Freiheit und Volksrechte«.13 An den beiden Tagen, die auf die Hauptveranstaltung folgten, blieben die in Neustadt weiter feiernden Festbesucher in Hochstimmung. Man war wie im Rausch und sah die Zukunft schon anbrechen. Wie zwei Abteilungen des bayerischen Militärs auf ihrem Durchmarsch hautnah erlebten, war SchwarzRot-Gold jetzt allenthalben Symbol des Neuen. Der ersten Einheit, die am 28. Mai mit klingendem Spiel in die Stadt einziehen wollte, strömte eine Menschenmenge entgegen und schrie: »Die Fahnen heraus, es lebe die Freyheit.« Man brachte zwei Trikoloren herbei, die während der Durchquerung der Stadt vor den Soldaten hergetragen wurden.14 Ein Jägerbataillon folgte tags darauf, und den Offizieren erschien Neustadt als ein Hexenkessel zügelloser Freiheit. Schon beim Anmarsch sahen sie »eine Menge Leute mit schwarz roth und goldnen Cocarden und Bändern, und überall erscholl der Ruf: es lebe die Freyheit!« Die ganze Stadt war mit den Farben geschmückt. Überall hatte man schwarz-rot-goldene Fahnen, Fähnchen oder Kokarden »welche selbst das weibliche Geschlecht beinahe ohne Ausnahme in den Haaren, an Hals und Busen zur Schau trug«. Beim Einzug in den Ort sprang »ein schwitziger Kerl mit einer grosen dreyfarbigen Cocarde« gegen das Pferd eines Majors und schrie: »Wir sind alle Brüder. Die deutsche Freyheit soll leben!« Unentwegt rief und brüllte man den Soldaten zu: »Es lebe die Freiheit, die Einheit Teutschlands«. Fortwährend gingen Umzüge »mit einer großen dreyfarbigen Fahne an der Spitze, mit einer vergoldeten Eichel verziert, unter Musik, lärmendem und tobendem 12 Wirth: Das Nationalfest 1832 (wie Anm. 8), S. 12 f., 87 u. 94. 13 Ebd., S. 96. 14 LAS J1, Nr. 53, Bl. 1 f.

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»Schwarz, roth und Gold«

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Geschrey, es lebe die Freyheit, durch die Straßen«. Abends wurde die Fahne auf den Brunnen des Marktplatzes gepflanzt. Für den bayerischen Major war es »eine völlig vollendete Revolution«, er hatte es in »[s]einer Jugend bey Anfang der franz. Revolution nicht ärger gesehen«.15 Die Rückkehr der Festbesucher in ihre Heimatorte gab einen weiteren Impuls zur Verbreitung der Farben. So erhielten im Kanton Obermoschel wohnende »sogenannte Liberale […] in dem Haupt Fabrik- und SpeditionsOrt des Liberalismus, Neustadt« ihre schwarz-rot-goldenen Bänder und Kokarden und stellten sie zu Hause demonstrativ zur Schau.16 Pfälzische Kokardenhersteller produzierten wegen der starken Nachfrage die Abzeichen in hohen Stückzahlen und verkauften sie auf Jahrmärkten.17 Neue Fahnen wurden in Auftrag gegeben. In Otterberg bei Kaiserslautern fertigte eine Näherin für eine Gruppe junger Leute, die »von dem Hambacher Schwindelgeist« erfasst waren, eine »große seidene Fahne«, mit der die Auftraggeber einen Umzug durch die Gemeinde machten. Im südpfälzischen Kandel zogen ebenfalls junge Leute mit einer Fahne durch den Ort.18 Teilweise brachte man auch an den über hundert Freiheitsbäumen, die seit dem ausgehenden Winter als Zeichen des Unmuts über die desolaten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse errichtet wurden, schwarz-rot-goldene Fahnen an und verband so das neue politische mit dem alten Protestsymbol. Dabei heftete man zunächst, etwa in Annweiler, eine »alte dreifarbige Fahne«, eine blau-weiß-rote Trikolore aus der Zeit der Zugehörigkeit zu Frankreich, an den Baum. Seit am 26. Mai in Homburg eine »schwarz und rothe Fahne mit vergoldetem Knopf« genommen wurde, ersetzten die deutschen Trikoloren die französischen.19 Der bayerische Rheinkreis war 1832 die am stärksten mit Schwarz-Rot-Gold durchdrungene Region des Deutschen Bundes. Doch auch in den angrenzenden Gebieten des deutschen Westens und Südwestens war das Symbol immer öfter zu sehen. So wurden im benachbarten lichtenbergischen St. Wendel, in dem sich aus einer Freiheitsbaumaufstellung am 27. Mai Unruhen entwickelt hatten, schwarz-rot-goldene Abzeichen »ungestört zur Schau und zum Verkaufe ausgestellt«.20 Auf einer Parallelveranstaltung zum Hambacher Fest am selben Tage in Frankfurt dominierte noch ein »unschuldiges grünes Eichenlaub«; aber be15 16 17 18 19

Ebd., Bl. 17, 20 f. u. 29. LAS J1, Nr. 1, Bl. 102. Ebd., Bl. 7, 16, 120 u. 159. Ebd., Bl. 18 u. 104. Miller : Rheinbaiern (wie Anm. 11), S. 114; LAS H1, Nr. 1039, Bl. 10; J1, Nr. 1, Bl. 112 u. 147; James M. Brophy : Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800 – 1850. Cambridge 2007, S. 133 ff. 20 LAS J1, Nr. 1, Bl. 147.

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reits am 31. Mai »florirte[n]« auf dem von zahlreichen Frankfurtern besuchten Fest in Bergen bei Hanau die Farben Schwarz-Rot-Gold, »man sah sie an Cocarden und Bändern«.21 Auch auf dem Wilhelmsbader Fest am 22. Juni 1832 erschienen die Frankfurter und ihre Nachbarn »mit den deutschen Fahnen«.22 Vom preußischen Koblenz, wo die »Rhein- und Moselzeitung« über das Hambacher Geschehen und die dreifarbige Nationalfahne berichtete,23 bis zum badischen Breisgau war Schwarz-Rot-Gold präsent. Auf dem Badenweiler Fest freilich kam es zu einem Flaggenstreit zwischen Freiburger Studenten einerseits und gemäßigten Bürgern sowie Carl von Rotteck andererseits. Schwarz-rotgoldene Fahnen wurden zwar geduldet, Vorrang hatten jedoch die rot-gelben Farben Badens.24 Auf den Konstitutionsfesten im rechtsrheinischen Bayern spielten die »deutschen« Farben keine Rolle. In Augsburg beispielsweise gab es am 27. Mai ein »unschuldige[s] Festchen, an dem nichts als das harmlose blauweiß erschien«.25

2. Am Tag der großen Reden war auch der für die polizeiliche Ordnung zuständige Neustädter Landkommissär von Pölnitz auf dem Hambacher Schloss. Er war zufrieden mit dem Verlauf des Festes und nahm keinerlei Anstoß daran, dass auf dem Turm die »altdeutsche Flagge« wehte und fast alle Anwesende schwarz-rotgoldene Kokarden trugen. Regierungspräsident von Andrian sah die Veranstaltung in einem ganz anderen Licht und meldete nach München, das Fest habe »offenbar den Charakter eines politischen Volksfestes angenommen; dieß beweisen nicht nur die abgehaltenen Reden sondern auch die gebrauchten Symbole nemlich Fahnen von schwarzer u. rother Farbe mit Gold so wie Kokarden u. Bänder von derselben Farbe«.26 Die politisch verwerfliche Tendenz dokumentierte sich für die Kreisbehörde in zwei Elementen gleichermaßen: in den Ansprachen und der politischen Symbolik. Sie zielte, mit den Worten eines eigens angereisten Regierungskommissars, »auf Deutschlands Wiedergeburt und Einheits-Verfassung« und erforderte höchste Aufmerksamkeit im Hinblick auf die »allgemeinen teutschen Staatsverhältnisse«; als Konsequenz müsse man im 21 Der Wächter am Rhein 1832/69 (9. Juni 1832); vgl. Veit Valentin: Das Hambacher Nationalfest. Berlin 1932, S. 60. 22 Der Wächter am Rhein 1832/87 (28. Juni 1832). 23 Vgl. Brophy : Popular Culture (wie Anm.19), S. 137. 24 Helmut Gembries: Karl von Rotteck und das Hambacher Fest, in: Jahrbuch der HambachGesellschaft 2006/14, S. 96 u. 102 f. 25 Der Freisinnige 1832/32 (2. Juni 1832). 26 LASP H1, Nr. 1086, Bl. 41 u. 47 f.

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»Schwarz, roth und Gold«

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Rheinkreis »dem Tragen der dreifarbigen Kokarden als einem äußern Erkennungszeichen der Uebelgesinnten […] mit aller gesetzlichen Strenge« entgegentreten.27 Aber während die Regierung juristische Handhabe hatte, um gegen Redner des Festes vorzugehen, gab es zu diesem Zeitpunkt keine adäquate Möglichkeit, Schwarz-Rot-Gold zu unterdrücken. Denn jetzt waren die Farben nicht mehr nur Abzeichen einer verbotenen Studentenverbindung, sondern ein öffentlich von zehntausenden Bürgern, das heißt von Privatpersonen getragenes Symbol. Gleichwohl versuchte man fiktiv eine politische Vereinigung zu konstruieren, um die Träger der Farben zu belangen. Noch am 28. Mai richtete die Kreisregierung eine Anfrage an den Generalstaatsprokurator »das Tragen von antinationalen Cocarden betr«. Diese Abzeichen würden »die Theilnahme an einer Verbindung« beurkunden, deren Absichten mit »der Selbständigkeit des bayerischen Staates« nicht vereinbar seien. Der Generalankläger solle überprüfen, ob ein Gesetz aus der Zeit der Französischen Revolution, welches »das Tragen eines anderen Zeichen als der Nationalcocarde bey schwerer Strafe verboten« hatte, angewandt werden könne.28 Die Antwort war ernüchternd: Das fragliche Gesetz vom 27. Germinal IV (15. April 1796) schrieb vor, dass alle Einwohner die »cocarde tricolore« zu tragen hatten und war »zur Erregung u. Belebung der republ. Gesinnungen« erlassen worden. Neben weiteren Bedenken komme eine analoge Übertragung auf die bayerische Nationalkokarde nicht in Frage, weil in Bayern für Privatpersonen weder das Tragen von Blau-Weiß noch von anderen Farben strafgesetzlich geregelt sei. Eine eingeschränkte Anwendung auf den Rheinkreis würde dessen Bevölkerung diskriminieren. Auch aus rechtspraktischen Überlegungen sei der Rückgriff auf dieses Gesetz nicht ratsam; die Verfolgungen würden sich »gegen eine so bedeutsame Anzahl von Individuen« richten, dass aus Trotz die Zahl der Kokardenträger erheblich steigen würde. Eine Strafverfolgung aufgrund dieses Gesetzes war somit nicht nur inhaltlich absurd, sondern auch formal höchst fragwürdig.29 Aus München kamen wiederholt Aufforderungen, energisch einzuschreiten. Das Innenministerium erinnerte daran, dass in Bayern durch königliche Verordnung von 1806 »die blaue und weisse Farbe als einzige und ausschlüßige Landesfarbe« anzusehen sei. Entgegen dem Wortlaut der Verordnung behauptete man, nur Fremde dürften andere Kokarden tragen. Schwarz-Rot-Gold werde seit dem Wartburgfest »als Vereinigungs-Merkmal einer revolutionären Tendenz 27 Adam Sahrmann: Beiträge zur Geschichte des Hambacher Festes 1832. Landau 1930, S. 202 ff.; Miller : Rheinbaiern (wie Anm. 11), S. 147 f. 28 LAS H1, Nr. 255, Bl. 1. 29 LASP J2, Nr. 223 Prot.Nr. 22 728; Joachim Kermann: »Weiß-Blau« gegen »Schwarz-RotGold« – die juristische Auseinandersetzung um die »deutschen Farben« zur Zeit des Hambacher Festes in der Pfalz, in: JbWLG 1993/19, S. 475 – 481.

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Erich Schunk

und als Symbol eines beabsichtigten deutschen Freystaates bezeichnet«.30 Am 2. Juni erhöhte man auf Befehl des Königs den Druck auf Regierungspräsident von Andrian: Alle Vorkommnisse der letzten Zeit, auch »die Frechheit, womit die Abzeichen der Partheiungen öffentlich aufgestellt« würden, seien Beleg für die Gefährdung der gesetzlichen Ordnung. Von Andrian solle auf der Grundlage der einschlägigen Gesetze der 1790er Jahre und der Strafgesetze durch entsprechende Maßnahmen »die gestörte Sicherheit« wiederherstellen. Die bayerische Regierung selbst erließ freilich nur eine halbherzige Erklärung, in der sie die Hambacher Vorgänge verurteilte.31 Die Kreisregierung in Speyer sah sich immer weniger in der Lage, angesichts der Flut der schwarz-rot-goldenen Abzeichen durchzugreifen. Da man keine Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung habe, sei ein Verbot, »welches nicht mit voller physischer Kraft« durchgesetzt werde, zwecklos. Die Not eines Großteils der Bevölkerung in Verbindung mit der »außerordentlichen Thätigkeit der ReformParthey« verlange ein massives Durchgreifen: »Linderung der Noth und Aufstellung einer imposanten Macht sind […] die ersten und dringendsten Erfordernisse, um den Rheinkreis zu pacificiren […]. Das Wegnehmen der Cocarden, der Fahnen und Freyheitsbäume kann unter den jetzigen Umständen […] nur dann einen Erfolg haben […], wenn ihr durch physische Gewalt der gehörige Nachdruck gegeben zu werden vermag.«32

Gegen die Macht der Symbole half nur noch die Macht der Bajonette. Drei Wochen später rückten unter der Führung des Generalfeldmarschalls von Wrede 8500 Soldaten in den Rheinkreis ein, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Eine der ersten Maßnahmen Wredes war eine Bekanntmachung, in der unter Bezug auf das Gesetz vom 27. Germinal IV »das Tragen von dreifarbigen Kokarden, das Aushängen oder Aufstellen von dreifarbigen Fahnen und jeder Zeichen der Partheiungen« untersagt wurde.33 Eine Woche später beschloss der Deutsche Bund im Rahmen seiner Zehn Artikel, »das öffentliche Tragen von Abzeichen in Bändern, Cocarden oder dergleichen […] in andern Farben, als jenen des Landes, dem der, welcher solche trägt, als Unterthan angehört« sowie das Aufstellen von Fahnen und Flaggen »unnachsichtlich zu bestrafen«.34 Erst der Aufmarsch des Militärs und die massive politische Reaktion des Bundes brachten die schwarz-rot-goldenen Symbole zum Verschwinden. 30 LAS H1, Nr. 255, Bl. 2. 31 LAS H39, Nr. 2446, Schreiben d. Innenministeriums v. 2. Juni 1832; Amts- und Intelligenzblatt des Königlich Baierischen Rhein-Kreises 1832/37 (6. Juni 1832). 32 LAS H1, Nr. 255, Bl. 5 ff. 33 Amts- und Intelligenzblatt 1832/43 (30. Juni 1832). 34 Ernst Rudolf Huber (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1. Stuttgart 1961, S. 121; in Baden u. Frankfurt wurden die Farben bereits Anfang Juni verboten; Der Wächter am Rhein 1832/69 (9. Juni 1832).

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»Schwarz, roth und Gold«

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Wie notwendig der Einsatz militärischer Gewalt und bundesgesetzlicher Maßnahmen war, zeigen die Schwierigkeiten der bayerischen Regierung, das Tragen der Farben zu sanktionieren. Da war zum einen ein Erlass des Justizministers mit der Vorgabe, die Träger dreifarbiger Abzeichen trotz der gutachterlichen Bedenken auf der Grundlage des Gesetzes vom 27. Germinal IV zu verurteilen. Im Bereich des Zuchtpolizeigerichts Landau wirkte dieses Präjudiz zweimal, genau so oft scheiterte es. In den beiden letzten Fällen folgten die Richter weitgehend dem ursprünglichen Gutachten und argumentierten unter anderem, das Gesetz aus der Revolutionszeit könne in einem »monarchistischconstitutionellen Staate« nicht mehr angewandt werden. In den Revisionsverfahren bestätigte der Appellationsgerichtshof des Rheinkreises die Freisprüche.35 Zum anderen hatte die Verordnung von 1806 bayerische Staatsdiener zum Tragen einer blau-weißen Kokarde verpflichtet. Landkommissär von Pölnitz erhielt nun den Auftrag, all jene Beamte zu nennen, die auf dem Hambacher Fest die deutschen Farben getragen hätten. Vor allem sollte er angeben, welche Mitglieder des Landrates – des rheinbayerischen Selbstverwaltungsgremiums – die »Wartburg Cocarde«, und ob die »sogenannte Bürgergarde von Neustadt […] die bayerische oder die Umwelzungs Cocarde« getragen hätten. Von Pölnitz rettete sich in Ausflüchte: dass er sich nicht mehr erinnere und »bey dem Gedränge der VolksMasse« auf anderes habe achten müssen. Ein Vertreter des Frankenthaler Staatsprokurators, der gleichfalls auf dem Fest gewesen war, machte ähnlich schwammige Angaben. Als man nachhakte, antwortete von Pölnitz, weitere Vernehmungen seien zwecklos, da »jede Frage und Erkundigung als eine Zumuthung zur Denunciation« verstanden und nicht beantwortet werde.36 Offensichtlich ließen manche Richter und Beamte die Kreis- und Staatsregierung mit ihrem Verfolgungswahn ins Leere laufen. Zu Beginn des Jahres 1833 versuchte der Generalankläger nochmals mit einer Befragung in allen Landkommissariaten herauszufinden, von wem die Idee zur »Veröffentlichung« der Farben auf dem Fest ausgegangen sei, wer die Produktion der Abzeichen in Auftrag gegeben habe und warum die »Hauptfabrication« gerade in diese Zeit gefallen sei. Ein erster Impulsgeber konnte nicht ermittelt werden. Siebenpfeiffer, dem dies gerüchteweise nachgesagt wurde, gab zu Protokoll, er würde sich »der Idee rühmen, wenn sie von [ihm] ausgegangen wäre«. Auch Auftraggeber wurden namentlich kaum genannt. Als Begründung für die Hochkonjunktur der Abzeichen im Mai/Juni 1832 kam – nach einem halben Jahr Unterdrückung – überall die Antwort, es sei damals »Mode« gewesen, und man habe die Gelegenheit zu einem Verdienst nicht verstreichen lassen wollen. Der 35 Kermann: »Weiß-Blau« (wie Anm. 29), S. 483 – 487; LAS J1, Nr. 39. 36 LAS H1, Nr. 1086, Bll. 54 – 60.

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Erich Schunk

politische Kontext wurde von fast allen Befragten weggeblendet, man wollte sich nicht strafbar machen.37

3. Die Verbreitung von Schwarz-Rot-Gold warf schon 1832 die Frage nach Kontext und Bedeutung dieses Nationalsymbols auf. Der »Wächter am Rhein« bezeichnete die Behauptung, diese Farben seien die der Burschenschaft als eines der »unredlichen Mittel der sogenannten legitimen Partei, wodurch sie das Volk irre zu führen« hoffe.38 Tatsächlich erachtete kaum jemand, außer den Staatsorganen und den Studenten selbst, diese Verbindungslinie als wesentlich. In der scharfen Variante des bayerischen Innenministeriums lautete der Vorwurf, das Symbol sei »bei Anlaß des Wartburgfestes als das Abzeichen der deutschen Revolutionäre gewählt« und jetzt wieder aktiviert worden.39 Aber sogar der Heidelberger Studentenführer Brüggemann erklärte, wichtiger sei, »daß troz fünfzehnjähriger Reaction« der Nationalgedanke »sich im Volke selbst schon bedeutend verbreitet habe«.40 Auch der »Wächter am Rhein« schrieb, nicht der Bezug zu einer »speciellen Verbindung« sei der springende Punkt, denn der Farbenwahl habe »eine allgemeinere Idee« zugrunde gelegen. In dieser Sicht emanzipierte sich das Symbol durch die breite Rezeption in der Bevölkerung vom burschenschaftlichen Milieu, die liberaldemokratische Bewegung löste die Burschenschaft als nationale Avantgarde ab.41 Die breite gesellschaftliche Aufnahme von Schwarz-Rot-Gold im deutschen Südwesten war zugleich Ausdruck der Verlagerung politischer Zukunftshoffnungen von den Einzelstaaten, wo die Reformen im Scheitern begriffen waren, auf die nationale Ebene.42 Eine Symbolalternative wurde nicht in Erwägung gezogen, schon gar nicht die preußischen Farben. Denn Preußens Fahne, die zwanzig Jahre zuvor »das deutsche Volk zu verwegenem Aufstand« gegen Napoleon geführt habe, wolle sich jetzt, wie früher die »Rheinbünder […] dem verhaßten Ausländer anschließen zu Knechtung und Schmach des Vaterlandes«.43 Anderen National37 38 39 40 41 42

Kermann: Die Pfalz (wie Anm. 2), S. 383 f. u. 388 ff.; LAS J1, Nr. 1, Bl. 7 f., 10, 29 u. 165. Der Wächter am Rhein 1832/80 (21. Juni 1832). LAS H1, Nr. 255, Bl. 2. LAS J1, Nr. 1, Bl. 87 f. Vgl. Roeseling: Burschenehre und Bürgerrecht (wie Anm. 10), S. 243 u. 319 f. Hans-Werner Hahn / Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/ 49 (=Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, 10. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 14). Stuttgart 2010, S. 444 f.; mit regionalem Bezug: Erich Schunk: Vom nationalen Konstitutionalismus zum konstitutionellen Nationalismus. Der Einfluß der »Franzosenzeit« auf den pfälzischen Liberalismus zur Zeit des Hambacher Festes, in: ZBLG 1988/51, S. 447 – 470. 43 Der Wächter am Rhein 1832/99 (10. Juli 1832).

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»Schwarz, roth und Gold«

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farben gegenüber war die Bevölkerung toleranter. So führte eine Pfingstpartie zur Burg Trifels neben deutschen Kokarden auch zwei bayerische Fahnen mit, und Kokardenhersteller hatten außer schwarz-rot-goldenen auch blau-weiße Abzeichen im Angebot.44 Die polnische Fahne und die französische Trikolore sahen ohnehin viele als achtenswerte Nationalsymbole. Die Zeitgenossen waren davon überzeugt: Schwarz-Rot-Gold waren die »altdeutschen« Farben. Heraldische Kriterien oder eine überprüfbare Genealogie spielten keine Rolle. Von Pölnitz sah die »altdeutsche Flagge« auf dem Hambacher Schloss, und sein Zweibrücker Kollege glaubte, diese Farbe sei »ursprünglich von Kaiser Friedrich I. genannt Barbarossa« gewählt worden. Selbst ein Kürschner sagte, diese Farbe werde »nur von solchen Personen getragen […], welche an der Wiederauferstehung des alten Deutschlands arbeiten«. Die neuen nationalen Erwartungen wurden weiterhin vom Alten Reich mitbestimmt, und die Aufschrift der Hambacher Hauptfahne kündete folgerichtig von »Deutschlands Wiedergeburt«.45 Über diese Anknüpfung hinaus waren die Konnotationen aber meist inhaltsarm, etwa wenn es hieß, die Farben sollten »nur das Bekenntniß einer […] allgemeinen Nationalität« ausdrücken.46 Auch in der oft geäußerten Kombination mit einer – wie auch immer verstandenen – »Freiheit« fehlte die inhaltliche Präzision. Das materiell konkrete Symbol war bedeutungsoffen und deshalb für viele attraktiv. Wie das Fest Reden mit unterschiedlichen Akzenten ermöglichte, so sah man die verschiedenen nationalen Vorstellungen in einem gemeinsamen Symbol repräsentiert. Man fand symbolisch eine Übereinstimmung, die in theoretischen Diskursen kaum erreichbar war. Wichtiger als begriffliche Präzision war Motivation. Brüggemann verwies auf die »Nützlichkeit einer Nationalfarbe um Begeisterung für den Ruhm und den Glanz einer Nation zu wecken«, und Pfarrer Hochdörfer vermutete, die Idee, diese Farben zu tragen, sei »bei jedem Festbesucher eben so aus dem Innern hervorgegangen« wie bei ihm.47 Die starke Resonanz auf das dreifarbige Symbol war auch regional begründet; sie war Folge der Gewöhnung der rheinbayerischen Bevölkerung an die blauweiß-rote Trikolore der »Franzosenzeit«. Für die Pfälzer war die französische Nationalflagge weniger Zeichen eines fremden Eroberers als der Errungenschaften der großen Revolution, an denen man seit den frühen 1790er Jahren partizipiert hatte. So holte man bei der Errichtung von Freiheitsbäumen 1832 44 LAS J1, Nr. 1, Bll. 10, 17 u. 50. 45 LAS H1, Nr. 1086, Bl. 41; J1, Nr. 1, Bll. 146 u. 159; vgl. Dieter Langewiesche: Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Ders.: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, S. 211 – 234. 46 LAS J1, Nr. 1, Bl. 164. 47 Ebd., Bl. 87 u. 167.

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Erich Schunk

zunächst diese »alten« dreifarbigen Fahnen heraus, und erst mit dem Hambacher Fest griff man zu schwarz-rot-goldenen. Von Pölnitz berichtete, die »deutschen« Farben hätten umso mehr Anklang gefunden, seit mit der Julirevolution auch in Frankreich »die Tricolor als das Palladium wieder gewonnener oder zu gewinnender VolksRechte angesehen wurde«.48 Schwarz-Rot-Gold war seit dem Sommer 1832 unterdrückt, aber nicht völlig verschwunden. Von Zeit zu Zeit, wie zum Jahrestag des Hambacher Festes, trat das Symbol wieder in Erscheinung. Nahezu tausend Menschen hatten sich am 27. Mai 1833 am Schloss zu einer Feier versammelt, als am gegenüber liegenden Waldhang eine schwarz-rot-goldene Fahne gezeigt wurde. Man schickte Gendarmen los, um sie zu beschlagnahmen, doch sie verschwand wieder. Noch zweimal wiederholte sich unter den Augen der johlenden Menge das Katz-undMaus-Spiel. Nach weiteren Provokationen kam es am Abend zu gewaltsamen Übergriffen bayerischer Soldaten auf die Hambacher und Neustadter Bevölkerung.49 Auch beim Hochverratsprozess gegen die Hambacher war Schwarz-Rot-Gold wieder zu sehen. Am dritten Verhandlungstag wurden die große Haupt- und die polnische Fahne als Beweisstücke herbeigebracht und vor dem Publikum aufgerollt: »In gespannter Erwartung sind alle Blicke darauf gerichtet, und eine allgemeine Bewegung wird im Saale bemerklich.« Das Symbol hatte seine emotionale Kraft bewahrt. Am Ende des Prozesses versuchte Wirth, beide Fahnen widerrechtlich in seinen Besitz zu bringen. Der Gerichtspräsident gab sie jedoch dem Neustädter Gutsbesitzer, Landtagsabgeordneten und Mitorganisator des Festes Johann Jakob Schoppmann, bei dem man sie beschlagnahmt hatte, und damit dem Personenkreis zurück, der die Popularisierung von SchwarzRot-Gold ermöglicht hatte.50

48 Ebd., Bl. 78; vgl. Elisabeth Fehrenbach: Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat, in: Dies.: Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. München 1997, S. 329 ff.. 49 LAS J1, Nr. 46, Bll. 199 ff., 216 u. 726 ff. 50 Ludwig Hoffmann (Hg.): Vollständige Verhandlungen vor dem königlich-bayerischen Appellationsgerichte des Rheinkreises […]. Zweibrücken 1833, S. 105 u. 489 f.

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Jörn Leonhard

»Die Zukunft der Geschichte«? – Carl von Rotteck und die Widersprüche des deutschen Frühliberalismus

1.

Einleitung: Die Ambivalenz des liberalen Erbes

»Der Liberalismus will nichts als die Zukunft der Geschichte.«1 Als Ausdruck der Gegenwart in ihrer Ausrichtung auf eine nahe Zukunft und den in ihr aufgehobenen Fortschritt definierte Theodor Mundt, eine der prominentesten Figuren des Jungen Deutschland, den Begriff Liberalismus 1834. Nicht weniger emphatisch äußerte sich wenige Jahre später der Hallenser Student Rudolf Haym in einem Streit um den Begriff Liberalismus: »Wir eben sind die Zeit!«2 In einer seit der Französischen Revolution und den Kriegen Napoleons von tiefgreifenden Umbrüchen gekennzeichneten Epoche sprach aus diesen Äußerungen das selbstbewusste und ungebrochene Vertrauen, mit dem Liberalismus die Zukunft zu besetzen und den universalhistorischen Fortschritt zu verkörpern. So gewährte der Liberalismus den Zeitgenossen eine zugleich politisch-konkrete wie universelle Orientierung. Die Berufung auf ihn gab der eigenen Gegenwart einen Ort im historischen Fortschrittsprozess, sie wies dieser Gegenwart eine positive Entwicklungsrichtung zu, und sie vermittelte eine suggestive Trennlinie zwischen rückschrittlicher Vergangenheit und verheißungsvoller Zukunft. Aus dem Gegensatz zwischen Rückschritt und Fortschritt ließ sich der eigene geschichtliche Standort ableiten. Der Liberalismus, so eine zeitgenössische Auffassung der 1830er Jahre, schreite »in demselben Maße fort, wie die Zeit selbst, oder ist in dem Maße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert.«3 Aber in diesen optimistischen Selbstbeschreibungen gehen die komplexe Vielfalt und auch die besonderen Widersprüche des frühen deutschen Libera1 Theodor Mundt: Moderne Lebenswirren, Leipzig 1834, S. 33. 2 Rudolf Haym: Aus meinem Leben, Berlin 1912, S. 110. 3 Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. 2 Theile, Stuttgart 1828, hier zitiert nach: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften 1817 – 1840, hg. von Klaus Briegleb, Frankfurt/M. 1981, S. 444 – 456, hier: S. 450; vgl. Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 309.

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lismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht auf. Zu fragen ist vielmehr nach der »vergangenen Zukunft« (Reinhart Koselleck) dieses Liberalismus und seiner Exponenten, also nach den besonderen zeitgenössischen Erfahrungen und Erwartungen, die sich nicht darin erschöpfen, was historisch langfristig aus diesen Politikentwürfen geworden ist.4 Der folgende Beitrag konzentriert sich in diesem Sinne auf Carl von Rotteck, eine der prägenden Figuren des frühen deutschen Liberalismus. Die »vergangene Zukunft« Rottecks zu rekonstruieren heißt für den Historiker, ihn zwar mit unseren eigenen Fragen und Erkenntnisinteressen zu konfrontieren, ihn aber zunächst aus seiner Zeit zu verstehen und nicht an Maßstäben der eigenen Jetzt-Zeit zu messen.5 Damit verbindet sich ein weiteres Ziel, nämlich den frühen deutschen Liberalismus jenseits gängiger negativer oder positiver geschichtspolitischer Mythen zu charakterisieren, im deutschen Liberalismus des langen 19. Jahrhunderts also weder a priori die Vorgeschichte des deutschen Katastrophenjahrhunderts und einen Abschnitt des antiwestlichen Sonderweges zu erkennen, noch ihm einen idealisierten, unhinterfragt positiven Ort zuzuordnen, von dem aus sich die Kontinuität der »liberalen Demokratie« aus dem Geist der Aufklärung, des »ziviles Rechtsstaats«, des »unkriegerischen Ideals der Kulturnation« in Deutschland vom Hambacher Fest 1832 über die Frankfurter Nationalversammlung 1848 bis zum Grundgesetz 1949 beweisen ließe.

2.

Liberalismus in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert: Erfahrungen und Erwartungen, Konsens und Konflikt

Welche wesentlichen Kennzeichen zeichneten den deutschen Liberalismus in der Zeit zwischen der deutschen Wahrnehmung der Französischen Revolution und ihres napoleonischen Ausgangs und den 1840er Jahren aus?6 Schon ein erster Blick aus einer Vogelschauperspektive zeigt, dass jede Gleichsetzung von Liberalismus, Bürgertum, industrieller Modernisierung und Klassengesellschaft für die Vielfalt von Bedingungen in Deutschland nicht zutrifft. Das hatte insbesondere für Baden und Rotteck erhebliche Bedeutung. Daher steht am Anfang 4 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989. 5 Hans Fenske: Karl von Rotteck. Jurist, Historiker, Politiker, in: Freiburger Universitätsblätter 2002/ 158, S. 31 – 51; Ders.: Karl von Rotteck und Karl Theodor Welcker, in: Freiburger Universitätsblätter 1997/ 36/137, S. 31 – 51; Ders.: Karl von Rotteck und der deutsche Liberalismus, in: Achim Aurnhammer (Hg.): Poeten und Professoren. Eine Literaturgeschichte Freiburgs in Porträts, Freiburg 2009, S. 153 – 168; Christian Würtz: Karl von Rotteck als Autor und Politiker, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 2009/ 157, S. 343 – 356. 6 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 12 – 38.

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»Die Zukunft der Geschichte«?

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der Untersuchung ein Blick auf die Unterschiede zwischen den politischen und den sozialen Positionen der frühen Liberalen.7 Die theoretischen Positionen deutscher Liberaler im frühen 19. Jahrhundert verrieten zunächst das Erbe der Aufklärung – Immanuel Kant blieb ein entscheidender gemeinsamer Bezugspunkt, und die Kantische Vernunftethik eine entscheidende Referenz – zugleich aber die Erfahrung einer ständischen Gesellschaft. Vor allem aber hatte der frühe Liberalismus nach dem Wiener Kongress und den Karlsbader Beschlüssen von 1819, welche die Verwirklichung eines freiheitlichen deutschen Nationalstaates in weite Ferne rücken ließen, regionale Bezugspunkte. In den deutschen Einzelstaaten, zumal in den ehemaligen Rheinbundstaaten wie Baden, Württemberg oder Bayern, fand der frühe Liberalismus seine zunächst entscheidenden Foren – und dies umso mehr, weil in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes eine große Vielfalt an politischen Bedingungen und Handlungsspielräumen herrschte, die Liberale für sich zu nutzen wussten.8 Politisch rekurrierte man nach 1815 auf die Überwindung einer einseitigen monarchischen Herrschaft, auf die Abschaffung adliger und feudaler Relikte, auf Reformen an der Seite eines zumal in seiner Beamtenschaft fortschrittlichen Staates, auf die Einrichtung von parlamentarischer Repräsentativkörperschaften, auf Grundrechte, im ganzen aber vor allem auf einen Fortschritt im Namen der Vernunft, der sich von der gewaltsamen Französischen Revolution abgrenzen ließ. Allenfalls deren gemäßigte Entwicklung bis zur konstitutionellen Monarchie 1791 konnte als Orientierung gelten – aber stets mit dem Hinweis auf die Gefahr der Radikalisierung ab 1792. Die »rote Revolution«, Synonym für enthemmte Gewalt, sozialen Umsturz, radikale Republik und den Export der Revolution in den Kriegen der Revolution und später Napoleons, war für die deutschen Liberalen nach 1815 ein negativer Bezugspunkt, zumal die Kriege im Namen der Prinzipien von 1789 nach 1815 eben nicht als Befreiungs-, sondern im Gegenteil als Unterdrückungs- und Unterwerfungskriege wahrgenommen wurden.9 7 Dieter Langewiesche: Frühliberalismus und Bürgertum 1815 – 1849, in: Lothar Gall (Hg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S. 63 – 129. 8 Elisabeth Fehrenbach: Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung, in: Wolfgang Schieder (Hg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983, S. 272 – 294; Rainer Koch: Staat oder Gemeinde? Zu einem politischen Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts, in: HZ 1983/ 236, S. 73 – 96; Lothar Gall (Hg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. München 1990, sowie Ders. und Dieter Langewiesche (Hg.): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995. 9 Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750 – 1914, München 2008, S. 425 – 441.

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Reformen an der Seite eines fortschrittlich-aufgeklärten Staates, konstitutionelle Monarchie, Verfassung und Parlament sowie Abwehr der revolutionären Gewalt kennzeichneten das liberale Credo. Hier zeigte sich eine entscheidende Ambivalenz im Umgang mit der Möglichkeit einer gewaltsamen Revolution – die weit über 1830 und 1848 reichen sollte: Wie viel Revolution war nötig, um Reformen durchzusetzen? Ließ sich mit Reformen überhaupt die Gefahr einer Revolution umgehen? Wie sollte man sich verhalten, wenn der Staat, die Obrigkeit, den Kurs einer fortschrittlichen und vernünftigen Reform ablehnte und sie Institutionen bürgerlicher Politikteilhabe offen bekämpfte? Im Kontrast zu den politischen Positionen blieb das gesellschaftliche Leitbild der Liberalen zumal in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend traditional: Es orientierte sich am Ideal einer vom tradierten Hausvater her gedachten, durchaus moralischen Ökonomie. Im Kontrast zu einer modernen Marktgesellschaft mit der Ausdifferenzierung von Produktion und Gewerbe, mit ihrer Ausbildung überregionaler und transnationaler Märkte im Zeichen von Angebot und Nachfrage, wie sie sich in Großbritannien abzuzeichnen begann, blieb der deutsche Horizont vor den 1840er und 1850er Jahren primär lokal und vorindustriell. Das entsprach einer Gesellschaft, in der trotz beginnender Veränderungen – die Bevölkerung wuchs dynamisch, und die Institutionen der Ständegesellschaft begannen zurückzutreten – vieles noch auf Beharrung hinwies, insbesondere im deutschen Südwesten mit seinen bedeutenden Standesherrn und zahlreichen feudalen Relikten. Dynamisch war diese Gesellschaft, zumal im deutschen Südwesten, aufgrund ihrer Geburtenüberschüsse, des Bevölkerungswachstums, das aber noch nicht, wie dann seit den 1840er und 1850er Jahren, von einer umfassenden gewerblichindustriellen Entwicklung begleitet und aufgefangen wurde. Die Folge waren Massenverelendung und Auswanderung. Der »Pauperismus« als die soziale Frage des Vormärz war das Symptom einer krisenhaften Übergangsgesellschaft, für deren Probleme der Liberalismus zunächst keine Antwort fand. Erst allmählich wandelte sich vor diesem Hintergrund der konfliktreichen 1840er Jahre, das unterstrich die Krise um die schlesischen Weber als Symptom der Krise des Textilgewerbes und der Heimarbeit, die soziale Positionierung der Liberalen. Bis dahin bestimmte die soziale Harmonie, der durch Vernunft und Bildung mögliche Interessenausgleich, ihr gesellschaftliches Leitbild: eine »klassenlose Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen« (Lothar Gall), in der Besitz und Bildung die entscheidenden Voraussetzungen für politische Teilhabe darstellten, aber eben nicht eine Klassengesellschaft mit scharfen und unversöhnlichen Gegensätzen.10 10 Lothar Gall: Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, in: HZ 1975/ 220 , S. 324 – 356; Rainer Koch: »Industriesystem« oder »bürgerliche Gesellschaft«, in: Geschichte in Wissen-

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In der politischen Konkretion, das galt zumal für Carl von Rotteck, setzte der deutsche Frühliberalismus auf den Dualismus, zum einen als grundlegendes Prinzip der Gewaltenteilung, zum anderen in der Beziehung zwischen dem Parlament als Körperschaft der politischen Gesellschaft einerseits und der Regierung bzw. dem Monarchen auf der anderen Seite. Den vormärzlichen Landtagen kam nicht allein das Königsrecht der Haushaltsbewilligung zu. Die Liberalen sahen in ihnen auch die Wahrung der Grundrechte. Aber dieser Dualismus wies den Parlamentariern vor allem die Kontrolle der Verwaltung und die Kritik an der Regierung, die Position des oppositionellen Gegenübers eben, zu. Das war etwas anderes als die Vorstellung eines wirklich parlamentarischen Systems, wie es sich in Großbritannien zu entwickeln begann, und wo die Opposition stets die Regierung im Wartestand sein musste. Der Dualismus des frühen deutschen Liberalismus kannte also den entscheidenden Mechanismus einer parlamentarischen Monarchie nicht, eine Regierung über eine parlamentarische Mehrheit zu stürzen. Dies war weder für Rotteck noch für die meisten zeitgenössischen Liberalen in Deutschland Teil ihrer politischen Agenda. Der deutsche Frühliberalismus fand sich letztlich auch damit ab, die einzelstaatlichen Verfassungen nach 1815 aus den Händen von Monarchen und nicht als Ergebnis von Revolutionen erhalten zu haben, so wie in den ehemaligen Rheinbundstaaten Baden, Württemberg und Bayern. Diese Konstellation und die andauernde Furcht vor einer gewaltsamen sozialen Revolution wie in Frankreich erklärte eine eigentümliche Ambivalenz aus Distanz gegenüber dem Staat und Nähe zum Staat. Liberale gingen gerade nicht von einer unüberwindbaren Entgegensetzung zwischen dynamischer Gesellschaft und statischem Staat aus, sondern sie setzten auf die mögliche Balance, auf Ausgleich, Kooperation, auf die »friedliche Koexistenz«.11 Zugleich erlebte der Liberalismus als konkrete politische Praxis nach 1820 einen Aufschwung außerhalb der Landtage, in den zahllosen Assoziationen, den Museums- und Lesevereinen, den Casinos, den Polen- und Griechenvereinen, welche die Freiheitsbestrebungen der unterdrückten Polen und Griechen unterstützten, damit auch auf die unerfüllten nationalen Hoffnungen der Deutschen verwiesen und zugleich eine Politisierung unterhalb und außerhalb der schaft und Unterricht 1978 39, S. 605 – 628; Wolfgang J. Mommsen: Der deutsche Liberalismus zwischen »klassenloser Bürgergesellschaft« und »organisiertem Kapitalismus«, in: Geschichte und Gesellschaft 1978 /4, S. 77 – 90; Thomas Zunhammer : Begriff und Ideal des Mittelstandes im Staatslexikon von Karl v. Rotteck und Karl Theodor Welcker, in: Aufklärung, Vormärz, Revolution 1999/ 16/17 , S. 79 – 98. 11 Paul Achatius Pfizer : Liberal, Liberalismus, in: Carl von Rotteck / Carl Theodor Welcker (Hg.): Staats-Lexicon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, 15 Bde., Altona 1834 – 1843, Bd. 9, 1840, S. 713 – 730, hier: S. 714 f.

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Parlamente bewirkten. Der Ansehenserfolg der Liberalen in den 1820er und 1830er Jahren hatte also auch zu tun mit einer Leserevolution des Bürgertums und einer bestimmten Sozialisation: Liberale teilten eine bestimmte, durch Besitz und Bildung bestimmte Lebensführung, einen Denkstil, einen Habitus. Eine enge, bloß parteipolitische Bestimmung des Liberalismus konnte diese Gesinnung, die stets mehr sein wollte als eine Partei unter anderen, nicht erfassen. Das erklärt auch, warum die neuen zeitgenössischen Begriffe »Partei« und »Fraktion« lange kritisch bewertet wurden, standen sie gegenüber dem Ideal einer vernünftigen Balance zwischen Staat und Bürgergesellschaft doch im Verdacht, den Interessenantagonismus, den ideologischen Konflikt zum Programm zu erheben, wo es den Liberalen darum ging, alle Kräfte in Staat und Gesellschaft auf einen evolutionären vernünftigen Fortschritt zu lenken. Wer nur vernünftig denke oder durch allmähliche Bildung dazu gelange, der könne gar nicht anders als ein Liberaler zu werden.12

3.

Carl von Rotteck: Opposition, Konstitution, Kooperation

Carl von Rotteck war in vieler Hinsicht ein exemplarischer Vertreter dieses frühen Liberalismus in Deutschland. In seiner Person bündelten sich zentrale Merkmale, welche die Veränderung der politischen Landschaft und der Politik selbst anzeigten. Aber auch die besonderen Ambivalenzen und Widersprüche der Liberalen zwischen dem Wiener Kongress und den 1840er Jahren wurden in seiner Biographie exemplarisch erkennbar. Zu diesen Merkmalen zählte zunächst der besondere regionalstaatliche und lokale Horizont der Politik mit seinen starken gemeindebürgerlichen Traditionen.13 Rotteck stammte aus Freiburg und Baden, einem Kunststaat, der seine Existenz der Neuordnung der südwestdeutschen Landkarte nach dem Ende des Alten Reiches 1806, der Säkularisation von Kirchenbesitz und der napoleonischen Pläne in Deutschland, zumal der Rheinbundpolitik, verdankte. Nach 1815 bildeten Verfassung und Landtag entscheidende Instrumente für Monarchen und Regierungen, um dieses neue Gebilde mit seinen unterschiedlichen Territorien wirksam zu integrieren und zugleich den öffentlichen Kredit wiederherzustellen, mit dem man der chronischen Finanzkrise des Staates zu begegnen suchte. Ohne parlamen12 Leonhard, Liberalismus, S. 361 – 388. 13 Paul Nolte: Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800 – 1850. Tradition – Radikalismus – Republik, Göttingen 1994; Manfred Mayer: Das konstitutionelle Deutschland und der Westen. Tradition und Wandel nationaler Konzepte in Südwestdeutschland 1830 – 1848, in: Helmut Reinalter (Hg.): Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich 1830 – 1848/49, Frankfurt/M. 2002, S. 191 – 212.

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tarische Repräsentation konnte es keine Besteuerung oder eine belastbare öffentliche Schuldenpolitik geben.14 Auch aus Rottecks eigener Biographie ergeben sich wichtige Merkmale für die Entstehungshintergründe des frühen Liberalismus:15 Sein Vater war ein von Joseph II. nobilitierter Freiburger Arzt, der später Direktor des Freiburger medizinischen Instituts wurde. Die Familie seiner Mutter mit ihren zahlreichen bildungsbürgerlichen Repräsentanten, Klerikern und Anwälten zumal, stammte aus dem Lothringischen. Rottecks bildungsbürgerlicher familiärer Hintergrund verband also die Traditionen der josephinischen und der französischen Aufklärung miteinander, und beide Elemente sollten bei ihm weiterwirken. Fünfzehnjährig begann er in Freiburg ein Studium der Rechte, das er 1797 als 22Jähriger abschloss.16 Über väterliche Patronage erlangte er als Fachfremder eine Professur für »Allgemeine Weltgeschichte« in Freiburg. Seine Begegnung mit dem Freiburger Verleger Herder ermutigte ihn, sich mit einer historischen Arbeit an ein größeres Publikum zu wenden. Rottecks »Allgemeine Weltgeschichte«, in neun Bänden zwischen 1812 und 1827 erschienen, machte ihn sehr bald zu einem der publizistisch erfolgreichsten Historiker seiner Zeit, zu einer »zeitgeschichtlichen Macht« (Ritter von Srbik). Mit über 100.000 verkauften Exemplaren bis zu Rottecks Tod war seine »Weltgeschichte«, aus zweiter Hand gearbeitet und gegenüber anderen Synthesen des 19. Jahrhunderts sicher keine herausragende wissenschaftliche Leistung, eine der einflussreichsten Geschichtsdarstellungen des 19. Jahrhunderts, eine Referenzgröße bildungsbürgerlicher und liberaler Selbstvergewisserung. Vor allem handelte es sich bei Rottecks »Weltgeschichte« um eine Historiographie in pädagogischer Absicht, indem der Verfasser die Weltgeschichte als Abfolge und Entfaltung immer größerer Freiheit bis hin zur eigenen Gegenwart darstellte.17 1818 übernahm Rotteck an der Juristischen Fakultät eine rechtswissenschaftliche Professur und wurde als Vertreter der Universität Freiburg in die Erste Kammer des Landtags nach Karlsruhe entsandt. Hier wurde er in den 14 Hans-Peter Ullmann: Staatsschulden und Reformpolitik, Göttingen 1986. 15 Achim Aurnhammer / Barbara Beßlich: Freiburg als Zentrum der südwestdeutschen katholischen Aufklärung zwischen Josephinismus und Frühliberalismus, in: Aldo Venturelli / Fabio Frosini (Hg.): Der Ort und das Ereignis. Die Kulturzentren der europäischen Geschichte, Freiburg 2002, S. 121 – 145. 16 Erwin Forster : Karl von Rotteck (1775 – 1840), in: Gerd Kleinheyer / Jan Schröder (Hg.): Deutsche und europäische Juristen aus 5 Jahrhunderten, 5. Aufl., Heidelberg 1996, S. 349 – 352. 17 Jörg Echternkamp: Erinnerung an die Freiheit. Zum Verhältnis von Frühliberalismus und Nationalismus in der Geschichtsschreibung Karl von Rottecks und Heinrich Ludens. in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 1996/ 8, S. 69 – 88; Benedikt Stuchtey : German Historical Writing, in: Stuart Macintyre / Juan Maiguashca / Attila Pûk (Hg.): The Oxford History of Historical Writing, Bd. 4: 1800 – 1945, Oxford 2011, S. 161 – 183, hier : S. 167 f.

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kommenden Jahren zum Exponenten eines explizit politischen Professorentums, bei dem sich publizistische und parlamentarische Tätigkeit überschnitten. Das sicherte ihm zugleich eine auch zunehmend überregionale Popularität. Von der Vorzensur waren allein Parlamentsprotokolle und Werke über 20 Druckbogen Umfang ausgenommen. Das erklärte auch Rottecks Interesse an umfangreicheren Werken, sei es die »Weltgeschichte«, das zweibändige »Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften« oder das vielbändige, seit den 1830er Jahren mit Carl Theodor Welcker herausgegebene »Staats-Lexikon«.18 In der Ersten Kammer gingen von Rottecks zahllosen Anträgen und Petitionen zur Abschaffung feudaler Relikte und adliger Privilegien wichtige Impulse aus, die seine öffentliche Wirkung, seine wachsende Reputation als badischer »Volksmann«, prägten. Seine Empfänge in Freiburg nach dem Ende der Landtagsperioden glichen öffentlichen Demonstrationen, unterstrichen aber vor allem, wie aus der Mischung aus parlamentarischer Öffentlichkeit und publizistischer Tätigkeit eine eigene Dynamik der Politisierung entstand, die in den Einzelstaaten ihre eigenen politischen Helden hervorbrachten, seien es Welcker und Rotteck in Baden, Uhland und Pfizer in Württemberg oder später Gagern im Großherzogtum Hessen. Rottecks politische Konzeption war durchaus synkretistisch. Er setzte zunächst ganz im Sinne Rousseaus auf den Primat des Gesamtwillens, der »volont¦ g¦n¦rale«, vor allen anderen Institutionen.19 Den Staat erklärte er im Sinne Kants als vertragliches Konstrukt. Entscheidend blieb die klassisch republikanische Auffassung, dass die »res publica« die Summe aller Bürger und ihres politischen Verstandes sei. Dieses Verständnis von Republik, das Rotteck von Kant übernahm, war unabhängig von einer bestimmten Staatsform. Auch in einer kon18 Hans Puchta: Die Entstehung politischer Ideologien im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel des Staatslexikons von Rotteck-Welcker und des Staats- und Gesellschaftslexikons von Herrmann Wagener, Erlangen 1972; Rüdiger von Treskow: Rotteck und Welcker. Beginn der parlamentarischen Debatte in Baden (1819 – 1832), in: Otto Borst (Hg.): Südwestdeutschland. Die Wiege der deutschen Demokratie, Tübingen 1997, S. 95 – 115; Christian Würtz: Rotteck und Welcker als Repräsentanten der badischen liberalen Publizisten, in: Achim Aurnhammer (Hg.): Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literarisches Leben in Baden zwischen 1800 und 1850, Freiburg 2010, S. 91 – 110. 19 Claudia M. Igelmund: Frankreich und das Staatslexikon von Rotteck und Welcker. Eine Studie zum Frankreichbild des süddeutschen Frühliberalismus, Frankfurt/M. 1987; Wolfgang D. Dippel: Wissenschaftsverständnis, Rechtsphilosophie und Vertragslehre im vormärzlichen Konstitutionalismus bei Rotteck und Welcker. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des Liberalismus, Münster 1990; Ursula Herdt: Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks, Egelsbach 1993; Rainer Schöttle: Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus im Vormärz. Studien zu Rotteck, Welcker, Pfizer, Murhard, Baden-Baden 1994; Hartwig Brandt: Karl von Rotteck, 1775 – 1840, in: Bernd Heidenreich (Hg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Berlin 2002, S. 369 – 382.

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stitutionellen Monarchie war ein solches Grundverständnis von Politik möglich. Aber anders als in antiken Stadtstaaten, den »poleis«, war diese Vorstellung in zeitgenössischen Flächenstaaten viel schwieriger umzusetzen. Hier setzte für Rotteck der Dualismus als Prinzip der politischen Organisation an: Im Sinne des Rousseau’schen Gesamtwillens sei die ideale Staatsgewalt unteilbar, aber in den Staaten seiner Gegenwart unterschied Rotteck die künstlichen Organe von Monarchie und Regierung vom natürlichen Organ der Volksversammlung. Parlamente entsprachen im Gegensatz zu den städtischen Bürgerversammlungen der antiken »poleis« der Notwendigkeit, politische Macht zu delegieren. Im Blick auf die Ausgestaltung des Parlaments orientierte sich Rotteck eng an Rousseaus Vorbild: Das Parlament konnte nur ein gleichsam technisches Forum bieten, in dem der Gesamtwille zum Tragen kam, das ihn aber keinesfalls erzeugte. Das prägte auch seine streng an Rousseau orientierte Sicht des Abgeordneten: »Der natürliche oder wahre Repräsentant muß die Gesinnung oder den Willen der Repräsentirten [sic!] ausdrücken.«20 Die indirekte Wahl über Wahlmänner und die Teilung in eine Erste (ständische) und eine Zweite Kammer der gewählten Abgeordneten lehnte er ab.21 Signifikant für Rotteck wie für den ganzen frühen Liberalismus in Deutschland war schließlich die Frage des Wahlrechts. Hier sprach er sich für eine Begrenzung des passiven Wahlrechts nach dem Kriterium von Grundbesitz und Vermögen aus: »Die Nation … mag billig eine Bürgschaft dafür verlangen, daß Diejenigen, welche in ihrem großen Rathe sitzen, dem Gesammtinteresse treu und persönlich ergeben seyen [sic!].«22 Auch beim aktiven Wahlrecht befürwortete er eine Einschränkung, um die Bürgergesellschaft gegen die Gefahren der Verführung und Bestechung abzuschirmen. Die eigentumslosen unteren Klassen, den »Pöbel«, konnte er sich als Aktivwähler nicht vorstellen.23 Die gleiche Tendenz einer Beschränkung der Teilhaberechte, die seine Haltung gegenüber den unterbürgerlichen Schichten auszeichnete, charakterisierte auch Rottecks Antwort auf die zeitgenössische Debatte um die Emanzipation der Juden.24 Um 1830 genossen die Juden in Baden zwar Gewerbefreiheit, steuerliche

20 Carl von Rotteck: Ideen über Landstände, zitiert nach: Ders.: Sammlung kleinerer Schriften, meist historischen und politischen Inhalts, 5 Bde., Stuttgart 1829 – 1835, hier : Bd. 2, S. 83; vgl. Brandt, Karl von Rotteck, S. 376. 21 Carl von Rotteck: Ein Wort über Landstände, in: Ders.: Gesammelte und nachgelassene Schriften mit Biographie und Briefwechsel, hg. von H. von Rotteck, Bd. 2, Pforzheim 1841, S. 407. 22 Ebd., S. 144; vgl. Brandt, Karl von Rotteck, S. 377. 23 Thomas Zunhammer : Zwischen Adel und Pöbel. Bürgertum und Mittelstandsideal im Staatslexikon von Karl v. Rotteck und Karl Theodor Welcker. Ein Beitrag zur Theorie des Liberalismus im Vormärz, Baden-Baden 1995. 24 Heiko Haumann: »Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch«. Ein Versuch über histo-

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Gleichbehandlung und die prinzipielle Anerkennung ihrer Konfession, aber sie hatten keine vollen Rechte als Orts- und Staatsbürger, waren also vom Wahlrecht, den Gemeindeversammlungen und staatlichen Ämtern ausgeschlossen.25 In den sogenannten »Judendebatten« des Landtags 1831 und 1833 betonte Rotteck das »antisoziale Wesen« der jüdischen »Nation«.26 Seine Judengegnerschaft stand dabei für eine bestimmte Tradition der Aufklärung, die man im Rückblick auf das frühe 19. Jahrhundert nicht unterschätzen darf: Sie wandte sich gegen jede Form religiöser Orthodoxie, wie Rotteck und andere liberale Zeitgenossen sie zumal in den sog. »Talmud-Juden« und ihrer angeblich »toten« Gesetzesreligion erkannten. Die konsequente Judenemanzipation war für Rotteck ein »minder wichtiger Gegenstand«, bei der man pragmatisch entscheiden müsse. Entscheidend blieb seine Vorstellung, die auch die Haltung vieler Liberaler gegenüber dem »Pöbel« prägte, nämlich das Ideal, durch Bildung und vernünftigen Fortschritt allmählich in die Staatsbürgergesellschaft hineinzuwachsen: »So lange die Juden nicht einigermaßen diesem Prinzip [i. e. der Abschottung gegenüber anderen Völkern, J.L.], das nach dem heutigen Stande der Cultur und der fortgeschrittenen Vernunft und der besser ausgebildeten Humanität nicht paßt, und eine Feindseligkeit gegen die andern Völker in sich trägt, entsagen, und nicht beweisen, daß sie ihm entsagt haben, so sind sie nicht für die Emancipation reif [sic!].«27 Rotteck stand mit dieser Vorstellung, dass sich vor der Gewährung staatsbürgerlicher Rechte zuerst durch Vernunft und evolutionären Fortschritt ein einheitlicher Menschentypus herausbilden müsse, nicht allein.28 Ähnliche Po-

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rische Massstäbe zur Beurteilung von Judengegnerschaft an den Beispielen Karl von Rotteck und Jacob Burckhardt, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 2005/ 55 / 2, S. 196 – 214. Werner Bergmann / Rainer Erb: »Die Juden sind bloß toleriert«. Widerstand der christlichen Umwelt gegen die Integration der Juden im frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde 1987/ 83 , S. 193 – 218; Wolfgang Häusler : Judenfeindliche Strömungen im deutschen Vormärz, in: Manfred Treml (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, München 1988, S. 299 – 312; Christine Zeile: Baden im Vormärz. Die Politik der Ständeversammlung sowie der Regierung zur Adelsfrage, Grundentlastung und Judenemanzipation 1818 bis 1843, München 1989; Martin Friedrich: Vom christlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus. Die Auseinandersetzung um Assimilation, Emanzipation und Mission der Juden um die Wende zum 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1991/ 102, S. 318 – 347; Reinhard Rürup: Die jüdische Landbevölkerung in den Emanzipationsdebatten süd- und südwestdeutscher Landtage, in: Monika Richarz (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande: Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997, S. 121 – 138. Zitiert nach: Haumann, »Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch«, S. 197. Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogtums Baden im Jahre 1833, 14. Heft, Karlsruhe 1833, S. 362 f.; vgl. Haumann, »Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch«, S. 198 f. Gerhard Göhler: Republikanismus und Bürgertugend im deutschen Frühliberalismus. Karl von Rotteck, in: Michael Greven (Hg.): Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach

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sitionen lassen sich bei Herder, Hegel und Humboldt finden, von den aggressiven antijüdischen Positionen bei Fichte oder Jakob Friedrich Fries ganz zu schweigen. Rotteck folgte auch hier Kant. Dieser hatte gefordert, die Juden müssten sich von ihrer Religion und Kultur abkehren, um zu einem Volk zu werden, das langfristig zur Wahrnehmung bürgerlicher Rechte fähig sei. Im Gegensatz zu anderen Liberalen, die wie Welcker, Johann Georg Duttlinger oder Karl Steinacker, der Verfasser des Emanzipationsartikels im Staatslexikon, von dessen Position sich Rotteck in einem eigenen Nachsatz distanzierte, die Gewährung von vollständiger Rechtsgleichheit forderten, damit sich die Juden emanzipieren konnten, wurde bei Rotteck und vielen zeitgenössischen Liberalen eine Grenze des aufgeklärten Toleranzgebots erkennbar. Sie war begründet durch eine Rationalitätsvorstellung, nach der kulturelle und religiöse Eigenarten bloße Relikte der Vergangenheit darstellten, die es im Zivilisationsprozess und auf dem Weg der Nationsbildung zu überwinden gelte.29 Rottecks Konzentration auf den Landtag als politisches Forum war insgesamt ein Zeichen für die konstitutionelle Orientierung des frühen Liberalismus in Deutschland. Hier gelang es, die vorhandenen Parlamente aus staatlichen Integrationsinstrumenten, als die sie im Sinne einer verlängerten Staatsgewalt zunächst fungieren sollten, zu einem Forum der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Volksvertretung zu machen. Die Publizität der Parlamentsprotokolle, die nicht der Zensur unterworfen waren, trug maßgeblich dazu bei, dass politische Akteure wie Rotteck zu öffentlichen Figuren werden konnten. Diese Konstellation blieb bis 1830 im Wesentlichen erhalten. Mit der Erfahrung der Julirevolution in Frankreich und der von hier ausgehenden Welle regionaler und lokaler Revolten und Widerstandsbewegungen in verschiedenen deutschen Staaten wie dem Frankfurter Wachensturm im April 1833 und dem Hambacher Fest im Mai 1832 änderten sich jedoch die Handlungsbedingungen entscheidend. Auch für Rotteck wurde die Phase seit 1830 daher zu einer biographischen Wasserscheide. Bis 1830 hatte in Baden zunächst eine durchaus reformorientierte und in Teilen auch liberale Verwaltung den Ausgleich mit den beiden Kammern des Landtages gesucht. Rotteck erlebte vor diesem Hintergrund 1830/ 31 den Höhepunkt seiner öffentlichen Wirkung, und im Klima einer kurzfristigen innenpolitischen Liberalisierung wurden ihm 1831 gleich mehrfach Landtagskandidaturen angetragen.30 Die deutschen Oppositionsbewegungen von 1830/32 gingen jedoch über die zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 123 – 149; Gerhard Göhler : Volkssouveränität und konstitutionelle Monarchie. Karl von Rotteck, in: Hans J. Lieber (Hg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, München 1991, S. 37 – 74. 29 Haumann, »Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch«, S. 199 – 203. 30 Helmut Gembries: Karl von Rotteck und das Hambacher Fest, in: Jahrbuch der HambachGesellschaft 2006/ 14, S. 95 – 109.

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Grenzen des bürokratischen Liberalismus nach 1815 und des parlamentarischen Liberalismus der 1820er Jahre hinaus. Nicht allein die Kammern galten vielen als Plattform der Auseinandersetzung, sondern vor allem Presse, Vereinswesen und die öffentliche Versammlung und Demonstration. Sozial griff diese außerparlamentarische Oppositionsbewegung deutlich weiter aus. Sie umfasste eben nicht mehr nur Bildungs- und Besitzbürgertum, sondern auch Handwerker, Gesellen, Gastwirte und andere Teile des Kleinbürgertums, die sich mit den evolutionären und konstitutionellen Positionen des Kammerliberalismus, wie ihn Rotteck symbolisierte, nicht mehr zufriedengaben und die Kompromisshaltung und Staatsnähe der liberalen Landtagsabgeordneten nun offen kritisierten.31 Hier deutete sich eine entscheidende neue Konfliktlinie an: Auf der einen Seite hielt Rotteck daran fest, dass allein die Landtage das entscheidende Forum der Veränderung, der kritischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung seien und dass im Liberalismus als Ausdruck von Kantischer Vernunftidee und gemäßigt-evolutionärem Fortschritt die ganze Gesellschaft repräsentiert sei. Der parlamentarische Liberalismus sollte als klassenintegrierende Bewegung wirken und von daher die Bildung antagonistischer Parteien und Fraktionen gerade verhindern: »Wir wollen gar nichts anderes als die freie, durch keinen ungebührlichen Einfluss gestörte Ausübung der allen Bürgern und Einwohnern zustehenden Wahlrechte und Pflichten. Wir sind also keine Partei, sondern vielmehr die Bürgerschaft und Einwohnerschaft selbst, wenigstens ihre getreueste und vollständigste Repräsentation … Wer gegen unser Beginnen sich erhebt, der bildet eine Partei, denn er setzt dem allgemeinen Recht eine besondere Anmaßung entgegen.«32 Auf der anderen Seite aber bildeten sich 1830/32 gerade außerhalb der Landtage neue Oppositionsformen und differenzierten sich neue politische Agenden. So markierte das Jahr 1830 eine zweifache Veränderung: Der Anspruch des Liberalismus, als klassenübergreifende Bewegung für alle Teile der Gesellschaft zu sprechen, wurde nun zum ersten Mal offensiv in Frage gestellt. In den Landtagen formierten sich deutlich unterscheidbare politische Fraktionen, nicht zuletzt, weil nun auch die Regierungen eigene Kandidaten in die Wahlen schickten und solche der Opposition zu behindern suchten. Dazu kam zweitens 31 Wolfgang Schieder : Der rheinpfälzische Liberalismus von 1832 als politische Protestbewegung, in: Helmut Berding (Hg.), Vom Staat des Ancien r¦gime zum modernen Parteistaat. Festschrift für Theodor Schieder, München 1978, S. 169 – 195; Cornelia Foerster : Der Preßund Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982. 32 Carl von Rotteck: Gesammelte und nachgelassene Schriften mit Biographie und Briefwechsel. Geordnet und hg. von Hermann von Rotteck, 5 Bde., Pforzheim 1841 – 1843, hier: Bd. 2, S. 577; vgl. Brandt, Karl von Rotteck, S. 378 f.

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die Profilierung einer Opposition links vom Liberalismus, der von den Zeitgenossen Rottecks zunächst noch als fehlgeleiteter, unvernünftiger, französisch inspirierter, eben »falscher Liberalismus« charakterisiert wurde, dann aber als eine eigenständige gefährliche Bewegung, als »Radicalismus« bezeichnet und mit einer stärker demokratischen, sozialrevolutionären und republikanischen Programmatik identifiziert wurde.33 Am Beispiel Rottecks lässt sich diese Spaltung der Opposition als exemplarischer Generationskonflikt erkennen: Zu seinen jüngeren Studenten in Freiburg hatten auch Jacob Siebenpfeiffer und Johann August Wirth gehört, die 1832 zu den Hauptorganisatoren des Hambacher Fests zählten. Hier ging es um deutlich andere Ziele als in den Landtagsdebatten: demokratische Teilhaberechte, eine stärker soziale Ausrichtung der Zielsetzungen und die Bereitschaft zur aktiven Auseinandersetzung mit den bestehenden Obrigkeiten auch außerhalb der Parlamente. Für viele Vertreter des parlamentarischen Liberalismus wie Rotteck schien dies wie die Ankündigung einer radikalen, republikanischen und sozial-revolutionären Gefährdung des Erreichten. Daher kann es auch nicht überraschen, dass Rotteck sich von der öffentlichen Demonstration in Hambach distanzierte. In dem von Rotteck und Welcker herausgegebenen Staatslexikon hieß es zum Hambacher Fest denn auch kritisch: »Viele Reden wurden gehalten – die meisten ohne einigen Werth, alle ohne praktische Bedeutung. Es waren meistens allgemeine Phrasen gegen Unterdrückung durch die Fürsten, nicht ein Vorschlag, was dagegen zu tun sei.«34 Dem Höhepunkt von Rottecks öffentlicher und publizistischer Wirkung im Landtag von 1831 folgte nur wenige Wochen nach dem Hambacher Fest der Umschlag. Der Deutsche Bundestag schränkte nach den Erfahrungen der regionalen Unruhen und der Massenresonanz des Hambacher Fests die Befugnisse der einzelstaatlichen Landtage ein und zwang sie, die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit massiv einzuschränken. Das traf Rotteck ganz direkt: Das von ihm redigierte Tageblatt »Der Freisinnnige« wurde verboten, im Herbst 1832 wurde die Universität in Freiburg als vermeintliches Zentrum der Oppositionszirkel geschlossen und Rotteck selbst zusammen mit Welcker die Lehrbefugnis entzogen.35 Dieser radikale Umschwung nahm Rotteck das Katheder als politische Wirkungsstätte. Auf die demonstrative Wahl Rottecks zum Freiburger 33 Wilhelm Traugott Krug, Der falsche Liberalismus unserer Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus und eine Mahnung für künftige Volksvertreter, Leipzig 1832; Leonhard, Liberalismus, S. 377 – 385 und 463 – 467. 34 Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, Bd. 2, S. 327 f.; vgl. Brandt, Karl von Rotteck, S. 379. 35 Rainer Schimpf: Der Freisinnige. Der Kampf der badischen Liberalen für Pressefreiheit 1831/ 32, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft (1994/95), S. 65 – 111 und ebd. (1996/97), S. 95 – 109.

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Bürgermeister reagierte das Karlsruher Ministerium, indem es die Berufung in das Amt ablehnte. Rottecks und Welckers Reaktion auf diese Form der erzwungenen politischen »Exilierung« war symptomatisch: Sie begannen mit der Herausgabe eines mehrbändigen Werkes, des »Staatslexikons«. Seine erste Auflage erschien von 1835 bis 1843, und schon bald avancierte es zum wohl wichtigsten Referenzorgan des vormärzlichen Liberalismus.36 Politischer Widerstand durch publizistisches Wirken: das war auch eine Konsequenz der bürgerlichen Lese- und Kommunikationsrevolution seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, und es blieb ein entscheidendes Kennzeichen des deutschen Liberalismus, von den Göttinger Sieben bis in die Frankfurter Nationalversammlung. Mit dem Diktum des unpolitischen Professorenparlaments erfasst man diese besondere Form der Politisierung nicht. Die geradezu kanonische Verbreitung des Staatslexikons im zeitgenössischen Bürgertum machte es zu einem regelrechten bürgerlichen Hausbuch, das ganz erheblich zur publizistischen Kohärenz des deutschen Liberalismus vor 1848 beitrug. Darin steckte zugleich eine Entwicklung, die auch über den Tod Rottecks 1840 hinauswies, nämlich die Entstehung überregionaler Zusammenhänge zwischen den Liberalen in verschiedenen deutschen Bundesstaaten, sei es in sozialen Netzwerken wie dem Hallgarten-Kreis, auf nationalen Bühnen wie den Germanistentagen oder eben in einem großen überregionalen, ja nationalen Publikationsunternehmen wie dem Staatslexikon, das im Gegensatz zu Flugblättern und kleinen Schriften auch von jeder Zensur befreit war.37

4.

Zusammenfassung und Ausblick: Historische Differenzierung und geschichtspolitisches Urteil

Geschichte ist immer mehr als der Steinbruch für die Begründungen der eigenen Gegenwart. Es kann kein ausgewogenes Verständnis von Rotteck geben, das die zeitlichen Bedingungen des frühen 19. Jahrhunderts komplett ausblendet und allein aus retrospektiven Wünschen und Projektionen der Gegenwart heraus argumentiert. Genau hier setzt der Historiker an, um ein angemessenes und besser nachvollziehbares Verständnis eines politischen Akteurs aus seiner Eigenzeit, den besonderen politischen, sozialen und regionalen Kontexten heraus, zu ermöglichen. Das heißt ausdrücklich nicht, einer wie auch immer ausgerichteten politischen Generalabsolution durch Historisierung – »tout expliquer, c’est tout pardonner« – das Wort zu reden. Das geschichtspolitische Verhältnis 36 Eva-Maria Werner : Das Rotteck-Welckersche Staatslexikon, in: Forum Vormärz Forschung 2009/2010/ 15, S. 205 – 219. 37 Brandt, Karl von Rotteck, S. 380 f.

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jeder Gegenwart zu ihren Vergangenheiten muss jede Generation neu bestimmen und austarieren. Die Aufgabe des Historikers besteht vor diesem Hintergrund darin, wissenschaftlich haltbare Anhaltspunkte zum Verständnis und der Einordung der Vergangenheit beizutragen. Die historische Urteilsbildung ist in diesem Sinne etwas anderes als das politische Urteil über die Vergangenheit. Zwischen beiden Ebenen deutlich zu unterscheiden war ein Anliegen dieser Ausführungen. Auch der hier präsentierte, oberflächliche und allenfalls symptomatische Blick auf wichtige Kennzeichen des frühen Liberalismus in Deutschland und der Versuch, dies anhand der konkreten Biographie eines der wichtigsten Repräsentanten des Liberalismus zu rekonstruieren, führt zu einem vielfältigen und keineswegs widerspruchsfreien Bild. Dieses Bild geht weder in einer einfachen negativen Kontinuitätslinie – dem historischen Versagen des deutschen Bürgertums und des Liberalismus vor dem allmächtigen Staat – noch einer simplen positiven Kontinuität von Aufklärung, Rechtsstaat, Zivilgesellschaft und parlamentarischer Demokratie auf. Kenzeichnend für deutsche Liberale und zumal für Carl von Rotteck waren am Beginn des 19. Jahrhunderts gerade nicht eindeutige Traditionen und Positionen, sondern eher spannungsreiche Gegensätze und Beziehungen, von denen einige abschließend noch einmal hervorgehoben werden sollen: Aufklärung und Revolution: Rotteck war ein später Repräsentant der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Familiär und lokal blieben der Josephinische Reformabsolutismus sowie die Aufklärung in ihrer deutschen Variante mit Kant und der französischen mit Rousseau für ihn prägend.38 Aber zugleich erfuhr er auch die radikalen Umbrüche in Frankreich und Europa zwischen 1789 und 1815. Seither suchten Liberale nach einem Weg der Reform, der ohne Gewalt zum Erfolg führen sollte. Rottecks Fokus auf Parlament und Verfassung, seine Ablehnung der außerparlamentarischen Bewegung von 1830/32 und jeder Orientierung an der Französischen Revolution stand in diesen Zusammenhängen. Reform und Revolution: Veränderungen ohne gewaltsame Systemwechsel herbeizuführen bedeutete auch, sich auf einen Kompromisskurs mit den bestehenden Obrigkeiten des Staates, mit Monarchie, Regierung und Verwaltung, einzulassen. Wo die Grenze der Kontrolle und Kritik verlief, wo Widerstand über die Parlamente hinausgehen musste, blieb ein Grundproblem der deutschen Liberalen im Spannungsfeld von Reformhoffnung und Revolutionsfurcht.39 38 Barbara Beßlich: Trauer um Joseph II.? Aufklärungskonzepte bei Jacobi, Schlosser und Rotteck, in: Achim Aurnhammer / Wilhelm Kühlmann (Hg.): Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800, Freiburg 2002, S. 593 – 612. 39 Jürgen Voss: Karl von Rotteck und die Französische Revolution, in: Ders. (Hg.): Deutschfranzösische Beziehungen im Spannungsfeld von Absolutismus, Aufklärung und Revolution, Bonn 1992, S. 358 – 380.

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Dualismus und Parlamentarismus: Der von Rotteck so vehement vertretene Dualismus zwischen Monarchie, Regierung und Parlament verwies den Liberalismus auf eine Oppositionsrolle, auf Kritik und Kontrolle. Politische Gestaltung im Sinne einer alternativen Regierung, eine Weiterentwicklung der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie, in der die Regierung von der Mehrheit des Parlaments abhängig war, lag nicht in diesem Horizont. Diese Neigung zur Fundamentalopposition, der Ausschluss von »Realpolitik« und »Regierungsfähigkeit«, markierten eine besondere Problematik von Liberalen in Deutschland weit über 1830 und 1848 hinaus.40 Inklusion und Exklusion: Der frühe Liberalismus war einerseits inklusiv, indem er den Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft zu überbrücken suchte durch eine durchaus traditionale Vorstellung einer interessenharmonischen und klassenlos gedachten Bürgergesellschaft, die Fortsetzung der altständischen »societas sive res publica«, die den Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft so nicht gekannt hatte. Aber diese Bürgergesellschaft war doch zugleich exklusiv konzipiert, an den Kriterien von Besitz und Bildung orientiert und bot den unterbürgerlichen Schichten, dem »Pöbel«, wie auch den Juden allenfalls eine ungefähre Perspektive, wie man langfristig und allmählich in diese Gesellschaft hineinwachsen könne. Gesinnung und Partei: Weil der Liberalismus seinen Anhängern stets mehr war als eine politische Ideologie, weil er für eine Gesinnung, eine Disposition, einen Lebens- und Denkstil stand, konnten viele Liberale die Entstehung konkurrierender Parteien links und rechts vom Liberalismus nur als Bedrohung empfinden. Mit dem Interessenpluralismus einer dynamischen Gesellschaft, der unweigerlich mit Konflikten einhergehen musste, tat man sich erkennbar schwer. Doch gerade 1830 erodierte das politische Deutungsmonopol des Liberalismus erkennbar. Region und Nation: Der deutsche Frühliberalismus hatte regionale Handlungsräume, aber er entwickelte nationale Erwartungen, die über die Grenzen eines Großherzogtums hinauswiesen. Dieser Spannung waren sich zumal politische Professoren wie Rotteck bewusst: Sie waren keine naiven Bewohner eines Elfenbeinturms. Sie wirkten als Indikatoren und waren zugleich Akteure einer umfassenden, wenn auch ambivalenten und keinesfalls widerspruchsfreien Politikerfahrung, sei es als Wissenschaftler im Hörsaal, als Parlamentarier im Landtag, als Zeitungsherausgeber oder Autor. Sie wussten um den Wandel von Medien, von öffentlicher Kommunikation, lokal, regional und national, und sie wussten ihre Möglichkeiten zu nutzen. Die besondere Spannung zwischen 40 Ludwig August von Rochau: Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (1853 – 1869), Stuttgart 1859; Hermann Baumgarten: Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, in: Preußische Jahrbücher 1866/ 18, S. 627.

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Theorie und Praxis, zwischen dem von Kant abgeleiteten Vernunftrecht als Grundlage des liberalen Credos und dem Liberalismus in den Vereinen, den Kammern und der Presse, machte Rotteck nutzbar. Seine besondere Reputation als öffentliche Person ist nur aus dieser Spannung zu erklären. Wenn die Farbe des politischen Urteils über die Vergangenheit, die geschichtspolitische Versicherung in der Gegenwart, nicht selten zu den Gegensätzen Schwarz und Weiß tendiert, zum Vorbild und Exempel oder zur Abschreckung und kritischen Distanz, dann sind die Farben der historischen Analyse eher vielfältige Schattierungen in Grau. Langweilig muss das nicht sein.

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Stefan Gerber / Werner Greiling / Tobias Kaiser / Klaus Ries (Hg.)

Zwischen Stadt, Staat und Nation Bürgertum in Deutschland Teil 2

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30169-2 ISBN 978-3-647-30169-3 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Frankfurt am Main, der jenacon foundation gGmbH, Jena, des Vereins für Thüringische Geschichte, Jena, der Siebenpfeiffer-Stiftung Homburg/Saar, und des Fördervereins für Stadtgeschichte, Neustadt an der Orla. Redaktion: Ron Hellfritzsch (Jena) Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Jena von Osten. Farblithografie von Friedrich Wilhelm Geiling 1865 (Stadtmuseum Jena) Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Revolution und Nation Frank Möller Feinde des Volkes. Feindbilder und negative Zuschreibungen in der Märzrevolution 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Tobias Kaiser Eduard Baltzer (1814 – 1887) – ein enttäuschter 1848er-Revolutionär als Gründer des ersten deutschen Vegetariervereins? . . . . . . . . . . . . . 425 Frank Boblenz Dr. med. Carl Oswald Stockmann (1809 – 1873) – biografische Skizze zu einem Demokraten von 1848 im preußischen Thüringen . . . . . . . . . 451 Stefan Gerber Nationaler Liberalismus und liberaler Katholizismus. Die Jenaer Jahre von Franz Xaver Wegele 1848 – 1857 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Wolfram Siemann Spione gegen die Freiheit: »Konfidenten« nach der Revolution von 1848/49 in der Habsburgermonarchie – mit einem Seitenblick auf die Tätigkeit »Inoffizieller Mitarbeiter« in der DDR . . . . . . . . . . . . . . 495 Gerhard Müller Carl Gottlob Haeckel. Innensichten eines »normalen« preußischen Beamtenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Jürgen Müller »Hoch dem Mehrer deutschen Ruhmes, Hoch dem Wächter deutscher Ehre«. Ein nationaler Festabend in Dresden am 9. Juli 1864 . . . . . . . . 529

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Inhalt

Thomas Kroll Führerkult und Massendemokratie um 1900. Die sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich . . . . . . . . . . . . 541

Regionen und Räume Jochen Lengemann Hohenlohe in Thüringen. Ein Überblick

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

Uwe Schirmer Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500 – 1800)

581

Eva Kell Der Brand des Saarbrücker Schlosses am 7. Oktober 1793 von Johann Friedrich Dryander – eine Bild(er)geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Wilfried Loth Saarbrücken im Krieg 1870/71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Volker Wahl Die Hassfigur »Doppelotto«. Zur Biografie des NS-Abgeordneten, Landrats und Kreisleiters Otto Recknagel (1897 – 1983) im Landkreis Schmalkalden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Winfried Speitkamp Der »Geist der Volksgemeinschaft im kleinen«. Eschwege, das Johannisfest und der Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Helmut Berding Hessen in der Ära Zinn: Integrationspolitik und Landesplanung . . . . . 683 Gunther Mai Die »Friedenswallfahrt« in Rohr 1983. Zum Verhältnis von Staat und Kirchen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

Universität und Wissenschaft Manfred Rudersdorf »Ohne Humanismus keine Reformation« – Zur kulturellen Dynamik des Universitätshumanismus im Zeichen von korporativer Konformität und nonkonformer Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715

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Inhalt

Joachim Bauer Korporative Selbstdarstellung an Jenas »Salana« in der Frühen Neuzeit

. 731

Eva-Marie Felschow »Das Amt, das den Hass der Welt nach sich zieht«. Zur Stellung des Universitätsrichters in Gießen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 Dieter Langewiesche Wissenschaftsmanagement im Selbstbild der deutschen Universität seit dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Jürgen John Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 Wolfgang Müller »Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität« – eine gerade entdeckte Denkschrift Eugen Meyers über den »Ausbau einer neuen deutschen Universität im Westen des deutschen Kulturbodens« . . . . . 803 Matthias Steinbach Römische Reise 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 Tabula gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839

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Revolution und Nation

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Frank Möller

Feinde des Volkes. Feindbilder und negative Zuschreibungen in der Märzrevolution 1848

Die Durchsetzung der Pressefreiheit war der erste Erfolg der Revolution im März 1848. Die daraufhin zahlreich gegründeten Zeitungen eröffneten ihre erste Ausgabe fast alle mit einem Artikel, der ihre politischen Ziele offenlegte. Auch die Kasseler Zeitung »Die freie Presse« begann ihre Erstausgabe vom 14. März 1848 mit einem Eröffnungsartikel mit dem Titel »Was wir wollen?« Doch im Text geht es kaum um politische Ziele, sondern der Autor behandelt vor allem Feinde des Volkes, die zu den »Nachtvögeln« und den »unlauter[e]n Bekenner[n] dieses Systems« gezählt werden. Die Freiheit habe gesiegt und jetzt müsse nach dem Verbleib der Gegner gefragt werden: »Wo sind die geblieben, die seit fünfzehn langen Jahren den Fürsten vorgepredigt haben, das Volk sei von Gott geschaffen, um zu beten und zu arbeiten?« Tatsächlich seien sie nicht verschwunden. »Wo sie geblieben sind? sie sind noch da! Deshalb rufen wir zur Wachsamkeit auf.« Das sei die Aufgabe der freien Presse. Besonders hebt der Autor jedoch eine Gruppe von Personen hervor: nämlich die, die sich jeweils den Umständen anpassen. »Das sind gerade die, welche uns fünfzehn Jahre lang geknechtet, die mit triumphierende[m] Antlitz einhergingen und einen jeden Patrioten, der es redlich mit Fürst und Volk meinte, als Revolutionair, als Jacobiner, Palaststürmer etc. verschrieen und direct und indirect mitgewirkt haben, daß der Despotismus sein Haupt so furchtbar erheben durfte.« Diese »Chamäleons« seien die größte Gefahr : »diese Verräther und niederträchtigen Doppelzüngler werden wir nicht in unsere Reihen aufnehmen und weit lieber den aufrichtigen Reactionsmännern zur Versöhnung die Hand reichen.«1 Zwei Punkte sind an diesem Artikel bemerkenswert. Zum einen sieht der Autor die repressive und konservative Herrschaftspraxis des Vormärz nicht als Ausdruck eines politischen Systems, sondern als Ergebnis des Handelns von Individuen, den »Reactions-

1 Die freie Presse. Zeitschrift für Unterhaltung, Staats- und Volksleben. Nr. 1, 14. 3. 1848, 1 f.; abgedr. bei: Andreas Gebhardt/Karl-Heinz Nickel: »… mit der Fackel der Öffentlichkeit« – Revolution und Politik im Spiegel Kasseler Zeitungen von 1848 bis 1850. Kassel 2000, S. 50.

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Frank Möller

männern«. Zum anderen werden diese Feinde des Volkes eingeteilt in Opportunisten und Idealisten. Eine Revolution bedeutet den raschen, oft gewaltsamen Wandel einer bestehenden politischen und sozialen Ordnung zu einer neuen, besseren und freiheitlichen Zukunft.2 Konkret jedoch sind es Einzelpersonen, die dem revolutionären Ziel im Weg stehen. Zu Beginn der Revolution von 1848/49 wurde in Gerüchten und Geschichten, in Forderungen und Aufrufen intensiv über die Bedeutung einzelner Individuen kommuniziert. Diese Feinde des Volkes, die auch im Mittelpunkt des angeführten Zeitungsartikels standen, bilden einen wichtigen Aspekt des revolutionären Diskurses. Gefragt wird im Folgenden nach Einzelpersonen, denen vom Volk das Misstrauen ausgesprochen wurde, die als Feinde des revolutionären Umbruchs galten und deren Macht gebrochen werden sollte. Von Interesse ist dabei, wer diese Personen waren, worauf sich die Ablehnung stützte und insbesondere welche politischen oder auch persönlichen Eigenschaften ihnen zugeschrieben wurden. Versucht wird also eine Kulturgeschichte der Volksfeinde der Märzrevolution. Diesen Volksfeinden standen im Diskurs der Märzrevolution positiv besetzte Personen gegenüber, die sogenannten Volksmänner oder Männer des allgemeinen Vertrauens. Sie rückten im März 1848 schlagartig in den Mittelpunkt des Geschehens und wurden von der deutschen Bevölkerung als Minister gefordert oder zu Abgeordneten gewählt.3 Ihnen wurde Vertrauen entgegengebracht und sie personifizierten daher den Systemwechsel, den die Revolution erzwungen hatte. Positive Erzählungen ihrer Vergangenheit und hohe Erwartungen an ihre politische Zukunft prägten die Konnotationen ihrer Personen.4 Diese Zuschreibungen mussten objektiv nicht zutreffen, entscheidend war, dass sie zur Basis von politischem Handeln werden konnten.5 Ob die Geschichten von Heinrich von Gagerns Heldentat als jungem Soldaten bei Waterloo oder das Gerücht vom nationalen Trinkspruch des Erzherzog Johanns der Wahrheit 2 Eine konzise Definition bei Peter Wende (Hg.): Große Revolutionen in der Weltgeschichte. München 2000, S. 10 – 14. Zur Begriffsgeschichte Reinhart Koselleck: Revolution. Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 653 – 788. 3 Grundlegend Eva Maria Werner : Die Märzministerien. Regierungen der Revolution von 1848/ 49 in den Staaten des Deutschen Bundes. Göttingen 2009. 4 Außer einem knappen Einschub, ebd., S. 102 – 105, zur Kategorie des Vertrauens als Basis des politischen Aufstiegs der Märzminister, geht Werner wenig auf diese kulturgeschichtlichen Aspekte ein. 5 Ich bin diesen positiven Zuschreibungen, die – wenn sie zur Basis von politischer Herrschaft wurden – nach Max Weber als Charisma bezeichnet werden können, am Beispiel des Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung nachgegangen; vgl. Frank Möller: Heinrich von Gagern. Charisma und Charakter, in: ders. (Hg.), Charismatische Führer der deutschen Nation. München 2003, S. 43 – 62.

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Feinde des Volkes

entspricht, ist nicht wichtig, sondern dass sie geglaubt wurden. Auf diesen Erzählungen gründete sich Vertrauen in das politische Handeln der betreffenden Personen und dieses Vertrauen wurde zur Grundlage ihrer politischen Rolle im Jahr 1848. Auch für die Feinde des Volkes im März 1848 gilt, dass die Zuschreibungen an ihre Personen objektiv nicht stimmen mussten, entscheidend war, dass sie geglaubt und dadurch politisch wirksam wurden. Die ausgewählte Gruppe kann klar bestimmt werden. Als Volksfeinde werden im Folgenden Personen betrachtet, die gezielt und als Individuen verbal oder sogar physisch angegriffen wurden. Gemeint sind also Personen, deren negative Zuschreibungen im März 1848 namentlich in Petitionen, Flugschriften oder Gerüchten thematisiert wurden oder die dadurch zum Ziel von Handlungen wurden. Personen, die dagegen nur das Ziel von politischen oder sozialen Forderungen wurden, ohne dass sie als Individuen bewertet wurden, werden hier nicht berücksichtigt. Gefragt wird nach der Bedeutung der negativen Zuschreibungen, die vor allem in Gerüchten artikuliert wurden. Gerüchte sind ein Prozess kollektiver sozialer Selbsthilfe. Wenn sie die Bedürfnisse einer Gesellschaftsgruppe befriedigen, verbreiten sie sich ganz unabhängig von ihrer Wahrheit hartnäckig.6 In den Beschreibungen der Negativpersonen spiegeln sich also die politischen Vorstellungen des Volkes. Wer die Träger dieser Gerüchte sind, ist jedoch kaum greifbar. Ähnlich wie bei den Sozialproteststudien zur Revolution7 ist das Volk eine kaum zu fassende Gruppe von Arbeitern, kleinen Handwerkern, aber auch Bürgern. Hier kann es nur erfasst werden, insoweit es Gerüchte weitergibt und von diesen Gerüchten zum Handeln animiert wird. Eine kulturhistorische Betrachtung der Feinde des Volkes vom März 1848 stößt auf einige Quellenprobleme. Gerüchte selbst hinterlassen keine Quellen, erst wenn sie medial verarbeitet werden, sind sie für die Nachwelt greifbar. Da durch die Aufhebung der Zensur im März 1848 eine freie Presselandschaft erst im Entstehen war und die betroffenen Personen sich zumeist schnell aus der Politik und der Öffentlichkeit zurückzogen, bzw. zum Rückzug gezwungen wurden, schlugen sich die negativen Beschreibungen nur wenig in den Medien nieder.8 Daneben können die Feindbilder auch aus den Handlungen der Volksmasse erschlossen werden. Tätliche Angriffe und Katzenmusiken verraten einen Eigensinn des Volkes, der sich gegen bestimmte Personen richtete. Welche Aktionen gegen bestimmte Personen unternommen wurden und ob das Volk sich nur gegen Personen mit Macht richtete oder etwa auch Rache forderte, ist 6 Klaus Merten: Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik 54, 2009, S. 15 – 42. 7 Wolfram Siemann: Soziale Protestbewegungen in der deutschen Revolution von 1848/49, in: ders. (Hg.), 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis – Bewältigung – Erinnerung. Paderborn/München/Wien/ Zürich 2006, S. 57 – 78. 8 Auch in den Karikaturen, die erst seit dem Sommer 1848 wirklich eine Blüte erlebten, fanden diese Personen nur geringen Niederschlag.

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Frank Möller

daher von Bedeutung. Damit jedoch bleiben als wichtigste Quellen Beschreibungen über die Gerüchte und die daraus folgenden Aktionen. Diese sind jedoch oft erst im Nachhinein verfasst und geben daher selten Details, was genau den betroffenen Personen vorgeworfen wurde. Aus der schwierigen Quellenlage ergibt sich auch, dass dieser erste Überblick sich auf bekannte Beispiele negativer Zuschreibungen konzentriert.

1. Für die deutsche Nationalbewegung und für den politischen Liberalismus war seit den Karlsbader Beschlüssen, der Heiligen Allianz und den Verfolgungen der 1830er Jahren Autokratie, Absolutismus, monarchisches Prinzip und Unterdrückung jeder freiheitlichen Regung mit einem Namen verbunden: dem des österreichischen Staatskanzler Clemens August von Metternich.9 Ob die Vorwürfe gegen seine Person im Einzelnen zutreffend waren, ist strittig.10 Doch selbst Metternich betrachtete sich als die Verkörperung des konservativen Prinzips. Veit Valentin hat die Folge klar formuliert: »Seit Napoleon I. ist kein Mensch in Deutschland so gehasst worden wie Fürst Metternich.«11 Dieser Hass auf Metternich konnte in Deutschland zwar durch die Zensur nicht publiziert werden, findet sich aber etwa in den Liedern der Burschenschaft12 oder in Publikationen außerhalb Deutschlands. Als Symbolfigur zog Metternich daher alle Kritik in der Wiener Märzrevolution auf sich. In der Ablehnung seiner Person und des durch ihn verkörperten Systems vereinigten sich die unterschiedlichsten Gruppen: Die Aristokraten sahen ihn als Vertreter einer Bürokratie, die sie entmachtet hatte, das Bürgertum betrachtete ihn als Gegner jeder liberalen Reform, radikale Gruppierungen, wie die Studenten von Wien, hielten ihn für den Verantwortlichen aller Unterdrü9 Guillaume de Berthier de Sauvigny : Metternich. Staatsmann und Diplomat im Zeitalter der Restauration. München 1996; Wolfram Siemann: Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010; Heinrich von Srbik: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch. 2 Bde. München 1925. 10 So versucht Alan Sked: Metternich and Austria. An Evaluation. London 2008, nachzuweisen, dass zahlreiche Vorwürfe, etwa Österreich sei ein Polizeistaat mit ausgeprägten Unterdrückungsmaßnahmen gewesen, unzutreffend seien. 11 Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848 – 1849. 2 Bde. Weinheim/Berlin 1998, Bd. 1, S. 398. 12 Harald Lönnecker :«Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungen unter dem Volke zu verbreiten«. Politische Lieder der Burschenschaften aus der Zeit zwischen 1820 und 1850, in: Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des deutschen Volksliedarchivs 48, 2003, S. 85 – 132, hier 95. – Auch das anti-monarchische Lied »Fürsten zum Land hinaus« enthält eine Zeile »Metternich, marsch mit Dir/ Rothschild und Staatspapier«; H. C. Grünefeld/A. Lüneberg, Revolution und Revolutionslieder in Mannheim 1848/49. Mannheim 2006, S. 23.

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ckungsmaßnahmen, selbst innerhalb des Hofes sahen Angehörige der Habsburger Familie, wie die Erzherzogin Sophie oder der Erzherzog Johann, die Dynastie durch Metternichs Unbeliebtheit gefährdet. Metternichs Macht stützte sich seit 1835 darauf, dass er gemeinsam mit dem Innenminister Kolowrat und dem Erzherzog Ludwig die Regentschaft für den nicht regierungsfähigen Kaiser Ferdinand innehatte. Damit jedoch war er alleine für die politische Entwicklung verantwortlich, der Kaiser, der als menschenfreundlich den Beinamen »der Gütige« erhalten hatte, wie auch das Kaiserhaus waren von der Kritik an Metternich nicht betroffen. Die feindlichen Beschreibungen seiner Person greifen dabei immer wieder die im Bürgertum verbreitete Adelskritik der Zeit auf. Er galt als verlogen und intrigant und schon durch Kleidung und Benehmen als Repräsentant der Aristokratie. Gerade seine Affären dienten dabei zum Anlass ihn nicht nur als politischen Reaktionär, sondern als unmoralischen Aristokraten darzustellen. Auch seine dritte Heirat mit einer über dreißig Jahre jüngeren Frau wurde in dieser Richtung interpretiert. Da er als Rheinländer eigentlich ein Fremder in Österreich war, wurde häufig seine wirkliche Loyalität bezweifelt. Als sein eigentliches Motiv galt das Interesse an persönlicher Bereicherung. Als Fürst von »Mitternacht« oder »Höllenfürst der Lüge« wurde Metternich dabei auch mit religiöser Begrifflichkeit bedacht.13 Dazu kam 1848 das verbreitete Gefühl, dass Metternich durch sein hohes Alter die Macht sowieso bald entgleiten werde. In der Aristokratie wurde schon vom »Greisenregiment [Erzherzog] LudwigMetternich« gesprochen und der Staatskanzler als Kind gewordener Alter beschimpft, der den jetzigen Stürmen nicht mehr trotzen könne.14 Die Unruhen in Wien nahmen von Beginn an Metternich zur Zielscheibe. Schon am 29. Februar verkündete ein Maueranschlag am Kärntner Tor : »In einem Monat wird Fürst Metternich gestürzt sein! Es lebe das konstitutionelle Österreich!«15 Von Seiten der Opposition wurde allerdings nur indirekt gegen Metternich Stellung bezogen.16 Weitere Plakate mit Drohungen gegen seine Person wurden angeschlagen, an die Haustür seiner Tochter wurde geschrieben:

13 Karikatur »Das Ende des Fürsten von Mitternacht«, abgedr. bei Anne-Kathrin Henkel: Zeit für neue Ideen. Flugschriften, Flugblätter. Bilder und Karikaturen – Propaganda im Spiegel der Revolution von 1848/49. Wiesbaden/Hameln 1998, S. 101; Lönnecker: Unzufriedenheit, S. 95. 14 Srbik: Metternich, Bd. 2, S. 262. 15 Zit. n. Wolfgang Häusler : »Was kommt heran mit kühnem Gange?« Ursachen, Verlauf und Folgen der Wiener Märzrevolution 1848, in: Ernst Bruckmüller / ders. (Hg.): 1848. Revolution in Österreich. Wien 1999, S. 23 – 54, hier S. 41. 16 So formulierte das Programm der Fortschrittspartei vom 4. März, dass nur in Leipzig erscheinen konnte, ganz allgemein: »das schwache, unterhöhlte Gebäude der Tyrannei kracht in seinen Fugen«; vgl. ebd.

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»Fort mit Metternich, keine Allianz mit Russland, nur Konzessionen.«17 Schon am Morgen des 13. März besagten Gerüchte, dass Metternich zum Rücktritt gezwungen werden würde. Vor der versammelten Menge im Hof des Landhauses wurde die berühmte Rede Kossuths verlesen. Die Menge quittierte die Formulierung der Rede vom »alten Mann« mit »Pereat«-Rufen auf Metternich.18 Ein Student sprach es dann erstmals deutlich aus: »Absetzung des allgemein gehaßten Ministers! Vertreibung der Jesuiten, die das Volk verdummen! Augenblickliches Aufgebot der bewaffneten Bürgergarde!« Unter dem Ruf »Nieder mit Metternich!« wurde die Bastei besetzt und der private Garten des Staatskanzlers verwüstet.19 Bezeichnenderweise mengten sich in die Rufe gegen Metternich auch Hochrufe auf den Kaiser.20 Unter den zahlreichen Deputationen am Kaiserhof des 13. März waren es erst am Abend die Vertreter der Bürgergarde, die den Rücktritt des Staatskanzlers offen forderten. Die folgenden Krawalle richteten sich dann auch gegen Metternichs Wohnhaus, welches schwer beschädigt wurde. Noch am Abend trat der Fürst zurück, da er jede Unterstützung im Kaiserhaus verloren hatte.21 Die Erzherzöge, die gehofft hatten, mit dem Rücktritt Metternichs, ein Fortschreiten der Revolution zu verhindern, sollten sich allerdings irren, denn sie konnten weitere Forderungen nicht aufhalten. Da man sich für seine Sicherheit nicht verbürgen konnte, musste Metternich wenige Tage später ins Exil nach London gehen. Auch enge Vertraute waren betroffen, so musste Josef von Sedlnitzky, Polizeipräsident von Wien, der unter Metternich den Ausbau der politischen Polizei und des Spitzelwesens, sowie die Kontrolle des Zensurwesens betrieben hatte, zurücktreten.22 Der Sturz Metternichs und der Fall seines politischen Herrschaftssystems wurden als identisch betrachtet: »Auch Österreich ist frei. – Das alte System ist niedergeworfen, wie ein Kartenhaus, der Gründer und Verfechter desselben ist entfernt.«23 Auffallend ist jedoch, wie sehr auch nach seinem Rücktritt der Verbleib des Staatskanzlers die Gemüter beschäftigte.24 »Wo ist Metternich?«

17 Srbik: Metternich, Bd. 2, S. 267. 18 Häusler : Was kommt heran, S. 45; R. John Rath: The Viennese Revolution of 1848. Austin 1957, S. 61. 19 Srbik: Metternich, Bd. 2, S. 276. 20 Srbik: Metternich, Bd. 2, S. 277; Häusler : Was kommt heran, S. 45. 21 Srbik: Metternich, S. 282 f. 22 Julius Marx / Christoph Mentschl: Art. »Sedlnitzky von Choltitz Josef Gf.«, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950 (ÖBL), Bd. 12, Wien 2001¢2005, S. 93 f. 23 Der freie Wiener. Wochenschrift [Redaktion Alexander Medis], Nr. 3 u. 4, 7./10. 4. 1848, S. 9. 24 Auch außerhalb Wiens wurde sich mit der Geschichte von Metternichs Flucht beschäftigt, vgl. Adolf Glasbrenner : Gedicht »Auf, auf, und hört die Jeschichte«, in: ders., Berlin, wie es ist – und trinkt. 29. Hft. Leipzig 1848, S. 30 – 33. – auch unter : http://www.liederlexikon.de/ lieder/auf_auf_zum_froehlichen_jagen/editionc [16. 06. 2014].

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war in Wien eine vieldiskutierte Frage.25 Auch die Karikatur, die sich erst mit der Pressefreiheit des Themas annehmen konnte, beschäftigte sich nun intensiv mit Metternichs Rücktritt und Flucht. In der bekannten Karikatur »Constitution braucht Bewegung«, die Metternich mit der langen Nase des Lügners auf der Flucht aus Wien zeigt,26 oder einer Karikatur, die ihn auf einem Esel vor begeisterten Bürger zeigt, die die österreichische und die deutsche Flagge schwenken,27 wird sich voller Häme über seine Flucht lustig gemacht. Dabei ist das typische Darstellungsmerkmal ihn mit Perücke und Kniebundhose als Adligen des 18. Jahrhunderts zu zeigen.

2. Das bekannteste Beispiel eines Feindbildes zu Beginn der Revolution von 1848 ist sicher der preußische Kronprinz Wilhelm, der sogenannte »Kartätschenprinz«.28 Der Bruder des kinderlosen Königs war tatsächlich der führende Vertreter der preußischen Militärpartei und gegen jede Reform eingestellt. Die Einberufung des Vereinigten Landtags 1847 hatte er abgelehnt, als Abgeordneter dort war er für die monarchischen Rechte aufgetreten, sogar die konservativen Verfassungspläne seines Bruders lehnte er offen ab. Auch während der Märzereignisse vertrat er eine harte Linie. Mit dem staatlichen Vorgehen in Berlin war er nicht einverstanden. Dem gemäßigten Militärgouverneur von Berlin, Pfuel, warf er vor, die Truppe zu demoralisieren, weil er das Schießen in die Volksmenge unterbunden habe.29 Bei der Durchführung des Militäreinsatzes am 18. März zeigte er sich an der Seite des kommandierenden Generals Prittwitz. Die Entscheidung des Königs, dem Volk nachzugeben, lehnte Wilhelm ab. Nach dem Rückzug des Militärs soll er seinem Bruder vorgeworfen haben: »Bisher 25 Der freie Wiener. Wochenschrift [Redaktion Alexander Medis], Nr. 3 u. 4, 7./10. 4. 1848, S. 16. 26 Badisches Landesmuseum Karlsruhe, 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden. Karlsruhe 1998, Kat.-Nr. 373. 27 Karikatur auf Metternichs Flucht 1848: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fluchtkarikatur-metternich.jpg. [16. 06. 2014] – Nicht aus Wien ist die antiklerikale Karikatur »Schöne Seelen treffen sich«, Leipzig 1848, die Metternich, den Prinzen von Preußen und den ehemaligen französischen König Louise Philippe in London zeigen, wie sie den Jesuitengeneral Johann Philipp Roothaan treffen; Eduard Fuchs: Die Karikatur der europäischen Völker 1848 bis zur Gegenwart. Berlin 1903, S. 55. Vgl. auch die Karikatur »Der Hofball«, Frankfurt 1848 (ebd., S. 53). 28 Hierzu bereits Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution Bonn 1997, S. 184 – 187; Karl Haenchen: Flucht und Rückkehr des Prinzen von Preußen im Jahre 1848, in: HZ 154, 1936, S. 32 – 95, besonders S. 40 – 43. 29 Karl August Varnhagen von Ense: Eintrag 16. 3. 1838, in: ders.: Journal einer Revolution. Tagesblätter 1848/49. Nördlingen 1986, S. 82.

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hab’ ich wohl gewusst, daß Du ein Schwätzer bist, aber nicht, daß Du eine Memme bist! Dir kann man mit Ehren nicht mehr dienen!«30 Von daher hatte die Volksstimmung hier ganz zutreffend eine Symbolfigur gefunden, die die Gegnerschaft gegen alle bürgerlichen und demokratischen Reformen personifizieren konnte. »Denn er, weit mehr als König Friedrich Wilhelm IV., galt als der Träger jenes spezifisch soldatesken und bureaukratisch polizeilichen Preußenthums […]«.31 Dabei wurden die Eigenschaften des Prinzen, gerade im Vergleich mit seinem romantischen und künstlerisch veranlagten Bruder, auf ihren Vater zurückgeführt, dem er weitgehend ähnlich sei. Wie dieser sei er beschränkt auf die »Liebe zum Soldatenwesen, die Neigung für das Kamaschenritterthum der modernen Zeit«. Er habe eine Vorliebe für das Mittelmäßige, vertrete gegen Romantik und Enthusiasmus »nüchterne Christfrömmigkeit«, und habe daher kein Verständnis für Kunst, Poesie und Wissenschaft.32 Überhaupt wurde Wilhelm nicht nur wegen seiner politischen Position, sondern gerade auch wegen seiner charakterlichen Eigenschaften kritisiert. Die Brüder des Königs würden gehasst, so hieß es, denn man höre »von keinem irgend einen schönen Zug, weder der Großmuth noch der Güte, oder geistigen Kraft, sondern nur schmutzige Geschichten, Liederlichkeit, Geldgier, nur von engherzigen Äußerungen, Stolz und Grobheit, übermüthigem Benehmen«.33 Gerade weil Friedrich Wilhelm IV. als schwacher, wankelmütiger Charakter galt, wurde davon ausgegangen, dass es der Kronprinz sei, der die Zügel in der Hand halte. »Der Prinz von Preußen war oder galt in der allgemeinen Meinung für denjenigen, welcher dem weichen Wachs seines königlichen Bruders, mit Benutzung von dessen wechselvollen Launen unter dem Einflusse einer schlauen aristokratischen Camarilla, die bestimmende Form aufprägte.«34 Dieses negative Bild des Prinzen Wilhelm als Vertreters des Altpreußentums verdichtete sich in zahlreichen Anekdoten und Gerüchten. Dass ihm unterstellt wurde, er wolle bestehende bürgerliche oder liberale Ansätze in Preußen zurücknehmen, kann nicht verwundern.35 Doch zeigte sich die Ablehnung auch in vielen Anekdoten. So soll sich Prinz Wilhelm 1847 gegen das Spielen der Marseillaise auf der königlichen Theaterbühne gewandt haben. Er habe den Direktor 30 Nach Varnhagen von Ense: Eintrag zum 19. 3. 1848, in: ders.: Journal, S. 115. Als Gewährmann nennt Varnhagen den anwesenden Gendarmerie-Oberst du Trossel. 31 Adolf Stahr : Die preußische Revolution. Bd. 1 [mehr nicht erschienen]. 2. Aufl. Oldenburg 1850, S. 19. – Zur Person Ludwig Julius Fränkel, Art. »Stahr, Adolf Wilhelm Theodor« in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 35 (1893), S. 19. 32 Stahr : Revolution, S. 20. 33 Varnhagen von Ense: Eintrag 16. 3. 1848, in: ders.: Journal, S. 84. 34 Stahr : Revolution, S. 403 – 406. 35 Stahr : Revolution, S. 21 – 24. So hieß es schon 1848, er wolle die bürgerliche Landwehr einschränken.

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des Stettiner Bahnhofs tätlich angegriffen und einen Hamburger Kaufmann angefahren, der ihn nicht mit Hutabnehmen gegrüßt habe. Bereits vor der Revolution hatte sich daher gegen den Kronprinzen tiefe Abneigung entwickelt. Schon während der Hungerunruhen im April 1847 warf man ihm in Berlin die Fenster ein.36 Für die sich steigernde Unruhe in Berlin im März 1848 war daher der Prinz ein naheliegendes Ziel. Alle Übergriffe des Militärs wurden mit seiner Person in Verbindung gebracht. Im Vertrauen auf das Militär, so die allgemeine Meinung, glaube der Prinz, er sei stark genug, um »jedes Freiheitsgelüsten der Nation niederzuhalten«.37 Die Versetzung des Prinzen in die Rheinprovinz am 10. März wurde in der Bevölkerung als Kriegsdrohung gegen das revolutionäre Frankreich gedeutet. Die Gerüchte besagten, Wilhelm habe sich schon bei der Verabschiedung von seinem Gardekorps am 13. März dahingehend geäußert, die Unruhe in Berlin müsse militärisch niedergeschlagen werden. Dass er doch nicht ins Rheinland abreiste, galt als Zeichen, dass man seinen militärischen Eifer in Berlin noch dringender brauche.38 In der Folge kam es bereits am 16. März zu einem Auflauf vor dem Palais des Prinzen.39 Das Feindbild des Prinzen von Preußen eröffnete andererseits die Möglichkeit den König von der Kritik auszunehmen. »Mit jener beispiellosen Zähigkeit der angestammten Treue hielt nämlich das Volk immer noch fest an dem Glauben vom übelberathenen Könige.«40 Der Ausbruch der Gewalt am 18. März musste so geradezu logisch dem Prinzen angelastet werden. Eine kurz nach den Ereignissen veröffentlichte Geschichte der Revolution in Berlin beschreibt sehr eindrücklich die Vorstellung, wie aus einer – eigentlich unschuldigen – Aussage des Königs der Militäreinsatz vom 18. März wurde – und wer daran schuld sei. Nachdem der König alles bewilligt hatte, er dafür sogar bejubelt wurde, und trotzdem noch der Rückzug des Militärs von der versammelten Menge gefordert wurde, sei er von einem tiefgehenden Gefühl durchdrungen gewesen: »‹Ich will Ruhe haben!‹ Wir können nicht sagen, ob diese verhängnisvollen Worte wirklich gesprochen worden sind. […] Ein Befehl, ihm diese Ruhe mit Gewalt zu beschaffen, ward von ihm nicht gegeben. […] Dieser Umstand war von hoher Wichtigkeit. Er bestärkte das Volk in seinem Glauben, welcher die folgenschweren Gewaltthaten auf Rechnung des einzigen Mannes setzte, der allein den klagenden Ruf des Königs in einen Befehl zu verwandeln

36 Erich Marcks: Art. »Wilhelm I., Deutscher Kaiser, König von Preußen«, in: ADB 42, 1897, S. 527 – 692, hier S. 544. 37 Stahr : Revolution, S. 24. 38 Varnhagen von Ense: [Darstellung des Jahres 1848], in: ders.: Journal, S. 56. 39 Varnhagen von Ense: Eintrag 16. 3. 1848, in: ders.: Journal, S. 82. 40 Stahr : Revolution, S. 45.

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die Macht besaß. Dieser Mann war der Prinz von Preußen.«41 Hier wird im Nachhinein dem Prinzen gar keine konkrete Handlung mehr vorgeworfen, aber deutlich gemacht, dass man ja davon auszugehen habe, dass nur er zu diesem Befehl in der Lage gewesen sei.42 Der Militäreinsatz ist in dieser Vorstellung ein Verrat, und zwar nicht nur an der Freiheit des Volkes, sondern auch am König, der gar kein Blutvergießen wollte.43 Während des Kampfes kursierten allerdings die Gerüchte ganz konkret. »Man glaubte allgemein, daß der Prinz von Preußen auf Vorschreiten des Militärs mit Kartätschen und Granaten gedrungen«, urteilte der Barrikadenkämpfer Moritz Steinschneider. Die Vorstellung, der Prinz sei der Anstifter des Blutvergießens verdichtete sich schließlich in dem Bild, er habe vom Fenster des Schlosses mit einem Taschentuch das Zeichen zum Angriff auf das Volk gegeben.44 Auch der Einsatz der Artillerie zum Niederkämpfen der Barrikaden gehe auf seinen direkten Befehl zurück. Der Berliner Volksmund fand für diese Vorstellung dann auch eine treffende Bezeichnung: Wilhelm erhielt den Beinamen »der Kartätschenprinz«. Prinz Wilhelm musste nach dem Sieg der Revolution aus der Schusslinie genommen werden. Wie sein Adjudant feststellte, waren »Gewalttätigkeiten gegen den Prinzen zu befürchten«, weil ihm die Angriffe auf das Volk vorgeworfen wurden.45 Am 27. März reiste er als Kaufmann verkleidet nach London. Tatsächlich war Wilhelm die Negativfigur der Berliner Märzrevolution, die am stärksten aus den Ereignissen eine Lehre ziehen sollte. Aber gerade die Gerüchte nach den Barrikadenkämpfen zeigen, was von dem Kronprinzen gedacht und erwartet wurde. Am 19. März kam es zu einem Angriff auf den Laden des Handschuhmachers Wernicke. Von diesem hieß es, er habe einige Polen an das Militär verraten. Man zerstörte seinen Laden und dessen Inhalt, verhinderte jedoch jeden Diebstahl. Mit der Inschrift »So straft man einen Verräter!«, machte der Volkshaufen deutlich, was seine Intention war. Bezeichnenderweise zog man danach zum Palais des Prinzen von Preußen weiter. Ihm wurde das beschriebene Verhalten während der Kämpfe vorgeworfen, aber auch befürchtet, er wolle an der Spitze der Armee zurückkehren. Die laut geäußerte Absicht, das 41 Stahr : Revolution, S. 83 f. Ähnlich auch die Beschreibung bei Varnhagen von Ense, Eintrag 20. 3. 1848, in: ders., Journal, S. 119. 42 Stahr geht bezeichnenderweise auch davon aus, dass nicht die Schüsse, sondern der Einsatz der Dragoner die entscheidende Tat zur Niederschlagung der Revolution gewesen sei. 43 Stahr : Revolution, S. 90. Er führt als Beleg für seine Einschätzung hunderte an, die er nach dem Kampf gesprochen haben will. 44 Adolf Wolff: Berliner Revolutionschronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen. 3 Bde. Berlin 1851 – 1854, Bd. 1, S. 139. 45 August Oelrichs: Ein Bremer rettet den Kaiser. Die Flucht des Prinzen Wilhelm im Jahre 1848 aus Berlin, nach den Erinnerungen von August Oelrichs. hg. von Dieter Leuthold. Bremen 1998, S. 45.

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Palais des Prinzen zu zerstören, wurde nur dadurch vereitelt, dass zwei Bürger das Gebäude zum Nationaleigentum erklärten und in der Folge dann auch Schilder mit der Inschrift »Volkseigentum« angebracht wurden.46 Am Abend des nächsten Tages lief schon wieder der Ruf »Zu den Waffen!« durch Berlin. Sofort umlaufende Gerüchte berichteten, die Russen ständen schon am Schönhauser Tor und »der Prinz von Preußen rückt mit einer Armee in das Hallesche Tor ein«.47 In den anderen hier behandelten Fällen hatte sich mit der Abreise des Betroffenen die Situation entspannt. In Fall des Prinzen Wilhelm jedoch war die Lage eine andere, denn der Prinz war der legitime Thronfolger, da sein Bruder, der König, keine Kinder hatte. Es kann daher nicht wundern, dass Gerüchte aufkamen, es würden in demokratischen Kreisen Deputationen gewählt, die den König auffordern sollten, den Prinzen der Thronfolge zu entheben.48 Diese Situation führte auch dazu, dass die Frage, ob und wann der Prinz nach Berlin zurückkommen könne, zu einem Politikum ersten Ranges wurde. Der Prinz war nach dem März 1848 eben nicht nur die Feindfigur der politischen Linken, er blieb auch eine Symbolfigur der Konservativen. Zahlreiche Auseinandersetzungen in Berlin, aber sogar in der Frankfurter Nationalversammlung, sollten sich in der Folge daher an seiner Person entzünden.49 Rüdiger Hachtmann hat die Zuschreibungen zu Kronprinz Wilhelm sehr genau bewertet: »Nicht auf den Monarchen, sondern auf die ›schlechten Berater‹ konzentrierte sich die Kritik des ›Volkes‹. Außerdem mußte – das ist politischpsychologisch leicht erklärbar – ein Verantwortlicher für die geschilderten Übergriffe des Militärs her, jemand, der glaubhaft als eine Art politischer Blitzableiter fungieren konnte und zugleich die Armee personifizierte.«50 Indem die Ereignisse des 18. März in einer Lesart gedeutet wurden, dass die Schuld dem Militär und dem Kronprinzen als dessen Personifizierung zugeschrieben wurde, konnte der König als unschuldig erscheinen. Dass der König dabei letztlich als schwache Persönlichkeit erschien, war kein Problem, denn es schmälerte seine monarchische Stellung in einem konstitutionellen Verständnis nicht. Gerade sein schwacher Charakter mache den preußischen König zu einem guten kon-

46 Adolf Streckfuß: 1848. Die März-Revolution in Berlin. Ein Augenzeuge erzählt. hg. v. Horst Denker. Köln 1983, S. 143 – 145. 47 Streckfuß: 1848, S. 167. Vgl. Hachtmann: Berlin, S. 186. – Sehr aussagekräftig ist auch noch eine Episode vom 30. Mai, als der Prinz schon wieder auf dem Weg nach Berlin war. In Gerüchten hieß es, der Prinz warte mit Truppen auf ein Zeichen vom königlichen Schloss, um in die Stadt einzurücken. Es kam daraufhin zur Untersuchung eines Blitzableiters am Schloss, ob er zur Benachrichtigung diene. Streckfuß: 1848, S. 353 f. 48 Oelrichs: Ein Bremer, S. 54. 49 Als Überblick Hachtmann: Berlin, S. 322 – 344. 50 Hachtmann: Berlin, S. 184.

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stitutionellen Monarchen, sollte später auch Heinrich von Arnim-Suckow urteilen.51

3. In Bayern war die Situation deutlich verworrener als in den übrigen deutschen Staaten. Hier hatte sich schon seit 1847 ein Bündnis von liberalen und klerikalen Kreisen gebildet, das sich aus unterschiedlichen Motiven an der Affäre des Königs mit der Tänzerin Lola Montez störte.52 Die Affäre wirkte wie eine typische Mätressenwirtschaft des Absolutismus, insbesondere da Montez in München sehr öffentlich auftrat und vom König sogar zur Gräfin von Landsberg ernannt wurde. Wegen des Widerstandes gegen seine Affäre ließ Ludwig I. zuerst das ultramontane Ministerium Abel fallen, und nachdem sich auch das neue liberale »Ministerium der Morgenröte« unter Georg Maurer nicht seiner Geliebten unterordnete, wurde dieses im November 1847 durch das Ministerium Öttingen-Wallerstein ersetzt. Insbesondere der neue Innenminister Franz Berks, ein Proteg¦ der Lola Montez, der dadurch sogar Öttingen-Wallerstein im Einfluss bei Ludwig I. übertraf, wurde in der Öffentlichkeit angefeindet.53 Eugen Fuchs, der Kulturhistoriker, der die Karikaturen zu Lola Montez ausgewertet hat, stellte ganz treffend fest, dass im Jahr 1847 der Begriff Lola Montez zur »Personifikation des großen Gegners der Zeitforderungen, des schrankenlos sich gebärdenden Absolutismus« geworden sei: »Lola Montez angreifen, hieß darum auch das System angreifen«.54 Die scheinbar liberale Phase, in der die Montez den Sturz des Ministeriums Abel beim König durchsetzte, war eben nur eine Episode. Schon zeitgenössisch wurde erkannt, dass es hier keineswegs um eine politische Neuorientierung ging, sondern der Widerstand gegen Abel nur ein Ausdruck des Machtwillens der Geliebten des Königs war. Der Liberale Jakob Venedey urteilte schon zu diesem Zeitpunkt: »Wenn eine Kurtisane nötig wäre, um das Volk zu befreien, so wollen wir lieber, daß es nicht frei werde […] bis es dieser Hilfe nicht mehr bedarf, um sie zu erzwingen.«55 Nachdem auch die liberale Regierung Maurer entlassen worden war, vereinigten sich Ultramontane wie Liberale mit der breiten Masse der Bevölkerung in ihrer Kritik an Lola Montez. 51 Brief Heinrich von Arnim-Suckow an Heinrich v. Gagern 16. 3. 1849 (Staatsarchiv Darmstadt: Nl. Gagern E/26). 52 Zur Person Reinhold Rauh: Lola Montez. Die königliche Mätresse. München 1996. 53 Zur Person Dirk Götschmann: Franz von Berks (1792 – 1873). Karriere und politischer Einfluß eines Denunzianten im Vormärz, in: ZBLG 57, 1994, S. 735 – 785. 54 Eduard Fuchs: Ein vormärzliches Tanz-Idyll. Lola Montez in der Karikatur. Berlin 1904, S. 79. 55 Jakob Venedey : Die spanische Tänzerin und die deutsche Freiheit. Paris 1847, S. 51 f.

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Schon die Namen mit denen Lola Montez bedacht wurde, zeigen die Meinung der Münchner Bevölkerung. Schon kurz nach ihrer Ankunft wurde sie nur als »das fremde Mensch« oder »das königliche Mensch« bezeichnet, ihre Anhänger bekamen den Namen »Lolarden«, das Studenten-Corps, das ihre Leibwache stellte, die »Alemannen«, wurden als »Lolamannen« bezeichnet.56 Die bis zum Februar 1847 kursierenden Gerüchte zeichnen Lola Montez als verdorbene Frau, die zahlreiche weitere Liebschaften hatte, als Ausländerin, ja sogar als Spionin, die in Bayern wirken würde. Gerade die zeitgenössischen Karikaturen ergriffen die Möglichkeit voller Frivolität ihre Erotik herauszustellen. Insbesondere ihre sexuelle Freizügigkeit gegenüber ihren Anhängern, etwa ihrer Studentengarde, wurde hier plastisch dargestellt.57 Ihr Verhalten konnte im öffentlichen Diskurs nur als Angriff auf die bürgerliche Geschlechterordnung verstanden werden. Dabei wurde Lola schon früh als mit dem Teufel im Bunde verdammt. Da, wie allgemein bekannt, Ludwig I. seiner Geliebten in zahlreichen Gedichten huldigte, fanden sich auch viele Spottgedichte, die teilweise den königlichen Stil imitierten. Im Gedicht »Die Erschaffung der Lola Montez« steckt der Teufel hinter ihrer Entstehung: »Und aus diesem Gebräu, das die Hölle ausgor,/ Ging Lola Montez als Tänz’rin hervor.«58 Als Studenten sich gegen Lola Montez erhoben, eskalierte im Februar 1848 die Situation. Denn der König hob daraufhin die Universität auf, traf aber jetzt auf den Widerstand der Bürger, die auch ökonomisch betroffen waren. Es kam zu Unruhen in der Hauptstadt, die den König am 11. Februar 1848 dazu zwangen, Lola Montez der Stadt zu verweisen.59 Als »Engelssturz«, also als Absturz in die Hölle, betrachtet etwa eine gleichnamige Karikatur ihre Ausweisung. Montez stürzt hier gemeinsam mit dem Polizeidirektor Bauer-Breitenfeld und zahlreichen Angehörigen ihrer Leibwache aus dem Corps »Alemannia« in die Hölle, während oben die übrigen Studenten und die Bürger glücklich vereint mit dem bayerischen Löwen stehen.60 Zwar gelten die Unruhen vom Februar oft als Auftakt der Revolution in 56 Fuchs: Tanz-Idyll, S. 83. 57 Fuchs: Tanz-Idyll, S. 158 – 162 führt alleine 21 erotische Karikaturen auf Lola Montez an, S. 102 f. begründet Fuchs, warum viele dieser Karikaturen aus München kommen. Die Karikatur »Auf dem Weg ins Ministerium« (Fuchs 161, Nr. 50) zeigt auch Berks in intimer Gemeinschaft mit Lola Montez. 58 Zit. n. Fuchs: Tanz-Idyll, S. 86. 59 Karl-Joseph Hummel: München in der Revolution von 1848/49. Göttingen 1987, S. 84 f. 60 Karikatur »Der Engelssturz: 11. Februar 1848«, in: Sammlung 1848 – Flugschriften im Netz der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main: http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/ 2006/5610/ [16. 06. 2014]. Vgl. Fuchs: Tanz-Idyll, S. 148, Nr. 14. – Der Gendarmeriehauptmann hatte am 10. 2. 1848 auf das Volk einhauen lassen, um Lola Montez zu schützen, dabei hatte es mindestens einen Toten gegeben. Er wurde am 11. 2. 1848 von seinem Dienst abgelöst.

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Bayern, jedoch wird der direkte Zusammenhang nicht beachtet.61 Denn die ersten Unruhen der Revolution in München fanden in der Nacht vom 2. auf den 3. März mit einem Sturm auf das Innenministerium und die Privatwohnung des Ministerverwesers von Berks statt.62 Der Angriff auf Berks, den »Hurenminister«, galt dabei klar dem ehemaligen Anhänger von Lola Montez. Auch die bayerische Reformelite griff Berks an. Karl zu Leiningen, der Präsident des bayerischen Reichsrats, warf ihm »wahrhaft hochverräterische[s] Wirken« vor, Berks sei von der »öffentlichen Meinung mit tiefster Verachtung« beladen.63 Am 3. März sah sich Berks genötigt, um Urlaub zu bitten. Nachdem am 4. März Prinz Karl eigenmächtig die frühere Einberufung der Stände erklärt hatte, verzichtete am 6. März der König mit seiner Märzproklamation auf die von ihm so lange hochgehaltenen monarchischen Rechte. Die Affäre Lola Montez hatte die Autorität der Monarchie stark untergraben.64 Der König wurde als »Huren-Majestät« bezeichnet und gerade auch die ultramontane Kritik warf ihm Ehebruch vor. Bezeichnend sind auch die vielen Karikaturen, die den König als charakterlich schwach und Lola Montez unterlegen zeigen. Es gab jedoch bei aller Kritik auch eine Tendenz, den König als »verzaubert« zu betrachten und von jeder Schuld freizusprechen. Und es ist die Bereitschaft erkennbar, dem König zu verzeihen. So wurde er etwa schon am 11. Februar, nach der Ausweisung der Montez, mit Hoch-Rufen begrüßt.65 Das wiederholte sich nach der Märzproklamation, als ebenfalls sofort Hoch-Rufe auf den König ausgebracht wurden. Doch der König, der nur widerwillig der Ausweisung von Lola Montez zugestimmt hatte, konnte eine weitere Eskalation nicht verhindern, da er eben nicht bereit war, seine neue Rolle zu akzeptieren. Als öffentlich wurde, dass Lola Montez am 9. März heimlich nach München zurückgekommen war, kam es erneut am 15. und 16. März zu Unruhen. Nach einem Besuch Ludwigs I. am 17. März bei einem Günstling von Lola Montez, kam es zu einem Auflauf, da man glaubte, der König habe sich mit seiner Geliebten getroffen. Die Volksmenge durchsuchte das Haus, zündete alle Kamine an, falls sie sich im Schornstein 61 Heinz Gollwitzer: Ludwig I. Königtum im Vormärz, München 1986, S. 706, hält den Zusammenhang für nicht entscheidend, da nach seiner Meinung die Revolution auch ohne Lola Montez ausgebrochen wäre. Ohne sie hätte jedoch der Monarch sicher nicht zurücktreten müssen. 62 Götschmann: Franz von Berks, S. 780. 63 Zit. n. Gollwitzer : Ludwig I., S. 708. 64 Droß stellt durchgängig Angriffe auf den Monarchen fest, eine Tatsache, die wahrscheinlich für alle Fürsten im 19. Jahrhundert feststellbar wären. Die Steigerung zu einem revolutionären Diskurs wird allerdings über die Akten zu Majestätsbeleidigungen nicht erfasst; Elisabeth Droß: Vom Spottgedicht zum Attentat. Angriffe auf König Ludwig. I. von Bayern (1825 – 1848). Frankfurt am Main/Berlin/Bern 1994. 65 Hummel: München, S. 84 f.

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versteckt habe, und zog danach noch zu anderen Vertrauten der Gräfin. Schließlich wurde ihre Villa in der Barer Straße demoliert. Der neue Ministerpräsident Thon-Dittmer versuchte die Menge zu beruhigen. Auf seine Erklärung, Lola Montez sei gar nicht in München, erhielt er die bezeichnende Antwort: »Wir glauben es nicht, man hat uns schon so oft angeführt – man soll den Hurenkönig hängen!«66 Hier ist deutlich erkennbar, dass die Ablehnung und Missstimmung durch den unklaren Kurs des Königs, der sich eben nicht eindeutig zu den Märzforderungen bekannte und insbesondere auch den Kontakt zu den Symbolfiguren der alten Zeit weiter pflegte, letztlich auf ihn zurückfiel. Dass der neue Ministerpräsident, ohne ihn zu fragen, Lola Montez die Staatsbürgerschaft aberkannte, machte dem Monarchen die Kluft zwischen der Volksmeinung und seiner Person bewusst.67 Wenn der König, der den Verlust seiner autokratischen Herrschaftsmacht nicht ertragen konnte, als wahren Grund feststellte, »Ich bin nicht mehr geliebt«, so hatte er den Kern seiner ruinierten Stellung erkannt.68 Folgerichtig trat er am 20. März zurück. Die Kritik an seiner Affäre hielt auch nach seinem Rücktritt an. Als der zurückgetretene König Anfang April in die Schweiz reisen wollte, um Lola Montez zu treffen, gab es wiederum einen Skandal. Auf einer Volksversammlung wurde gefordert, in diesem Falle solle er nicht mehr nach Bayern zurückgelassen werden und auch seine Jahresrente verlieren.69 Den Zusammenhang zwischen Lola Montez und der Abdankung des Königs betonte auch die Karikatur. Eine wahrscheinlich aus München stammende Karikatur zeigt den König, wie er seine Abdankungsurkunde unterschreibt, dabei aber zu seinem Bett, in dem Lola Montez liegt, schaut. Darunter die Unterschrift: »Wie? Es soll dieses Bein Mich nicht länger erfreun? Nein! ich danke ab!«70 Mehrere Besonderheiten zeichnen das Feindbild der Revolution in München aus. Der Feind des Volkes war hier kein schlechter Berater des Königs, sondern eine Frau, der jedoch auch ein unpassender Einfluss auf den König angelastet wurde. Gegen dieses Feindbild konnten sich sogar Ultramontane wie Liberale zusammenfinden. Mit dem Vorwurf der Mätressenwirtschaft wurde zwar auch Lola Montez als Symbol für den reaktionären Absolutismus begriffen und mit negativen Zuschreibungen wie Herrschsucht und Sittenlosigkeit bedacht. Aber hier richteten sich die Vorwürfe viel stärker auch gegen den König. Doch selbst 66 Valentin: Geschichte, Bd. 1, S. 392 f. 67 Gollwitzer : Ludwig I., S. 717. 68 Zit. n. Eva Maria Werner : »Die Revolution hat gesiegt, mit dem Ergebnis, daß ich erniedrigt bin.« Herrscherabdankungen im Jahr 1848, in: Susan Richter / Dirk Dirbach (Hg.): Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 239 – 250, hier S. 241. 69 Valentin: Geschichte, Bd. 1, S. 397. 70 Fuchs: Tanz-Idyll, S. 113 u. S. 150.

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in dieser Konstellation war wohl die Bindung an den Monarchen stark genug und die Bevölkerung hätte Ludwig I. verziehen, wenn er bereit gewesen wäre, sich von Lola Montez abzuwenden. Da ihm diese Bereitschaft fehlte, konnte er sich auch der Unpopularität nicht entziehen und es blieb ihm nur der Rücktritt.

4. Die drei behandelten, sehr bekannten Beispiele haben schon ein Muster des Diskurses über die Feinde des Volkes sichtbar gemacht, das sich so in vielen anderen deutschen Staaten wiederholt. Gerade der unverantwortliche Berater des Fürsten aus der eigenen Familie wurde oft als Feindbild betrachtet. In Baden galt etwa der zweite Bruder des Großherzogs, der Markgraf Wilhelm von Baden, als die entscheidende Figur im Hintergrund. Als »herrschsüchtiger General, im bonapartistischen Geiste groß geworden« – so Valentin – hatte er maßgeblichen Einfluss auf die Regierung.71 Auf der zweiten Volksversammlung zu Offenburg am 19. März 1848 wurde direkt ein Ende seines Einflusses gefordert und überhaupt die »Camarilla« um den Großherzog angegriffen.72 Sein Äquivalent war im Großherzogtum Hessen Prinz Emil, ebenfalls ein jüngerer Bruder des Großherzogs. Er hatte enge Beziehungen nach Russland und nach Österreich, auch persönlich zu Metternich, und übte einen starken Einfluss auf den Großherzog aus. Schon am 11. März forderte der Abgeordnete Zitz in der zweiten Kammer seine Entfernung.73 Selbstverständlich traf die Gegnerschaft auch die Regierungsmitglieder, die als Vertreter des Absolutismus galten und einen politischen Kurs im Sinne Metternichs verfolgt hatten. Hierunter fiel etwa der Regierungschef Du Thil in Hessen-Darmstadt. Daneben waren es oft die Leiter der Polizei, die durch ihre Tätigkeit als Teil des Unterdrückungsapparates wahrgenommen wurden. Erwähnt wurden bereits Sedlnitzky in Wien oder BauerBreitenfeld in München. In einigen Fällen kam es bei den hohen Staatsbeamten auch zu Angriffen, obwohl diese ihre Position schon aufgegeben hatten. So wurde in Hessen-Darmstadt der schon 1847 zurückgetretene Staatsrat Justin von Linde attackiert, weil er den Deutsch-Katholizismus im Lande verfolgt hatte.74 In 71 Valentin: Geschichte, Bd. 1, S. 153. 72 Flugblatt »Die Volksversammlung zu Offenburg am 19. März 1848«, unter : http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/1848/content/pageview/5423691 [16. 06. 2014]. 73 Dieter Schäfer: Prinz Emil von Hessen-Darmstadt in der deutschen Revolution. Darmstadt 1954, S. 9 – 35. Ob Zitz damit nur eine allgemeine Stimmung ausdrückte oder doch eher die gerade eingesetzte Märzregierung Gagern treffen wollte, ist schwer zu bestimmen. Tatsächlich hatte sich Prinz Emil als so beweglich erwiesen, dass er sich sowohl für den Rücktritt du Thils als auch die Einsetzung des populären Mitregenten, des späteren Ludwig III., und die neue Regierung Gagern eingesetzt hatte. 74 Auch seine Entfernung wurde von Zitz gefordert, siehe ebd.

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Kurhessen forderte eine Flugschrift »der Kasseler« die »Versetzung der abgetretenen Minister, wegen begangener Verfassungsverletzungen, in den Anklagestand«.75 Interessanterweise zeigt sich auch in der einzigen Region, in der es in Deutschland im März 1848 zu einer offenen Revolte kam, ein ähnliches Bild. Die Revolution in Holstein und Schleswig richtete sich, obwohl sie schließlich quasi zur Bildung eines unabhängigen Landes unter einer provisorischen Regierung führte, nicht gegen den dänischen König, sondern gegen die Repräsentanten des dänischen Staates in Schleswig und Holstein. So forderte die Ständeversammlung namentlich die Entlassung des unbeliebten Regierungspräsidenten von Schleswig, Ludvig Nicolaus von Scheele (1796 – 1874).76 Dieser war 1845 als königlicher Vertreter bei der schleswigschen Ständeversammlung als Gegner der deutschen Interessen aufgetreten und besonders mit dem Präsidenten der Ständeversammlung, Wilhelm von Beseler, aneinandergeraten. Danach hatte er die politische Polizei geleitet und wurde 1846 Präsident der schleswig-holsteinischen Regierung.77 Scheele hat selbst die Vorwürfe, die gegen seine Person erhoben wurden, zusammengefasst: »Kraße bureaukratische Vorliebe für die bestehende Beamtenschaft mit Ausschluß kommunaler Selbstständigkeit; Unbedingte Anhänglichkeit an absolute Regierungsform und Unterdrückung freier Entwicklung constitutioneller Formen; Nichtbeachtung der bestehenden Nationalitäten oder Kränkung derselben«.78 Aus Sicht der schleswig-holsteinischen Nationalbewegung war er ein typischer Vertreter des dänischen Absolutismus. Nachdem sich in Kopenhagen die Revolution durchgesetzt hatte und die sogenannten Eiderdänen in die Regierung aufgenommen wurden, wandte sich das Feindbild nun schnell auch gegen die dänischen Nationalisten. Jetzt plötzlich wurden etwa die neuen Mitglieder der Regierung, z. B. Orla Lehmann, angegriffen.79 Die Proklamation der gerade gegründeten provisorischen Regierung in Kiel sprach dann auch von dem »unfreien Landesherrn«, der die Interessen seiner Herzogtümer Schleswig und Holstein nicht mehr vertreten könne.80 75 Kasseler Flugblatt »Gestern und heute!« v. 11. 3. 1848, abgedr. bei Gebhardt/Nickel: Fackel der Öffentlichkeit, S. 29. Es handelt sich hier nicht um klassische Märzforderungen, da die Forderungen ohne Volksversammlung und Zustimmung artikuliert wurden. 76 Martin Rackwitz: Märzrevolution in Kiel 1848. Erhebung gegen Dänemark und Aufbruch zur Demokratie. Kiel 2011, S. 42. 77 Zur Person: A. Thorsoe: Art. »v. Scheele, Ludvig Nicolaus«, in: Dansk biografisk Lexikon, Bd. 15, S. 94 – 97 – online unter : http://runeberg.org/dbl/15/0096.html [16. 06. 2014]; Art. »Scheel«, in: Pierer’s Universal Lexikon, Bd. 15 (1857), S. 111 – online unter : http://www. zeno.org/Pierer-1857/K/pierer-1857 – 015 – 0111 [16. 06. 2014]. 78 Ludwig Nicolaus von Scheel: Fragmente in zwanglosen Heften. Kopenhagen 1850, S. 7 f. 79 Vgl. Rackwitz: Märzrevolution, S. 43. 80 Rackwitz: Märzrevolution, S. 51 – 53. Dabei ist dieser Rest an Monarchismus dem Einbezug der Konservativen in die provisorische Regierung und der Rücksichtnahme auf die etablierte

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Versucht man eine Typologie der Feinde des Volkes so bilden die bisher beschriebenen schlechten Berater der Fürsten, die unverantwortlichen Vertrauten und die hohen Minister und Beamte, den ersten Typ. Daneben können noch vier weitere Typen unterschieden werden, zu denen allerdings weitere Forschungen nötig sind. Den zweiten Typ bilden Herrschaftsträger, Beamte oder Adlige, die vor Ort von den Volksmassen im März 1848 als Feinde betrachtet wurden. Es fällt hier schwerer, eine Grenze zu ziehen zwischen den Personen, an die Forderungen gerichtet wurden oder die der Durchsetzung von Forderungen im Wege standen, denen aber keine persönlichen Verfehlungen vorgeworfen wurden, und den Personen, denen individuelles Vergehen angelastet wurde. Zur ersten Gruppe gehörten zumeist die Adligen, von denen der Verzicht auf fürstliche Sonderrechte, Ablösungssummen oder Patrimonialgerichtsbarkeit gefordert wurden.81 Der Unterschied wird dann erkennbar, wenn Personen über das normale Maß hinausgehende Verfehlungen vorgeworfen wurden und daher Gerüchte über ihr Verhalten kursierten. Der Unterschied wird auch im Verhalten der Volksmassen sichtbar. Bei Personen der ersten Gruppe blieben gewöhnlich über die Durchsetzung der konkreten Forderungen hinausgehende Drohungen oder Gewalt aus, spätestens nach Erfüllung der Forderungen war die Situation gelöst, ja, teilweise konnte sogar gemeinsam der Erfolg gefeiert werden. Insbesondere die Angriffe von Bauern auf Grund- und Standesherren scheinen zu diesem Fall zu gehören. Personen dagegen, die als Feinde des Volkes galten, wurden persönlich – verbal oder körperlich – angegriffen, ihr Verschwinden wurde gefordert und häufig auch an ihnen oder ihrem Besitz ziellose Gewalt angewendet. Insbesondere bei den Beamten vor Ort war ein entscheidender Faktor, ob sie als Personifizierung des oft kritisierten »Beamtendespotismus« oder der »Beamtenbrutalität« galten.82 Ein Beispiel wäre der pommersche Landrat von Waldow-Meinhövel, der als »ein böser trotziger Aristokrat und willkürlich scharfer Beamter« verprügelt und verjagt wurde.83 Besonders feindlich war die Beamtenschaft geschuldet, als dass er einer Stimmung der Bevölkerung entgegen kam. Aber er stieß bezeichnenderweise auch nicht auf Widerstand. 81 Die »antifeudalen Bauernunruhen« 1848 sind trotz zahlreicher Einzelfallanalysen immer noch nicht umfassend eingeordnet. Nach einem ersten Eindruck werden hier zwar weitgehende Forderungen nach der Aufhebung feudaler Rechte aufgestellt, der persönliche Hass richtet sich aber nicht gegen die Adligen oder Standesherren, die scheinbar als Teil der ländlichen Welt akzeptiert werden, sondern eher gegen Personen, die als »fremd« wahrgenommen wurden, etwa die Beamten der Guts- und Standesherren oder gegen – oft jüdische – Händler. 82 Hier nach: Forderungen der Bauern in der preußischen Standesherrschaft Solms-Braunfels aus dem Jahr 1848, abgedr. bei: Irene Jung / Hans-Werner Hahn / Rüdiger Störkel: Die Revolution von 1848 an Lahn und Dill. Wetzlar 1998, S. 253 – 256. 83 Varnhagen von Ense: Eintrag 26. 3. 1848, in: ders.: Journal, S. 130.

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Stimmung gegenüber örtlichen Beamten, denen die Verletzung ihrer Pflichten unterstellt wurde. So wurde etwa im Amt Weida, Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach, in einer Petition dem Oberforstmeister Gäßler vorgeworfen, dass er bei der Versteigerung von Holz selbst geboten habe, um das Holz danach an »Holzwucherer« zu verkaufen.84 Damit wäre der dritte Typ der Feinde des Volkes bereits genannt: Nutznießer der sozialen Not. Im Diskurs der Märzrevolution immer wieder angegriffen wurden Personen, die ihre Stellung im alten System ausgenutzt hatten, um sich am Volk zu bereichern. Auch die – insgesamt wenigen – antisemitischen Ausschreitungen im März 1848 gehören in diese Kategorie. Hier wurde jüdischen Bankiers oder Kaufleuten vorgeworfen, dass sie sich unter Verletzung der Normen einer sittlichen Ökonomie bereichert hätten.85 Als vierter Typ müssen Personen aus den lokalen Selbstverwaltungen aufgeführt werden, die im März 1848 angegriffen und bedroht wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt. Hierzu gehören die Honoratioren, Bürgermeister und Stadträte zahlreicher Städte und Gemeinden. Sie sollten eigentlich als Vertreter der Bürger auftreten, waren aber häufig ein verlängerter – und dann auch noch von den Bürgern finanzierter – Arm des Staates. Besonders die Katzenmusiken in den Städten oder Gemeinden hatten oft Kommunalbeamte zum Ziel, die ihre Stellung ausgenutzt hatten. Auch im Rathaussturm, wie er zahlreich im März 1848 stattfand, ging es neben den politischen und sozialen Forderungen manchmal um den Austausch der Bürgermeister.86 Zahlreiche Kommunalbeamte wurden so zum Rücktritt gezwungen.87 Ein beliebiges Beispiel lässt die Interaktion zwischen den Akteuren und einer liberalen Opposition erahnen. In Augsburg wurden dem Magistratsrat und Zinngießermeister Tischer zwei Häuser schwer beschädigt. Als Vertreter der ultramontanen Dominanz in den Gemeindekollegien des Vormärz war er einer der Gegner der Liberalen, ihm wurde jedoch auch eine fehlerhafte Aufsicht über das städtische Krankenhaus vorgeworfen, so dass die Kosten für die Bürger gestiegen seien – eine durchaus populäre Kritik. Die liberale Presse zeigte Ver-

84 Petition von 54 Gemeinden des Amtes Weida (Sachsen-Weimar-Eisenach) an den Landtag, 26. 3. 1848, abgedr. bei Stefan Gerber : Quellen zur Geschichte Thüringens: Revolution 1848/ 49. Erfurt 2000, Nr. 10. 85 Allgemein Stefan Rohrbacher : Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815 – 1848/49). Frankfurt am Main 1993. 86 Allgemein dazu: Manfred Gailus: Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847 – 1849. Göttingen 1990, 142 – 152. 87 Ein interessanter Fall ist in Berlin der Oberbürgermeister Krausnick, von dem die städtischen Behörden den nicht vollzogenen Rücktritt meldeten, um die Bevölkerung zu beruhigen.

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ständnis für den Volkszorn. Tischer wurde daraufhin von seinem Amt beurlaubt.88 Als fünfter Typ von Volksfeinden im revolutionären Diskurs können Personen genannt werden, die als Verräter an der Sache des Volkes betrachtet wurden. Diese Individuen zeichneten sich dadurch aus, dass sie von ihrer Stellung und sozialen Herkunft zum Volk gezählt wurden, sich aber in den Auseinandersetzungen des März 1848 auf die Seite von Staat oder Militär geschlagen hatten. Der bereits erwähnte Angriff auf einen Berliner Handschuhmacher, der Revolutionäre verraten haben sollte, gehört zu diesem Typ von Feinden des Volkes. Hier gab es keine Entwicklung von Gerüchten, sondern hier drängten die negativen Zuschreibungen zu direkter Aktion. Gerade diese Volksfeinde wurden oft mit physischer Gewalt angegriffen, was möglichweise daran lag, dass es hier ein besonderes Interesse an Rache gab, es mag aber auch sein, dass diese Personen besonders wenig geschützt waren. Während bei diesem letzten Typ tatsächlich regelmäßig Rache gefordert wurde, ist auffallend, dass es bei den meisten anderen Volksfeinden eine hohe Bereitschaft gab, zu vergeben. Zur Durchsetzung von Forderungen wurde in den Volksaufläufen diesen Personen häufig äußerste Gewalt angedroht, dann jedoch meistens nur die Entfernung bzw. das Verschwinden dieser Personen gefordert. Weitergehende Bestrebungen nach Rache oder Strafverfolgung gab es selten. Hier mag jedoch die Disziplinierung und damit Verbürgerlichung der Proteste eine Rolle gespielt haben. Sobald die öffentlichen Proteste in Reden oder gar Petitionen verbalisiert wurden, waren Bürger beteiligt, die die Stimmung der Straße entschärften. Die vorher geäußerten Morddrohungen verwandelten sich hier in die Forderung nach dem Rücktritt oder der »Entfernung« der betreffenden Person.

* Schon Veit Valentin hat in seiner großen Geschichte der 1848er Revolution die Rolle von negativ konnotierten Persönlichkeiten herausgestellt: »Es gehört zum Wesen von Volksbewegungen, Einzelpersonen für die Unhaltbarkeit überkommener Mißstände verantwortlich zu machen, an das Ausscheiden oder gar die Vernichtung von Einzelpersonen die Hoffnung auf eine glückhafte neue Zeit zu knüpfen«.89 Neben den politischen Märzforderungen, die ganz konkrete Maßnahmen verlangten, und die, wenn sie auch in ihren Implikationen sicher nicht jedem verständlich waren, doch auch von den städtischen und ländlichen Un88 Dietmar Nickel: Die Revolution 1848/49 in Augsburg und Bayerisch-Schwaben. Augsburg 1965, S. 55 f. 89 Valentin: Geschichte, Bd. 1, S. 401.

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terschichten als grundlegender Systemwechsel verstanden wurden, zeigt sich hier eine Personalisierung des Geschehens, die Ausdruck eines noch vormodernen Politikverständnisses war. In den Gerüchten auf der Straße, den Forderungen in Versammlungen, den Aufläufen und Katzenmusiken auf Plätzen, aber auch in der Tagespublizistik wird die Revolution als ein manichäischer Kampf zwischen den Helden und den Feinden des Volkes begriffen. In den Zuschreibungen gegenüber diesen Personen – sei es liberalen Oppositionspolitikern, Märtyrern der reaktionären Unterdrückung oder Volksführern auf der einen Seite, Adligen, Beamten, Mätressen oder Angehörigen einer politischen Camarilla auf der anderen Seite – fanden Hoffnungen und Erwartungen, Befürchtungen und Schuldzuweisungen des März 1848 ihren Ausdruck. Im Bild der Volksfeinde spiegelte sich dabei die einfache Vorstellung, dass man nur einzelne Personen entfernen müsse, um das bestehende System zu überwinden. Diese Personen wurden als Symbole der alten Ordnung betrachtet, galten jedoch auch ganz persönlich als Verantwortliche und Schuldige dieser Ordnung. Man sollte diese vormodernen Feindbilder jedoch auch nicht vorschnell als unreflektiert kritisieren. Tatsächlich waren die angegriffenen Personen – so viel scheinen die betrachteten Beispiele zu zeigen – durchaus treffend gewählt. Es handelte sich meistens um die wichtigsten Vertreter des alten Systems, um überzeugte Anhänger konservativ-monarchischer Herrschaft und Befürworter eines bürokratischen Absolutismus. Betroffen davon, zum Volksfeind erklärt zu werden, waren dabei fünf Typen von Personen: 1. Schlechte Berater der Fürsten, also unverantwortliche Vertraute oder Inhaber hoher Ämter, die als Repräsentanten des alten Systems aufgetreten waren. 2. Beamte der unteren Ebene oder Gutsherren, die vor Ort negativ aufgefallen waren, da sie über das übliche Maß hinaus ihre Macht ausgeübt hatten. 3. Nutznießer des alten Systems, also Personen, denen vorgeworfen wurde, sich an diesem System bereichert zu haben. 4. Mitglieder der lokalen Selbstverwaltungen, die entgegen ihren Positionen statt als Vertreter der einfachen Bürger als Repräsentanten des Staates aufgetreten waren. 5. Als Verräter betrachtete Bürger, die während der Ereignisse des März 1848 auf der Seite der herrschenden Gewalten aktiv wurden. Es ist bezeichnend für dieses personalisierte Politikverständnis, dass die Vorwürfe zumeist über das normale Maß einer politischen Gegnerschaft hinausgingen. In den meisten Fällen wurde den Feinden des Volkes nicht einfach ihre Funktion im alten System vorgeworfen, sondern ihre Tätigkeit wurde als Ausdruck eines persönlichen Mangels bewertet. Wer gegen das Volk war, musste in diesem Denken aus Eigennutz, charakterlicher Schwäche oder Bosheit handeln. Die Geschichten von der Reitpeitsche schwingenden Lola Montez oder dem Prinzen Wilhelm, der Bürger körperlich züchtigte, wurden geglaubt, weil sie den Gegensatz von Gut und Böse untermalten. In katholischen Gegenden wurde der

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Gegensatz zudem oft auch religiös aufgeladen, der Feind war hier zumindest symbolisch mit dem Teufel im Bund. In diesen Bildern der Feinde des Volkes waren jedoch die deutschen Fürsten erstaunlich wenig präsent. Wie die behandelten Beispiele zeigen, wurden die Fürsten durch die Fixierung auf die schlechten Berater quasi freigesprochen. Sie galten als ungenügend informiert, als von charakterlich schlechten und fremde Interessen vertretenden Personen kontrolliert. Nicht die Fürsten, sondern der Einfluss einer maßgebenden Persönlichkeit, oft auch einer aristokratischen Camarilla, galt als schuldig an der reaktionären Ausrichtung der Politik. In dieser Logik war die Beseitigung der Feinde des Volkes sogar im Interesse der Fürsten, da sie erst an der Seite des Volkes wieder zu wirklicher Macht kommen konnten. Wie es der Artikel der Einleitung hervorhob, waren es eben nur die Freunde des Volkes, die »es redlich mit Fürst und Volk« meinten. Den Fürsten wurden daher die Fehler des alten Systems nicht persönlich angelastet. Eine Kulturgeschichte der »Volksfeinde« beleuchtet somit auch Aspekte des Monarchismus während der Revolution. Monika Wienfort hat in ihrer Studie zum bürgerlichen Monarchismus deutlich gemacht, wie sehr in den öffentlichen Argumenten über die Monarchie seit dem späten 18. Jahrhundert die Vision eines Bürgerkönigtums sichtbar wurde.90 Gerade Lob und Huldigung der Fürsten dienten dazu, auf verstecktem Wege »gutes« Verhalten einzufordern. Die Fürsten wurden in ihrem öffentlichen Bild auf den Dienst am Volk festgelegt. Der Monarchismus war im März 1848 in Deutschland noch völlig intakt, er betrachtete allerdings den Monarchen als Vertreter des Volkes – sah ihn also als Funktionsträger innerhalb der konstitutionellen Monarchie. Heinz Gollwitzer hat eine politische Typologie der deutschen Fürsten im Vormärz versucht und unterscheidet dabei die konstitutionellen Fürsten – eine sehr kleine Gruppe –, die »Diehards eines fürstlichen Absolutismus oder eines patrimonialstaatlichen Systems« und als größte Gruppe die Fürsten die in der »Herrschafts- und Regierungstradition im Geiste des aufgeklärten Absolutismus« standen.91 Diese Unterschiede wurden im Diskurs der Märzrevolution nicht gesehen, das Volk erwartete jedoch offensichtlich die Übernahme des konstitutionellen Modells von allen Fürsten. Nur die Monarchen, die diesen Wechsel nicht akzeptierten oder untrennbar dem absolutistischen Typ verpflichtet blieben, mussten 1848 tatsächlich ihre Macht abgeben.92 Gerade Ludwig I. von Bayern bestätigt die Regel, dass das Volk die Schuld bei den »schlechten Beratern« ablud. Da er – aus

90 Monika Wienfort: Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848. Göttingen 1993. 91 Gollwitzer : Ludwig I., S. 767 f. 92 Neben den Abdankungen sind noch wichtiger die Fürsten, die über einen Mitregenten quasi entmachtet wurden, wie im Großherzogtum Hessen und dem Kurfürstentum Hessen.

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Starrsinn oder Charakterstärke – nicht bereit war seine absolutistische Stellung aufzugeben, blieb ihm tatsächlich nur der Rücktritt als Ausweg. Im Bild des schlecht beratenen Fürsten fanden sich bürgerlich-liberale Vorstellungen eines konstitutionellen Monarchen mit dem Wunsch des einfachen Volkes nach einem sozialen Königtum zusammen. Diese gemeinsame Vorstellungswelt entstand sicher in einem komplexen Prozess, bei dem die politischen Entwürfe von bürgerlichen Meinungsführern im Volk übernommen und auf die eigene soziale Situation angepasst wurden, um dann zu einer revolutionären Stimmung zu führen, die bürgerliche Kräfte wiederum zu kontrollieren versuchten. Doch auch wenn die bürgerlichen Anführer immer wieder auf Legalität und Gewaltfreiheit bestanden, das Volk dagegen seine Interessen durchaus handfest durchsetzen wollte, erst im gemeinsamen revolutionären Diskurs entstand die Dynamik, die dann tatsächlich zum revolutionären Erfolg führte. Damit muss jedoch die strikte Trennung der Handlungsträger der Revolution in Bürgertum und Unterschichten, wie sie seit Manfred Gailus’ Sozialprotestauswertungen hervorgehoben wird93, relativiert werden. Vielleicht waren in der sozialen Frage bürgerliche und plebejische Interessen tatsächlich nicht kompatibel, sobald es jedoch politisch wurde, standen beide Gruppen zu Beginn gegen Absolutismus und Bürokratie und deren symbolische Repräsentanten. Die Monarchen waren allerdings nicht Teil des personalisierten Feindbildes. Von ihnen wurde die Hinwendung zum Volk erwartet. Diese Einheit mit dem Volk konnten sie durch die Trennung von den Feinden des Volkes und die Hinwendung zu den Männern des Vertrauens erreichen. Von daher bildete die Anerkennung der Märzforderungen, der Rücktritt und das Verschwinden unliebsamer Personen und die Einsetzung der Märzminister eine untrennbare Einheit. Dann jedoch galt die Einheit von Monarch und Volk als wieder hergestellt, die Märzrevolution endete im Jubel der versammelten Massen für die Fürsten, obwohl sie gerade noch bereit gewesen waren für ihre Rechte zu kämpfen. Das ist der Kern der berühmten Formel: Die Revolution machte vor den Thronen halt. Es war eine Täuschung, denn in dieser Vorstellungswelt eines bürgerlichen Königs wurde weder die enge Bindung der Fürsten an Adel, Militär und Bürokratie zutreffend erkannt, noch deren Skrupellosigkeit, gegebene Versprechen zu brechen, in Rechnung gestellt. Es war dieses aber – und das zeigen gerade die untersuchten Beispiele – eine Täuschung, der nicht nur das liberale Bürgertum, sondern auch das breite Volk verfiel. Es waren letztlich sowohl Bürger als auch Unterschichten,

93 Gailus: Straße, S. 55 – 64, geht von einem Konfliktmodell aus, dass Alte Elite, neue (= Reform-) Elite und Volksmassen umfasst. Dabei wären zwar zwischen den beiden Elitefraktionen Kompromisse möglich gewesen, aber nicht mit den Volksmassen.

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die sich in ihren Feindbildern auf die schlechten Berater konzentrierten und deswegen vor den Thronen stehenblieben.94

94 Die Formulierung »vor den Thronen stehenbleiben« geht auf Heinrich Riehls Chronik der Ereignisse in Nassau zurück, der hiermit die Bauern bezeichnete. Zwar ist Michael Wettengel: Die Revolution von 1848/49 im Rhein-Main-Raum. Wiesbaden 1989, S. 58, zuzustimmen, dass im Falle Wiesbadens das Bürgertum nicht nur vor den Thronen stehengeblieben sei, sondern diese sogar mit Waffengewalt verteidigen wollte. Warum er allerdings ignoriert, dass eben auch die Unterschichten nach Gewährung der Märzforderungen durch den Nassauer Herzog in die Begeisterung auf den Fürsten einstimmten und damit vor den Thronen haltmachten, ist etwas unverständlich.

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Eduard Baltzer (1814 – 1887) – ein enttäuschter 1848er-Revolutionär als Gründer des ersten deutschen Vegetariervereins?

1.

Fragestellung und Forschungsstand

»Ich hege keinen Zweifel darüber, dass vegetabilische Lebensweise einen bedeutungsvolleren Keim menschheitlicher Entwicklung in sich schliesst, als der norddeutsche Bund oder irgendeine Verfassung, welche nur unterschrieben und beschworen, aber nicht vom Geiste reiner Menschlichkeit durchdrungen ist.«1 Dies schrieb im Frühjahr 1868 Gustav Struve an Eduard Baltzer. Beide waren Pioniere der organisierten deutschen Vegetarierbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Und beide waren zuvor auch Aktivisten der 1848er Revolution gewesen. Sie traten jeweils als Demokraten für die Errichtung einer Republik ein, wobei der süddeutsche Struve weitaus radikaler vorging und sogar ins Exil gezwungen wurde. Baltzer und Struve werden oft in einem Atemzug genannt als Beispiele für einen Rückzug ins Private, der sich »durch Frust erklärt angesichts ausbleibender, entgleister, verratener oder niedergeschlagener Revolutionen«.2 So spricht der Straßburger Kulturwissenschaftler Marc Cluet von »paradigmatischen Persönlichkeiten […], an denen zu beobachten ist, wie sich ein politischprogressiver Elan – im Dienste der ›bürgerlichen‹ Revolution oder Verfassungsbewegung – verwandelt hat in eine neuerdings lebensreformerisch gefasste Naturheilkunde.«3 Cluet stützt sich bei seiner These ausdrücklich auf die Analyse einer Forschergruppe aus den frühen 1970er Jahren, die von der »ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen« sprach und dabei explizit

1 Gustav Struve an Eduard Baltzer, 1868, zitiert nach: Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1(1868), S. 6. Der Brief datiert zwischen dem 27. Februar und dem 1. Juni 1868. 2 Marc Cluet: ›Vorwort‹, in: ders. / Catherine Repussard (Hg.): Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht / La dynamique sociale de l’impuissance politique. Tübingen 2013, S. 11 – 50, hier S. 23. 3 Ebenda.

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Baltzer als frühestes Beispiel benannte.4 Als Quelle werten die Autoren vor allem Baltzers aus dem Nachlass herausgegebene Lebenserinnerungen5 aus, die sie freilich weniger historisieren als (typisch für frühen 1970er Jahre) mit einem ideologiekritischen Ansatz interpretieren, der durch ein weitgehend pejoratives Bild vom Bürgertum geprägt ist. Die These der Flucht in den unpolitischen Vegetarismus erscheint bei Struve schon deshalb fragwürdig, weil er bereits seit 1832 Vegetarier war und dies auch Zeit seines Lebens blieb, »auch während der Feldzüge, an denen er in der Revolution und im amerikanischen Bürgerkrieg teilnahm.«6 Wenn im Folgenden nicht der Diplomatensohn und Burschenschaftler Struve, sondern der freikirchliche Prediger Eduard Baltzer im Fokus steht, so nicht nur deshalb, weil dieser der erste Vereinsgründer war, sondern vor allem auch, weil damit der mitteldeutsch-thüringische Raum sowohl als Ort der Revolution 1848 als auch als Untersuchungsort der Bürgertumsforschung in den Blick genommen wird. Historiografisch soll damit an die wichtige geographische Horizonterweiterung der Forschung der letzten Jahrzehnte angeknüpft werden, die vor allem auch ein Verdienst Hans-Werner Hahns ist, der zum einen Forschungen zur Revolution 1849/49 in Thüringen initiiert hat7, zum anderen auch die Spezifika des Bürgertums des ländlich-kleinstädtisch strukturierten hessisch-thüringischen und mitteldeutschen Raumes im 19. Jahrhundert erforscht hat.8 Eduard Baltzer war eine schillernde Figur seiner Zeit. Als evangelischer Pfarrer und »Lichtfreund« sagte er sich 1847 von der Amtskirche los, wurde freikirchlicher Prediger, bald auch Vorsitzender des nationalen Verbandes der Freikirchen. Während der Revolution 1848/49 galt er als führendes Mitglied des Nordhäuser Demokratischen Bürgervereins, wurde Mitglied des Frankfurter Vorparlaments und der Preußischen Nationalversammlung. Da er publizistisch

4 Vgl. Janos Frecot / Johann Friedrich Geist / Diethart Kerbs: Fidus 1868 – 1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München 1972, zu Baltzer vor allem S. 32 – 34. 5 Eduard Baltzer : Erinnerungen. Bilder aus meinem Leben, hg. von G. Seltz. Frankfurt am Main 1907. 6 Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika. Stuttgart 2004, S. 32. Struve hatte nach der Lektüre von Rousseaus »Êmile« und der dortigen Beschreibung der Vegetarier Plutarch und Pythagoras das Fleischessen eingestellt. 7 Dies gilt sowohl in Hinblick auf seine eigenen Forschungen als auch für ihn als Anreger, Initiator und Betreuer von Forschungsprojekten und Qualifikationsarbeiten. Vgl. vor allem Hans-Werner Hahn / Werner Greiling (Hg.): Die Revolution 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume, Handlungsebenen, Wirkungen. Rudolstadt / Jena 1998. 8 Vgl. Hans-Werner Hahn: Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689 – 1870. München 1991; ders. / Werner Greiling / Klaus Ries (Hg.): Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert. Rudolstadt / Jena 2001; Hans-Werner Hahn / Dieter Hein: (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. Köln / Weimar / Wien 2005.

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Eduard Baltzer (1814 – 1887)

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stets sehr aktiv war, sind seine Positionen gut überliefert.9 Es erschienen philosophische, theologische und pädagogische Schriften, ja sogar Gedichte10. In einem Briefwechsel mit Rudolf Virchow stritt er über Fragen der Medizin und Ernährung.11 An seinem Lebensende hat Baltzer eine Autobiografie zu schreiben begonnen, die er allerdings nicht mehr redaktionell bearbeiten konnte.12 Baltzers Name findet Eingang in diverse Lexika.13 Hervorzuheben, weil für die Fragestellung des bürgerschaftlichen Engagements vor Ort aufschlussreich, ist der Beitrag des Nordhäuser Mittelschullehrers und Lokalforschers Heinrich Heine aus dem Jahr 1929.14 In der neueren Forschung findet Baltzer gelegentlich Erwähnung, etwa bei Sylvia Paletschek15 oder Hans-Werner Hahn16 und in Studien

9 Ein Verzeichnis seiner gedruckten Schriften findet sich im Anhang der Lebenserinnerungen: Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 111 – 113. Die dortige Liste scheint jedoch unvollständig zu sein. Oscar Herrmann: Adressbuch für Vegetarianer. Zürich 111884, S. 6 f. und S. 84 f., nennt noch weitere Titel, vor allem gedruckte Vorträge und Flugblätter. Eine systematische Aufnahme und Analyse der zahlreichen Leitartikel und Essays in der »Nordhäuser Zeitung«, aber auch der Rezensionen und Miszellen in der »Halleschen Literaturzeitung«, in »Kirchliche Reform« oder der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« stehen noch aus. 10 Vgl. Eduard Baltzer: Aus meinem Leben. Gedichte. Rudolstadt 1886; darin etwa »Natur und Geschichte«, S. 20 f. oder »Vegetarianer«, S. 156. Vgl. auch M. E. Schröder (Hg.): Palmenblätter. Eine Sammlung auserlesener Gedichte aus den Schriften von Eduard Baltzer. Schweidnitz (Schlesien) 1904. 11 Eduard Baltzer : Briefe an Virchow. Über dessen Schrift »Nahrungs- und Genußmittel« (= Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und sozialem Heil, Bd. 3). Nordhausen 1868. Bereits in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung hatte er gelegentlich Rezensionen zu medizinischen Themen geschrieben. Vgl. etwa ders.: Schriften über die Cholera, in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 28 (1832) 78, Sp. 233 – 238. 12 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5). 13 Sauer, Bruno, ›Baltzer, Eduard Wilhelm‹, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 570; Helmut Obst, ›Baltzer, Eduard Wilhelm‹, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 1998/1, Sp. 1082; Artikel ›Baltzer, Eduard Wilhelm‹, in: Bernd Moeller / Bruno Jahn (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen. München 2005, S. 86. Weitere Kurzbiografien sind zum Teil sehr hagiografisch. Als »einer der vornehmsten Menschen seiner Zeit, ein aufrechter und charakterfester Führer des geistigen Deutschlands des 19. Jahrhunderts, ein großer Deutscher« vorgestellt bei Georg Herrmann: 100 Jahre deutsche Vegetarierbewegung. Obersontheim 1867/68, hier S. 13. In der NS-Zeit unter der Überschrift »Vegetarismus als sittliche Pflicht und Weg zur menschlichen Vollendung« bei Alfred Brauchle: Naturheilkunde in Lebensbildern, Leipzig 1937, S. 228 – 237, hier S. 236. Nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint das Buch wenig verändert erneut im Reclam Verlag. 14 Heinrich Heine: ›Baltzer, Eduard‹, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, hg. von der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt. Magdeburg 1929, S. 322 – 341. 15 Sylvia Paletschek: Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841 – 1852. Göttingen 1990. 16 Hans-Werner Hahn: ›Demokratische und liberale Vereinsbewegung in Thüringen 1848/49‹, in: ders. / Greiling (Hg.), Revolution 1848/49 in Thüringen (wie Anm. 7), S. 223 – 250, vor allem S. 227.

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zur Geschichte des Vegetarismus17, von denen vor allem die soziologische Habilitation von Eva Barlösius hervorzuheben ist.18 Eine wissenschaftliche Biografie Eduard Baltzers fehlt jedoch. Ein Problem besteht darin, dass die Forschung das Thema des Vegetarismus im 19. Jahrhundert oftmals als Vorgeschichte der Lebensreformbewegung um 1900 betrachtet, die wiederum zumeist als kulturell-ästhetisches Phänomen daherkommt. Ohne Zweifel ist die Lebensreform ein faszinierendes Forschungsfeld. Der Begriff bezeichnet unterschiedliche Reformansätze, deren Protagonisten sich vor allem durch eine in der Regel ganzheitliche – also Religion, Kultur, Kunst und Sozialverhalten umfassende – Denkweise auszeichnen.19 Zur Lebensreform kann auch der Vegetarismus gezählt werden, welcher um 1900 als Lebenseinstellung einer (vor allem großstädtischen) Minderheit durchaus verbreitet war. Vegetarische Restaurants20, Kochbücher, Gesellschaften und eigene Siedlungen21 entstanden. Die Protagonisten dieser Bewegung werden je nach Interpretation als Avantgarde oder als Verfechter esoterischer Kuriositäten beschrieben. Die Affinität der Lebensreformbewegung für völkische und nationalsozialistische Ideologeme steht besonders im Fokus sowohl der Forschung22 als auch kritischer Publizistik, etwa auch von Jutta Ditfurth.23 Bei 17 Vgl. Hans-Werner Ingensiep: ›Vegetarismus und Tierethik im 18. und 19. Jahrhundert. Wandel der Motive und Argumente der Wegbereiter‹, in: Manuela Linnemann / Claudia Schorcht (Hg,): Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Erlangen 2001, S. 73 – 105, hier S. 89 f.; Claus Leitzmann / Markus Keller : Vegetarische Ernährung. Stuttgart 2010, S. 52 – 55. 18 Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main / New York 1996. Die Arbeit enthält nicht nur einen Abschnitt (S. 35 – 47) zu Baltzer, im dem vor allem dessen Werke analysiert werden, wobei theologische Positionen mit Vorstellungen vom Vegetarismus verbunden werden. Sie präsentiert auch eine fundierte Einordnung sowohl der freireligiösen als auch der vegetarischen Bewegungen in die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. 19 Vgl. Kai Buchholz / Rita Latocha / Hilke Peckmann / Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde. Darmstadt 2001. 20 Einen schönen Überblick bieten die regelmäßig erscheinenden Adressbücher für Vegetarier, in denen sowohl Privatpersonen als auch Restaurants ausgewiesen wurden, damit man auf Reisen Gleichgesinnte finden konnte. Vgl. etwa Herrmann, Adressbuch für Vegetarianer (wie Anm. 9). In Jena ist das »Vegetarische Speisehaus Academia« in der Zwätzengasse 16 noch an der Fassadenbemalung zu erkennen. Dort fand zudem im April 1916 eine Versammlung von Kriegsgegnern statt, angemeldet als unpolitische Veranstaltung eines Wander- und Abstinenzvereins. 21 Vgl. vor allem Judith Baumgartner : Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893. Frankfurt am Main u. a. 1992. 22 Vgl. Jost Hermand: ›Die Lebensreformbewegung um 1900 – Wegbereiter einer naturgemäßeren Daseinsform oder Vorboten Hitlers?‹, in: Cluet / Repussard (Hg.): Lebensreform (wie Anm. 2), S. 51-62. 23 Jutta Ditfurth: Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus. Hamburg 1996, vor allem S. 88 f. und S. 123 – 178.

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solchen Fragestellungen interessieren also die Zeit um 1900 und deren Auswirkungen ins 20. Jahrhundert hinein. Und tatsächlich liefert Eduard Baltzer auch für solche Forschungsinteressen Ansatzpunkte. Nicht nur, dass er von späteren Lebensreformern als Vordenker angesehen wurde und seine zahlreichen Publikationen bis in 20. Jahrhundert hinein gelesen und wiederaufgelegt wurden.24 Wie später noch gezeigt werden soll, hatte Baltzer durchaus ganzheitlich-lebensweltliche Vorstellungen bis hin zu fragwürdigen Ideen einer besonderen Rolle des »Germanismus«.25 In diesem Aufsatz soll jedoch Eduard Baltzer eben nicht nur ex post als »Vordenker der Lebensreform«26 und »vegetarischer Prophet«27 gesehen werden, sondern der Versuch einer biografischen Einordnung vor dem Hintergrund neuerer Forschungen zum 19. Jahrhundert, zu Revolution und Bürgertum, vor allem zu bürgerlichen Wertvorstellungen, unternommen werden. Der Blick wird in diesem Aufsatz also gleichsam wieder zurück aufs 19. Jahrhundert gelenkt, jenes faszinierende Jahrhundert, an dem man so viele Phänomene erklären kann, die wir wie selbstverständlich als konstitutiv für die »Moderne« ansehen. Es soll gefragt werden, inwieweit die theologischen, moralischen und politischen Positionen Baltzers in eine Analyse der Entwicklung bürgerlicher Wertvorstellungen einzuordnen sind und somit die einfache These des enttäuschten Revolutionärs modifiziert werden kann.28

2.

Prägung und Politisierung

Eduard Baltzer stammte aus einer Pfarrersfamilie. Sowohl sein Großvater mütterlicherseits als auch sein Vater waren protestantische Geistliche in Hohenleina, einem kleinen Ort nördlich von Leipzig, wo Eduard am 24. Oktober 1814 als jüngster von vier Brüdern zur Welt kam. Dass »Pfarrer um 1800 einen noch weit über den Kernbereich ihrer Tätigkeit hinausgehenden Einfluß auf die 24 Vgl. hierzu etwa die Bemerkungen zum »Baltzer-Bund« der 1930er Jahre in der von Lothar Gall betreuten Frankfurter Dissertation von Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006, hier S. 71 – 77. 25 Vgl. Eduard Baltzer : Die Reform der Volkswirthschaft vom Standpunkt der natürlichen Lebensweise. Nordhausen 21882, S. 212 – 215. Siehe dazu auch unten Abschnitt 5. 26 Unter Bezug auf Eduard Baltzer bei Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880 – 1930. Stuttgart 2003, S. 30. 27 Unter der Überschrift »Die Lebensläufe ›vegetarischer Propheten‹« vorgestellt bei Barlösius, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 18), S. 35. 28 Dieser These widerspricht schon früh Wolfgang R. Krabbe in seiner bemerkenswerten und sozialgeschichtlich unterfütterten, von Heinz Gollwitzer betreuten Dissertation; vgl. Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Göttingen 1974, hier S. 15.

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Setzung und Vermittlung von Werten ausüben konnten«29, war für Eduard Baltzer präsent. Sein Vater predigte an verschiedenen Filialorten der Gemeinde und war auch als Kreisschulinspektor tätig, wobei er die Distanzen stets zu Fuß hinter sich brachte – »denn ›Filialisten‹ bleiben gesund, meinte er«30. Zudem betrieb er eine Nebenerwerbslandwirtschaft mit zwei Pferden und einigen Rindern, »von der man übrigens nicht viel merkte; denn der Knecht und zwei Mägde besorgten nach Anweisung alles zur völligen Zufriedenheit.«31 Baltzer erinnerte sich, dass sein Vater stets um 3 Uhr nachts aufgestanden war, um in Ruhe am Schreibtisch zu arbeiten. Insgesamt wird der Vater als ein natürliches Vorbild für die Familie und seine Hausangestellten geschildert, der durch seine Vorbildfunktion und nicht durch autoritäre Macht wirkte. Der komplexe Prozess der individuellen Aneignung bürgerlicher Werte, zu dem Leistungsbereitschaft und Bildung gehörten und in dem »Werteproduktion, Werteinhalte und Werterezeption untrennbar verbunden waren«32, lässt sich hier biografisch nachvollziehen. In Baltzers Fall fielen sie im Nahbereich der Familie, gleichsam in der Wohnstube zusammen: »Hier konzentrierte sich alles.«33 In der Wohnstube wurde der Junge auch bis zu seinem 15. Lebensjahr von seinem Vater unterrichtet. Danach besuchte er, wie zuvor seine Brüder, das Internat in Schulpforta, eine ehemalige Klosterschule hinter hohen Mauern mit einer eindrucksvollen Liste berühmter Absolventen. Für Baltzer war es im Rückblick unerklärlich, wie abgeschottet er dort gelebt hatte: »Die Welt draußen existierte für uns nicht. Keine Zeitung brachte uns Kunde von dort. Die Zeitereignisse kümmerten uns nicht. […] Wir waren in Rom und Griechenland zu Hause, aber das Heute lag uns völlig im Dunkel«34.

Die Atmosphäre in Schulpforta sei militärisch-preußisch gewesen, habe gleichzeitig »einen ganz klösterlichen Charakter mit all seinen Licht- und Schattenseiten«35 gehabt. Trotz vieler adliger Mitschüler seien keinerlei Standesunterschiede akzeptiert worden, vielmehr die Werte Leistung und Bildung

29 Hans-Werner Hahn / Dieter Hein: ›Bürgerliche Werte um 1800. Zur Einführung‹, in: dies. (Hg.), Bürgerliche Werte um 1800 (wie Anm 8), S. 9 – 27, hier S. 18. Zum Typus des bürgerlichen Landpfarrers vgl. auch Werner Greiling: ›Bürgerlichkeit im ländlichen Milieu. Die politischen Pastoren Wilhelm Friedrich Schubert und Friedrich Wilhelm Schubert in Oppurg‹, in: Hahn / Greiling / Ries (Hg.), Bürgertum in Thüringen (wie Anm. 8), S. 135 – 164. 30 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 38. 31 Ebenda, S. 4. 32 Hahn / Hein, Bürgerliche Werte (wie Anm. 29), S. 12. 33 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 3. 34 Ebenda, S. 14. 35 Ebenda, S. 13.

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hochgehalten worden. Er zähle sich deshalb alles in allem »stets zu den dankbarsten Schülern der Pforta«.36 Wie Großvater, Vater, Onkel, die Cousins und alle vier Brüder studierte Eduard Baltzer Theologie. Für Eva Barlösius steht deshalb fest: »Familiäre Traditionen und Erziehung erlaubten Baltzer es nicht, seinen Beruf frei zu wählen.«37 Baltzer selbst beschrieb den Prozess offener, betonte, dass »mein Vater mir zwar die Wahl frei ließ, aber im Grunde seines Herzens hoffte, ich würde der Theologie den Vorzug geben.« Der junge Student schrieb sich jedoch zunächst sowohl an der Theologischen als auch an der Philosophischen Fakultät ein, »um mir eine Laufbahn als Mathematiker offen zu halten«, denn die Mathematik sei »immer meine Liebe« geblieben.38 Eduard Baltzer studierte zunächst in Leipzig und dann in Halle, weil er dort einen preußischen Abschluss erwerben wollte. Halle wurde für seine persönliche Entwicklung sehr wichtig. Während er in Leipzig – gleichsam in der Tradition Schulpfortas – eine weitgehend von tagespolitischen Problemen und theologischen Streitfragen befreite Professorenschaft vorfand, erlebte er nun den Streit weltanschaulicher Schulen: »[I]n Halle konnte man keinen Tag verleben, ohne durch solche Konflikte in irgend einer Form zu eifrigem Studium angeregt zu werden.«39 Baltzer liebte diese Atmosphäre, die bis in den Abend hinein geführten Diskussionen, zu denen auch Professoren einluden. Teilweise war er dabei der einzige, der für den Rationalismus sprach. Der Streit um den theologischen Rationalismus, der an dieser Stelle nicht ausführlich erklärt oder auch nur adäquat referiert werden kann, half ihm, seine Fähigkeiten im Debattieren und Argumentieren zu schärfen. Vor allem brachte er ihn auf den Gedanken, Christentum und Religion auf der Basis der Vernunft neu zu bewerten. Nach dem Examen begann eine schwere Zeit. Der Vater starb, das Elternhaus musste aufgegeben werden, eine hartnäckige Stimmbandentzündung machte seine Zukunft als Prediger unsicher und bei der Geburt der Tochter starb Ende September 1840 die geliebte Ehefrau. Nun übernahm der Witwer verschiedene ihm angebotene Gastpredigten, unter anderem im Januar 1841 in Delitzsch und wurde dort überraschend »zum Diakonus und Hospitalprediger daselbst gewählt […]. Das war ein Donnerschlag aus heiterem Himmel!«40 Er konnte nicht

36 Ebenda, S. 16. 37 Barlösius, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 18), S. 38. 38 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 22. Inwieweit Baltzers Vorliebe für die Mathematik seine Tendenz zur rationalen Theologie und naturwissenschaftlichen Methoden befördert hat, können die Quellen nicht belegen. 39 Ebenda, S. 30. 40 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 43.

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ablehnen, auch wenn die Stelle schlecht bezahlt war und wenig Entfaltungsmöglichkeit bot.41 Baltzer erkannte die soziale Frage, reflektierte die politische Situation Preußens und kritisierte den Dogmatismus der evangelischen Kirche. Aus seiner (kirchen)politischen Position machte er kein Geheimnis und forderte »1843 in einer Synodalproposition die Einführung einer demokratischen Kirchenverfassung, die Trennung von Staat und Kirche, Lehr- und Pressefreiheit, Vereinfachung der Gesetzgebung nach dem Vorbild des Code Napol¦on, Verbesserung der Volkserziehung durch Einrichtung von Bildungsvereinen für die schulentlassene männliche und weibliche Jugend sowie Bekämpfung der Massenarmut durch staatliche Initiativen«.42 Damit war, wie Sylvia Paletschek nüchtern feststellt, seine demokratische Einstellung den preußischen Behörden bekannt.43 Die Forderungen entsprachen durchaus dem Zeitgeist eines Teils der protestantischen Öffentlichkeit. In Halle an der Saale lernte Baltzer Gleichgesinnte kennen: die Gruppe der »protestantischen Freunde«, wegen der häufigen Verwendung der Metapher »Lichtfreunde« genannt, eine »die Zeitgenossen aufregende Bewegung« (Thomas Nipperdey), die sich für kirchliche Lehrfreiheit einsetze.44 Der Streit spitzte sich zu, als das apostolische Glaubensbekenntnis in Preußen für verbindlich erklärt wurde. Baltzer hielt bei seiner Tätigkeit in Delitzsch zwar »die Formen des Kirchentums streng inne, nur, daß ich das sogenannte ›Apostolische Symbolum‹ nicht als ein Bekenntnis, sondern als das was es ist, ein Bekenntnis der alten vorprotestantischen Kirche vortrug.«45 Als er 1845 dann jedoch zum Pfarrer der St.-Ulrichs-Kirche in Halle gewählt wurde, verweigerte das zuständige Konsistorium die erforderliche Zustimmung zur Wahl. Der enttäuschte Baltzer erfuhr allerdings unter der Hand, dass die Ablehnung erfolgt sei, »weil Halle Universitätsstadt sei; an jedem anderen Orte würde die Bestätigung erfolgen«46. Als genau zu diesem Zeitpunkt die Gemeinde der Stadtkirche St. Nikolai im preußisch-thüringischen Nordhausen Interesse an seiner Person signalisierte, konnte er also guter Hoffnung sein. Am 5. Oktober hielt er in der Harzstadt eine Probepredigt und am Folgetag wurde er zum

41 In Delitzsch lernte er jedoch bei einem Liederabend die klassische Sängerin Luise Reil kennen. Sie stammte aus dem reichen Bildungsbürgertum, wurde bald seine Ehefrau und später eine wichtige Mitstreiterin sowohl in der demokratischen als auch in der Vegetarierbewegung. Vgl. ebenda. 42 Paletschek, Frauen und Dissens (wie Anm. 15), S. 264, Anm. 70. 43 Vgl. ebenda, S. 263. 44 Vgl. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1994, S. 435 f., Zitat S. 435. 45 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 59. 46 Ebenda, S. 60.

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Gemeindepfarrer gewählt.47 Die Wahl wurde vom Magistrat der Stadt (als Kirchenpatron) bestätigt, aber auch hier verweigerte das Konsistorium die Genehmigung. Nun begann ein zäher Machtkampf, bei dem Baltzer große Unterstützung aus der Nordhäuser Gemeinde erfuhr. Kirchenkollegium und Magistrat beschwerten sich vergeblich beim Minister und sogar beim König. Am 5. Januar 1847 trat das Kirchenkollegium aus Protest zurück und verkündete die Gründung einer »freien protestantischen Gemeinde«. Baltzer legte sein Amt in Delitzsch nieder und zog nach Nordhausen, wobei ihm nach kurzer Zeit klar wurde, dass er nicht mehr in der Amtskirche verbleiben konnte. »Ich war in meinem Inneren herzlich froh, daß dieser jahrelange, häßliche Streit zu Ende war.«48 Ganz deutlich zeigt sich das von Thomas Nipperdey beschriebene Phänomen: Durch die harte Haltung der Regierung gegenüber den Lichtfreunden, die mit Amtsenthebungen und Strafverfahren einherging, kam »eine breite Zustimmungsbewegung im städtischen, auch kleinen Bürgertum« auf, »rationalistisch und demokratisch getönt«.49 Dieses städtische Bürgerbewusstsein war in der ehemaligen Freien Reichsstadt Nordhausen greif- und spürbar. Nordhausen hatte sich mit der Personalentscheidung Baltzer ohnehin positioniert. Und nun ging es eben auch um die Akzeptanz der lokalen Entscheidungen, im konkreten Fall: der freien Priesterwahl. Die Bedeutung des Stadtbürgertums ist somit nicht zu unterschätzen. Entsprechend fand Baltzer Rückhalt in der Stadt, in der er die wichtigste Zeit seines Lebens verbringen sollte. Bis 1881 blieb er in Nordhausen als Prediger der freien Gemeinde tätig. Er »prägte wie kaum ein anderer das geistige Leben Nordhausens in dieser Zeit«.50 Bevor auf seine vielfältigen Aktivitäten im gesellschaftlichen Leben der Stadt wie auf seine Bedeutung für die Freikirchenidee und die Vegetarierbewegung eingegangen wird, soll im Folgenden seine politische Position näher betrachtet werden.

47 Vgl. Peter Kuhlbrodt: Chronik der Stadt Nordhausen 1802 bis 1989. Horb am Neckar 2003, S. 49 – 88, hier S. 76 f. Vgl. auch Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 60 – 63. 48 Ebenda, S. 61. Was ihn besonders empörte, war, dass kein Austausch der Argumente möglich erschien. »Nicht einmal ein wissenschaftliches Interesse wob sich hinein, nicht einmal ein politisches Problem fiel dabei in die Waagschale: nichts als eine brutale Machtfrage! Nichts als giftiger Haß und Mißtrauen seitens der Orthodoxie!« (ebenda, S. 61 f.). 49 Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 44), S. 435. 50 Kuhlbrodt, Chronik (wie Anm. 47), S. 104.

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3.

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»Ich bin grundsätzlich Republikaner«51 – politische Positionen im Aufbruch 1848

Die freie Gemeinde Nordhausen gilt als ein Paradebeispiel für »die institutionelle Verflechtung von religiöser Reform und Revolutionsbewegung.«52 Baltzers grundsätzliche demokratische Haltung wurde von den anderen Gemeindemitgliedern geteilt. Als die Nachrichten von der Märzrevolution von 1848 bekannt wurden, brach in der Gemeindeversammlung Jubel aus. In den folgenden Tagen steigerte sich die politische Aktivität. Friedrich Schünemann, wie Baltzer Prediger der Gemeinde, berichtete: »[D]ie Versammlungen sind fast permanent, so wie ein Blatt ankommt, besteigen Baltzer oder ich die Tische und lesen seinen Inhalt vor, von der Menge bald mit ernstem Nachdenken gefolgt, bald von lautem Jubel unterbrochen. Selten geht man vor 1 Uhr Nachts auseinander.«53

Diese Politisierung beförderte Baltzer bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in Nordhausen aufs politische Parkett. Auf Vorschlag Robert Blums wurde er Mitglied des Frankfurter Vorparlaments und anschließend Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung. Er hätte lieber für die Paulskirche kandidiert, ließ aber aufgrund einer internen Absprache dem Mediziner Wilhelm Hoffbauer den Vortritt, mit dessen Positionen er voll und ganz übereinstimmte.54 So wurde Baltzer der Abgeordnete Nordhausens in der »Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung«, wie die verfassungsgebende Nationalversammlung offiziell hieß. Seinen Wählern hatte er seine Positionen deutlich gemacht: Er sei grundsätzlich Anhänger der Republik, »weil sie allein die volle Geltung und Achtung des Menschenrechts zu ihrer Grundlage hat.«55 Seine Vorbilder waren die Schweiz, für ihn »in Europa verhältnismäßig der stärkste, freieste und glücklichste – vor Allem ruhigste Staat« und die USA, »das stärkste, freieste, glücklichste Land der Erde.«56 Schon die Betonung der Ruhe im Schweizer Fall deutet an, dass Baltzer keine gewaltsame, revolutionäre Veränderung wollte. Er gehöre »zu der Partei, die ächte [sic] Demokratie erstrebt, ohne sie mit Waffengewalt

Eduard Baltzer : Baltzer an seine Wähler! Eine persönliche Erklärung. Nordhausen 1849, S. 4. Paletschek, Frauen und Dissens (wie Anm. 15), S. 63. Zit. nach ebenda. Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 73. Hoffbauer war Radikaldemokrat (Fraktionen Donnersberg und Centralmärzverein) und emigrierte 1851 als politischer Flüchtling in die USA. 55 Baltzer, Wähler (wie Anm. 51), S. 4. 56 Ebenda, S. 5. Hier auch das folgende Zitat.

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aufdringen zu wollen.« Wiederholt formulierte er das Credo: »Das beste Mittel, die Revolution fern zu halten, ist fortgesetzte, willige, weise Reform.«57 Baltzer ging deshalb nicht davon aus, dass aus Deutschland oder aus Preußen bereits im Jahr 1848 eine Republik werden könnte. Die Schwere der Aufgabe liege darin, »einen Staat von so complizirten Verhältnissen wie der Preußische aus seinem feudalistischen Gefüge vollends zu einem freien Staate organisch umzubilden.«58 Eine »demokratisch konstitutionelle Monarchie«59 strebe er an, möglichst in einem geeinten Deutschland. Vor allem ging es ihm um konkrete Veränderungen: Aufhebung der Standesvorrechte, Steuergerechtigkeit, Justizreform, Demokratisierung des Heeres, Zugänglichkeit öffentlicher Ämter und Abschaffung der Todesstrafe. Er wandte sich gegen das Zensuswahlrecht, da dies »dem Capital Rechte zuschreiben, welche im vernünftigen Staat nur Menschenrechte sind«60. Ein sehr wichtiges Anliegen war ihm die Kommunalreform auf der Grundlage der demokratischen Selbstregierung der Gemeinden. Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass Baltzer den von der königlichen Bürokratie vorgelegten Verfassungsentwurf61 nicht zu akzeptieren bereit war, weil er diesen als Ausdruck eines »Schein-Konstitutionalismus«, als »constitutionelles Konterfei des alten absolutistischen Staates«, ansah.62 Das wichtigste Signal der Preußischen Nationalversammlung sah er deshalb in dem Beschluss, einen eigenen Entwurf zu erarbeiten. Baltzer selbst wurde dann auch Mitglied der hierzu einberufenen 24-köpfigen Verfassungskommission. Diese nahm ihre Arbeit am 17. Juni auf und übergab am 26. Juli den Verfassungsentwurf, der zumeist nach dem Kommissionsvorsitzenden, dem linksliberalen Benedikt Waldeck, später einer der führenden Politiker der Fortschrittspartei, betitelt wurde.63 Die Kommission, am 1. Juni 1848 mit 188 zu 142 Stimmen gewählt, war ohne Zweifel eher von der Linken dominiert. Die »Charte Waldeck« orientierte sich zwar am Ministerialentwurf, veränderte aber eine Vielzahl von Artikeln im liberaldemokratischen Sinne. Insbesondere die von ihr vorgeschlagene Umwandlung des absoluten Vetos des Königs in ein dispensives galt den Konser-

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Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 105. Ders., Wähler (wie Anm. 51), S. 17. Ebenda, S. 8 und passim, zumeist die Formulierung: »demokratische Monarchie«. Ebenda, S. 7. »Entwurf eines Verfassungstexts für den Preußischen Staat vom 20. 5. 1848«, in: Michael Kotulla: Das konstitutionelle Verfassungswerk Preußens (1848 – 1918). Eine Quellensammlung mit historischer Einführung. Heidelberg 2003, S. 78 – 89. 62 Baltzer, Wähler (wie Anm. 51), S. 11. 63 Zur »Charte Waldeck« vgl. Ernst Rudolf Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850. Stuttgart 31988, S. 730 – 732 und Kotulla, Das konstitutionelle Verfassungswerk (wie Anm. 61), S. 7 – 10 mit der Edition des Originals S. 89-105.

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vativen als deutliches Zeichen für die monarchiefeindliche Grundrichtung des Entwurfs.64 Baltzer erwies sich als engagierter Ausschussmitarbeiter, der noch weiterführendere demokratische Positionen vertrat als die Ausschussmehrheit. Relativ häufig gab er Minderheitenvoten zu Protokoll, etwa für die absolute Unverletzbarkeit des Briefgeheimnisses, die Ablösung des Eides durch ein feierliches Gelöbnis, die Begrenzung militärischer Rangunterschiede und für den staatlichen und nicht-konfessionellen Charakter der Volksschule.65 Er setzte sich für Religionsfreiheit, die weitgehende Trennung von Kirche und Staat und Pressefreiheit ein. Als eigentlicher Gegner des Zweikammersystems votierte er, als dieses nicht zu verhindern war, für die Direktwahl beider Kammern ohne Zensus durch alle Wahlberechtigten.66 Obwohl er seine Maximalforderungen nicht durchsetzen konnte, war Baltzer zufrieden mit dem Ergebnis der Kommission und legte nach der Abgabe des Entwurfs einen Kurzurlaub in der Heimatgemeinde ein, der jedoch unerwartete Folgen haben sollte.67 Er hielt einen politischen Vortrag in Ellrich, das zu seinem Wahlkreis gehörte. Dabei wurde er bei einem Anschlag lebensgefährlich verletzt. Baltzer blieb auf einem Ohr taub, litt vor allem jedoch bis zum Rest seines Lebens unter den schmerzhaften Folgen innerer Organverletzungen. Durch das Attentat verpasste er etliche weitere Sitzungen der Preußischen Nationalversammlung und kehrte erst Ende Oktober nach Berlin zurück. Am 26. Oktober 1848 nahm er als Vertreter des Demokratischen Vereins Nordhausen am 2. Demokratenkongress in Berlin teil.68 Am 9. November erlebte er den offenen Konflikt zwischen Nationalversammlung und König, als dieser die Verlegung der Versammlung nach Brandenburg angeordnet hatte, jene sich aber weigerte, Berlin zu verlassen. Die Mehrheit der Versammlung, zu der auch Baltzer gehörte, wollte ihre Arbeit fortsetzen und »handelte konsequent, wenn sie den Widerstand gegen den gouvernementalen Staatsstreich proklamierte«69, wie auch Ernst Rudolf Huber meint. Am 10. November ließ der König jedoch Truppen auffahren und den Tagungsort belagern.

64 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 732. 65 Vgl. K.G. [Karl Friedrich] Rauer (Hg.): Protokolle der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Verfassung ernannt gewesenen Verfassungs-Kommission. Berlin 1849, S. 21, 38, 40, 43, 47, 49 (in der Reihenfolge der Erwähnung). 66 Vgl. ebenda, S. 64 f., 68. 67 Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 74; zu den nachfolgenden Ereignissen ebenda, S. 75 – 77. 68 Vgl. Kuhlbrodt, Chronik (wie Anm. 47), S. 80. 69 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 62), Bd. 2, S. 753.

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»Nach förmlichem Protest verließen die Abgeordneten in geschlossenem Zug, von ihrem Präsidenten geführt und von der Bürgerwehr eskortiert, das Sitzungsgebäude.«70

Die Enttäuschung, ja das Entsetzen über diese Entwicklung spiegelt sich in der Schrift »Baltzer an seine Wähler!« wider, die er im Januar 1849 drucken ließ und in der er neben einem Rechenschaftsbericht und einer kritischen Analyse der oktroyierten Verfassung vom Dezember 1848 die Erklärung abgab, dass er sich aus der aktiven Politik zurückziehen werde. Er beklagte sich über »die geheimen Fäden der politischen Intrique [sic] und der persönlichen Verdächtigung«71 und zeichnete das Selbstbild eines Parlamentariers, der zwischenmenschlich ein respektvolles Verhältnis auch zu Andersdenkenden aufrechterhalten habe.72 Besonders verbittert war Baltzer über die folgenreiche Spaltung des bürgerlichen Lagers.73 Da er seine Position als die vernunftbegründete Wahrheit ansah, war er nicht zu Kompromissen bereit und verweigerte sich so einer gemäßigten Linie. Wenn er von »den frechen Lügen, die ein Herr Bassermann dem deutschen Vaterlande plumper Weise ins Angesicht geworfen«74 habe, sprach, so fällt dies umso mehr auf, als er sich sonst mit namentlichen Anschuldigungen in gedruckten Texten zurückhielt. Zu bedenken ist, dass – wie Hans-Werner Hahn festgestellt hat – »sich im thüringischen Raum die Trennungstendenzen zwischen demokratischen und liberalen Kräften vor dem Ausbruch der Revolution […] noch nicht so bemerkbar gemacht zu haben [schienen] wie in anderen Teilen Deutschlands.«75 Mit Ausbruch der Revolution festigte sich nun – wohl auch durch die personelle Konstellation und das Charisma der beteiligten Personen – die demokratische Hochburg in der Stadt Nordhausen. So wurde Baltzer, nachdem er am 15. August 1849 wegen Majestätsbeleidigung angeklagt, dann aber am 3. September freigesprochen worden war, mit großem Jubel und einer öffentlichen Feier in Nordhausen empfangen.76 Auf den ersten Blick spricht Baltzers Rückzug aus der überregionalen Politik durchaus für das zu Beginn dieses Aufsatzes skizzierte Bild eines enttäuschten 1848er-Revolutionärs. Gäbe es nicht »bessere Männer«, so begründet er seinen Schritt, dann wäre er zu einer weiteren Kandidatur bereit. In Nordhausen seien 70 Ebenda, S. 754. Kuhlbrodt, Chronik (wie Anm. 47), S. 80, erwähnt ein Schreiben Baltzers an seine Wähler von diesem Tag (»Das Vaterland ist in Gefahr!«), das an dieser Stelle nicht ausgewertet werden konnte. 71 Baltzer, Wähler (wie Anm. 51), S. 10. 72 Ders., Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 78 – 80. 73 Vgl. dazu Hans-Werner Hahn / Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49. Stuttgart 2010, S. 576 f. 74 Baltzer, Wähler (wie Anm. 51), S. 11. 75 Hahn, Demokratische und liberale Vereinsbewegung (wie Anm. 16), S. 227. 76 Kuhlbrodt, Chronik (wie Anm. 47), S. 82.

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diese »besseren Männer« allerdings vorhanden. Wen er in der demokratischen Hochburg im Harz meinte, bringt er gedruckt nicht zu Papier. Wohl aber, was er selbst vorhatte: »Indem ich daher fortfahre, in und für die freie Gemeinde und deren Idee zu wirken, wirke ich für dasselbe Ziel, welchen Sie [die Wähler] wollen, aber wie ich glaube sicherer und mehr als in Berlin.«77

4.

Nordhausen, theologische Positionen, Politik und Theologie vor Ort

Sein Amt als Prediger und »Sprecher« der freien Gemeinde verstand Baltzer explizit politisch. Unter der Überschrift »Politik oder Religion?« formulierte Baltzer die Position der freien Gemeinde: »[F]ür uns ist dies kein Gegensatz, sondern Politik und Religion verhalten sich uns wie zwei concentrische Kreise, der größere ist die Religion, der Mittelpunkt beider das Bewusstsein des Menschen. […] Nur eine todte Religion kann sich in politischen Dingen für gleichgültig erklären«.78

Bei der Arbeit am größeren der konzentrischen Kreise gingen Baltzer und die freie Gemeinde sehr weit. Es ging ihnen relativ bald nicht mehr um eine Reform der Kirche oder des Protestantismus, sondern de facto um die Abschaffung des Christentums zugunsten einer neuen Religion, die sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützen und auf Liebe und Wahrheit gründen sollte, »um ihre höchste Entwicklung zu finden: die vorchristliche Zeit, das Christentum, die Zukunft.«79 Die Positionen Baltzers waren theologisch weder besonders originell noch innovativ, sondern speisten sich aus unterschiedlichen Quellen der Aufklärung, des Rationalismus, der Naturwissenschaft, des Linkshegelianismus und pantheistischen Vorstellungen.80 Eine solche Mischung war ganz typisch für die Weltanschauung innerhalb der religiösen Oppositionsbewegung dieser Zeit. Anhänger fand die Bewegung nach der sozialgeschichtlichen Auswertung Sylvia Paletscheks zufolge vor allem in klein- und unterbürgerlichen Schichten.81 77 Baltzer, Wähler (wie Anm. 51), S. 32. 78 Eduard Baltzer : Die Freie Gemeinde zu Nordhausen, ein Zeugniß aus ihr und über sie. Nordhausen 21851, S. 38. 79 Ders.: Ideen zur socialen Reform. Nordhausen 1873, S. 111. 80 Sylvia Paletschek weist darauf hin, dass die freireligiösen Theologen in der Communis Opinio der theologischen und geistesgeschichtlichen Forschung als »kleine Geister« eingestuft werden. Paletschek, Frauen und Dissens (wie Anm. 15), S. 111 mit S. 287, Anm. 124 Vgl. hierzu das einschlägige Kapitel ebenda, S. 111 – 115. 81 Vgl. ebenda, S. 85 – 96.

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Eduard Baltzer (1814 – 1887)

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Charakteristisch war dabei ein weiter Religionsbegriff. Religion, so führt Baltzer in seiner 1854 geschriebenen »Allgemeinen Religionsgeschichte« aus, sei »im Allgemeinen und wesentlich das lebende Gewissen des Menschen.«82 In Baltzers fortschrittsoptimistischer Analyse waren die »Anfänge jener religiösen Einheit und Freiheit, welche die Welt bedarf,« bereits gekommen: »Die freie Religiosität, je vollkommener sie wird, – sei es im Einzelnen, sei es in kleiner oder größter Gemeinschaft – sie bedarf des Namens Jesu nicht […] aber sie wird Geist von seinem Geiste sein«.83

Die Bibel sei zwar »eine erwürdige Urkunde der Religion«84, aber von Menschenhand geschrieben. Den Glauben an eine jenseitige Welt und an göttliche Offenbarungen gab Baltzer auf, da dieser naturwissenschaftlich widerlegt sei.85 Baltzer vertrat pantheistische Positionen, betonte zugleich die Innerlichkeit: »Die Welt ist Gottes voll, das Leben der Natur ist Gottes Odemzug, der Mensch ist der Sohn Gottes auf Erden, in der Menschheit erbaut sich das Reich Gottes auf Erden, sein Echo ist die Seligkeit in unserer Brust.«86

Als wichtigste Konsequenz ergab sich die Gegnerschaft zur bestehenden Kirche. Baltzer forderte zum Kirchenaustritt auf, um »frei« zu sein.87 Der kirchliche Ritus wurde abgeschafft, bzw. zur Privatsache.88 Im Jahr 1852 entwickelte Baltzer die »Jugendweihe«, welche die Konfirmation ersetzen sollte.89 Es ist nicht klar, wann und wie der als evangelischer Theologe ausgebildete Baltzer zu seinem neuen Weltbild kam, das um 1850 schon relativ ausgefeilt war, vor allem in den kirchenkritischen Passagen. Er selbst gibt den Hinweis auf die Lektüre von David Friedrich Strauß’ Jesus-Biografie während des Studiums.90 Bei ihrer Gründung am 5. Januar 1848 war die freie Gemeinde Nordhausen nicht die erste und nicht die einzige in Preußen.91 In Königsberg und Halle existierten schon freireligiöse Organisationen. Es folgten etwa parallel zu Nordhausen die Gemeinden in Neumarkt, Halberstadt, Marburg und Magde82 Eduard Baltzer : Allgemeine Religionsgeschichte. Ein Handbuch für Denkende, insbesondere für Lehrer und Schüler. Nordhausen 1854, S. 1. 83 Ders.: Das Leben Jesu. Nordhausen 21861, S. 194. Die erste Auflage erschien 1860. 84 Eduard Baltzer, 1861, zit. nach Barlösius, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 18), S. 42. 85 Vgl. ebenda, S. 42 f. 86 Eduard Baltzer : Alte und neue Weltanschauung. Vorträge, gehalten in der freien Religionsgemeinde zu Nordhausen. Nordhausen 21859, S. 3. 87 Ders., Freie Gemeinde (wie Anm. 78), S. 7. 88 »Taufe, Abendmahl, Trauung sind Privatsachen.« Ders., Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 67. 89 Vgl. Joachim Chowanski / Rolf Dreier : Die Jugendweihe. Eine Kulturgeschichte seit 1852. Berlin 2000, S. 12 – 19. 90 David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. 2 Bde. Tübingen 1835/1836. Erwähnung bei Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 25. Weitere Überlegungen dazu folgen unten im Schlussabsatz. 91 Vgl. hierzu und zum Folgenden Paletschek, Frauen und Dissens (wie Anm. 15), S. 34 – 36.

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burg. Die freireligiösen Gründungen wurden durch das Toleranzedikt unter Friedrich Wilhelm IV. vom 10. April 1847 legitimiert. Nun waren der Kirchenaustritt und der Aufbau freier Strukturen juristisch möglich. Die Fragen der Religion und der Kirchenverfassung spielten bekanntlich eine nicht unerhebliche Rolle im Revolutionsgeschehen 1848. Die Gründungen können als Teil der Revolutionsbewegung angesehen werden. Man schrieb Flugblätter und parlamentarische Petitionen, organisierte Vereinsaktivitäten, teilweise begleitet von Tumulten und Demonstrationen.92 Von Anfang an waren Frauen in den Gemeinden aktiv, in Nordhausen waren sie explizit gleichberechtigt. In den ersten Jahren wuchs die Nordhäuser Gemeinde enorm und zählte bald 500 Mitglieder.93 Der Preußische Staat ließ die freireligiösen Nordhäuser zunächst gewähren. Dies änderte sich nach Erlass des Preußischen Vereinsgesetzes vom März 1850. Bereits einen Monat später wurde die Gemeinde zur Einreichung des Status und der Mitgliederliste aufgefordert, da sie als politischer Verein der polizeilichen Aufsicht unterstehe.94 Die freie Gemeinde bestand auf ihrem Status als Religionsgemeinschaft und weigerte sich. Im Februar 1852 wurde die Gemeinde verboten, da sie durch die Zulassung von Frauen, Schülern und Lehrlingen gegen das Vereinsgesetz verstoßen habe. Der Vorsitzende Baltzer musste sich mit dem gesamten Vorstand vor Gericht verantworten. Im Januar 1853 wurden gleichzeitig die Wohnungen der Beteiligten durchsucht und alle Akten der freien Gemeinde (bei Baltzer auch »gegen 400 Privatbriefe«) beschlagnahmt.95 Baltzer rechnete mit der endgültigen Zerschlagung der Gemeinde und schmiedete Pläne, nach Chile auszuwandern. Zu seiner Überraschung endete das Gerichtsverfahren jedoch mit einem Freispruch. Die freie Gemeinde nahm im Juli 1853 ihre Tätigkeit wieder auf. Baltzers Führungsposition war unumstritten: »Durch sein schlichtes Auftreten, das frei von jeder herausfordernden Geste war, durch seine warme Beredsamkeit, der alle Aufreizung fern lag, gewann er sich die Herzen.«96 Im September 1847 hatten sich die freien protestantischen Gemeinden zum »Verein freier Gemeinden« zusammengeschlossen, mit Nordhausen als Gründungs- und Hauptort und Eduard Baltzer als Vorsitzendem. 1859 kam es, nach mehreren vergeblichen Versuchen, in Gotha zur Vereinigung mit den 92 Ebenda, S. 61. 93 Vgl. Hahn, Demokratische und liberale Vereinsbewegung (wie Anm. 16), S. 227. Sie war damit nach Magdeburg die zweitgrößte, so Paletschek, Frauen und Dissens (wie Anm. 15), S. 35. Laut Chowanski / Dreier, Die Jugendweihe (wie Anm. 86), S. 18, seien es sogar über 1000 Mitglieder gewesen. 94 Vgl., auch zu den folgenden Ereignissen: Heine, Eduard Baltzer (wie Anm. 14), S. 329 f. 95 Vgl. ebenda und Chowanski / Dreier, Die Jugendweihe (wie Anm. 86), S. 17. Zum Zitat und zum Folgenden: Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 83. 96 Heine, Eduard Baltzer (wie Anm. 14), S. 330.

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Deutschkatholiken im »Bund freier religiöser Gemeinden«.97 Vorsitzender wurde Eduard Baltzer und blieb es bis 1871. Ein weiterer Tätigkeitsbereich war auch die Kommunalpolitik. Baltzer wurde bereits im ersten Jahr seines Aufenthalts in Nordhausen zum Stadtverordneten gewählt. Dem Kommunalparlament gehörte er nach einer Unterbrechung dann wieder von 1861 bis 1881 an, wobei er zwischen 1865 und 1874 als Stadtversammlungsvorsteher fungierte.98 Mit seinem Namen wird die Verbesserung der städtischen Trinkwasserversorgung verbunden; in seinen Lebenserinnerungen erwähnt er die Querelen um die Wasserleitung aus dem Harz, die letztlich um das hannoversche Gebiet herumgelegt werden musste.99 Baltzer gilt auch als »die treibende Kraft bei der Einbeziehung Nordhausens in das Eisenbahnnetz in den Jahren 1866 – 1869«.100 Sein hauptsächliches Engagement entwickelte er jedoch ohne Zweifel im Bildungsbereich. Besonders das anwendungsorientierte Schulwesen der Stadt lag ihm Herzen. Seinen Konzepten war die Rettung der Realschule ebenso wie der Aufbau einer Mittelschule zu verdanken.101 Dagegen scheiterte die von Baltzer relativ früh initiierte Gründung des ersten FröbelKindergartens in Preußen im Januar 1851. Da ihm nach Ansicht des Kultusministers »eine dem Christentum abgewandte und höchst verworrene Idee zugrunde liegt«102, wurde ein Verbot sämtlicher Kindergärten in Preußen ausgesprochen, das bis 1861 gültig bleiben sollte. Baltzer war ein ungemein fleißiger Redner, wobei etliche seiner Vorträge auch gedruckt wurden. In Rahmen seiner Predigertätigkeit, seiner Funktion als Verbandsvorsitzender, später aber auch als Vorsitzender des Vegetariervereins, unternahm er umfangreiche Vortragsreisen.103 Referate, die sich an ein über den engeren Kreis der freien Gemeinde erweitertes Publikum richteten, hielt er zumeist im Rahmen des von ihm mitbegründeten Männerbildungsvereins.104 Nicht unerwähnt bleiben darf Baltzers Bedeutung für die Entwicklung der lokalen Presse. Nicht nur, dass die Freireligiösen eine eigene Zeitung105 her97 98 99 100

101 102 103 104 105

Vgl. Paletschek, Frauen und Dissens (wie Anm. 15), S. 39. Vgl. Heine, Eduard Baltzer (wie Anm. 14), S. 335. Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 92. Heine, Eduard Baltzer (wie Anm. 14), S. 337. Interessanterweise erwähnt Baltzer diesen Punkt in seinen Lebenserinnerungen nicht. Es kann nur spekuliert werden, ob er wegen der später ausgereiften ökologischen Vorstellungen der Eisenbahn in fortgeschrittenerem Alter skeptischer gegenüberstand. Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 92 und Heine, Eduard Baltzer (wie Anm. 14), S. 336. Zit. nach ebenda, S. 337. Heinrich Heine berichtet beispielsweise von einer Reise durch Schlesien mit 32 unterschiedlichen (!) Vorträgen in 19 Tagen; vgl. ebenda, S. 330 f. Vgl. ebenda, S. 338. Der Name des Vereins war so gewählt, um den Behörden keinen Anlass zur Intervention zu bieten, da Frauen nach dem preußischen Vereinsrecht von politischen Diskussionen ausgeschlossen waren. Bereits am 2. Dezember 1847 wurde die Zeitung »Die freie Gemeinde« begründet. Vgl.

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ausgaben, vor allem war Baltzer an der Gründung der »Nordhäuser Zeitung« am 1. April 1848 beteiligt. In dieser neuen Tageszeitung wurde sehr viel über Politik berichtet. »Baltzer war ihr geistvollster Mitarbeiter, seine Leitartikel trafen stets den Kern der zu behandelnden Frage und waren ausschlaggebend für das Urteil weitester Kreise. Er gab der Zeitung auch ihre politische Richtung«.106

5.

Der Vegetarier – ein neues Leben und die Fortentwicklung ethischer Vorstellungen

Das Leben als Prediger der freien Gemeinde war sicherlich nicht einfach, nicht nur wegen der Anklagen und Untersuchungen; oft »konnte man sich vor Prozessen schwer retten.«107 Auch finanzielle Probleme traten auf, da die freie Gemeinde ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge finanziert wurde. Barlösius weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die freien Gemeinden in den 1860er Jahren immer weiter verkleinerten. Es wurde klar : Die Ideen der Freireligiösität setzen sich nicht durch. Baltzer müsse, so vermutet Barlösius, sein Engagement für die freie Gemeinde »letztlich als gescheitert interpretiert haben.«108 In der Tat ließe sich damit erklären, mit welch großem Engagement sich Eduard Baltzer seit 1866 dem Vegetarismus und seiner Verbreitung widmete, der ihm als eine Art Weiterentwicklung oder Vervollkommnung bereits entwickelter ethischer und religiöser Vorstellungen erschien. Im Jahr 1866, im Alter von 53 Jahren, wurde Eduard Baltzer Vegetarier. Der Kontakt mit einem Besucher, der Baltzer in Nordhausen zur freien Gemeinde befragen wollte, brachte ihn dazu. Der Gast schlug eine Einladung zum Essen aus. Auf Nachfragen erklärte er, dass er Vegetarier sei und den Gastgeber nicht in Verlegenheit bringen wolle. Baltzers Interesse war geweckt. Schließlich verweist der Besucher ihn auf die bestehende Bewegung und die erschienene Literatur, insbesondere die Schriften des Apothekers und Heilpraktikers Theodor Hahn.109 Für Baltzer war, wie seine Tochter in einem Nachruf betonte, der »Vegeta-

106 107 108 109

Kuhlbrodt, Chronik (wie Anm. 47), S. 78. Später nennt sie sich »Freie Gemeindehalle« und wird von Baltzer herausgegeben. Vgl. Chowanski / Dreier, Die Jugendweihe (wie Anm. 86), S. 16. Eine systematische Auswertung dieser Periodika steht noch aus. Heine, Eduard Baltzer (wie Anm. 14), S. 337. Baltzer war für die Nordhäuser Zeitung auch als Korrespondent unterwegs, besuchte etwa den »Fürstentag« in Frankfurt am Main am 16. Oktober 1863. Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 91. Ebenda, S. 80. Barlösius, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 18), S. 44. Zu Theodor Hahn vgl. ebenda, S. 68-82.

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rismus keine kleine Magenfrage, sondern eine ganze Weltanschauung«.110 Der Verzicht auf Fleisch war dabei nur eine Facette der neuen Ideologie, die Baltzer bald »naturgemäße Lebensweise« nannte: Enthaltsamkeit und Fokussierung auf die Arbeit, der Verzicht auf Alkohol, Tabak und andere Rauschmittel, Bewegung in der frischen Luft, ein gewisser Sonnenkult und andere Aspekte waren mit der Ernährungsfrage verbunden. Zu beachten ist, dass die vegetarische Bewegung 1866 schon relativ weit entwickelt war. Mit der Aufklärung – hier ist insbesondere Rousseau zu nennen – wurden grundsätzliche tierethische Fragen gestellt. Und in den angloamerikanischen Ländern formierten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Vereine und Gesellschaften, erschienen Schriften und Ratgeber.111 Eine besondere Rolle spielte Jean Antoine GleizÀs (1773 – 1843), ein französischer Privatgelehrter, der seine Gedanken zu einem komplexen System ausgebaut hatte und bei den frühen Vegetariern geradezu Kultstatus erlangte.112 Begründet wurden die Positionen zum einen mit wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen. Zum anderen wurde immer wieder der Verweis auf die Antike, vor allem auf Pythagoras und Plutarch, stark gemacht. Naturwissenschaftliche und historische Begründung – beides sprach Baltzer gleichermaßen sehr an. Vor allem passte der Vegetarismus in sein diesseitsbezogenes freireligiöses Denksystem. Ohne Zweifel kann der Erfolg des neuzeitlichen Vegetarismus auch durch seine Industrialisierungskritik erklärt werden, die als Teil eines kritischen »Naturismus« angesehen werden kann.113 Auch für Baltzer spielten zivilisationskritische, ökologische Vorstellungen eine Rolle. 1868 führte er aus: »Grosse Städte, Fabrikräume, dunkele Schlafgemächer, Kellerwohnungen und dergl., feuchte Zimmer, in denen die Wände schwitzen, Berufsarten mit üblen Ausdünstungen, Düngergruben in den Gehöften, übervölkerte Wohnhäuser u. s. w. sind gesundheitsgefährlich, und nach Möglichkeit zu bekämpfen.«114

Und 1873 fragte er : »Stehen nicht unsere Grossstädte auf völlig durchseuchtem Boden? […] unsere Grossstädte concentrieren so viele Giftstoffe, dass in ihren

110 Helene Lichtenauer : ›Nachschrift‹, in: Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 108 – 110, hier S. 109. 111 Vgl. James Gregory : Of Victorians and Vegetarians. The Vegetarian Movement in Nineteenth-century Britain. London / New York 2007; vgl auch Colin Spencer : Vegetarism. A History. New York / London 1996. 112 Jean Antoine GleizÀs: Thalysie, ou La Nouvelle Existence. Paris 1840. »Kennen Sie die Thalysie von GleizÀs?« war eine der ersten Fragen Struves in seinem in Anm. 1 zitierten Brief an Baltzer. 113 Zum Naturismus-Begriff vgl. Hans-Jürgen Teuteberg: Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus, in: VSWG 81 (1991), S. 33 – 65, hier S. 36. 114 Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 25.

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schönsten Strassen die Bäume absterben (Unter den Linden in Berlin!) und da soll gesundes Leben sein??«115 Das System des Vegetarismus verband jedoch weitere, von Baltzer vertretene ethische Vorstellungen: die Achtung des Göttlichen in der Natur, die Vervollkommnung der Moral des Einzelnen, die Entwicklung eines (religiösen) ethischen Selbstbewusstseins, aber auch die Schaffung einer gewaltfreien sozialen Bewegung, die naturwissenschaftlich begründet sei und zudem zu einer Reform der Volkswirtschaft führen werde. Mit Theodor Hahn sah er den »Vegetarismus als neues Heilprinzip zur Lösung der sozialen Frage«116 an. Innerhalb kürzester Zeit wurde Baltzer zum »wichtigste[n] Theoretiker und Organisator der vegetarischen Bewegung in Deutschland«.117 Er hielt Vorträge und publizierte ein vegetarisches Kochbuch, das 22 Auflagen bis zum Jahr 1939 erleben sollte.118 Relativ zügig erschienen auch seine theoretischen Abhandlungen: »Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und zu sozialem Heil«119 bereits 1867 und im selben Jahr als zweiter Band der Reihe: »Die Reform der Volkswirthschaft«.120 Die Sammlung mit Briefen an Rudolf Virchow dokumentierte seinen wissenschaftlichen Streit mit der Schulmedizin.121 Zudem publizierte er 1868 eine Pythagoras-Biografie.122 Schließlich folgte 1872 sein Buch zum »Vegetarismus in der Bibel«.123 Diese Schriften erhoben einen akademischen Anspruch. Baltzer war sich sicher, wissenschaftlich nachweisen zu können, dass der Mensch von Natur aus ein Fruchtesser124 sei, dass das klassische Altertum die gesundheitliche und soziale Bedeutung des Vegetarismus gekannt habe und der Vegetarismus die sittliche Grundlage der Bibel darstelle. Auch von Jesus »darf man annehmen, daß er im Sinne jener Zeit in hohem Grade ein Freund der natürlichen Lebensweise gewesen ist«125, so Baltzer. 115 Baltzer, Ideen zur socialen Reform (wie Anm. 79), S. 106. 116 Theodor Hahn: Der Vegetarismus als neues Heilprinzip zur Lösung der sozialen Frage. Seine wissenschaftliche Begründung und seine Bedeutung für das leibliche, geistige und sittliche Wohl des einzelnen, wie der gesammten Menschheit. Berlin 21873. 117 Teuteberg, Sozialgeschichte des Vegetarismus (wie Anm. 113), S. 51. 118 Eduard Baltzer : Vegetarianisches Kochbuch für Freunde der natürlichen Lebensweise. Nordhausen 31869. 119 Ders.: Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und zu sozialem Heil. Nordhausen 1867. 120 Ders.: Die Reform der Volkswirthschaft vom Standpunkt der natürlichen Lebensweise (= Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und sozialem Heil, Bd. 2). Nordhausen 1867 121 Ders.: Briefe an Virchow (wie Anm. 11). Die Publikation war Band 3 der Reihe. 122 Ders.: Pythagoras. Der Weise von Samos. Ein Lebensbild. Nordhausen 1868. 123 Ders.: Vegetarismus in der Bibel (= Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und sozialem Heil, Bd. 4). Nordhausen 1872. 124 Ders., Die natürliche Lebensweise (wie Anm. 119), S. 24 – 29. 125 Ders., Vegetarismus in der Bibel (wie Anm. 123), S. 79.

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Sein System enthält einige apodiktische Vorannahmen über das »Natürliche«, bzw. den »Instinkt«. Bei den 18 Punkten, die Baltzer als »instinktwidrig« aufführte, wurde der Fleischkonsum erst an sechster Stelle genannt: Abgelehnt wurden Narkotika, alle Gewürze, scharfe Nahrungsmittel, Tee, Kaffee, Kakao, sehr kalte oder sehr warme Speisen, starke Gerüche, Unsauberkeit und sogar menschliche Faulheit: »Alle Erschöpfungen sind instinktwidrig, wie die Faulheit auch. Arbeit, d. h. hier nur Bewegung des Gesamtorganismus, ist Bedingung des Lebens.«126

Sowohl in der Theologie, als auch in der Medizin und der Volkswirtschaft fand Baltzer Belege für seine Weltanschauung. Dass das Baltzersche System eine Reihe von Fehleinschätzungen, unbewiesenen Voraussetzungen und inneren Ungereimtheiten enthielt, braucht nicht näher thematisiert zu werden. Dies erschwert dem heutigen Leser sicherlich den direkten Zugang zu den umfangreichen und manchmal umständlichen Schriften. Unter seinen Zeitgenossen fand Baltzer jedoch bald etliche Anhänger.127 Baltzer blieb Prediger der freien Gemeinde bis zu seinem letzten Tag in Nordhausen und trennte diese Tätigkeit von seiner »vegetarischen Mission«, indem er den Vegetarismus nicht im Rahmen seiner Tätigkeit in der freien Gemeinde thematisierte. Hier gab es eine klare Vereinbarung, da die freie Gemeinde pluralistisch ausgerichtet sein sollte. Vielmehr sprach er über den Vegetarismus zunächst im Nordhäuser Männerbildungsverein und strebte dann eine separate Vereinsbildung an: Am 21. April 1867 gründete sich in Baltzers Wohnung der »Verein für natürliche Lebensweise«, der bald auch eine eigene Zeitschrift herausgab, das »Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer)«. Der Verein wuchs sehr schnell und Nordhausen wurde in den nächsten Jahrzehnten ein Zentrum des Vegetarismus.128 Aus Anlass der Vereinsgründung nahm Baltzer Verbindung zu Gustav Struve auf, von dem er wusste, dass dieser in der Zeit der 1848er Revolution Vegetarier gewesen war.129 Die beiden hatten offensichtlich seitdem keinen persönlichen Kontakt mehr gehabt. Jetzt hatte Baltzer den Auftrag, zu eruieren, ob man Struve zum Eh126 Vgl. Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 20 – 25. Zitat S. 24. 127 Auch seine Familie habe er nicht zur neuen Lebensweise gezwungen, sondern mit Argumenten überzeugt, so Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 88 f. 128 Das erste Vereinsheft (1. Juni 1868) listete 106 Mitglieder auf, das zweite Heft (1. August 1868) bereits 153 und das dritte Heft (1. Oktober 1868) sogar 202. Im Jahr 1884 hatte der Verein 386 Mitglieder, so Herrmann, Adressbuch für Vegetarianer (wie Anm. 9), S. 69. Vgl. ansonsten Judith Baumgartner : Die Entstehung der vegetarischen Vereine, in: Der Vegetarier 1992/43, S. 99 – 104. 129 Vgl. hierzu Vereins-Blatt für Freunde der natürlichen Lebensweise (Vegetarianer) 1 (1868), S. 6 – 8.

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renvorsitzenden des Vegetariervereins wählen könne, was de facto bedeutete: Man musste zunächst einmal herausfinden, ob Struve denn überhaupt noch Vegetarier war. Er war es und zeigte sich begeistert über die Anfrage. Das Eingangszitat des Aufsatzes stammt aus dieser Kontaktaufnahme. Mit der Publikation eines Vereinsblattes verband sich von Anfang an die Vorstellung, eine überregionale Leserschaft ansprechen zu wollen und die baldige Gründung eines nationalen Dachverbandes vorzubereiten. Man plane, »die wenigen Freunde unserer Sache, die es zur Zeit in Deutschland giebt, zu sammeln, und so vielleicht die erste Zelle zu bilden, aus der mit der Zeit das Grössere sich gestalte«.130 Bereits am 9. Juli 1868 erklärte sich der Nordhäuser Verein zum »Deutschen Verein für natürliche Lebensweise«.131 Als Zugangsvoraussetzung wurde bald die Versicherung festgelegt, »mindestens 14 Jahr lang kein Fleisch und Nichts vom Fleische irgend eines Thieres genossen zu haben«.132 Mehrmals im Monat fanden Vereinstreffen statt. Man tauschte Erfahrungen und Rezepte aus, hörte Vorträge; es wurde »in parlamentarischer Weise verhandelt«133, wobei Frauen gleichberechtigt waren. 1870 freute sich der Vorstand, »dass in unserm Vereine Juden und Christen, Protestanten und Katholiken wie Dissidenten, friedlich neben einander sich befinden und auch sonst die erwünschteste Mannichfaltigkeit [sic] herrscht«.134

In die Blütezeit des Vereins fallen der deutsch-französische Krieg und die Reichsgründung. Nach der Schlacht von Sedan hatte sich der Pazifist Baltzer in der Nordhäuser Zeitung für einen raschen Friedenschluss ausgesprochen, was ihm den Unmut nationalistischer Mitbürger eingebracht hat.135 Erstaunlicherweise (aber gar nicht so untypisch für viele 1848er) begrüßte er die Reichsgründung überschwänglich. Es sei »die größte Tat des Jahrhunderts, die beginnende Verwirklichung auch meiner politische Ideale«.136 Es ging ihm dabei, so erklärt er, um die nationale Einheit, die nur unter preußischer Führung denkbar gewesen sei. Er sah ein Anknüpfen an seine Verfassungsarbeit zugunsten einer konstitutionellen Monarchie und betonte, dass er eine Reichseinheit wünsche, allerdings »ohne den Chauvinismus zu teilen, der soviel Elend erzeugt.«137 An anderer Stelle hatte er ausgeführt:

130 131 132 133 134 135 136 137

Ebenda, S. 4 f. Ebenda, S. 26. Ebenda 3 (1870), S. 309. Ebenda 1 (1868), S. 5. Ebenda 3 (1870), S. 306. Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 91. Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 91.

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»Wir Deutschen haben keine Colonien, weil wir keine Seemacht hatten, sie zu erwerben und zu beschützen. So haben wir uns freilich ohne unser Verdienst, die Fehler des Colonialsystems erspart.«138

Konsequenterweise forderte Baltzer »das Recht staatlicher Selbständigkeit«139 für bestehende Kolonien. Allerdings finden sich auch wertende Aussagen zu verschiedenen Nationen. So schlug er 1882 in der zweiten Auflage seines Buches zur Reform der Volkswirtschaft neue Töne an: »Das nächste Weltalter gehört dem Germanismus. […] Nur der Germane trägt seine Bestimmung bewusst in sich. […] Der Germanismus ist die Philosophie, der Protestantismus, die ewige Selbstverjüngung, die Religion«140

In seinem ein Jahr vor seinem Tod veröffentlichten Gedicht »Natur und Geschichte« beschreibt er die Kraft der Germania, die sich gegen die Römer wehrte, dann aber zu deren Beute wurde. Die Rom-Metapher greift er dann für die katholische Kirche, vielleicht sogar das Christentum im Ganzen auf, um im Schlusssatz zu enden: »Das Heil kommt – wenn den röm’schen Götzen / Wir Alle durch den ›Menschensohn‹ ersetzen.«141 Solche Aussagen mögen den heutigen Leser an spätere Entwicklungen im 20. Jahrhundert denken lassen, als sich – auch aus dem Vegetarismus heraus – völkisch-rassistische Positionen verbreiteten. Im diffusen Baltzerschen Denksystem zielte das, was er »Germanismus« nannte, auf die kulturelle Fähigkeit zu Reform und Reformation (»ewige Selbstverjüngung«), vor allem im religiösen Denken. Der Germanismus bedeutete ein vermeintliches kulturelles Potential, dass er in Deutschland, aber explizit auch in England und Amerika zu erkennen glaubte. Der Pazifist Baltzer lehnte eine Gewalt legitimierende Politik jedoch ab und setzte auf den friedlichen Wandel der Welt. Die Schlussbemerkungen seiner Lebenserinnerungen gelten der »Kosmopolitik«. Es sei wichtig, »einen Aeropag zu gründen, dem alle gleichgesinnten Staaten beitreten werden, um ohne Krieg Frieden zu halten und zu gebieten.«142 Diese »Friedensliga« werde »auch mit den übrigen Völkern friedlichen Verkehr pflegen, um des gegenseitigen Interesses willen.«143 1881 nahm Baltzer aus gesundheitlichen Gründen schweren Herzens Ab-

138 Eduard Baltzer : Von der Arbeit oder die menschliche Arbeit in persönlicher und volkswirtschaftlicher Beziehung. Nordhausen 1864, S. 125. 139 Ders., Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 107. 140 Eduard Baltzer : Reform der Volkswirthschaft. Nordhausen 21882, S. 212 – 215. 141 Ders.: ›Natur und Geschichte‹, in: ders., Aus meinem Leben (wie Anm. 10), S. 20 f. 142 Ders., Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 106. 143 Ebenda, S. 107.

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schied aus Nordhausen, zog zu seiner Tochter nach Süddeutschland, wo er am 24. Juni 1887 starb.144

6.

Bürgerliche Werte?

Wie bürgerlich war Eduard Baltzer, der doch auf den ersten Blick als radikaler Umstürzler und Bürgerschreck erscheinen mochte? Die Forschung zu bürgerlichen Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts hat, vor allem in Abgrenzung zu ständischen Denkmustern, die Hochachtung für Arbeit, Leistung und Bildung, die Institutionen, den Verein, auch das Parlament, die freie Presse oder den freien Markt als Koordinaten des bürgerlichen Weltbildes herausgehoben. Dass Baltzer die Arbeit als »Bedingung des Lebens« kennzeichnete, wurde bereits erwähnt. »Arbeit, körperliche und geistige, ist unsere Freude«145, ließ er ins Programm des von ihm gegründeten Vereins aufnehmen. Die Zeitgenossen betonten seine enorme Leistungsbereitschaft, die sich in einem besonderen Arbeitsethos zeigte und es ihm ermöglichte, seine vielfältigen Tätigkeiten zu bewältigen. Im Jahr 1864 erschien auf 128 eng bedruckten Seiten Baltzers Schrift »Von der Arbeit«,146 in der er sowohl die individuelle als auch die volkswirtschaftliche Seite der Arbeit analysierte und als Wert betonte. Als Demokrat stand er für die Überwindung der ständischen Gesellschaft und des altständischen Denkens: für das parlamentarische System, die freie Presse und einen frei zugänglichen Arbeitsmarkt. In politischer Hinsicht folgte er dem Liberalismus und gehörte ins bürgerliche, antimonarchische Lager. Vor allem war jedoch das Vereinswesen, jenes bürgerliche Signum des 19. Jahrhunderts, für ihn zentral. Die freireligiöse Gemeinde war nicht zufällig aufgebaut wie ein bürgerlicher Verein. Hinzu kam sein Engagement im Demokratischen Verein 1848, später im Männerbildungsverein und schließlich im vegetarischen Vereinswesen. Alle diese Vereine dienten letztlich auch der Festigung und Popularisierung von Wissen. Ein zentraler Inhalt ist immer wieder die Bildung. Baltzer war überzeugt, dass jede gesellschaftliche Veränderung zum Scheitern verurteilt sei, wenn sie nicht durch Bildung vorbereitet werde. Er betonte, dass »es ein blanker Unsinn ist, Republiken zu wollen, ohne Republikaner zu haben« und forderte deshalb: 144 Letztlich starb er, folgt man den Ergebnissen einer Obduktion, an den Spätfolgen des Ellricher Attentats. Über die Obduktion berichtete die inzwischen in »Thalysia« umbenannte Vereinszeitung. Vgl. Thalysia. Vereinsblatt für Freunde der natürlichen Lebensweise 1887/20, S. 200. 145 »Programm des Deutschen Vereins für naturgemässe Lebensweise«, zit. nach Herrmann, Adressbuch für Vegetarianer (wie Anm. 9), S. 3. 146 Baltzer, Von der Arbeit (wie Anm. 138).

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Eduard Baltzer (1814 – 1887)

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»Ich sagte überall und wiederholt die Verfassung eines Staats sei das minder Wichtige, das Nothwendigere sei tüchtige, politische Bildung und Gesinnung des Volkes selbst.«147

Zu Recht wurde in Publikationen zu bürgerlichen Wertvorstellungen auf die Bedeutung der Religion hingewiesen, wobei die Religion selbst ihren Charakter im 19. Jahrhundert zu ändern schien. Dieser Prozess der »allmählichen Auflösung der traditionalen ständischen Ordnung und de[s] Heraufkommen[s] der neuen Gesellschaft bürgerlicher Individuen«, der »eine neue innengeleitete Weltordnung« generierte,148 ist am Beispiel Baltzers gerade deshalb gut zu beobachten, weil er einerseits theologisch die bestehende Religion so sehr kritisierte, dass er de facto eine Überwindung des Christentums forderte, anderseits Innerlichkeit und diesseitigen Weltbezug immer noch und immer wieder mit dem Begriff der Religion besetzte. Bis zum Ende seines Lebens war er sich sicher : »Die Religion ist das stärkste soziale Bindemittel geistiger Art, und deshalb möglichst zu pflegen und zu läutern.«149 Baltzers freireligiöse »neue Weltanschauung« steht damit in jenem Spannungsfeld, das Thomas Nipperdey als einen Prozess der Entchristianisierung beschreibt, der zugleich eine sinnstiftende neureligiöse Orientierung transportierte, »ein Stück Bildungsreligion«, die »den bürgerlichen Bildungsglauben« ebenso beinhaltete wie »die Kulturideale, dazu noch die überlieferte, wenn auch säkularisierte Ethik und das alles in religiöser Form«.150 Nipperdeys Überlegungen zu dieser »Art nach- und nichtchristlicher bürgerlicher Durchschnittsreligion«, knüpfen ausgerechnet an den Theologen und Kirchenkritiker David Friedrich Strauß an, der in seiner Schrift »Der alte und der neue Glaube«151 aus dem Jahr 1872 eine neue Bürgerreligion kreiert hatte. Das ist jener Theologe, dessen Jesus-Biografie Baltzer schon während des Studiums gelesen hatte. Er galt damals als der erste kritische Leben-Jesu-Biograf, dem viele andere folgten. Auch Baltzer steuerte im Jahr 1861 ein »Leben Jesu«152 bei, war darin zwar voll des Lobes über Strauß, warf diesem aber vor, in der Kirchenkritik nicht weit genug zu gehen. Wie Strauß beschrieb Baltzer in seinen freireligiösen Schriften eine neue Bürgerreligion. Insofern erscheinen die Argumente Nipperdeys reizvoll, in den Aussagen eines theologischen Außenseiters das Koordinatensystem des »bürgerlichen Wertehimmels« zu erkennen.153 Zwar hat Andreas Schulz zu 147 148 149 150 151 152 153

Ders., Wähler (wie Anm. 51), S. 5. Hahn / Hein, Bürgerliche Werte (wie Anm. 29), S. 11 f. Baltzer, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 106. Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 44), S. 451. Dort auch das nächste Zitat. David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Leipzig 1872. Baltzer, Leben Jesu (wie Anm. 80), zu Strauß vor allem S. IV – VI der zweiten Auflage. Auch Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann verweisen unter Verweis auf Nipperdey gleich zu Beginn ihrer Publikation auf die Bedeutung des Themas Religion und die

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Tobias Kaiser

Recht darauf hingewiesen, dass »der bürgerliche Wertehimmel geradezu übersät von Lichtpunkten [gewesen sei], die kein klares Bild ergeben, sondern in einem Lichtermeer verschwimmen.«154 Aber innerhalb dieses Lichtermeers lassen sich auch Baltzers Standpunkte als bürgerliche Positionen erkennen. Hierzu gehört auch seine Betonung von Individuum und Innerlichkeit, in der auch eine klare Abgrenzung zur sozialistischen Arbeiterbewegung liegt. Für Baltzer bestimmte linkshegelianisch das Bewusstsein das Sein. Er knüpfte explizit an Schopenhauers Ideen einer »Welt als Wille« an.155 Allerdings kämpfte er gleichzeitig wiederum für eine Bodenreform, die er sogar unter die Überschrift »Sozialismus« brachte: Licht, Luft, Wasser, Grund und Boden »als Privateigentum behandeln, ist in Summa Sklaverei«156, so Baltzer. So sehr Baltzer mit seinen Ansichten – als Befürworter der Presse- und Religionsfreiheit, Anhänger der Republik, Befürworter der Gleichberechtigung der Geschlechter, Begründer der Jugendweihe, Befürworter der Fröbelschen Reformkindergärten und eben auch als Vegetarier – in seiner Zeit wie ein Radikaler erscheinen musste, so sehr ist sein Weg aus einer bestimmten bürgerlichen Lebenswelt heraus verständlich. Eduard Baltzer, jene schillernde, vielseitig aktive Persönlichkeit, die ihr ganzes Leben lang mit Sinnsuche und sozialer Gestaltung verbracht hat und dabei auch eine erstaunliche Beharrlichkeit an den Tag legte, ist wohl eher das Beispiel eines Bürgers als das eines bloß enttäuschten 1848er Revolutionärs.

Strauß’sche Position. Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann: ›Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung‹, in: dies. (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000, S. 7 – 21, hier S. 7 – 9. 154 Andreas Schulz: ›Bürgerliche Werte‹, in: Andreas Rödder (Hg.): Alte Werte – neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels. Göttingen 2008, S. 29 – 36, hier S. 31. 155 Baltzer, Ideen zur socialen Reform (wie Anm. 79), S. 111. 156 Ders., Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 105.

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Frank Boblenz

Dr. med. Carl Oswald Stockmann (1809 – 1873) – biografische Skizze zu einem Demokraten von 1848 im preußischen Thüringen

»Die politischen Umwälzungen des vorigen Jahres [= 1848] hatten in wenig Gegenden Deutschlands unter den Bewohnern des platten Landes eine so lebhafte Bewegung hervor gerufen als in Thüringen. In dem Preußischen Antheile dieses Landstrichs traf dieß vorzüglich den Eckartsbergaer und die angrenzenden Districte des benachbarten Sangerhäuser und Querfurther Kreises.«1

Mithin eine Feststellung, die aus dem Urteil des preußischen Oberlandesgerichts Naumburg von 1849 zur Bestrafung von 110 Personen aus der Unstrut-FinneRegion stammt und etwas von der Situation im zum preußischen Thüringen2 gehörenden Teil der Provinz Sachsen erahnen lässt. Im Folgenden wird im Urteil ein »… durch seine ärztliche Praxis dort sehr bekannte[r] und beliebte[r] Dr. Stockmann …« als Anführer der Insurgenten angeführt, der tatsächlich mit zu den bemerkenswerten Persönlichkeiten der Revolution gehört(e). Für Letzteres mag bei Zeitgenossen aus der Region zudem dessen auch für heutige Verhältnisse imposante Erscheinung einprägend gewirkt haben. Mit seinen fast 1,86 Meter Größe3 erklärt sich ferner, warum er in einem amerikanischen Nachruf von 1873 als »damals Arzt in Bibra, Thüringen, eine Siegfriedsgestalt«4 klassifiziert wurde. 1 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Dienststelle Merseburg (im Folgenden LHASA, MER), Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl.1v. 2 Vgl. zur regionalen Zuordnung insbesondere Boblenz, Frank: Abriß der Territorialgeschichte des preußischen Thüringen. – In: Das preußische Thüringen. Abhandlungen zur Geschichte seiner Volksvertretungen (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen; 17). Rudolstadt 2001, S. 9 – 45. 3 Seine Personenbeschreibung gibt 5 Fuß und 11 Zoll an, was nach preußischem Maß 1,8568 Meter beträgt. Siehe die Angaben in der Erfurter Polizeiakte: Stadtarchiv Erfurt (im Folgenden SAE), 1 – 1/XVIn 13, Bl. 6r. Zur Umrechnung siehe Kahnt, Helmut/ Bernd Knorr : BILEXIKON. Alte Maße, Münzen und Gewichte. Leipzig 1986, S. 98 und 352. 4 † Dr. C. O. Stockmann. †. – In: Der Deutsche Pionier. Monatsschrift für Erinnerungen aus dem deutschen Pionier-Leben in den Vereinigten Staaten Oktober 1873 /5 H. 8, S. 251. http:// books.google.de/books?id=eDMWAAAAYAAJ& dq=1873+intitle:der+deutsch e+pionier& as_brr=3& ie=ISO-8859-1& redir_esc=y ) [30. 06. 2014].

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Frank Boblenz

Belege für die Rezeption sind u. a. die Ende November und Anfang Dezember 1848 im Kontext zu den revolutionären Ereignissen deutschlandweit in der Presse kursierenden zahlreichen Meldungen, in denen auf die militärischen Aktivitäten jenes Dr. Stockmann in Thüringen sowie die Niederschlagung eingegangen wurde. Je nach Ausrichtung der relevanten Zeitung sowie den für diese vorliegenden bzw. zugänglichen Informationen waren sie pro oder contra fixiert. Dabei lassen sich auch Kolportagen feststellen, wie sie beispielsweise in einem Münchner Blatt verbreitet wurden: »In Bibra, einem preußisch-thüringischen Städtchen, hat Dr. Stockmann sein hetzerisches Unwesen getrieben. Von seinen Genossen ließ er sich zum König von Thüringen ausrufen. Indessen war es mit seinem Königthume bald aus. Einigen Abtheilungen Husaren, denen es nicht gelang, einen ungleich größeren Haufen von Sensenmännern zur gesetzlichen Ordnung zu weisen, folgte eine größere Militärmacht. Diese nahm das Städtchen ohne Schwertstreich. Dr. Stockmann flüchtete sich, wurde aber in Weimar arretirt. Den dortigen Leuten gehen nun auch schon so ziemlich die Augen auf; sie erkennen, daß es bei den Demokraten nur auf die Geldsäckel abgesehen ist und daß sie gar zu gerne die Herren der Welt sein möchten.«5

Bereits 1849 erschien in Hamburg sogar eine anonyme Schilderung der Ereignisse unter dem Titel »Dr. Stockmann im November 1848. Von Augenzeugen.«6, die zudem das in diesem Beitrag veröffentlichte einzige bisher bekannte Porträt des Revolutionärs enthält. Nicht auszuschließen ist, dass es sich bei dem Autor um den Anfang 1849 flüchtigen Eckartsbergaer Kaufmann Gustav Striegnitz handelt, der am 20. Januar an Karl Marx (1818 – 1883) in Köln »… eine Darstellung der letzten Vorgänge im Jahre der »Errungenschaften« für den Abdruck in der Neuen Rheinischen Zeitung sandte und diesem gegenüber noch bat:

5 Scherz und Ernst. Licht und Wahrheit! 6. Dezember 1848/ Nr. 9, S. 63. http://books.google.de/ books?hl=de& as_brr=3& id=2rhBAAAAcAAJ& dq=Sockmann+K%C3%B6nig+Th%C3% BCringen& q=stockmann#v=snippet& q=stockmann& f=false [30. 06. 2014]. 6 Vgl. Dr. Stockmann im November 1848. Von Augenzeugen. Hamburg 1849. Ein Exemplar dieser 24 Seiten umfassenden Schrift konnte der Autor 2004 bei seinen Recherchen in Krakau auf der Grundlage einer Publikation zur Sammlung von Karl August Varnhagen von Ense (1785 – 1858) in der dortigen Universitätsbibliothek ermitteln und einsehen. Allerdings ist der Druck falsch kontextualisiert verzeichnet. Dies dürfte mit dazu geführt haben, dass er bisher – soweit für den Autor ersichtlich – noch keine Beachtung fand. Siehe: Die von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Geordnet und verzeichnet von Ludwig Stern. Berlin 1911. Dort S. 788: »Stockmann, Gr., Konsulatssekretär (Leipzig):Brief an Zabel 1854; »Dr. Stockmann im November 1848, von Augenzeugen«, Hamburg 1849, mit Portrait (Lithographie v. Kochs), gedruckt, 24 S. [239]«. Auf Grund elektronischer Recherchemöglichkeiten konnten inzwischen weitere Exemplare in der Staatsbibliothek Bamberg sowie Stadtbibliothek Braunschweig ermittelt werden. Für die Möglichkeit zur Nutzung des Bildes aus dem Bamberger Exemplar in diesem Beitrag dankt der Autor herzlich Herrn Gerald Raab von der Staatsbibliothek Bamberg.

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Dr. med. Carl Oswald Stockmann (1809 – 1873)

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Abb. 1: Carl Oswald Stockmann (1809 – 1873). Staatsbibliothek Bamberg, MvO.Misc.Rev.63#14; Foto: Gerald Raab

»Es wäre mir daher lieb, wenn Sie wenigstens das, was auf Stockmann, diesen Vielgeschmähten sich bezieht, in Ihr Blatt aufnähmen, doch ich überlasse den Aufsatz ihnen a piacere.«7 7 Eine Veröffentlichung in der angestrebten Form ist bisher nicht nachvollziehbar. Karl Marx, Friedrich Engels. Briefwechsel Januar 1849 bis Dezember 1850. Text (Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA); Dritte Abteilung: Briefwechsel Bd. 3). Bearbeitet von Jekaterina Barwenko und Wera Moroswa, unter Mitarbeit von Jelena Arshanowa, Swetlana Gawriltschenko, Walentina Moroswa und Alla Rybikowa. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion

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Trotz der Beachtung, die Stockmann zeitgenössisch8 sowie in späteren wissenschaftlichen9 und heimatkundlichen10 Darstellungen in Hinblick auf die Ereignisse im Herbst 1848 fand, ist es aber nicht erklärlich, warum bis jetzt keine spezielle Arbeit zu seiner Biografie vorliegt. Generell ist dabei zu vermerken, dass es an einer umfassenden Erforschung der Revolution von 1848/49 in der Unstrut-Finne-Region mangelt, die als Bindeglied heute administrativ zwei Bundesländer betrifft. In Hinblick auf die thüringische Landesgeschichte mag dabei insbesondere jene tradierte und noch heute nachwirkende Sichtweise von Jenaer Historikern zum Umfang Thüringens im 19. Jahrhundert – die in der Regel die relevanten Gebietsteile des und Ereignisse im Regierungsbezirk(es) Merseburg ohne Begründung ausgrenzt – nur eine Erklärung bieten. Bisher findet daher z. B. auch das Gebiet des früheren Kreises Eckartsberga keine relevante Beachtung in der jüngeren thüringischen Landesgeschichtsschreibung11,

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und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin 1981, S. 148 und Apparat, S. 927. Neben den zahlreichen Zeitungsmitteilungen sind vor allem zwei Bekanntmachungen der Regierung Merseburg vom 23. November 1848 und 1. Februar 1849 zu nennen, die auch zum Nachdruck gelangten. Vgl. für erstere: Preußischer Staats-Anzeiger 1 (1. Dezember 1848) Nr. 211, S. [1199]. Für zweitere siehe als Separatdruck das Exemplar in Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (im Folgenden ThHStAW), Nachlass von Watzdorf Nr. 79, Bl. 387 – 390. Siehe hier insbesondere die Veröffentlichungen von Herbert Peters im Kontext zu dessen Dissertation B von 1978: Peters, Herbert: Zur »mobilen Kolonne« des Demokraten Stockmann im November 1848. – In: Zeitschrift für Militärgeschichte 1964 /4 H. 6, S. 483 – 490; Ders.: Bewaffnete Aktionen der revolutionären Volksbewegung in der preußischen Provinz Sachsen 1848/49. – In: Ebd. 1984 /24, H. 4, S. 297 – 304; Ders.: Die preußische Provinz Sachsen im Revolutionsjahr 1848. Dessau 2000. Siehe abgesehen von Zeitungsbeiträgen insbesondere Liebers, [Benno]: Der Ueberfall der Stockmannschen Banden auf die grünen Husaren anno 1848. – In: Heimatkalender für den Kreis Eckartsberga 1936/ 42, S. 70 – 75. In Verbindung mit dem Revolutionsjubiläum von 1949 siehe 1848. Gedenkausstellung 16. März – 25. März 1948 im Saal der Quelle in Kölleda. Herausgegeben vom Amt für Volksbildung des Kreises Eckartsberga. Kölleda [1948]. Und aus den 1960er Jahren: Pruß, Werner : Das Revolutionsjahr 1848 im Finnekreis Eckartsberga (Kölleda. Heimatkundliche Stoffsammlung; Blatt 6 Geschichte 1848). Herausgegeben von der Polytechnischen Oberschule I – Kölleda. Kölleda [1967?]. Für den Hinweis auf diese Stoffsammlung dankt der Autor herzlich Andrea Aschenbach vom Stadtarchiv Kölleda. Bei Liebers wird ferner noch ein Lied auf Stockmann und zu den Ereignissen mitgeteilt Siehe deshalb zur Überlieferungsgschichte: Grünefeld, H. C.: Die Revolution marschiert. Band 2: Kampflieder der Unterdrückten und der Verfolgten 1806 – 1930. Mannheim 2006, S. 249 – 250 und 251 – 252. Vgl. http://books.google.de/books?id=-lzvvo8wFlMC& dq=Lied+Bibra+ Stockmann& as_brr=3& ie=ISO-8859 – 1& redir_esc=y [30. 06. 2014]. Für die ältere Landesgeschichtsschreibung siehe dagegen den Hinweis auf Stockmann mit entsprechendem landschaftlichen Kontext bei Facius, Friedrich: Politische Geschichte Thüringens von 1828 bis 1945. – In: Geschichte Thüringens (Mitteldeutsche Forschungen; 48/V, 2). Herausgegeben von Hans Patze und Walter Schlesinger. Köln 1978, S. 84. Eine jüngere Ausnahme bildet insofern die Berücksichtigung von Stockmann in der auch im Meinungsaustausch mit dem Verfasser entstandene Arbeit von Burkhardt, Falk: Chronik

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Dr. med. Carl Oswald Stockmann (1809 – 1873)

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obwohl davon heute sogar rund zwei Drittel (einschließlich der Kreisstadt Kölleda) Teil des Freistaates Thüringen sind. Faktisch umgekehrt verhält es sich mit den Bezügen zur Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt, wo Stockmann zwar im Kontext zu den revolutionären Ereignissen in der preußischen Provinz Sachsen kontinuierlich mit Berücksichtigung12 fand bzw. findet und damit präsenter ist, an darüber hinausgehenden und auch landschaftliche Aspekte berücksichtigenden Untersuchungen13 bisher aber kein Interesse bestand. Dagegen kaum zu erklären ist – wenn nicht der erhebliche Aufwand der nötigen Recherchen als hemmend konstatiert wird –, warum ebenso im Bereich der Lokal- und Heimatgeschichte bisher keine biografischen Veröffentlichungen14 über Stockmann vorliegen. Sicherlich mag darüber hinaus zum Forschungsdesiderat beigetragen haben, dass ein entsprechender Nachlass zur Person von Dr. Stockmann nicht verfügbar ist und es bisher an Selbstzeugnissen und persönlichen Korrespondenzen von bzw. mit ihm mangelt. Gleiches gilt für die familiengeschichtliche Rezeption, was bei den zahlreichen Verwandten Stockmanns im Thüringischen verwundert. Bedingt durch diese Ausgangslage soll im Folgenden erstmals und im Rahmen des zur Verfügung stehenden Platzes eine biografische Skizze veröffentlicht werden, in der zudem sein Leben und Wirken vor und nach der Revolution entsprechend der bisher ermittelten und ausgewerteten Quellen Berücksichtigung finden. Zwangsläufig können dadurch die revolutionären Ereignisse von und Bibliographie zur Revolution von 1848/49 in Thüringen (Thüringen gestern & heute; 6). Herausgegeben vom Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dem Thüringer Archivarverband. Erfurt 1998, S. 153 – 154, 179 und 238. Im Kontext dazu auch die Einstufung als thüringischer Abgeordneter zum zweiten Demokratenkongress in Berlin Ders.: Die »Thüringer Volkstage« vom Juni bis September 1848. Foren politischer Öffentlichkeit oder politische Inszenierung einer republikanischen Minorität. – In: Die Revolution von 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume * Handlungsebenen * Wirkungen. Herausgegeben von Hans-Werner Hahn und Werner Greiling. Rudolstadt & Jena 1998, S. 442, Anm. 60. Ein damals vom Autor für die Publikation und vorhergehende Tagung vorgesehener Beitrag zu Dr. Stockmann konnte auf Grund anderer Verpflichtungen leider nicht realisiert werden und findet damit an dieser Stelle seine teilweise nachträgliche und erheblich gekürzte Realisierung. 12 Vgl. zuletzt Tullner, Mathias: Die Revolution von 1848/49 in Sachsen-Anhalt. Überarbeitete, verbesserte und erweiterte Auflage der Ausgabe Halle 1998. Sonderauflage für die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt. Halle (Saale) 2014, S. 122, 127 und 142 – 144. Hier (S. 142) wie in der ersten Ausgabe (S. 155) aber als »Dr. Stockmann aus Laucha« hinsichtlich der Herkunft lokalisiert. 13 Da Stockmann später – wie noch zu zeigen sein wird – seiner »Verblendung« während der Revolutionszeit abschwor, mag für die DDR-Forschung nicht ganz auszuschließen sein, dass zwar seinen Rolle im Zusammenhang mit den Novemberereignissen stärker untersucht wurde, seine nachfolgende Vita jedoch nicht ins Konzept passte und deshalb auch nicht weiter untersucht und behandelt wurde. 14 Verwiesen sei aber darauf, dass auch der Historiker Werner G. Fischer in Berlin zu Dr. Stockmann forscht, ohne dass dem Autor allerdings die Ergebnisse bekannt sind.

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1848 nur gestreift werden. Damit soll zugleich die Basis für zielgerichtete weiterführende Forschungen zu Einzelaspekten seines Lebens und gesellschaftlichen Umfeldes sowie einer umfassenderen Biografie geboten werden. Carl Oswald Stockmann – so der vollständige Name (meist aber nur als Carl Stockmann aufgeführt) – wurde am 14. September 1809 im Dorf Neunheilingen15 geboren, welches zu dieser Zeit zum Amt Langensalza im Thüringer Kreis des Königreiches Sachsen gehörte. Sein Vater war der ortsansässige Geistliche Johann Christian Stockmann (1776 – 1821). Da Carl Oswald Stockmann, wie noch zu zeigen sein wird, zwar mit dem Theologiestudium begann, dann aber zur Medizin wechselte und den Arztberuf ergriff, war er der Letzte in direkter Linie der seit dem 16. Jahrhundert belegten Familientradition16, der ein geistliches Amt eingeschlagen hatte. Erwähnt sei allerdings, dass es darüber hinaus im familiären Umfeld später noch genügend Bezüge zu evangelischen Geistlichen in der Unstrut-Finne-Region gab, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Stockmanns Vater hatte die Klosterschule in Roßleben besucht und in Leipzig Theologie studiert. Von 1805 bis 1814 war er Diakon in Neunheilingen, wo die Grafen von Werthern Gerichtsherrn waren und auch das Kirchenpatronat innehatten. Von da wechselte er als Pfarrer in das benachbarte Mülverstedt.17 Stockmanns Mutter – Wilhelmine Auguste (geb. 1782) stammte dagegen aus adligem Haus und war eine Tochter des Friedrich Ernst von Bose (1738 – 1795) auf Oberwünsch.18 Wie es allerdings zu der Verbindung zwischen Stockmanns Eltern kam, entzieht sich bisher unserer Kenntnis. Aus der Ehe gingen mindestens sechs Kinder hervor, von denen 1834 noch fünf lebten.19

15 Vgl. u. a. Die Studenten der königlichen Universität Greifswald 1821 – 1848. Kommentiertes Verzeichnis nach der Matrikel und den Akten des Universitätsarchivs (Lege Artis). Herausgegeben von Dirk Alvermann und Barbara Peters. Greifswald 2003, S. 72, Nr. 95. 16 Vgl. zu den Familienangehörigen im Folgenden das Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 8: Biogramme Schr – To. Herausgegeben vom Verein für Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen e.V. in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale) und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen. Leipzig. 2008, S. 413 – 417. 17 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Dienststelle Magdeburg (im Folgenden LHASA, MD), A 29a, I Nr. 2443, Bl. 59 – 72v und Nr. 2450 (unfoliiert). Pfarrerbuch Bd. 8 (wie Anm. 16), S. 415. 18 Vgl. LHASA, MD, H 71, Nr. 1459, Bl. 8v–9r. Zur Familie generell Bose, Carl Emil von: Die Familie von Bose. Beiträge zu einer Familiengeschichte. Dresden-N[eustadt] 1904, S. 144 und 194. Auf S. 194 auch der Hinweis auf vier jedoch nicht namentlich genannte Töchter. 19 Vgl. Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden UAG), R 2158, Bl. 7. Für die Auskünfte vom 3. April 2013 und 3. Juni 2014 sowie entgegenkommende Möglichkeit zur Aktenauswertung dankt der Autor herzlich Frau Barbara Peters vom UAG.

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Nach dem Tod des Vaters zog die Mutter mit den Kindern nach Merseburg. Dort fanden sie wahrscheinlich Unterkunft bei einem ihrer Brüder. Zu denken ist insbesondere an Christoph Ernst von Bose (gest. 1837), der in Merseburg eine Domherrenstelle innehatte. Er war es auch, der Stockmanns Mutter mit ihren Töchtern Ende der 1820er/Anfang der 1830er Jahre auf dem Rittergut Oberfrankleben20 Unterkunft21 gewährte, nach dem dieses durch Erbschaft an ihn gelangt war. Carl besuchte in Merseburg zunächst das Gymnasium22, welches er aber bereits 1824 als Schüler der Secunda »durch die Veränderung des Wohnorts seiner Angehörigen veranlasst«23, verließ, um nach Dresden zu wechseln. In der Elbestadt besuchte er ab Herbst 1824 die Kreuzschule.24 Auf den Schulbesuch folgte ein Studium, das Stockmann mit Unterbrechungen an mehrere Hochschulen führte. Zuerst studierte er von Ostern bis Michaelis 1827 Theologie in Jena.25 Danach muss es jedoch zu einer Umorientierung gekommen sein, da am 8. Mai 1828 die Immatrikulation in Leipzig für das Fach Medizin erfolgte. Auch dort war der Aufenthalt mit sechs Monaten nur kurzfristig.26 1829 entschied er sich – vielleicht inspiriert durch seinen Onkel Christoph Ernst von Bose – für einen freiwilligen Militärdienst, den er bei der reitenden Gardeartillerie in Berlin antrat. Dort kam es allerdings zu einem Vorkommnis. 20 Zur Überlieferung des Rittergutes siehe Adelsarchive im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt. Übersicht über die Bestände (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt; Reihe A: Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts; 20). Bearbeitet von Jörg Brückner, Andreas Erb und Christoph Volkmar. Magdeburg 2012, S. 129 – 130. Im Bestand dominiert die Überlieferung zum Gut in Unterfrankleben. Eine Sichtung des Findmittels sowie eventuell relevanter Akten durch den Autor erbrachte daher bisher nur einen Nachweis zu Stockmanns Eltern im Kontext zu einer Erbschaftsangelegenheit in einem Dokument von 1815. Vgl. LHASA, MD, H 71, Nr. 1459, Bl. 8v–9r. 21 Vgl. D. Ewald Rudolf Stier. Versuch einer Darstellung seines Lebens von G. Stier in Verbindung mit F. Stier. Zweite Hälfte die Zeit von 1825 an umfassend. Wittenberg 1871, S. 80 und 135. 22 Vgl. UAG, R 2158, Bl. 7. 23 Zwei Abhandlungen über die Electra des Sophocles und die Choephoren des Aeschylus nebst Anmerkungen zu beiden Stücken als Einladungsschrift zum Osterexamen MDCCCXXV durch Carl Ferdinand Wieck, Rector und Professor am Gymnasium zu Merseburg. Merseburg 1825, S. 52. Siehe das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek: http://reader.digi tale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10215352.html [30. 06. 2014]. 24 Vgl. UAG, R 2158, Bl. 7r und: Die Matrikel der Kreuzschule. Gymnasium zum Heiligen Kreuz. Dritter Teil: 1802 – 1848/49 (Genealogie und Landesgeschichte; 17,3). Bearbeitet von Willy Richter. Herausgegeben von Heinz F. Friedrichs. Neustadt an der Aisch 1975, S. 121. 25 Vgl. UAG, Med.Diss. I-82 (unfoliiert): Zeugnis der Universität Jena vom 6. Oktober 1832. 26 Für die Auskunft (Schreiben vom 9. September 2005) zur Immatrikulation und zur Ausstellung eines Abgangszeugnisses dankt der Autor herzlich Frau Petra Hesse vom Universitätsarchiv der Universität Leipzig. Zur Immatrikulation siehe inzwischen auch: Die Matrikel der Universität Leipzig. Teilband I – Die Jahre 1809 bis 1832. Herausgegeben von Jens Blecher und Gerald Wiemers. Weimar 2006, S. 355. Dort jedoch irrtümlich/unkorrekt als Herkunftsangabe »Neuscheilingen[!]; Thüringen«. Siehe ferner das am 2. Oktober 1832 vom Universitätsgericht Leipzig ausgestellte Zeugnis in UAG, Med.Diss. I-82 (unfoliiert).

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Frank Boblenz

Wie aus der Urteilsakte von 1849 hervorgeht, wurde Stockmann 1830 als Bombardier bei der Gardeartillerie »… standrechtlich wegen [eines] kleinen gemeinen Diebstahls« zur Verantwortung gezogen. Die Bestrafung bestand in der Degradierung zum gemeinen Soldaten, Versetzung in die 2. Klasse sowie dem Verlust des Militärabzeichens und 8 Tagen strenger Haft.27 Trotz dieser Strafe ging die Angelegenheit noch glimpflich für Stockmann ab, da sie in den nächsten Jahren keine nachvollziehbaren direkten nachhaltigen Auswirkungen insbesondere auf dessen weitere Berufslaufbahn hatte. Erst im Zuge der revolutionären Ereignisse von 1848 holte ihn – wie noch zu zeigen sein wird – seine Vergangenheit ein, was sich schließlich nachträglich konfliktverschärfend auswirken sollte. Durch den Ausschluss aus dem Militär musste sich Stockmann neu orientieren. Sein medizinisches Grundstudium mag deshalb den Ausschlag dafür gegeben haben, dass er 1831/32 schließlich ein einjähriges Studium an der Medizinisch-chirurgischen Lehranstalt in Magdeburg belegte.28 Wenige Wochen später ließ sich Stockmann am 14. November 1832 an der Universität Greifswald immatrikulieren, um seine medizinische Ausbildung zu beenden.29 Die Greifswalder Zeit wies allerdings ebenfalls wieder Brüche auf. Maßgebend dafür war Stockmanns Mitgliedschaft in der Studentenverbindung Borussia. Bereits im Dezember 1832 war er dieser Korporation beigetreten. Animiert hatte ihn dazu sein Schulkamerad Kummer, welchen er aus seiner Gymnasialzeit in Dresden kannte und der in Greifswald Jura studierte. Kummer war zugleich Senior der Borussia. Als dieser vier Wochen nach Ostern 1833 die Universität Greifswald verließ, »verwaltet[e]« Stockmann sogar einige Monate das Amt des Seniors. Im August 1833 trat er schließlich aus der Verbindung aus, um sich ungestört seinen Studien zu widmen. Entsprechend seiner Aussage hatte er »… seit dem weder an der Borussia, noch an einer sonstigen Verbindung, Antheil genommen.«30 Allerdings hatte die Mitgliedschaft in der Borussia für Stockmann und weitere Mitstudenten noch ein Nachspiel, da sich das akademische Gericht 1834 damit beschäftigte. Am 6. Juni 1834 kam es zur Verhandlung und am 11. September des Jahres wurde durch das Gericht ein Urteil verkündet. Dessen Tenor 27 LHASA, MER, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 16v – 17r. Hartmann Erasmus von Witzleben (1805 – 1878) – zu dieser Zeit schon Oberpräsident der Provinz Sachsen – erwähnt den Vorgang in einem Schreiben vom 24. Mai 1851 dahingehend kurz: dass er sich »… eine jugendliche Verirrung zu Schuld kommen [ließ, die …] zu streng mit Ausstoßung aus dem Soldatenstand und Verlust der National-Kokarde bestraft wurde[n]«. GStAPKP, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 9. 28 Vgl. UAG, Med.Diss. I-82 (unfoliiert): Zeugnis der Direktion der Lehranstalt vom 27. Oktober 1832. 29 Vgl. Die Studenten der königlichen Universität Greifswald (wie Anm. 15), S. 72, Nr. 95. 30 UAG, R 2158, Bl. 12v.

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zielte darauf ab, »daß sie nicht criminell behandelt, sondern nur disciplinarisch bestraft werden soll[t]en, so sind sie zur einjährigen Remotion von der hiesigen Universität, und in die Kosten, weshalb sie alle für einen und einer für alle haften, zu verurtheilen.«31 Stockmann nahm das Urteil an und verließ die Universität, ohne dass bisher bekannt ist, was er in der nachfolgenden Zeit gemacht hat. Nach Verstreichen der Frist hat er im Herbst 1835 seine Studien in Greifswald fortgesetzt und eine Dissertation zum Rotlauf32 eingereicht. Am 14. Januar 1836 wurde er nach bestandener Verteidigung zum Doktor der Medizin promoviert.33 Bereits zwei Tage zuvor erfolgte die Exmatrikulation34 des Arztes, der sich nun noch um die ausstehende Staatsprüfung kümmerte. Beim Ministerium der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Berlin konnte er erreichen, dass er seine Prüfung als praktischer Arzt und Wundarzt »… besonders in Rücksicht seiner mittellosen Verhältnisse ausnahmsweise …« in Greifswald – statt in Berlin – ablegen durfte. Die ministerielle Verfügung dazu erging am 9. Februar 1836. Im Mai war das Prüfungsverfahren abgeschlossen, so dass die Greifswalder Prüfungskommission am 31. des Monats ihren Bericht an das Ministerium in Berlin einsandte und Stockmann darin sehr gute und gute Ergebnisse mit dem Gesamtprädikat »… guter medizinisch-chirurgischer Kenntnisse [… bescheinigte,] ohne denselben jedoch zugleich in der Qualifikation = als Operateur = zu bestätigen.«35 Als Stockmann wenige Wochen später seine Approbationsurkunde aus Berlin erhalten haben dürfte, befand er sich bereits seit einiger Zeit wieder in seiner thüringischen Heimat. Hier ist er Ende Frühling 1836 im zum preußischen Landkreis Eckartsberga gehörenden Bibra als Badearzt36 nachweisbar. Den Hinweis darauf, dass man in der Finne-Stadt einen entsprechenden Mediziner suchte, dürfte er eventuell von Verwandten aus der Region erhalten haben. Hinzu kommt, dass sich Stockmanns Mutter spätestens seit Frühjahr 1836 im wenige Kilometer entfernten Querfurt37 aufhielt, wohin die Approbationsurkunde des Arztes gesandt werden sollte und wo sicherlich auch dessen Onkel Georg Gottlieb Böttcher als Kaufmann mit seiner Familie noch gelebt haben dürfte.38 31 Ebenda, Bl. 21r. 32 Vgl. Stockmann, Carl Oswald: De erysipelate. Dissertatio inauguralis medica. Greifswald 1836. 33 Vgl. UAG, Med-Diss. I-82 (unfoliiert). 34 Vgl. Die Studenten der königlichen Universität Greifswald (wie Anm. 15), S. 72, Nr. 95. 35 UAG, Med.Fak. I-423. 36 Vgl. die Anzeige der Bibraer Bade-Direction vom 1. Juni 1836 in: Eckartsbergaer Kreisblatt und Wochen-Blatt für die Kreisstadt Cölleda 11 (10. Juni 1836) Nr. 24, Sp. 192. 37 Vgl. UAG, Med.Fak. I-423, Bl. 6v. 38 Vgl. Pfarrerbuch, Bd. 8 (wie Anm. 16), S. 416. Er war seit 1805 mit der Schwester von Stockmanns Vater – Wilhelmine Friedericke (geb. 1779) – verheiratet.

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Die Kleinstadt in der Finne besaß insbesondere durch sein dort vorkommendes Heilwasser einen guten Ruf. Allerdings war das Badewesen39 nicht durchgängig von Kontinuität geprägt und hatte erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wieder mehr Bedeutung erlangt.40 Nach den Befreiungskriegen erlebte die agrarisch geprägte Stadt, deren Einwohner, abgesehen von den städtischen Handwerkern, »… Landwirthschaft, Flachsbau, Spinnerei und Leineweberei …« trieben41, einen gewissen Aufschwung. Dafür dürften u. a. die steigenden Bevölkerungszahlen sprechen. Lebten 1819 dort 829 Einwohner, so waren es 1834 bereits 1073 und um 1840 1170 in 180 Häusern.42 Im Kontext dazu muss auch das Badewesen gesehen werden. Die Heilbedürftigen weilten insbesondere ab Ende Frühling – die Bad-Saison begann in der Regel am 1. Juni – bis zum Sommerende in der Stadt, um Genesung zu finden. Die Organisation lag dafür in den Händen der »Direction der Bade-Anstalt« und die Betreuung wurde durch Stockmann realisiert. Im Zusammenhang mit der Eröffnung der Badesaison und Badeanstalt in Bibra am 1. Juni 1836 erging unter demselben Datum eine Bekanntmachung der Bade-Direktion. Darin wurden diejenigen »mit Bezug auf die vielseitig anerkannte günstige Wirkung des hiesigen eisenhaltigen Mineralwassers [eingeladen, …] denen nach ärztlichem Rathe der Gebrauch unsres Bades hilfräthig werden soll.« Gleichzeitig wurde offeriert: »Für hinreichend bequem gelegene Wohnungen, für die zum Gebrauch des Bades nöthigen Vorrichtungen, so wie endlich für die sonstigen Bedürfnisse der Kranken in ärztlicher Beziehung wird Herr Dr. Stockmann allhier als Badearzt hinlänglich Sorge tragen.«43

39 Soweit die bisherigen Literaturrecherchen ergaben, liegt bisher noch keine spezielle Untersuchung zur Badgeschichte des Ortes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Dies ist umso bedauerlicher, da Stockmann rund 12 Jahre entscheidend daran Anteil gehabt haben dürfte. Entsprechende städtische Unterlagen aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind im Stadtarchiv Bad Bibra nicht überliefert. Für die telefonische Auskunft zur Quellenlage dankt der Autor Herrn Werner G. Fischer in Berlin vom 3. April 2014 und Frau Daniela Krüger von der Verbandsgemeinde An der Finne vom 4. April 2014. 40 Scharfe, C. F. A.: Der Regierungsbezirk Merseburg. Ein Beitrag zur Vaterlandskunde mit eingestreuten geschichtlichen, besonders biographischen Nachrichten. Sangerhausen 1841, S. 105 – 106. http://books.google.de/books?hl=de& as_brr=3& id=seEBAAAAcAAJ& dq= Buch+breitenbauch+Finne& q=bucha#v=onepage& q=bucha& f=false [30. 06. 2014]. 41 Ebenda, S. 105. 42 Vgl. ebenda; Naumann, Louis: Geschichte des Kreises Eckartsberga. Eckartsberga i. Th. 1927, S. 316. Siehe ferner zu den Einwohnerzahlen Boblenz, Frank: Zur Statistik thüringischer Städte und Flecken im 18. und 19. Jahrhundert. – In: Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Hans-Werner Hahn, Werner Greiling und Klaus Ries. Rudolstadt & Jena 2001, S. 337 – 348 (hier besonders S. 342). 43 Vgl. Eckartsbergaer Kreisblatt und Wochen-Blatt für die Kreisstadt Cölleda 11 (10. Juni 1836) Nr. 24, Sp. 192.

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Der Arzt kümmerte sich umfassend um die Hilfesuchenden, was sich gelegentlich – wobei geschäftliche Ambitionen nicht von der Hand zuweisen sein dürften – in einer öffentlichen Danksagung offenbarte.44 Auch durch Andere fand Stockmanns Wirken entsprechende Beachtung, weshalb noch 1850 der Oberpräsident der Provinz Sachsen – Hartmann Erasmus von Witzleben – konstatierte, dass der Arzt »… durch seine ausgebreitete Praxis eine reiche Einnahme [genoß], und […] Hausfreund in vielen angesehenen Familien der Nachbarschaft [ward], darunter […] in der des Landraths des Kreises Eckartsberga, [Otto Freiherr] von Münchhausen [(1802 – 1869)].«45 Hierzu dürfte ferner noch der intensivere Kontakt mit wohlhabenden Vertretern des Bürgertums und des Adels aus dem Kreis der Badegäste gekommen sein. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass Stockmann vielleicht schon in diesen Jahren mit der Freimaurerei in Verbindung kam, obwohl bisher erst aus seiner Zeit in Amerika entsprechende Belege dazu vorliegen. Möglich sind diesbezüglich Verbindungen nach Naumburg, Weißenfels oder Merseburg. In Naumburg wohnte zudem sein Bruder Hermann Theodor, der dort am 8. Dezember 1842 das Bürgerrecht46 erworben hatte, als Kaufmann und Schankwirt bzw. Weinhändler tätig und seit 1834 Freimaurer war. Auch in der Saalestadt gehörte er der Loge an.47 Darüber hinaus sind Kontakte zur Loge in Erfurt denkbar, welche mit dazu beigetragen haben könnte, dass er in der thüringischen Metropole relativ bekannt war, was im Zusammenhang mit seiner Verhaftung Ende November 1848 offenkundig wurde.48 Neben seiner Tätigkeit als Arzt übte Stockmann im Kreis Eckartsberga mindestens noch ein öffentliches Amt aus, was ihn auch auf diese Weise näher mit den Einwohnern des Bibraer Umlandes in Verbindung brachte. Im August 1845 war er als Feuer-Polizei-Kommissar für den XI. Feuer-Polizei-Distrikt des Landkreies Eckartsberga angestellt worden, der neben Stockmanns Wohnsitz die Dörfer Steinbach, Wallroda, Kalbitz und Saubach umfasste.49

44 Eckartsbergaer Kreisblatt, ein Volksblatt für Thüringen 17 (2. September 1842) Nr. 15, Sp. 280. 45 GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 9v. 46 Vgl. das digitalisierte Bürgerbuch auf der Homepage des Stadtmuseums Naumburg: http:// mv-naumburg.de/index.php/das-naumburger-buergerbuch/buergerbuch/article/10884stockmann [30. 06. 2014]. 47 Vgl. Schröder, Richard: Geschichte der Freimaurerei i. O. Naumburg an der Saale. Im Auftrage der g. u. v. St. Joh.-Loge Zu den drei Hammern dargestellt von Bruder Richard Schröder. Naumburg an der Saale 1896, S. 209. Vgl. http://www.digitalis.uni-koeln.de/ Schroeder/schroeder_index.html [30. 06. 2014]. 48 Vgl. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. 506 Nr. 4 Bd. 2, Bl. 165 – 167v. 49 Vgl. Eckartsbergaer Kreisblatt, ein Volksblatt für Thüringen 20 (22. August 1845) Nr. 34, Sp. [265 – 266]. Zur 1842 neu bestimmten Einteilung des Kreises in die Feuer-Polizei-Distrikte siehe ebenda, 17 (20. Mai 1842) Nr. 20, Sp. [153 – 154].

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Wenn die Badesaison zu Ende war, dürfte Stockmanns Klientel vordergründig aus der Bevölkerung der Umgegend bestanden haben. Gleichzeitig war er – wie Oberpräsident von Witzleben feststellte – »… der ärmeren Volksklasse ein thätiger uneigennütziger Berather und Helfer.«50 Spätestens dieser Umgang dürfte ihn stärker für bestimmte soziale Fragen sensibilisiert und mit dazu beigetragen haben, dass er 1848 im Lager der Demokraten zu finden war. Wann »genau« bei Stockmann ein »oppositionelles« Verhalten begann, sein Verhältnis zum Landrat von Münchhausen konflikthaft wurde und ob dies schon vor der Märzrevolution war, lässt sich aber momentan nicht belegen. Oberpräsident von Witzleben verwies jedoch in einem Schreiben vom 24. Mai 1851 darauf, dass erst kurz vor dem Jahre 1848 Ausschweifungen und starker Alkoholgenuss »… die besseren Seiten seines Charkters unterhöhlt zu haben« schienen und er gleich in der Frühphase der Revolution »… der Agitator von Bibra und Umgegend« wurde.51 Stockmann selbst muss bei seinen Vernehmungen ausgesagt haben, »daß er der erste im Kreise [Eckartsberga] gewesen, der zur Belehrung des Volks solche Versammlungen veranstaltet habe, in denen demselben die Mängel des Bestehenden auseinandergesetzt worden seien.«52

Und sein Mitstreiter – der Lauchaer Arzt Dr. med. Carl Eduard Neuhaus (1809 – 1866) bekannte später, dass er schon im März 1848 an einer von Stockmann in Bibra durchgeführten Versammlung teilgenommen habe.53 Auf alle Fälle schloss sich der Bibraer zeitig den revolutionären Demokraten an und verfolgte entschieden und aktiv deren Ziele bis zum November 1848. Neue Impulse erhielten seine Aktivitäten, nach dem am 8. April 1848 die Wahl zur preußischen Nationalversammlung verordnet worden war.54 Stockmann kandidierte in seinem Heimatkreis, der zu dieser Zeit rund 38.000 Einwohner55 umfasste und deshalb einen Abgeordneten nach Berlin entsenden konnte. Bei der Abstimmung der Wahlmänner ging er schließlich als Sieger hervor. Sein Stellvertreter wurde der Schulze Zahnert in Taubach.56Spätestens zu dieser Zeit muss es zur offenen Konfrontation mit dem bereits genannten Landrat von 50 51 52 53 54

GStAPKP, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 9v. Ebenda. LHASA, MER, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 2r. Vgl. ebenda, Bl. 78v – 79r. Vgl. Wahlgesetz für die zur Vereinbarung der Preußischen Staatsverfassung zu berufende Versammlung. Vom 8. April 1848. – In: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten (9. April 1848) Nr. 12, S. 89 – 91. 55 Aus einer Übersicht über die Bezirke der ab 1. April 1849 bestehenden Kreisgerichte ergibt sich eine Einwohnerzahl von 37.868, wobei es sich wahrscheinlich um Werte von 1846 handelt. Vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Erfurt (24. März 1849) Stück 13, S. 112 und 114. 56 Vgl. Preußischer Staats-Anzeiger 1 (15. Mai 1848) Nr. 15, S. 68 und (29. Mai 1848) Nr. 18.

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Münchhausen gekommen sein. Dieser »stemmte« sich »… mit der ganzen Kraft und Entschiedenheit seines Wesens« gegen die Bewegung. Dabei nutzte er im Mai 1848 zudem seine Kenntnis von der Bestrafung Stockmanns während dessen Armeezeit im Jahre 1830, um den Arzt unter Druck zu setzen und politisch auszuschalten.57 Stockmann scheint daher nur anfänglich bei der am 22. Mai eröffneten Versammlung in Berlin gewesen zu sein und legte schließlich sein Mandat nieder. Am 30. Mai 1848 wurde bereits im Kreis Eckartsberga mit dem Demokraten Dr. Herold aus Eckartsberga ein Nachfolger gewählt, der sein Amt kurz darauf auch antrat.58 Diese Niederlage für Stockmann mag zusätzlich zu einer Radikalisierung der Verhältnisse im Kreis Eckartsberga beigetragen haben. Obwohl naheliegend, muss dagegen noch unbeantwortet bleiben, ob darüber hinaus noch ein Unwetter mit starkem »Hagelschlag« und plötzlich einbrechender »Wasserfluth« am 13. Juni 1848 konfliktverschärfend wirkte, welches die Finnestadt erheblich traf. Dabei waren »… fast alle Winter- und Sommer- und Brachfrüchte verwüstet [… sowie] 96 Gebäude mehr oder minder beschädigt« worden. Für die Dimension des Unglücks spricht zudem die auf 38.000 Taler geschätzte Schadenssumme. Zumindest geriet Bibra zusätzlich in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Behörden sahen sich daher gezwungen, helfend einzugreifen, indem der Oberpräsident der Provinz Sachsen »in Betracht dieser außerordentlichen Verluste und der Armuth der Gemeinde …« eine Haus-Kollekte im Regierungsbezirk Merseburg genehmigte.59 Was im Einzelnen in der Zeit vom Spätfrühling bis zum Anfang September vorfiel und wie der Arzt tätig war, ist gegenwärtig nur partiell ersichtlich. Gesichert sind die Hinweise auf eine Haft des Arztes. Allerdings sind die Quellen bezüglich der Freilassung60 widersprüchlich. Eine Bekanntmachung der Regierung Merseburg vom 23. November 1848 verweist in Bezug darauf, dass Dr. Stockmann

57 GStAPKP, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 10r. 58 Vgl. Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung. Erster Band: Enthalten die Sitzungen 1 bis 39. Berlin 1848, S. 78, 91, 108 und 133. http:// books.google.de/books?id=X7NKAAAAcAAJ& dq=intitle:verhandlung en+preu%C3 %9Fischen+1848& as_brr=3& ie=ISO-8859 – 1& redir_esc=y [30. 06. 2014]. 59 Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Merseburg (2. September 1848) 35. Stück, S. 206. 60 In zwei Quellen wird auf Anfang Oktober 1848 als Freilassungstermin verwiesen. Vgl. GStAPKP, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 10r und Preußischer Staats-Anzeiger (1. Dezember 1848) Nr. 211, Sp. [1199]. In einem Schreiben des Merseburger Regierungspräsidenten vom 21. September 1848 an das Ministerium des Innern in Berlin wird jedoch auf die Aktivitäten von Dr. Stockmann eingegangen, weshalb beim gegenwärtigen Kenntnisstand in den folgenden Ausführungen davon ausgegangen wird, dass die Haftentlassung Anfang September erfolgt sein muss. Vgl. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. 506 Nr. 3 Bd. 3, Bl. 176v.

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»wegen Mißhandlung eines Gendarms und Erregung von Tumult, wegen Beschimpfung und Mißhandlung des Bürgermeisters zu Bibra in einer Bürgerversammlung, wegen Anmaßung der Amtsgewalt durch Ausstellung von Paßkarten, Befreiung von Gefangenen u. s. w. […] zur Untersuchung gezogen und dem Inquisitoriate zu Zeitz überliefert worden« sei.61

Die Verhaftung erfolgte im August, aber bereits Anfang September wurde Dr. Stockmann wieder freigelassen, ohne dass die gerichtliche Untersuchung gegen ihn abgeschlossen und es zu einer Verurteilung gekommen war. Bis dahin dürfte Stockmann die politische Entwicklung sicherlich mit großer Aufmerksamkeit verfolgt haben. Nicht auszuschließen ist ferner, dass die Zunahme der demokratischen Bewegung seine Freilassung, wenn nicht bewirkte, so doch zumindest begünstigte. In der Zwischenzeit hatte die demokratische Bewegung im südwestlichen und damit thüringischen Teil des Regierungsbezirkes Merseburg weiter an Intensität gewonnen, was sich nicht zuletzt in der Gründung neuer Volksvereine sowie gemeinsamen Aktivitäten niederschlug. Als Schwerpunktbereich wird das Saale-Unstrut-Tal mit den Kreisen Eckartsberga, Naumburg und Querfurt genannt, wo zudem gewisse traditionelle Verbindungen im ständisch/parlamentarischen Sinne bestanden, die begünstigt gewirkt haben dürften. Im Wesentlichen umfasste dieser einen großen Teil des bis 1869 bestehenden niederen Distriktes des Thüringer Kreises bzw. des Gebietes des damit korrespondierenden preußischen »Landschaftsbezirk[s]« »Ost-Thüringen«.62 Herausragend war hier eine Volksversammlung der Demokraten in Mücheln am 3. September 1848 unter Beteiligung von mehreren tausend Personen, wo zugleich das Bekenntnis zur »roten Republik« artikuliert wurde. Sie »… bildete mit ihren Beschlüssen eine deutliche Zäsur in der politischen Entwicklung der demokratischen Bewegung in der Provinz Sachsen [und …] war eine der ersten großen Volksversammlungen in Preußen, die sich auf solche Zielstellungen festlegte.«63

Zugegen war u. a. auch der Naumburger Otto Maaß, der später zu Stockmanns Bewaffneten in Bibra stoßen sollte. 61 Preußischer Staats-Anzeiger 1 (1. Dezember 1848) Nr. 211, S. [1199]. 62 »Ost-Thüringen« umfasste die Kreise Weißenfels, Zeitz, Naumburg, Querfurt, Eckartsberga sowie Sangerhausen mit den Grafschaften Stolberg-Stolberg und Stolberg-Roßla. Vgl. dazu ferner Boblenz, Frank: Thüringer Kreis und Thüringer Städteverband. Ein Exkurs zum preußischen Thüringen bis 1919/20, T. 1. – In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 1995/ 49, S. 65 – 86 (hier speziell S. 82 – 86); Ders: Zur Gaueinteilung Thüringens in der NS-Zeit. – In: Boblenz, Frank/ Bernhard Post: Die Machtübernahme in Thüringen 1932/32 (THÜRINGEN gestern & heute; 37). Landeszentrale für politische Bildung Thüringens. Erfurt 2013, S. 55 – 109 (hier speziell S. 64 – 65). 63 Tullner, Die Revolution, 2. Auflage (wie Anm. 12), S. 114.

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Kurz danach muss die Freilassung des Arztes erfolgt sein, der darauf sofort wieder aktiv wurde. Dies deutet sich auch aus der späteren Urteilsbegründung an: »Folge einer durch den Schriftführer des Volksvereins zu Halle pp. Kaulfuss unterm 8ten September an [… Stockmann] erlassenen Aufforderung, gründete er in Bibra sofort einen democratischen Verein, von dem sich bald, auf seine Veranlassung, Zweigvereine in den meisten umliegenden Ortschaften bildeten. Diese sandten Deputirte zu den alle Sonnabende Stattfindenen Sitzungen des Hauptvereins, welche dann zu Hause über die dort gehörten Vorträge referirten und die Hallesche democratische Zeitung auch wohl die Reform durch welche Stockmann den früher sehr verbreiteten Halleschen Courier zu verdrängen sich bemüht hatte, vorlasen.«64

Auch der Bericht der Regierung Merseburg vom 21. September 1848 verweist auf die Aktivitäten von Dr. Stockmanns und hebt zugleich die Relevans für Thüringen hervor, was zudem mit anderen Meldungen korrespondiert: »Im Kreise Eckartsberga bemüht sich der ursprünglich auch zum Deputirten in die Preußische National Versammlung erwählte Dr. Stockmann zu Bibra in Verbindung mit einem Kaufmann aus Cölleda, Namens Striegnitz65, das Volk durch Reden kommunistischen Inhalts und Verspottung der Beamten auf jede Weise aufzuregen. Jeden Sontag hält er, begleitet von der Bibraer Bürgerwehr, welche jedes Mal bewaffnet auszieht, die Waffen auf dem letzten Dorfe vor der zum Versammlungsplatze bestimmten Ortschaft niederlegt, bald hier bald dort eine Volksversammlung, und vergrößert auf diese Weise, indem er stets andere, weiter entfernte Orte wählt, seine Anhänger mehr und mehr. Auch hat er bereits durch die große Zahl seiner ihm blind ergebenen Anhänger eine solche Furcht um sich zu verbreiten gewußt, daß es, wie der Kreislandrath versichert, die meisten Leute für gefährlich halten, gegen ihn zu zeugen. Hierzu kommen die schädlichen Einflüsse des nahen Auslandes, namentlich aus dem Großherzogthum Weimar, wo ganz unverholen die Herstellung einer thüringischen Republik erstrebt wird, welche öffentlich schon ihren Grenzen nach bezeichnet wird und zu welcher ein großer Theil der hiesigen Provinz gehören soll«66

Faktisch zeitgleich zu diesem Bericht erreichte die Organisation der Demokraten im Regierungsbezirk Merseburg eine neue Qualität, als am 17. und 18. September 1848 ein Verbrüderungsfest in Halle stattfand sowie im Anschluss 64 LHASA, MER, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 2r. 65 Es handelt sich um den Kaufmann Gustav Striegnitz aus Eckartsberga, der Anfang 1849 flüchtig war. Siehe die »Edictal-Citation« des Königlichen Inquisitoriats zu Zeitz in Naumburg vom 4. Januar 1849 im Eckartsbergaer Kreisblatt, ein Volksblatt für Thüringen 24 (12. Januar 1849) Nr. 2, Sp. 14 – 15. 66 GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. 506 Nr. 3 Bd. 3, Bl. 175 – 176v. So erklärte z. B. auch der Erfurter Hermann Alexander Berlepsch (1814 – 1883) auf dem Zweiten Demokratenkongress in Berlin am 27. Oktober 1848 für Thüringen: »daß dort 600 Soldaten den demokratischen Vereinen angehören, 5000 bewaffnete Bauern zum Zuzuschlagen bereit ständen; der letzte der 5 berufenen Volkstage von 18000 Männern besucht worden sei; Thüringen, die Wiege der Reformation werde die Wiege der Republik sein« Ebenda, Bl. 305.

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daran der erste Kreiskongress der demokratischen Vereine der Provinz Sachsen in der Stadt zusammentrat und sich als Provinzialverband67 mit einem 13 Punkte umfassenden Beschluss konstituiere: »1. Die sächsischen Demokratenvereine schließen sich zu einem Provinzialverband zusammen und zentralisieren sich in einem jedesmaligen Kreiskongreß durch die Abgeordneten der Vereine gewählten und aus 5 Mitgliedern bestehenden Kreisausschuß (Vorort), der von einem Kongreß zum anderen in Tätigkeit bleibt. Sie haben das demokratische Zentralkomitee in Berlin zu ihrem Mittelpunkt.«

In den folgenden Punkten wurden noch Aussagen zur Zielsetzung und Arbeitsweise sowie Presse getroffen. Abschließend fixierte man für die einzelnen Vereine die Aufgabe, »Volksversammlungen abzuhalten und darin der Reihe nach zu verhandeln: a) die Frage der deutschen Einheit, Heeresverfassung, Gemeindeverfassung, b) bäuerliche Verhältnisse, c) Gewerbeverhältnisse. [Und die Forderung:] Die Demokraten der Provinz Sachsen verlangen, daß die konstituierende Versammlung mit aller Energie ohne Verzug mit der Lage des arbeitenden und gewerbetreibenden Volkes sich beschäftigt.«68 An der Versammlung soll auch Stockmann teilgenommen haben, wodurch er weitere Kontakte knüpfen konnte. Unter anderem war der Erfurter Goswin Krackrügge (1803 – 1881)69 anwesend und hielt eine Rede zur Revolution.70 Krackrügge und Stockmann, die auch miteinander korrespondierten71, trafen zudem wieder zusammen, als sie gemeinsam mit weiteren Vertretern aus der Region am zweiten Demokratenkongress in Berlin teilnahmen, der am 26. Oktober begann.72 Von dort zurückgekehrt und unter dem Eindruck der sich in 67 Eine Untersuchung zur Kreiseinteilung der Demokraten liegt bisher nicht vor. In Bezug auf das landschaftliche Thüringen ist momentan davon auszugehen, dass die Kleinstaaten – mit Ausnahme von Sachsen-Altenburg – und der Regierungsbezirk Erfurt im Herbst 1848 als Kreis/Bezirk Thüringen firmierten, während der thüringische Anteil des Regierungsbezirkes Merseburg mit zum (provinzsächsischen) Kreis Sachsen zählte, es durch die administrativen und landschaftlichen Berührungspunkte jedoch zu Überschneidungen zwischen beiden kam. Anfang November 1848 war der Vorort im Bezirk Thüringen von Jena auf Erfurt übergegangen. Siehe dazu u. a. Thüringisches Staatsarchiv Gotha (im Folgenden ThStAG), Regierung Erfurt Nr. 397, Bl. 97 und Nr. 849, Bl. 199v. 68 Tullner, Die Revolution, 2. Auflage (wie Anm. 12), S. 199 – 200. 69 Vgl. zu seiner Person – jedoch ohne Bezug zu Stockmann – Peters, Herbert: Goswin Krackrügge. – In: Männer der Revolution von 1848 (Akademie der Wissenschaften der DDR, Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, 72). Herausgegeben vom Arbeitskreis Vorgeschichte und Geschichte der Revolution 1848/49. 2., durchgesehene Auflage. Berlin 1988, S. 277 – 296. 70 Vgl. Tullner, Die Revolution, 2. Auflage (wie Anm. 12), S. 121. 71 Vgl. den Hinweis auf Briefe von Krackrügge an den Bibraer in GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. 506 Nr. 4 Bd. 2, Bl. 200r. 72 Mitglieder des Zweiten Congresses der Deutschen Demokraten in Berlin, eröffnet am 26. October 1848. Berlin [1848], S. 7. Das Verzeichnis nennt 240 Personen. Vgl. http://books.

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Berlin zuspitzenden Verhältnisse – am 15. November hatte die preußische Nationalversammlung schließlich sogar »… zum passiven Widerstand und zur Steuerverweigerung …« gegenüber dem Ministerium Brandenburg aufgerufen73 – forcierte Stockmann seine Anstrengungen zur Realisierung der demokratischen Zielstellung. Etwa in dieser Zeit stand er »… in enger Verbindung und Correspondenz mit dem zur äußersten Linken gehörigen Abgeordneten Herold, Krackrügge, Graf Reichenbach, d’Ester. [Ferner waren …] an ihn […] die lithograpirten demokratischen Correspondenzen aus Berlin und aus dem Märzverein in Frankfurth gerichtet«74, was dem Arzt weitere Einblicke in die Verhältnisse ermöglichte. Auf dieser Basis entwickelte sich Bibra innerhalb weniger Tage zum Insurrektionszentrum für die Finne-Unstrut-Region, das auch auf benachbarte Gebiete ausstrahlte. Am 8. November fand in Kölldea eine zweite große Versammlung75 statt, auf der Stockmann als Kommandeur der gesamten Bürgerwehren im Kreis Eckartsberga gewählt wurde.76 Eine Woche später folgte am 15. November eine Volksversammlung in Bibra. Dort rief er zum bewaffneten Schutz der Nationalversammlung auf und sprach von einer zu bildenden Freischar bzw. mobilen Kolonne, die nach Halle ziehen sollte. Zugleich forderte er sämtliche Gemeinden des Kreises(?) auf, sich bewaffnet zu einer Versammlung in Lossa am folgenden Tage einzufinden. Vordergründig sollte es um Musterungsbelange gehen. Die Versammlung in Lossa fand auch wirklich am 16. November 1848 statt. Erschienen waren ca. 1.000 Bewaffnete. In Verbindung mit der Zusammenführung der Bewaffneten wurde in Bibra ein Büro durch Stockmann etabliert, in der die Fäden des zu organisierenden Widerstandes zusammen liefen. Von hier ergingen entsprechende Schreiben an die Gemeinden, die auch die Steuerverweigerung betrafen. Zudem wurden Statuten und Kriegsartikel für die Mobile Kolonne aufgesetzt und die Bewaffneten auf die Nationalversammlung bei entfalteter schwarz-rot-goldener Fahne vereidigt. Am 19. November erfolgte schließlich ein Zuzug von ca. 60 Bewaffneten unter Lohri aus Naumburg, womit der kreisliche Rahmen des Unternehmens gesprengt wurde und sich eine Expansion andeutete. Gerade das hatten die

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google.de/books?id=KX5TAAAAcAAJ& printsec=frontcover& hl=de& source=gbs_ge_ summary_r& cad=0#v=onepage& q& f=false [30. 06. 2014]. Tullner, Die Revolution, 2. Auflage (wie Anm. 12), S. 129. LHASA, MD, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 2r. Zur ersten großen Volksversammlung bei Kölleda kam es am 1. Oktober 1848, wo sich ca. 5000 Bauern aus den umliegenden Dörfern eingefunden hatten. Ob Stockmann dabei war, ist bisher nicht bekannt. Hauptredner war ein 22jähriger Hilfslehrer aus der Stadt. Vgl. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. 506 Nr. 4 Bd. 2, Bl. 120v. Im Kontext zum Hallenser Verbrüderungsfest wird in einer Publikation – jedoch ohne Quellenangabe – auch ein solches »im kleinen« am 24. September 1848 angeführt. Siehe Schmiedecke, Adolf: Die 48er Revolution im Landes Sachsen-Anhalt. Halle (Saale) 1948, S. 14. Vgl. LHASA, MER, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 2r.

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Behörden die ganze Zeit befürchtet. Die zahlreichen Berichte und die Kommunikation zwischen den Behörden bis hin zu den Regierungen in Erfurt und Merseburg sowie mit dem Oberpräsidenten der Provinz Sachsen und den Ministerien in Berlin belegen, dass man dort relativ gut über die Aktivitäten informiert war und unter Ausnutzung der Infrastruktur Gegenmaßnahmen vorbereitete, um eine weitere Eskalation und das Übergreifen auf andere Kreise bzw. angrenzende nichtpreußische Gebiete zu verhindern. So befürchtete man z. B. im Kreis Weißensee u. a. einen Überfall auf die dreyse’sche Gewehrfabrik in Sömmerda77, wo zu dieser Zeit Preußens modernstes Gewehr fabriziert wurde. Allerdings kam es nicht zu dem Befürchteten. Stattdessen zeichnete sich immer mehr ein militärisches Vorgehen gegen die Aufständischen in Bibra ab. Hatten sich am 16. November bei Lossa gesichtete Husaren noch zurückgezogen und konnte am 19. des Monats eine Abteilung Husaren bei Saubach78 sogar gefangen genommen werden, so verschob sich das Kräfteverhältnis zunehmend. Am 22. rückte eine mobile Kolonne unter General von Schack auf Bibra vor, wobei sich auch Regierungspräsident von Witzleben79 befand. Neuhaus der den Truppen entgegen ritt, um zu verhandeln, wurde sofort verhaftet und danach die Stadt ohne Gegenwehr besetzt. Im Zusammenhang mit der Präsens des Militärs, dass anschließend über Querfurt und Kölleda nach Westthüringen zog, sowie den einsetzenden Verhaftungen war damit die Unstrut-Finne-Region befriedet und der Aufstand gescheitert. Dr. Stockmann weilte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Bibra. Am 20. November hatte er die Stadt verlassen und Maas, Lohri und Dr. Neuhaus das Kommando übergeben. Ziel war Halle, wo er sich über den Stand der Dinge unterrichten wollte. Dort war es allerdings zu Kampfhandlungen zwischen Angehörigen des Lanzenkorps und der Bürgerwehr gekommen, die die Behörden zum Eingreifen gegen den Kreisausschuss der Demokraten in der Stadt nutzten.80 Somit war Dr. Stockmann der Weg nach Halle versperrt. Er änderte deshalb seine Reisepläne in Mücheln. Dort animierte er die Landwehrmänner bei einer Versammlung, dem Beispiel der Halberstädter81 Landwehr zu folgen, die keinen Grund für eine Einberufung sahen, sich aber im Falle der Mobilisierung zur Sicherung des Parlamentes einsetzen wollten. Am Abend nahm er schließlich an einer Versammlung des demokratischen Vereins in Schafstädt teil. Da ihm die Verhaftung drohte, begab er sich in der Nacht noch nach Querfurt, 77 ThStAG, Regierung Erfurt Nr. 849, Bl. 32. 78 Vgl. dazu auch Liebers (wie Anm. 10), S. 70 – 75. 79 Von Witzleben hatte erst wenige Tage zuvor die Nachfolge von Regierungspräsident Friedrich von Krosigk (1784 – 1871) angetreten. Siehe dessen Mitteilung vom 4. Oktober 1848 im Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Merseburg (7. October 1848) 40. Stück, S. 234. 80 Vgl. Tullner, Die Revolution, 2. Auflage (wie Anm. 12), S. 147. 81 Vgl. ebenda, S. 145 f.

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wo er Kontakt mit Maaß und Dr. Neuhaus aufnahm. Beide forderte er » … zwei Mal auf, die gefangenen Husaren, und die inhaftirten Gendarmen u. s. w. unter Einhändigen der abgenommenen Waffen zu entlassen, die mobilen Kolonnen aufzulösen, und in der Sache Nichts weiter zu unternehmen«82, was aber nicht befolgt wurde. Dr. Neuhaus gab dazu später zu Protokoll, dass er sich sogar am Abend des 21. November nach Querfurt begeben habe, wo ihm Dr. Stockmann mitteilte, dass die ganze Sache verloren sei und er sich auf die Flucht begeben würde.83 Von Querfurt reiste Dr. Stockmann mit der Post über Weißensee nach Erfurt, wo er am Morgen des 22. November eintraf. Mit der Thüringischen Bahn wollte er dann weiter Richtung Halle. Da er bereits in Erfurt erkannt worden war – was für seinen Bekanntheitsgrad spricht – , hatte er seine Verfolger auf den Versen. Ungestört konnte er noch mit dem Zug in Richtung Weimar fahren, wo die Behörden allerdings schon informiert waren und die Weiterfahrt unterbanden. Mit einer zusätzlichen Lokomotive war inzwischen Polizei nachgesandt worden, die die Verhaftung vornahm. Stockmann wurde daraufhin wieder nach Erfurt zurückgebracht und auf der Festung Petersberg inhaftiert. Eine Nachricht, die bei den Behörden bis nach Berlin schnell Verbreitung fand und auch in der Presse entsprechend publik gemacht wurde. Hinzu kam die bereits angeführte Besetzung von Bibra durch das Militär. Auch wenn es am 24. November noch zu militärischen Auseinandersetzungen in Erfurt kam, war damit eine Phase der Revolution im preußischen Thüringen bzw. der Provinz Sachsen beendet, die den Keim für weitere Aktivitäten der Demokraten in sich geborgen hatte. Nach seiner Verhaftung verbrachte Dr. Stockmann die nächsten Wochen auf der Festung Petersberg, wo auch seine Vernehmungen durchgeführt wurden. Anfang 1849 erfolgte zudem eine erste Verurteilung. Das Strafmaß bestand im Verlust der Nationalkokarde und in drei Jahren Festungshaft, welche am 15. Februar des Jahres auf der Erfurter Festung angetreten wurde.84 Bereits am 30. März 1849 wurde er mit einer Eskorte per Bahn von Erfurt nach Magdeburg gebracht, und in der dortigen Festung inhaftiert, wo sich weitere verurteilte Aufständische aus dem Preußischen befanden.85 Dort ging ihm schließlich das Strafmaß seiner zweiten Verurteilung zu, welches sich auf 25 Jahre Festungshaft und den Verlust des Rechts, die Nationalkokarde tragen zu dürfen, belief.86 Zunächst stand Stockmann noch zu seinen bisherigen Anschauungen und »… verrieht aber in der ersten Zeit nach seiner Verhaftung keine eigentliche Reue …«. Darüber hinaus dürfte er sich mit Fluchtgedanken getragen haben. 82 83 84 85 86

Dr. Stockmann (wie Anm. 6), S. 21. Vgl. LHASA, MD, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 76. Vgl. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 16 f. Vgl. SAE, 1 – 1/XVIn 13, Bl. 4v. Vgl. LHASA, MER, Landesarchiv Merseburg, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. II, Bl. 1.

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Aus einem Schreiben von 1851 geht hervor, dass man ihn zweier Fluchtversuche verdächtigte.87 Hinzu kam, dass er sich in einem Brief, welcher dem Kommandanten in die Hände gefallen war, gegen »seine sogenannten Feinde« derartig äußerte, dass dies als Rachegedanken interpretiert wurde.88 Zunehmend scheint er sich jedoch von seinen ursprünglichen Vorstellungen distanziert und auch die Nähe zum Festungspersonal gesucht zu haben. Am 12. Mai 1851 wandte er sich an den im vorigen Jahr zum Oberpräsidenten der Provinz Sachsen ernannten Hartmann Erasmus von Witzleben mit der Bitte um Unterstützung für ein Gnadengesuch beim König und führte darin u. a. aus: »Durch reifliches Nachdenken und genaue Selbstprüfung meiner innersten Gedankenverbindungen bin ich schon längst zu der Ueberzeugung gelangt, daß meine hieraus hervorgegangenen politischen Ansichten mit meinen frühern Handlungen im direkten Widerspruch stehen, und daß nur rein aus persönlichen Angelegenheiten entsprungen, unklare und nicht zu entschuldigende höchst untergeordnete Motive mich anscheinend einer Partei in die Arme gestürzt haben, mit welcher ich nichts weiter gemein habe, als die gerechte Strafe. Ich verabscheue Alles, was ich früher in meiner Verblendung gethan habe, und die Erinnerung an das Jahr 1848 treibt mir stets Schaamröthe in das Gesicht. Ich hasse die Demokratie in der Wirklichkeit, und auch Sie Herr Ober-Präsident werden es daher verzeihlich finden, wenn ich immer wieder zu dem Gedanken zurückkehre, Sr. Majestät reumüthig um Gnade anzugehen. Nur die mächtigste Fürsprache indeß wird im Stand sein, das gerechte Mißtrauen, welches nothwendig gegen mich obwalten muß, beseitigen zu können.«89

Und auch Familienangehörige – hier insbesondere seine Mutter – wandten sich an die preußischen Behörden mit der Bitte um Begnadigung.90 In ihrem Schreiben vom 30. Juni 1850 an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795 – 1861) lässt sich dabei erstmalig die Verknüpfung der Begnadigung mit der Auswanderung nach Amerika nachvollziehen.91 Ein »Alternativvorschlag« der nachfolgend immer wieder eingebracht und schließlich sogar 1854 als Voraussetzung Akzeptanz erlangte. Bis dahin wurde allerdings den Gesuchen nicht entsprochen sowie vielmehr die Verlegung von Dr. Stockmann auf die Festung Weichselmünde bei Danzig angeordnet und Ende Mai/Anfang Juni 1851 realisiert. Seine Mithäftlinge betrachteten dies mit zwiespältigen Gefühlen, wie Gustav Rasch (1825 – 1878) in seinen Lebenserinnerungen schreibt:

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Vgl. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 17r. Ebende, Bl. 10v. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 12r. Siehe dazu generell den Schriftwechsel in GStAPKP, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65 und LHASA, MER, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. I. 91 Vgl. GStAPKB, I. HA Rep. 77 Tit. VI Spez. Lit. St Nr. 65, Bl. 1 – 3r.

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»Am dritten Tage erschien Morgens um sechs Uhr ein Polizei-Commissarius in Begleitung von zwei Unter-Officieren auf der Citadelle, um Dr. Stockmann nach Weichselmünde zu führen. Ein Wagen hielt vor der Thüre des Bagno [= Gefängnis/Zuchthaus], um ihn mit seiner militärischen Begleitung zum Bahnhofe zu bringen. Die Gefühle, mit denen wir ihn scheiden sahen, waren sehr verschiedener Natur. Seine während der letzten Monate immer mehr in die Augen fallenden Beziehungen zum Commandanten und zum »Citadellen-Pfaffen« hatten unsere früher so freundschaftlichen Gefühle für ihn fast vollkommen ausgelöscht. Mehrere politische Gefangenen weigerten sich, von ihm Abschied zu nehmen – und so war sein Scheiden nichts weniger als beneidenswerth.«92

In Weichselmünde scheint Stockmann in einer gewissen Selbstisolation gelebt zu haben. Sein Mitgefangener Hermann Becker (1820 – 1885), der im November 1852 im »Kölner Kommunistenprozess« zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt und Anfang Februar 1853 von Fort Preußen nach Weichselmünde verlegt worden war, schrieb dazu am 7. Februar 1853: »Mein einziger Umgang ist Dr. Stockmann aus Bebra[!], der nur Medizin treibt.« Wie sich der Kontakt im Einzelnen gestaltete ist nicht bekannt. Zumindest kann jedoch geschlussfolgert werden, dass sich für Dr. Stockmann über Becker ein zusätzlicher gewisser Kontakt ins preußische Thüringen ergab, da dessen Onkel der schon angeführte Erfurter Goswin Krackrügge war, den der Arzt persönlich kannte. Über Becker dürften sich Stockmann auch zusätzliche Möglichkeiten zur Zeitungslektüre eröffnet haben, der sein verfügbares Pressespektrum im bereits angeführten Schreiben wie folgt kennzeichnete: »Ich lese hier die »Neue Preußische Zeitung« durch Gefälligkeit des Herrn Kommandanten, den [Preußischen] Staatsanzeiger und die Erfurter Allgemeine Zeitung, ein trauriges Lokalblättchen, welches ich aus Pietät gegen den Herausgeber, meinen Onkel G. Krackrügge, der es mir zuschickt, annehme; aber das, so oft ich hereinschaue, einen Leitartikel über die Polizeistunde oder dergleichen enthält.«93

Nach den erfolglosen Gnadengesuchen in Magdeburg bemühte sich Dr. Stockmann auch in Weichselmünde um seine Freilassung. Bereits am 11. Januar 1852 richtete er ein Immediatgesuch an die Behörden, was aber abgewiesen wurde. Analog verhielt es sich mit einem weiteren Gesuch im Januar 1854. Am 30. November des Jahres unternahm Dr. Stockmann den nächsten Versuch, der günstigere Aufnahme fand, zumal er namhafte Fürsprecher – darunter der Berliner Generealpolizeidirektor Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey (1805 – 92 Rasch, Gustav : Aus meiner Festungszeit. Ein Beitrag zur Geschichte der preussischen Reaction. Pest, Wien und Leipzig 1868, S. 141 f. 93 Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849 – 1861 (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien). Bearbeitet von Christian Jansen. Düsseldorf 2004, S. 306, Nr. 161.

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1856), Oberpräsident von Witzleben und der Bibraer Magistrat – fand und sein Gesundheitszustand darüber hinaus so eingeschätzt wurde, dass er das Ende seiner Haft nicht lebend erreichen würde. So schrieb Hinckeldey – der Dr. Stockmann aus seiner Zeit als Oberregierungsrat in Merseburg kannte und mit Angehörigen des Inhaftierten in Verbindung stand – am 24. Dezember 1854 u. a. dazu an den preußischen König: »Ich kenne den Stockmann genau, er ist eine wilde, heftige und leidenschaftliche Natur, aber er ist kein böser Mensch, er ist insbesondere, wofür Ew. König. Majestät allerunterthänigst einzustehen ich mir erlaube, kein Heuchler! wenn daher der Stockmann in seinem beigefügten Begnadigungsgesuch die tiefe Reue über seine Vergehen offen bekennt, so ist solches ächt und wahr, wie dies auch der Commandant von der Mülbe gleichzeitig mit mir behauptet.«

Zugleich wurde verschiedentlich die Begnadigung anderer verurteilter Teilnehmer am Aufstand in der Unstrut-Finne-Region mit angesprochen. Am 7. August 1855 begnadigte deshalb der preußische König Friedrich Wilhelm Dr. Stockmann zusammen mit Dr. Neuhaus unter der Auflage der sofortigen Auswanderung und der Androhung der Verhaftung, falls sie jemals nach Deutschland zurückkehren sollten. Am 16. wurde Stockmann der Gnadenakt bekanntgemacht, den er »mit den tiefsten Gefühlen der Ehrfurcht und des Dankes an [-nahm]«. Anschließend reiste er nach Berlin zu Hinkeldey, von wo er sich am 23. August des Jahres auf den Weg nach Nordamerika begab. Die nötigen Finanzmittel hatten dazu Verwandte zur Verfügung gestellt.94 In Amerika siedelte sich Dr. Stockmann aber nicht – wie seinen Verwandten ursprünglich vorschwebte – in Texas an. Vielmehr führte ihn sein Weg in den Staat Connecticut, wo er als Arzt tätig war und zuerst in Bridgeport lebte. Von dort zog er Anfang der 1860er Jahren nach New Haven. In der Zwischenzeit dürfte ihn auch die Nachricht von seiner Amnestierung95 erhalten haben, die Ende 1860 bzw. Anfang 1861 für ihn und eine Anzahl weiterer Verurteilter und Flüchtlinge ausgesprochen wurde. Damit bestand die Möglichkeit zur problemlosen Rückkehr in seine Heimat. Stockmann nutzte diese Chance allerdings nicht, da er sich in Amerika schon zu sehr etabliert hatte und vielleicht auch noch Ressentiments hinsichtlich seiner früheren Gegner hegte. Bedeutung sollte er dort insbesondere noch durch sein freimaurerisches Wirken erhalten. Der zeitliche Rahmen legt es dabei nahe, dass Stockmann, wie 94 LHASA, MER, Rep. C 125 Naumburg Nr. 8 Bd. I, Bl. 86r. 95 Siehe z. B. die Mitteilung zum »Freischaarenführer in Thüringen« in der Augsburger Postzeitung (23. Januar 1861) Nr. 20, S. 118. Vgl. http://books.google.de/books?id=s8 V DAAAAcAAJ& pg=PA118& dq=stockmann+th%C3%BCringen& hl=de& sa=X& ei= fCFbUe7WPI3LswaSmoHACg& ved=0CFIQ6AEwBThu#v=onepage& q=stock mann%20th%C3%BCringen& f=false [30. 06. 2014]. Eine Überprüfung anhand von Akten steht noch aus.

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bereits oben vermutet, eventuell schon in Deutschland den Grad eines Lehrlings bzw. Gesellen erlangt hatte. Die bisher ermittelten Belege deuten ferner darauf hin, dass er bereits in der ersten Hälfte der 1860er Jahre über einen entsprechenden Einfluss verfügte. So beteiligte er sich 1864 an Aktivitäten zur Errichtung einer deutschen Freimaurerloge in New Haven. Dazu hatte die Großloge von Connecticut am 18. Mai die Erlaubnis erteilt, so dass am 24. Juni 1864 die Eröffnung erfolgte.96 Diese »Connecticut-Rock-Loge« – die später die Nr. 92 erhielt und ca. 80 Mitglieder umfasste – stand bis Ende 1867/Anfang 1868 unter der Leitung von Stockmann97, welcher danach exponiert als »Past Master«98 fungierte. Auch mit Deutschland und seiner thüringischen Heimat stand Dr. Stockmann weiter in Verbindung. Wie aus dem Nachruf von 1873 hervorgeht, unterstützte er zudem seine Schwestern und andere Verwandte mit Geldsendungen. Schließlich sollte ihn der Deutsch-Französische Krieg – sofern die Meldung stimmt – 1870 nochmals in sein Geburtsland führen. Nach Ausbruch der Kampfhandlungen im Juli des Jahres und dem Eintreffen entsprechender Nachrichten in Amerika, muss sich Stockmann relativ schnell zu einer Reise nach Deutschland entschlossen haben. Eingetroffen sein dürfte er im September bzw. Anfang Oktober. Wie aus Zeitungsmeldungen hervorgeht, »stellt[e er] sich dem preußischen Kriegsminister zur Verfügung und [… bat] um eine seinen Kenntnissen angemessene Verwendung«. Daraufhin soll ihm die Oberleitung eines in Bernburg befindlichen Lazarettes übertragen worden sein.99 Möglich ist ferner, dass er in Verbindung mit dem Aufenthalt kurzzeitig bei seinen Verwandten in Thüringen weilte. Die Rückkehr nach New Haven ist für das Frühjahr bzw. den Sommer 1871 anzusetzen. Rund zwei Jahre später starb er dort als angesehenes Mitglied der Kommune New Haven. 96 Siehe den Hinweis darauf in: Neben-Gesetz der Connecticut Rock-Loge No. 92, F. & A.M., zu New Haven, Conn.: Autorisiert durch die Groß-Loge von Connecticut am 18. Mai, eröffnet am 24. Juni 1864. New Haven 1909. http://books.google.de/books/about/Neben_Gesetz_ der_Connecticut_Rock_Loge_N.html?id=EvLUtgAACAAJ& redir_esc=y [30. 06. 2014].. 97 Im Bericht von 1868 wird bereits sein Nachfolger John Ruff genannt: Vgl. Proceedings of the most worshipful Grand Logde of Ancient, Free & Accepted Masons of the State Connecticut, May 13th and 14th, A. L. 5868. Hartford 1868, S. 89. Vgl. http://books.google.de/books?hl= de& as_brr=3& id=yXstAQAAMAAJ& dq=stockmann+carl+haven& q=stockmann#v= onepage& q=stockmann& f=false [30. 06. 2014].. 98 Vgl. Proceedings of the most workshipful grand logde of Ancient Free and Accepted Masons, of the State of Connecticut, May 11 and 12, A. L. 5870. Hartfort 1870, S. 605 (dort auch ein Verzeichnis der Logenmitglieder). Vgl. die Referenz wie Anm. 97. 99 Volks-Zeitung. Organ für Jedermann aus dem Volke 18 (20. November 1870) Nr. 290. Den Hinweis dazu siehe auf dem Bamberger Exemplar der Schrift Dr. Stockmann (wie Anm. 6). Eine Bestätigung dafür konnte anhand von anderen Quellen bisher aber nicht erbracht werden. Der Autor dankt in diesem Zusammenhang Herrn Christian Brenk vom Stadtarchiv Bernburg für seine Recherchen und Mitteilungen vom 14. und 17. Februar 2014.

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Stefan Gerber

Nationaler Liberalismus und liberaler Katholizismus. Die Jenaer Jahre von Franz Xaver Wegele 1848 – 1857

Franz Xaver Wegele, der 1823 als Sohn eines Metzgermeisters und einer Webertochter im oberbayerischen Landsberg am Lech geboren wurde, und dessen Name heute – obwohl er zu den bekannten deutschen Historikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte – bestenfalls noch an seiner langjährigen akademischen Wirkungsstätte Würzburg und bei Historiographie-Historikern Assoziationen weckt1, hat etwas Entscheidendes mit anderen wichtigen Jenaer Historikern des »langen« 19. Jahrhunderts, wie Johann Gustav Droysen oder Dietrich Schäfer gemeinsam: Er hat die Jahre seiner vollen Entfaltung als universitärer Forscher und Lehrer, die Zeit seiner Etablierung als einer der zeitgenössisch bestimmenden Köpfe der historischen Zunft in Deutschland nicht in Jena verbracht. Wer von Wegele als einem Jenaer Historiker spricht, könnte sich somit den Vorwurf einhandeln, mangels geschichtswissenschaftlicher Celebritäten einen Mann für die Salana vereinnahmen zu wollen, der nur am Rande mit dieser Universität zu tun hatte. Universitäre Gedächtnisstrategien und Geschichtspolitiken dieser Art sind gerade auch im ausufernden Hochschul-Marketing der Gegenwart nicht ohne Beispiel. Die Gedenktafeln, die zuerst im Vorfeld des 300. Universitätsjubiläums von 1858 auf Initiative des Jenaer Physikers und engagierten Stadtbürgers Hermann Schaeffer an Jenaer Häusern angebracht wurden, sind ein kennzeichnendes Medium solcher universitären Geschichtspolitik und Erinnerungskonkurrenz aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: Und sei der Aufenthalt auch nur eine Nacht kurz gewesen: Die Tafel am Haus (das zudem oftmals nicht einmal der »reale« Aufenthaltsort des Geehrten in Jena gewesen ist) schuf eine besondere Beziehung von Person und Universitätsstadt. 1 Zu Wegeles Biographie vgl. B[ernhard] Seuffert: Franz Xaver Wegele, in: Euphorion 1898/5, S. 429 f.; Richard Graf Du Moulin Eckart: Art. »Wegele, Franz Xaver«, in: ADB. Bd. 44. Leipzig 1898, S.443 – 448; Alfred Wendehorst: Franz Xaver von Wegele, in: Gerhard Pfeiffer/Alfred Wendehorst (Hg.): Fränkische Lebensbilder. Bd. 7. Neustadt/Aisch 1977, S. 222 – 240; Friedrich Henning: Ein Gelehrtenleben zwischen Jena und Würzburg. Franz Xaver Wegele, in: Der Schnapphans 1984/46, S. 6 – 8.

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Wegele ist in Jena nie mit einer solchen Tafel geehrt worden. Liegt es daran, dass er Jena gern verließ, als er 1857 einen Ruf nach Würzburg erhielt? Dem Extraordinarius, der – wie sich Wegeles Freund Rochus von Liliencron erinnert2 – im Jena der 1850er Jahre als akademisches Halbwesen von äußerst zweifelhaftem Kredit galt, wird man das kaum verdenken können. War er, der auf den ersten Blick als bajuwarisch-katholischer Exot im protestantisch-mitteldeutschen Jena der Jahre um 1850 erscheinen kann, aufgrund konfessioneller Reserven nicht erinnerungswürdig? Sein Katholizismus stellte für Wegele tatsächlich ein zentrales Problem des akademischen Karriereweges dar – aber nicht, wie es naheliegen würde, aufgrund kulturkämpferischer Zurücksetzung des katholischen Historikers oder der Vorurteile eines auch nach der Kulturkampfära blühenden populären Antikatholizismus. Sondern weil Wegele – wir werden darauf zurückkommen – der ultramontanen Überformung und Modernisierung des deutschen Katholizismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ablehnend gegenüberstand und sich nicht nur politisch, sondern auch in kirchlichen Belangen als »Liberaler« verstand: Ein katholischer Liberaler freilich nicht im Sinne des ultramontanen katholischen Liberalismus eines Lamennais und eines Montalembert, sondern ein deutscher Nationalliberaler, der »auch« katholisch war und mit den Konflikten, ja Aporien, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dieser Konstellation ergeben mussten, letztlich nie fertig werden konnte. Vielleicht ist es dieses zeitlebens trotz aller späteren akademischen Würden erkennbare »Zwischen-den-Stühlen-Sitzen« in einer vom konfessionellen Gegensatz mitgeprägten Gesellschaft und Wissenschaft, das Wegele in Jena, wo sonst kaum ein Hochschullehrer des 19. Jahrhunderts der Verewigung auf einer Gedenktafel entgehen konnte, einen gesicherten Platz im universitären Gedächtnis nicht erlangen ließ. In seinem persönlichen Leben – und damit kommen wir zur Relevanz einer Beschäftigung mit Wegeles Jenaer Jahrzehnt zurück – war die Station an der thüringischen Universität indes keineswegs marginal: Es war die akademische und politische Prägezeit, die Wegele nach der Auskunft seines Schülers Richard Du Moulin-Eckart »immer für die schönste seines Lebens gehalten hat«3. Im Folgenden soll sich der Blick auf diese Prägungen der Jenaer Jahre nach der Revolution von 1848/49 richten: Zum einen auf die Entwicklung von Wegeles politischer Positionierung, die mit seinen wissenschaftlichen Prämissen eng verknüpft war ; zum anderen auf die spezifische und folgenreiche Ausprägung von Wegeles religiös-konfessioneller Sozialisation. Ursprung der gemäßigt-liberalen, kleindeutschen politischen Orientierung 2 Vgl. Rochus Freiherr von Liliencron: Lebenserinnerungen, in: Deutsche Rundschau 1913/39, H. 8, S. 192 – 214, hier S. 201. 3 Du Moulin Eckart 1898 (wie Anm. 1), S. 444.

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Franz Xaver Wegeles war sicher sein Studium in Heidelberg, wo er, nach kurzem Studienaufenthalt in München im Wintersemester 1842/43, bis 1847 Geschichte und Literaturgeschichte studierte. Wegele hörte hier Friedrich Christoph Schlosser, den schon seit 1817 an der nunmehr badischen Universität lehrenden Veteran der Heidelberger Geschichtsschreibung zwischen Aufklärungshistorie und Historismus, vor allem aber die Vertreter der jüngeren Generation: Den seit 1830 in Heidelberg arbeitenden Georg Gottfried Gervinus und den noch 1845 zum Extraordinarius avancierten Ludwig Häusser – Häusser sollte auch in späteren Jahren ein Gesprächspartner und Unterstützer Wegeles bleiben. Durch diese beiden politischen, liberal-konstitutionellen Historiker wurde Wegele gerade in jenen spannungsgeladenen letzten Vormärzjahren an Geschichte und Geschichtswissenschaft herangeführt, als Gervinus und Häusser – vor allem durch die Herausgabe der »Deutschen Zeitung« – unmittelbar an der politischen Sammlung und Differenzierung des süddeutschen Liberalismus beteiligt waren. Von beiden Lehrern ist in Wegeles historischem Oeuvre und in seinem politischpublizistischen Agieren ein »Erbteil« nicht zu verkennen: Von Gervinus die moderne, als Kultur- und Sozialgeschichte der Literatur verstandene Literaturgeschichte, die ihm, vor allem mit seinem 1852 dann bereits in Jena veröffentlichen und bis 1879 dreimal wiederaufgelegten Buch zu Dante oft heftige Kritik der Textphilologen einbringen sollte.4 Programmatisch formulierte Wegele hier das Gervinussche Programm von Literaturgeschichte: Es gehe ihm darum, »Dante aus dem Kreise der blos ästhetischen oder bewundernden Betrachtungsart heraus in die Reihe historischer Probleme einzuführen«5. Und das hieß für Wegele auch, Dante und seine Welt mit den Augen des deutschen Nationalliberalen der Nach-48er-Jahre zu lesen: Charakteristisch setzt sein DanteBuch mit dem anachronistisch anmutenden Abschnitt »Die nationale Emanzipation Italiens« ein.6 Ludwig Häusser dagegen ist der eigentliche Anreger des politischen Historikers Wegele gewesen; in seiner Nachfolge ist in Wegeles Schriften allerorten die dezidierte kleindeutsch-borussische Parteinahme zu entdecken. Fast wäre Häusser, als dessen Schüler Franz Xaver Wegele sich wohl in erster Linie sah, ein nachfolgender Kollege Wegeles in Jena geworden: Nach dem Weggang Droysens nach Berlin 1859 bemühte sich der Jenaer Universitätskurator Moritz Seebeck intensiv aber vergeblich, Häusser zum Wechsel an die Saale zu bewegen7 und

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Vgl. Franz Xaver Wegele: Dantes Leben und Werke. Kulturgeschichtlich dargestellt. Jena 1852. Ebd., S. V. Ebd., S. 1. Vgl. dazu Stefan Gerber : Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 509 f.

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musste sich schließlich mit der zweiten Garnitur liberal-konstitutioneller, preußisch gesinnter Historiker, mit Adolf Schmidt zufriedengeben.8 Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Wegele, nachdem er 1847 in Heidelberg promoviert worden war, seinem in die Frankfurter Nationalversammlung gewählten und dort dem rechten Zentrum verbundenen Lehrer Gervinus nach Frankfurt am Main folgte. Von dort aus richtete er im August 1848 das Gesuch nach Jena, sich an der ernestinischen Gesamtuniversität für Geschichte und Literaturgeschichte zu habilitieren. Ob es über den Ruf Jenas als einer Aufstiegsuniversität für den akademischen Nachwuchs und als eine mit vergleichsweise großen Spielräumen ausgestattete, »liberale« Universität hinaus auch persönliche Empfehlungen gab, die Wegele an die Saale führten, ist nicht erkennbar. Zum Jenaer Ordinarius der Geschichte Adolf Schaumann, der in Jena seit 1846 als Nachfolger Heinrich Ludens Geschichte in einen staatswissenschaftlichen Zusammenhang einbettete, und vor allem zu den Jenaer Professoren in der Paulskirche bestanden wohl keine Kontakte: Weder zu dem Nationalökonomen Gustav Eduard Fischer, der als Mitglied der Casino-Fraktion Wegeles politischen Ansichten nahe stand und ein staatswissenschaftliches Seminar an der Universität Jena begründete, noch zum Oberappellationsgerichtsrat und juristischen Honorarprofessor Gottlieb Christian Schüler, der sich im »Deutschen Hof« und im Zentralmärzverein der Linken zurechnete.9 Noch war Kurator Seebeck, der Jena in den 1850er Jahren im engen Zusammenspiel mit sachsen-weimarischen Staatsminister Bernhard von Watzdorf zu einem liberal-konstitutionellen Professorenseminar zu machen versuchte, bis der Beginn der »Neuen Ära« in Preußen diesen Bemühungen weitgehend den Boden entzog, nicht berufen.10 Begegnet sein können sich Wegele und der spätere maßgebliche Jenaer Universitätspolitiker in Frankfurt, wo sich im Jahr der Nationalversammlung Deutschland politisch-intellektuelle Elite sammelte, allerdings durchaus: Seebeck hielt sich 1848/49 als Gesandter Sachsen-Meiningens bei der Provisorischen Zentralgewalt in Frankfurt auf und streckte seine

8 Zu Schmidts Wirken vgl. Hans-Werner Hahn: Geschichtswissenschaft im Dienst von Einheit und Freiheit: Der Jenaer Historiker Adolf Wilhelm Schmidt (1812 – 1887), in: Dieter Hein/ Klaus Hildebrand/Andreas Schulz (Hg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag. München 2006, S. 411 – 428. 9 Schülers Briefe aus Frankfurt sind ediert und kommentiert in: Sybille Schüler/ Frank Möller (Hg.): Als Demokrat in der Paulskirche. Die Briefe und Berichte des Jenaer Abgeordneten Gottlieb Christian Schüler 1848/49. Köln/Weimar/Wien 2007. 10 Zu Seebecks Strategie, die an der Berufung Johann Gustav Droysens besonders augenfällig wird, vgl. Stefan Gerber : »Dieses Bethlehem unter den Universitäten…«. Johann Gustav Droysens Berufung nach Jena 1851, in: Klaus Ries (Hg.): Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers, Stuttgart 2010, S. 11 – 30.

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Fühler nach vielen Seiten aus – Kontakte, die in den 1850er und 1860er Jahren eine der wichtigen Grundlagen seiner Jenaer Berufungspolitik bilden sollten.11 Wegeles Habilitationsabhandlung, die Thesen, die er im Herbst 1848 in Jena verteidigte und das Thema seiner öffentlichen Probevorlesung verweisen auf die mittelalterliche Geschichte als sein dominierenden Interessengebiet, auf dem er auch an der Salana tätig sein sollte: Er schrieb über den Bremen-Hamburger Erzbischof Adalbert I. aus der Mitte des 11. Jahrhunderts, sprach über Dante, das Nibelungenlied und – eine Reminiszenz an seine Herkunft – über die historische Abkunft des Stammes der Bayern. Seine öffentliche Vorlesung hatte am 2. November 1848 die politischen Bewegungen der Reformationszeit, besonders die Gestalt Ulrichs von Hutten zum Gegenstand, bot also durchaus Anknüpfungspunkte an die Ende Oktober und Anfang November 1848 mit der Revolutionswelle des Herbstes in ganz Deutschland wie auch in Thüringen wieder revolutionär aufgewühlte Gegenwart. Wegeles Lehrtätigkeit in Jena umfasste ungeachtet seiner mediävistischen Forschungsschwerpunkte, das gesamte Feld der deutschen Geschichte: Der Bogen spannte sich von dem, was damals als ihre »Anfänge« angesehen wurde, bis hin zur unmittelbaren Zeitgeschichte. Dazu traten Vorlesungen zur mittelalterlichen Geschichte Italiens, zu Dante, Rousseau und auch zu Paläographie und Diplomatik – anders als mancher zeitgenössische Kollege, so Bernhard Seuffert 1898, habe Wegele die Hilfswissenschaften geschätzt, »aber sie wurden ihm nicht der Kern seiner Wissenschaft«.12 Es waren denn auch zeitgeschichtliche Werke, zwei kleine Bücher, mit denen der neue Privatdozent seinen »Einstand« an der thüringischen Universität beging: Im Herbst 1849 erschien »Genesis und Verlauf der deutschen Revolution«, das weitreichenden Einblick in Wegeles Erleben und Deuten der Revolution von 1848/49 ermöglicht und ein Jahr später, 1850, eine Biographie zu Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Wegele stellte sich in diesen Schriften zunächst insofern auf den Boden der Revolution, als er ihren Ausbruch und ihre primären Zielsetzungen nicht nur als eine Notwendigkeit, sondern auch als einen Aufbruch beschrieb. Am Ende des Revolutionsjahres 1849 resümierte er in einem geschichtspolitischen Parforceritt, der von der Februarrevolution zurück zu Barbarossa führte, das deutsche Volk habe »seit dem Februar des vorigen Jahres […] den Anlauf« genommen, »das Ziel der Einheit und Freiheit, das so lange als täuschendes Ideal vor ihm gestanden, in Einem Anlauf zu erringen. Es bot dazu alle geistigen Kräfte auf, die es großgezogen und gezeitigt hatte. Der ganze künstliche Bau der Restaurationsepoche ging aus den Fugen und stürzte wie ein Kartenhaus zusammen; jede feindliche Macht, die sich bis dahin vor jenes Ziel abwehrend gestellt hatte, wich zurück und verbarg sich; 11 Vgl. dazu Gerber 2004 (wie Anm. 7), S. 153 – 179. 12 Seuffert 1898 (wie Anm. 1), S. 430.

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lang Getrenntes reichte sich jubelnd die Hände und die Vertreter der Nation unterzogen sich der Aufgabe, einen Bau zu zimmern, in dem sich die ganze Kraft und Größe derselben entfalten könne; auf den Trümmern der alten morsch gewordenen Welt sollte eine neue dauerhaftere entstehen und endlich sollten unsere dreißig Kronen umgeschmolzen werden in dem Schmelztiegel der Revolution zu einer einzigen, um sie dem erwachten Barbarossa auf das kaiserliche Haupt zu drücken.«13 Alles Revolutionspathos, das die tiefen Eindrücke Wegeles in den beiden zurückliegenden Revolutionsjahren widerspiegelte, konnte indes schon hier nicht überdecken, dass er den Aufbruch zu Einheit und Freiheit als einen Aufbruch »geistiger Kräfte« ansah, die, ganz im Sinne des gemäßigten Liberalismus, eine der »bürgerlichen Verbesserung« in weiten Teilen noch bedürftige Volksbewegung auf ihrem Weg leitend begleiten und soziale Radikalisierungen begrenzen sollte. Revolution in Deutschland musste in Wegeles Augen von Männern wie seinen Lehrern Schlosser, Gervinus und Häusser gemacht werden. Noch deutlicher wurde diese Sicht auf den Gesamtprozeß der deutschen Revolution mit wachsenden zeitlichen Abstand ein Jahr später in der Carl-August-Biographie: Lakonisch begann Wegele, eben die revolutionären Nachwehen der preußischen Unionspolitik miterlebend, das Buch mit dem Satz: »Wir leben in einem revolutionären Zeitalter«14, um an diese Feststellung eine ausführliche Würdigung dessen anzuschließen, was, im Gegensatz zur Revolution der Franzosen, die eigentliche »deutsche Revolution« gewesen sei, die sich »in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts« vollzogen habe und 1848 nur zum Ziel hätte geführt werden müssen: die Aufklärung. Es sei den aufgeklärten Eliten gelungen, »die Nation aus verrotteten Formen des Lebens, der Gesellschaft und der Literatur herauszuführen, tiefgewurzelte unsittliche Vorurtheile abzuwerfen, und Aufklärung und Toleranz an die Stelle derselben zu setzen.«15 Unter diesen »verrotteten Formen«, auch daran ließ Wegele hier wie in späteren Veröffentlichung keinen Zweifel, habe das Alte Reich den vordersten Platz eingenommen. In Formulierungen, die geradezu als Lehrbuchbeispiele der nationalliberalen, borussischen Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten können, stellte Wegele noch 1873 in der Einleitung zum 1. Band ausgewählter Werke Friedrich des Großen die »Zerrissenheit« und »Ohnmacht« des Reiches und seiner Verfassung dar, »in welche die deutsche Nation durch das Verhängniss [sic] ihrer Geschichte und ihres eigenen Temperamentes verstrickt war.« Das Reich, das »auch den bescheidensten Ansprüchen« nicht mehr habe genügen können, habe scheitern und sich zersetzten müssen, weil »dasselbe nicht auf einem wahrhaft nationalen Prinzip aufgebaut war, und nicht von innen 13 [Franz Xaver Wegele]: Genesis und Verlauf der deutschen Revolution. O.O [1849], S. 1 f. 14 Franz Xaver Wegele: Karl August, Großherzog von Sachsen-Weimar. Leipzig 1850, S. 5. 15 Ebd., S. 7.

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herausgewachsen, von Haus aus keinen wahrhaft nationalen Charakter an sich trug.«16 1850 stellte Wegele, wie es der nationalliberal-kleindeutschen Meistererzählung entsprach, auch die Wiener Nachkriegsordnung und den Deutschen Bund in die aus der Spätzeit des Alten Reiches herrührende Linie anationaler und deshalb mit historischer Notwendigkeit scheiternder politischer Gestaltungen in Deutschland. Mit ihren »unsittlichen Künsten und Hebeln« habe die Diplomatie in Wien den von Beginn an aussichtslosen Versuch unternommen, eine dauerhafte Neuordnung zu bewerkstelligen und damit »die gerechten Hoffnungen der deutschen Patrioten getäuscht«.17 Zudem dürfe nicht vergessen werden, dass 1815 nicht nur der »fatale Conflikt der Verhältnisse«, sondern auch die »Wortbrüchigkeit, Thorheit, und der unverzeihlich Eigennutz so mancher deutscher Fürsten« die Deutschen »um die Einheit betrogen« habe.18 Das war in der Biographie des Vaters eines regierenden deutschen Fürsten, seines Jenaer Landesherrn, gewagt, wie denn Wegele auch an anderen Stellen der Schrift geschickt die Möglichkeit nutzte, mithilfe des Lobes für den Weimarer Herzog bzw. Großherzog, dessen politische Ideen so gar nicht »zu den Ansichten des Fürsten Metternich« gepasst hätten, Kritik an den deutschen Monarchen des Jahres 1850 zu üben. Wie viel, merkte er abschließend an, könnten Fürsten und Völker aus dem Leben Carl Augusts lernen, aber »unsere Fürsten scheinen sich wieder mehr als je auf den Satz zu verlassen, daß durch unendlich wenig Weisheit die Welt regiert wird.«19 Wegele wollte erkennbar kein Panegyriker sein, bedurfte aber um seine Darstellungsabsicht – den Erweis der Möglichkeit evolutionärer, erzieherischer Reform oder einer durch aufgeklärt-liberale Eliten geführten (und begrenzten) Revolution – zu erreichen, einer positiven Würdigung des Helden. Diese Ambivalenz strukturierte die Darstellung, die ihm, so Wegele zum Abschluß entschuldigend, wohl doch zum »Elogium« geraten sei. Aber : »Ein so großes intensives Licht bei so vielen Schatten rings herum, wer wollte da noch mäkeln an dieser oder jener Schwäche und nicht die Lanze senken vor einem Manne, der in Wahrheit über seiner Zeit stand.«20 Solche Formulierungen verstärken den Eindruck, dass Wegele seine Carl-August-Biographie tatsächlich als Entr¦ebillet für die Weimar-Jenaer Gesellschaft geschrieben hat. Gerade für Jena und seine Universität unter Carl August, so Wegele en passant, werde eine »allgemeine deutsche Culturgeschichte« einst zeigen, »welche Bedeutung Jena in dieser Zeit eroberte und wie unendlich reich der Inhalt dieses Lebens war, das wohl für diese 16 Franz Xaver Wegele: Friedrich der Grosse und die deutsche Nation, in: Ausgewählte Werke Friedrich’s des Großen. Bd. 1, Würzburg 1873, S. VII – XXXVI, hier S. VIII. 17 Wegele 1850 (wie Anm. 14), S. 69. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 85. 20 Ebd., S. 84.

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Stadt nie wiederkehren wird.«21 Es ist überaus bezeichnend für die Politikbegründungs- und -darstellungsstrategien des gemäßigten Liberalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie Wegele in seiner Fürstenbiographie verschiedene, in der 1848er Revolution noch sehr virulente Elemente aufgeklärt-frühliberaler Monarchie- und Fürstenkritik aufnimmt, um sie für seinen Helden Carl August relativierend in einen Erziehungs- und Bildungsroman einzufügen, in dem Goethe die Rolle des Führers übernimmt. Die wahre deutsche Revolution, die Aufklärung, so Wegele, habe »mit offenen Segeln« zurückgestrebt »von der Unnatur zur Natur«.22 Diese Sentenz machte Wegele gleichsam zum Leitmotiv für sein »Charakterbild« Carl Augusts, der seit dem Beginn von Goethes Einwirkung Schritt für Schritt zu »Cultur und Humanität« geführt wurde – ganz so, wie die Aufklärungselite in den selben letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, in denen sich dieser Bildungsgang Carl Augusts vollzog, auch »die Nation auf die Höhe menschlicher und literarischer Bildung führte, und sie wie in einem Jungbrunnen stählte und kräftigte, eine nationale That zu vollziehen«.23 Carl August, dessen Jagdleidenschaft und Mätressen er als einen durch den »Druck der Unnatur« in seiner Erziehung bedingten Drang ins Freie und Offene beschrieb24, hatte nach Wegeles Einschätzung diesen »Läuterungs-Prozeß« Mitte der 1780er Jahre abgeschlossen und stand »nun als ein gereinigter, gezeitigter Mann«25 vor dem Leser : Wie die aufgeklärte Nation, so möchte man hinzufügen, bereit zu nationalen Taten, denn Carl Augusts Bemühungen um den Fürstenbund schilderte Wegele im Anschluss als ein direktes Ergebnis dieses Erziehungsprozesses.26 War Franz Xaver Wegele in der Carl-August-Biographie darum bemüht, im Blick auf die gescheiterte Verfassunggebung der Paulskirche zu skizzieren, wie im »revolutionären Zeitalter« Revolution zu vermeiden oder zu gestalten sei, stand die Revolutionsschrift von 1849 noch zu stark unter dem Eindruck der Ereignisse und auch der persönlichen Enttäuschung Wegeles, als dass sie solche konzeptionellen Überlegungen klar hätte formulieren können. Wegele räumte nicht ohne Bitterkeit einschränkend ein, es sei jetzt, im Herbst 1849, noch viel zu früh, um historisch zu erklären, warum nach anderthalb Jahren Revolution »alle der Einheit widerstrebenden Mächte« in der Lage seien, »geschäftig ihr Unwesen fortzusetzen; Haß und Groll der kaum Versöhnten heftiger als je; das Parlament zum Spott geworden und in seinem letzten Reste verfolgt; die dreißig Kronen endlich wieder glänzender als je auf den dreißig Häuptern, und kein Stoff und 21 22 23 24 25 26

Ebd., S. 57. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 25 f., 42 f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 47 – 52.

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kein Raum mehr für Ein gekröntes Haupt.«27 Wegele – auch darin lag er ganz auf der Linie der nach 1850 zu historischer Selbstvergewisserung innehaltenden liberalen Theorie – holte zu einem Durchgang durch die gesamte deutsche Geschichte seit der Entstehung des Frankenreiches aus. Seine Gesamtgeschichtsdeutung reichte vom Verfall des mittelalterlichen Kaisertums, über das Versagen des Hauses Habsburg, die Rettung der Nation durch die Reformation, die Boshaftigkeit des »Jesuitismus«, die Katastrophe des 30-jährigen Krieges, die landesherrlichen Despoten, die durch die »Einführung französischer Sitten und Unsitten das deutsche Wesen und Leben entstellten und vergifteten«28 bis hin zum »Zusammenbruch« Preußens 1806 und geriet damit einmal mehr zum Muster seiner schon hier, im 26. Lebensjahr, offenbar festgefügten nationalliberal-kleindeutsch-borussischen Welt- und Geschichtssicht. Die Französische Revolution und ihr Ausgreifen nach Deutschland sah Wegele auf der einen Seite als ein Ereignis, das »auf keinen Fall fürchterlicher hätte werden können.« Auf der anderen Seite aber betrachtete er gerade dieses Ausgreifen, ganz ähnlich wie den Ausbruch revolutionärer Spannung im Frühjahr 1848, als ein unter den gegebenen Umständen unvermeidliches Geschehen. In den Ereignissen von 1806, so Wegele, »offenbarte sich die ganze Erbärmlichkeit und Unhaltbarkeit der deutschen Verfassung und Zustände.«29 Mit der Enttäuschung der in den Freiheitskriegen politisch sozialisierten Generation, mit der Herstellung des Deutschen Bundes über die Wegele »blutige Thränen weinen« wollte, gelangte er zu den in seiner Perspektive grundlegenden Revolutionsursachen. Mit ihrer Darstellung entfaltete er zugleich einen zentralen Punkt gemäßigt-liberaler Strategie in und auch nach der Revolution, in dem er sich mit seinen Jenaer Kollegen der 1850er Jahre, mit Johann Gustav Droysen, mit dem Germanisten Heinrich Rückert, mit seinem Freund Rochus von Liliencron und nicht zuletzt mit Kurator Moritz Seebeck einig war : Repression radikalisiert Revolution, flexible Steuerung der »Gutgesinnten« vermag sie zu kanalisieren. Heftig wetterte Wegele von dieser rechtsliberalen Position her gegen die Linke des Vormärz und der Revolution, die das Bild einer »maulswurfsartigen Secte« von »Wahnwitzigen« abgegeben habe »und in ihren Jüngern democratische, socialistische und communistische Apostel großzog«.30 Das sei nur durch eine unsinnige staatliche Reaktionspolitik möglich gewesen. Mit den »unsittlichsten Mitteln« hätten die »democratische Partei« und die Revolutionsmänner Badens ihre Lehren ausgebreitet. Ein »Unrath, den der Sturm an die Oberfläche getrieben«, gekennzeichnet durch »Schamlosigkeit«, »Terrorismus«, »Fanatismus und eine 27 28 29 30

Wegele 1849 (wie Anm. 13), S. 2. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 35.

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»Verwilderung«, die nur auf die günstigste Gelegenheit gewartet habe, »neben der rothen Fahne das Schaffot [sic] aufzupflanzen«, hätte, so Wegele, die Linke in der 48er Revolution »ein ekelerregendes, abstoßendes Bild« geboten.31 Gegen sie habe sich der von Wegele so bezeichnete »Mittelstand«, das seit der französischen Julirevolution von 1830 sprichwörtliche »juste milieu«, gewissermaßen instinktiv zusammengeschlossen und durch die konstitutionelle Partei in der Paulskirche politisch handlungsfähig gemacht, um »das Prinzip der Ordnung, der Besonnenheit, der Monarchie gegenüber der Umsturzpartei aufrecht zu erhalten.«32 Freilich, und hier sah Wegeles sympathetische Betrachtung des gemäßigten Liberalismus der Paulskirche naturgemäß eine entscheidende Ursache des Scheiterns der Revolution, hätte diese »Mitte« ihre Einheit nicht bewahren können, hätte in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahres 1848 »köstlichste Zeit« mit »Debatten über die Grundrechte und andere Allotria« vergeudet33 und der Linken damit einen »negative[n] Gewinn« gewährt. Es ist für den mentalen Haushalt des Rechtsliberalismus im Herbst 1848 überaus kennzeichnend, wie der sonst so gemäßigt abwägende Wegele ganz unvermittelt in eine heftige, von Schmutz- und Ungeziefermetaphern geprägte Sprache wechselte, wenn er von den »Chefs« oder »Häuptlingen«34 der »Democraten« sprach. Zuletzt, vor wenigen Wochen, habe die Linke noch einmal ihre »schwärzeste Seite« gezeigt, indem die »Democratie, welche die rechtzeitige Schöpfung einer Verfassung erschwert und diese selbst verhunzt« habe, mit den Aufständen in Dresden, der Rheinpfalz und Baden im Zuge der Reichsverfassungskampagne den Reaktionsmächten Preußen und Österreich in »unnatürlichem Bündnis« die Vorlage zum brutalen Durchgreifen geliefert hätten35 – politische Feinderklärungen, die nicht nur die liberale These von einer gleichsam komplementären Radikalisierung von Revolution und Reaktion untermauerten, sondern vor allem auch das überwältigende Bedrohungsgefühl, die Angst des gemäßigten Liberalismus vor einer sozialen, »communistischen« Revolution aufscheinen lassen, die im Herbst 1848 und noch einmal im Mai 1849 zu einem nicht zu unterschätzenden Motiv in der Politik der liberalen Majorität wurde. Nun, so schloss Wegele 1849 seine politische Positionsbestimmung am Beginn der Jenaer Jahre, müsse Preußen an die Stelle der Paulskirche treten. Das entscheidende Hindernis zur Erfüllung der für Wegele völlig unzweifelhaften nationalen Aufgabe des preußischen Staates sah der Jenaer Historiker zunächst in partikularistischen Widerständen der »Könige« – also vor allem der süd-

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Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48 f. Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 53.

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deutschen Staaten, aber auch Sachsens und Hannovers.36 Daneben aber – und hier wusste er sich mit Liberalen verschiedener Schattierungen einig – sah er die Orientierung Preußen an der großen östlichen Despotie, an Russland als wachsende Gefahr. Am Schluss seiner Revolutionsschrift vermerkte Wegele: »Der Kampf zwischen europäischer Civilisation und asiatischer Barbarei harrt noch auf seine Durchführung und Deutschland wird er vor allem berühren; ich halte diesen Kampf für einen unvermeidlichen und ehrenvollen«.37 Mit der rechtsliberalen Parteinahme und ambivalenten Revolutionsdeutung der beiden Schriften von 1849 und 1850 öffnete Wegele sich an der Universität Jena tatsächlich Türen. In das gemäßigt-liberale Milieu, wie es sich zu Beginn der 1850er Jahre nach dem Amtsantritt Seebecks und unter Ägide von Protagonisten wie Karl Hase und Johann Gustav Droysen herauskristallisierte und mit dem die Weimarer Regierung zugleich die Attraktivität der Universität erhalten und die Klippen der Reaktionszeit umschiffen wollte, paßte Wegele, der sich, wie Du Moulin Eckardt anmerkt »völlig den Gothaern angeschlossen« hatte, ebensogut, wie die nationalliberalen Schleswig-Holsteiner in Jena, die nach der Erneuerung der dänischen Herrschaft nicht mehr an der Kieler Universität hatten bleiben können: Neben Droysen waren dies vor allem der bereits erwähnte Literaturhistoriker und Volksliedforscher Rochus von Liliencron, der zum engen Weggefährten Wegeles wurde und mit ihm später die »Allgemeine Deutsche Biographie« redaktionell leitete, und der Jurist Andreas Ludwig Jacob Michelsen, der 1848/49 der schleswig-holsteinischen Regierung angehört hatte. Deutliches Zeichen für Wegeles »Ankommen« in Jena war schon im August 1850 seine Heirat mit Agnes Stark. Agnes Wegele war eine Tochter des schon fünf Jahre zuvor gestorbenen Medizinprofessors Karl Wilhelm Stark und gehörte so einer führenden Jenaer Professorenfamilie an, die in drei Generationen die Leibärzte der Weimarer Celebritäten, auch des von Wegele biographisch untersuchten Großherzogs Carl August gestellt hatte. Ohne sich um einen Dispens zu bemühen, ehelichte Wegele damit eine Protestantin – ein Hinweis auf die neben der Verfestigung seines Nationalliberalismus zweite prägende Entwicklung der Jenaer Jahre, die uns unten noch beschäftigen wird. Wissenschaftlich stand für die Etablierung Wegeles an der ernestinischen Gesamtuniversität vor allem seine Hinwendung zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen thüringischen Landesgeschichte. Nach der Revolutionsschrift, der Carl-August-Biographie und dem Dante-Buch war die Edition der »Annales Reinhardsbrunnenses«, einer für die hochmittelalterliche Geschichte des thüringischen Raumes zentralen Chronik aus dem Hauskloster der ludowingischen Landgrafen von Thüringen in Reinhardsbrunn, die wohl meistbe36 Ebd., S. 55. 37 Ebd., S. 56.

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achtete Leistung des jungen Jenaer Gelehrten.38 Möglich wurde diese Edition durch die Gründung des »Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde«, der sich in Jena 1852 unter dem Vorsitz von Universitätskurator Seebeck und mit den Gründungsmitgliedern Wegele, Michelsen, Friedrich Johannes Frommann, Heinrich Rückert, des Altertumswissenschaftlers Karl Bernhard Stark und des Superintendenten und Professors der praktischen Theologie Johann Karl Eduard Schwarz zusammenfand.39 Rückert hatte das politische Anliegen des neuen Geschichtsvereins in der nachrevolutionären Periode bei der Gründungsversammlung programmatisch in die Worte gefasst, man werde durch die Beschäftigung mit der Landesgeschichte »ganz von selbst auf die Kenntniß der allgemeinen Entwickelung unseres nationalen Lebens« hingewiesen und könne »mit Recht insbesondere jetzt als Ersatz und Trost für eine unsäglich trübe und schmachvolle Gegenwart den Blick auf die Vergangenheit unseres Volkes wenden und in dem großen wenn auch nur theilweise glücklichen Ringen des deutschen Geistes nach Selbstbefreiung und Selbstbestimmung eine Bürgschaft für eine bessere Zukunft finden.«40 Wegele sah im landesgeschichtlichen Engagement sowohl eine seinen politischen Überzeugungen entsprechende Aktivität, als auch eine wissenschaftlichen Tätigkeit, die ihm, der sich als Privatdozent und Extraordinarius Gedanken um seine akademische Zukunft machen musste, Perspektiven in Jena eröffnen könnte. In kurzer Zeit leistete er sehr umfängliche Editionsarbeit und bereitete nicht nur die »Annales Reinhardsbrunnenses«, sondern auch das »Chronicon ecclesiasticum Nicolai de Siegen« zur Herausgabe vor.41 Seine Reaktion, als Finanzschwierigkeiten des Vereins das Erscheinen der dann 1854 und 1855 als Band 1 und 2 der »Thüringischen Geschichtsquellen« publizierten Bände verzögerten, machte die Karriereorientierung Wegeles deutlich, zeigte aber auch die Sorgen des Jenaer Wegele, die bis heute keinem sogenannten »Nachwuchswissenschaftler« fremd sind. In einem Brief an Kurator Seebeck klagte der 31-jährige im Mai 1854: »Das Leben ist viel zu kurz, meine hiesige Lage viel zu ungesichert, meine Aussichten in die Zukunft sind viel zu dunkel, als daß ich nicht wenigstens wünschen müßte, daß eine Arbeit, die ich unter der unbezweifelten Voraussetzung machte, daß 38 Vgl. Annales Reinhardsbrunnenses. Zum ersten Mal hg. von Franz X.[aver] Wegele. Jena 1854. 39 Vgl. dazu Stefan Gerber : Historisierung und Nationalisierung der Region. Gründungsmotive und Gründungskonstellationen des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1848/52, in: Matthias Werner (Hg.): Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 1 – 22. 40 So zit. in Bericht über die Stiftung des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1854/1, S. 3 – 17, hier S. 8. 41 Vgl. Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen. Zum ersten Mal hrsg. von Franz X. [aver] Wegele. Jena 1855.

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ihrer Veröffentlichung kein Hinderniß in den Weg treten würde, nicht wirklich sofort unter die Presse befördert würde.«42 Wegele – und dies bedeutete an der Universität Jena zwischen 1851 und 1877 sehr viel – gehörte zunächst zu den Proteg¦s Seebecks. Zu einer Abkühlung des Verhältnisses kam es erst, als Wegele 1855 im Vorfeld des 300. Universitätsjubiläums von 1858 den Auftrag übernahm, eine Universitätsgeschichte zu verfassen. Schon Ende 1856 bat Wegele, der inzwischen bereits umfangreiches Material zur Gründungsgeschichte der Universität zusammengetragen hatte, das er im Folgejahr zum Teil in der »Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte« veröffentlichte43, darum, von dieser Aufgabe entbunden zu werden. Der Kurator, der zwei Jahre vor dem Jubiläum zu Recht fürchtete, es werde sich kein Autor für eine Jenaer Universitätsgeschichte mehr finden, war erbost und versuchte Wegele zur Erfüllung der übernommenen Verpflichtung zu zwingen. Wegele forderte im Gegenzug bindende Zusagen des Kurators zu seinen Perspektiven an der Universität Jena, worauf Seebeck, der sich erpreßt fühlte, nicht eingehen mochte. Nach dieser Auseinandersetzung entzog Seebeck Wegele seine Gunst. Im Dezember 1856 schrieb der Kurator an Minister Watzdorf in Weimar, es habe keinen Sinn, Wegele nach diesem Konflikt mit irgendwelchen Zusagen an der Universitätsgeschichte zu halten. Wenn dieser, so meinte Seebeck, nicht mit ganzem Herzen an die Arbeit gehe, bestehe die Gefahr, dass er »am Ende in seine Schilderungen auch gar die widerliche Farbe professorischer Galle […] mit einmischen möchte, so daß man am Ende im Interesse der Universität und der hohen Auftraggeber wünschen müßte, die Abfassung seiner Geschichtserzählung gar nicht angeregt und gefördert zu haben.«44 Immerhin hatte Wegele – dies als kleine Nebenbemerkung zur weiteren Geschichte der Jenaer Universitätsgeschichten, in der die von Hans-Werner Hahn bis 2009 geleitete Senatskommission alles in allem ein Erfolgsbeispiel ist – sich kollegialer verhalten, als der Jenaer Historiker Stephan Stoy, der vor dem 350. Jubiläum 1908 den Auftrag der Universität zu einer Gesamtgeschichte der Salana übernahm und im Jubiläumsjahr bekennen musste, kein Wort geschrieben zu haben, so dass Jena auch 50 Jahre nach Wegeles Rücktritt ohne Universitätsgeschichte blieb.45 Zudem 42 Brief von Franz Xaver Wegele an Moritz Seebeck, 31. Mai 1854, in: ThULB Jena, Abt. Handschriften und Sondersammlungen, Act. Soc. Thur. 16, 4r–5r, hier 4v. 43 Vgl. Franz Xaver Wegele: Zwei ungedruckte Actenstücke zur Geschichte der Universität Jena, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1855/2, S. 181 – 192; ders.: Propositionen der Fursten zu Sachssen etc. uff gehaltenem landtage zu Saluelt, 1557, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 1855/2, S. 359 – 380. 44 Brief von Moritz Seebeck an Bernhard von Watzdorf, Jena, 7. Dezember 1856, in: ThHStA Weimar, Nachlaß B. v. Watzdorf Nr. 108, 81r–82v, hier 81v. 45 Vgl. dazu Max Steinmetz (Hg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58 – 1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. Bd. 1: Darstellung. Jena 1958, S. XXIV.

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holte Wegele dann in Würzburg nach, was er in Jena nicht hatte leisten können und wollen: 1882 erschienen die zwei ersten, die Darstellung und ein Urkundenbuch umfassenden Teile seiner »Geschichte der Universität Würzburg«. Ein dritter Teil blieb unvollendet.46 Für Wegeles Etablierung in Jena spricht auch der – allerdings wenig erfolgreiche Versuch – einen Schülerkreis aufzubauen, aus dem besonders Sigurd Abel, der dann letztlich aber doch bei Georg Waitz in Göttingen promoviert und habilitiert wurde, historiographiegeschichtliche Spuren hinterlassen hat.47 Der kleine Kreis der eigentlichen Wegele-Schüler formierte sich erst in Würzburg: Theodor Henner, der seinem Lehrer auf dem Würzburger Lehrstuhl nachfolgte, Stephan Ehses, Direktor des römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, Richard Du Moulin Eckardt, Geschichtsprofessor an der Technischen Hochschule München und Bernhard Seuffert, Ordinarius der Literaturgeschichte in Graz. Mit einer boshaften Bemerkung in dem bereits zitierten Brief an Minister Watzdorf machte Seebeck auf Wegeles konfessionelles Problem aufmerksam – und damit auf die andere lebensprägende Entwicklung, die sich in den Jenaer Jahren abzeichnete. Wegele, so mutmaßte der Kurator, habe wohl vor allem deshalb aus dem »Projekt« der Jenaer Universitätsgeschichte aussteigen wollen, weil er, sei er einmal mit der Geschichte einer protestantischen Universität wie Jena hervorgetreten, »niemals wieder bei seinen katholischen Glaubensgenossen Aufnahme erhoffen« könne.48 Tatsächlich war Wegele als kleindeutscher Katholik beständig in der Gefahr, zwischen alle Stühle zu geraten: Dem protestantischen Deutschland zu »katholisch«, dem katholischen zu »protestantisch«. Wegeles Katholizismus, durch seine handwerklich-kleinbürgerliche Herkunft zunächst sicher eher traditional geprägt, hatte wohl schon während seiner Schulzeit am Augsburger Benediktinergymnasium St. Stephan, vor allem während der Heidelberger Zeit eine Wandlung erfahren, die ihn nicht nur den Ultramontanismus mit Skepsis betrachten, sondern ihn auch Abstand von kirchlicher Praxis und katholischen Glaubensvollzügen nehmen ließ. Dieser Prozess setzte sich in Jena zweifellos fort, ja intensivierte sich: Die evangelische Eheschließung mit Agnes Stark und das Fehlen jeglicher Verbindungen zu der seit 1817 in Weimar bestehenden katholischen Pfarrgemeinde weisen deutlich darauf hin. Dennoch – und dies beschreibt für eine Zeit wachsender konfessionspolitischer Segmentierungen die Schwierigkeiten derer, die der Leipziger Philosoph Wilhelm Traugott Krug schon 1827 die »protestantischen Katholiken

46 Vgl. Franz Xaver Wegele: Geschichte der Universität Würzburg. I. Teil: Geschichte. II Teil: Urkundenbuch. Würzburg 1882. 47 Zu Abel vgl. [Ferdinand] Frensdorff: Art. »Abel, Sigurd«, in: ADB. Bd. 1. Leipzig 1875, S.16. 48 Brief von Moritz Seebeck an Bernhard von Watzdorf, Jena, 7. Dezember 1856, in: ThHStA Weimar, Nachlaß B. v. Watzdorf Nr. 108, 81r–82v, hier 81v.

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in Deutschland« genannt hatte49 – waren auch in Wegeles Jenaer Jahren hin und wieder Stimmen zu hören, die bei aller kleindeutschen Gesinnung, aller positiven Würdigung der Reformation, die Wegele als einen Angelpunkt der neueren deutschen Geschichte betrachtete, aller Kritik des Historikers am Ultramontanismus Zweifel an der Eignung Wegeles für ein universitäres Lehramt im protestantischen Deutschland äußerten. Noch im Frühjahr verteidigte Kurator Seebeck Wegele nachdrücklich gegen den von Minister Watzdorf geäußerten Verdacht, sein historisches Urteil sei durch konfessionelle Befangenheit getrübt. Seebeck verwies zum Beleg auf einen Vortrag Wegeles über Olympia Morata, die italienische, später ihrer antipäpstlichen Gesinnung wegen in Deutschland lebende Dichterin des 16. Jahrhunderts, den der Historiker im Jenaer Rosensaal gehalten hatte und auch am Weimarer Hof vortragen sollte.50 An den Universitäten des katholischen Deutschland andererseits – gerade an den paritätischen – war für Wegele schon Mitte der 1850er Jahre nichts mehr zu erreichen. Als 1853 die Bonner philosophische Fakultät Wegele primo loco für die Wiederbesetzung der vakanten »katholischen« Geschichtsprofessur an der rheinischen Universität nominierte, widersprach die Berliner Regierung, die (zumal unter Friedrich Wilhelm IV.) auf Ruhe an der Konfessionenfront bedacht war. Mit einer »katholischen« Professur an einer der paritätischen Universitäten der Monarchie, so hieß es, solle auch nur ein Katholik betraut werden, der diese Bezeichnung tatsächlich verdiene. Wegeles Berufung würde diesem Anliegen nur »scheinbar entsprechen […], da derselbe, obwohl als Katholik getauft, doch in der Tat kaum als solcher anzusehen sei, indem er sich in Jena gar nicht als solcher zu erkennen gegeben habe, und, in einer gemischten Ehe lebend, alle seine Kinder protestantisch erziehen lasse.«51 Die Berufung auf einen Münchener Lehrstuhl, für den Wegele 1854/55 denominiert war, scheiterte an der selben Argumentation: Wegele so hieß es, sei kein »praktizierender Katholik«.52 Seine Berufung nach Würzburg im Frühjahr 1857 hatte Wegele der jenseits konfessioneller Konfliktlinien angesiedelten Strategie zu verdanken, die König Max II. von Bayern vor allem aus Prestigegründen in seiner Wissenschaftspolitik bevorzugte: Es galt in der Nachfolge Ludwigs I. die bayerischen Universitäten und die durch die Gründung von Kommissionen reorganisierte Bayerische Akademie der Wissenschaften – als erste wurde 1858 die Historische Kommission geschaffen – mit Wissenschaftlern von hohem akademischen Renommee zu 49 Vgl. [Wilhelm Traugott] Krug: Was sollen jetzt die protestantischen Katholiken in Deutschland thun? Eine kirchlich-politische Frage. Leipzig 1827. 50 Vgl. Brief von Moritz Seebeck an Bernhard von Watzdorf, Jena, 3. März 1856, in: ThHStA Weimar, Nachlaß B. v. Watzdorf Nr. 108, 67r–72v, hier 68 r. 51 So zit. in Wendehorst 1977 (wie Anm. 1), S. 226. 52 Vgl. Walter Goetz, Carl Adolf Cornelius, in: ders. (Hg.), Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze. Köln/Graz 1957, S. 187 – 197, hier S. 189.

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besetzen – und solches hatte Wegele in Jena erworben. Das Ministerium in München setzte sich bewährter etatistischer Manier sowohl über die Würzburger Fakultät, als auch über den Würzburger Bischof hinweg, der beim Weimarer Pfarrer Anton Hohmann ein Gutachten über die Katholizität Wegeles angefordert hatte, das natürlich recht negativ ausfiel.53 Die Entschlossenheit von König und Regierung zur Berufung, die seine Jenaer Zeit nach acht Jahren beendete, hatte Wegele vor allem Ignaz von Döllinger zu verdanken, der durch die Edition der »Annales Reinhardsbrunnenses« auf Wegele aufmerksam geworden war und in ihm schnell auch einen religiös Gleichgesinnten erkannte. Dass er jenseits dieser spezifischen bayerischen Konstellation zwischen den »Lagern« eines ultramontanen Mehrheits-Katholizismus und kulturprotestantischer Hegemonieansprüche im akademischen Deutschland nicht mehr »vermittelbar« war, wurde Wegele in Würzburg dann noch zwei Mal vor Augen geführt: Als 1855 eine Berufung des Würzburger Gelehrten auf die katholische Geschichtsprofessur an der seit 1817 paritätischen württembergischen Landesuniversität in Tübingen erwogen wurde, lieferte ein eigentlich wohlmeinendes Außengutachten seines ehemaligen Jenaer philosophischen Kollegen Karl Fortlage, der Wegele Freiheit von allen »ultramontanen und der Aufklärung feindlichen Tendenzen« bescheinigte, die Argumente, um ihn auch dort ausscheiden zu lassen.54 Einen 1861 ergangenen Ruf an die Universität Freiburg wollte Wegele gern annehmen, zumal er 1863 wegen demonstrativen Lobes der administrativ verfügten, französisch inspirierten Würzburger Universitätsreformen in der kurzen kurbayerischen Periode von 1803 – 1806 mit heftiger Kritik des politischen Katholizismus konfrontiert war.55 Waren Wegeles Biographen Alfred Wendehorst die Gründe für das Scheitern auch dieses Rufes noch unklar, so zeigt ein Blick in die Briefe Wegeles an Ludwig Häusser, dass auch hier sein altes »Problem« ausschlaggebend war : Im August 1863 schrieb er Häusser, er habe auf die Freiburger Professur verzichtet, weil die »Clerikalen die Agitation gegen mich in einer Weise betrieben« hätten, »daß es mir moralisch unmöglich ist, in einem kleinen Orte wie Freiburg aufzutreten. Man würde dort mit Fingern auf mich weisen, und der Verdächtigungen u. des Ärgernißes [sic] würde kein Ende sein. Ich würde dabei in die peinlichste Lage versetzt werden; der Sache u. der Universität nichts mit meiner Anwesenheit genutzt haben. Daß diese Agi53 Vgl. Wendehorst 1977 (wie Anm. 1), S. 227. 54 Ebd. 55 Vgl. Franz Xaver Wegele: Die Reformation der Universität Würzburg. Festrede zur Jahresfeier der Stiftung der Julius-Maximillians-Universität am 2. Januar 1863. Würzburg 1863. – Die wichtigste Erwiderung von dem Würzburger Theologen, Bibliothekar und langjährigen katholisch-konservativen Landtagsabgeordneten Anton Ruland: [Anton Ruland]: Die Reformation der katholischen Universität Würzburg. In: Historisch-politische Blätter 1863/51, S. 598 – 621, 641 – 674.

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tation diese Höhe erreichen würde, konnte ich im Frühjahr nicht wohl voraussehen.«56 Wissenschaftlich und wissenschaftspolitisch suchte Franz Xaver Wegele einen Mittelkurs zu steuern. In der Sybel-Ficker-Kontroverse stellte er sich nicht, wie von dem in der Wolle gefärbten Kleindeutschen zu erwarten gewesen wäre, auf die Seite seines guten Bekannten Sybel und gegen Julius Ficker, der ihm beim erwähnten gescheiterten Ruf auf die Bonner Professur vorgezogen worden war : Hier war die Grenze seines Verständnisses vom nationalliberal-kleindeutsch engagierten »politischen Historiker« erreicht.57 Auch eine umfängliche Studie über die Heilige Elisabeth, die Wegele als Frucht seiner auch in Würzburg fortgesetzten thüringischen Forschungen58 1861 in der Historischen Zeitschrift veröffentlichte, machte das Bemühen um Ausgewogenheit augenfällig. Ganz »historistisch« argumentierte Wegele hier für das Verstehen der Heiligen aus ihrer »in sich abgeschlossenen Zeit, die weit hinter uns Allen liegt« und trat zugleich für die Herausstellung jenseits vergangener Kontexte wirksamer, »allgemein giltiger« Züge dieser mittelalterlichen Frauengestalt ein, die – diese Kritik fehlte dennoch nicht – »keine künstliche, keine bloße Ausgeburt frommen Wahnes, schwärmerischer Bewunderung oder mönchischer Propaganda sein« könne, »die hier übrigens allerdings alle ihre Kräfte in Bewegung gesetzt haben.«59 Diese Strategie erwies sich, ungeachtet der fortbestehenden konfessionellen Problematik, für Wegele im bayerischen Staat als erfolgreich und begründete seine wichtige Stellung im Fach, auf die an dieser Stelle nur in kurzen Anmerkungen hinzuweisen ist: 1858 wurde der erst 35-jährige Wegele jüngstes Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1860 auch auswärtiges Mitglied der Akademie selbst. Kommission und Akademie wurden zentrale wissenschaftliche Entfaltungsräume Wegeles. An der von Ranke konzipierten großangelegten »Geschichte der Wissenschaften in Deutschland«, einem der herausragenden Kommissionsprojekte, war er mit dem Band »Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus« beteiligt, der 1885 erschien, aber wegen seiner Konzentration auf die Geschichtsschreibung des 16. bis 18. Jahrhunderts und

56 Brief von Franz Xaver Wegele an Ludwig Häusser, Würzburg, 8. August 1863, in: UB Heidelberg, Heid. Hs. 3741 (unpaginiert). 57 Vgl. Wendehorst 1977 (wie Anm. 1), S. 228. 58 Davon zeugt, neben der Vielzahl der Rezensionen Wegeles zu Neuerscheinungen zur thüringischen Geschichte auch das 1870 erschienene Buch über Friedrich den Freidigen. Vgl. Franz Xaver Wegele: Friedrich der Freidige, Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen und die Wettiner seiner Zeit (1247 – 1325). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Reichs und der wettinischen Länder. Nördlingen 1870. 59 Franz Xaver Wegele: Die hl. Elisabeth von Thüringen, in: Historische Zeitschrift 5 (1861), S. 351 – 397.

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der Vernachlässigung zeitgenössischer Entwicklungen auf viel Kritik stieß.60 An das Großunternehmen der »Allgemeinen Deutschen Biographie«, in der er bis zu seinem Tode gemeinsam mit dem Freund aus Jenaer Tagen, Rochus von Liliencron, als verantwortlicher Redakteur 42 Bände herausbrachte, wendete Wegele sicher die meiste wissenschaftliche Energie. Er selbst verfasste 169 ADBArtikel, darunter Aufsätze wie den umfänglichen Beitrag zu Carl August von Weimar oder zu seinen Jenaer Vorgängern Caspar Sagittarius und Heinrich Luden. Liliencron hat im Rückblick auf diese Zusammenarbeit wohl auch die differenzierteste zeitgenössische Charakteristik Wegeles geliefert, die Wegeles Sachorientierung, von der auch sein immenses Arbeitspensum zeugt, ebenso in den Blick nahm, wie die persönlichen Kosten der vielfachen Zurückweisungen, die Wegele auf seinem akademischen Karriereweg erfahren hatte. An den Verleger Carl Geibel schrieb er nach Wegeles Tod im Oktober 1897: »Mit Wegele war ich seit 44 Jahren befreundet. Wir sind schon in Jena Collegen gewesen und gemeinsame Interessen historischer Arbeiten hielten uns auch nachher in steter Verbindung, bis dann die Histor. Commission und vollends die A. D. B. das Band enger und enger knüpfte. Wegele war kein Charakter, dem man gerade persönlich leicht nahe kam und seine pessimistische Art wie seine mißtrauische Reizbarkeit erschwerten oft den Verkehr. Dennoch hat uns niemals ein wirkliches Zerwürfnis in der gemeinsamen Arbeit gestört«.61 Fragt man zusammenfassend noch einmal nach den Prägewirkungen der Jenaer Jahre Franz Xaver Wegeles, müsste zunächst das Hineinwachsen in eine moderne, schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichend angelegte Landesgeschichte genannt werden. Seine im »Verein für Thüringische Geschichte« und der Editionstätigkeit entwickelten Zugriffe übertrug Wegele in Würzburg vor allem auf den unterfränkischen Raum und blieb zugleich einer der maßgeblichen Historiker des mittelalterlichen Thüringen in seiner Zeit. Die politisch-historische Prägung Wegeles als liberal-konstitutioneller, kleindeutscher Historiker, die in den Heidelberger Lehrern, vor allem in Häusser, ihre Grundlage besaß, erfuhr im nationalliberalen Klima der Universität Jena in den 1850er Jahren ihre Verfestigung und Abrundung. Das kleindeutsche Reich, wie es 1871 entstand, war und blieb auch für Wegele, wie für so viele nationalliberale Historiker seiner Generation, die »Erfüllung« der deutschen Geschichte und zugleich das zentrale politische Erlebnis, das alle anderen, auch und gerade die Revolution von 1848/49, überstrahlte. In einem Vortrag über die »Sage von der Wiederkunft Kaiser Friedrich II.«, den er als einen seiner letzten Vorträge 1894, 60 Vgl. Franz Xaver Wegele: Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus. München 1885. 61 So zit. in Anton Bettelheim: Leben und Wirken des Freiherrn Rochus von Liliencron. Mit Beiträgen zur Geschichte der Allgemeinen Deutschen Biographie. Berlin 1917, S. 221 f.

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drei Jahre vor seinem Tod hielt, formulierte Wegele im Blick auf den im Kyffhäuser schlafenden Kaiser nicht ohne nationalreligiöses Pathos: »Zuletzt ist er aber doch erwacht, um seine Mission auszuführen, und Heil uns, die wir es erlebt haben und uns der wiedergewonnenen Einheit erfreuen dürfen. Wolle der Himmel allen Deutschen die Kraft verleihen, den Wert des teuer errungenen Gutes niemals leichtsinnig zu verkennen, und möge er das junge Reich vor seinen äußeren und inneren, vor seinen alten und neuen Feinden in Gnaden bewahren.«62 Wenn Golo Mann einmal behauptete, »mit dreißig oder Anfang dreißig« sei ein Mensch »fertig oder sollte es sein«63, so trifft das auf Wegele sicher zu: Die wissenschaftlichen und politischen Positionen, mit denen der 34-jährige 1857 Jena verließ, hat er danach kaum noch verändert. Auch Wegeles bildungsreligiöse Hochschätzung der deutschen Klassik und vor allem Goethes, dem er 1876 das kleine Buch »Goethe als Historiker« widmete64, nahm er aus Jena und Weimar nach Mainfranken mit. Viele der in Jena geknüpften Bekanntschaften, allen voran mit Liliencron aber auch mit Droysen und Michelsen, blieben für Wegele bedeutsam. Themenschwerpunkte und Art seiner Lehrtätigkeit entwickelte der Privatdozent und Professor vor allem an der ernestinischen Gesamtuniversität. – Zweifelsohne: Franz Xaver Wegele war auch ein »Jenaer Historiker«.

62 Franz Xaver Wegele: Die Sage von der Wiederkunft Kaiser Friedrichs II., in: ders.: Vorträge und Abhandlungen. Hg. von Richard Graf Du Moulin Eckart. Leipzig 1898, S. 102 – 115, hier S. 115. 63 So zitieren Hans-Martin Gauger und Wolfgang Mertz einen Brief Manns vom 12. Oktober 1990, in: Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich. Hg. von HansMartin Gauger und Wolfgang Mertz. Frankfurt am Main 1999, S. 10. 64 Vgl. Franz Xaver Wegele: Göthe als Historiker. Würzburg 1876.

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Wolfram Siemann

Spione gegen die Freiheit: »Konfidenten« nach der Revolution von 1848/49 in der Habsburgermonarchie – mit einem Seitenblick auf die Tätigkeit »Inoffizieller Mitarbeiter« in der DDR

1.

»Konfidenten« nach der Revolution von 1848/49 in der Habsburgermonarchie

Revolutionäre Bewegungen und Erhebungen der Neuzeit seit 1789 hatten stets einen Zwillingsgefährten auf staatlicher Seite: eine geheime, ausforschende politische Polizei. Hier soll der Blick auf die Bewältigung der Revolutionsbewegung von 1848/49 gerichtet werden, und zwar auf die intensivste Zeit geheimpolizeilicher Überwachung nach diesem letzten gesamteuropäischen Ereignis. Wie ging es weiter? Wie gelang es in kürzester Zeit, dem Revolutionsfrühling im März 1848 die politische Kirchhofstille der 1850er Jahre folgen zu lassen? Zum großen Buch der Revolution von 1848 gehört also auch das Kapitel ihrer Unterdrückung. Hier soll aber nicht von der brutalen militärischen Gegengewalt, sondern von den danach konspirativ hinter den Kulissen tätigen Akteuren die Rede sein. Über die deutschen Bundesstaaten wurde seit April 1851 ein System geheimer politischer Spionage gespannt. Die sieben größten Bundesländer hatten eine gemeinsame Kooperation gegründet: den sogenannten »Polizeiverein«.1 Es beteiligten sich daran das Kaisertum Österreich, die fünf Königreiche Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover sowie das Großherzogtum Baden. Experten trafen sich in den 1850er Jahren periodisch zu »Polizeikonferenzen«. Hier tauschte man geheime Informationen aus. Zugleich hatte man ein geheimes Nachrichtensystem aufgebaut, durch das die Mitglieder »Wochenberichte« austauschten. Diese enthielten Informationen über politische Flüchtlinge, die oppositionelle Presse, geplante revolutionäre Aktivitäten und überhaupt alles, was in das Arbeitsfeld einer »politischen Polizei« gehörte. Der Ausdruck »politische Polizei« ist in der deutschen Sprache, soweit mir bis jetzt bekannt ist, erstmals in einem Schreiben Metternichs aus dem Jahre 1809 1 Vgl. Wolfram Siemann: »Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung«. Die Anfänge der politischen Polizei 1806 – 1866. Tübingen 1985, bes. S. 242 – 304.

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nachweisbar und erweckt dort den Eindruck, als sei er neu geprägt worden. Das geschah nach der verhängnisvollen vierten Niederlage der Habsburgermonarchie gegen die scheinbar übermächtigen Truppen Napoleons und seiner rheinbündischen Alliierten im Jahre 1809. Der österreichische, gerade neu ins Amt gekommene Staatsminister des Äußeren beobachtete, wie der ausländische Potentat ganze 158 Tage lang an einem fremden Hofe in einem fremden Land residierte und nach seinem Abzug »eine förmliche organisirte geheime Polizei« zurückgelassen hatte, die noch funktionierte. Er schlug Kaiser Franz I. die »Organisirung einer Gegen-Polizei, welche mit jener gleichen Gang hält« vor : »Diesen Gegenstand, den ich als unabhängig von der gewöhnlichen Polizei, in soferne selbe nur die innere Verwaltung des Staates betrifft, ansehe, möchte ich fast die politische Polizei nennen, und dieß um so mehr, als sie in Frankreich wirklich als solche behandelt wird.«2

Kaiser Franz I. und er fürchteten außerdem, jede antinapoleonische Agitation könne dem französischen Kaiser einen willkommener Vorwand und Anlass bieten, die Gesamtmonarchie – wie ursprünglich geplant – endgültig doch in Teile mittlerer Größe (deutsche Kronländer, Böhmen, Ungarn, Südslawien) zu zerlegen. Er wollte dem effektiven Vorbild folgen, welches Napoleons Polizeiminister Fouch¦ bot. Vergleichbare Überlegungen hatte ja auch der Berliner Polizeidirektor Gruner in dem von französischen Truppen okkupierten Preußen erwogen.3 Das ganze Feld dieser durch Napoleon induzierten Staatspolizeien auch in den von ihm abhängigen Rheinbundstaaten ist noch ein weitgehend unerschlossenes Feld, obwohl die Akten in den Staatsarchiven reichhaltig vorliegen. Das ist besonders deshalb bedauerlich, weil zu einem Urteil über die immer noch in den Mantel einer zukunftsweisenden Fortschrittlichkeit gehüllte napoleonische Politik erst mit Blick auf ihre dunkle, sie tragende Schattenseite die Ambivalenz der Moderne offenbart, die sich bereits in der ersten Phase der Französischen Revolution von 1789 kundgetan hatte: die gleichzeitige Polarität von Befreiung und Terror, von Menschenrecht und Guillotine. Erst jüngst ist ein Forschungsprojekt in Gang gekommen, das die durch sowjetische Truppen nach St. Petersburg verbrachten Akten des damaligen Königreichs Westphalen aufarbeitet und endlich Licht in das Feld der geheimen, in diesem Staat besonders drückenden Staatspolizei bringen wird. Erfreulicherweise wird dabei auch die immer schwer zu fassende Rolle der dienstbaren »Inoffiziellen Mitarbeiter« durchleuchtet.4 Nur dadurch wird deutlich, wie weit staatspolizeiliche Aktivi2 Vortrag Metternichs, Totis, 19. November 1809, an Kaiser Franz I., in: HHStA Wien, Staatskanzlei, Vorträge, Karton 183, Fol. 96 – 99, Zitat Fol. 96 f. 3 Vgl. Siemann, »Deutschlands Ruhe«, S. 61 – 71. 4 Vgl. das von der Thyssen-Stiftung geförderte Projekt: Macht und Ohnmacht. Hohe Polizei

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täten von ihrer institutionellen staatlichen Plattform aus in das Herz der Gesellschaft vordringen konnten und wie weit Teile in ihr durchaus bereitwillig, auf eigenen Nutzen bedacht, auch kollaborierten. Das war epochal noch die Brutund Prägephase dieser spezifischen Polizei. Hochkonjunktur erlebten Begriff und Sache indessen nach der Revolution von 1848/49. Hier soll nicht das kurz zuvor kurz angesprochene System mit seinen ganzen Fangarmen darstellt werden. In einer Beschränkung auf den Raum der Habsburgermonarchie sollen demgegenüber einmal konkret die vollziehenden Akteure und deren Operationen vorgestellt werden. Das ist schwer genug für den Historiker oder die Historikerin, denn weil sich diese Klientel im Geheimen bewegte, versuchte sie doch, möglichst wenige Spuren zu hinterlassen und diese tunlichst auch noch später zu zerstören. Ein Glücksfund im Wien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv erlaubt in diesem Falle, Licht in das meist von Gerüchten und Spekulationen umwölkte Dunkel zu werfen, und zwar so detailliert, wie es für die Geschichte des Agentenwesens im 19. Jahrhundert wohl einzigartig ist. Es existiert dort für das Jahr 1853 in einem dicken Konvolut ein Totalverzeichnis sämtlicher Konfidenten, die zu dieser Zeit im Dienst der gesamten Habsburgermonarchie standen. Die Angaben wurden akribisch gesammelt – aus allen Kronländern: von Österreich unter der Enns über Salzburg, Tirol, Böhmen, Ungarn, Galizien, Siebenbürgen, Kroatien bis nach Oberitalien.5 Und um die Perfektion voll zu machen, wurde eine exakte Bilanz aufgestellt, wieviel Geld für welches Kronland in die geheimen Polizeifonds geflossen war. Mir ist für den Raum des Deutschen Bundes und der Habsburgermonarchie keine vergleichbare Aufstellung bekannt. Und es wird sie wohl auch nicht geben. Denn es war ein besonderer Anlass, der sie hervorrief: Am 6. Februar 1853 hatte Giuseppe Mazzini in Mailand einen Revolutionsversuch unternommen.6 Diesen deutete die österreichische Polizei als Ergebnis einer weitverzweigten Verschwörung, ja als Signal zum Wiederausbruch der europäischen Revolution von 1848. Und darin waren sich so ungleiche Zeitgenossen wie die Staatspolizisten und Karl Marx einig. Denn dieser schrieb aus seinem Londoner Exil heraus am 8. März 1853 im »New York Daily Tribune«: »Die Mailänder Erhebung ist bedeutsam als Symptom der nahenden revolutionären Krise auf dem ganzen europäischen Kontinent.«7 und lokale Herrschaftspraxis im Königreich Westphalen (1807 – 1813), Leitung Winfried Speitkamp, Bearbeiterin: Maike Barsch, URL http://www.fritz-thyssen-stiftung.de/foerde rung/gefoerderte-vorhaben/projekt/pl/macht-und-ohnmacht-hohe-poliz/p/624/?no_cache= 1 [16. 05. 2014]. 5 HHStAWien IB BM-Akten, Karton 50; in: »Deutschlands Ruhe« Auf S. 331, Anm. 100 kündige ich eine spätere Auswertung an; sie erfolgt mit dem vorliegenden Beitrag. 6 Das Nähere ist beschrieben in Siemann, »Deutschlands Ruhe«, S. 326 – 340. 7 Ebd., S. 326.

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Die ganze Sachlage erschien in einem noch viel dramatischeren Licht, weil nur zwölf Tage nach dem Mailänder Aufstand, am 18. Februar 1853, ein Attentat auf Franz Joseph verübt worden war. Ein Schneidergeselle hatte ihn dabei nicht unerheblich verletzt. Das versetzte die Sicherheitsbehörden der Monarchie in höchsten Alarm. Der Chef der Obersten Polizeibehörde in Wien, Feldmarschallleutnant Johann Freiherr von Kempen, schlug dem Kaiser vor, die gesamte Staatspolizei neu zu organisieren und zu zentralisieren. Es war die Stunde, in der man Bilanz über die vorhandenen Konfidenten hielt und prüfte, welche effektiv waren. Kempen entwickelte strenge formale Kriterien. Er forderte Listen, die tabellarisch bestimmte Fragen beantworten mussten. Diese Listen sollten enthalten die Namen der Konfidenten, ihre Tarn- oder Decknamen (man nannte das »Kriegsnamen«), Alter, Beruf, Familienstand, Konfession, eine Charakteristik ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten, wo sie bisher eingesetzt worden waren, dann noch, ob sie auf Dauer oder unregelmäßig beschäftigt und mit welchen Beträgen sie entlohnt wurden. Alles zusammengenommen, legte dieser Erlass vom 30. April 1853 die gesamte österreichische Staatspolizei auf den Röntgenschirm. Der Auftrag verlangte das schier Unglaubliche: die letzten Geheimnisse der geheimen Polizei bis in alle Verästelungen hinein aufzudecken – eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Der Zustand des Agentenwesens nach der Revolution war teilweise zunächst nicht beeindruckend. Der Wiener Polizeidirektor beklagte in seinem Bericht vom 22. Mai 1853 als Folge der Revolution, dass die noch hier und da zerstreuten Überreste des Agentensystems sich nach und nach ganz verloren hätten; nach dem Sieg über die Revolution habe man nur einige wenige vereinzelte Kräfte und auch diese nur zeitweise verwenden können. In Wien war ersichtlich mit der Revolution das Spitzelsystem zusammengebrochen. In den Provinzen war das aber nicht der Fall, und das ist gerade das Erstaunliche. Und dann enthüllte er Qualitätsmaßstäbe, die für die Auswahl von Agenten wichtig schienen. Nach dem März 1848 sei wiederholt versucht worden, Konfidenten zu gewinnen: Intelligent sollten sie sein, gebildet, gewandt, mit Verständnis für Politik, unbescholten und berufstätig, damit sie nicht völlig vom Spitzeldienst abhingen. Ein Weiteres kam hinzu: Konfident zu sein hieß gefährlich leben. Der Polizeidirektor von Pest erklärte, warum es so schwierig war, zuverlässige Konfidenten zu finden. Es fehle noch an Vertrauen, ob die Verhältnisse Bestand hätten. Allgemein herrsche die Ansicht, es werde ein Umsturz in Ungarn eintreten und die mit der Regierung arbeitenden Personen »der Rache von Gewaltmännern anheimfallen«. Die Angst sei so groß, dass Vertrauensleute lieber auf das Geld verzichteten, als mit einem fingierten Namen zu unterschreiben, weil sie befürchteten, »daß einst solche Dokumente aufgefunden und gegen sie benützt werden könnten.« Das galt vor allem für die Lohnbediensteten, die außerdem argwöhnten, dann ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn ihre Verbindung zur

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Polizei bekannt werde. Dennoch waren gerade diese Leute zur Kontrolle der Fremden besonders wichtig. Bemerkenswert ist, dass man offensichtlich mit einem Sturm auf die geheimen Archive rechnete. Die angeordnete Umfrage brachte also reichliche Informationen; sie bot eine Momentaufnahme. Das Resultat war beachtlich. Insgesamt verzeichnet die Bestandsaufnahme 314 Konfidenten, verteilt auf die ganze Monarchie vom westlichen Tirol bis zum östlichen Siebenbürgen, vom nördlichen Galizien bis nach Mittelitalien. Die daraus zu folgernden Schlüsse sollen nun genauer beleuchtet werden. Zunächst seien die Qualitätsmaßstäbe betrachtet: aus ihnen ist abzulesen, wie entwickelt der Dienst bereits war. Es ist bemerkenswert, dass man schon zwei grobe Klassen einzuteilen versuchte: die Kategorie der hauptamtlichen, hochqualifizierten Konfidenten, welche vielseitig einsetzbar seien, und dann als zweite solche Nachrichtenzuträger, die einen Beruf ausübten, der sie deckte und ernährte. Sie versorgten die Polizei insgeheim mit Beobachtungen aus dem täglichen Leben. Das waren bevorzugt Mitglieder niederer Gewerbe mit beruflichen Kontakten zu anderen Menschen, etwa Lohnkutscher und Lohndiener. Eine Übersicht besonders aussagekräftiger Bewertungen für Konfidenten sei hier angeführt. In den Zonen mit gemischtsprachiger Bevölkerung war begreiflicherweise die Kenntnis vieler Sprachen erwünscht. Es wurde deshalb zum Beispiel hervorgehoben: »versteht oder schreibt deutsch, ungarisch, kroatisch, italienisch, wallachisch« usw. Charakterliche Eigenschaften und persönlicher Ruf wurden genau berücksichtigt. Es hieß etwa im Positiven: solider Charakter, treugesinnt, vertrauenswürdig, sehr gewandt, findig, pfiffig, umsichtig, vorsichtig, verschwiegen (!); im Negativen: schwerfällig, und es passte so schrecklich ins Klischee, dass die braven Österreicher sich auf italienische Konfidenten angewiesen sahen, über deren Moral sie die schlimmsten Urteile fällten. Da ist von einem heruntergekommenen Adligen die Rede, einem charakterlosen, verrufenen Intriganten aus Mantua, von einem Konfidenten aus Venedig, der in seiner Jugend ausschweifend und unter öffentlicher Missbilligung gelebt habe; ein anderer von dort habe sich durch unsittliche Liebschaften mit Schauspielerinnen einen sehr zweifelhaften Ruf erworben; noch ein anderer aus Venedig genieße den übelsten Ruf wegen skandalöser Frauenbeziehungen. Aber bei allen vieren wurde aber beteuert, wie politisch verlässlich sie doch seien! Auch das Temperament wurde bewertet: ruhig, zu leidenschaftlich, von energischem Charakter. Intellektuelle Fähigkeiten, besondere Kenntnisse und Sachverstand galten bei der anstrengenden Arbeit der Ausforschung und Überwachung besonders viel: von natürlichem Verstand, klug, schlau, sehr aufmerksam sollten sie sein, durch scheinbares Eingehen auf fremde Ideen sich Vertrauen schaffend. Sie sollten reiche Personal- und Lokalkenntnis, gute Be-

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ziehungen zu einzelnen Personenkreisen besitzen. Hier waren Bildung und Lebenslage bedeutsam. Selbstverständlich hatte die politische Einstellung ein besonderes Gewicht. Sie wurde abgelesen daran, wer ehemals schon beim Militär gedient hatte. Der galt als besonders zuverlässig. Hervorgehoben wurden auch Kaisertreue und Belobigungen durch den Kaiser. Ein scharfes Kriterium war besonders in Ungarn und Oberitalien das vergangene Verhalten zur Revolution. Während der Revolution verfolgt gewesen zu sein – und das war nicht zu selten der Fall – gereichte nun als Gütesiegel für Standhaftigkeit und Zuverlässigkeit. Andererseits musste zurückliegende revolutionäre Tätigkeit nicht unbedingt ein Hindernis sein, um Konfidentendienste zu leisten. So konnten die »Kompromittierten« – wie sie hießen – Vorteile ziehen aus dem Verrat ihrer früheren Freunde und Verbindungen. Hier eröffnete sich ein weites Feld schlechter menschlicher Eigenschaften. Auch Frauen schalteten sich in dieses Spiel ein. Und Erpressung bahnte mitunter den Weg wie etwa bei dem Adligen Josef Simon, der ehedem mit Revolutionären verkehrt hatte. Eine vom Militärgericht verhängte Strafe vermochte er zu mildern, indem er seine Dienste anbot. Die Wahrheitstreue der Berichte wurde bewertet mit Attributen wie »genau, verlässlich, oft zu grell, zu leidenschaftlich, zuweilen übertreibend«. Schließlich warf man auch einen Blick auf die Vermögensverhältnisse. Einerseits war klar, dass schwache Charaktere und verarmte Schicksalsgefährten bestechlich waren. Andererseits konnte das die Glaubwürdigkeit wiederum mindern, wenn nur wegen des Geldes Nachrichten herbeigeschafft wurden. Eine besonders glaubwürdige Person schien deshalb immer dann gewonnen zu sein, wenn diese keinen Lohn verlangte und gar vorgab, nur aus patriotischer Absicht zu handeln. Die 314 bekannten Konfidenten von 1853 lassen sich in Gruppen zusammenfassen: Die erste Gruppe umspannt die alten Stände – Adel, Geistlichkeit, Grundbesitz –, außerdem die Intelligenz. Adlige Geistliche

3 5

Akademiker Schriftsteller

30 3

Maler Theaterbeschäftigte

1 10

Gutsbesitzer Gutsverwalter

6 2

Summe

60

Mit einem knappen Fünftel fällt sie relativ schwach aus. Adel und Geistliche waren verschwindend gering vertreten, und dann mit dem Anstrich des Anrü-

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chigen. Die Adligen hatten Geldprobleme, der Geistliche aus Mailand (Anton Grubissi) war ein Multitalent. Über ihn heißt es: »Ein wissenschaftlich gebildeter, etwas leichtfertiger Priester von vieler Redefertigkeit, lebt von Schriftstellerei, Messelesen. Seine Verwendung umfasst die Klasse der Intelligenz und der freien Künste, wo sich die meisten Anhänger des Mazzinismus befinden.« Das war denn auch der Zweck der Intelligenzija im Dienste der Geheimpolizei: ihresgleichen auszuforschen, weil alle anderen Schichten bei solchem Vorhaben verdächtig erscheinen würden. Viele Akademiker waren in ihrer Karriere aufs Seitengleis geraten: als Privatlehrer, Postsekretär, Postamtsverwalter nach Philosophiestudium, Kalligraph; nur zwei Professoren waren auszumachen: ein Professor des Naturrechts im Ruhestand (Stefan Banno) und ein Professor der Geschichte und Geographie, auch außer Diensten (Adolfo Falconette an der Handels- und Schifffahrtsakademie zu Triest). Auffällig ist auch, wie wenige Schriftsteller ihren Griffel der Polizei liehen, ganz anders als Metternichs Geheimpolizei im Mainzer Informationsbüro, wo sie dominierten.8 Die Theater als Börse der Begegnung zogen auch das polizeiliche Interesse auf sich, indem man Schauspieler, Garderobenausstatter, Chorsänger, Souffleure und Bedienstete anwarb – an der Herrmannstädter Bühne, beim polnischen Nationaltheater, an den Bühnen Italiens. In einer zweiten Gruppe lassen sich die Staatsdiener zusammenfassen. Militär Beamte

18 29

Subalternbeamte Sekretäre

39 23

Summe

109

Sie waren professionell geübt im Konzipieren und Aufschreiben. Auch tarnte sie ihre äußerliche Tätigkeit. Generell war die Tendenz zu beobachten, dass es die niederen Ränge waren, bei den Soldaten kaum Offiziere, dafür Unteroffiziere, Gendarmen, einfache Wachmänner, und die Mehrzahl schon aus dem Dienst geschieden, entweder wegen des Alters oder der Invalidität oder weil andere Tätigkeiten lockten. Die bessergestellten Beamten waren vorwiegend bei den Stadtverwaltungen angestellt. Auffällig häufig kamen Finanzbeamte vor. Postbeamte hingegen im Dienst der Geheimpolizei arbeiteten in alter Tradition, wenn man an die Praxis des Brieferbrechens denkt. Auch bei den Subalternbeamten ragten die Wirkungsfelder Stadtverwaltung, Finanzen und Post heraus. Hinzu kamen noch Wachaufgaben und Dienste. Hier riet oft die Not, sich der Polizei anzubieten wie im Falle des Lembergers Johann Konarski, der den sin8 Vgl. Siemann: »Deutschlands Ruhe«, S. 154 – 170, bes. die Tabelle S. 166 – 167.

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nigen Tarnnamen »Nihil« erhalten hatte. Über ihn urteilte man: »Mittelmäßige Befähigung, schwache Auffassung, mit seinem Lebensunterhalt in großer Verlegenheit, ist nur beschränkt verwendbar, dürfte sich jedoch nicht bewähren. Er wurde auf eigenes Anerbieten hingenommen und geprüft, wird aufgegeben werden.« Die Subalternen waren geeignet, den Behördendienst zu überwachen, dann aber auch die Unterschichten, wo sie mit ihnen in Kontakt traten. Nicht günstiger sah die Lage der beträchtlichen Zahl der Sekretäre aus. Die schlechteren von ihnen erhielten das Attribut »Winkelsekretär«. Sie verrichteten ihre Arbeit auch in Caf¦s und Gasthäusern. Die dritte Gruppe vereinte Angehörige des Handels und Gewerbes: Fabrikanten Händler

1 14

Kleinhändler Gastgewerbe

17 14

Handwerker Hausierer

35 4

Summe

85

Die vierte Gruppe der Arbeiter und Handlungsgehilfen zählte 21 Konfidenten. Handel, Gewerbe und die so genannte »arbeitende Klasse« stellten ein Drittel der polizeilichen Geheimnisträger. Das ist bemerkenswert, denn hier arbeiteten keine Kommunalbeamten, keine Amtsabhängigen für die Polizei, sondern gewissermaßen der Nachbar von nebenan, der eigentlich einer erlernten Tätigkeit nachging und nicht von vornherein als verdächtig erscheinen konnte. Ihre Arbeiten eigneten sich vorzüglich zur unverdächtig anmutenden Ausforschung, denn es mussten Kunden zu ihnen kommen: die Fremden in die Gasthäuser, die Käufer zu den Handwerkern, oder die Konfidenten gingen als Händler, Kleinhändler und Hausierer zu den Menschen. Auch hier war nicht selten die Not spürbar, denn unter den Handwerkern waren es die krisengeschüttelten Gewerbe: die Schuster, Schneider, Weber, Hutmacher und Tischler. Sie besuchten die Herbergen der Handwerksgesellen und Arbeiter und forschten dort nach revolutionären Gesprächen.9 Intellektuell geübtere Handwerker wie die Buchdrucker widmeten sich in den Gasthäusern und Lokalen den stadtbürgerlichen Schichten. Die Händler und Hausierer reichten auch in zweifelhafte Kreise hinein, waren sie selbst doch oft mit Schmuggel und Pferdespekulation be9 Handwerksgesellen wurden notorisch wegen ihrer länderübergreifenden Wanderungen als Briefträger der Revolution verdächtigt; vgl. exemplarisch schon für den Vormärz: HansJoachim Ruckhäberle (Hg.): Bildung und Organisation in den deutschen Handwerksgesellenund Arbeitsvereinen in der Schweiz. Texte und Dokumente zur Kultur der deutschen Handwerker und Arbeiter 1834 – 1845. Tübingen 1983.

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schäftigt. Die Arbeiter erreichten noch weitere Kreise der Bevölkerung. Das sieht man, wenn man ihre genauere Tätigkeit betrachtet: als Tagelöhner, Lohnkutscher, Goldarbeiter, Stiefelputzer oder Eisenbahnbauarbeiter. Eine fünfte Gruppe lässt sich als Verschiedene rubrizieren: Frauen Bauern

11 2

Schüler nicht identifizierbar

1 25

Summe

39

Ein Wort muss noch den Frauen gelten, denn immerhin elf unter den Konfidenten waren für die Staatspolizei tätig. Sie hatten je besondere Schicksale. Die Tochter eines ungarischen Gutsverwalters hatte als Zweiundzwanzigjährige mit der Revolution sympathisiert. Der amtliche Bericht schreibt: »Sie zog während der Revolution als Amazone mit den Honv¦ds [seit 1848 die freiwilligen »Vaterlandsverteidiger« mit der Waffe] in Ungarn herum«. Sie wurde danach Inhaberin einer Lehranstalt für Mädchen, rehabilitierte sich beim alten System durch Spitzeldienste und wurde gern übernommen, denn es hieß von ihr : »schlau, viel Nachforschungsgeist, Bekanntschaft mit radical gesinnten Personen«. Zwei Freundinnen aus dem Bekanntenkreis des meistverfolgten italienischen Revolutionärs Guiseppe Mazzini lieferten von Genua aus Nachrichten. Selbst die Liebe konnte spionieren lehren, also in diesem Fall: Mazzini auszuforschen, wenn das helfen konnte, einen Geliebten aus dem Exil wieder heimzuholen, wie es der Polizei nicht entgangen war. Es soll noch dargestellt sein, wie sich diese Konfidenten auf die Monarchie verteilten. Dafür ist die Aufstellung der Obersten Polizeibehörde zu Rate zu ziehen;10 sie teilt zugleich mit, welche Summen aus dem zentralen Geheimen Polizeifonds im Jahre 1852 in die einzelnen Kronländer geflossen waren. Die meisten Gelder gingen nach Oberitalien, dann nach Ungarn, Österreich unter der Enns – dem Land mit der Residenzhauptstadt Wien, nach Böhmen und Siebenbürgen. Folgendermaßen haben sich die 314 Konfidenten auf die einzelnen Kronländer verteilt. Österreich unter der Enns (mit Wien) Österreich ob der Enns Salzburg Steiermark

12.685,3 Gulden

0 Konfidenten

1.429,20 Gulden 797,26 Gulden

11Konfidenten 8 Konfidenten

2.305,52 Gulden

5 Konfidenten

10 »Ausweis über die zu polizeilichen Zwecken verwendeten geheimen Fonds nach den einzelnen Kronländern«, ausgegeben im Jahre 1852«, HHStA Wien IB, BM-Akten Krt. 50.

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(Fortsetzung) Kärnten

50,– Gulden

0 Konfidenten

Krain Küstenland (mit Triest)

48,23 Gulden 878,42 Gulden

14 Konfidenten 17 Konfidenten

Tirol Böhmen

1.243,16 Gulden 8.523,20 Gulden

4 Konfidenten 13 Konfidenten

Mähren Schlesien

2.552,27 Gulden 142,– Gulden

11 Konfidenten 0 Konfidenten

Galizien Bukowina

2.405,7 Gulden 0 Gulden

9 Konfidenten 0 Konfidenten

Dalmatien Ungarn

2.403,4 Gulden 52.702,31 Gulden

2 Konfidenten 54 Konfidenten

Siebenbürgen Kroatien

4.364,27 Gulden 0 Gulden

35 Konfidenten 2 Konfidenten

Woiwodina Lombardo–venezianisches Königreich

895,– Gulden 58.203,55 Gulden

0 Konfidenten 129 Konfidenten 314 Konfidenten

Die Ausgaben und die Zahl der Konfidenten lassen sich nicht exakt parallelisieren. Trotzdem sind die Trends überzeugend: Die höchsten Ausgaben zogen die meisten Konfidenten nach sich. Das für sich wäre nicht besonders verwunderlich. Aufregend ist die Verteilung. Es dominierten die ehemals unruhigsten revolutionären Schauplätze der Monarchie: eben der Reihenfolge nach Oberitalien, Ungarn mit Siebenbürgen und Böhmen. Wien schlug mit den Konfidenten nicht zu Buche: Es ist bekannt, dass man dort besondere Probleme hatte, geeignete Leute zu finden, und nicht jedes Geld gab man für Agenten aus; es gab mancherlei andere Zwecke, etwa Beeinflussung von Redaktionen, um gewisse Presseorgane gegenüber der Regierung gefügiger zu machen, ohne sogleich als Zensor erscheinen zu müssen. Insgesamt ließ die so diagnostizierte Organisation des geheimpolizeilichen Dienstes das intensive Nachbeben der Revolution erkennen. Die strategischen Brückenköpfe für die Platzierung der Konfidenten waren dabei die großen Städte mit Polizeidirektionen.11 Die Art, wie sich die Konfidenten sozial zusammensetzten, beweist, dass die Bevölkerung in allen ihren gesellschaftlichen Schichten observierend durchdrungen werden sollte, nicht etwa nur die politisch aktiven Intellektuellen der 11 Das waren gemäß der damaligen Toponomastik der habsburgischen Verwaltung die Polizeidirektionen Agram, Brünn, Essegg, Fiume, Graz, Großwardein, Hermannstadt, Innsbruck, Kaschau, Krakau, Klagenfurt, Kronstadt, Klausenburg, Linz, Lemberg, Laibach, Mailand, Oedenburg, Prag, Pest, Pressburg, Salzburg, Troppau, Temeswar, Triest, Venedig, Wien und Zara.

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kleinen Zirkel und Salons. Die Bevölkerung bekam den Überwachungsdruck im Alltag zu spüren: im Misstrauen gegenüber Handwerkern, Kleinhändlern, im Umgang mit den kleinen Beamten und Dienern in den Büros, in den Caf¦s, Gaststätten und Hotels und sogar in der Freizeit und bei der Belustigung im Theater. Die Gesamtwirkung des österreichischen Geheimen Dienstes sorgte dafür, dass der Überwachungsdruck in die Breite und Tiefe der Gesellschaft auszustrahlen vermochte. Diese informelle Repression verlieh der Habsburgermonarchie in der nachrevolutionären Dekade, bevor dann die große Amnestie einsetzte, den Charakter des Polizeistaats. So musste ihn die Bevölkerung elementar erleben. Das war noch nicht jene Monarchie, die später das Fin de SiÀcle in sich barg, vom greisen Franz Joseph gelenkt, von Joseph Roth im »Radetzkymarsch« literarisch gestaltet. Es war im Gegenteil das System des Neoabsolutismus – die so genannte »Ära Bach« –, das ähnlich wie die Politik der Reaktion in den deutschen Bundesstaaten verhinderte, den Prozess der politischen Emanzipation zur Reife zu bringen, den die Revolution von 1848 zu eröffnen schien. Das galt nicht zuletzt auch für die demokratische Einbindung der Nationalitäten in einen Verfassungsstaat. Die österreichische Verfassung von Kremsier 1849 hatte für den Vielvölkerstaat – zumindest in ihrem cisleithanischen Teil – ein Modell entwickelt, das aus dem Konsens der Nationalitäten erwachsen war, obwohl auch sie elementare Fragen der parlamentarischen Vertretung nicht hatte lösen können. Aber ohne Verfassung war dieser Staat nur noch in der beschriebenen Weise regierbar : mit der Schar gezielt verteilter Konfidenten und der Macht der Bajonette im Hintergrund. Erst in der Ära Schmerling – übrigens einem vormaligen Paulskirchenabgeordneten und Reichsministerpräsidenten von 1848/49 – löste sich mit den zaghaften Versuchen zu einer Konstitutionalisierung durch das von ihm maßgeblich inspirierte Februarpatent von 1861 die innere Lähmung des Gesamtreiches.12

2.

Der Seitenblick eines Zeitzeugen auf die Tätigkeit »Inoffizieller Mitarbeiter« in der DDR

Die vorausgehend gewonnenen Erkenntnisse über Herkunft, Rekrutierung, Befindlichkeit und Anspruchsprofil historischer Konfidenten lieferten dem Verfasser einst selbst ein Argument für die sonst immer sehr zweifelhafte Frage, ob man, als Historiker zumal, aus der Geschichte lernen könne. Als er selbst 12 Vgl. insgesamt zu dem Übergang Helmut Rumpler : Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997, S. 376 – 379.

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einmal ungewollt Objekt geheimer staatspolizeilicher Operationen geworden war, half ihm eine historisch erlangte Einsicht aus einer höchst prekären Lage. Um das darzustellen, wird er nun die objektivierende Darstellungsperspektive wechseln und übergehen zu der eines Zeitzeugen, der allerdings das aus der Geschichte gewonnene Erfahrungsmaterial als Urteilshintergrund für die folgende Darstellung – obwohl Betroffener, hoffentlich gleichwohl kritisch distanziert – nutzen wird. Ich werde erzählen, wie der Leipziger IM (Inoffizielle Mitarbeiter) »Eddy« es fertigbrachte, dass ich in das Augenmerk der Berliner Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der Staatssicherheit der DDR kam, die vorrangig für Auslandsaufklärung und Gegenspionage sowie für »aktive Maßnahmen« im Operationsgebiet der nichtsozialistischen Staaten, das hieß der NATO-Staaten, zuständig war ; ich geriet geradewegs in das Blickfeld der Abteilung IV, welche die militärische Aufklärung in der BRD bearbeitete und deshalb über mich eine Karteikarte in der berüchtigten Rosenholz-Datei anlegen ließ. Das bedeutete, dass man in mir einen potentiellen »Inoffiziellen Mitarbeiter« erhoffte, mich auf jeden Fall als »Zielperson« definierte. Als Quelle dient mir eine Akte, welche die HVA / Abt. IV über mich anlegen ließ und über die mich der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR auf einen im Jahre 2010 gestellten Antrag hin am 6. März 2014 unterrichtete.13 Im Folgenden werde ich mich nur darauf konzentrieren, was man aus diesen mich betreffenden Vorgängen über die Arbeitsweise, Mentalität, Verpflichtungen, Rücksichten und Motive eines IM – historisch gesprochen: eines Konfidenten – erfahren kann und mit welchen quellenkritischen Problemen es ein Historiker zu tun bekommt, wenn er mit Niederschriften eines IM konfrontiert ist. Als Zeitzeuge und Betroffener befinde ich mich in der glücklichen Lage, dass ich gleichzeitig die Aussagen des IM als auch die Sicht seiner »Zielperson« kenne, was in historischen Fällen eher die Ausnahme ist. Ich kann also die Aussagen in den ohne meine Kenntnis entstanden Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen. Zusätzlich lehrreich sind die Einblicke, welche ich in die internen Kontrollmechanismen gewinnen konnte, mit denen die höheren Organe der Staatssicherheit die Informationen eines IM evaluierte. Mit dieser Akte schließt sich also gewissermaßen der Kreis, in den ich im Januar 1978 getreten war, als ich bei der Staatlichen Archivverwaltung der DDR ein Benutzungsgesuch stellte. Für meine Habilitationsforschungen zur Geschichte der politischen Polizei im Deutschen Bund war es unerlässlich, auch die 13 Akte der HVA / Abt. IV, Signatur MfS AP 135/79, Kopie im privaten Besitz. Ich danke an dieser Stelle der für mich zuständigen Sachbearbeiterin in der Behörde des Bundesbeauftragten; sie informierte mich kundig über die Behördengliederungen und Zuständigkeiten innerhalb des Staatssicherheitsdienstes der DDR, auch über die unerlässliche Dechiffrierung der zahlreichen internen Kürzel. – Die in der Akte genannten Namen der offiziellen Behördenmitarbeiter der Staatssicherheit habe ich unterdrückt.

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archivalischen Bestände der historischen Königreiche Preußen und Sachsen zu konsultieren, also die Staatsarchive in Dresden und Potsdam sowie das Zentrale Staatsarchiv Merseburg. Ich erhielt eine Genehmigung für drei Monate und reiste am Sonntag, den 16. Juli 1978, in Leipzig an, wohin mich das Reisebüro der DDR Hansa-Tourist München dirigiert hatte. Die Geschichte mit der Staatssicherheit begann am Abend des 17. Juli, als ich mich von dem ersten Archivbesuch in Merseburg auf der Rückfahrt im »Kleinen Restaurant« der Mitropa im Leipziger Hauptbahnhof erholte. Hier setzt der Bericht meines IM »Eddy« ein. Was war seine Ausgangslage? Er gehörte zu einer Gruppe von Graphikern, welche die Staatssicherheit Mitte der 1950er Jahre geschlossen übernommen hatte. Er arbeitete für die Abteilung XX der Leipziger Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, zuständig für die Sicherung und Kontrolle von Staatsapparat, Leistungssport, Kirchen, Kultur und Opposition. Seine Existenzweise hieß, getarnt zu bleiben, um so unverdächtig wie möglich Kontakte zu Fremden zu knüpfen. In Leipzig waren das bevorzugt Messebesucher : Unternehmer, Gewerbetreibende, Kaufleute – und das höchste Ziel hieß für ihn, interessante »operative Verbindungen« zu knüpfen, möglicherweise attraktive Tipps noch oben geben zu können, deren sich die HVA / Abt. IV annehmen könnte und durch die er im Ansehen stieg, aber auch finanzielle Vorteile hatte. Er handelte also schon aus einem gewissen Erwartungshorizont heraus, der ihn die Wirklichkeit nicht selten anders sehen ließ, als sie tatsächlich war. Das erinnerte wie vieles Andere an die zuvor beschriebene historische Parallele. Ich halte es für legitim, über den historischen Vergleich hinaus zu erwägen, ob es strukturelle Regelhaftigkeiten gegeben habe, welche sowohl für die zeitliche Querschnittsebene von 1853 in der Habsburgermonarchie als auch für diejenige von 1978 in der DDR gelten können. Anders gesagt: Ungeachtet höchst unterschiedlicher historischer Ausgangslagen und politischer Systeme bestehen strukturelle Gemeinsamkeiten, die einer systematischen – gleichsam idealtypischen – Betrachtungsweise im Sinne von Max Weber zugänglich sind. Das mag an verschiedenen Faktoren liegen, etwa anthropologischen Parallelen, der Problematik von staatlicher Geheimhaltung im öffentlichen Raum, den immer wiederkehrenden gleichen Methoden der Konspiration. Im Folgenden werden einige Aspekte hervorgehoben, welche ich als einen Teil solcher Regelhaftigkeiten einschätze. Kontaktaufnahme und Herstellung von Vertraulichkeit. – Der mir sich zuordnende IM »Eddy« schrieb in seinen konspirativen Berichten, er habe mich in dem genannten Lokal »zufällig« kennen gelernt. Ich hätte mich an seinen Tisch gesetzt, an dem sich auch ein Soldat der NVA befunden habe. Tatsächlich ging der Impuls von ihm aus. Das Lokal war vollkommen leer, ich saß allein, und die Bedienung platzierte ihn an meinen Tisch – ein in der DDR übliches, gastronomisches, hier aber gezielt genutztes Verfahren. Ich konnte das schlecht ab-

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weisen und war darüber hinaus arglos. Dann begann das Gespräch, auf das in den nächsten Wochen weitere folgten. Seine zwanglose, auch gebildete Art wirkte vertrauenerweckend, und er legte es erfolgreich darauf an, sich mit mir anzufreunden. Dazu trug auch bei, dass er mich zu einem Abendessen bei seiner Frau nach Hause einlud. Die wachsende Vertrautheit zu vorgeschrittener Zeit unter dem Einfluss von größeren Quantitäten Bier nutzte er zu einem Vorstoß, der nicht in seinem Protokoll vorkommt, den ich aber im Nachhinein als Testballon betrachten kann, womit er herausfinden wollte, ob ich Hintergrundkontakte zu Fluchthilfeorganisationen hätte. Er stöhnte laut: »Ich halte es in dieser gottverdammten Republik nicht mehr aus!«. Das ließ meine inneren Alarmglocken schrillen, zumal Bekannte von mir in der Tat über ein Fluchthilfeunternehmen die DDR verlassen hatten (ich sehe nun in der Akte, dass er davon wusste). Ich unterdrückte jegliche Reaktion. Dramatisierungen und Erfindung von angeblichen Tatsachen (»Mystifikationen«). – »Eddys« Resümees, mit denen er dann das Aufsehen der Berliner HVA erregte, enthielten mehrere vollkommen erfundene Behauptungen: ich hätte in der DDR einen Forschungsauftrag für den Bundesnachrichtendienst zu erfüllen (BND), hätte Dienstreisen »in gleicher Mission« nach England, Jugoslawien und die CSSR gemacht und im Auftrag des BND bei den BASF einen Vortrag zu historischen Grundlagen der Betriebsspionage gehalten. Meine jetzigen Studien in der DDR ließen sich dazu gut verwerten. Ich würde den »NurAkademiker« spielen. Das war – ich wiederhole es – alles total aus der Luft gegriffen: Ich hatte nie Kontakt zum BND gehabt, war noch nie in der CSSR gewesen, in Jugoslawien nur zu meiner Studentenzeit. Aus meiner Mitteilung, ich hätte meine alten Stenografie-Kenntnisse wiederbelebt, um beim Exzerpieren aus den Archivalien Zeit zu sparen, machte er, das sei mein Mittel, um Aufzeichnungen konspirativ meinen Auftraggebern beim BND zu übermitteln. Ich würde an der Terroristenbekämpfung in der BRD mitarbeiten, wozu sich meine Studien in den Archiven der DDR gut verwerten ließen. Er hatte hier offensichtlich Parallelen, die ich gesprächsweise zwischen den historischen Vormärzattentätern und der aktuellen RAF gezogen hatte (deren Anschläge im Rahmen des so genannten »Deutschen Herbst« waren auch in der DDR Tagesgespräch), in eine Auftragsarbeit für den BND umgemünzt. Manische Fixierung auf ein konstruiertes Tätigkeitsbild der »Zielperson«. – Den Höhepunkt eines dramatisierenden Alarmszenarios konstruierte mein IM in seinem Bericht über ein vermeintliches Treffen am 5. September in der Leipziger Bierbar am Brühl. Ich hätte mich dort mit drei BRD-Bürgern, drei DDR-Bürgern und einer DDR-Bürgerin getroffen. Er habe am Nachbartisch erlauscht, ich hätte »über konkrete, chemische, fachspezifische Analysen bzw. Verfahren diskutiert. Ich hatte den Eindruck, dass Dr. S. auf dem Fachgebiet konkrete Kenntnisse besaß« und den DDR-Bürger »fachlich abschöpfte«. Die

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DDR-Bürgerin, eine »Schwester des Chefdispatchers des BT 05, VEB Polygraph«, hätte mich mit »Gunter« angeredet. Techniken zum Beweis eigener Glaubwürdigkeit. – Die Informationen über das heimlich Abgehörte in der Bierbar veranlassten IM »Eddy« selbst zu der Frage: »Warum bin ich mir sicher, dass es sich bei dem Gunter um den Dr. S. handelt?« Seine Ausführungen erhalten hier den Charakter eines Steckbriefs und einer Charakteranalyse meiner Person, zu der er auch sonst reichlich beisteuerte. Hier lohnt es sich, den Text im Wortlaut wiederzugeben, weil er auch etwas über die Denkweise und das Selbstbild des IM verrät: »1. Ein leichter Haarausfall am Hinterkopf 2. Glattrasierter Biberbart über den Mundwinkeln 3. Die markante Gesichtsform (tiefliegende Augen, hohle Wangen) 4. Markante Armbewegung, nach der Armbanduhr zu sehen (ruckartig) 5. Gesamterscheinung (Als Grafiker bin ich ein visueller Typ, der entsprechend beobachtet und die Details einordnet bzw. wiedererkennt.) 6. Sprache und Gebaren.«

Verlagerung auf die Ebene der HVA in Berlin. – Betriebsspionage, Arbeit für den BND in ganz speziellen Aufträgen, Hand in Hand mit vielfältigen vorausgegangenen gleichgelagerten »Dienstreisen« in »sozialistische Bruderstaaten«: das alles musste zwangläufig das Interesse der HVA in Berlin erregen, wenn nicht alarmieren, eben deren Abteilung IV, die für militärische Aufklärung und Gegenspionage auf dem Gebiet der BRD zuständig war. Hier kam wohl noch der Zufall ins Spiel. Diese Abteilung hatte mich seit April 1978 nach zahlreichen – bis zu meinem Archivaufenthalt an der Humboldt-Universität 1972 zurückreichenden – vorausgegangenen internen Recherchen als »Objektvorgang« erfasst. »Operativ zu bearbeitende« Objekte waren etwa staatliche Institutionen (in meinem Fall die Universität) oder Wirtschaftsverbände. Dazu hatte man über mich eine Akte angelegt und mich als potentielle »Zielperson«, im optimalen Falle als IM eingestuft. Als die HVA routinemäßig die auf die Leipziger Messe bezügliche Personalerfassung ihrer nachgeordneten Bezirksverwaltung in Leipzig überprüfte, erfuhr sie von den Aktionen des IM »Eddy«. Der Auftrag von oben lautete nun »Koordinierung operativer Maßnahmen«. Dazu trafen sich am 28. September in einer ersten Runde zwei verantwortliche Mitarbeiter der StasiBezirksverwaltung Leipzig in Berlin mit einem Mitarbeiter der HVA / Abteilung IV. Die Informationen, die IM »Eddy« zusammengetragen hatte, wurden eingehend diskutiert und dann der Weg »der weiteren Bearbeitung der operativinteressanten Person Dr. Wolfram S.« verhandelt. Die versuchte Anwerbung der »Zielperson« zum IM. – Jetzt wurde es für mich ernst, und »Ernst« war jetzt auch der Deckname, unter dem ich fortan in der

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Akte geführt wurde. Dabei ist hervorzuheben: Man achtete in der Art und Weise, wie der maßgebliche Mitarbeiter der HVA, ein promovierter Oberleutnant, mit mir Kontakt aufnehmen sollte, strengstens darauf, dass keinesfalls die Tarnung »Eddys« gefährdet wurde. Das hieß im Amtsdeutsch, »dass der IM nicht dekonspiriert werden darf«. Also entwickelte man eine detailliert konstruierte »Legende«, die erklärte, warum »Eddy« nach Potsdam komme, woher er den HVA-Mitarbeiter kenne – ein angeblicher Studienfreund, bei dem er übernachte (man übersah dabei den sichtlichen Altersunterschied), und es wurde ein differenziertes Manual angelegt, wie man mit der Zielperson umzugehen habe: »Wie muss man sich gegenüber ›Ernst‹ verhalten? / Sind Äußerlichkeiten entscheidend? / Wenn ja, welche? / Welche Form der Gestaltung des Gespräches wird in Kenntnis der Person als günstig erachtet?«. »Eddys« Leipziger Behörde lieferte nach Rücksprache mit ihm die Antworten prompt: »›Ernst‹ kleidet sich betont leger, achtet aber sehr auf Äußerlichkeiten. Er ist um korrekte Aussprache bemüht [eine gewisse sprachliche Divergenz musste einem Sachsen offensichtlich auffallen!]. / ›Ernst‹ ist kontaktfreudig, aufgeschlossen und kann als clever eingeschätzt werden. Die Kontaktaufnahme in Potsdam erscheint aufgrund der Meinung von ›Eddy‹ unkompliziert. / ›Eddy‹ sieht Widersprüche in den in keinem Verhältnis stehenden hohen Ausgaben (Eigentumswohnung, großer Wagen) zum Verdienst von ›Ernst‹ und dessen Frau.«

Damit war der entscheidende Punkt angesprochen, welche Attraktivität die Anwerbung bieten könnte. Aus meiner Aussage, mein Konto sei wegen der hohen Interhotel-Kosten trotz beträchtlicher Unterstützung durch die DFG »rot« geworden, schloss man, hier einen Ansatzpunkt zu haben. Denn die vorausgegangene Konzeptformulierung hatte vorgegeben: »Ziel der Gespräche: Befriedigung der Interessen beider Seiten im Rahmen eines längerfristigen Kontaktes«. Es wurde bereits »eine Reise- und Aufenthaltslegende für Westberlin beraten. Die Ausgabe einer DA [Deckadresse] bzw. deines DT [Decktelefons] erfolgt auf Grund des Charakters und des Stadiums der Verbindung zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht.« Da ich immer wieder betont hatte, nur aus wissenschaftlichen Zwecken in der DDR zu sein – ganz im Gegensatz zu »Eddys« »Mystifikationen«, wie man im 19. Jahrhundert sagte –, war vorab festgelegt: »Da bei ›Ernst‹ gegenwärtig nur materielle Interessen ausgenutzt werden können, erfolgt beim letzten Treff die Übergabe von 800,00 DM/DBB [also in den kostbaren Devisen!] als Unkostenvorauszahlung für den nächsten Treff.« Es sei vorweggenommen, dass ich nie Geld erhalten bzw. angenommen hatte, weil ich dazu nie willens war, aus der Sicht der Behörde es aber zunächst noch abzuwarten galt. In dem tatsächlichen Anwerbegespräch mit dem Genossen Oberleutnant erwies dieser sich als intelligent, argumentationsfähig, bestens über Verhältnisse

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in der BRD informiert. Man konnte über Hochschulpolitik mit ihm sprechen; er kannte die – in den Augen der DDR-Behörden verhasste – ZDF-Sendung »Kennzeichen D« und ließ äußerst sachlich mit sich darüber reden, so dass ich streckenweise hätte vergessen können, mich mit einem kühl kalkulierenden Mitarbeiter des MfS zu unterhalten, wäre das Gespräch nicht sogleich mit einem Paukenschlag eröffnet worden: »Sie arbeiten für den BND«. Ich war wie vom Donner gerührt, was sich unzweifelhaft an meinen Reaktionen ablesen ließ, und betonte mit äußerstem Nachdruck, ich sei lediglich als historisch forschender Wissenschaftler in den Archiven der DDR; eine Beziehung zum BND sei völlig abwegig, und ich hätte dergleichen nie erwähnt. Mir wurde spätestens jetzt klar, dass hinter allem IM »Eddy« steckte, der damit für mich enttarnt war. Der Oberleutnant wiegelte aber sofort beschwichtigend ab und stellte nur lächelnd fest: »Ich wollte nur einmal sehen, wie Sie reagieren.« Dann nahm das Gespräch abrupt eine Wendung, indem er auf vielerlei Themen zu sprechen kam, die in der vorausgegangenen Konzeptualisierung bereits festgelegt worden waren. Als solcherart vorbereitete Themen verraten die Akten »Wahl in Hessen am 8. 10 (Einschätzung des Ergebnisses, bundesweite Auswirkung?), Rechtstendenzen in der BRD (u. a. ›Fall Filbinger‹), Neutronenwaffe, Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander, Probleme der Friedenssicherung, materielle, persönliche und berufliche Lage (Aussichten der KP [Kontaktperson]).«

So kam es dann auch: Nachdem derlei Punkte in anregendem Gespräch abgearbeitet waren, näherte sich der Beamte schließlich seinem wichtigsten Zweck; um mich zu ködern bzw. zu verpflichten, machte er mir nach dem Hinweis auf mein ›rotes‹ Konto das Angebot: »Da lässt sich etwas machen«. Von diesem Augenblick sinnierte ich nur noch, wie ich aus diesem Gespräch herauskäme, ohne den Abbruch meiner weiteren Archivnutzung zu provozieren. Die Entscheidung wurde allerdings noch einmal auf ein weiteres Treffen ohne »Eddy« am nächsten Abend im Hotel Cäcilienhof vertagt (bei dem unmittelbaren Anwerbungsgespräch hatte sich »Eddy« vereinbarungsgemäß unter einem Vorwand entfernt, um seine Deckung aufrechtzuerhalten). Interne Evaluierung der Belastbarkeit von Daten des IM. – Der Verlauf des Gesprächs verdeutlichte, dass die Informationen des IM »Eddy« kaum brauchbar waren. Der Oberleutnant schrieb in seinem Abschlussbericht: »Die Verbindungen zum BND bestätigten sich nicht. S. deutete im gleichen Zusammenhang an, dass er auf alle weiteren Kontakte verzichten wolle, um nicht in falsches Licht zu geraten.« Die ganze Operation erwies sich also als Fehlschlag. In diesem Zusammenhang verraten die Akten, welchen Standards die ›Konfidenten‹ in den Augen ihrer Auftraggeber genügen mussten bzw. wo sie keine Qualitätsarbeit leisteten. Sie waren darin von ihren zuvor behandelten historischen Vorläufern kaum entfernt. Die zugrundliegenden Fehlinformationen

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führten intern zu einer kritischen Evaluierung »Eddys«. Bereits die Nachrichten über meinen Aufenthalt in der Leipziger Bierbar hatten einen kritischen Aktenvermerk erhalten, als der IM mir Expertise in chemischen Produktionsverfahren hatte zuschreiben wollen. Der den IM führende Mitarbeiter in Leipzig hatte an den Rand geschrieben: »Die Zuverlässigkeit dieser Angaben wird allgemein bezweifelt (Aufenthalt des Dr. S. in Ddn. [Dresden], Diskussionsinhalt).« Aufgrund der lückenlosen Überwachung meiner Reisetätigkeit wusste man höheren Orts, dass ich mich am Tag der »Bierbar-Episode« bereits in Dresden befand. Der anwerbende Oberleutnant schrieb später in seinem »Abschlussbericht«, dass die Angaben des IM zum BND »in dessen Erinnerung falsch interpretiert worden« seien. Gleichermaßen sei zu berücksichtigen, »dass der IM damals wohl unter Alkoholeinfluss stand (schon minimale Mengen genügen) und seine Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit stark eingeschränkt war (vergl. Bericht Bierbar).« Solche Befunde seitens der oberen Leitungsebene setzten die Leipziger Mitarbeiter unter Rechtsfertigungsdruck und sie versuchten, »Eddy« den Rücken zu stärken. Ein IME (»inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz«) und ein FIM (»Führungs-IM«) beteuerten gemeinsam, »Eddy« sei schon seit Mitte der Fünfziger Jahre inoffiziell für das MfS tätig. An seiner Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit gebe es keinerlei Zweifel; er erfülle alle ihm übertragenen Aufgaben ohne Zögern und in guter Qualität. Er wurde als intellektuell geschildert. Aus der Geschichte lernen. – Der Misserfolg hatte auch für mich Konsequenzen. Der Vorgang wurde zu den Akten gelegt. Die »Abverfügung zur Archivierung« musste freilich gerechtfertigt werden. Der Oberstleutnant, der seit meinem Benutzungsgesuch von April an aus Berlin die Recherchen und Operationen gesteuert hatte – ein anderer als der anwerbende Oberleutnant, hielt dazu fest: »O.g. Person wurde durch die Benutzung der Staatsarchive der DDR bekannt. Die erarbeiteten operativen Ansatzpunkte wurden bei der Kontaktaufnahme nicht bestätigt. Er lehnte eine Zusammenarbeit mit staatlichen [!] Stellen der DDR ab. Aus diesem Grund kommt das Material im Archiv der Abteilung XII zur Ablage.«

Es bleibt jetzt nur noch festzuhalten, inwiefern ich einmal doch aus der Geschichte gelernt habe. In dem abschließenden Gespräch mit dem intelligenten Oberleutnant im Cäcilienhof beim Abendessen hatte dieser noch einmal versucht, mich zur Mitarbeit zu bewegen. Ich versuchte, mich klar und zugleich verbindlich zu verhalten, weil meine Archivzeit in Potsdam noch nicht herum war. Da entsann ich mich, was ich in der ersten Hälfte dieses Beitrags ausgeführt hatte und nun auch im Zusammenhang mit »Eddy« noch einmal dokumentieren konnte. Die Gedanken mündeten in die Frage: »Wie muss sich eigentlich der

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ideale Konfident verhalten?« Ich sagte also zu meinem Gegenüber : »Wissen Sie, ich bin für ein solches Geschäft nicht geeignet. Ich bin zu zerstreut und zugleich zu mitteilungsfreudig. Ich würde mich irgendwann unweigerlich verplappern.« Das hatte den Oberleutnant überzeugt und ihn zu dem Abschlussbericht veranlasst, der mir wieder Ruhe für meine Forschungen im Potsdamer Staatsarchiv gönnte und mich zu den historischen Anfängen der politischen Polizei zurückführte.

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Carl Gottlob Haeckel. Innensichten eines »normalen« preußischen Beamtenlebens

Carl Gottlob Haeckel, der Vater des berühmten Jenaer Zoologen und Vorkämpfers der Darwinschen Entwicklungslehre, Ernst Haeckel, hat bisher, von genealogischen Studien abgesehen,1 kein wissenschaftliches Interesse gefunden. Das kann auch nicht verwundern, denn seine Biographie stellt sich völlig unspektakulär dar. Es ist der typische Lebensgang eines preußischen Beamten im 19. Jahrhundert, arbeitsam, redlich, geradlinig und treu, ein in der Wolle gefärbter preußischer Staatsdiener. Als Sohn eines niederschlesischen Textilunternehmers in Hirschberg am Riesengebirge geboren, studierte er von 1799 – 1802 die Rechte an den Universitäten Halle und Breslau, wurde dann Referendar in Breslau und anschließend Stadtsyndikus in Landeshut (Schlesien). Die Katastrophe des preußischen Staates im Krieg gegen Napoleon 1806 war das prägende Grunderlebnis in Haeckels Biographie. Nach außen hin weiterhin sein Amt als Stadtsyndikus verwaltend, engagierte er sich heimlich für die Organisation des Widerstandes gegen die Franzosen, warb Spenden ein, knüpfte konspirative Netzwerke und legte geheime Waffenverstecke an. 1808 wurde er Mitglied des Tugendbundes. Seine Verwaltungskarriere wurde durch die seit 1808 in Preußen einsetzenden Reformen vorangetrieben. 1809 zum Stadtgerichtsdirektor von Landeshut aufgestiegen, ernannte man ihn zum Kommissar für die Säkularisation des südlich von Landeshut gelegenen Klosters Grüssau, eine Aufgabe, die er von 1811 bis 1815 ausübte. Die Gelegenheit, den lange vorbereiteten Kampf gegen die Franzosen aufzunehmen, kam mit dem Beginn der Freiheitskriege 1813. Haeckel trat in das Lützowsche Freikorps ein, wurde jedoch schon kurz darauf als Ordonanzoffizier in den Stab der Schlesischen Armee Blüchers abkommandiert, wofür ihn vor allem seine genaue Ortskenntnis des schlesischen Gebirges empfahl. Blüchers Stabschef Gneisenau verwendete ihn überdies für diverse Sonderaufträge. Im November 1813 erhielt er den Be1 Vgl. Karl-Ekkehard Kornmilch: Die Ahnen Ernst Haeckels. Darstellung der wichtigsten Personen und Familien, einer Ahnenliste bis zur XV. Generation und einer Nachkommenliste, Berlin 2009 (= Ernst-Haeckel-Haus-Studien, 12), S. 11 – 17.

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fehl, die in Stralsund ankommenden britischen Waffen- und Ausrüstungslieferungen für Blüchers Truppen in Empfang zu nehmen und deren Transport zu der nach Westen vorrückenden Armee zu organisieren, eine logistische Herausforderung, die sein beachtliches Organisationstalent unter Beweis stellte. Anfang Dezember 1813 schwer erkrankt, kehrte er erst Mitte Februar 1814 wieder in Blüchers Hauptquartier zurück, wo er bis zum Kriegsende blieb. Nach dem erneuten Kriegsausbruch 1815 wurde seinem Antrag, in die kämpfende Truppe versetzt zu werden, entsprochen; Haeckel wurde nun Offizier beim 2. Leibhusarenregiment, den Schwarzen Husaren. Die Gelegenheit, an Kampfhandlungen teilzunehmen, ergab sich jedoch für ihn nicht mehr. Nach dem raschen Ende des Feldzuges im Sommer 1815 waren nur noch Sicherungs- und Besatzungsaufgaben wahrzunehmen. Eine Militärkarriere im Frieden hatte für den mit dem Eisernen Kreuz Ausgezeichneten wenig Verlockendes, und so trat er am 1. März 1816 in das Regierungskollegium zu Potsdam ein. Kurz darauf verehelichte er sich, doch seine Frau starb schon im folgenden Jahr. 1822 heiratete er erneut. Seine zweite Frau Charlotte (1799 – 1889) war eine Tochter des aus Kleve stammenden Juristen Christoph Wilhelm Heinrich Sethe, der in der Rheinbundzeit im Großherzogtum Berg Oberprokurator gewesen und 1814 mit der Reorganisation des Justizwesens in der Rheinprovinz beauftragt worden war. Sethe hatte 1819 das Amt des Präsidenten des Rheinischen Revisions- und Kassationshofes zu Berlin erhalten und war damit zu einem der ranghöchsten Richter des preußischen Staates aufgestiegen.2 Charlotte, die er im Hause seines Förderers, des Oberpräsidenten Friedrich Magnus von Bassewitz, kennengelernt hatte, war 16 Jahre jünger als er. Dem Ehepaar wurden zwei Kinder geboren, 1824 der älteste Sohn Carl Heinrich Christoph Benjamin (1824 – 1897), der eine Richterkarriere absolvierte, und 1834 der jüngere, Ernst Philipp Heinrich August (1834 – 1919), der schon von Kindheit an eine entschiedene Neigung zur Naturforschung zeigte. Noch in Ernsts Geburtsjahr wurde Carl Gottlob Haeckel als Oberregierungsrat an die Regierung zu Merseburg versetzt, wo er bis zu seiner Pensionierung am 30. Juni 1851 das Kirchen- und Schulressort verwaltete. Zugleich hatte er den Status eines stellvertretenden Regierungspräsidenten inne, der bei Vakanzen die gesamte Behörde zu leiten hatte. Nach Carl Gottlobs Pensionierung übersiedelte die Familie nach Berlin, wo der hochbetagte Schwiegervater Sethe und mehrere Geschwister Charlottes lebten. Für den rüstigen 70-jährigen begann nun in neuer Lebensabschnitt, der ihm noch für zwei Jahrzehnte die Gelegenheit bot, der Karriere seiner Söhne und seinen wissenschaftlichen und politischen Interessen zu leben. Vor allem reli2 Vgl. Kornmilch, S. 19 – 25; Gudrun Seynsche: Der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin (1819 – 1852). Ein rheinisches Gericht auf fremdem Boden. Duncker & Humblot, Berlin 2003 ( = Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 43)

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Innensichten eines »normalen« preußischen Beamtenlebens

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gionsgeschichtliche, historische und geographische Studien füllten seine Zeit aus. Wie ein Student, so bemerkte sein Sohn Carl einmal, treibe der »Alte«, wie er in der Familie nur genannt wurde, seine wissenschaftliche Lektüre und fertige genaue Exzerpte an, deren sich seine Söhne und Freunde zur raschen Erschließung des Inhalts bedienen sollten. Die Übersiedlung bot mannigfache neue Anregungen und die Möglichkeit, Beziehungen zu alten Freunden, meist Berliner Ministerialbeamten, wieder aufzufrischen. Er besuchte Gesellschaften, gab mitunter auch selbst welche, und nahm regelmäßig an den Sitzungen der geographischen Gesellschaft und des kirchlichen Unionsvereins teil. Es war seine eiserne Lebensregel, sich täglich »Bewegung« zu machen und stundenlange Spaziergänge durch Berlin und seine Umgebung zu unternehmen, die zwar mit fortschreitendem Alter verkürzt, aber nie aufgegeben wurden. Alles in allem, ein völlig durchschnittliches preußisches Beamtenleben, wie es scheint. Ein Umstand jedoch hebt Carl Gottlob Haeckel heraus; er war nämlich ein sehr bewusst lebender Mensch, der unablässig über Gott und die Zustände seiner Zeit nachdachte und seine Lektüre ausgiebig reflektierte. Die Resultate dieser Reflexionen pflegte er in den Briefen an seine Söhne und Freunde ausführlich zu erörtern. Carl Gottlobs Briefe an seine Söhne Ernst und Carl3 bieten daher ein ungewöhnlich dichtes und intimes Bild seiner geistigen Welt, seines Alltags, Familienlebens und der Verhältnisse in der preußischen Hauptstadt der 1850er und 1860er Jahre. Der Umfang dieses Beitrages gestattet es nicht, alle Aspekte dieses ungemein reichhaltigen kulturgeschichtlichen Quellenmaterials ausführlich darzustellen und zwingt zur Beschränkung auf einen einzigen, der im Folgenden näher betrachtet werden soll, das politische Denken und Handeln Carl Gottlob Haeckels. Haeckels Geschichtsbild und seine politischen Auffassungen sind nicht von seinen religiösen zu trennen, so dass auch hierauf knapp einzugehen ist. Er war ein tief religiöser Protestant, ebenso wie auch seine Frau Charlotte. Regelmäßige Kirchgänge an Sonn- und Feiertagen waren feste Bestandteile ihres Lebens. Ihr Christentum besaß jedoch einen ausgeprägt liberalen Zuschnitt. Pietistisches Frömmlertum und engstirnige kirchliche Orthodoxie waren Haeckel verhasst. Seine christliche Religiosität orientierte sich an Friedrich Schleiermacher, mit dem er einst persönlich bekannt gewesen war, und er verfolgte eifrig die Vorträge und Predigten der liberalen Berliner Theologen Adolf Sydow und Ludwig Jonas. Für Haeckel war die gesamte Geschichte Teil eines göttlichen Weltplans, in dessen Verlauf sich die Menschheit sukzessive veredelte, humanisierte und zi3 Es handelt sich um die Briefbestände des Nachlasses von Ernst Haeckel im Ernst-HaeckelHaus Jena, die gegenwärtig durch ein Editionsprojekt der Leopodina. Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle, erschlossen werden. Die folgenden Darlegungen beziehen sich, sofern nicht anders angemerkt, ausschließlich auf diesen Briefbestand.

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vilisierte. Auch Katastrophen, Widersprüche und Rückschläge mussten notwendig durchgemacht werden und seien Teil des teleologischen Entwicklungsprozesses. Der menschlichen Erkenntnis erschlössen sich die Absichten und der Sinn der verschlungenen Wege Gottes nur ahnungsweise; aber im Jenseits, so war Haeckel fest überzeugt, würde man in den Stand der vollen Erkenntnis gesetzt, und je älter er wurde, desto begieriger wurde er darauf. Christus schrieb er nicht nur in religiöser Beziehung, sondern auch für die Geschichte eine zentrale Rolle zu. Erst das Christentum habe die Gedanken der Willensfreiheit, Gewissensautonomie und der Gleichheit aller Menschen, auch des geringsten, vor Gott als dominierende Grundsätze aufgestellt, während die Philosophen des Altertums bestenfalls Ansätze dazu formuliert hätten, ohne damit geschichtswirksam geworden zu sein. Die Ausbreitung des Christentums im Mittelalter, die kirchliche Erneuerung der Reformation und die Französische Revolution hätten das Gleichheitsprinzip weiter durchgesetzt und ihm allgemeine Geltung verschafft. Die Aufgabe der Gegenwart sei es, die Vorherrschaft der christlichen Werte weltweit auszubreiten und die noch bestehenden Reste von Despotismus und Absolutismus im politischen Leben der Völker zu überwinden. In diesem Punkt verband sich Haeckels prostestantische Liberalität mit den politischen Vorstellungen des liberalen preußischen Beamten, der von der nationalen Bewegung der Freiheitskriege geprägt worden war und sein Ideal eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates niemals aufgegeben hatte. »Wenn man nun sieht, wie das Fortschreiten der Menschheit aus rein egoistischen Intereßen und aus Bornirtheit von so vielen bekämpft wird, dann bekommt man allerdings nicht viel Respekt vor den Menschen, aber desto mehr Ehrfurcht vor Gott, der alles zu seinem Ziele zu führen weis. Denn es ist alles Wiederstrebens der Menschen ungeachtet jetzt viel besser als vor ein paar Tausend Jahren und die wahrhaft menschliche Cultur wird sich immer mehr über die Erde verbreiten, dafür bürgt uns Gottes Wille und die neuern Erscheinungen der Zeit, die neuen Erfindungen, Eisenbahn, Dampfschifffahrt deuten immer mehr darauf hin, daß diese Entwickelung jetzt schneller vor sich gehen wird!«4

In seinen »religiös-philosophischen Leitartikeln«, wie Ernst Haeckel die Briefe seines Vaters einmal scherzhaft nannte, breitete Carl Gottlob Haeckel diese Gedankengänge immer wieder aus und konfrontierte sie jeweils mit den Früchten seiner neuesten Buch- und Zeitungslektüre. Die Pensionierung und seine Übersiedlung in die preußische Hauptstadt eröffneten Carl Gottlob Haeckel auch die Möglichkeit, sich selbst im politischen Leben zu betätigen, von dem er sich während seiner aktiven Dienstzeit hatte zurückhalten müssen. Häufig besuchte er die Sitzungen der Kammern. Die zu 4 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 30. Dezember 1852, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel.

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Innensichten eines »normalen« preußischen Beamtenlebens

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Beginn der 1850er Jahre in Preußen einsetzende politische Reaktion verbitterte ihn zutiefst. Immer wieder artikulierte er in seinen Briefen an Ernst seinen Zorn über diese Entwicklung, die ihn als alten preußischen Patrioten geradezu peinigte. So heißt es z. B. im Januar 1852: »Nach Tisch lese ich Zeitungen und ärgere mich über die erbärmlichsten Kammern, die entweder ganz zum alten Feudalismus zurück wollen, oder sich lasterweise ganz dem politischen Ministerio hingeben. Statt die Sachen zu ordnen, werden sie immer tiefer in die Verwirrung hinein geschoben; immer in die Extreme hinein, wie im Jahr 1848, nur zuletzt von der gouvernementalen und rechten Seite […] Die Junkers gehen im Sturmschritt auf ihr Ziel los, wie im Jahr 48 die Demokraten, bis der Herr von oben richten wird! Einen solchen Despotismus, ein solches blindes formalisches Eifern von Seiten der Rechten, die alles gegebene feierliche Versprechen ignoriren […] ist mir in den letzten 40 Jahren noch nicht vorgekommen.«5

Die erste Kammer, in ihrer Majorität aus »Junkern vom reinsten Waßer« bestehend, so schilderte er seine Eindrücke, komme ihm vor wie eine Versammlung von »Puppen, die am Strick gezogen werden, so daß sie nach dem Zuge ihres Führers bald aufstehen, sich bald niedersetzen, die meisten, ohne etwas von der Sache zu verstehen. Es ist traurig, solche eine Kammer zu sehen. Wahrscheinlich gehen die ärgsten ihrer Beschlüße in der 2ten nicht durch […]«6

Im Herbst 1852 bewegten ihn vor allem die Wahlen zur zweiten Kammer. »Durch solche Wahlen fühlt man dem Volk am Puls, ob es Sinn für Freiheit hat?«, doch sehe es damit »noch ziemlich schlecht« aus.7 In Berlin seien zwar »sehr gute Kandidaten aufgestellt worden, die wahrscheinlich auch durchgebracht werden, z. B. der Gen[eral] Steuerdirektor a. D. Kühne, H[err] v. Patow etc. Das gebildete Publikum ist hier durchaus nicht theilnahmslos.«

Aber auf dem Lande würden die Junker wahrscheinlich viele Kandidaten durchbringen und man werde eine 2te Kammer erhalten, »bestehend aus Reactionairs, Ministeriellen (Absolutisten) und Constitutionellen (im weitesten Sinn). Die letzten werden wahrscheinlich in der Minorität sein.«8 In die sich formierende politische Strömung der Altliberalen war Carl Haeckel von Anfang an eingebunden, und gelegentlich fanden in seiner Wohnung auch politische Zusammenkünfte seiner politischen Freunde statt. 5 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 12. Januar 1852, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 6 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 2. Februar 1852, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 7 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 5. November 1852, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 8 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 31. Oktober 1852, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel.

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»Sonst spreche ich hin und wieder Kammerdeputirte, die mich zum Theil besuchen. Es ist kein redlicher Wille oben für das constitutionelle Leben, man möchte es gern aus der Welt schaffen […] Aber es ist einmal da und sie werden es nicht wieder todt machen.«9

Auch bei den folgenden Wahlen im Jahr 1855 hielt Carl Gottlob Haeckel wieder eine Majorität der »Kreuzzeitungsparthei« für wahrscheinlich, habe diese doch »mit den ihr dienenden Ministern und Polizeigewalten […] kein Mittel, auch die schlechtesten und gemeinsten nicht, unversucht gelaßen, um Wahlmänner zu gewinnen«.10 Zwar seien die Wahlen zur Zweiten Kammer in Berlin »fast durchgängig liberal (d. i. oppositionell gegen die jetzige Regierung) ausgefallen«, doch werde die Majorität auch in der nächsten Session für die Junker sein. »Unser Volk hat noch viel zu wenig politische Bildung für eine constituionelle Verfaßung, nur die Bürger in den größeren Städten u. der gebildete Mittelstand sind dafür reif.«11 Der »Junkerdespotismus«, so Haeckels Kommentar des Wahlausgangs, werde sich »nun wieder auf drückende Weise geltend machen«, und »mit großer Spannung« erwarte er nun die Manöver der Reaktion. Diese beabsichtige »nichts weniger : als den ganzen Fortschritt, wie er sich seit 50 Jahren bei uns gebildet hat und schon im Leben verwachsen ist, aus den Angeln zu heben und die verwünschte Revolution von 1789 wieder aus der Welt zu schaffen. Das ist ein starkes Unternehmen! Wir wollen nun sehen: wie sie es anfangen werden! und wie weit sie kommen werden.«12

An anderer Stelle konstatierte er : »Die in der Raserei begriffene reactionäre Generation wird sich fest fahren […] Es ist die Zeit der politischen Reformation, in der wir leben. Mit dem Jahre 1789 begann ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte, die Ideen überstürzten sich u. führten dann zu einer Reaktion in Frankreich. In Deutschland ging es mäßiger, vernünftiger zu, das Feudalsystem wurde überall in der civilisirten Welt in Europa gestürzt. Jetzt macht die Reaction den letzten Versuch, den Feudalismus wieder aufzurichten. Sie wird darüber zu Grunde gehen. So lehrt es wenigstens der Gang der Geschichte von welchem die Reactionärs nichts wißen u. nichts lernen wollen […] Bei uns in Preußen ist jetzt der Zusammenstoß am stärksten, und hier wird auch die Krise am gefährlichsten werden. Aber ich glaube, daß Preußen sie überwinden wird. Denn Preußen ist in einem schweren Uebergang begriffen, der alte Absolutismus hält nicht mehr vor und zum 9 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 7. Dezember 1852, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 10 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 28. September 1855, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 11 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 17. Oktober 1855, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 12 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 21. Dezember 1855, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel.

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vollständigen politischen Erwachen für eine freie Verfassung ist es noch nicht gekommen. Der Drang der Umstände von Außen und Innen wird aber dieses Erwachen herbeiführen, nur durch gewaltige Noth wird es erfolgen. Die Frage von Sein oder Nichtsein wird an den preußischen Staat zum 3ten Mahl gestellt werden[…]«13

In der Tat zeigte sich nach einigen Jahren, dass die Reaktionspolitik an Boden verlor. In wachsendem Maße sah Haeckel Parallelen der politischen Entwicklung der Gegenwart mit der Zeit der Freiheitskriege und begann nun seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben.14 Die Gegenwart sei zwar »in vieler Hinsicht nicht erfreulich«, doch sei man »trotz vieler widerlicher Erscheinungen im langsamen Fortschreiten begriffen. Das consitutionelle Leben bürgert sich allmählich ein, und die Cammern haben in dieser Seßion […] bedeutenden Widerstand geleistet. Sie wollen auf keine neuen Steuern eingehen und die Regierung hat die Erfahrung machen müßen, daß sie nicht alles kann, was sie will.«15 Es gebe »wahrhaftig Erscheinungen genug, um uns zu zeigen, daß wir in einer großen Zeit leben: der Verkehr der Völker durch die Eisenbahnen und Dampfschiffahrt, das Streben der Völker nach Theilnahme an der Regierung, das Wiedererwachen des Christenthums in einer reinen, dem Fortschritt mehr zusagenden Gestalt, die nähere Verbindung mit dem Orient, die menschlichere Ausbildung der slavischen europäischen Völkerschaften. Das giebt […] viel zu denken, und ich bin so voll auf mit Meditationen und Studien darüber beschäftigt, daß ich mir wohl noch einige Jahre frische Lebenskraft wünsche, um sie fortzuführen.«16

Die »Neue Ära« seit Beginn der Regentschaft des Prinzen Wilhelm, in der führende Altliberale als Minister ins Kabinett berufen wurden, söhnte Haeckel schließlich auch mit der Regierungspolitik wieder aus. »Ich besuche jetzt zuweilen die Sitzungen der 2ten Kammer, die ganz intereßant u. lebhaft sind. Die 2te Kammer handelt ganz im Einverständniß mit dem Ministerii, wogegen das Herrenhaus Opposition macht. Mit dem Prinz Regent sind wir sehr zufrieden.«17

Zu beobachten sei ein starkes Erwachen des deutschen Nationalbewusstseins, das sich besonders im »allgemeinen Ethusiasmus« der Feier von Schillers 100. Geburtstag gezeigt habe, die »eine entscheidende Aktivität öffentlicher 13 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 01./02. 10. 1856, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 14 Teile der Niederschrift veröffentlichte Carl Gottlob Haeckel 1863 in den Preußischen Jahrbüchern, vgl. Mittheilungen über Gneisenau, I. und II, in: Preußische Jahrbücher, 1863, S. 82 – 90, u. 181 – 188. 15 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 2. Mai 1857, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 16 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 15. Juli 1857, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 17 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 1. April 1859, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel.

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Manifestation«18 gewesen sei. Weitsichtig prognostizierte Haeckel nun die Entwicklung des nächsten Jahrzehnts: »Die Deutschen sind seit 2000 Jahren in Stämme getheilt u werden dieses Stammbewußtsein nicht fahren laßen. Aber sie werden wohl […] noch reifer werden […] Es wird sich im Verlauf der Zeiten wahrscheinlich ein norddeutscher Bundesstaat bilden, dem sich nach Bedürfniß auch süddeutsche Staaten mehr od. weniger anschließen werden. Die Hauptsache bleibt immer : daß das Volk auf größere Einigung drängt u die Regierungen zu vernünftigen Maasregeln nöthigt.«19

Ungeachtet der politischen Terraingewinne des liberalen Lagers hielt Haeckel den Einfluss der Junker noch immer für außerordentlich groß, so dass Zähigkeit und viel Geduld erforderlich seien, um weiter voranzukommen. »Die Junkers«, so schrieb er an Ernst, »sind doch eine ekelhafte Menschenklaße. Die Kultur ist allerdings bei uns schon zu weit fortgeschritten, als daß sie wesentlich stören könnten. Aber ihr ganzes Treiben ist im höchsten Grade widerlich, ja man kann sagen unverschämt, seitdem sie bei unserer jetzigen Regierung nicht mehr das Heft führen können. Sie haben sich aber vorzugsweise in der Armee u. auch in der Verwaltung so massenweis eingenistet, daß man sie aus der Verwaltung noch nicht in dem Grade, wie es wünschenswerth wäre, entfernen kann […] Die gesellschaftliche Stellung zwischen dem Adel und den gebildeten Bürgerlichen ist schroffer denn je […]«20

Mit besonderer Spannung sah Carl Haeckel den bevorstehenden Auseinandersetzungen um die Militärvorlage entgegen, die sich seit 1860 anbahnte, war dies doch ein Gegenstand, der ihm aus seiner eigenen Militärzeit in den Freiheitskriegen sehr vertraut war. Das Grundanliegen der Militärreform, eine größere Zahl von ausgebildeten Soldaten und Offizieren heranzubilden, die im Kriegsfall verfügbar sein könnten, teilte er vollkommen. Mit der Thronrede des Prinzregenten sei man zufrieden.21 Zwar hänge der Prinz am »strengen Militärformendienst«, doch sehe man nicht trübe in die Zukunft. Bedeutende politische Kämpfe gebe es in den Kammern auch um das Ehegesetz und die Grundsteuer, nur langsam entwickle sich »unsere Repräsentativverfassung unter großen Kämpfen, aber immer geht es allmählich vorwärts.«22 Anfang Mai 1861 konnte 18 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 23. November 1859, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 19 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 9. November 1859, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 20 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 23. November 1859, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 21 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 18. Januar 1860, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 22 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 20. Februar 1860, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel.

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Haeckel freudig mitteilen: »Die Grundsteuer ist nun durchgesetzt u. die Junker müßen v. 1 Jan. 1865 ab zahlen.«23 Auch über ein politisches »Diner«, das er für seinen Freundeskreis veranstaltet hatte, berichtet jetzt wieder ein Brief an den Sohn Ernst.24 Aus seinen Lebenserinnerungen stellte er eine Niederschrift über seine Jugend- und Studienzeit in Niederschlesien, Halle und Breslau zusammen, die als Zuarbeit für den Dichter Gustav Freytag und dessen »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« gedacht war.25 In der Frage der Landwehr indes, für die viele Liberale jetzt unbedingt schwärmten, weiche er jedoch ab. »Man muß die damaligen Zustände gesehen u gekannt haben, um den Aufstand unseres Volks in Maße (denn dieser erschien in der Gestalt der Landwehr) begreifen zu können. Es handelte sich damals um unsere physische und moralische Existenz […] Bekommen wir jetzt einen Krieg mit Frankreich, dann […] schlägt sich wohl die große Maße unserer unsrer Gebildeten, und auch unsere untern Klaßen haben wohl ein Nationalgefühl, sie werden aber auf andere Art diesen Krieg führen als 1813/14 […] Unsre Jugend von 20 – 30 Jahren wird sich […] im eigentlichsten Sinn schlagen müßen […] In dieser Gestalt wird […] unsere künftige Landwehr auftreten […] Also die Jugend […] muß fechten und diese muß disciplinarisch und technisch mehr vorbereitet sein als damals, ob durch einen 2 od. 3-jährigen Dienst, ist schon eine untergeordnete Frage. Mit Militärs, die 20 u 30 Jahre lang im Kamaschendienst gelebt haben und dadurch völlig verrostet sind, ist über die Art der Ausbildung nicht zu sprechen. Sie sind zu completten Pedanten geworden. Für unsre künftige Armee brauchen wir also sehr starke Reserven und neben den stehenden Officierscorps […] noch ein anderes Officierscorps welches im Kriege dient u im Frieden nach Hause geht. Diese 2 Officiers Corps müßen unsre sogenannten 1jährigen Freiwilligen (Leute v. Erziehung) bilden, und diese müßen militärisch für den Krieg ausgebildet werden, was bis jetzt viel zu wenig geschehen ist […] das Reservesystem kostet viel Geld […] Die Liberalen der äußersten Linken täuschen sich, wenn sie meinen: es bedürfe keiner militärischen oder doch nur einer ganz kurzen Vorbildung u man dürfe nur mit der Maße des Volks alt u jung ins Gefecht gehen u sich schlagen.«26

In Haeckels Haltung zur Militärfrage deutete sich bereits der Dissens an, der sich zu Beginn der 1860er Jahre zwischen den gouvernementalen Altliberalen und dem jüngeren, oppositionellen Liberalismus gerieten. Als sein Sohn Ernst das

23 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, vor 4. Mai 1861, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 24 »Am Sonntag hatten wir ein kleines Diner : die beiden Kühne (der hiesige und der Erfurter), Parthey, Sydow, Ammon, zur Megede, Barth. Vier hatten abgesagt: v. Tolk, Pinder, Geord Reimer und Burkhard; Julius [Sethe]. Wir schwatzten recht gemüthlich von 3 – 6 Uhr ; politica, auch von Dir, sie frugen: wie es Dir gienge?« Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 17. Mai 1861, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 25 Vgl. Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 1. Juni 1861, in: EHH Jena, Nachlass Ernst Haeckel. 26 Ebenda.

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vorsichtige Taktieren der Altliberalen in der Zweiten Kammer einmal in einem seiner Briefe heftig kritisierte27, schrieb er ihm beschwörend: »Du sprichst wie die Nationalzeitung von der waschlappigen Kammer. Sie wird aber von ruhigen, besonnenen, einsichtsvollen Männern gebildet. Das Publikum kennt den innersten Zusammenhang nicht. Hinter den Militärvorlagen steckt der König, der nun einmal ein pedantischer Militär ist. Aber er ist ein redlicher Mann, der die Verfaßung nicht verletzen wird. Durch ihn haben wir das Grundsteuergesetz durchgeführt, ohne ihn wäre es nicht zu Stande gekommen. Da kann man sich nicht so schroff gegenüberstellen u daß die Ausgaben für das Militär uns nicht erdrücken, dafür werden auch ruhigere Liberale in den Kammern sorgen.«28

Die häufige Erörterung aktueller politischer Fragen in Carl Gottlobs Briefen zeigen eindrucksvoll, wie der Konflikt zwischen den Altliberalen und der sich seit 1861 in der Deutschen Fortschrittspartei formierenden Mehrheit des preußischen Liberalismus, die gegen die vorsichtige Kompromisspolitik der Altliberalen opponierte, in zunehmendem Maße auch in einen Gegensatz zwischen Vater und Sohn mündete. Ernst Haeckel entwickelte sich in seiner Jenaer Zeit zu einem radikalen Anhänger der Fortschrittspartei, mit der ihn auch seine noch von seiner Würzburger Studentenzeit datierende persönliche Beziehung zu dem Mediziner Rudolf Virchow verband. So sehr auch Vater Haeckel mäßigend auf ihn einzuwirken suchte, so verfestigte sich doch bei ihm immer mehr die Überzeugung, dass es notwendig sei, den Konflikt auf die Spitze zu treiben, um die politischen Ziele des Liberalismus durchzusetzen. »Wilhelm der Dumme«, wie er den preußischen König respektlos titulierte, stellte in seinen Augen keinen politischen Faktor dar, auf den man Rücksicht nehmen musste. Im Sommer 1861 geriet Ernst Haeckel auf einer gemeinsam mit dem Jenaer Philosophen Kuno Fischer unternommenen Eisenbahnfahrt in einen so hitzigen politischen Streit mit einem im gleichen Abteil sitzenden preußischen »Landjunker«, dass es fast zu Tätlichkeiten gekommen wäre und Fischer sich ängstigte, Haeckel werde seinen Kontrahenten mit seinem Hammerstock, den er stets mit sich führte, durchbohren.29 Im Februar 1862 rechnete Ernst gegenüber seinem Vater grundsätzlich mit den Altliberalen ab: 27 »Die Zustände sind bei uns in der That jetzt schlimmer, als irgend anderswo und Preußen wird allmählich der Hort aller Reaction. Die waschlappige Kammer! Mich jammelt nur immer, den Hohn, mit dem man von unserer ganzen Staatswirtschaft spricht, mit anhören zu müssen und nichts darauf erwidern zu können. Zeitungen, Nord- und süd-deutsche, lese ich nach Tisch täglich auf dem Museum. Es ist jetzt nicht erbaulich!« Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, 30. Mai 1861, in: EHH, Nachlass Haeckel. 28 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 01. 06. 1861, in: EHH, Nachlass Haeckel. 29 Vgl. die Schilderung des Vorgangs in: Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, 15.26. Juli 1861, sowie: Ernst Haeckel: Excursion nach Kösen, Sonntag, 30. Juni 61, in: EHH, Nachlass Haeckel. Der Haeckels Hammerstock befindet sich noch heute im Bestand des Museums im EHH.

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»Dein Interesse an der Politik, lieber Vater, theile ich ganz und lese täglich mehrere Zeitungen um mich ganz en fait zu halten; oben an Volks Z-, und Frankfurter Zeit., dann auch Nationalz. Kreuz Z. Berlin. Allg. Der doctrinäre, gouvernementale ParteiStandpunkt der letzteren sagt mir durchaus nicht zu. Mit ihrer ewigen Halbzeit verderben diese Leute Alles, und überdem ist es bei unserm jetzigen bunten Ministerium, wo 4 Pferde vorwärts und 4 rückwärts ziehen, doch wirklich mehr als Schwäche, wenn man um jeden Preis ministeriell sein will. In Wahrheit schaden doch diese Gouvernementalen der guten Sache viel mehr, als die ärgste Reaction, bei der doch jedermann weiß, was er zu erwarten hat; jene dagegen bringen nichts, als reaktionäres Zeug unter liberaler Firma zu Stande. Wie das bei den jetzigen Complicationen noch werden wird, soll mich wirklich wundern. Interessant wird die nächste Zeit aber jedenfalls. Denn daß es nicht so fort gehen kann, wird doch die ganze Welt bald einsehen! Wie jammervoll aber, daß uns bald Österreich im Liberalismus zu überflügeln droht, wenn auch zunächst nur scheinbar, und mit Programmen! Wo könnte unsere Regierung sein, wenn sie wollte!!«30

Durch die Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862 und dessen forsches, rücksichtsloses Auftreten, das die künftige Politik des Reichsgründers noch nicht ahnen ließ, fühlte sich Ernst in dieser Haltung bestätigt: »Die Politik interessirt mich sehr. Die Zeitungen kosten mich täglich 1 – 1 12 Stunden. Jetzt heißt es:« je toller, je besser«! Je frecher die Reaction jetzt auftritt, desto eher bricht sie sich den Hals! Unser herrliches Abgeordneten Haus hat sich aber doch vortrefflich benommen und unsere Ehre vor ganz Europa gerettet. Aber die böse Fortschrittspartei??? und der edle Herr von Patow???«31

Vater Haeckel hatte den Argumenten seines Sohnes kaum noch etwas entgegenzusetzen. Schon im Februar 1862 hatte er selbst, ungeachtet seiner Sympathie für den Gouvernementalismus der Altliberalen, seinem Unmut über das Ausbleiben einer entschieden und selbstbewusst auftretenden Politik Luft gemacht: »Ohne Krieg kommen wir nicht weiter u. erst, wenn Deutschland in Noth ist u Preußen seinen Beruf nicht verkennt, wird Deutschland u. Preußen erst diejenige Stellung gewinnen, die ihnen noth thut. Vom Schlachtfeld aus muß die erste Verfaßung Deutschlands diktirt werden, bis dahin ist alles unnützes Gerede u. vorläufig kann Preußen nichts anderes thun als Aufrechthaltung der Gesetze u. der constitutionellen Freiheit in Deutschland aus allen Kräften […] Diese niederträchtige, lügenhafte und auf Gewalt u Despotismus ausgehende Politik Oesterreichs, die ich aufs innigste haße, kenne ich nun schon seit 50 Jahren u habe sie auf alle Weise zu verfolgen Gelegenheit gehabt, wie es uns im Kriege 1814 in Frankreich im Stich gelaßen, uns auf dem Wiener Congreß 1814/15 betrogen, schon damals auf alle Weise dahin ausging, uns zu 30 Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, 18. Februar 1862, in: EHH, Nachlass Haeckel. 31 Ernst Haeckel an Carl Gottlob Haeckel, 26. Oktober 1862, in: EHH. Nachlass Haeckel.

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schwächen u zu höhnen u in Verlegenheiten zu bringen, sich selbst aber auf alle Weise zu vergrößern, wie es nach dem Krieg unter Metternich auf alle Weise dahin gehetzt, Fried. Wilh. III irre zu führen u die Verleihung einer constitutionellen Verfaßung zu hintertreiben […], jetzt hetzt es wieder bei allen deutschen Fürsten herum […] Ich haße diese Regierung, nicht sein Volk aus allen Kräften, man sehe nur seine Politik der letzten Jahrhunderte, es ist nichts als eine Reihenfolge von Lüge u Verrath.«

Dass seine Option für die Tolerierung auch eines reaktionären Ministeriums, wenn es nur die militärische Bildung des Volks und alles, was notwendig sei, damit Preußen als Großmacht auftreten könne, sicherstelle, und der Hinweis, es sei schon »viel genug gewonnen«, wenn der König an der Verfassung festhalten wolle,32 den Sohn nicht umstimmen konnten, war ihm wohl selbst klar. Es war mehr ein Akt der moralischen Selbstrechtfertigung, wenn er Ernst referierte, wie er zur Geburtstagsfeier seines politischen Freundes und täglichen Begleiters bei seinen Spaziergängen, Geheimrat Ludwig Kühne,33 einen Toast darauf ausgebracht hatte, »[…] daß wir, obwohl noch frisch und nüchtern, doch bei unserm Alter auf unseren Promenaden nur den langsameren Gang gehen könnten und mit der jungen Fortschrittsparthei nicht gleichen Schritt halten könnten, dabei aber doch noch mit sichrem Tritt ein gut Stück vorwärts kämen und sie an die zu überwindenden Hinderniße und daß sie in ihrem raschen Gange nicht straucheln möchten, erinnern könnten u ihnen zugleich bemerklich machten, daß sie auf ihrem gegenwärtigen Standpunkt, auf welchen sie gelangt wären, nicht vergeßen möchten, daß wir Alten sie erst dahin gebracht u diesen erst erobert und sie dadurch in die Möglichkeit versetzt hätten, weiter zu schreiten.«34

Die politische Lage nach Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten ließ Carl Gottlob Haeckel schließlich resignieren. Die Politik ekle ihn jetzt so an, dass er kaum die Zeitungen lese, schrieb er Mitte Oktober 1862 an Ernst.35 Ihm war klar, dass seine und die Zeit seiner politischen Freunde vorbei sei. »[…] die ältere Generation ist verschwunden u die jüngere auf das Theater getreten, um zu handeln, ich mache nur noch den Zuschauer, erfreue mich eines ruhigeren Urtheils als die jüngeren, wie es dem Alter geziemt, habe große Lebenserfahrungen durchgemacht und suche meine jüngeren Freunde zu beruhigen, wenn diese an der Gegenwart verzweifeln wollen.«

32 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 15. März 1862, in: EHH, Nachlass Haeckel. 33 Vgl. zu Kühne, Marko Kreutzmann: Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834 – 1871), Göttingen 2012 ( = Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 86), S. 266 – 267. 34 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 14. Februar 1862, in: EHH, Nachlass Haeckel. 35 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 16. Oktober 1862, in: EHH, Nachlass Haeckel.

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Zu Carl Gottlob Haeckels Resignation trug zweifellos auch die Tatsache bei, dass ihm sein Sohn Ernst nicht nur auf politischem, sondern auch auf religiösem und weltanschaulichem Gebiet entglitt. Ernst Haeckels spektakuläres öffentliches Auftreten als Vorkämpfer der Darwinschen Entwicklungslehre, das 1863 mit seiner Berufung als Professor an die Universität Jena begann, muss für Carl Gottlob Haeckel ein nur schwer zu akzeptierendes Geschehen gewesen sein. In den nun immer kürzer werdenden und meist nur noch auf familiäre Ereignisse bezogenen Briefen seiner letzten Lebensjahre scheint die Kritik an Ernsts Darwinismus nur gelegentlich auf. Zweifellos war der Vater stolz auf die ungewöhnlich erfolgreiche Wissenschaftskarriere des Sohnes, aber ihn beunruhigte auch die Befürchtung, die Verwicklung in weltanschauliche Kontroversen könne für Ernst existenzgefährdend werden. Geradezu verzweifelt mahnte der »Alte« den jungen Heißsporn, die Konsequenzen der Abstammungslehre möglichst bedachtsam zu formulieren: »Da Du mit solchem Applaus in Deiner Vorlesung über Darwin aufgetreten bist, so würde es noth thun, Dir Niederschlags Pulver zu geben, damit Du nicht übermüthig würdest […] Mir aber geht die Darwinsche Theorie doch etwas im Kopfe herum […] Denn es kann nicht dem Zufall überlaßen werden, daß der Mensch zu denken beginnt u daß der Affe in seiner thierischen Vorstellungsart beharrt […] es muß dem Affen nach der Organisation seines Gehirns unmöglich sein, zu denken d. i. sich eines Ich bewußt zu werden […] diese Entwickelungsfähigkeit zum geistigen Bewußtsein ist es eben, die den Menschen vom Thier unterscheidet […] und ist selbst im rohen Peschewa vorhanden, im Thiere nicht, es ist diesem nach der ganzen Organisation seines Gehirns unmöglich, zum Denken überzugehn, während der roheste Cannibale es jeden Augenblick vermag, so wie denn auch diese Cannibalen auf der Insel Borneo es sogleich begriffen, daß Menschenfleisch einer alten Frau nicht sehr schmackhaft sei, als ihnen Ida Pfeifer ihren Arm hinhielt u ihnen erzählte, daß sie alt sei, sie möchten sich lieber an eine junge halten. Ich bitte Dich also recht sehr, diesen Unterschied v. Mensch u Thier […] ja recht bestimmt herauszuheben, damit Du nicht in den bösen Geruch eines Materialisten kommst und Deine junge Welt der Du vorträgst früher oder später von Dir abwendig wird.«36

Erfolg hatten diese Mahnungen bekanntlich nicht; Ernst Haeckel verfolgte den ihm im Elternhaus eingeimpften Entwicklungsgedanken bis zur Konsequenz einer gänzlichen Abkehr vom Christentum und wurde mit seiner Lehre vom »Monismus« zu einem der Hauptprotagonisten des weltanschaulichen Umbruchs, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert weltweit vollzog.37 Preußens 36 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 18. November 1865, in: EHH, Nachlass Haeckel. Ida Pfeiffer, eine österreichische Weltreisende und Reiseschriftstellerin, durchquerte 1851 als erste Frau das Innere der Insel Borneo und besuchte Stämme, die in dem Ruf standen, Kannibalen zu sein. 37 Vgl. Paul Ziche (Hg.): Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000 (= Ernst-Haeckel-Haus-Studien, 4).

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Sieg über Österreich 1866, für Carl Gottlob Haeckel »ein großer Fortschritt in der europäischen Civilisation u. Geistesentwickelung«, brachte schließlich auch die Verwirklichung seines Lebenstraums, die Einigung Deutschlands. »Wenn nun aber Deutschland dergestalt vereinigt wird, daß es ein eignes Ganzes bildet, als welches es dem Auslande gegenübertritt und wenn dieses durch ein Parlament geschieht, in welchem jedes einzelne Glied gehört werden muß, dann ist seine innere Entwicklung gesichert […] Ist dieses vorerst auch nur für Norddeutschland erreicht, die Zeit wird auch Süddeutschland dazu fügen, der Zollverein, der ihnen allen sehr vortheilhaft ist, zieht sie inzwischen zusammen u so bin ich denn für fernere Zukunft Deutschlands außer Sorgen.«38

1871, als Carl Gottlob Haeckel, das Eiserne Kreuz von 1813 am Revers und dem festlichen Einzug des neu gewählten Deutschen Kaisers in Berlin beiwohnend, von dem vorbeireitenden Monarchen erkannt und huldvoll gegrüßt wurde, schloss sich gleichsam auch symbolisch sein Lebenszirkel. Am 4. Oktober 1871, nur wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag, starb Carl Gottlob Haeckel.

38 Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 10. Oktober 1866, in: EHH, Nachlass Haeckel.

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»Hoch dem Mehrer deutschen Ruhmes, Hoch dem Wächter deutscher Ehre«. Ein nationaler Festabend in Dresden am 9. Juli 1864

Am Abend des 9. Juli 1864, einem Samstag, fand in der sächsischen Hauptstadt Dresden ein nationales Fest unter großer Beteiligung der Bevölkerung statt. An diesem »prächtigen Sommerabend«, so berichtete das Dresdner Journal in einem ausführlichen Artikel in seiner Ausgabe vom 12. Juli1, zog ein Fackelzug, an dem die Mitglieder des Stadtrats und der Stadtverordnetenversammlung, eine Musikkapelle, der Männergesangverein, die Turner und »eine überaus zahlreiche Menschenmenge« teilnahmen, »mit dem Banner der Stadt […] an der Spitze« vom Antonsplatz durch die Scheffelgasse zum Rathaus, von dort weiter über den Altmarkt und durch die Kreuzgasse zum Gebäude des sächsischen Außenministeriums am Gewandhausplatz. Dort angekommen, nahm der Zug unter den Klängen des Schleswig-Holstein-Lieds (»Schleswig-Holstein meerumschlungen…«) Aufstellung. Anschließend wurde zur Melodie des bekannten patriotischen Liedes »Die Wacht am Rhein« ein speziell für diesen Anlass geschriebenes Festlied gesungen, in dem ein »edler Kämpe« für das deutsche Vaterland gepriesen wurde, »auf den mit Hoffnung und Vertrau’n / fortan die deutschen Stämme schau’n«. Danach ergriff der Stadtverordnete Gerlach das Wort und begrüßte einen »deutschen Mann, der, das Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes höher achtend als die Drohungen eines übermüthigen Auslandes, klar aussprach des deutschen Volkes gerechte Forderungen«, einen »unerschrockenen Vorkämpfer« und »mannhaften Vertheidiger deutschen Rechts und deutscher Ehre«. Dieser Lobrede folgte ein weiteres SchleswigHolstein-Lied, an das sich wiederum eine Festrede anschloss, gehalten von Dr. Lindner. Auch dieser Redner feierte in überschwänglichen Worten »den Mehrer deutschen Ruhmes, den treuen Wächter seiner Ehre«, der das »nationale Selbstgefühl« gekräftigt und »Deutschlands Namen groß gemacht« habe »vor allem Volke«. Der so Gepriesene ergriff danach selbst das Wort und dankte dafür, dass es ihm vergönnt gewesen war, »die Fahne Deutschlands hoch zu halten«, und er 1 Dresdner Journal Nr. 159 vom 12. Juli 1864, S. 663 f.

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brachte seinerseits ein Hoch auf den König von Sachsen aus, »der für Deutschland groß denkt und groß fühlt«. Nach diesen patriotischen Festreden stimmte die Versammlung Ernst Ludwigs Arndts bekanntes Lied »Was ist des Deutschen Vaterland?« an, bevor der Zug zum Rathaus zurückging und sich dort auflöste. »So endete dieses Fest unserer Stadt Dresden, hinter welcher am Abend des 9. Juni wohl das ganze Sachsenvolk stand«, schloss das Dresdner Journal seinen Bericht. Der Dresdener Festabend war der öffentliche Höhepunkt mehrtägiger Ovationen. Schon bei der Anreise des Geehrten waren die Bahnhöfe in Leipzig und anderen Orten mit Fahnen »in den deutschen und sächsischen Farben« geschmückt, er wurde von den jeweiligen städtischen Behörden freudig begrüßt, und man überrechte ihm Blumenbouquets. Bei der Ankunft in Dresden am 8. Juli 1864 hatte sich »ein zahlreiches Publikum am Bahnhofe eingefunden« und ihm für seine »hervorragenden Verdienste um Deutschland« gedankt.2 Am 11. und 12. Juli brachten die zweite und die erste Kammer des sächsischen Landtags dem heimgekehrten deutschen Patrioten ebenfalls Ovationen dar und erklärten, er habe Anspruch »auf die Verehrung der ganzen deutschen Nation«, weil er »ihre Ehre und ihre heiligsten Rechte« vertreten habe.3 Derartige patriotische Feste und Ehrungen für Männer, die sich um die nationale Sache verdient gemacht hatten, waren bereits im Vormärz zu Hunderten veranstaltet worden4, und sie wurden seit 1859, als sich die reaktionäre Politik auf bundes- und einzelstaatlicher Ebene in Deutschland merklich abschwächte, wieder aufgenommen. In den deutschen Staaten verging seither kaum ein Monat, in dem nicht in irgendeiner Stadt oder Region von Vereinen, Verbänden und Parteien patriotische Feierlichkeiten abgehalten wurden, die dem Ziel dienten, die erstrebte nationale Einigung Deutschlands zu befördern, die patriotischen Anstrengungen in dieser Hinsicht zu unterstützen und die deutschen Regierungen unter Druck zu setzen, damit sie endlich entsprechende Schritte einleiteten. Wenn dabei bestimmte Personen als Bannerträger des nationalen Gedankens bejubelt wurden, so waren dies aus naheliegenden Gründen fast ausschließlich liberale Oppositionspolitiker, die in den einzelstaatlichen Landtagen oder den nationalen Vereinen für die deutsche Einheit kämpften, oder zu 2 Leipziger Zeitung Nr. 163 vom 10. Juli 1864, S. 3743. 3 Dresdner Journal Nr. 160 vom 13. Juli 1864, S. 667. 4 Siehe dazu Dieter Düding / Peter Friedemann / Paul Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek 1988, darin vor allem Dieter Düding: Nationale Oppositionsfeste der Turner, Sänger und Schützen im 19. Jahrhundert, S. 166 – 188; Dieter Düding: Deutsche Nationalfeste im 19. Jahrhundert. Erscheinungsbild und politische Funktion, in: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), S. 371 – 388; eine Zusammenstellung einschlägiger Untersuchungen findet sich auf: http://www. historicum.net/themen/restauration-und-vormaerz/bibliographie/kommunikation/feste [10. 12. 2013].

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»Hoch dem Mehrer deutschen Ruhmes, Hoch dem Wächter deutscher Ehre«

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nationalen Helden stilisierte Ikonen der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte wie insbesondere Friedrich Schiller, zu dessen 100. Geburtstag im Jahr 1859 eine Welle von Schillerfeiern veranstaltet wurde, bei denen der Dichter als Vorkämpfer der Einheit Deutschlands gefeiert wurde.5 Naturgemäß waren es also nicht die regierenden Politiker, die zu Objekten nationalpatriotischer Verehrung wurden, sie wurden vielmehr immer nachdrücklicher und ungeduldiger aufgefordert, sich nun endlich der nationalen Sache anzunehmen und diese nicht länger zu blockieren. Es ist insofern ein einmaliger und äußerst bemerkenswerter Vorgang, dass im Juli 1864 in Dresden von einer tausendköpfigen Menge einem regierenden deutschen Minister derartige Ovationen dargebracht wurden: denn es handelte sich bei dem Mann, der so begeistert empfangen und gefeiert wurde, um keinen geringeren als den sächsischen Außenminister Friedrich Ferdinand von Beust, der am 8. Juli aus London zurückkehrte, wo er von Ende April bis Anfang Juli den Deutschen Bund als Bevollmächtigter auf der Londoner Konferenz vertreten hatte. Der triumphale Empfang für Beust, der in der deutschen Politik seit 1849 eine wichtige Rolle spielte und sich bereits auf der Dresdener Konferenz von 1850/51 als einer der entschiedensten mittelstaatlichen Reformpolitiker im Hinblick auf die innere Verfassung des wiederhergestellten Deutschen Bundes profiliert hatte6, stellt in der national enthusiasmierten deutschen politischen Öffentlichkeit der frühen 1860er Jahre eine Besonderheit, ja fast eine Skurrilität dar, die von der Forschung bislang nahezu vollkommen ignoriert worden ist.7 5 Rainer Noltenius: Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern. München 1984; Thorsten Gudewitz: Die Nation vermitteln – Die Schillerfeiern von 1859 und die mediale Konstituierung des nationalen Festraums, in: Jörg Requate (Hg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft. München 2009, S. 56 – 65; Ute Schneider, »Concordia soll ihr Name sein!« Die Schillerfeiern 1859 in Köln, in: Geschichte in Köln 38 (1995), S. 67 – 80. 6 Siehe dazu: Jonas Flöter / Günther Wartenberg (Hg.): Die Dresdener Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten. (Schriften zur sächsischen Landesgeschichte, Bd. 4.) Leipzig 2002; Helmut Rumpler: Die deutsche Politik des Freiherrn von Beust 1848 bis 1850. Zur Problematik mittelstaatlicher Reformpolitik im Zeitalter der Paulskirche. Wien 1972; Jonas Flöter : Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850 – 1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage. Köln / Weimar / Wien 2001; ders.: Föderalismus als nationales Bedürfnis. Beusts Konzeption zur Reform des Deutschen Bundes 1849/50 – 1857, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 70 (2000), S. 105 – 138; Jürgen Müller : Reform statt Revolution. Die bundespolitischen Konzepte Beusts 1850/51, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 66 (1995), S. 209 – 248; vgl. auch die Edition: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Hg. v. Lothar Gall. Abt. III, Bd. 1: Die Dresdener Konferenz und die Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850/51. Bearb. v. Jürgen Müller. München 1996. 7 Der Empfang Beusts ist bisher nur in der offiziösen Biographie von Friedrich Ebeling behandelt worden: Friedrich W. Ebeling: Friedrich Ferdinand Graf von Beust. Sein Leben und vornehmlich staatsmännisches Wirken. Bd. 2. Leipzig 1871, S. 235 – 238. Ebelings Schilderung basiert offenkundig auf dem oben zitierten Artikel des Dresdner Journals und endet damit,

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Im Folgenden wird kurz skizziert, worum es auf der Londoner Konferenz von 1864 ging, zu der Beust als Bevollmächtigter des Deutschen Bundes entsandt worden war und wie es dazu kam, dass er bei seiner Rückkehr so emphatisch als »Mehrer deutschen Ruhmes« empfangen wurde. Um dies zu klären, wird ein kurzer Blick auf die allgemeine nationalpolitische Situation in den Jahren 1863/ 64 gerichtet, wobei insbesondere die Schleswig-Holstein-Frage beleuchtet wird. Abschließend wird noch einmal näher auf den Dresdener Festabend eingegangen, um darzulegen, welche politischen Motive und Dispositionen den panegyrischen Bekundungen vom 9. Juli 1864 zugrunde lagen. Der Vorschlag zu einem europäischen Kongress, um die politische Gesamtsituation zu besprechen und Konflikte zu vermeiden, ging von Kaiser Napoleon III. von Frankreich aus. Er lud am 4. November 1863 die Großmächte und auch den Deutschen Bund zu einer Konferenz ein, um den Gefahren zu begegnen, die nach französischer Auffassung dadurch entstanden, dass die Wiener Verträge von 1815 »sont d¦truits, modifi¦s, m¦connus ou menac¦s«.8 Der französische Außenminister Drouyn de Lhuys konkretisierte dies in einer Note vom 11. November 1863, indem er »als besonders gefahrdrohend für Europas Ruhe und Frieden« die polnische, deutsch-dänische, italienische und moldau-walachische Frage bezeichnete.9 Der brisanteste Konflikt, der sich Ende 1863 gefährlich zuspitzte, war zweifellos der Streit zwischen den deutschen Staaten und dem Königreich Dänemark über die Zukunft der sogenannten Elbherzogtümer Schleswig, Holstein und

dass auch die Bundesversammlung »hinter den vielfachen Manifestationen des ihrem Vertreter gewidmeten Dankes und der Beehrung nicht zurückblieb« (S. 238). Ebeling berichtet ferner über den Plan, Beust einen »Nationaldank« durch die Schenkung einer Domäne zu erweisen und die dafür erforderlichen Mittel durch freiwillige Spenden aufzubringen. Das Unternehmen kam aber nicht recht in Gang, vor allem auch deshalb, weil es von »einigen Conservativen« ausgegangen sei und somit eine Färbung erhalten habe, die daran erinnerte, dass Beusts innere Politik in Sachsen keineswegs »allgemeine Begeisterung« hervorrief (ebd.). – Die nachfolgende Forschung hat die Begeisterung, die dem sächsischen Minister bei seiner Rückkehr aus London entgegenschlug und speziell den Dresdener Empfang nicht mehr thematisiert. Jonas Flöter, der die Beust’sche Politik im Deutschen Bund am ausführlichsten untersucht und dabei auch seine Aktivitäten auf der Londoner Konferenz behandelt hat (Flöter : Beust und die Reform des Deutschen Bundes [wie Anm. 6], S. 448 – 456), erwähnt den Empfang in der sächsischen Hauptstadt nicht. Vgl. auch den biographischen Artikel von Jonas Flöter, der die relativ wenigen Arbeiten, die sich mit Beust und seiner Politik beschäftigen, auflistet: Sächsische Biographie. Hg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. Bearb. von Martina Schattkowsky, verfügbar unter : http://saebi.isgv.de/biografie/Fried rich_Ferdinand_von_Beust_%281809 – 1886 %29 [16. 12. 2013]. 8 Einladungsschreiben Napoleons vom 4. 11. 1863; Protokolle der deutschen Bundesversammlung 1864, S. 538a–b. 9 Der sächsische Gesandte in Berlin, Hohenthal, an Beust, 22. 11. 1863, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10717, Nr. 1009, fol. 86 f.

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Lauenburg.10 Die seit Jahren schwelenden Auseinandersetzungen, die schon einmal, 1848, zu einem Krieg geführt hatten, brachen erneut auf, als Dänemark abermals Schritte unternahm, um das Herzogtum Schleswig in den dänischen Staat zu integrieren. Gegen das dänische Vorgehen, das noch eine zusätzliche Komplikation durch den Tod des Königs Friedrich VII. und die damit wieder aufgeworfene Erbfolgefrage in den Herzogtümern erhielt, leitete der Deutsche Bund am 1. Oktober 1863 eine Bundesexekution ein. In einem weiteren Exekutionsbeschluss vom 7. Dezember 1863 forderte die Bundesversammlung die dänische Regierung ultimativ zur Räumung von Holstein und Lauenburg auf und ließ am 23. Dezember ein sächsisch-hannoversches Exekutionskorps in den Herzogtümern einmarschieren. Es folgte im Januar 1864 die sogenannte »Pfandbesetzung« Schleswigs durch österreichische und preußische Truppen, mit der Dänemark zum Nachgeben gezwungen werden sollte. Dänemark leistete indessen Widerstand, und so begann am 1. Februar 1864 der Krieg, in dessen Verlauf die österreichischen und preußischen Truppen nach Jütland vordrangen. Um den Konflikt zu entschärfen, wurde der Plan einer Konferenz der Großmächte, dem sich auch England am 31. Dezember 1863 angeschlossen hatte, wieder aufgenommen. Die kriegführenden Parteien nahmen die am 20. Februar erneuerte englische Einladung an, und auch der Deutsche Bund erhielt eine Einladung. Noch während die Kämpfe andauerten – ein Waffenstillstand wurde erst am 12. Mai nach der Besetzung Jütlands durch Österreich und Preußen vereinbart – wurde am 25. April die Londoner Konferenz eröffnet. Beteiligt waren daran neben den europäischen Großmächten Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich und Preußen die Vertreter von Dänemark, Schweden und Norwegen sowie ein Bevollmächtigter des Deutschen Bundes, der somit erstmals seit seiner Gründung 1815 auf einem europäischen Kongress eigenständig vertreten war. Zum Bundesbevollmächtigten war am 14. April 1864 der sächsische Außenminister Beust gewählt worden. Die Leipziger Zeitung bewertete dies als einen Meilenstein in der deutschen Geschichte: »Es ist das erste Mal seit seinem Bestehen, daß der Bund in einer europäischen Angelegenheit als selbständige Macht auftritt, und schon dieser Umstand ist ein in seiner Tragweite nicht zu unterschätzender Gewinn. Der ›geographische Begriff‹ Deutschland tritt damit in die Wirklichkeit der Erscheinung; zum ersten Male wird im Rathe der Großmächte auch ein Bevollmächtigter Deutschlands das Wort führen, und die Persönlichkeit des Erwählten giebt der zuversichtlichen Erwartung Raum, daß

10 Vgl. dazu statt vieler Einzelverweise die Schilderung bei Ernst Rudolf Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 3: Bismarck und das Reich. 3. Aufl. Stuttgart u. a. 1988, S. 449 – 487.

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er es mit Kraft und Nachdruck und mit jenem Selbstbewußtsein führen wird, was dem Vertreter eines nationalen Verbandes von vierzig Millionen ziemt.«11 Auf den Bundesbevollmächtigten und damit auf den Deutschen Bund als föderative Gesamtvertretung Deutschlands richteten sich große Hoffnungen. Es wurde nichts weniger erwartet, als dass der Bevollmächtigte in London die nationaldeutschen Interessen vertreten werde. Das Ziel der Mehrheit in der Bundesversammlung – aber nicht der beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen – war die sofortige Anerkennung des Prinzen von Augustenburg als erbberechtiger Thronfolger in Holstein, seine Einsetzung als Regent und die Konstituierung der Elbherzogtümer inklusive Schleswigs als eines neuen deutschen Mittelstaates unter dem Dach des Deutschen Bundes. Mit diesen Forderungen befand sich der Deutsche Bund in der Schleswig-Holstein-Frage im Einklang mit der nationalen Bewegung, die seit Ende 1863 eine immer heftigere Agitation zur Loslösung Schleswig-Holsteins von Dänemark und seine Eingliederung in die deutsche Nation betrieb. Allerorten kam es zur Gründung von Schleswig-Holstein-Vereinen und Unterstützungskomitees, in der Presse und in den Landtagen gab es vielfache Aufrufe und Anträge, in Schleswig-Holstein nicht nachzugeben, sondern die nationalpolitischen Interessen gegen Dänemark mit letzter Konsequenz durchzusetzen. Der Bundesbevollmächtigte Beust wurde seit Mitte April zum offiziellen Adressaten dieser Forderungen, indem Vereinsvertreter und Abgeordnete zahlreiche entsprechende Schreiben und Petitionen an ihn nach London sandten. Noch bevor Beust am 21. April 1864 von Frankfurt nach London abgereist war, schrieb ein Dr. Wiedburg aus Arolsen ihm am 18. April nach London, das »Volk der Deutschen« erwarte von ihm »die Vertretung und Verfechtung seines Rechtes und seiner Ehre vor ganz Europa«. Dabei wisse er Millionen deutscher Männer hinter sich: »Seien Sie ein Luther auf dem Londoner Konferenztage. […] Machen Sie auf der Konferenz nicht viel Worte, aber jedes Wort was Sie sagen muß gewichtig und fest sein als käme es aus dem Herzen der Germania.«12 Im Auftrag des Stuttgarter Schleswig-Holstein-Komitees schrieb der Advokat und württembergische Kammerabgeordnete Rudolf Probst am 23. April an Beust, dieser habe »die hohe Mission übernommen, das deutsche Vaterland« in London zu vertreten, habe dafür aber von den auftraggebenden Regierungen keine »durchgreifenden Instructionen« erhalten. Probst forderte Beust deshalb auf, »vom deutschen Volke seine Instructionen anzunehmen« und schickte ihm dazu die Erklärung des Stuttgarter Komitees, worin feierlich Protest eingelegt wurde gegen jeden Versuch, auf der Konferenz Beschlüsse zu fassen »wider die geheiligten Rechte der deutschen Nation«, »wider den Willen des schleswig11 Leipziger Zeitung Nr. 93 vom 20. April 1864, S. 2109. 12 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10717, Nr. 1010/1, Fasz. 2, fol. 12/14.

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holsteinischen Volkes« oder gegen das Recht der Herzogtümer auf völlige Trennung von Dänemark und Vereinigung unter ihrem rechtmäßigen [deutschen] Fürsten.13 Die große Mehrheit der württembergischen Abgeordneten – 79 von 88 – unterzeichnete auch eine Protesturkunde, in der »gegen jede Entscheidung der in London tagenden Conferenz, welche in das Recht der Herzogthümer Schleswig-Holstein einzugreifen versuchen sollte«, Einspruch erhoben wurde.14 Gleichlautende Protesterklärungen wurden Ende April/Anfang Mai 1864 von insgesamt 1381 deutschen Abgeordneten der einzelstaatlichen Parlamente unterzeichnet und die gesammelten Unterschriften von dem Frankfurter Notar Sigmund Müller, der Mitglied des Nationalvereins und Präsident der gesetzgebenden Versammlung der Stadt Frankfurt war, am 8. Mai ebenfalls an Beust in London übersandt.15 Nur einen Tag später sandte der Ausschuss des Deutschen Reformvereins, der am Vortrag in Nürnberg getagt hatte, einen Beschluss an Beust, in dem ebenfalls »feierlich« jede Lösung der schleswig-holsteinischen Frage zurückgewiesen wurde, »die gegen das Recht der Herzogthümer ohne Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter und ihres Fürsten erfolgt«.16 Beust antwortete auf diese und weitere Mitteilungen, die von der national bewegten deutschen Öffentlichkeit an ihn gerichtet wurden, in der Form höflich und im Grundsatz zustimmend. An Müller etwa schrieb er, er könne zwar die Protesterklärung nicht förmlich auf der Konferenz vorlegen, aber er werde es nicht versäumen, »diese bedeutsame Kundgebung der Rechtsauffassung so vieler Kammermitglieder bei den Berathungen […] in der Wagschale der deutschen Interessen, zu deren Vertretung ich berufen bin [Hervorhebung J. M.], einzulegen«.17 Dem Kommerzienrat Harkort in Leipzig versicherte Beust, dass er eher auf die Teilnahme an der Konferenz verzichten, »als zu einem die Rechte und Interessen Deutschlands und der Herzogthümer verletzenden Uebereinkommen die Hand bieten würde«.18 Beust selbst sah sich also in der Rolle eines Vertreters der deutschen Interessen, und er gab damit auch der deutschen Bundesversammlung, die ihn beauftragt hatte, den Charakter einer Institution, die die nationalen Ziele in Schleswig-Holstein im Einklang mit der deutschen Öffentlichkeit verfolgte. In 13 Probst an Beust, 23. April 1864, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10717, Nr. 1010/2, fol. 167 f. 14 Schreiben der württembergischen Kammer der Abgeordneten an Beust, 3. Mai 1864, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10717, Nr. 1010/1, fol. 17 f. u. 85, ebd., fol. 19 – 84 die namentlich gezeichneten Protesturkunden. 15 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10717, Nr. 1010/1, Fasz. 2, fol. 1–11. Die Unterschriftenliste wurde gedruckt unter dem Titel »Rechtsverwahrung der Mitglieder deutscher Landesvertretungen« (ebd., fol. 131–134). 16 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10717, Nr. 1010/1, Fasz. 2, fol. 16. 17 Beust an Müller, 18. Mai 1864, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10717, Nr. 1010/2, fol. 158. 18 Ebeling: Friedrich Ferdinand Graf von Beust (wie Anm. 17), S. 211.

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diesem Sinne versuchte er, auf der Konferenz eine aktive, die deutschen Nationalinteressen fördernde Rolle zu spielen, was ihm teilweise auch gelang. Beust war in den Beratungen sehr aktiv, ergriff oft das Wort und scheute sich dabei auch nicht, den Vertretern der anderen Mächte gelegentlich energisch zu widersprechen. Gleichwohl kam es in London nicht zu einer Vereinbarung der beteiligten Mächte über den künftigen Status von Schleswig-Holstein. Weder wurde die staatsrechtliche Stellung und Zugehörigkeit der Herzogtümer geklärt, noch wurde über die umstrittenen Erbfolgeansprüche entschieden. Dies lag zum Teil auch an den beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen, die kein Interesse daran hatten, in Schleswig-Holstein die nationalistische Karte zu spielen, sondern stattdessen als europäische Großmächte freie Hand behalten wollten. Nach dreimonatigen intensiven Verhandlungen, die von einem publizistischen Trommelfeuer begleitet waren, ging die Londoner Konferenz am 25. Juni 1864 »ergebnislos« (E. R. Huber) auseinander, und einen Tag später endete auch der im Mai vereinbarte Waffenstillstand zwischen Dänemark auf der einen sowie Österreich und Preußen auf der anderen Seite. Der Krieg wurde wieder aufgenommen und führte in wenigen Wochen zur dänischen Niederlage und zum Präliminarfrieden vom 1. August 1864, in dem der dänische König die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen abtrat – und bezeichnenderweise nicht an den Deutschen Bund. Dieser war an den Friedensverhandlungen gar nicht beteiligt und wurde auch in der Folgezeit bei den weiteren Dispositionen über Schleswig-Holstein von den deutschen Großmächten übergangen. Der Streit, der dann zwischen Österreich und Preußen über den künftigen Status von Schleswig-Holstein entbrannte, war eine unmittelbare Ursache für den deutschen Krieg von 1866, der zur Spaltung des Deutschen Bundes und schließlich zu seiner Auflösung führen sollte. Diese Entwicklung war im Sommer 1864 noch nicht abzusehen. Die Londoner Konferenz wurde in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit, obwohl sie keine Lösung des Schleswig-Holstein-Problems im Sinne der nationalen Wünsche herbeigeführt hatte, als ein Erfolg für die nationale Sache angesehen. Vor allem die Rolle Beusts wurde dabei uneingeschränkt positiv beurteilt, was auch auf eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit des sächsischen Ministers selbst zurückzuführen war. In der Leipziger Zeitung erschien zwischen dem 26. Juli und dem 9. August 1864 eine elfteilige Artikelserie19, die wenig später als separate Schrift veröffentlicht wurde.20 Die Darstellung beruhte nach eigener Aussage auf 19 Leipziger Zeitung Nr. 176 vom 26. Juli 1864 – Nr. 188 vom 9. August 1864. 20 Die Londoner Conferenz zu Beilegung des deutsch-dänischen Streites. Nach authentischen Quellen bearbeitet. Separatabdruck aus der Leipziger Zeitung. Leipzig, Druck und Verlag von B. G. Teubner 1864, 62 S.

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»authentischen Quellen« und war sehr wahrscheinlich von Beust selbst inspiriert beziehungsweise lanciert worden, denn der Autor war der sächsische Regierungsrat Cäsar Dietrich von Witzleben (1823 – 1882), der seit 1856 als königlicher Kommissar für die Leipziger Zeitung amtierte.21 In Witzlebens Darstellung wird Beusts Rolle als sehr positiv und entscheidend für die Hauptresultate der Londoner Konferenz beurteilt: die Hinfälligkeit des Londoner Protokolls von 1852 für die weitere Entwicklung in SchleswigHolstein und das Zusammengehen der beiden deutschen Großmächte mit dem übrigen Deutschland in dieser Frage, die, so hatte es Beust in London nachdrücklich erklärt, der Deutsche Bund sich keinesfalls aus den Händen winden lasse.22 Dass dem Bund die Angelegenheit tatsächlich schon seit Jahresbeginn aus den Händen gewunden worden war und er auch in der Folgezeit seine Absichten – beziehungsweise die einer Mehrheit der deutschen Mittel- und Kleinstaaten – gegen die beiden deutschen Großmächte nicht durchsetzen konnte, wurde in der offiziösen sächsischen Darstellung vollkommen ignoriert. Stattdessen propagierte die Schrift eine Deutung der Konferenz und insbesondere der Rolle Beusts, die diesen in einem überaus positiven Licht erscheinen ließ. Es war somit teilweise die planvolle Öffentlichkeitsarbeit des sächsischen Ministers selbst, die ihm den Beifall der Öffentlichkeit einbrachte.23 Dass dieser Beifall so euphorisch ausfiel, hing aber auch mit den überbordenden Erwartungen, Hoffnungen und Projektionen zusammen, die das schleswig-holsteinische Problem seit Ende 1863 in Deutschland auslöste. Nationalliberale Politiker, Abgeordnete, Journalisten, Vereinsmitglieder und tausende von emotionalisierten Bürgern (und Bürgerinnen) gaben sich einer nationalen Gefühlspolitik hin, wie sie in dieser Intensität seit 1848 nicht mehr vorgekommen war. Dass diese Nationalgefühle auf einen konservativen, bestenfalls liberalkonservativen Minister wie Beust projiziert wurden, der bis dahin weder in seinem politischen Handeln noch in seinen öffentlichen Verlautbarungen emotionalen oder gar sentimentalen Tendenzen Raum gegeben hatte, war 1864 einigermaßen verwunderlich – wird aber relativiert durch die Tatsache, dass wenig später das nationalliberale Bürgertum seine Bewunderung auf einen noch wesentlich härteren Realpolitiker übertrug – 21 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 43. Berlin 1898, S. 667 – 669; Ebeling: Friedrich Ferdinand Graf von Beust (wie Anm. 7), S. 557, Anm. 1. 22 Die Londoner Conferenz (wie Anm. 20), S. 3, S. 22. 23 Beust setzte diese positive Deutung seiner Londoner Mission in seinen 1887 posthum publizierten Memoiren »Aus Drei Viertel-Jahrhunderten« fort, indem er seinen Bemühungen auf der Konferenz breiten Raum gab und dabei viele lobende Kommentare von anderen über seine Rolle zitierte, unter anderem auch eine ausführliche Passage aus einem nicht näher genannten Buch, in der über den Dresdener Empfang vom 9. Juli berichtet wird; Friedrich Ferdinand Graf von Beust: Aus Drei Viertel-Jahrhunderten. Erinnerungen und Aufzeichnungen. 2 Bde. Stuttgart 1887, hier Bd. 1, S. 366 – 378.

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auf den preußischen Ministerpräsidenten Bismarck, der sich in den Jahren zuvor zu einem verhassten bÞte noire der deutschen Politik gemacht hatte. Werfen wir abschließend noch einmal einen Blick auf die Bekundungen in Dresden am 9. Juli 1864, um zu erklären, warum Beust – wenn auch sehr kurzzeitig – zum Gegenstand nationalistischer Heldenverehrung werden konnte. In den Liedern, die in Dresden gesungen, und in den Reden, die gehalten wurden, wurden vielfältige nationalistische Topoi aufeinandergetürmt. Es ist die Rede vom »Schicksal«, von des »Kampfes Noth«, von »Germania’s Ruhm«, von »Deutschlands Ehre«, vom »Glauben an das Recht« usw. Die Nation bzw. das deutsche Volk sehen sich bedroht durch »offene und versteckte Gegner«, durch »fremde Arglist«, durch die Drohungen eines »übermüthigen Auslandes«, das der deutschen Nation ein deutsches Land entreißen will. Die Rhetorik ist schwülstig und gleitet teilweise ab in ein hypostasiertes Pathos, von dem es nur ein kleiner Schritt ist hin zu maßloser nationalistischer Kraftmeierei. So versteigt sich der bereits erwähnte Festredner Dr. Lindner zu der Formulierung, auf den Tafeln der Geschichte werde dereinst der Name Beust »glänzen als eines edlen geistigen Vorkämpfers für die einstige Weltherrschaft Deutschlands«.24 Auf die Person des mittelstaatlichen Ministers, der die Verkörperung eines diplomatischen und in keinster Weise eines demagogischen Politikstils war, wird hier die Hoffnung der deutschen Nationalbewegung auf einen »starken Mann«, einen politischen Führer projiziert. Er ist es, »auf den mit Hoffnung und Vertraun’n / fortan die deutschen Stämme schau’n«, er hält als »edler Kämpe treue Wacht«, er hielt in London »das Banner Deutschlands« hoch, er ist der »mannhafte Vertheidiger deutschen Rechts und deutscher Ehre«, er bewies »männlichen Muth«, mit »rastloser Energie« vertrat er die deutschen Interessen, er hat »Deutschlands Namen groß gemacht«. Nationale Größe, Kraft, Mut, Kampf – in wenigen Sätzen vereinten die Dresdener Sänger und Redner ein Vokabular, das seit den 1860er Jahren immer größere Resonanz fand und erst nach den katastrophalen Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskreditiert wurde. Beust wird damit gewiss nicht zum Vorläufer späterer Machtpolitiker wie Bismarck, von weltpolitischen Hasardeuren wie Kaiser Wilhelm II. oder gar von einem verbrecherischen Fanatiker wie Adolf Hitler. Doch wird dieser so unspektakuläre und über jeden Radikalismusverdacht erhabene Repräsentant des sogenannten »Dritten Deutschlands« und der »föderativen Nation«25 für einen kurzen historischen Moment, der den Sommer des Jahres 1864 nicht überdauerte, zum Adressaten der na24 Alle Zitate aus dem Bericht des Dresdner Journals vom 12. Juli 1864 (wie Anm. 1). 25 Vgl. dazu exemplarisch Dieter Langewiesche / Georg Schmidt (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 1999.

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tionalistischen Sehnsüchte einer durch den Schleswig-Holstein-Konflikt aufgeputschten nationalen Bewegung in Deutschland – einer Bewegung, die von Verhandlungen, Kompromissen und internationalen Verträgen nichts mehr wissen will und auf die Macht der Waffen setzt. Dass sich diese Sehnsüchte ein im Grunde so ungeeignetes Objekt – bzw. politisches Subjekt – für ihre Bewunderung auswählten, wirft ein Schlaglicht auf den Emotionshaushalt von großen Teilen der nationalen Öffentlichkeit in Deutschland, die im Frühjahr und Sommer 1864 fast verzweifelt nach einem »Vorkämpfer« für die deutsche Sache suchte und sich dabei eine Person als »Mehrer deutschen Ruhmes« auserkor, die man zuvor nicht im Entferntesten für eine solche Rolle in Betracht gezogen hätte.

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Thomas Kroll

Führerkult und Massendemokratie um 1900. Die sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich

1.

Einleitung

In den Diskussionen über die Entwicklung der westlichen Demokratien des frühen 21. Jahrhunderts werden die Chancen der politischen Teilhabe der Bürger zunehmend skeptisch eingeschätzt. In den von Medien gelenkten »Postdemokratien« Westeuropas oder der USA nehme der Einfluss führender Politiker dermaßen zu, dass man sogar von einer »leader democracy« sprechen könne. Der leader gehe nicht von den Bedürfnissen der Bürger aus, sondern entwerfe ein Programm, für welches er nur im Nachhinein eine plebiszitäre Zustimmung zu erreichen versuche, nicht selten durch manipulatorischen Medieneinsatz.1 Das Italien unter Berlusconi gilt als Musterbeispiel einer solchen »Postdemokratie« (Colin Crouch).2 Während die politologische leadership-Forschung sich intensiv mit dem Problem der politischen Führung befasst,3 hat sich die Geschichtswissenschaft mit dem politischen leader oder »Führer« in demokratischen Regierungssystemen, Parteien oder Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts bislang nicht systematisch auseinandergesetzt, obwohl damit Erkenntnisse über die sozialen und kulturellen Grundlagen demokratischer Herrschaftsformen in Europa gewonnen werden können. Dies gilt in besonderem Maße für eine Untersuchung der Epoche von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, die sich als »Sattelzeit« der Massendemokratie bezeichnen lässt. In dieser Zeitspanne kamen nämlich neue Vorstellungen von der »Masse«, den Aufgaben der politischen Parteiorganisationen, der Führung und schließlich ein neuer Typus des »Führers« auf.4 Wie Yves Cohen jüngst gezeigt hat, 1 Claudia Ritzi/ Gary S. Schaal, Politische Führung in der »Postdemokratie«, APuZ 2010/2 – 3, S. 9 – 15. 2 Vgl. dazu Marc Lazar, L’Italie — la derive: le moment Berlusconi, Paris 2006. 3 Ludger Helms, Leadership-Forschung als Demokratiewissenschaft, in: APuZ 2010/2 – 3, S. 3 – 8. 4 Vgl. beispielsweise Karl Kautsky, Die Aktion der Massen, in: Neue Zeit 1912/30, H. 12, S. 43 – 49.

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wurde die Frage der »Führung« und des »Führers« (bzw. des chef, duce oder leader) in Europa um 1900 breit diskutiert, in der Politik ebenso wie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, die sich von der Notwendigkeit einer hierarchischen Organisation von Herrschaft in den Unternehmen überzeugt zeigte.5 Selbst die europäischen Monarchen sahen sich veranlasst, ihre politischen Legitimationsstrategien zu modernisieren, indem sie sich als »Führer« ihrer Nationen präsentierten.6 Diese Entwicklung hängt eng mit einem grundlegenden Strukturwandel der Politik im späten 19. Jahrhundert zusammen. Seit den 1880er Jahren hatte die Erweiterung des Wahlrechtes in vielen europäischen Staaten zum Eintritt der sog. Massen in die Politik und zur Entstehung eines politischen »Massenmarktes« geführt. In diesem Prozess spielten neuartige Formen der Organisation von Parteien eine zentrale Rolle.7 »Ohne Organisation ist die Demokratie nicht denkbar«, so lautete Anfang des 20. Jahrhunderts ein Diktum eines der deutschen Väter der modernen Parteisoziologie, Robert Michels. Im Gegensatz zu den liberalen Honoratiorenparteien zielten die neuen Parteiorganisationen auf die Politisierung und die politische Partizipation der Massen. Die Organisation der »Masse« wiederum war ohne funktionale und technische Differenzierung, d. h. die Delegation von Organisationsaufgaben an Eliten, und damit ohne Etablierung neuer Herrschaftsstrukturen nicht machbar.8 So bildete sich bis zum Ersten Weltkrieg die moderne Massenpartei mit Stäben professioneller Funktionäre heraus.9 Mit dieser Professionalisierung und Bürokratisierung der Politik kam allerdings nicht nur der Typus des »Parteibeamten«,10 sondern auch die Sozialfigur des von Zeitgenossen so bezeichneten »modernen Massenfüh-

5 Yves Cohen, Le siÀcle des chefs. Une histoire transnationale du commandement et de l’autorit¦ (1890 – 1940). Paris 2013, S. 815, 27. Vgl. ferner Serge Moscovici, Das Zeitalter der Massen, Frankfurt am Main 1986, S. 233 ff. In diesen größeren Zusammenhang lassen sich auch Max Webers Überlegungen zum Typus des charismatischen Führers einfügen. Zu Weber vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, 2. Auflage, Tübingen 1974, S. 416 ff. 6 Vgl. zum deutschen und britischen Fall jüngst Thomas Kroll, Die Monarchie und das Aufkommen der Massendemokratie, in: ZfG 2013/61,4, S. 311 – 328. 7 Vgl. Elfi Bendikat, Wahlkämpfe in Europa 1884 – 1889, Wiesbaden 1988, S. 15 ff. 8 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1911, S. 21 – 22. Vgl. ferner Wolfgang Durner, Antiparlamentarismus in Deutschland, Würzburg 1997, S. 86. 9 Vgl. ferner Thomas Mergel, Der Funktionär, in: Ute Frevert/ Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Essen 2004, S. 278 – 300, S. 285 ff.; Jürgen Mittag, Zwischen Professionalisierung und Bürokratisierung: Des Typus des Arbeiterfunktionärs im wilhelminischen Deutschland, in: Klaus Schönhoven / Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 107 – 144. 10 Vgl. dazu Klaus Tenfelde, Arbeitersekretäre. Karrieren in deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993, S. 49.

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rers« auf.11 Solche Figuren konnten in den neuen Parteien auf erhebliche Popularität zählen. Dies gilt für nationalistische Verbände oder den politischen Katholizismus, in besonderem Maße aber für die europäischen Arbeiterparteien. Dort wurde ein regelrechter Kult um die Parteiführer betrieben: in der deutschen Sozialdemokratie etwa um August Bebel, in Frankreich um Jean JaurÀs oder Jules Guesde, in Italien um Filippo Turati und Enrico Ferri.12 Schon zeitgenössische Beobachter, wie etwa die Sozialistin Angelica Balabanoff, hoben hervor, dass der Aufstieg dieser Männer eng mit der neuen politischen Rolle der Massen zusammenhing, da die Führer »ihre mächtige, überwältigende Individualität völlig in der Massenbewegung aufgehen ließen«.13 Über den Kult um die sozialdemokratischen »Führer« wissen wir bislang erstaunlich wenig, obwohl sich durch seine Untersuchung wichtige Aufschlüsse über das Verhältnis von der Demokratisierung der Massen, der Entstehung neuer Parteien und der Rolle von Führern insgesamt gewinnen lassen.14 Darum sollen im Folgenden die Führerkulte in den sozialistischen Parteien Deutschlands, Frankreichs und Italiens bis 1914 in vergleichender Perspektive betrachtet werden.15 In diesem Zusammenhang gilt es zu klären, welche konkrete Gestalt die jeweiligen Führerkulte gewannen und wie die Führer in der Öffentlichkeit repräsentiert wurden, welche Funktion die entsprechenden Kulte in den Arbeiterparteien übernahmen, und schließlich, ob sich nationale Besonderheiten ausmachen lassen, die Rückschlüsse auf die Funktionen von Führern im westeuropäischen Kontext insgesamt zulassen.16

11 Robert Michels, August Bebel (1913), in: ders., Masse, Führer, Intellektuelle, Frankfurt a.M. 1987, S. 232 – 255, S. 232. 12 Zu den Biographien vgl. Jürgen Schmidt, August Bebel Kaiser der Arbeiter, Zürich 2013; Madeleine R¦b¦rioux, JaurÀs. La parole et l’acte, Paris 1994; Franco Catalano, Turati, Milano 1982. 13 Angelica Balabanoff, Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927, S. 44. 14 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Studie von Christine Stangl, Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. Herrschaftsverständnis und Herrscherbild der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875, Berlin 2002. 15 Vgl. zu methodischen Fragen Dick Geary, Die Vorteile und Fallstricke einer länderübergreifenden vergleichenden Geschichte der Arbeiterbewegung, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2010/9,1, S. 58 – 74. 16 Vgl. hierzu auch die methodischen Überlegungen von: Georges Haupt, Internationale Führungsgruppen in der Arbeiterbewegung, Herkunft und Mandat. Beiträge zur Führerproblematik in der Arbeiterbewegung, Frankfurt 1976, S. 193 – 217, S. 213 ff.

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2.

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Repräsentationen des »Führers« in den Arbeiterparteien um 1900: das Beispiel August Bebels

Die Verehrung von »Führern« findet sich schon in den Anfängen der europäischen Arbeiterbewegung, etwa im religiös aufgeladenen Kult um Lassalle in den 1860er Jahren oder in der Verehrung des italienischen Sozialisten Andrea Costa in den 1870er Jahren.17 Mit dem Aufkommen der Massenparteien, der Ausdehnung der Parteipresse und dem massiven Zustrom neuer Mitglieder im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewann der Kult jedoch überall eine neue Qualität. In besonderem Maße gilt dies für Deutschland, wo die SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs über eine Millionen Mitglieder verzeichnen konnte und sich ein relativ geschlossenes sozialdemokratisches Arbeitermilieu ausgebildet hatte.18 In diesen Jahren erreichte auch die Verehrung von August Bebel ihren Höhepunkt, der von der sozialdemokratischen Presse und in zahlreichen Broschüren als »Führer« der deutschen Sozialdemokratie gefeiert wurde. Wie die Analyse der betreffenden Quellen gezeigt hat, lassen sich einige typische, geradezu kanonisierte Elemente des sozialdemokratischen Führerkultes ausmachen, der schon vor Bebels Tod im Jahr 1913 voll entfaltet war.19 Charakteristisch ist etwa ein Text von Rosa Luxemburg, die Bebel als »geliebten Führer der Millionen« bezeichnete, welche ihm »Gehorsam und Gefolgschaft« leisteten, weil »Bebel wie kein anderer es verstand, die rastlose Kampflust und Zähigkeit dieser Millionen im Erobern jeder Handbreit eines menschenwürdigen Daseins sowie auch ihren revolutionären Idealismus zu erfassen, diesen politischen Tugenden Worte zu verleihen, sie zur Tat zu schmieden«.20 Die Darstellung August Bebels als Führer der Massen wurde zunächst mit seinem besonderen Lebenslauf und seiner Persönlichkeit begründet. Als einfacher Handwerker, der in Wetzlar aufgewachsen sei, habe er die deutsche Arbeiterbewegung mitbegründet und diese – trotz staatlicher Repressionen in der Zeit des Sozialistengesetzes – mit Beharrlichkeit von einer Sekte zu einer Mas-

17 Stangl, S. 247 ff.; Renato Zangheri, Storia del socialismo italiano , Bd. 1, Torino 1993, S. 456 ff.; Sebastian Prüfer, Die frühe deutsche Arbeiterbewegung 1863 bis 1890 als Religion. Zur Problematik eines revitalisierten Konzepts, in: Berthold Unfried (Hg.), Riten, Mythen und Symbole – Die Arbeiterbewegung zwischen »Zivilreligion« und Volkskultur, Wien 1999, S. 34 – 89, S. 35 – 37. 18 Vgl. dazu aus vergleichender Perspektive Dick Geary, Arbeiterkultur in Deutschland und Italien im Vergleich, in: Dietmar Petzina (Hg.), Fahnen, Fäuste, Körper, Essen 1986, S. 91 – 99, S. 98. 19 Stangl, S. 243. 20 Rosa Luxemburg, Der Führer der deutschen Arbeiterklasse, in: Die Gleichheit, 1. 9. 1913, zitiert nach Heinrich Gemkow / Angelika Miller (Hg.), August Bebel – »… ein prächtiger Adler«. Nachrufe Gedichte Erinnerungen, Berlin 1990, S. 75 – 85.

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senorganisation ausgebaut.21 So hieß es in der Magdeburger Volkstimme: »Ein weiter und dornenvoller Weg von dem glutvollen Propheten einer kleinen belächelten Sekte bis zum Führer einer gewaltigen, gefürchteten Proletarierarmee aller Zungen und Zonen.«22 Dank seiner außergewöhnlichen Hingabe und seines Glaubens habe er als willensstarker Prophet auftreten und als »Erwecker des deutschen Proletariats«23 wirken können. In diesem Sinne hob Leo Arons hervor: »Wohl niemand mehr als er ist durch diesen Optimismus in der Lage gewesen die Massen zu begeistern, die Scharen zu sammeln, die heute die Kerntruppe der deutschen, der internationalen Sozialdemokratie bilden.«24 Neben diesen Rollen als Parteigründer und Sendbote der sozialistischen Zukunftsgesellschaft wurde Bebel auch als wichtigster Theoretiker der Arbeiterbewegung nach Marx und Engels dargestellt, etwa von Eduard Bernstein, der ihn zum »Hauptführer in der Überlieferung der Partei« und zum »eigentliche[n] Verfechter der Marxschen Gesellschaftslehre« in Deutschland erklärte.25 Ferner wurde Bebel als geschickter Verteidiger der Interessen der Arbeiterklasse im Reichstag dargestellt, als »Organisator großen Stils, als Tagespolitiker großen Kalibers«26, der zugleich mit dem »blitzenden Schwert der Rede« den im Dienste der Kapitalistenklasse stehenden Politikern der Bourgeoisie im Reichstag Paroli geboten habe.27 In fast allen Texten wird Bebel zudem als »größter Taktiker« der deutschen Arbeiterbewegung geschildert,28 der sich durch den »Instinkt des geborenen Kämpfers« auszeichne. Zum Kanon der kultischen Verehrung gehörte es auch, Bebel als genialen Agitatoren zu stilisieren, als »Mann der Tat, der

21 Zum generationsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Thomas Welskopp, Die Generation Bebel, in: Klaus Schönhoven / Bern Braun (Hrgs.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 51 – 67. 22 Dem Kämpfer und Führer, Volksstimme (Magdeburg), 22. 2. 1910, S. 1. 23 Bebels siebzigster Geburtstag, in: Arbeiter-Zeitung (Wien), 23. 12. 1910. 24 Vgl. dazu auch Leo Arons, Zu August Bebels 70. Geburtstag, in: Sozialistische Monatshefte 1910/4, S. 215 – 217. 25 Eduard Bernstein, Aus Bebels Entwicklungsgang, in: Volksstimme (MD), 22. 2. 1910; ders., August Bebel, in: Sozialistische Monatshefte 1913/16/17, S. 957 – 959, S. 958. Karl Kautsky war gleichermaßen bemüht, dieses Bild zu verbreiten, nicht zuletzt, um sich gegen Kritik aus dem Lager der Revisionisten zu immunisieren, die ihn und weniger Bebel selbst als theoretischen Gegenspieler betrachteten. So hob Georg von Vollmar auf dem Parteitag von 1903 hervor, Kautsky sei noch schärfer als Bebel, ein »Fanatiker der Theorie, der Partei gewordene deutsche Professor«. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September, Berlin 1903, S. 337; Karl Kautsky, H. von Gerlach, Ein biographischer Essay, in Neue Zeit 1908/9 /27,H. 9, S. 339 – 342, S. 341. 26 Luxemburg, S. 79. 27 wr, Unser Vorbild, in: Volksstimme (Magdeburg), 22. 2. 1910. 28 Molkenbuhr, Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten in Jena vom 14. bis 20. September 1913, Berlin 1913, S. 206.

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die Massen bewegen will«.29 Auch wenn es keineswegs Bebels tatsächlicher Stellung in der kollektiv und stets von zwei Vorsitzenden geführten SPD traf, attestierten ihm seine Anhänger in der SPD eine nahezu diktatorische Machtfülle, die sich aus der Gunst der Massen speise.30 Diese Zuschreibung wurde nicht nur mit den bereits genannten Eigenschaften begründet, sondern beruhte auf der Identifikation Bebels mit der Arbeiterklasse selbst, dessen authentische Verkörperung er bilde, also eine »Inkarnation« des »gesamte[n] deutschen Proletariat[s] in seiner höchsten, reifsten und edelsten Erscheinungsform während der vergangenen fünfzig Jahre«.31 Entsprechend feierte auch der Journalist Franz Mehring Bebel als den »getreuste[n] Dolmetsch der Massen«.32 Obwohl dies keineswegs mit den Kategorien der marxistischen Lehre in Einklang zu bringen war, wurde Bebel nicht nur als Verkörperung der proletarischen Massen, als »Blut von ihrem Blut«, sondern auch als berufener Führer der Partei und wiederum als deren »Verkörperung« präsentiert.33 Am weitesten ging dabei Clara Zetkin, die Bebel mit Hilfe der verbreiteten Kettenidentifikation von Führer, Masse und Partei sogar als einen Demiurgen der Geschichte präsentierte: »Bebels Wesen und Wirken ist mehr als eine bloße Widerspiegelung der zeitgenössischen Geschichte des proletarischen Befreiungskampfes. Es ist das Fleisch und Blut gewordene proletarische Klassenleben, dessen unbezwingliche

29 Die Propaganda dieses Bebelbildes war auch außerhalb der Sozialdemokratie erfolgreich. So sprach etwa der Reichstagsabgeordnete Müller-Meiningen davon, Bebel sei der »Abgott der proletarischen Massen« gewesen. Vgl. Müller-Meiningen, August Bebel, in: Illustrierte Zeitung, 3660, 21. 8. 1913, S. 306; ferner H. von Gerlach, August Bebel. Ein biograpisches Essay, München 1909, S. 62. Zur Führung vgl. Wolfgang Schröder, August Bebel. Führerpersönlichkeit und Kollektivität, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 32 (1990), S. 329 – 334, S. 332. 30 Vgl. Michels, August Bebel, S. 677. Für viele Zeitgenossen standen allerdings die herausragende Herrschaftsposition Bebels in der Partei sowie seine Rolle als Schiedsrichter in programmatischen Fragen außer Frage, weil er derjenige sei, der authentisch die Überzeugungen der überwältigenden Mehrheit der Genossen im ganzen Land vertrete. So etwa Carl Meist, Abgeordneter im Reichstag aus Köln, auf dem Dresdner Parteitag von 1903. Vgl. August Bebel. Eine Biographie, Autorenkollektiv unter Leitung von Ursula Herrnmann und Volker Emmrich, Berlin 1989, S. 579 sowie Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September, Berlin 1903, S.354. 31 Bebel, in: Critica sociale 1913/8, S. 241 – 243, zitiert nach Heinrich Gemkow / Angelika Miller (Hg.), August Bebel – »… ein prächtiger Adler«. Nachrufe Gedichte Erinnerungen, Berlin 1990, S. 108 – 113, S. 109. 32 Franz Mehring, August Bebel. Persönliche Erinnerungen, in: Archiv für Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 1914/4, S. 304 – 312, zitiert nach Heinrich Gemkow / Angelika Miller (Hg.), August Bebel – »… ein prächtiger Adler«. Nachrufe Gedichte Erinnerungen, Berlin 1990, S. 260 – 273, S. S. 262. 33 Eduard Bernstein, August Bebel, dem Siebzigjährigen, in: Volkswacht für Schlesien, 22. 2. 1910; ders., August Bebel, S. 957.

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Wesensäußerung eben diese Geschichte ist. Daher wurde Bebel mehr als ein Träger, er wurde ein Gestalter der Geschichte.«34

3.

Führer und sozialistisches Milieu: Das Paradoxon des demokratischen Führerglaubens

Dieses von Intellektuellen entworfene Bild des nahezu allmächtigen Arbeiterführers, der die Massen in der politischen Arena vertrete, wurde über das kapillare Netz der Presse in das sozialdemokratische Milieu vermittelt.35 Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang ferner öffentliche Feste, sog. Bebelfeiern,36 die zu runden Geburtstagen in Berlin, aber auch in den lokalen Parteigliederungen veranstaltet wurden und die Führerrolle rituell bestätigten.37 Von noch größerer Bedeutung als diese Feste dürften die persönlichen Auftritte Bebels in den Versammlungen in zahllosen Städten des Kaiserreichs gewesen sein. Seine Reden zogen oftmals Tausende von Sozialdemokraten an, die sogar Eintritt zu zahlen bereit waren.38 Darauf verweist etwa eine Bericht des Anarchisten Albert Weidner aus dem Jahr 1903, der Bebel durchaus kritisch gegenüberstand und dessen Auftritte als eine Form der Demagogie betrachtete: »Vor dem überfüllten Riesensaale einer Arbeiterversammlung stehen viele Tausende. Sie können nicht mehr hinein, die Polizei hat Saal und Straße besetzt. So wollen sie ihn wenigstens sehen, durch Zuruf ihm ihre Liebe zeigen. Und als er schließlich kommt und einer Droschke entsteigt, da durchbricht die Menge unaufhaltsam den Kordon, ein donnerndes Jauchzen drinnen mit dem draußen. Man will den sich Sträubenden tragen, – leuchtenden Auges umdrängen sie ihn – und mühsam nur erreicht er in dieser blinden, täppischen, und doch so rührenden Liebkosung der Menge das sichere Portal. […] Drin aber auf dem Podium ordnet der Gefeierte ruhig inmitten der Begeisterung seine Aufzeich34 Clara Zetkin, August Bebel, in: Die Gleichheit, 1. 9. 1913, zitiert nach Heinrich Gemkow / Angelika Miller (Hg.), August Bebel – »… ein prächtiger Adler«. Nachrufe Gedichte Erinnerungen, Berlin 1990, S. 102 – 108, S. 105. 35 Vgl. Witt, S. 27. 36 Bebelfeier in Köln, Volksstimme (MD), 25. 2. 1910. 37 Zum Wandel der Rituale in der Arbeiterbewegung vgl. Eric Hobsbawm, The Transformation of Labour Rituals, in: ders., Worlds of Labour, London 1984, S. 66 – 82. 38 Vgl. dazu die Regionalstudie von Erich Schneider, August Bebels politische Auftritte in der Pfalz und seine Beziehungen zu pfälzischen Partei- und Gesinnungsfreunden, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 2004/12, S. 9 – 36, S. 24 ff. sowie Rudi Müller, August Bebel als musterhafter Redner der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule »Clara Zetkin« Leipzig 1985/2, S. 12 – 15, S. 14.

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nungen.«39 Auch wenn Bebels Reden nicht immer einen derartigen Begeisterungssturm auslösten und sie zugleich ein gesellschaftliches Ereignis waren, bei dem die Zuhörer die Chance zum Bierkonsum nutzten, untermauerte Bebel seine Führerrolle bei solchen Gelegenheiten mittels Performanz. Die Parteiführung und auch Bebel selbst sahen in der Presse, in den Festen und Aufritten ein Mittel, das symbolhafte Bild des machtvollen Führers der Massen zu verbreiten.40 Denn es war die feste Überzeugung der Parteiführung, dass die Massen erst noch erzogen werden müssten, bevor sie den Sozialismus erreichen könnten.41 Gleichwohl sollte man den instrumentellen Charakter des Kultes nicht überzeichnen.42 Obschon Bebel sich im Gestus der Bescheidenheit übte,43 glaubte er selbst durchaus an seine eigene politische Berufung, was er nicht zuletzt durch sein autoritäres Gebaren etwa auf den Parteitagen der SPD ausdrückte.44 Wichtiger noch ist freilich, dass die Devotion gegenüber dem »verehrten und geliebten Führer«,45 wie es in der Lokalpresse hieß, in der sozialdemokratischen Arbeiter- und Volkskultur fest verankert war.46 Dies gilt etwa für Lieder und Gedichte, die in der Arbeiterschaft zirkulierten.47 Ferner verweist die aufkommende Konsumindustrie auf eine tiefe Verwurzelung des Führerkults im sozialdemokratischen Milieu. Sehr verbreitet waren etwa De39 Albert Weidner, Bebel, in: Der arme Teufel, 1903/21, S. 1 – 2, S. 1. 40 Peter-Christian Witt, Charismatische und bürokratische Führung – August Bebel und Friedrich Ebert, in: August Bebel – Repräsentant der deutschen Arbeiterbewegung, Heidelberg 1991, S. 27 – 65, S. 27. 41 Vgl. Susanne Miller, August Bebel und die Massen, in: Hans-Peter Harstick u. a. (Hg.), Arbeiterbewegung und Geschichte, Trier 1983, S. 56 – 62, S. 60. 42 Maurizio Ridolfi, Interessi e passioni. Storia dei partiti politici italiani tra l’Europa e il Mediterraneo, Milano 1999, S. 79. 43 Ein Geburtstagsgeschenk!, in: Volkswacht für Schlesien, 22. 2. 1910, S. 2. 44 Vgl. dazu Michels, August Bebel, S. 677 f. So lässt sich die Publikation seiner Memoiren zu Lebzeiten nicht in erster Linie als Beitrag zur Parteigeschichtsschreibung verstehen, sondern als Versuch, die »große Popularität in der Partei« zu untermauern. Vgl. August Bebel, Aus meinem Leben, Berlin 1988; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September, Berlin 1903, S. 319. Nicht untypisch war seine Invektive gegen abweichende Positionen und Kritik an der Parteidisziplin: »Wer nicht pariert, fliegt raus.« Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September, Berlin 1903, S. 309; ferner Arons, S. 1462. Vgl. zum Begriff des »Führers« bei Bebel die Ausführungen von Stangl, S. 237. 45 wr, Unser Vorbild, in: Volksstimme (Magdeburg), 22. 2. 1910. 46 Vgl. dazu Stangl, S. 251 ff., S. 237 f. Ein Kult um Bebel lässt sich freilich auch in wohlhabenderen Schichten verzeichnen. Darauf verweist nicht zuletzt der Umstand, dass der Maler und Radierer Hermann Stuck in einem Wiener Verlag eine lebensgroße Lithographie Bebels zum Preis von 50 Mark herausbrachte, die vom Künstler signiert und mit eigenhändiger Unterschrift des Arbeiterführers versehen war. Vgl. Ein Künstlerporträt Bebels, in: Volkswacht für Schlesien, 27. 2. 1910. 47 Vgl. Stangl, S. 247 ff.

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votionalien, wie Postkarten mit dem Porträt Bebels, ebenso Anstecknadeln, Kaffeetassen oder Bierkrüge, die mit dem Parteiführer geschmückt waren.48 Insofern unterschieden sich die Formen der Verehrung Bebels nicht prinzipiell vom zeitgenössischen Kult um Wilhelm II., der um 1900 ebenfalls breite Schichten der Bevölkerung erreichte. Doch während der Kaiser mit dem Versuch, sich als Führer der Nation zu präsentieren, unter Arbeitern politisch weitgehend scheiterte,49 entsprach der Kult um den Arbeiterführer Bebel den politischen Bedürfnissen der sozialdemokratischen Basis. Eine wichtige Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass Bebel das Nahen des sozialistischen Zukunftsstaats mit eingängiger Rhetorik predigte und glaubwürdig machte.50 Damit konnte er zur Projektionsfläche sozialistischer Erlösungshoffnungen werden und gewissermaßen selbst zum Symbol dieses Glaubens avancieren. Man könnte die Verehrung Bebels insofern als Teil einer säkularen politischen Religion betrachten, die in rasch wachsenden protestantischen Großstädten des Kaiserreichs an die Stelle kirchlicher Bindungen trat.51 Wichtiger dürfte allerdings gewesen sein, dass es unter einfachen Arbeitern durchaus ein Bedürfnis nach politischer Führung durch weitsichtige und fähige Persönlichkeiten gab, das der Kult um Bebel in idealisierter Weise erfüllte.52 Charakteristisch dafür ist ein in der Magdeburger Volksstimme veröffentlichter Artikel, in dem es hieß: »Die täglich im Kampf stehenden Arbeiter leiden nicht an sentimentalen Anwandlungen. Sie verlangen von ihren Führern, daß sie ihnen immer und überall voranschreiten und ihnen die Pfade des Vordringens und des Aufstiegs klar aufzudecken vermögen. Wer unter diesen Führern sich nicht regt und bewegt, wer den geistigen Atem verliert, wer nicht täglich sein ganzes Selbst, sein ganzes Können und sein ganzes Wachsen einsetzt, bleibt ohne fremdes Zutun zurück und verschwindet langsam als Namenloser unter der namenlosen Masse. […] August Bebel ist immer an der Spitze geblieben.«53 Obwohl es weiterer Forschungen bedarf, spricht vieles für die These, dass die Repräsentation Bebels als machtvollen Führer der Massen ein Vehikel der Politisierung der Arbeiterschaft darstellte. Weitaus mehr als die Theorie des 48 Vgl. Dieter Langewiesche, August Bebel – Repräsentant der deutschen Arbeiterbewegung, in: August Bebel – Repräsentant der deutschen Arbeiterbewegung, Heidelberg 1991, S. 11 – 26, S. 11 ff. 49 Vgl. dazu Kroll, Die Monarchie, S. 311 ff. 50 Lucian Hölscher, »Ich sah alles so nah und greifbar« Zukunftsentwürfe, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), Die Arbeiter : Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum Wirtschaftswunder, München 1986, S. 251 – 257, S. 253. 51 Vgl. auch Miller, August Bebel, S. 58. 52 Aus diesem Grund schätzt Guenther Roth, The Social Democrats in Imperial Germany, Totowa 1963, S. 194 ff. die Bedeutung der radikalen sozialistischen Zukunftshoffnung wesentliche geringer ein. Vgl. in diesem Zusammenhang Michels, Zur Soziologie, S. 53. 53 Dem Kämpfer und Führer, in: Volksstimme (Magdeburg), 22. 2. 1910, S. 1.

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Marxismus vermochte der Führerkult eine emphatische Identifizierung der breiten Masse mit der Politik der Sozialdemokratie herzustellen. Im Grunde handelt es sich dabei um ein Paradoxon. Die Identifikation mit einem Führer, dem umfassende Macht zugeschrieben wurde, stellte eine Form der politischen Mobilisierung von Arbeitern für eine Partei dar, die zur Demokratisierung der politischen Praxis der Massen im Deutschen Kaiserreich maßgeblich beitrug. Dass ein solcher demokratischer Führerglaube ambivalent war und autoritär ausarten konnte, zeigte sich allerdings nach dem Ersten Weltkrieg anhand des Personenkults der stalinistischen KPD und in gewisser Hinsicht auch am Zustrom von Arbeitern in die NSDAP.54

4.

Westeuropäische Varianten des sozialistischen Führerkultes

a.

Das sozialistische Milieu und seine Integration in das politische System: Führerkult als Kompensation der Machtlosigkeit?

Der demokratische Führerglaube findet sich der Tendenz nach in den sozialistischen Parteien Frankreichs und Italiens wieder, und auch die Mittel seiner Propaganda sowie die rituelle Verankerung waren ähnlich.55 Dennoch sind erhebliche Unterschiede zu verzeichnen. Zunächst einmal gilt es zu unterstreichen, dass die Reichweite der Führerkulte in den romanischen Ländern weitaus geringer als in Deutschland war. In Italien wies nämlich der Kult um die Führer der sozialistischen Partei, wie Turati, Arturo Labriola oder auch Enrico Ferri, einen eher lokalen Charakter auf.56 Selbst der junge Sozialist Benito Mussolini, der 1912 die Führung der sozialistischen Partei übernahm und die revolutionäre Strömung repräsentierte, wurde nur in der Romagna als duce oder capo verehrt.57 Zudem hatten die lokalen Führerkulte in Italien meist einen ausgeprägt volksreligiösen Charakter. So wurde Enrico Ferri in Kalabrien in erster Linie als eine Art Schutzheiliger gegen die Camorra angerufen. Doch waren mit solchen quasi religiösen Kulten auch genuin sozialistische Erlösungshoffnungen verknüpft, wie die Übertragung der Namen herausragender Vordenker der Zweiten Internationale auf die Nachkommenschaft einfacher Sozialisten zeigt, denn 54 Zur politischen Kultur der KPD vgl. Eric D. Weitz, Creating German Communism, 1890 – 1990. From Popular Protests to Socialist State, Prinecton 1997. 55 Bertram Werwi, Jean JaurÀs. Wesensbetrachtung publizistischer Aktion und Persönlichkeit, Diss. FU Berlin 1957, S. 95ff Maurizio Ridolfi, Il PSI e la nascita del partito di massa, 1892 – 1922, Roma 1992, S. 166. 56 Vgl. dazu Ridolfi, Il PSI, S. 154 ff., 240. 57 Vgl. Katharina Keller, Modell SPD? Italienische Sozialisten und deutsche Sozialdemokratie bis zum Ersten Weltkrieg, Bonn 1994, S. 100 f.

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nicht wenige Kinder hießen in Italien Marxina oder Lassallo. Dennoch hat sich kein Kult nationalen Ausmaßes um einen italienischen Arbeiterführer herausgebildet. Ähnliches gilt für Frankreich: Der Reformsozialist Jean JaurÀs, der über großes Prestige in der Sozialistischen Internationale verfügte, wurde vor allem in seiner Heimatregion, im südfranzösischen D¦partement Tarn, verehrt, Jules Guesde als »marxistischer Prophet« im nordfranzösischen Industrierevier.58 Der Führerkult nahm in Italien wie in Frankreich also eine andere Gestalt als in Deutschland an. So erscheint es durchaus schlüssig, dass Êdouard Vaillant, einer der Gründerväter des französischen Sozialismus, im Gegensatz zum gleichaltrigen Bebel eine offizielle Parteifeier anlässlich seines siebzigsten Geburtstags rigoros zurückwies. Andere Länder, andere Sitten, kommentierte Albert Thomas süffisant in der sozialistischen Tageszeitung L’Humanit¦.59 Allerdings erscheint es keineswegs überzeugend, der zeitgenössischen Sichtweise zu folgen und den deutschen Führerkult auf eine obrigkeitsstaatliche Mentalität sowie den sprichwörtlichen deutschen Autoritätsglauben, die geringere Reichweite des italienischen und französischen Kults dagegen auf den vermeintlichen Individualismus der romanischen Länder zurückzuführen. Ein wichtiger Faktor, der den Unterschied zwischen den sozialistischen Bewegungen in Frankreich, Italien und Deutschland tatsächlich erklären kann, ist vielmehr darin zu sehen, dass die SPD bis 1914 weitaus mehr Mitglieder und Wähler gewinnen konnte. Den mehr als einer Million Parteimitgliedern in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs standen 50.000 bis 60.000 Tausend Sozialisten in Frankreich und etwas 100.000 in Italien gegenüber. Wichtiger noch als die Zahl an sich war freilich der Umstand, dass die SPD sich auf eine breite Schicht von Industriearbeitern stützte und sich insofern als proletarische Klassenpartei verstand.60 Dagegen spielten in Italien und Frankreich die ländlichen Schichten eine weitaus größere Rolle. Im Norden Italiens hatte der Sozialismus sogar zuerst unter Landarbeitern und Kleinbauern Fuß gefasst.61 In vielen Städten der Apenninhalbinsel, so etwa in Florenz, hatte die sozialistische Partei eine klassenübergreifende Basis, zu der wenige Industriearbeiter, zahlreiche Handwerker und kleine Ladenbesitzer sowie viele Intellektuelle gehörten, die meist das Führungspersonal der Partei stellten.62 Dieser Umstand war in Italien wie in Frankreich von großer Bedeutung, weil die Parteiapparate weitaus weniger entwickelt waren und die Zahl der hauptamtlichen 58 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, S. 65 – 67. 59 Albert Thomas, August Bebel, in: l’Humanit¦, 22. 2. 1910. 60 Vgl. August Bebel, Das Fazit der Wahlkampfes, in: Neue Zeit 1903/21, S. 420 – 425, S. 422. So hob Bebel hervor, die wachsende »Proletarisierung« der »Massen« führe zur Verschärfung der Klassengegensätze. 61 Zeffiro Ciuffoletti u. a., Storia del PSI, Bd. 1: Le origini e l’et— giolittiana, Bari 1992, S. 195 ff. 62 Ridolfi, Il PSI, S. 130

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Funktionäre bis 1914 deutlich geringer blieb als in Deutschland. Obwohl die Sozialisten in Frankreich wie in Italien sich am Modell der SPD orientierten und sich die Form einer straff organisierten Massenpartei gaben, konnten sie sich bis 1914 weder auf einen großen Apparat noch auf einen entsprechenden Massenanhang stützen.63 Dabei spielte auch eine wichtige Rolle, dass die sozialistischen Parteien der romanischen Länder im Gegensatz zur SPD keine Einigung mit den Gewerkschaften erreichten, weil diese nach Autonomie strebten und die Beziehungen zu ihnen konfliktreich blieben. Die ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse wurden in Frankreich wie Italien allein von den Gewerkschaften, nicht von den Parteien und ihren Führern vertreten.64 Der in Frankreich besonders einflussreiche Anarchosyndikalismus machte der Partei im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sogar den politischen Führungsanspruch streitig. Anders als die SPD und die freien Gewerkschaften formierten sich die Sozialisten in Italien und Frankreich insofern nicht als geschlossene Gegengesellschaften mit einer proletarischen Subkultur, die in Deutschland seit den 1890er Jahren zudem ein dichtes Netz von Vereinen und Genossenschaften hervorgebracht hatte.65 Vielmehr gab es in Frankreich oder Italien nur sozialistische Städte, manchmal Regionen, die »rote Inseln« im politischen System bildeten.66 Dieser strukturelle Unterschied hatte für die Rolle der politischen Führer erhebliche Folgen. Dies gilt zuvorderst für die Kommunikationsstrukturen, denn die hohe Analphabetenrate in der ländlichen Gesellschaft Italiens schränkte die Wirkungsmöglichkeiten der Presse erheblich ein, die in Deutschland weit gefächert war. Die Rede vor Ort und die direkte Ansprache, die naturgemäß einen lokalen Charakter hatte, spielten in Italien und Frankreich darum eine viel größere Rolle für die politische Kommunikation. Ebenso bedeutsam für die konkrete Rolle der Führer war freilich die heterogene Sozialstruktur der Basis, die Turati und JaurÀs dazu veranlasste, einen reformerischen Kurs einzuschlagen und die Integration des Sozialismus in das politische System ihrer Länder anzustreben.67 Das war ein Weg, der den deut63 Haupt, Internationale Führungsgruppen, S. 1. Vgl. auch Hans Mommsen, Zum Problem der vergleichenden Behandlung nationaler Arbeiterbewegungen am Beispiel Ost- und Südostmitteleuropas, in: Beziehungsgeschichtliche Probleme der deutschen und der ost- sowie südosteuropäischen Arbeiterbewegung 1889 – 1920/21, Berlin 1979, S. 31 – 34, S. 31. 64 Vgl. Discala, Dilemmas of Italian Socialism: The Politics of Filippo Turati, Amherst 1980, S. 96 ff. 65 Vgl. dazu Alain Bergounioux/ G¦rard Grunberg, L’ambition et le remords. Les socializes franÅais et le pouvoir (1905 – 2005), Paris 2005, S. 43. 66 Carl Levy, The people and the professors: socialism and the educated middle classes in Italy, in: Journal of Modern Italian Studies 6,2 (2001), S. 195 – 208, S. 200; Ciuffoletti u. a., S. 195. 67 Vgl. Madeleine R¦b¦rioux, Die sozialistischen Parteien Europas: Frankreich, Berlin 1975, S. 67 ff.

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schen Sozialdemokraten trotz ihrer spektakulären Wahlerfolge aufgrund der autoritären Verfassung des Deutschen Kaiserreichs versperrt blieb. Die liberalen Verfassungssysteme in Italien und Frankreich boten dagegen (trotz deutlich schlechterer Wahlergebnisse) bessere Chancen zur Partizipation, zumal die bürgerlichen, liberalen Regierungen sogar zu Koalitionen bereit zeigten.68 Darum spielten das Parlament und die sozialistischen Fraktionen für die Reformsozialisten Italiens und Frankreichs eine viel größere institutionelle Rolle als für die SPD,69 und die Folgen für das Verhältnis von Führern und Masse waren erheblich. In Italien und Frankreich waren die Führer nämlich in erster Linie einflussreiche sozialistische Abgeordnete, gewissermaßen Honoratiorenpolitiker, die sich als Interessenvertreter ihrer lokalen sozialistischen Wählerklientel präsentierten.70 Diese Tendenz spiegelte sich auch in der Parteiorganisation wider, denn die lokalen oder regionalen Parteisektionen hatten ein viel höheres Maß an Autonomie als in Deutschland, wo die Kandidatenauslese von der Zentrale maßgeblich gelenkt wurde.71 So waren die lokale Klientel und die face to face-Politik für die Legitimations- und Repräsentationsstrategien der sozialistischen Führer in Italien und Frankreich um 1900 von weitaus größerer Relevanz als im Kaiserreich. Das wirkte sich selbst auf die Funktionsweise der Presse aus, denn die sozialistischen Zeitungen und Zeitschriften waren weniger Sprachrohre der Parteien als das ihrer einzelnen Führer. Dies gilt sowohl für die l’Humanit¦, mit der JaurÀs seine Botschaften vermittelte, als auch für die Critica sociale, mit der Turati von Mailand aus die Politik der italienischen Sozialisten zu steuern versuchte.72 Dass Turati und JaurÀs anders als Bebel aus bürgerlichen Intellektuellenfamilien stammten,73 spielte ebenfalls eine wichtige Rolle, denn sie übernahmen die typische paternalistische Haltung gegenüber den Unterschichten, die sie 68 Vgl. Madeleine R¦b¦rioux, JaurÀs et la classe ouvriÀre, in: JaurÀs et la classe ouvriÀre, Paris 1981, S. 13 – 28, S. 24 ff. 69 Vgl. Maurizio degl’Innocenti, Premessa, in: ders., (Hg), Filippo Turati e il socialismo europeo, Milano 1985, S. 5 – 19, S. 12. 70 Hugo Bütler, Gaetano Salvemini und die italienische Politik vor dem Ersten Weltkrieg, Tübingen 1978, S. 220. Zum Typus der klientelaren Politik in der Ära Giolitti vgl. Marco Severini, La rete die notabili. Clientele, strategie ed elezioni politiche nelle Marche in et— giolittiana, Venezia 1998. 71 Zum italienischen Fall vgl. Keller, S. 100 – 101; James Edward Miller, From Elite to Mass Politics. Italian Socialism in the Giolittian Era, 1900 – 1914, Kent 1990, S. 30ff; Robert Michels, Einige Randbemerkungen zum Problem der Demokratie – Eine Erwiderung, in: Sozialistische Monatshefte 1908/14, H. 25, S. 1615 – 1621, S. 1618 ff.; zu Frankreich Rudolf von Albertini, Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich 1789 – 1940, in: HZ 1961/193, S. 529 – 600, S. 577 ff.; Bergounioux/ Grunberg, S. 69 ff. 72 degl’Innocenti, S. 14. 73 Vgl. dazu Helmut Hirsch, Jean JaurÀs und August Bebel. Volkstribun und Arbeiterkaiser?, in: Die geteilte Utopie: Sozialisten in Frankreich und Deutschland, Opladen 1985, S. 25 – 47.

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nicht nur für ungebildet, sondern auch für unmündig hielten.74 So war es nur konsequent, dass sich die Führer als parlamentarische Interessenvertreter auch die Mission zuschrieben, die Massen politisch zu bilden und zu erziehen.75 Der sozialistische Führer habe zwar den Arbeitern in Stadt und Land solidarisch zur Seite zu stehen, etwa – wie JaurÀs – als Schlichter und Berater bei Streiks, doch müsse der chef als Parlamentarier unabhängig von der Masse entscheiden.76 Diese Ansicht teilte auch Turati, der 1908 pathetisch betonte, dem Proletariat stets gern zur Verfügung zu stehen, allerdings nur dann, wenn die Massen ihn nicht drängten, unsinnige Dinge zu fordern.77 Obwohl Turati, Ferri oder JaurÀs die sozialistische Idee propagierten, präsentierten sie sich in erster Linie als autonome Interessenvertreter der »arbeitenden Klassen« (classi operose) im Parlament (nicht als Sprachrohr des Proletariats).78 Diese soziale, politische wie räumliche Begrenzung unterschied den Führerkult in Italien wie Frankreich erheblich von jenem der sozialistischen Gegengesellschaft des Kaiserreichs. Denn Bebel wurde nicht als lokaler, sozialistischer Interessenvertreter in Parlament und Regierung gesehen, sondern als mächtiger Führer eines national verfassten Proletariats im revolutionären Wartestand präsentiert. Diese strukturelle Differenz vermag zunächst die besondere Radikalität des Führerkultes in der SPD zu erklären. Ferner erscheint es plausibel, dem Kult eine für das Kaiserreich spezifische Funktion zuzuschreiben, denn aus vergleichender Perspektive bot er den deutschen Sozialdemokraten eine Art von Kompensation für die eigene Machtlosigkeit.79 Die Idee eines mächtigen revolutionären Führers, der die Fäden der Geschichte in der Hand halte, vermochte im Alltag über den tatsächlich geringen Einfluss auf die Geschicke der Reichspolitik hinwegzuhelfen und damit das Vertrauen auf die sozialistische Zukunftsgesellschaft zu wahren.80

74 Vgl. Robert Michels, Die Entwicklung der Theorien im modernen Sozialismus Italiens, in: Enrico Ferri, Die revolutionäre Methode, Leipzig 1908, S. 7 – 35, S. 30 sowie Levy, S. 200 ff. 75 Vgl. Gaetano ArfÀ, Filippo Turati, in: Maurizio degl’Innocenti (Hg.), Filippo Turati e il socialism europeo, Milano 1985, S. 32 – 38, S. 35. 76 Madeleine R¦b¦rioux, La conception du parti chez JaurÀs, in: JaurÀs et la classe ouvriÀre, Paris 1981, S. 83 – 100, S. 98. 77 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, S. 148. 78 Enrico Ferri, Die revolutionäre Methode, Leipzig 1908, S. 86. Zur entsprechenden Rhetorik vgl. Adrian Lyttelton, Il linguaggio del conflitto politico, in: Problemi del socialismo 1988/1, S. 170 – 183, S. 173. 79 So hob Kautsky 1904 hervor, für die SPD gehe es zunächst nicht um die Eroberung der Macht, sondern um die Gewinnung der Volksmassen. Vgl. Karl Kautsky, Nachklänge zum Parteitag, in: Neue Zeit 1904/22, H. 1, S. 1 – 5, S. 1; ferner die Überlegungen von Bergounioux/ Grunberg, S. 69 ff. 80 Vgl. dazu Miller, From Elite, S. VIII.

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Richtungsstreite in der sozialistischen Bewegung: der Führer als Symbol der Einheit

Ein weiterer wichtiger Grund für die unterschiedliche Gestalt der Führerkulte ist in der Struktur der Organisation der sozialistischen Bewegungen selbst zu suchen. Anders in Deutschland waren die sozialistischen Bewegungen in Italien und Frankreich tief gespalten. Zwar war es in Italien 1892 zur Einigung der verschiedenen Strömungen gekommen, doch blieben sie auch danach in hohem Maße zerstritten.81 Im Unterschied zum Kaiserreich, in dem Bebel über Jahrzehnte einer der beiden Vorsitzenden der SPD blieb und Kontinuität garantierte,82 lösten sich die Führer an der Parteispitze in Italien in rascher Folge ab: Der Reformsozialist Filippo Turati musste sich seinem radikalen Konkurrenten Enrico Ferri und 1912 Mussolini geschlagen geben, der einer jüngeren Generation angehörte und den revolutionären Flügel der Partei repräsentierte.83 In Frankreich kam es erst sehr spät, 1905, zu einer Einigung unterschiedlicher sozialistischer Parteien, und diese blieb im Grunde prekär. Die konkurrierenden sozialistischen Parteiführer Jean JaurÀs, Jules Guesde und Êduard Vaillant stützten sich nämlich auch nach dem Zusammenschluss auf eine eigene Klientel, so dass keiner der Führer die gesamte Bewegung zu repräsentieren vermochte. Diese Funktion übernahm später JaurÀs, allerdings erst nach seiner Ermordung im Juli 1914, als er in seiner Rolle als Vorkämpfer für den europäischen Frieden allen Richtungen als unverfängliches Integrationssymbol dienen konnte.84 In Deutschland lagen die Dinge anders. Hier war es bereits 1875 in Gotha zur Vereinigung der sozialistischen Strömungen gekommen, und eine Spaltung konnte vermieden werden. Allerdings wurde die SPD seit der Jahrhundertwende durch den erbitterten Richtungsstreit von Revisionisten und Radikalen geprägt, der die Partei einer Zerreißprobe unterzog. Auf die ideologischen Hintergründe dieses Streits und die Rolle der Revision der Grundannahmen des Marxismus, die bereits gut erforscht sind, muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.85 Hervorzuheben ist jedoch, dass die Beiträge in der Debatte, wie sie der Neuen Zeit und in den Sozialistischen Monatsheften geführt wurde, die Frage nach dem Verhältnis von »Führern« und »Masse« eine geradezu entscheidende Rolle spielte. An diesem Punkt standen sich zwei Positionen unversöhnlich 81 Gaetano Arf¦, Storia del socialismo italiano (1892 – 1926), Torino 1977, S. 58 ff. 82 Francis Carsten, August Bebel und die Organisation der Massen, Berlin 1991, S. 128.; Ingrid Gilcher-Holtey, Das Mandat des Intellektuellen, Berlin 1986, S. 9; Michels, Zur Soziologie, S. 88. 83 Arf¦, Turati, S. 31. 84 R¦b¦rioux, JaurÀs. La parole, S. 13 ff. 85 Vgl. dazu etwa Helga Grebing, Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum ›Prager Frühling‹, München 1977.

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gegenüber. Die Revisionisten forderten (in mancherlei Hinsicht ähnlich wie JaurÀs oder Turati) eine parlamentarische Reformpolitik und lehnten die Vorstellung ab, die Masse könne aus sich heraus über die Richtung der Politik entscheiden.86 So warnten Revisionisten vor der »Verhimmlung der Massen«87 oder der »Verherrlichung der Massenintelligenz«88 und forderten die »Aktionsfreiheit für die Führer«.89 Sozialistische Politik und Praxis sei nicht das Werk der Masse, sondern der Führer.90 Ein solcher war demnach ein Beauftragter der Masse, der von dieser frei gewählt werden konnte, aber – den Prinzipien der repräsentativen Demokratie folgend – im Parlament und in den Gliederungen der Partei autonom und persönlich entscheiden müsse. Auf dem Parteitag von 1903 in Dresden fasste der Vordenker der Revisionisten Eduard Bernstein diese Auffassung zusammen: »Ich glaube, die sogenannten ›Führer‹, d. h. die Vertrauensmänner der Arbeiter sind die Sachwalter der Arbeiterklasse! Sie haben sich allerdings mit ihren Mandatsgebern ins Einvernehmen zu setzen, aber sie haben vor allem nach bester Überzeugung das Interesse der Arbeiter wahrzunehmen und, wenn es nötig ist, sich der Stimme der Arbeiter entgegenzusetzen und ihre Argumente geltend zu machen.«91 Dieser Position hielten die Radikalen die Forderung entgegen, der Führer habe nur den Willen der Masse auszuführen. Dahinter steckte ein tiefes Misstrauen gegen den Parlamentarismus und die Hoffnung auf eine von den proletarischen Massen getragene Revolution.92 Der »parlamentarischen Versumpfung« und der »Staatsmännelei« der revisionistischen Führer hielten sie den von den Massen gelenkten, wahren Klassenkampf entgegen.93 »Ihr eigentlicher Führer ist die Masse selbst […]«, so hob Rosa Luxemburg hervor: »Je mehr sich 86 Vgl. Eduard Bernstein, Ignaz Auer, Der Führer, Freund und Berater, in: Sozialistische Monatshefte 1907/ 11=13, H. 5, S. 339 – 347, S. 347. 87 Wilhelm Schröder, Extravaganzen in der Demokratie, in. Sozialistische Monatshefte 1911/ 17, H. 21, S. 93 – 97, S. 93. 88 Ludwig Quessel, Führer und Masse, in: Sozialistische Monatshefte 1910/16, S. 1407 – 1412, S. 1407. 89 So in polemischer Absicht: Karl Kautsky, Wahlkreis und Partei, in: Neue Zeit 4/1903 /22, H. 28, S. 36 – 46. 90 Quessel, Führer und Masse, 1408. 91 Eduard Bernstein, in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September, Berlin 1903, S. 399. 92 Revisionisten, wie Wolfgang Heine, sahen darin wiederum eine Gefahr, weil eine solche Argumentation faktisch einer Zentralisierung des Parteiapparats Vorschub leiste. So werde nicht die wahre Volksherrschaft, sondern die »Allmacht der Ausschüsse« geschaffen, da das Recht der Masse auf Wahl ihrer Vertrauenspersonen eingeschränkt werde. Vgl. Wolfgang Heine, Demokratische Randbemerkungen zum Fall Göhre, in: Sozialistische Monatshefte 1904/10, H. 41, S. 281 – 291, S. 284. 93 So die Sicht von Eduard Bernstein, Die Demokratie in der Sozialdemokratie, Sozialistische Monatshefte 1908/14, H. 18/19, S. 1100 – 1014, S. 1112.

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die Sozialdemokratie entwickelt, wächst, erstarkt, umso mehr muss die aufgeklärte Arbeitermasse mit jedem Tage ihre Schicksale, die Leitung ihrer Gesamtbewegung, die Bestimmung ihrer Richtlinien in die eigene Hand nehmen.«94 Obwohl diese Auffassungen des Verhältnisses von Führer und Masse nicht in Einklang zu bringen waren, arbeiteten Revisionisten und Radikale bis 1914 in der Partei erstaunlich gut zusammen.95 Die repressiver Staatspolitik und der Druck von außen waren dafür sicher bedeutsam, aber auch Bebel spielte eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang. Als Fraktionsführer im Reichstag vermittelte er beständig und sorgte für Disziplin.96 Relevanter war allerdings der Kult um seine Person, der die streitenden Richtungen symbolisch zu integrieren und Zusammenhalt zu schaffen vermochte. Bebel bekämpfte zwar als sog. Zentrist entschieden den Revisionismus,97 vermied aber zugleich eine Parteinahme für die Radikalen. So konnte er als Projektionsfläche der unterschiedlichen Richtungen und ihrer Führerkonzeptionen dienen und als Symbol der Einheit der Partei fungieren,98 mit dem sich beide innerparteilichen Richtungen, Bernstein und Luxemburg gleichermaßen, geradezu leidenschaftlich identifizierten.

5.

Schluss

Führerkulte spielten im Prozess der Demokratisierung der Massen um 1900 eine große Rolle, als Projektionsfläche für Erlösungshoffnungen der Unterschichten und als Vehikel der Politisierung der Arbeiterschaft. Führer konnten auch als Integrationssymbole dienen und, wie in der SPD, den Zusammenhalt der ideologisch auseinander driftenden Flügel der Massenparteien fördern. Wie der Vergleich gezeigt hat, hingen die konkrete Gestalt des Führerglaubens und die Rolle von Führern in den sozialistischen Bewegungen allerdings ganz erheblich 94 Luxemburg, S. 76. 95 Dieter K. Buse, Party Leadership and Mechanism of Unity : The Crisis of German Social Democracy Reconsidered, 1910 – 1914, in: SMH 1990/ 62,3, S. 477 – 502, S.500. 96 Vgl. dazu Ursula Mitmann, Fraktion und Partei. Ein Vergleich von Zentrum und Sozialdemokratie im Kaiserreich, Düsseldorf 1976, S. 262 ff. 97 So kritisierte er die Revisionisten auch deshalb, weil diese sich als »geborene Führer der Sozialdemokratie« aufführten und dem Proletariat nicht die gebührende Ehre erwiesen, obwohl sie (als Intellektuelle) ihr Mandat von den Arbeitern erhalten hätten. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September, Berlin 1903, S. 320. 98 Vgl. Wolfgang Heine, Disziplin, Organisation, Einheit, in: Sozialistische Monatshefte 1908/ 14, H. 20, S. 1258 – 1263, S. 1261; Eduard Bernstein, Bebel und die Partei, in: ebd. 1911/15, S. 1456 – 1463.

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von den Chancen politischer Einflussnahme in den jeweiligen Verfassungssystemen, dem Entwicklungsstand der Gesellschaft und den Kommunikationsstrukturen in den Organisationen oder Milieus selbst ab. Allerdings war der demokratische Führerglaube von Beginn an ambivalent und konnte in autoritäre Bahnen geraten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dies offensichtlich, als der ehemalige sozialistische Führer Mussolini zum duce des italienischen Faschismus aufstieg. Ähnliches gilt für den Kult um die Führer der kommunistischen Parteien der 1920er Jahre, in dem sich (mehr als in der SPD oder den sozialistischen Parteien selbst) viele Elemente des Personenkultes der Arbeiterbewegung vor 1914 in radikalisierter Form wiederfanden. Die Konzentration der Forschung auf faschistische oder kommunistische Führer hat allerdings dazu geführt, ihre strukturelle Funktion in den demokratischen Bewegungen des 19. wie des 20. Jahrhunderts zu unterschätzen. In diesem Zusammenhang zu nennen ist etwa die Rolle von Führern, wie Giuseppe Mazzini, in der Demokratie des frühen 19. Jahrhunderts. Aber auch die aufkommende »Mediengesellschaft« der 1970er und 1980er Jahre ist in den Blick zu nehmen, als Sozialdemokraten wie Willy Brandt, FranÅois Mitterand oder Bettino Craxi sich medial als demokratische Führer inszenieren ließen und damit in einem gewissen Sinne auf die Prozesse der Postdemokratisierung im frühen 21. Jahrhundert vorausverwiesen. Eine systematisch vergleichende Untersuchung von Führern und Führerbewegungen könnte insofern eine der relevanten Achsen einer europäischen Sozial- und Kulturgeschichte der Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert bilden.

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Regionen und Räume

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Hohenlohe in Thüringen. Ein Überblick

Seit fast tausend Jahren führt ein fränkisches Geschlecht den Namen Hohenlohe.1 Seit Jahrhunderten agieren Mitglieder dieser Familie in ihren Stammlanden als Grafen, Fürsten und Standesherren. Heute begegnet die Dynastie der Welt mit diesen Namen: Hohenlohe-Langenburg (in einem Ast seiner katholischen Linie nun bald mit dem Titel der duques de Medinaceli2), Hohenlohe-Oehringen (mit den Herzögen von Ujest3), Hohenlohe-Bartenstein, Hohenlohe-Jagstberg, Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst und Hohenlohe-Schillingsfürst (mit den Herzögen von Ratibor und Fürsten von Corvey4). Im Mannesstamm aus-

1 Ein Siglenverzeichnis, das zugleich das Verzeichnis der benutzten Literatur umfasst, befindet sich am Ende dieses Beitrags. Vgl. zur Geschichte des Hauses Fischer 1866, 1868 und 1871, Hohenlohe 1983 und Stalmann 2013 A. – Einen schnellen Einblick in die Genealogie ermöglichen v. a. Stammtafeln 1979, Schwennicke 1998 A und GHdA, zuletzt Bd. 149 (2011), S. 180 – 226. 2 Pz. Marco v. Hohenlohe-Langenburg (*08. 03. 1962 Madrid) ist nach spanischem Recht nach seiner vorverstorbenen Mutter Ana de Medina y Fern‚ndez de Cordoba (02. 05. 1940 – 07. 03. 2012) Erbe der 64 Titel seiner am 18. 8. 2013 verstorbenen Großmutter Victoria Eugenia Fern‚ndez de Cûrdoba y Fern‚ndez de Henestrosa, XVIII duquesa de Medinaceli; die Nachfolge ist bis Anfang Februar 2014 noch nicht durch Bekanntmachung im Bolet†n Oficial del Estado offiziell geworden, womit in der Regel etwa ein Jahr nach dem Tod der bisherigen Titelträger(in) zu rechnen ist; vgl. Daily Telegraph v. 23. 8. 2013, ABC v. 25. 8. 2013 und GHdA 149 (2011), S. 189 f. Mit Bekanntmachung des Spanischen Justizministeriums, Subsecretaria (Division de Derechos de Gracia y otros Derechos), vom 24. 4. 2014, veröffentlicht im Bolet†n oficial del Estado, Nr. 133, 2. 6. 2014, S. 26161, wurde die Nachfolge »don Marco[s] de Hohenlohe y Medina« nach seiner verstorbenen Großmutter »doÇa Victoria Eugenia Fern‚ndez de Cûrdoba y Fern‚ndez de Henestrosa« in deren Titel »Duque[sa] de Medinaceli, con Grandeza de EspaÇa« für den Fall festgestellt, daß sich nicht binnen 30 Tagen ab Veröffentlichung dieser Bekanntmachung im Bolet†n eine eine eigene Berechtigung auf diesen Titel behauptende Person beim Jusitzministerium melde. Das ist nicht geschehen. Damit ist Pz. Marco von Hohenlohe XIX duque de Medinaceli und seine 1997 geborene Tochter, Pzn. Victoria von Hohenlohe-Langenburg, nach ihm Anwärterin auf seine Titel. 3 Der Familienzweig Hohenlohe-Oehringen führt den Titel Herzog von Ujest »nur« wie einen Nebennamen; GHdA 149 (2011), S. 194. 4 Dieser Familienzweig tritt unter dem Namen Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey als

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gestorben sind die Linien Weikersheim, Ingelfingen, Kirchberg, Künzelsau, Neuenstein und Pfedelbach;5 sie leben in ihren gleichnamigen Schlössern fort. Eine Reihe von Mitgliedern des Hauses Hohenlohe hat im Dienste von Kaisern und Königen, von Friedrich II. im 13. über Maximilian II. im 16. bis Wilhelm II. im 19. Jahrhundert, herausragende politische und diplomatische Dienste geleistet. Einige taten sich als militärische Führer hervor. Einige erwiesen sich als große Unternehmer an der Spitze weltweit führender Industriekomplexe. Andere wurden einflussreiche Parlamentarier, einige Künstler. Einer war Kardinal. Viele Hohenloher gingen bemerkenswerte Ehen ein. Einige dieser Verbindungen eröffneten der Familie herausragend neue Möglichkeiten. Zwei bescherten ihr Territorien fern ihrer Stammlande: Felicitas Gräfin von Hohenlohes (1538 – 1601)6 heiratete 1572 Karl III. Graf von Gleichen (1517 – 1599)7; diese Ehe ebnete dem Haus über den Erwerb von Niederkranichfeld, Krakendorf und Obergleichen den Eintritt in die Geschichte Thüringens. Eine ähnliche Funktion hatte für den Einstieg in großindustrielle Wirtschaftsformen in Oberschlesien, aber auch für den Erwerb der Herrschaft Oppurg die Ehe von Friedrich Ludwig Erbprinz von Hohenlohe-Ingelfingen (1746 – 1818)8 mit Marianne Gräfin von Hoym (1763 – 1840)9.

1.

Die Herrschaft Niederkranichfeld 1604 – 1647

Vor der Heirat von Karl III. von Gleichen mit Felicitas von Hohenlohe wurde der Gräfin mit dem Heiratskontrakt von 157110 die Herrschaft Niederkranichfeld als

5 6 7 8 9

10

Hauptnamen auf und und führt den Titel Prinz von Hohenlohe quasi als Zweitnamen; GHdA 149 (2011), S. 213, und Tiggesbäumker 2003. GHdA 84 (1984), S. 302 – 307, Schwennicke 1998 A, Tfn. 1 – 23, und zu den heutigen Zweigen GHdA 149 (2011), S. 180 – 226. Stammtafeln 1979, Tf. 3, Schwennicke 1998 A, Tf. 4, Schwennicke 2000, Tf. 101, und Fischer 1868, S. 2. Schwennicke 2000, Tf. 101, der Gf. Karl dort als Karl II. bezeichnet; vgl. zu Karls Vita Remda 1926. GHdA 1 (1951), S. 234, Stammtafeln 1979, Tf. 9, Schwennicke 1998 A, Tf. 12, ADB 12 (1880) S. 685 f. ([Richard] v. Meerheimb), NDB 9 (1972), S. 489 f. (Gerhard Richter), Fischer 1871, S. 282 – 362, Kraus 2001, passim, und Muschol 1993, S. 64 – 69. GHdA 1 (1951), S. 234, Stammtafeln 1979, Schwennicke 1998 A, Tf. 12, NDB 9 (1972), S. 489 (Gerhard Richter), und Kraus 2001, passim. – Falsch ist es, als Vornamen der Braut allein Amalie anzugeben, wie es Schwennicke 1998 A, Tf. 12, und Richter in NDB, S. 489, tun; die Fürstin trug die Vornamen Amalie Luise Maria Anna und wurde Marianne genannt. HZAN, Best. GL 30, Bü 73 und 75 sowie auch Bü 1; dort auch eine Abschrift des Heiratskontrakts.

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Wittum verschrieben.11 Nach dem Tode Karls 1599 und Felicitas’ 1601 kam es zu heftigen Streitigkeiten um den Besitz der Herrschaft. Schließlich wurden nach einer Klage gegen den Stiefsohn der Gräfin Felicitas, den hochverschuldeten Grafen Wolrab von Gleichen (1556 – 1627)12, die Grafen Wolfgang von Hohenlohe (1546 – 1610)13 und Philipp von Hohenlohe (1550 – 1606)14 zur Befriedigung ihrer Ansprüche 1604/5 durch Herzog Johann von Sachsen-Weimar15 in den Besitz der Herrschaft Niederkranichfeld eingewiesen.16 Nach dem Tod des Grafen Philipp kam 1607 Graf Wolfgang in den alleinigen Besitz der Herrschaft.17 In seinem Testament bestimmte dieser seine Witwe, Gräfin Magdalene, geb. Gräfin von Nassau (1547 – 1633),18 zur Erbin von Niederkranichfeld.19 Ein Jahr nach Wolfgangs Tod kauften 1611 ihre Söhne Kraft (1582 – 1641)20 und Philipp Ernst (1584 – 1628)21 der Witwe diesen Besitz ab.22 Hierzu erklärte Hans Ludwig Graf von Gleichen (1565 – 1631)23 noch 1611 ausdrücklich seinen Konsens.24 Die sich von 1611 bis 1666 hinziehenden Bemühungen der Hohenloher um die Belehnung mit Niederkranichfeld durch Mainz als Lehnsherrn scheiterten.25 Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Niederkranichfeld von 1611 bis 1647 in ununterbrochener Reihenfolge von hohenlohe’schen Beamten (Amtmännern, Schössern und Gegenschreibern) verwaltet wurde.26 Statt der Hohenloher belehnte schon 1639 der Kurfürst von Mainz, Anselm Casimir Wambolt von Umbach27, den erfolgreichen Militär und aus einer wieder katholisch geworde-

11 HZAN, Best. GL 30, Bü 1, fol. 1, 2, 6, 7 und 23. Vgl. zur Geschichte der Herrschaft Niederkranichfeld überhaupt nach wie vor Saggitarius 1773, S. 296 – 343. 12 Schwennicke 2000, Tf. 101. 13 Stammtafeln 1979 (wie Anm. 1), Tf. 5, Schwennicke 1998 A, Tf. 6, und Schwennicke 1998 B, Tf. 72. 14 Stammtafeln 1979, Tf. 5, und Schwennicke 1998 A, Tf. 6 (dort fälschlich mit dem Namen Philipp Ernst belegt, was zu Verwechselungen mit seinem Neffen Philipp Ernst Gf. v. Hohenlohe-Langenburg [1584 – 1628] führt), und Fischer 1868, S. 127 – 166. 15 Schwennicke 1998 B, Tfn. 154 und 155, und ADB 14 (1881), S. 350 – 352 (Ernst Wülcker). 16 HZAN, Best. GL 30, Bü 2 bis 7, zur Besitzeinweisung der Hohenloher insbes. Bü 3 und auch Bü 62. 17 HZAN, Best. GL 30, Bü 7, fol. 40. 18 Wie Anm. 13. 19 HZAN, Best. GL 30, Bü 7, fol. 66 f. 20 Stammtafeln 1979, Tf. 5, Schwennicke 1998 A, Tf. 6, und Fischer 1868, S. 230 – 255. 21 Stammtafeln 1979, Tf. 5, Schwennicke 1998 A, Tf. 7, und Fischer 1868, S. 166 – 188. 22 HZAN, Best. GL 30, Bü 10, fol. 203 – 212 und fol. 462 – 468, und Bü 13. 23 Schwennicke 2000, Tf. 102. 24 HZAN, Best. GL 30, Bü 11 fol. 12 f. 25 HZAN, Best. GL 30, Bü 17, 20, 21, 23 und 26. 26 HZAN, Best. GL 30, Bü 14, Bü 15, Bü 28, Bü 38, Bü 48, Bü 49. Bü 50, Bü 88, ThStA Gotha, Best. Hohenlohe gemeinschaftlich, Nr. 1630, und Best. Kanzlei zu Ohrdruf, Nrn. 113, 114, und ThHStA Weimar, Best. Rechnungen Niederkranichfeld 1608 – 1728. 27 ADB 1 (1875), S. 479 f. (Philipp Walther) und NDB 1 (1953), S. 310 (Anton Brück).

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nen Familie stammenden Melchior Graf von Hatzfeldt28 mit sämtlichen mainzischen Lehen der 1631 ausgestorbenen Grafen von Gleichen, darunter auch mit Nierderkranichfeld.29 Zudem erhoben auch die Grafen von Mörsberg auf Niederkranichfeld Erbansprüche.30 Schließlich wurden 1647 die Grafen von Mörsberg durch Herzog Wilhelm von Sachsen-Weimar31 in den Besitz der Herrschaft eingewiesen32 und gleichzeitig der Verbleib Krakendorfs bei Hohenlohe festgeschrieben.33 Damit verloren die Grafen von Hohenlohe Niederkranichfeld für immer.

2.

Das Amt Krakendorf 1611 – 1694

Im Jahr 1611 kauften die Grafen Kraft und Philipp Ernst von Hohenlohe34 von den Vormündern der Erben des verstorbenen Pfandinhabers Curt von Mandelslohe35, Urban V. von Eschwege36 und Melchior von Bodenhausen37, das vordem zu Remda und damit den Grafen von Gleichen gehörende Vorwerk Krakendorf mit viereinhalb Dörfern38. Die Erwerbungen bildeten fortan das Amt Krakendorf.39 Dieser Besitz wurde den Hohenlohern bei der Einweisung der Grafen von Mörsberg in den Besitz von Niederkranichfeld durch Herzog Wilhelm von Sachsen-Weimar40 1647 bestätigt.41 Die Verwaltung des Amts Krakendorf erfolgte bis 1647 durch die hohenlohe’schen Beamten in Niederkranichfeld. In den Jahren 1653 bis 1689 nahm der Pächter des Guts Krakendorf, Johann Grimm, die Funktion des Amtsverwalters

28 Schwennicke 1980, Tf. 115, ADB 11 (1880), S. 35 f. (Carl v. Landmann [mit Behandlung allein von Hatzfeldts militärischer Laufbahn]), NDB 8 (1969), S. 64 f. (Günther Engelbert) und Friedhoff 2004 passim, insbes. S 108 f. 29 HZAN, Best. GL 30, Bü 23. 30 HZAN, Best. GL 30, Bü 62. 31 Schwennicke 1998 B, Tf. 155, und ADB 43 (1898), S. 180 – 195 (Gustav Lämmerhirt). 32 HZAN, Best. GL 30, Bü 62, Bü 67 und Bü 79, fol. 84. Hier kann nur Ludwig Friedrich Gf. v. Mörsberg (†1664), Sohn v. Georg Frhr. v. Mörsberg u.v. Dorothea Gfn. v. Gleichen, als Begünstigter angesehen werden; vgl. Schwennicke 1992, Tf. 105. 33 HZAN, Best. GL 30, Bü 79, fol. 84. 34 Vgl. zu den Grafen Kraft und Philipp Ernst Anm. 20 und 21. 35 JdA 1898, S. 533. 36 Zur Person: von Buttlar/von Baumbach 1888, Tf. v. Eschwege I.; zur Sache: HZAN, Best. GL 30, B 5, fol. 81 – 85. 37 von Buttlar/von Baumbach 1888, Tfn. Bodenhausen I und II. – Zur Sache wie Anm. 36. 38 HZAN, Best. GL 30, Bü 9, fol. 12, und B 5, fol. 81 – 85. 39 HZAN, Best. GL 30, Bü 79 und B 5, fol. 81 – 85. 40 Vgl. Anm. 31. 41 Wie Anm. 33.

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wahr.42 Grimms Sohn Johann Andreas tritt ab 1682 als Amtsschreiber auf;43 1690/93 wird er als Pächter bezeichnet, 1694 als Amtsverwalter.44,45 Im Jahr 1694 verkauften Grafen Wolfgang Julius (1622 – 1698)46 und Heinrich Friedrich von Hohenlohe (1625 – 1699)47 das Amt Krakendorf an Sebastian Graf von Hatzfeldt und Gleichen.48,49 Mit diesem Verkauf verabschiedete sich das Haus Hohenlohe endgültig aus dem Gebiet südlich von Weimar.50

3.

Die Obergrafschaft Gleichen (1621) 1631 – 1848 (1930)

Zu Anfang des 17. Jahrhunderts besaßen die Grafen von Gleichen neben Niederkranichfeld die als Ober- und Niedergrafschaft Gleichen bezeichneten Gebiete um Ohrdruf und bei Arnstadt, die Herrschaften Blankenhain, Ehrenstein, Remda und Tonna. Gleichwohl scheut sich die Forschung, von einer Grafschaft Gleichen zu sprechen, sondern verwendet stattdessen Bezeichnungen wie »die Länder der Grafen von Gleichen«.51 Seit Ende des 16. Jahrhunderts besaßen die Grafen auch die Grafschaften Pyrmont und Spiegelberg.52 Gleichwohl: Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts galten die Grafen von Gleichen zugleich als notorisch hoch verschuldet53 und im Fortbestand ihres Hauses im Mannesstamm gefährdet. Besonders Hans Ludwig Graf von Gleichen54 war um eine geregelte Erbfolge besorgt. So kam es zu verschiedenen Vereinbarungen. Die Erbverbrüderung Hans Ludwigs mit den Grafen Georg Friedrich (1569 – 1645)55, Kraft56 und Philipp Ernst von Hohenlohe57 von 1621 42 HZAN, Best. Archiv Langenburg – Obergrafschaft Gleichen (fortan HZAN, AL, O), Q 53 (Crackendorfische Sachen) Nrn. 6, 9, 11, 12, 19, und ThStA Gotha, Best. Hohenlohe gemeinschaftlich, Nr. 1620. 43 HZAN, Best. GL 30, Bü 229. 44 HZAN, Best. Neuensteiner Linienarchiv, Regierung Oehringen, Obergrafschaft Gleichen (jetzt Best. 35, fortan HZAN, Best. 35), Bü 235. 45 HZAN, AL, O, Q 53 (Crakendorfische Sachen) Nr. 17. 46 Stammtafeln 1979, Tf. 5, Schwennicke 1998 A, Tf. 6, und Fischer 1871, S. 188 – 223. 47 Stammtafeln 1979, Tfn. 5 und 7, und Schwennicke 1998 A, Tf. 8. 48 Schwennicke 1980, Tf. 115, und Friedhoff 2004, passim. 49 Zum Verkauf: HZAN, Best. GL 30, Bü 79, fol. 36, 52, 83 f. 50 Vgl. zur ernestinischen Politik im mittleren Thüringen, v. a. aber auch südlich Weimars, Facius 1941. 51 Facius 1941, S. 52 f., insbes. Anm. 1 c. 52 Köbler 2007, S. 221, 72, 257, 715, 544, 715, 756. 53 Vgl. zur Verschuldung der Grafen statt vieler Zeyss 1931. 54 Vgl. Anm. 23. 55 Stammtafeln 1979, Tf. 5, Schwennicke 1998 A, Tf. 6, und Fischer 1868, S. 188 – 230. 56 Vgl. Anm. 20. 57 Vgl. Anm. 21.

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wegen der Obergrafschaft Gleichen58, die durch den darauf bezogenen Lehnsbrief des Herzogs Johann Casimir von Sachsen-Coburg59 zusätzlich politisch legitimiert wurde, regelte letztendlich die hohenlohe’sche Erbfolge in Obergleichen, dem bedeutenderen Teil der dem Haus Gleichen bei seinem Erlöschen noch verbliebenen Länder. Herzog Johann Casimir stimmte 1623 der Erbverbrüderung zu.60 Beim Abschluss der Erbverbrüderung überschrieb Graf Hans Ludwig die Herrschaft Tonna einschließlich der Dörfer Pferdingsleben und Werningshausen seiner Frau, Gräfin Erdmuthe Juliane (1587 – 1633),61 als Wittum. Die Gräfin beanspruchte nach dem Tod ihrer Mannes das Wittum, aber noch 1631 kam es zu einem Vergleich der Gräfin mit Graf Kraft, nach dem diese beiden Dörfer Obergleichen zugeschlagen wurden.62 Schon ab 1629 traf Herzog Johann Casimir als Lehnsherr der Obergrafschaft Anweisungen zur Abwehr von Ansprüchen des Stifts Hersfeld und von Kurmainz beim zu erwartenden Tode des Grafen Hans Ludwig.63 Nachdem Hans Ludwig am 15. 1. 1631 verstorben war, begab sich Graf Kraft unverzüglich nach Ohrdruf, um Besitz von dem unter von ihm nie bestrittener Landeshoheit der Ernestiner stehenden Erbe zu ergreifen.64 Herzog Johann Casimir übertrug ihm dazu noch 1631 das »Direktorium« in der Obergrafschaft.65 Eine erste Erbhuldigung der neuen Untertanen gegenüber Graf Kraft und den Bevollmächtigten der Langenburger Grafen folgte.66 Ebenfalls noch 1631 belehnten die Herzöge Johann Casimir von SachsenCoburg und Johann Ernst von Sachsen-Eisenach67 die Grafen von Hohenlohe mit Obergleichen.68 1634 erfolgte nach dem Tod des Herzogs Johann Casimir die Belehnung der Hohenloher durch Herzog Johann Ernst von Sachsen-Eisenach, Johann Casimirs Erben.69 Nach Johann Ernsts Tod 1638 wurde 1642 durch die 58 HZAN, Best. GL 30, insbes. Bü 91. 59 Schwennicke 1998 B, Tf. 154, ADB 14 (1881), S. 369 – 372 (August Beck), NDB 10 (1974), S. 531 f. (Gerhard Heyl), und Facius 1941, passim. 60 HZAN, Best. GL 30, Bü 161, fol 5. 61 Schwennicke 2000, Tf. 102. 62 HZAN, Best. GL 30, Bü 90. 63 HZAN, Best. GL 30, Bü 92. 64 HZAN, Best. GL 30, Bü 97. 65 HZAN, Best. GL 30, Bü 136 und Bü 271. Das blieb seitens der Langenburger Linie nicht unbestritten; HZAN, Best. GL 30, Bü 272, und HZAN, AL, O, Q 45 – Q 17 Nr. 2 und Q 32. – Auch noch 1631 wurde Graf Kraft das Direktorium der Gothaischen Landschaft (Landtag) übertragen, eine Aufgabe, die vom Haus Hohenlohe bzw. dessen Bevollmächtigtem bis zum Ende der altständischen Verfassung 1848 wahrgenommen wurde; HZAN, Best. GL 30, Bü 136, und Adreßbuch Sachsen-Coburg und Gotha 1847, S. 76. 66 HZAN, Best. GL 30, Bü Bü 277. 67 Schwennicke 1998 B, Tf. 154. 68 HZAN, Best. GL 30, Bü 159. 69 HZAN, Best. GL 30, Bü 160 und 161, fol. 3.

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Herzöge Ernst. I., den Frommen, von Sachsen-Gotha,70 Wilhelm von SachsenWeimar71 und Albrecht von Sachsen-Eisenach72 den Grafen von Hohenlohe ein neuer Lehnsbrief für Obergleichen ausgestellt.73 Nach der sog. Grafen- und Herrenteilung von 165774 zwischen den Herzögen Ernst I. von Sachsen-Gotha und Wilhelm von Sachsen-Weimar war dann bis zum Ende der Feudalzeit der Herzog in Gotha Lehns- und bis 1918 auch Landesherr für die Obergrafschaft. Unstreitig zwischen den verschiedenen Linien des Hauses Hohenlohe war, dass der Besitz Obergleichens nach dem Eintritt des Erbfalls nach Graf Hans Ludwig den Linien Neuenstein und Langenburg zustand. Bald führte jedoch Streit zwischen beiden Linien dazu, dass man 1665 eine Realteilung vornahm, die Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha75 in einem Rezess bestätigte.76 Der neuensteinische Anteil fiel nach dem Tod von Graf Johann Ludwig (1625 – 1689)77 an Graf Johann Friedrich I. von Hohenlohe-Neuenstein-Oehringen (1617 – 1702).78 Diese Linie starb 1805 mit Fürst Ludwig Friedrich Karl (1723 – 1805)79 aus. In den Erbfolgestreitigkeiten nach dessen Tod konnten sich die Linien Langenburg und Kirchberg Obergleichen sichern, während der Besitz der ausgestorbenen Linie in den Stammlanden zusammen mit dem Liniennamen der bisherigen Linie Ingelfingen zufiel. Mit dem Aussterben der Kirchberger Linie 1861 kam der gesamte den Hohenlohern in Thüringen aus der Erbschaft von 1631 verbliebene Besitz an die Fürsten in Langenburg. Die Grafen und späteren Fürsten von Hohenlohe regierten Obergleichen in der Regel nicht persönlich von der Residenz Ohrdruf aus. Längere Aufenthalte dort von Mitgliedern der Familie sind relativ wenige überliefert, zunächst der von Graf Kraft, dann v. a. der von Graf Johann Friedrich I.,80 der zwischen 1639 und 1676 jahrelang in Ohrdruf residierte.81 Obergleichen bestand zur Zeit des Erbfalls von 1631 aus der Stadt Ohrdruf und vier Dörfern. Nach dem nach dem Erbfall zügig von Graf Kraft für die Hohenloher und der Gräfin-Witwe Erdmuthe Juliane geschlossenen Vergleich 70 Schwennicke 1998 B, Tfn. 155 und 158, ADB 6 (1877), S. 302 – 308 (August Beck), und NDB 4 (1959), S. 622 (Ulrich Heß). 71 Vgl. Anm. 31. 72 Schwennicke 1998 B, Tf. 155. 73 HZAN, Best. GL 30, Bü 162, fol. 19. 74 HZAN, Best. GL 30, Bü 163. 75 Vgl. Anm. 70. 76 Vgl. zu diesen Streitigkeiten HZAN, Best. GL 30, Bü 130–Bü 155, zur Teilung und zum Rezess von 1665 insbes. Bü 144–Bü 147. 77 Stammtafeln 1979, Tf. 5, und Schwennicke 1998 A, Tf. 6. 78 Stammtafeln 1979, Tf. 5, und Schwennicke 1998 A, Tf. 6 und 7, und Fischer 1871, S. 177 – 183. 79 Stammtafeln 1979, Tf. 5, und Schwennicke 1998 A, Tf. 7. 80 HZAN, Best. GL 30, Bü 273 – 276, 278. 81 HZAN, Best. GL 30, Bü 274 und Bü 275.

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kamen noch 1631 Pferdingsleben und Werningshausen hinzu. Angesichts der entfernten Lage Wernigshausens vom Kern Obergleichens bekam der Ort eine Sonderstellung und einen Vogt bzw. später Amtskommissar als gräflichen bzw. fürstlichen Verwaltungs- und Justizbeamten. Nach dem Tod von Hans Ludwig von Gleichen und dem Anfall Obergleichens an die Neuensteinische Hauptlinie des Hauses Hohenlohe, die zu der Zeit in die Linien Weikersheim (Graf Georg Friedrich82), Neuenstein (Graf Kraft83) und Langenburg (Graf Heinrich Friedrich84) zerfiel, kam es bald zum Streit auch über die Verwaltung der Obergrafschaft, v. a. zwischen den Linien Neuenstein und Langenburg.85 Dieser wurde zunächst mit dem sog. Döttinger Rezeß von 164386 gemildert87, dann 1661 durch Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha »beigelegt«88 und schließlich durch die Teilung von 166589 im wesentlichen auf Dauer aus der Welt geschafft. In geordnetere Bahnen kam die Verwaltung der Obergrafschaft90 jedoch erst mit der Kanzleiordnung von 1671.91 Es bestanden aber auch weiterhin eine Neuensteinische, eine Langenburgische und eine Gemeinschaftliche Kanzlei nebeneinander im gleichen Haus, wenn diese auch auf komplexe Art und Weise miteinander verwoben waren. Diesem unübersichtlichen System machte erst die Cantzley Combinations Constitution von 1764 ein Ende, die die Verwaltung der Obergrafschaft in einen zeitgerechten Stand setzte.92 In die Verwaltung der Obergrafschaft beriefen deren Inhaber fast ausschließlich aus dem thüringer Raum stammende Beamte. Das gilt für die Direktoren der Kanzlei in Ohrdruf und die dortigen Räte ebenso wie für die Amtmänner und Schössereibeamten und die Vögte bzw. Amtskommissare in Werningshausen. Auch unter den Pfarrern ist ein Austausch zwischen solchen aus den hohenlohe’schen Stammlanden und aus Obergleichen nicht feststellbar. Unter den hohen Beamten in Obergleichens in hohenlohe’scher Zeit sticht eine Persönlichkeit heraus: Martin Volkmar Schulthes (1629 – 1705). Schulthes 82 83 84 85 86 87 88 89 90

91 92

Vgl. Anm. 55. Vgl. Anm. 20. Vgl. Anm. 47. HZAN, Best. GL 30, Bü 130 – 147 und B 1, und HZAN, AL, O, Q 45 Q 31 – 35. HZAN, AL, O, Q 45 Q 63; vgl. auch HZAN, Best. GL 30, Bü 132, Bü 137 und Bü 293. 1644, also nach dem Döttinger Rezeß, wurde in Ohrdruf die Kanzlei Obergleichen errichtet; ThStA Gotha, Kanzlei Ohrdruf, Nr. 511. HZAN, Best. GL 30, Bü 138. HZAN, Best. GL 30, Bü 144 und B 1, S. 1 – 580. Vgl. zur Organisation der Verwaltung in der Obergrafschaft in den Jahren 1631 – 1848 HZAN, Best. GL 30, Bü 281 – 299, und Best. GL 35, Bü 285 – 304, HZAN, Archiv Kirchberg, Regierung: Obergrafschaft Gleichen (fortan HZAN, AK, R G), Bü 1 – 19, und HZAN, Best. La 100, Bü 1 – 33, sowie ThStA Gotha, Best. Hohenlohe gemeinschaftlich, passim, und Best. Kanzlei zu Ohrdruf, passim. HZAN, Best. GL 30, B 1 S. 599 – 611. Best. GL 35, Bü 300; Text auch in HZAN, AK, R G, Bü 5.

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war von 1671 bis 1694 Direktor der Kanzlei in Ohrdruf und von 1695 bis 1705 Kanzler und Konsistorialpräsident in Arnstadt.93 Er schuf sich in Thüringen und weit darüber hinaus ein staunenswertes, ihm außerordentlich hilfreiches Netzwerk und war ein Kanzleidirektor, wie es ihn in der Abfolge der Leiter der Kanzlei in Ohrdruf von 1631 bis 1848 nicht noch einmal gab. Mit dem Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit im Herzogtum Sachsen-Gotha wurde die Obergrafschaft am 1. 1. 1849 in allen hoheitlichen Beziehungen integraler Bestandteil des Staates Sachsen-Gotha. Das Haus Hohenlohe blieb Grundeigentümer, verlor aber alle hoheitlichen Befugnisse. Ab 1859 verhandelten die Fürsten von Hohenlohe mit dem Staat über einen Verkauf des Schlosses Ehrenstein in Ohrdruf, der dann 1870/71 zustande kam.94 1900/14 folgte im Zuge der Anlegung des Truppenübungsplatzes Ohrdruf der Kauf zweier hohenlohe’scher Domänen und weiterer großer Flächen durch den Reichsmilitärfiskus.95 Der Verkauf des restlichen, dem Haus in Obergleichen verbliebenen Grundeigentums erfolgte bis 1930.96 Die Kanzlei in Ohrdruf war mit dem Wegfall der letzten, feudalrechtlich begründeten Befugnisse der Fürsten von Hohenlohe in Obergleichen Ende 1848 geschlossen worden. Nun wurde auch das dortige Fürstlich hohenlohe-langenburgische Schössereiamt aufgehoben.97

4.

Die Herrschaft Oppurg 1782 – 1945

Im Jahr 1745 kaufte Julius Gebhard Graf von Hoym (1721 – 1769)98 von Detlev Heinrich Graf von Einsiedel (1698 – 1746)99 das Rittergut Oppurg100 samt Grünau und Crobitz.101 1752 erwarb er von drei Mitgliedern der Familie von Brandenstein weitere fünf Güter im Raum Oppurg.102 Mit diesem Zukauf arrondierte er

93 HZAN, AL, O, Q 45–Q 54 Nr. 74; ThStA Gotha, Best. Kanzlei Ohrdruf, Nr. 529; Best. Hohenlohe gemeinschaftlich, Nr. 1630; Lengemann 2006, S. 277 ff. (Nr. 277), und v. a. Rohrlach 1971, S. 215 f., insbes. Anm. 256 und 257. 94 HZAN, Best. La 100, Bü 457. 95 HZAN, Best. La 100, Bü 468. 96 HZAN, Best. La 100, Bü 472–Bü 476. 97 HZAN, Best. La 100, Bü 12. 98 Dedié 1907, S. 172 – 178, und nun v. a. Kraus 2001, passim, insbes. S. 22 – 32. 99 GHdA 66 (1977), S. 98, und GHN 1746, S. 680. 100 Vgl. zur Besitzgeschichte von Oppurg HZAN, Best. Oe 222, Dedié 1907 und QzGTh 6 1997, passim, insbes. S. 11 – 17 (Frank Boblenz) und S. 18 – 22 (Johannes Mötsch). 101 HZAN, Best. Oe 222, Bü 1137 und Bü 1138, und Dedié 1907, S. 173. 102 HZAN, Best. Oe 222, Bü 1140, Bü 1142, Bü 1155–Bü 1156 und Bü 1160–Bü 1163, und Dedié 1907, S. 171 f.

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Oppurg in einem solchen Maße, dass man ihn mit Gerlinde Kraus als »den eigentlichen Begründer der … Majoratsherrschaft« Oppurg bezeichnen kann.103 Zu dieser Herrschaft gehörte – bis 1815 unter sächsischer Landesherrschaft – der Ort Oppurg mit 18 Dörfern.104 Hier war der Graf Gerichtsherr. Unmittelbar nach Übernahme der Herrschaft errichtete er ein Patrimonialgericht, das ab 1752 auch für die durch die Zukäufe erworbenen Orte zuständig war. Der Graf und seine Nachfolger setzten auch weitere Beamte für die Verwaltung der Herrschaft ein, insbesondere Steuereinnehmer und Rentbeamte.105 1815/17 kam die Herrschaft zunächst ganz unter preußische Landeshoheit, danach mit Ausnahme von vier Orten, die preußisch blieben, an Sachsen-Weimar. 1818 wurde die Gerichtsverwaltung für diese vier Orte an preußische Beamte im Kreis Ziegenrück übertragen.106 Julius Gebhard Graf von Hoym war von Hause aus ein reicher Mann. Seine Familie besaß seit 1578 Droyßig, seit 1630 Burgscheidungen und ab 1692 Kirchscheidungen. Sein Großvater, Ludwig Gebhard I. Freiherr von Hoym (1631 – 1711)107, stand als sächsischer Kammerdirektor bei Kurfürst Johann Georg IV.108 in hohem Ansehen und verstand es, in dieser Zeit ein großes Vermögen zusammenzutragen. Ludwig Gebhards älterer Sohn, Adolf Magnus Graf von Hoym (1668 – 1723),109 erwarb sich als Kabinettsminister die besondere Gunst Augusts des Starken110, zumal er mit der Einführung einer den Adel nicht ausnehmenden General-Konsumtions-Akzise Voraussetzungen dafür schuf, dass dem stets geldhungrigen Hof große Geldmittel zuflossen. 1711 fühlte sich Hoym der Hofintrigen müde und erbat seine Verabschiedung. 1714 einigte er sich mit Jacob Heinrich Graf von Flemming (1667 – 1728)111 auf den Tausch der 103 Kraus 2001, S. 100. 104 Vgl. zur Territorialgeschichte der Herrschaft Oppurg detailliert QzGTh 6 1997, S. 14 – 17 (Frank Boblenz), und Kraus 2001, S. 101. 105 HZAN, Best. Oe 222, Bü 2074–Bü 2089. 106 HZAN, Best. Oe 222, Bü 2062 und Bü 2065, ThHStA Weimar, Best. Patrimonial- und provisorisches Justizamt Oppurg ([1601] 1707 – 1850), und QzGTh 6 1997, S. 16 f. (Frank Boblenz). 107 ADB 13 (1881), S. 218 f. (Heinrich Theodor Flathe im Artikel zur Familie Hoym), und Kraus 2001, S. 24 f. 108 Schwennicke 1998 B, Tf. 168, ADB 14 (1881) S. 384 ff. (Heinrich Theodor Flathe), und NDB 10 (1974), S. 527 f. (Karlheinz Blaschke). 109 Adolf Magnus v. Hoym heiratete in 1. Ehe Anna Constantia v. Brockdorff (1680 – 1765), die später als Gräfin Cosel und Maitresse en titre Augusts des Starken Berühmtheit erlangte; vgl. zu Adolf Magnus’ Vita ADB 13 (1881), S. 219 (Heinrich Theodor Flathe im Artikel zur Familie Hoym), und NDB 9 (1972), S. 670 f. (Alfons Perlick). 110 Als Kf. v. Sachsen Friedrich August I., als Kg. v. Polen und Großfst. v. Litauen August II; ADB 7 (1877), S. 781 – 784 (Heinrich Theodor Flathe), NDB 5 (1961), S. 572 f. (Hellmut Kretschmar). 111 ADB 7 (1877), S. 117 f. (Heinrich Theodor Flathe), NDB 5 (1961), S. 239 (Karlheinz Blaschke), und Vötsch 2014.

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Hohenlohe in Thüringen

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Güter Burg- und Kirchscheidungen gegen die in Oberschlesien gelegenen Herrschaften Slawentzitz und Birawa. 1717 zog er sich nach dort zurück und widmete sich dem Ausbau der ihm durch den Gütertausch mit zugefallenen Montanfabriken.112 Adolf Magnus blieb kinderlos. Erbe wurde sein jüngerer Bruder Ludwig Gebhard II. (1678 – 1738)113 und nach Ludwig Gebhards II. Tod dessen Sohn, Graf Julius Gebhard, der Käufer Oppurgs. Julius Gebhard war zweimal verheiratet. Die erste Ehe mit Marie Anna Gräfin von Brühl (1734 – 1753)114 war kurz und blieb kinderlos115 ; der zweiten, 1754 geschlossenen mit Christiane von Dieskau (1733 – 1811)116 entstammte ein Kind, Gräfin Marianne (1763 – 1840).117 Christiane Gräfin von Hoym, geb. von Dieskau, war eine ungewöhnlich unternehmerisch denkende und handelnde Frau mit großem Weitblick, die ihr ganzes erwachsenes Leben lang zugleich unternehmerisch, und das höchst erfolgreich, und sozial fürsorglich tätig war.118 Mit die Bewahrung und Mehrung des Hoymschen Erbes im Interesse ihrer Hohenlohe-Enkel lieferte sie den letzten Beweis ihrer Tüchtigkeit. 1771, zwei Jahre nach dem Tod des Grafen Julius Gebhard, heiratete sie in 2. Ehe Carl Graf von der Osten, gt. Sacken119, und wurde 1786 mit dessen Erhebung in den preußischen Fürstenstand selbst Fürstin.120 Graf Julius Gebhard passte wie seine Gemahlin nicht in das in Schlesien weit verbreitete Bild vom rücksichtslosen Ausbeuter-Grundherrn, der sich um das Wohl seiner Untertanen wenig kümmert. Gleichwohl konnte er energisch, ja robust handeln, wie zuletzt sein Testament vom 13. 11. 1769 beweist. Mit diesem Dokument von kaum mehr als einer Seite fegte er eine 1760 in 32 Paragraphen getroffene, fein ziselierte Erbfolgeanordnung vom Tisch, eine Regelung, die er allerdings drei Jahre vor der Geburt seiner Tochter getroffen hatte.121 Im neuen Testament setzte er Marianne zur Alleinerbin ein. Gleichzeitig verfügte er, dass seine Frau, Gräfin Christiane, nach seinem Tod allein die Vormundschaft Marianne führen solle.122 112 Die beste landeskundliche und politik- und wirtschaftsgeschichtliche Darstellung der Herrschaft bietet nach wie vor Muschol 1953. 113 Ersch/Gruber 1834, S. 283 f. 114 Schwennicke 2002, Tf. 54. 115 NGHN 1750, S. 212 f. 116 Vgl. zu ihrer Vita bahnbrechend Kraus 2001. 117 GHdA 1 (1951), S. 234, Stammtafeln 1979, Tf. 9, Schwennicke 1998 A, Tf. 12, Fischer 1871, passim, NDB 9 (1972), S. 489 (Gerhard Richter). Zum Vornamen von Gfn./Fstn. Marianne s. o. Anm. 9. 118 Kraus 2001, S. 66 – 75, insbes. S. 68 f. 119 GHdA 19 (1959), S. 528, und Wätjen 1992, S. 21, 23. 120 GHdA 19 (1959), S. 528 f.. 121 Kraus 2001, S. 22 f. 122 HZAN, Best. Oe 222, Bü 153; Text auch bei Kraus 2001, S. 23.

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Einen Tag nach der Abfassung dieses letzten Willens starb Graf Julius Gebhard in Dresden. Schon vorher hatte er Verhandlungen mit seinem jüngeren Bruder, Graf Gotthelf Adolf (1731 – 1783)123, eingeleitet. Nach dem Tod Julius Gebhards kam es deshalb schnell zu Vergleichen und Rezessen, nach denen Graf Gotthelf Adolf Droysig allein erhielt und der Rest bei der Erbin Julius Gebhards verblieb.124 Seinen testamentarischen Verfügungen entsprechend verwaltete seine Witwe über ihre Wiederverheiratung im Jahre 1771 hinaus auch die von Marianne geerbte Herrschaft Oppurg, ab 1777 von Berlin aus.125 Gräfin Marianne heiratete 1782 im 1757/59 neu erbauten Schloss des der Familie Hoym seit 1724 gehörenden Gut Gleina bei Freyburg an der Unstrut126 Erbprinz Friedrich Ludwig von Hohenlohe-Ingelfingen.127 In den Eheverträgen wurde festgelegt, dass Fürstin Christiane das Recht, das Erbe ihrer Tochter, »solange sie wollte«, zu verwalten, behalte. Der Erbprinz verpflichtete sich, seiner Schwiegermutter in der Verwaltung der Herrschaften freie Hand zu lassen, und dieselben nicht mit Schulden zu beschweren, damit sie »zum Flor beiderseitiger künftiger Deszendenz beisammen erhalten werden«, wie es Adolf Fischer mit einem Zitat aus dem Ehevertrag formulierte.128 Mariannes Ehe sollte lang, aber doch nicht von Dauer sein. Sie scheiterte nach 17 Jahren und acht zwischen 1784 und 1798 geborenen Kindern. Fürstin Marianne »verließ [das fürstliche Haus]«; im Spätjahr 1799 erfolgte die »Trennung«.129 Unmittelbar nach der Trennung Mariannes von Friederich Ludwig wurden unter Federführung ihrer Mutter die Familienverhältnisse neu geordnet. Das geschah in einem als Transakt bezeichneten Vertragswerk vom 9. 11. 1799.130 Ob die Fürstin Christiane nun tatsächlich ihre Tochter, wie Gerlinde Kraus meint, zwang, diesem Vertrag zuzustimmen131 oder ob diese Regelung in eher normalfamiliären Formen getroffen wurde: dieser Vertrag wurde zu einem Grundgesetz für das Haus Hohenlohe-Ingelfingen-Oehringen. Er bestimmte, dass die Mutter weiter die Verwaltung der Hoym’schen Erbschaft behielt, Marianne auf ihr Alleinerbrecht zugunsten ihres Sohnes August Erbprinz von Hohenlohe-Ingel-

123 124 125 126 127 128 129

Ersch/Gruber 1834, S. 284, und Kraus 2001, S. 316. HZAN, Best. Oe 222, Bü 96 – 110, und Dedié 1907, S. 178. HZAN, Best. Oe 222, Bü 173, und Kraus 2001, S. 45. Vgl. zu Gut Gleina und seinen Eigentümern Ersch/Gruber 1834, S. 283 f. Vgl. Anm. 8. Fischer 1871, S. 290. Fischer 1871, S. 314 ff. und zu Mariannes Vita NND 1842, S. 484 f. (Nr. 154 Friedrich Brüssow) und Wätjen 1992, S. 23, 85. 130 HZNA, Partikulararchiv Öhringen (Best. Oe 10), K 2 F 7. 131 Kraus 2001, S. 41.

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fingen (1784 – 1853)132 verzichtete und dafür eine jährliche Rente bekam. Oppurg wurde Teil des mit dem Transakt begründeten Fürstlich Hohenlohe’schen Schlesisch-Sächsischen Familien-Fideikommisses.133 Damit ebnete dies Vertragswerk auch den Weg zu Mariannes Scheidung von Friedrich Ludwig von Hohenlohe am 1. 9. 1801 und zu deren noch im selben Jahr an unbekanntem Ort folgenden Eheschließung mit Friedrich Graf von der Osten, gt. Sacken (1778 – 1861).134 Mit dem Transakt und dem Verzicht Mariannes auf ihr Alleinerbrecht wurden Christiane Fürstin Sacken und ihre Tochter die zentralen Figuren, die den dauernden Besitz des Hauses Hohenlohe an der Herrschaft Oppurg in Thüringen und der Herrschaft Slawentzitz begründeten. Der Transakt bildete den bis 1945 tragfähigen Grundstein für das großindustrielle Wirken des Hauses Hohenlohe in Oberschlesien wie auch für das unbestrittene Ausüben der majoratsherrlichen Funktionen und dann von Eigentumsrechten der Hohenloher in der Herrschaft Oppurg. Nach dem Tode der Fürstin Christiane im Jahr 1811 übernahm deren Enkel, Mariannes Sohn, Fürst August, der 1806 noch kurz vor Inkrafttreten der Mediatisierung seinem Vater, der deswegen abgedankt hatte, als Fürst von Hohenlohe-Oehringen folgte, auch die Verwaltung des Hoym’schen Erbes. Marianne blieb bis 1828 de jure Herrin von Oppurg, das sie de facto ihr Leben lang nie verwaltete. 1828 erfolgte Augusts Belehnung mit Oppurg.135 Schon vor dem Wirksamwerden des Gesetzes über die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit in Sachsen-Weimar-Eisenach136 am 1. 7. 1850 trat Fürst August 1848 die Kriminalgerichtsbarkeit für die oppurgischen Orte und mit Wirkung vom 1. 1. 1849 auch die Zivilgerichtsbarkeit an den Staat ab.137 Damit kamen die letzten hoheitlichen Rechte in der Herrschaft Oppurg an den Staat. Das Haus Hohenlohe blieb nur noch Grundeigentümer. Fürst August resignierte 1848. Die Abdankung wurde zum Jahreswechsel 1848/49 wirksam. In Oppurg, in den schlesischen Herrschaften und als Standesherr in den Stammlanden folgte Fürst Hugo von Hohenlohe-Oehringen, ab 1861 auch Herzog von Ujest (1816 – 1897),138 seinem Vater. Er wie sein ältester

132 Stammtafeln 1979, Tf. 9, Schwennicke 1998 A, Tf. 12, GHdA 1 (1951), S. 234, Fischer 1871, passim), und Raberg 2001, S. 386. 133 Dedié 1907, S. 179, und QzGTh; 6 1997, S. 21 (Johannes Mötsch). 134 Wätjen 1992, S. 85. 135 Dedié 1907, S. 179, und QzGTh 6 1997, S. 21 (Johannes Mötsch). 136 Sammlung Großherzogl. S.-Weimar-Eisenachischer Gesetze, Verordnungen und Circularbefehle … . 10. Bd. Eisenach 1854, S. 296 f. 137 RegBl. Sachsen-Weimar-Eisenach 1848, S. 390 f., und QzGTh; 6 1997, S. 121. 138 Stammtafeln 1979, Tf. 9, Schwennicke 1998 A, Tf. 12, GHdA 1 (1951, S. 234, NDB 9 (1972, S. 492 (Alfons Perlick), und Raberg 2001, S. 387 f.

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Sohn und kinderloser Nachfolger, Fürst Christian Kraft (1848 – 1926)139, einer der phantasiereichsten und mächtigsten deutschen Industriellen im ersten Viertel des 20. Jahrhundert, »der reichste Mann nach dem Kaiser«, vergrößerten Oppurg mit Zukäufen beachtlicher land- und forstwirtschaftlicher Flächen. Christian Kraft ließ auch Schloss Oppurg wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen und in alt-neuem Glanz erstrahlen. Auf ihn folgte sein jüngerer Bruder Fürst Hans (1858 – 1945)140, als Inhaber auch der zunächst weiter so genannten Herrschaft Oppurg. Nach Christian Krafts Tod musste 1926/27 das FamilienFideikommiss auf Grund der nachrevolutionären Gesetze von 1919/20 aufgelöst werden. An seine Stelle trat mit Beschlüssen des Thüringischen Auflösungsamts für Familiengüter 1927 eine Waldstiftung und die Hans Fürst zu HohenloheOehringische Stiftung Slawentzitz-Ujest-Oppurg.141 Fürst Hans wurde Hauptnutzungsberechtigter der Stiftungen. Nachdem er die schlesischen Besitzungen, wo seit 1849/50 der Hauptsitz der Familie lag, gegen Ende des 2. Weltkrieges hatte verlassen müssen, starb er am 24. 4. 1945 in Oppurg. Ihm folgte sein Sohn, Fürst August (1890 – 1962),142 der 1945 auch in Oppurg lebte. Im Rahmen der sog. Bodenreform wurde der gesamte Hohenlohe’sche Besitz in Thüringen enteignet. Fürst August wurde verhaftet, konnte jedoch noch 1945 nach Neuenstein kommen, wo er bis zu seinem Tod 1962 lebte. Das Herrschafts- und Gutsarchiv, das sich in Schloss Oppurg über Jahrhunderte angesammelt hatte, befand sich dort nach 1945 in einem erbärmlichem Zustand, zerfleddert und verdreckt, auf dem Fußboden liegend. 1948 wurde es ins Landesarchiv Rudolstadt überführt, 1962 ins Staatsarchiv nach Weimar, wo es als Bestand Rittergut Oppurg neu geordnet und verzeichnet wurde. Diese Archivalien wurden der Familie Hohenlohe-Oehringen restituiert und 2012 ins Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein überführt, wo sie heute den Bestand Oe 222 bilden.

139 Stammtafeln 1979, Tf. 9, Schwennicke 1998 A, Tf. 13, NDB 9 (1972, S. 489 (Alfons Perlick), Raberg 2001, S. 387 f., und Stalmann 2013 B. 140 Stammtafeln 1979, Tfn. 9 und 10, Schwennicke 1998 A, Tf. 13, und GHdA 1 (1951), S. 235. 141 HZAN, Best. La 100, Bü 11, und ThHStA Weimar, Best. Thüringisches Finanzministerium, Nr. 4685. 142 Stammtafeln 1979, Tf., Schwennicke 1998 A, Tf. 13, und GHdA 1 (1951), S. 235, und 149 (2011), S. 194 f.

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Hohenlohe in Thüringen

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Das Amt Herbsleben (1828) 1830 – 1907

Im Jahr 1823 verkaufte Finanzrat Johannes Menz143 das ihm erst wenige Jahre gehörende Amt und Rittergut Herbsleben an Viktor Amadeus Landgraf von Hessen-Rotenburg, Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey (1779 – 1834).144 Ab 1828 bewirtschaftete Franz Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1787 – 1841)145 das Gut als Pächter.146 Franz war der Ehemann von Constanze Prinzessin von Hohenlohe-Langenburg (1792 – 1847)147. Deren Schwester, Prinzessin Elise (1790 – 1830)148, war mit Viktor Amadeus verheiratet. 1830 schenkte der Landgraf Amt und Gut seiner Schwägerin. Nach Constanzes Tod 1847 fiel Herbsleben an ihren Sohn Viktor I. Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, Prinz von Hohenlohe-Schillingsfürst (1818 – 1893).149 Ihm folgte 1893 Herzog Viktor II. (1847 – 1923).150 Mit dem Übergang Herbslebens an das Haus Hohenlohe im Jahre 1830 wurden die hier als Amtsgerichte bezeichneten Patrimonialgerichte Fürstlich hohenlohe’sche Amtsgerichte. Zum 1. 1. 1844 erfolgte die Vereinigung der Verwaltung und Justiz im Amtskommissariat Wernigshausen mit den Herbsleber Gerichten. Im September 1848 wurden die Amtsgerichte Herbsleben verstaatlicht. Damit verlor das Haus Hohenlohe-Ratibor seine dortigen hoheitlichen Befugnisse und blieb lediglich privater Eigentümer. Im Jahr 1907 verkaufte Herzog Viktor II. das Schloß, das 1958 abgerissen wurde.151

6.

Die Ganerbschaft Treffurt 1834 – 1864/66

Mit Testamenten von 1825 und 1830 setzte Viktor Amadeus Landgraf von Hessen-Rotenburg152 seine Neffen, die Prinzen Viktor153 und Chlodwig (1819 – 143 Lengemann 1991, S. 162, und http://www.maler-kempf.de/wbk/M6.html [Stand: 14. 02. 2014]. 144 Schwennicke 1999, Tf. 247, Franz 2012, S. 225 f. (Uta Löwenstein), und GHdA 84 (1984), S. 304. 145 Stammtafeln 1979, Tf. 16, und Schwennicke 1998 A, Tfn. 19, 21, und Fischer 1866, S. 168 f. 146 Zeyss 1873, S. 183. 147 Stammtafeln 1979, Tf. 16, und Schwennicke 1998 A, Tfn. 9, 19, 21. 148 Stammtafeln 1979, Tf. 7, Schwennicke 1998 A, Tfn. 9, 19, 21, Schwennicke 1999, Tf. 247, und Franz 2012, S. 225 f. (Uta Löwenstein). 149 Stammtafeln 1979, Tf. 16 , und Schwennicke 1998 A, Tf. 21, und NDB 21 (2003), S. 181 f. (Hartwin Spenkuch). 150 Stammtafeln 1979, Tf. 16, und Schwennicke 1998 A, Tf. 21. 151 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Schlossruine_Herbsleben [Stand: 14. 02. 2014]. 152 Vgl. Anm. 144. 153 Vgl. Anm. 150.

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1901)154 von Hohenlohe-Schillingsfürst, unter der Bedingung, dass sie dafür zu Gunsten ihres jüngeren Bruders Philipp Ernst (1820 – 1845)155 auf ihr Erbe in den hohenlohe’schen Stammlanden verzichten sollten, in seinen Besitzungen in Westfalen, Schlesien und Sachsen/Thüringen zu Erben ein. Die Familie Hohenlohe-Schillingsfürst nahm für die beim Erbfall 1834 noch nicht volljährigen Prinzen das Erbe an. Nach Verzichten der Prinzen Viktor und Chlodwig folgte deren jüngerer Bruder 1841 als Philipp Ernst I. seinem Vater, Fürst Franz156, als Standesherr in Schillingsfürst. Viktor trat mit dem Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 1840 mit dem Titel Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, Prinz von Hohenlohe-Schillingsfürst, die Herrschaft im Mediat-Herzogtum Ratibor in Schlesien an. Chlodwig Prinz von Hohenlohe-Schillingsfürst, von Ratibor und Corvey, der spätere Reichskanzler, wurde im gleichen Jahr Inhaber eines zweiten von Viktor Amadeus gestifteten Majorats und damit Herr auf Treffurt.157 Da die Ganerbschaft Treffurt schon 1802 im Königreich Preußen, unterbrochen nur 1807/1813 von ihrer Zugehörigkeit zum Königreich Westphalen, aufgegangen war, erwarb Chlodwig mit Treffurt nur privatrechtliches Eigentum. Zum von ihm Ererbten gehörten u. a. das Fürstliche Gut Treffurt, das Rittergut Höngeda, Rechte am Sächsischen Hof in Treffurt und in der Vogtei Dorla und Patronatsrechte in Treffurt und weiteren drei Gemeinden. Chlodwig richtete in Treffurt eine Fürstliche Renterei ein, kümmerte sich, wie die gute Überlieferung in seinem Nachlass im Bundesarchiv Koblenz wie im Thüringischen Staatsarchiv Gotha und im Hohenlohe-Zentralarchiv belegt, über 25 Jahre lang persönlich intensiv um Treffurt.158 1840 kaufte er die Burgruine Normannstein oberhalb Treffurts, die er 1842 bis 1844 aufwendig wiederherstellen ließ, und noch 1860 den Mainzer Hof in Treffurt.159 Der plötzliche Abschied Fürst Chlodwigs von Treffurt in den Jahren 1861 bis 1866 lässt sich nur mit seinem gesteigerten Engagement in der bayerischen Politik erklären, wo er seit der Übernahme der Regentschaft in Preußen durch Prinz Wilhelm 1858 und in Erwartung einer offeneren preußischen Deutschlandpolitik als bayerischer Ministerpräsident ins Gespräch kam.160 Jedenfalls verkaufte er die Herrschaft Treffurt in den Jahren 1864/66 an mehrere Käufer.161 154 155 156 157 158 159 160 161

Stammtafeln 1979, Tf. 16, und Schwennicke 1998 A, Tf. 21. Stammtafeln 1979, Tf. 16, und Schwennicke 1998 A, Tf. 21. Vgl. Anm. 145. Stammtafeln 1979, Tf. 16, GHdA 84 (1984), S. 304 f., und Stalmann 2009, S. 36 f. – Chlodwig wurde nach dem Tod von Fürst Philipp Ernst I. unter Verzicht auf Corvey 1845 selbst Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst. BA Koblenz, Best. N 1007, Nr. 711 – 743, ThStA Gotha, Best. Fstl. Hohenlohische Renterei Treffurt, Nr. 1 – 185, und HZNA, Best. Sf 85. ThStA Gotha, Best. Fstl. Hohenlohische Renterei Treffurt, Nrn. 79, 118, 119. Stalmann 2009, S. 60 f. – Chlodwig wurde erst 1866 bayerischer Ministerpräsident. Auskunft des HZAN (Dr. Simon Karzel).

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Hohenlohe in Thüringen

Auch der Normannstein kam an einen privaten Eigentümer. Heute gehört die Burg der Stadt Treffurt. * Das Haus Hohenlohe ist in Mitteldeutschland kein wirkungsmächtiger politischer oder wirtschaftlicher Player mehr. Bleibt von fast 350 Hohenlohe-Jahren in Thüringen mehr als der hohenlohe’sche Wappenstein an der Hofseite des Westtors von Schloß Ehrenstein und die Hohenlohe Straße in Ohrdruf ? Jedenfalls erinnert man sich in Ohrdruf noch so gut an die hohenlohe’sche Zeit, dass zu größeren städtischen Festen Vertreter aus Neuenstein eingeladen wurden. Auch der Familienverband des Hauses Hohenlohe traf sich schon einmal Anfang September 1999 in der Grafschaft Obergleichen zu seinem 9. Familientag, dem ersten außerhalb der Stammlande der Familie.162 Und: das der Familie restituierte Archiv mit dem in Thüringen erwachsenen Bestand von hohenlohe’schen Akten zu Obergleichen, Niederkranichfeld und Krakendorf steht nach Zwischenschaltung der Stiftung Weimarer Klassik als deren Depositum im Thüringischen Staatsarchiv Gotha dauernd der Nutzung für die Forschung offen.

Siglenverzeichnis, zugleich auch Verzeichnis der benutzten Literatur ADB – Allgemeine Deutsche Biographie. 56 Bde. Leipzig 1875 – 1912. Böttcher 1957 – Böttcher, Julius: Die Geschichte Ohrdrufs. III. Teil: Ohrdruf, die Hauptstadt der Grafschaft Obergleichen, befreit sich von der Fürstlich Hohenlohische Regierung (1650 – 1850). Ohrdruf 1957. von Buttlar/von Baumbach 1888 – von Buttlar-Elberberg, Rudolf, und Karl von Baumbach: Stammbuch der althessischen Ritterschaft, enthaltend die Stammtafelns der im ehemaligen Kurfürstenthum Hessen ansässigen zur althessischen Ritterschaft gehörigen Geschlechter. Kassel/Wolfhagen 1888. Dedié 1907 – Dedié, Friedrich: Oppurg und seine Besitzer im Laufe der Jahrhunderte. Als Manuskript gedruckt. Weimar 1907. Ersch/Gruber 1834 – Ersch, J[ohann] S[amuel], und J[ohann] G[ottfried] Gruber : Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Zweite Section H–N. 11. Theil. Leipzig 1834. Facius 1941 – Facius, Friedrich: Die Herrschaften Blankenhain und Kranichfeld in der ernestinischen Politik vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. In: ZVTGA 43 (N.F. 35) (1941), S. 49 – 99. 162 Hinweis von S.D. Friedrich Karl Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg.

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Jochen Lengemann

Fischer 1866 – Fischer, Adolf: Geschichte des Hauses Hohenlohe. Zunächst als Leitfaden beim Unterricht, in hohem Auftrag entworfen und den Prinzen und Prinzessinnen des durchlauchtigsten Gesammthauses gewidmet. 2 Teile in 3 Bänden. (Nachdruck als Veröffentlichung zur Ortsgeschichte und Heimatkunde in Württembergisch Franken; 2. Schwäbisch Hall 1991) Tl. 1: [Stuttgart] 1866. Fischer 1868 – Fischer dto. Tl. 2.1: [Stuttgart] 1868. Fischer 1871 – Fischer dto. Tl. 2.2: [Stuttgart] 1871. Franz 2012 – Franz, Eckhart G. (Hrsg.): Haus Hessen. Biografisches Lexikon. (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission; N.F. 34). Darmstadt 2012. Friedhoff 2004 – Friedhoff, Jens: Die Familie von Hatzfeldt. Adelige Wohnkultur und Lebensführung zwischen Renaissance und Barock. (Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e.V. – Schriften; 1). Düesseldorf 2004. GHN 1746 – Genealogisch-historische Nachrichten von den Allerneuesten Begebenheiten, welche sich an den Europäischen Höfen zugetragen, worinn zugleich Vieler StandesPersonen und anderer Berühmter Leute Lebens-Beschreibungen vorkommen. (Genealog. Histor. Archivarius; 28). Leipzig 1746. GHdA – Genealogisches Handbuch des Adels. Bde. 1 – 18: Glücksburg 1951 – 1959; Bde. 19 – 155: Limburg 1959 – 2014. Hannig/Winkelhofer-Thyri 2013 – Hannig, Alma, und Martina WinkelhoferThyri (Hrsg.): Die Familie Hohenlohe. Eine europäische Dynastie im 19. und 20. Jahrhundert. Köln 2013. Hohenlohe 1983 – Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg, Friedrich Karl: Hohenlohe. Bilder aus der Geschichte von Haus und Land. 4., neugefaßte Aufl. Öhringen 1983. JdA – Jahrbuch des Deutschen Adels. 3 Bde. Berlin 1896 – 1899. Köbler 2007 – Köbler, Gerhard: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 7., vollst. überarb. Aufl. München 2007. Kraus 2001 – Kraus, Gerlinde: Christiane Fürstin von der Osten-Sacken. Eine frühkapitalistische Unternehmerin und ihre Erben während der Frühindustrialisierung im 18./19. Jahrhundert. (Beiträge zur Unternehmensgeschichte; 10). Stuttgart 2001. Lengemann 1991 – Lengemann, Jochen: Parlamente in Hessen 1808 – 1813. Biographisches Handbuch der Reichsstände des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt. (Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen; 7). Frankfurt am Main 1991. Lengemann 2006 – Lengemann, Jochen: Schulthes, Martin Volkmar. In: Lebenswege in Thüringen. Thüringer Biographisches Lexikon (ThBL). 3. Sammlung. Hrsg. von Felicitas Marwinski. (ZVTG; Beiheft 36). Weimar 2006, S. 277 ff. (Nr. 277). Muschol 1993 – Muschol, Bernhard: Die Herrschaft Slawentzitz/Ehrenforst in Oberschlesien. (Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Oberschlesiens; 3). Sigmaringen 1993. NDB – Neue Deutsche Biographie. [Bisher] 25 Bde. Berlin [bis 1990: Berlin (West)] 1953 – 2013. NGHN 1750 – Neue Genealogisch-Historische Nachrichten von den Vornehmsten Begebenheiten, welche sich an Europäischen Hoefen zugetragen, worinn zugleich Vieler Stands-Personen Lebens-Beschreibungen vorkommen. Der 1. Theil. Leipzig 1750.

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Hohenlohe in Thüringen

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NND 1842 – Neuer Nekrolog der Deutschen, 18. Jg. (1840). Weimar 1842. QzGTh 6 1997 – … zum rechten Mannlehen gereicht und geliehen. Feudale Strukturen in der Herrschaft Oppurg vom Ende des Mittelalters bis zum 19. Jahrhundert. (Quellen zur Geschichte Thüringens; 6). Erfurt 1997. Raberg 2001 – Raberg, Frank: Biographisches Handbuch der württembergischen Landtagsabgeordneten 1815 – 1933. (Veröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg). Stuttgart 2001. Remda 1926 – Aus der Geschichte Remdas. Gf. Karl III. v. Gleichen, Herr zu Blankenhain und Kranichfeld, Ehrenstein und Remda. In: Schwarzburgbote. Blätter für Thüringer Geschichte und Heimatkunde. Beilage zur Landeszeitung für Schwarzburg-Rudolstadt und angrenzende Gebiete Nr. 21, 20. 6. 1926. Rohrlach, Peter P.: Hofpfalzgrafen-Register Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen 1691 – 1806. In: Hofpfalzgrafen-Register. Gesamtbearbeitung: Jürgen Arndt. Bd. II. Neustadt an der Aisch 1971. Saggitarius 1773 – Saggitarius, Caspar : Geschichte der Thüringischen Herrschaften Ober- und Nieder Kranichfeld. In: Sammlung vermischter Schriften zur sächsischen Geschichte. Bd. 8. Chemnitz 1773. Schwennicke 1992 – Schwennicke, Detlev : Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Bd. 12. Frankfurt am Main 1992. Schwennicke 1998 A – Schwennicke, Detlev : Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Bd. 17. Frankfurt am Main 1998. Schwennicke 1998 B – Schwennicke, Detlev: Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Bd. 1.1 Frankfurt am Main 1998. Schwennicke 1999 – Schwennicke, Detlev : Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Bd. 1.2. Frankfurt am Main 1999. Schwennicke 2000 – Schwennicke, Detlev : Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Bd. 19. Frankfurt am Main 2000. Schwennicke 2002 – Schwennicke, Detlev : Europäische Stammtafeln. Neue Folge, Bd. 21. Frankfurt am Main 2002. Stalmann 2009 – Stalmann, Volker : Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst 1819 – 1901. Ein deutscher Reichskanzler. Paderborn 2009. Stalmann 2013 A – Stalmann, Volker : Die Familie Hohenlohe – ein geschichtlicher Überblick. In: Hannig/Winkelhofer-Thyri 2013, S. [11]–48. Stalmann 2013 B – Stalmann, Volker : Fürst Christian Kraft zu Hohenlohe-Öhringen (1848 – 1926). »Leben wie Lukull«. In: Hannig/Winkelhofer-Thyri 2013, S. 356 – 373. Stammtafeln 1979 – Stammtafeln des Fürstlichen Hauses Hohenlohe. Hrsg. vom Familienverband des Fürstlichen Hauses Hohenlohe. Öhringen 1979. Tiggesbäumker 2012 – Tiggesbäumker Günter : Das Herzogliche Haus Ratibor und Corvey. (Deutsche Fürstenhäuser ; 5). 7. Aufl., erw. Aufl. Werl 2012. Vötsch 2014 – Vötsch, Jochen: Graf von Flemming, Jacob Heinrich. In: Sächsische Biographie. Hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. v. Martina Schattkowsky (http://www.isgv.de/saebi/ [Stand: 14. 02. 2014]). Wätjen 1992 – Wätjen, Hans: Geschichte des kurländischen Geschlechts von der OstenSacken 1381 – 1991. Bremen 1992. Zeyss 1873 – Zeyss, Heinrich: Geschichte des Marktfleckens Herbleben. Gotha 1873.

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Jochen Lengemann

Zeyss 1931 – Zeyss, Edwin: Beiträge zur Geschichte der Grafen von Gleichen und ihres Gebietes. Gotha 1931.

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Uwe Schirmer

Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500 – 1800)

1.

Vorbemerkungen

In vorindustrieller Zeit spiegelt das Auf und Ab der Bevölkerungszahlen die wirtschaftliche Entwicklung sowie die verfassungsrechtlichen Verhältnisse einzelner Regionen signifikant wider. Die Bevölkerungsentwicklung steht in einem vielschichtigen Gefüge von Ursachen und Wirkungen. Möglichkeiten einer ausreichenden Ernährung, Aussichten auf eine langfristige Beschäftigung, geringe Einschränkungen hinsichtlich der sozialen und regionalen Mobilität sowie vor allem Freizügigkeiten bei Familiengründungen fördern im Allgemeinen den Bevölkerungsgang. Ressourcenverknappung, Ernährungsmangel und Hunger, Epidemien und Kriege, schlechte hygienische Bedingungen, eine ungenügende Nachfrage nach Arbeitskräften oder rigide Heiratsbeschränkungen stehen einem Wachstum entgegen. Obwohl Bevölkerungszunahme nicht automatisch eine höhere Nachfrage nach gewerblichen Produkten zur Folge haben muss, kann ein stetiges Anwachsen der Bevölkerung – gefördert durch günstige Rahmenbedingungen – durchaus mit zu einem ökonomischen, sozialstrukturellen und gegebenenfalls auch politisch-sozialen Wandel beitragen. Es ist eine Binsenweisheit, dass Industrialisierung und Urbanisierung von einem dauerhaften Bevölkerungswachstum seit Beginn des 19. Jahrhunderts getragen und begleitet worden sind.1 Überschaut man hingegen die Zeit zwischen dem 16. und dem beginnenden 19. Jahrhundert, so muss festgestellt werden, dass das ökonomisch-ökologische System beständig an seine Grenzen stieß. Ein relativ sicherer Indikator dafür ist 1 Andreas Weigel: Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Köln et al. 2012; Christian Pfister : Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie: 1500 – 1800 (EDG, Bd. 28) München 1994; Peter Marschalck: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1984, S. 16 – 26; Wolfgang Köllmann: Bevölkerungsgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Bd. 2. Handlungsräume des Menschen in der Geschichte. Göttingen 1986, S. 9 – 31, hier S. 14 f., 20.

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Uwe Schirmer

der Getreidepreis, insbesondere der des Brotgetreides. Die kräftigen Kornpreisausschläge auf den mitteldeutschen Märkten der Jahre 1571 – 1573, 1575, 1579/80, 1586, 1590/91, 1597, 1600, 1610 – 1612, 1614 – 1616, 1661/62, 1675, 1684, 1693/94, 1698/99, 1712 – 1714, 1724, 1726, 1736/37 und 1739/40 dokumentieren signifikant die Abhängigkeit der Bevölkerung in den Städten und in den Gewerberevieren vom Agrarsektor.2 Die Malthusianische Falle drohte fortwährend zuzuschnappen. Vorrangig gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts sowie größtenteils im 18. Jahrhundert produzierte die Landwirtschaft nur mit Mühe jene Agrargüter, welche die Menschen in den Städten und großen Gewerberevieren benötigten. Eine Folge der Verknappung und somit auch der Verteuerung war eine Verarmung der Kost. Vor allem jene Menschen, die permanent auf den Nahrungsmittelmarkt angewiesen waren, kauften mit ihrem verfügbaren Einkommen so viele Kohlenhydrate wie möglich und nur so viel Eiweiß als nötig. Der Ernährungswandel setzte im Laufe des 16. Jahrhunderts ein und beschränkte sich nicht allein auf die tägliche Kost, sondern ebenfalls auf Wein und Bier.3 Preiswerte Biere wurden immer stärker nachgefragt als der relativ teure Wein. Dies erklärt zugleich, dass die Kontraktion der Weinanbaugebiete gegen Ende des 16. Jahrhunderts – wie beispielsweise in Jena – nicht allein mit dem Klimawandel zu erklären ist, sondern auch mit Veränderungen innerhalb des demographischökologisch-ökonomischen Systems.4 Neben dem Angebot und der Nachfrage nach Nahrungsmitteln kommt aber auch dem Transportwesen hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung Bedeutung zu. Jedoch gründete sich der Landwarenhandel ebenfalls auf Energieträger, welche die Landwirtschaft produziert hat. Fast fortwährend wurden die Fuhrunternehmen mit steigenden Haferpreisen konfrontiert, so dass sie ihren Aufgaben nur noch leidlich nachkommen konnten. In welchem Maße steigende Getreidepreise den Warenverkehr zu Lande negativ beeinflusst haben, mögen zwei Beispiele aus dem 16. Jahrhundert illustrieren. So begründete im Jahr 1515 der Schösser von Grimma die gefallenen Geleitseinnahmen mit dem Argument, dass viele Fuhrleute aufgrund des stark

2 Uwe Schirmer : Die wirtschaftlichen Wechsellagen im mitteldeutschen Raum (1480 – 1806), in: Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festgabe für Manfred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag, hrsg. im Auftrag des Leipziger Geschichtsvereins von Hartmut Zwahr et al., Beucha 2000, S. 293 – 330. 3 Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg et al. 1978, S. 104 – 107; Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1986, S. 46 – 54. 4 Gebhard Falk: Der Jenaer Weinbau. Ergänzt und hrsg. von Karsten Kirsch und Wolfram Proppe, Erfurt 2013, S. 58 – 63.

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Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500 – 1800)

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angestiegenen Haferpreises ausgespannt haben.5 Die gestiegenen Energiekosten, etwas anderes war der Futterhafer letztlich nicht, ließen den Warentransport übers Land unrentabel werden. Noch deutlicher formulierte es der Erfurter Geleitsmann, der den Rückgang der Geleitseinnahmen im Rechnungsjahr 1561/ 62 zu erklären suchte. Auch er führte die gestiegenen Transportkosten (»teure Zehrung«) an: »Das dies jhar das glaitt zu Erfurt umb 167 fl. 16 gr gefallen, ist diese ursach, das das dürre fisch wergk und flachs, auch die Antorffer güter, der theuern zcerung halben, die fhurleut nicht fortbringen konnen und wollen.«6

Das dürre Fischwerk, also vorrangig getrockneter Kabeljau, brachten die Fuhrleute aus Lübeck, Stettin oder Danzig heran. Die Palette der Antwerpener Handelsgüter war sehr vielfältig, vorrangig war es jedoch Tuch. Den Flachs schafften die Fuhrleute hauptsächlich aus dem Baltikum herbei, er wurde in den mitteldeutschen Textilrevieren verarbeitet. Die beiläufigen Anmerkungen zum Warenhandel deuten auf die Abhängigkeit des gewerblichen Sektors von den Getreidepreisen hin. Doch was hat dies mit dem vorindustriellen Bevölkerungsgang zu tun? Die Antwort fällt leicht, denn die gesamte wirtschaftliche Entwicklung in vorindustrieller Zeit stand stets auf schwachen Füßen, weil der gewerbliche Sektor immer von der krisenanfälligen Nahrungsmittelproduktion abhängig war. Zwar versuchten vor allem die Magistrate der großen Städte entgegenzusteuern – wie zum Beispiel durch den Bau von Getreidespeichern, wie beispielsweise im Erfurter Andreasviertel im Jahre 1465 oder in Zwickau 1481/82 –, aber die Gewerberegionen Mitteldeutschlands waren letztlich in einem hohen Maße von den allgemeinen Marktmechanismen abhängig. Infolgedessen blieb das demographische Wachstum langfristig begrenzt, zumal die größeren Städte immer auf den Zuzug vom Land angewiesen waren. Vor allem: Spürbare Ertragsausfälle im Agrarsektor, also eine agrarische Unterproduktionskrise, konnte zu Mangel- oder gar Hungerkrisen führen. Und eine Hungerkrise löste beinahe zwangsläufig – und das erscheint als entscheidend – eine Unterkonsumtionskrise im Gewerbe aus.7 Es bleibt festzuhalten, dass eine spürbare Unterproduktionskrise im Agrarsektor bei einer gleichbleibenden Kornnachfrage zu Getreidepreissteigerungen führte. Die Konsumenten erlitten Einkommensverluste, weil sie im Vergleich mit 5 Jedoch als viel furleut, dis sweren teuren jares, gebrechen halb der fütterung, haben müssen ausspannen von iren wagen. Vgl.: ThürHStA Weimar, EGA, Reg. Bb 1386, fol. 11v. 6 ThürHStA Weimar, EGA, Reg. Cc 792, fol. 413v. Das Rechnungsjahr umfasste die Zeit vom 1. Mai 1561 bis 30. April 1562. 7 Ernest Labrousse: Elan und Unbeständigkeit des Wachstums, in: Fernand Braudel/Ernest Labrousse (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung. 1789 – 1880, Frankfurt/M. 1988, Band 2, S. 368 – 419, hier S. 386 – 390.

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guten Erntejahren (mit niedrigen Preisen) fast ihr gesamtes Einkommen für den Erwerb von Nahrungsmitteln aufbrauchten. Der Anteil des Einkommens, den sie für gewerbliche Produkte ausgaben, verringerte sich. Somit sank die Nachfrage, der Absatz stockte und eine Unterkonsumtionskrise für Gewerbeprodukte brach aus. Der Bedarf an Arbeitskräften war rückläufig. Letztlich sanken die Löhne oder Arbeitslosigkeit brach aus.8 Dass dieser Befund kein theoretischer Entwurf der Wirtschaftsgeschichte ist, sondern sich fest ins Bewusstsein von Generationen eingebrannt hat, illustriert das Märchen der Gebrüder Grimm von Hänsel und Gretel. Der Vater der hungernden Kinder war ein armer Holzfäller, also ein im nachgelagerten Gewerbe tätiger Mann. Er litt unter Arbeitslosigkeit infolge einer gewerblichen Unterkonsumtionskrise und es mangelte ihm und den seinen wegen einer agrarischen Unterproduktionskrise an Brot. Dass dies kein Einzelschicksal war, dokumentieren unzählige Beispiele aus den Hungerjahren von 1771/72. Unter diesem Aspekt liefert das Steigen und Fallen der Getreidepreise wichtige konjunkturgeschichtliche Anhaltspunkte. Somit zeigt die oben angeführte positivistisch anmutende Aufzählung der Höchstpreisnotierungen zugleich, dass sich hohe Preisnotierungen vor dem Dreißigjährigen Krieg sowie im Vorfeld der drei Schlesischen Kriege gehäuft haben. Es waren die totbringenden Kriege – so zynisch es auch klingen mag –, die das sensible ökonomisch-ökologisch-demographische System wieder halbwegs austariert haben. Endgültig schnappte hingegen die Malthusianische Falle 1771/72 zu, als es infolge zweier verheerender Missernten zu einer europaweiten Hungersnot kam. Erst die allmählich steigenden Ernteerträge im 19. Jahrhundert sowie ein effektives und rentables Transportsystem halfen die fortwährend auftretenden zyklischen Krisen des Ancien R¦gime, so wie sie vor allem Ernest Labrousse beschrieben hat, soweit zu überwinden, dass sie nicht mehr zu demographischen Defekten führten. Insofern scheinen sich Untersuchungen zur demographischen Entwicklung in vorindustrieller Zeit auch immer mit dem Agrarsektor, dem Landwarenhandel und der Versorgung der Städte und Gewerbereviere auseinandersetzen zu müssen.

2.

Quellen und Methoden

Eine zeitgenössische und regional übergreifende Bevölkerungsstatistik ist aufgrund der politischen Vielgestaltigkeit Thüringens nicht vorhanden. Würde man die Grenzen des heutigen Freistaates Thüringen zugrunde legen, dann müsste das Verwaltungsschriftgut aus über einem Dutzend Archiven gehoben, 8 Labrousse: Elan und Unbeständigkeit des Wachstums (wie Anm. 7), S. 390 – 392.

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gesichtet und ausgewertet werden.9 Auf der einen Seite wäre es protostatistisches Material der jeweiligen Herrschaftsträger. Es wären in erster Linie die Mannschaftsverzeichnisse des späten 15. und 16. Jahrhunderts,10 Verzeichnisse über besessene Männer, Wirte bzw. über die Hausbesitzer, die Angaben über die Grundstücks- und Hauseigentümer in den Visitationsprotokollen, Zinsregister sowie vor allem die reichlich überlieferten Steuerregister.11 Besonders die Steuerregister des 16. und 17. Jahrhunderts besitzen einen herausragenden Quellenwert und stellen eine gute Grundlage dar, die Sozialstruktur und Bevölkerungszahl größerer territorialer Einheiten zu ermitteln.12 Das umfangreichste Material enthalten freilich die Kirchenbücher. Allerdings behindert ihre dezentrale Archivierung und die (fragmentarische) Materialmenge bislang eine überregionale Auswertung. Nur für einzelne Gemeinden oder hinsichtlich besonderer Ereignisse liegen kleinere Abhandlungen vor, die sich zur Rekonstruktion sozialer und demographischer Zusammenhänge eignen.13 Während des 18. Jahrhunderts, besonders in Verbindung mit reformabsolutistischen Projekten, entstanden protostatistische Materialsammlungen im Auftrag der landesherrlichen Zentralbehörden. Die Habsburgermonarchie, Brandenburg-Preußen, Kursachsen u. a. gingen hierbei beispielhaft voran.14 Da mit dem Thüringischen und Neustädter Kreis weite Teile Thüringens bis 1815 zu Kursachsen gehört haben, lohnt es sich, die kursächsische Statistik auszuwerten, 9 Fritz Koerner : Thüringen um 1680. Kartenblatt und Beiheft 20, in: Otto Schlüter/Oskar August (Hg.): Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes. 2., völlig neubearbeitete Auflage des Mitteldeutschen Heimatatlas, Leipzig 1958. 10 Walter Schmidt-Ewald: Das Landesaufgebot im westlichen Thüringen vom 15. bis 17. Jahrhundert, in: ZThürG 36 (NF. 28) 1928/29, S. 6 – 58. 11 Fritz Koerner : Die Bevölkerungsverteilung in Thüringen am Ausgang des 16. Jahrhunderts, in: Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Länderkunde, NF. 15/ 16, Leipzig 1958, S. 178 – 315, hier S. 185 – 187. 12 Hans Eberhardt: Die Land- und Türkensteuerregister des 16. Jahrhunderts und die Möglichkeiten ihrer Auswertung, in: Elisabeth Schwarze: Soziale Struktur und Besitzverhältnisse der ländlichen Bevölkerung Ostthüringens im 16. Jahrhundert, Weimar 1975, S. 7 – 43, hier S. 31 – 35; Karlheinz Blaschke: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 26 f. 13 Vgl.: Axel Marx: Die gedruckten und ungedruckten Akten zur Thüringer Sintflut 1613 als genealogische Quellen (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für mitteldeutsche Familienforschung, Nr. 250), Leipzig 2013; nach wie vor methodisch wegweisend bezüglich der Auswertung der Kirchenbücher : Volkmar Weiss: Bevölkerung und soziale Mobilität. Sachsen 1550 – 1880, Berlin 1993. 14 Vgl. u. a.: Lars Behrisch (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raumes im 18. Jahrhundert (Historische Politikforschung, Bd. 6), Frankfurt am Main 2006; Anton Tanner : Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 4), Innsbruck 2007; sowie zur kursächsischen Statistik vor 1831: Danny Weber : Die sächsische Landesstatistik im 19. Jahrhundert. Institutionalisierung und Professionalisierung (BWSG, Bd. 98), Stuttgart 2003, S. 21 – 34.

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die in der so genannten »Commerziendeputation« gesammelt wurde. Die Commerziendeputation war 1735 begründet und 1764 zur »Landes-ÖkonomieManufaktur- und Commerziendeputation« erweitert worden. Diese Behörde sammelte landesweite Produktions- und Ertragsdaten hinsichtlich des Gewerbes, der Manufakturen sowie des Agrarsektors. Ferner ermittelte sie die Zahl der Konsumenten. Unschwer lässt sich hierbei der Geist des aufgeklärten Absolutismus erkennen. Die Landes-Ökonomie-Manufaktur- und Commerziendeputation war mit Hilfe der Statistik bemüht, Reformvorschläge zu erarbeiten, wirtschaftspolitische Maßnahmen zu ergreifen und auf Versorgungsengpässe entsprechend reagieren zu können. Umfangreiche Tabellen und Übersichten wurden angelegt, die auch andere kursächsische Behörden nutzen konnten. Solche Listen und Tabellen besitzen einen relativ hohen Quellenwert und können durchaus für wirtschaftsgeschichtliche und demographische Forschungen nutzbar gemacht werden. Ein besonderer Quellenwert scheint den so genannten Generaltabellen zuzukommen, denn sie sind ein Ergebnis der ausgewerteten und zusammengefassten Berichte aus den Konsistorien. Die Generaltabellen, so werden sie in den Akten überschrieben, aggregieren die Daten bezüglich der Eheschlüsse, der getauften Kinder sowie der christlich Verstorbenen für ein bis zwei Jahrzehnte. Teilweise sind die Tabellen und Übersichten nach den einzelnen Landesteilen untergliedert.15 Im Gegensatz zu den Tabellen und Übersichten des 18. Jahrhunderts weisen die Quellen des 16. oder 17. Jahrhunderts nur die Hausbesitzer, die Hausgenossen, Knechte und Mägde aus. Dieser Umstand zwingt dazu, die Anzahl der Hausbesitzer mit einem Reduktionsfaktor, der so genannten Behausungsziffer, zu multiplizieren. Kurzum: Wie viele Menschen lebten in vorindustrieller Zeit im Durchschnitt in einem Haus? Das Problem der Kopfzahl der vorindustriellen Haushalte wird seit Jahren lebhaft erörtert und kontrovers diskutiert.16 In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, relativ zeitnahe Daten zu präsentieren, die obendrein einen Bezug zur Region aufweisen sollten. Dazu einige Bei15 Zum Beispiel: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Loc. 4530, Vol. VII, Generaltabelle: Verzeichnis des Überschusses der Geborenen gegenüber den Gestorbenen 1772 bis 1789; SächsHStA Dresden Loc. 563, Vol. I, fol. 58, Generaltabelle: Generalabrechnung 1764 – 1776; SächsHStA Dresden, Loc. 4530, Vol. VII, Generaltabelle über die Kindersterblichkeit in Kursachsen von 1764 bis 1775. Ferner existiert eine Vielzahl kleinerer Übersichten, in denen die Statistik für vier bis sechs Jahre erfasst ist. Vgl. auch: Uwe Schirmer : Der Bevölkerungsgang in Sachsen zwischen 1743 und 1815, in: VSWG 83, 1996, S. 25 – 58, hier S. 28 – 30. 16 Vgl.: Walter G. Rödel: »Statistik« in vorstatistischer Zeit. Möglichkeiten und Probleme der Erforschung frühneuzeitlicher Populationen, in: Kurt Andermann/Hermann Ehmer (Hrsg.): Bevölkerungsstatistik an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Quellen und methodische Probleme im überregionalen Vergleich (Oberrheinische Studien, Bd. 8), Sigmaringen 1990, S. 9 – 25; vgl. auch: Michael Matheus/Walter G. Rödel (Hrsg.): Landesgeschichte und Demographie (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 50), Stuttgart 2000.

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spiele: In Arnstadt lebten von 1474 bis 1480 zwischen 6,3 und 7,0 Menschen in einem Haus.17 Für die Städte Altenburg, Schmölln und Lucka wurde für das Jahr 1580 ein Mittelwert von 5,7 Menschen je Haus ermittelt.18 Kritisch ist an dieser Stelle einzuwenden, dass sich diese Beispiele auf die städtische Bevölkerung beziehen und das flache Land unberücksichtigt bleibt. Mit Bezug auf das Amt Altenburg (1580) bleibt festzustellen, dass die Behausungsziffer auf den Dörfern mit 7,47 deutlich höher lag als in den Städten. Ferner ist die Tatsache hervorzuheben, dass die Behausungsziffer mit dem bäuerlichen Grundbesitz korreliert: je umfangreicher der Landbesitz des Hofes umso mehr Menschen lebten und arbeiteten auf ihm.19 Diesbezüglich ist eine Studie zum Merseburger Stiftsgebiet für das Jahr 1578 beispielhaft. Jeder Kommunikant hatte dort für seine Beteiligung am Abendmahl jährlich seinem Pfarrer einen Pfennig zu zahlen – unabhängig davon, wie oft er an der Eucharistiefeier teilgenommen hatte. Gleichzeit sind für das Stiftsgebiet die Zahlen der Hauswirte überliefert, so dass das Verhältnis zwischen Kommunikanten und Hauswirten ermittelt werden konnte. Demnach kamen auf einen Haushalt vier Kommunikanten. Berücksichtigt man nun noch all jene, die nicht am Abendmahl teilnehmenden Kinder unter zwölf Jahren, dann erscheint der in der demographischen Forschung gebräuchliche Faktor Fünf (»Behausungsziffer«), um die Gesamteinwohnerzahl auf Grundlage der Haushalte bzw. Hausbesitzer zu ermitteln, als durchaus brauchbar.20 Dies korrespondiert mit Befunden aus der Oberlausitz. Dort lag die landesweite Behausungsziffer im Jahr 1777 bei 5,6 Menschen.21 Aus jenen Jahren – und damit soll der methodische Exkurs beschlossen werden – hat sich für Frankenhausen die Gesamteinwohnerzahl sowie die Anzahl der bewohnten Häuser von 1762 bis 1818 erhalten. Korreliert man die Daten, dann schwankte dort die Behausungsziffer zwischen 4,2 (1775) und 5,7 (1815).22 Insgesamt wird man, unab17 Karl Elbracht: Die Einwohnerzahl Arnstadts vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, in: Beiträge zur Heimatkunde des Kreises Arnstadt 1, 1960, S. 62 – 68, hier S. 65, 68. 18 Franz Thierfelder : Eine Einwohner- und Berufszählung in Mitteldeutschland im Jahre 1580, betreffend »die ganze Superintendenz Altenburg« bzw. das Amt Altenburg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1964, Teil 1, S. 254 – 269, hier S. 359. 19 Koerner : Bevölkerungsverteilung in Thüringen Ausgang des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 306 f. 20 Fritz Koerner : Beobachtungen zur geschichtlichen Bevölkerungsgeographie im 16. Jahrhundert. Aufgrund der Visitationsprotokolle des Stifts Merseburg von 1562 und 1578, in: Festschrift für Rudolf Herrmann zum 75. Geburtstag, Jena 1950 (masch.); Msc. M48/687 im Landeskirchenarchiv Eisenach. 21 Uwe Schirmer : Die Verfassungs- und Besitzverhältnisse in der Oberlausitz am Ende des 18. Jahrhunderts. Anmerkungen zum Häuser- und Einwohnerverzeichnis von 1777, in: NArchSächsG 74/75, 2003/2004, S. 431 – 442, hier S. 437. 22 Hans Eberhardt: Die Bevölkerungsentwicklung schwarzburgischer Städte vom

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hängig von den unterschiedlichsten regionalen und ständischen Spezifika, von einer Belegung von rund fünf Menschen pro Haushalt auszugehen haben.

3.

Beobachtungen und Ergebnisse

Der positiv verlaufende Bevölkerungsgang des 16. Jahrhunderts ist ein Gemeingut der Forschung. Außerordentlich schwierig sind hingegen Aussagen zum Spätmittelalter. Die gute Quellenlage zu Arnstadt erlaubt es, sehr vage die Entwicklung anzugeben. Wahrscheinlich stieg die Zahl von knapp 2 950 im Jahre 1388 auf rund 3 150 im Jahr 1427. Danach fiel sie bis auf rund 2 380 im Jahr 1470 um schließlich sehr langsam anzusteigen (1495: 2 635).23 Das Bevölkerungswachstum nach 1495 kann dann für das kursächsisch-ernestinische Amt Grimma für die Jahre von 1495 bis 1547 empirisch sicher nachgewiesen werden.24 Analysiert man allein den Zuwachs an wieder neu besetzten Hofstellen – wodurch signifikant das Ausklingen der spätmittelalterlichen Agrarkrise dokumentiert wird –, dann betrug der Zuwachs im Amt Grimma (bezogen auf zwei Städte und 34 Dörfer) zwischen 1532 und 1585 etwa 0,28 % im Jahr. Im noch weiter östlich gelegenen Amt Liebenwerda (20 Dörfer) lag der Hofstellenzuwachs zwischen 1550 und 1570 bei 0,19 % im Jahr.25 Der Zuwachs an bewohnten Hof- oder Hausstellen ist gleichermaßen für weite Teile Thüringens nachweisbar. Im Allgemeinen verbirgt sich hinter jedem Hof oder Haus eine mehr oder weniger große Familie. Wie oben dargelegt wurde, setzte sie sich im Durchschnitt aus fünf Köpfen zusammen. Im ernestinischen Amt Weimar (20 Dörfer) stieg die Stellenanzahl von 702 im Jahr 1541 auf 1 023 (1588). Dies entspricht einer jährlichen Zuwachsrate von 0,99 %. Ähnlich sah es im albertinischen Amt Weißensee (10 Dörfer) aus, wo die Stellenzahl von 506 (1525) auf 854 im Jahr 1588 anwuchs (Rate: 1,06 %). Vergleichbare Befunde dokumentiert das Quellenmaterial aus den Ämtern Gotha, Schmalkalden und Themar. In zwölf Dörfern des Amtes Gotha wuchs die Stellenzahl zwischen 1557 und 1588 von 832 auf 1 108 Stellen (ca. 1,06 %). Im Amt Schmalkalden (1 Stadt und 19 Dörfer) zählten die Steuereinnehmer bzw. Visi15.–19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der thüringischen Kleinstadt, in: Weite Welt und breites Leben. Festschrift zum 80. Geburtstag von Karl Bulling (Zentralblatt für Bibliothekswesen, Beiheft 82), Leipzig 1966, S. 149 – 178, hier S. 168. 23 Eberhardt: Bevölkerungsentwicklung (wie Anm. 22), S. 152; Elbracht: Einwohnerzahl Arnstadts (wie Anm. 17), S. 65. 24 Uwe Schirmer : Das Amt Grimma 1485 – 1548. Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft, Bd. 2), Beucha 1996, S. 19 – 36. 25 Koerner : Bevölkerungsverteilung in Thüringen Ausgang des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 192.

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tatoren 1543 exakt 1 243 Stellen. Diese Anzahl vermehrte sich bis 1585 auf 1 867 (1,19 %). Und im hennebergischen Amt Themar, wo die Daten für eine Stadt und 13 Dörfer vorliegen, wuchs die Stellenzahl von 681 im Jahr 1573 auf 779 (1608), was einem jährlichen Zuwachs von 0,4 % entspricht. Diesen Befunden steht nur die Stellenabnahme im Amt Arnshaugk im Orlagau (indes nur von sieben Dörfern) von 205 (1555) auf 198 Stellen im Jahr 1589 entgegen.26 Ein letztes Beispiel stammt aus den Ämtern Leuchtenburg und Orlamünde. In 43 Dörfern betrug dort die Zahl der »hausgesessenen« Männer und Witwen im Jahr 1534 insgesamt 823 Personen. Die Anzahl sank im Jahr 1577 auf 750! Es bleibt offen, ob die schwere Subsistenzkrise der Jahre 1571 bis 1573/74 dafür die Ursache ist. Der sehr starke Anstieg zum Jahr 1629 – es wurden 896 Personen gezählt – könnte mit lokalen Wanderungen infolge des ausgebrochenen Krieges erklärt werden. Schließlich wurde sodann die Region schwer vom Krieg heimgesucht und die Zahl der Hausbesitzer betrug 1637 nur noch 385 Personen.27 Alle angeführten Beispiele bedürfen einer Deutung. Sie stammen aus dem Bereich der Mitteldeutschen Grundherrschaft, also aus einem Konglomerat an Territorien, in dem die ländliche Bevölkerung über ein Höchstmaß an Freiheit verfügte. Die grundherrlichen Belastungen waren sehr moderat; der sozialen und regionalen Freizügigkeit war – abgesehen von der relativ geringen Lehnware – faktisch keine Grenzen gesetzt.28 Diese Tatsache, die für ein kräftiges Bevölkerungswachstum unabdingbar ist, gilt es als erstes Festzuhalten. Zum zweiten ist darauf zu verweisen, dass im Bereich der Mitteldeutschen Grundherrschaft zwei verschiedenartige bäuerliche Erbsitten existierten. Während im Osten und teilweise im Norden die geschlossene ungeteilte Hofübergabe dominierte, war in Thüringen (sc. westlich der Saale und südlich des Harzes) die Realteilung üblich.29 Unstrittig fördert die Realteilung Familiengründungen und somit einen positiven Bevölkerungsgang. Drittens sei darauf verwiesen, dass die Mitteldeutsche Grundherrschaft im Norden, Nordosten und Osten – sehr oberflächlich betrachtet: östlich der Elbe – seit dem 15. Jahrhundert in Konkurrenz zur sich allmählich ausprägenden Gutsherrschaft stand.30 Neben vielen Bedrückungen für den Bauernstand war für die Gutsherrschaft das Bauernlegen ty26 Koerner : Bevölkerungsverteilung in Thüringen Ausgang des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 192 f. 27 Ulrike Kaiser : Das Amt Leuchtenburg 1479 – 1705. Ein regionales Zentrum wettinischer Herrschaft (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, Bd. 33), Köln et al. 2012, S. 16. 28 Friedrich Lütge: Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 4), 2., stark erweiterte Aufl., Stuttgart 1957. 29 Werner Rösener: Bauern im Mittelalter, München 1987, 3. unveränderte Aufl., S. 201. 30 Jan Peters (Hrsg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (HZ-Beiheft 18) München 1995; ders. (Hrsg.): Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997.

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pisch; also die Abnahme der bäuerlichen Stellen. Dies könnte, bei aller gebotenen Vorsicht, erklären, warum die oben beschriebene Zunahme an Hofstellen im Amt Liebenwerda zwischen 1550 und 1570 so kläglich ausfiel. Und schließlich sei viertens darauf verwiesen, dass Thüringen sowie die angrenzenden Regionen von einer Vielzahl kleinerer und größerer Gewerbereviere durchsetzt waren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien die Eisenproduktion in Schmalkaden, der Silberbergbau bei Saalfeld, die vielen Saigerhütten, die lebhafte Glasproduktion im Thüringer Wald oder das nahe Mansfelder Revier genannt.31 Hinzuzuzählen wären zudem die beiden Großstädte Erfurt mit ca. 15 000 Einwohnern und Mühlhausen (ca. 9 000) sowie das sich vom Vogtland Richtung Osten ausbreitende Leinwandrevier. Von überragender Bedeutung für Erfurt und die ländliche Bevölkerung des Thüringer Beckens war freilich der Waid. Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts – also zu einer Zeit, als den Waidbauern bereits die Konkurrenz des Indigos zu schaffen machte – wurde in über 300 thüringischen Dörfern Waid angebaut.32 Besonders der intensive Waidanbau im Thüringer Becken sicherte vielen Bauern auf kleineren Höfen ein Zusatzeinkommen. Die Aktivitäten der überregional tätigen Erfurter Waidhändler, die engen Stadt-Land-Beziehungen, der ländliche Waidanbau und die Praxis der Realteilung waren die Grundlage für ein starkes Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert. Die Entwicklung der Hofstellen in den Ämtern Gotha, Weißensee und Weimar scheint es zu belegen. Im Falle von Themar und Schmalkaden sind – neben den dort ebenfalls gebräuchlichen Erbteilungen – das Eisen- und Glasgewerbe sowie die nachgelagerte Energiewirtschaft im Thüringer Wald (Holz, Köhlerei) in Rechnung zu stellen. Die negativen Befunde aus den Ämtern Arnshaugk, Leuchtenburg und Orlamünde sind abschließend zu erörtern. Wie erwähnt, sackte im Amt Arnshaugk die Anzahl der Hofstellen von 205 im Jahre 1555 auf 198 Stellen im Jahr 1589 ab. In den Ämtern Leuchtenburg und Orlamünde verringerte sich die Zahl der Hausgesessenen von 823 Personen im Jahr 1534 auf 750 im Jahr 1577. Zum einen ist hervorzuheben, dass in diesen Gebieten das Anerbrecht gegenüber der Realteilung überwog. Ferner ist kein Waidanbau nachweisbar. Und schließlich sei angemerkt, dass der Stadtrat von Neustadt an der Orla – diese Stadt galt als das Wirtschaftszentrum dieser Region (mit rund 100 Tuchmachern sowie Dutzenden Gerbern und Schustern) –, penibel und argwöhnisch auf das länd31 Wolfgang von Stromer : Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Hans Pohl (Hrsg.): Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 78), Stuttgart 1986, S. 39 – 111, hier S. 97; Herbert Kühnert: Urkundenbuch zur thüringischen Glashüttengeschichte und Aufsätze zur thüringischen Glashüttengeschichte, Wiesbaden 1973. 32 Hansjürgen Müllerott: Quellen zum Waidanbau in Thüringen. Mit einem Exkurs in die anderen Waidanbaugebiete Europas und Vorderasiens, Arnstadt 1992, S. XVI.

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liche Gewerbe blickte. Wiederholt beschwerten sich die Stadträte von Neustadt und Pößneck im 16. Jahrhundert über die »Pfuscher auf dem Lande« beim Landesherrn und gingen aktiv gegen sie vor.33 Es ist nicht ausdrücklich zu betonen, dass ein rigides Vorgehen gegen Leineweber, Strumpfwirker u. a. einer gewerblichen Entwicklung auf dem Lande und somit einem positiven Bevölkerungsgang diametral entgegenstand. Es waren vor allem die Landhandwerker sowie die Drescher und Tagelöhner, also die so genannten »Häusler«, die maßgeblich den frühneuzeitlichen Bevölkerungsgang getragen haben. Diese soziale Schicht war es freilich auch, die im starken Maße auf den Lebensmittelmarkt angewiesen war. Vor allem bei den Häuslern herrschte in Zeiten der Teuerung Mangel an Brot und in schlimmsten Zeiten machte bei ihnen der Hunger gemeinsame Sache mit Gevatter Tod.34 Erst eine detaillierte Auswertung der Kirchenbücher in diesen drei Ämtern wird endgültig die Frage beantworten, ob Teuerung und Mangelkrise zu Beginn der 1570er Jahre der Grund für den Rückgang gewesen sind. Unabhängig von diesen ostthüringischen Befunden ist das starke Bevölkerungswachstum in Thüringen, besonders im Thüringer Becken, während des 16. Jahrhunderts auffallend. Noch bemerkenswerter ist die hohe Bevölkerungsdichte, die in weiten Teilen des Landes in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei 43,5 E/qkm lag. Damit scheint Thüringen neben Württemberg das am dichtesten besiedelte Gebiet im Reich gewesen zu sein.35 Beispielsweise betrug der landesweite Bevölkerungsdurchschnitt in Sachsen (Grenzen von 1952) in der Mitte des 16. Jahrhunderts 32,4 E/qkm. Ähnliche Angaben sind aus der Pflege Coburg 31,5 E/qkm, dem Territorium des Bischofs von Bamberg (32,5 E/qkm) und aus Hessen (30 E/qkm) überliefert.36 Allerdings bestanden in den erwähnten Territorien deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen; beispielsweise in Obersachsen, was größtenteils auf den erzgebirgischen Bergbau zurückzuführen ist. In Thüringen war jedoch nicht nur das Montanwesen um Saalfeld oder 33 Erich Stopfkuchen: Verfassung und Verwaltung der Stadt Neustadt a. d. Orla seit der Entstehung des Rates um 1365 bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Neustadt a. d. Orla 1928, S. 140 – 146; Wieland Held: Zwischen Marktplatz und Anger. Stadt-Land-Beziehungen im 16. Jahrhundert in Thüringen (Regionalgeschichtliche Forschungen), Weimar 1988, S. 129 f. 34 Blaschke: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen (wie Anm. 12), S. 126 f., 151 – 159: Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität (wie Anm. 13), S. 95 – 102. 35 Körner : Bevölkerungsverteilung in Thüringen Ausgang des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 196, 199 f. Die dort angegebenen steuerpflichtigen Haushalte wurden mit dem Faktor Fünf multipliziert. Dies bedeutet zugleich, dass Hausgenossen, Knechte und Mägde und andere Inwohner unberücksichtigt geblieben sind. Folglich wird die Zahl sogar noch etwas höher gelegen haben. 36 Koerner : Bevölkerungsverteilung in Thüringen Ausgang des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 195 – 201; Blaschke: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen (wie Anm. 12), S. 78.

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Schmalkalden förderlich, sondern vor allem der Waidanbau im fruchtbaren Thüringer Becken. In 15 Dörfern, die zum Erfurter Landgebiet gehört haben und in denen auch stets Waid angebaut wurde, betrug die Bevölkerungsdichte sogar 61,5 E/qkm. Ähnlich sah es im Amt Gotha aus. Nach der demographischen Auswertung in 15 Dörfern, in deren Gemarkungen Waid angebaut wurde, betrug hier die Volksdichte 53 E/qkm. Wie sehr der Waidanbau für das Auskommen der Menschen und somit auch für Familiengründungen sorgen konnte, zeigt ein negatives Beispiel: In 32 Dörfern des Amtes Gotha wurde kein Waid angebaut. Die Bevölkerungsdichte fällt im Vergleich zu den Waiddörfern mit 38,5 E/qkm recht deutlich ab.37 Im Verlauf der Darstellung wurde der Zuwachs an Hof- und Hausstellen des Amtes Themar, im fränkischen Teil Thüringens gelegen, angesprochen. Zwischen 1573 und 1608 ist eine jährliche Zuwachsrate von 0,4 % nachzuweisen. Bei aller gebotenen Vorsicht deutet dies auf eine Abschwächung hin, die sich jedoch nicht verallgemeinern lässt. Schwaches Wachstum, gelegentliche lokale Rückschläge und vor allem Stagnation hinsichtlich der demographischen Entwicklung prägen die Zeit gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts.38 Gesichert sind sodann der demographische Defekt und die Bevölkerungsverschiebungen während des Dreißigjährigen Krieges. Im Allgemeinen geht die Forschung davon aus, dass Thüringen mit zu den am schlimmsten heimgesuchten Regionen des Krieges gezählt hat. Im Durchschnitt wird der Bevölkerungsrückgang auf mehr als 50 % geschätzt.39 Es sprengt den Rahmen, die lokalen und regionalen Beobachtungen – die zudem keineswegs kompatibel sind – abermals zu paraphrasieren. Es sei jedoch auf die immer noch gültige Studie von Günther Franz und die dort ausgewertete Literatur verwiesen. Gegenüber den sich teilweise widersprechenden Lokal- und Regionalstudien sowie den Hinweisen aus ihnen bezüglich lokaler Spezifika im mikrohistorischen Bereich,40 sei auf die landesweite kursächsische Protostatistik verwiesen. Bis zum Jahr 1628 schätzten alle kursächsischen Steuerzahler hinsichtlich der Erhebung direkter Steuern ihren Grundbesitz immer noch selbst ein. Somit entrichteten sie die Landsteuer entsprechend ihre Selbsteinschätzung. Diese Praxis wurde nach 1628 gründlich verändert. Nunmehr wurden Fundamental37 Körner : Bevölkerungsverteilung in Thüringen Ausgang des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 209. 38 Georg Bartholomäus: Die Bevölkerungsbewegung im Eisenacher Land seit dem 16. Jahrhundert (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, Beiheft 20), Jena 1939, S. 85; Eberhardt: Bevölkerungsentwicklung (wie Anm. 22), S. 156. 39 Günther Franz: Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 7), 4. Aufl. Stuttgart et al. 1979, S. 8 et passim. 40 Bartholomäus: Bevölkerungsbewegung im Eisenacher Land (wie Anm. 38); Fritz Körner : Beiträge zur Geopolitik und Bevölkerungsgeschichte des mittleren Saalegebietes, Jena 1935, S. 38 – 40.

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kataster angelegt, die künftig die Grundlage für die Erhebung der direkten Steuer bildeten. Fortan entfielen also Selbsteinschätzungen und Vereidigungen. Der Wert aller steuerpflichtigen Hof- und Hausstellen in allen kursächsischen Dörfern und Städte betrug 1628 über 7,2 Millionen Schock. Ein Schock betrug 60 Groschen. Die nachfolgende Tabelle illustriert, in welchem Maße der Dreißigjährige Krieg Sachwerte vernichtet hat bzw. dem kursächsischen Obersteuerkollegium für die Besteuerung entzogen wurde.41 Auf eine Quellenkritik sei an dieser Stelle verzichtet, da die nachfolgenden Daten allein zur groben Orientierung dienen sollen. Tabelle 1: Die Steuerschocke in Kursachsen sowie im Thüringischer und Neustädter Kreis

1628

Thüringischer Kreis Schocke Index (%) 1 346 102 100,0

Neustädter Kreis Schocke Index (%) 339 283 100,0

Kursachsen (gesamt) Schocke Index (%) 7 217 376 100,0

1634 1653

1 192 146 593 874

88,5 44,1

237 625 160 831

70,0 47,4

6 980 365 3 995 716

96,7 55,3

1667 1684

717 445 996 985

53,3 74,0

162 307 220 291

47,8 64,9

4 825 254 5 035 186

66,8 69,7

1692 1698

687 982 991 283

51,1 73,6

145 096 222 980

42,7 65,7

5 636 372 4 982 038

78,1 69,0

Ohne eine positivistische Miniaturanalyse vorzunehmen, so sei darauf verwiesen, dass die allgemeinen Schätzungen hinsichtlich des Bevölkerungsrückganges in Thüringen mit diesen Daten weitgehend übereinstimmen. 1634, 1653 und 1667 lagen die materiellen Verluste im Thüringischen und im Neustädter Kreis stets unter dem landesweiten kursächsischen Durchschnitt. Zum Thüringischen Kreis gehörten die Ämter Langensalza, Weißensee, Sachsenburg, Eckartsberga, Sangerhausen, Sittichenbach, Wendelstein, Freyburg, Schulpforte, Tautenburg und Weißenfels. Zum Neustädter Kreis wurden die Ämter Arnshaugk, Mildenfurth, Weida und Ziegenrück gezählt.42 Zwar ist es abwegig, Wertverluste mit demographischen Einschnitten direkt zu korrelieren, jedoch wäre es ebenso absurd, die offenkundigen Zusammenhänge zwischen den materiellen Kriegsschäden und dem menschlichen Leid infrage stellen zu wollen. Die Rekonstruktion der langwierigen Phase des Wiederaufbaus in der zweiten Hälfte des 41 Zur Erstellung der Fundamentalkataster, zu seinem Quellenwert und zur Quellenkritik: Uwe Schirmer: Kursächsische Staatsfinanzen (1456 – 1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, Bd. 28), Stuttgart 2006, S. 807 – 809. 42 Karlheinz Blaschke/Uwe Ulrich Jäschke: Kursächsischer Ämteratlas 1790, Chemnitz 2009, S. 26 – 37 (Thüringischer Kreis), S. 78 f. (Neustädter Kreis).

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17. Jahrhunderts ist mit dem Fundamentalkataster jedoch nur sehr eingeschränkt möglich, da beständig Korrekturen und Novellierungen seitens der Steuerbehörden vorgenommen wurden. Es dauerte Jahrzehnte, bis der schwerwiegende demographische Defekt des Dreißigjährigen Krieges überwunden war. In welchem Maße die Reichsstadt Mühlhausen betroffen war, dokumentiert die Zahl der Getauften. Von 1580 bis 1582 waren 316 Neugeborene im Jahresdurchschnitt getauft worden. Diese Zahl stieg im Mittel der Jahre von 1615 bis 1621 sogar auf 334 an. Von 1660 bis 1670 waren es hingegen nur noch 254.43 Hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung in Thüringen bleibt zudem die Frage offen, in welchem Maße die in und um Erfurt wütende Pest der Jahre 1682/83 landesweit ihre Spuren hinterlassen hat. Offensichtlich verhinderte die über die Stadt verhängte Quarantäne die Ausbreitung der Seuche. Beispielsweise scheint sie in der benachbarten Oberherrschaft Schwarzburg-Rudolstadt, in den nördlich angrenzenden albertinischen Gebieten oder im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg epidemisch nicht wirksam geworden zu sein, obwohl die kurmainzische Regierung eine strikte Geheimhaltung bezüglich des Pestausbruches angeordnet hatte.44 Jahre später – im Dezember 1713, als die aus dem Baltikum kommende Pest abermals für Schrecken sorgte – fand hingegen in Erfurt eine Konferenz statt, an der Gesandte aller thüringischer Staaten teilnahmen, um Maßnahmen zur Verhütung der Einschleppung der Seuche nach Thüringen festzulegen – augenscheinlich mit großem Erfolg.45 Im Herrschaftsgebiet der Grafen von Schwarzburg sowie in weiten Teilen des Eisenacher Landes ist am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein halbwegs beständiges Bevölkerungswachstum nachweisbar, und es ist davon auszugehen, dass die demographischen Wunden, die der Dreißigjährige Krieg geschlagen hatte, zu Beginn des 18. Jahrhunderts verheilt waren. Mitte der 1730er Jahre wird die Einwohnerzahl in Teilen des Landes über dem Niveau vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges gelegen haben.46 Halbwegs gesicherten empirischen Boden gewährt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts abermals die kursächsische Protostatistik. Wie angedeutet, wurden seit dieser Zeit Tabellen über die Anzahl der Konsumenten erstellt.

43 Arno Vetter : Bevölkerungsverhältnisse der ehemals freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen im 15. und 16. Jahrhundert, Leipzig 1910, S. 56 f. 44 Karl-Hans Arndt: Die Pestepidemie von 1682/83 und ihre Auswirkungen auf Stadt und Universität Erfurt, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt (1392 – 1816), Heft 18 (1975 – 1978), S. 27 – 90, hier S. 50 f. 45 Arndt: Pestepidemie (wie Anm. 44), S. 75. 46 Bartholomäus: Bevölkerungsbewegung im Eisenacher Land (wie Anm. 38), S. 86 f.; Eberhardt: Bevölkerungsentwicklung (wie Anm. 22), S. 156.

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Tabelle 2: Anzahl der Konsumenten im Kurfürstentum Sachsen (1755, 1772, 1790, 1791)47 Landesteil / Jahr Kurkreis Thüringischer Kreis

1755 116.491 165.056

1772 109.857 168.045

1790 125.805 178.531

1791 128.810 184.029

Meißnischer Kreis Leipziger Kreis

289.318 206.238

289.689 196.912

270.993 215.867

277.170 224.301

Erzgebirgischer Kreis Vogtländischer Kreis

303.117 89.88448

278.884 61.705

394.166 80.658

399.002 81.331

Neustädtischer Kreis Henneberg

vgl. Vogtland 19.406

32.277 20.000

35.492 21.573

36.052 22.100

Stift Merseburg Stift Naumburg-Zeitz

65.43349 vgl. Merseb.

37.019 27.377

39.174 30.674

39.986 30.874

Oberlausitz Niederlausitz

263.400 105.785

259.175 104.922

303.575 106.998

296.09350 116.018

unter geistlicher Jurisdiktion51 Militärstaat

33 336 37 562

27.700 39.044

24.072 50.522

48.949

1.652.606

13.366 1.891.466

13.386 1.898.101

kleinere Verwaltungsbezirke52 Summe

1 695 026

korrigiert:

1 701 31653

Die Bevölkerungsentwicklung im gesamten Kurfürstentum ist an dieser Stelle nicht noch einmal zu erörtern.54 Die Befunde der thüringischen Gebiete sind jedoch eingehender zu diskutieren. Neben dem Thüringischen und Neustädter Kreis stehen zudem die Daten der inkorporierten Ämter Kühndorf, Schleusingen und Suhl zur Verfügung, welche die kursächsische Administration unter 47 48 49 50 51 52

53

54

SächsHStA Dresden, Loc. 563, Vol. I, fol. 9, 40; Loc. 4530, Vol. VII, unpag. Inklusive des Neustädtischen Kreises. Inklusive des Stifts Naumburg-Zeitz. Der Bevölkerungsrückgang in der Oberlausitz nach 1790 sowie die analoge Zunahme in der Niederlausitz haben ihre Ursache in einem veränderten Modus der Zählung. Dazu wurden die Personen, die der sächsischen Landeskirche unterstellt waren, gezählt. In erster Linie die Pfarrer der Kirchgemeinden und deren Familienangehörige. Seit 1791 wurden sie mit zu den staatlichen Verwaltungsbezirken hinzugerechnet. Dazu ist das Bergamt (die Bergleute und ihre Familien waren exemt und unterstanden nicht direkt den entsprechenden staatlichen Stellen) und die Ganerbschaft Treffurt zu zählen. Unter welchem Gesichtspunkt die Zählung 1755 und 1772 durchführt wurde, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Die Konsumentenzählung des Jahres 1755 fand in den Monaten Juni bis August statt. Ansonsten registrierte die Behörde die Zahl der Verbraucher zum Jahresende. Da der natürliche Zuwachs 1755 mit 12.580 Menschen beziffert worden ist, schien es angebracht, die Hälfte dieses Zuwachses (der der zweiten Jahreshälfte) zur Anzahl der Konsumenten hinzuzurechnen. Schirmer: Bevölkerungsgang (wie Anm. 15), S. 32 – 48.

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Uwe Schirmer

dem Begriff Henneberg zusammengefasst hat. 1583 war das gefürstete Grafenhaus Henneberg mit der Linie Schleusingen erloschen. Hessen sowie die ernestinischen und albertinischen Wettiner traten das gemeinsame Erbe an. Die beiden wettinischen Linien nahmen 1660 eine Realteilung vor, infolgedessen die drei Ämter an die Sekundogenitur Sachsen-Zeitz fielen. Nach ihrem Aussterben im Jahr 1718 gelangten Kühndorf, Schleusingen und Suhl an die kursächsische Hauptlinie. Die verfügbaren Daten erscheinen als nicht unwichtig, da es sich um eine gemischte Gewerbe- und Agrarregion auf der fränkischen Seite des Thüringer Waldes handelte. Während in den Ämtern Schleusingen und Kühndorf der Ackerbau vorherrschte, dominierten in und um Suhl das Schmiedehandwerk, die Eisenhämmer sowie vor allem die überregional bedeutsame Gewehrmanufaktur.55 – Untersucht man die Bevölkerungsentwicklung des Thüringischen und Neustädter Kreises sowie die der drei hennebergischen Ämter von 1755 bis 1791 und vergleicht die Daten mit dem Bevölkerungsgang im gesamten Kurfürstentum (vgl. Tabelle 3), so sind eine Vielzahl regionaler Besonderheiten feststellbar. Tabelle 3: Anzahl der Konsumenten des Thüringischen, Vogtländischen und Neustädtischen Kreises sowie der Ämter Kühndorf, Schleusingen und Suhl (1755, 1772, 1790, 1791) Thüringisch. Kreis Anzahl Index (%) 1755 165 056 100,0

Neustädt./Vogtland Anzahl Index (%) 89 884 100,0

Anzahl Index (%) 19 406 100,0

Kursachsen (gesamt) Anzahl Index (%) 1 701 316 100,0

1772 168 045 101,8 1790 178 531 108,1

93 982 104,5 116 150 129,2

20 000 21 573

103,0 111,1

1 652 606 96,8 1 891 466 111,1

1791 184 029 111,1

117 383 130,6

22 100

113,9

1 898 101 111,5

Henneberg

Analysiert man den Index, dann könnte angenommen werden, dass der Thüringische Kreis, der Neustädter und Vogtländische Kreis – für beide liegt zum Jahr 1755 nur eine Gesamterhebung vor – sowie die drei hennebergischen Ämter relativ unbeschadet den Siebenjährigen Krieg und die Hungersnot von 1771/72 überstanden haben, denn im Gegensatz zum gesamten Kurfürstentum ist immerhin eine positive Entwicklung festzustellen. Doch ein detaillierter Blick, der allerdings nur für das Konsistorium Schleusingen vorliegt, dokumentiert, dass 55 Erich Meinel: Henneberg und das Haus Wettin 1554 – 1660 (Leipziger Historische Abhandlungen, Bd. 33), Leipzig 1913, S. 4 (Anschlag über die Höhe der Getreidezinsen in den hennebergischen Ämtern zum Jahr 1659); Rudolf Forberger: Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1958, S. 190 f., 306 f.; Hans Mauersberg: Besiedlung und Bevölkerung des ehemaligen hennebergischen Amtes Schleusingen, Würzburg 1938.

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Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500 – 1800)

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die natürliche Bevölkerungsbewegung während des Siebenjährigen Krieges negativ war.56 Tabelle 4: Anzahl der Trauungen, Geburten und Gestorbenen im Konsistorium Schleusingen (1753 – 1763; ohne 1759) 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1760 1761 1762 1763 Mittel Heirat 182 179 168 204 146 226 206 240 150 207 190,8 Geburt 725 741 660 731 671 612 792 726 737 734 712,9 Tod

747

575

702

576

863

971

658

473

1069 637

727,1

Bei aller gebotenen Vorsicht und im Vergleich zu den Konsistorien Stolberg und Eisleben sowie im Hinblick auf die Entwicklung im gesamten Kurfürstentum kann davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerungsentwicklung weiten Teilen Thüringens während des Siebenjährigen Krieges ebenfalls negativ war. Diese Befunde werden aus dem Raum Eisenach bestätigt, wo ebenfalls »kein Wachstum« konstatiert wird und sogar von Abnahme die Rede ist.57 Nach dem Krieg kam es definitiv in Thüringen wie auch im Kurfürstentum insgesamt zu einem starken Wachstum. Diese Tatsache spiegelt der Index wider, der im Vergleich zum Jahr 1755 im Jahr 1772 im Thüringischen Kreis bei 101,8, in den beiden Kreisen Neustadt und Vogtland bei 104,5 und in Henneberg bei 103 lag. Trotzdem wütete auch in diesen Regionen der Hunger in den Jahren 1771/72. Im gesamten Kurfürstentum lag die Anzahl der Gestorbenen im Jahr 1772 um 64 532 höher als die der Geborenen. Am schlimmsten wirkte sich diese gravierende Subsistenz- und Hungerkrise im Erzgebirgischen Kreis aus, wo sich der natürliche Rückgang, also das Verhältnis der Geburten zu den Verstorbenen, auf 21 650 Personen belief (Konsumentenzahl Ende 1772: 278 884). Die hohe Mortalität wird nicht zuletzt im Vergleich mit der ebenfalls sehr dicht besiedelten und durch Heimgewerbe geprägten Oberlausitz deutlich. Dort betrug der natürliche Rückgang zwar nur 7 904 Köpfen, die Einwohnerzahl lag hingegen bei 259 175. Im landwirtschaftlich fruchtbaren und ertragreichen Thüringer Kreis wurden im Jahr 1772 hingegen nur 3 323 Menschen mehr begraben als getauft (Konsumentenzahl Ende 1772: 168 045). Auch im Neustädter Kreis (-1 131), in Stolberg-Stolberg (-283), Stolberg-Roßla (-205) sowie im Konsistorium Schleusingen (-1 631) war die natürliche Bewegung negativ.58 Wenn bedacht wird, dass im Neustädter Kreis Ende des Jahres 1772 exakt 32 277 Konsumenten 56 SächsHStA Dresden, Loc. 4530, Vol. I (Verzeichnis der geborenen, gestorbenen und getrauten Personen 1753 – 1763), unfol. – Das Konsistorium Schleusingen besaß die kirchliche Aufsicht über die hennebergischen Ämter, die zu Kursachsen gehörten. 57 Bartholomäus: Bevölkerungsbewegung im Eisenacher Land (wie Anm. 38), S. 100. 58 SächsHStA Dresden, Loc. 4530, Vol. VII (Haupttabelle: Verzeichnis des Überschusses der Geborenen gegenüber den Gestorbenen 1772 – 1790), unfol.

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gezählt wurden, in den drei hennebergischen Ämtern indes 20 000, dann lässt die negative Entwicklung im Konsistorium Schleusingen erahnen, dass die Menschen im Thüringer Wald, vor allem jene, die im Heimgewerbe ihr Brot verdienten und auf den Nahrungsmittelmarkt angewiesen waren, ebenfalls arg vom Hunger getroffen wurden. Vielleicht bewog die landesweite Hungersnot auch die Großherzoglich-sächsisch-ernestinische Administration, im Jahr 1772 eine allgemeine Einwohnererhebung vorzunehmen.59 Nach der Überwindung der Krisenjahre von 1771 bis 1773 setzte ein langanhaltender Bevölkerungswachstum im gesamten Kurfürstentum ein. Die sehr geringen Rückschläge der Jahre 1792 und 1800 fallen kaum ins Gewicht. Relativ verlässliche Daten über die regionale Bevölkerungsentwicklung in Kursachsen liegen von 1801 bis 1814 vor. Da jedoch Thüringen im Laufe des Jahres 1806 und bald darauf auch das Kurfürstentum Sachsen in die Napoleonischen Kriege hineingezogen wurden, allerorts Soldatenaushebungen erfolgten und es zu territorialen Veränderungen infolge des Friedens von Posen (1806) kam, wird eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Interpretation des Bevölkerungsganges immens erschwert. Somit erscheint es abschließend als sinnvoll, sich allein der Entwicklung bis 1805 zu widmen. Insbesondere die territorialen Veränderungen, die durch die Begründung des Königreichs Westfalen eingetreten sind, verhindern einen Vergleich der Daten nach 1806, da Kursachsen die Ganerbschaft Treffurt mit der Vogtei Dorla, Teile des Thüringischen Kreises sowie einen kleinen Teil des Kurkreises zugunsten des Königreichs Westfalen abtreten musste. Die nachfolgende Tabelle gibt Auskunft über die regionale Bevölkerungsentwicklung im Kurfürstentum Sachsen zwischen 1791 und 1805. Tabelle 5: Index der regionalen Bevölkerungsentwicklung in Kursachsen (1791, 1801, 1805)

Kurkreis Thüringischer Kreis

1791 Anzahl 128 810 184 029

Index 100,0 100,0

1801 Anzahl 135 721 189 420

Index 105,3 102,9

1805 Anzahl 141 277 197 025

Index 109,6 107,0

Meißnischer Kreis Leipziger Kreis

277 170 224 301

100,0 100,0

280 636 231 816

101,2 103,3

290 219 240 488

104,7 107,2

Erzgebirgischer Kreis Vogtländischer Kreis

399 002 81 331

100,0 100,0

422 171 84 836

105,8 104,3

441 121 88 773

110,5 109,1

Neustädter Kreis Henneberg

36 052 22 100

100,0 100,0

36 400 23 659

100,9 107,0

38 721 23 997

107,4 108,5

Merseburg/Naumburg

70 860

100,0

72 339

102,0

75 753

106,9

59 Bartholomäus: Bevölkerungsbewegung im Eisenacher Land (wie Anm. 38), S. 46.

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Anmerkungen zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1500 – 1800)

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(Fortsetzung) 1791

1801

1805

Oberlausitz

Anzahl 296 093

Index 100,0

Anzahl 312 602

Index 105,5

Anzahl 320 685

Index 108,3

Niederlausitz Andere*

116 018 62 335

100,0 100,0

122 730 64 787

105,7 103,9

127 950 66 243

110,2 106,2

Kursachsen (gesamt) 1 898 101 100,0 1 977 117 104,1 2 052 252 108,1 * Dazu wurden das Bergamt (ca. 6 700 Köpfe), Treffurt und Dorla (ca. 7 200) und das Militär (> 50 850) gezählt.

Eine Interpretation der vorliegenden Daten ist ohne Kenntnis der agrarischen und gewerblichen Entwicklung in den einzelnen Regionen nur ansatzweise möglich. Gleichermaßen problematisch ist es, einen zufällig gewählten Index, in dem Fall das Jahr 1791, als Maßstab anzulegen. Das Jahr 1791 wurde jedoch deshalb gewählt, da erstmals die Pfarrer und ihre Familien mit zu den gewöhnlichen Konsumenten gezählt worden sind. Bei aller gebotenen Vorsicht hat es den Anschein, dass in den stärker agrarisch geprägten Regionen (Thüringischer, Meißnischer, Neustädter Kreis; Stiftsgebiete Naumburg und Merseburg) der Bevölkerungszuwachs relativ gering ausfiel. Allerdings widerspricht dieser These der starke Anstieg in der Niederlausitz und im Kurkreis um Wittenberg. Gewagte Interpretationen, das beispielsweise die Dominanz der Gutsherrschaft in diesen ostelbischen Gebieten zu diesem stärkeren Bevölkerungsanstieg geführt hat, verbieten sich aufgrund fehlender Informationen. Den relativ starken Anstieg in dem ohnehin dicht besiedelten Erzgebirgischen Kreis sowie in der Oberlausitz kann hingegen durchaus mit der sehr stark vertretenen Heimindustrie erklärt werden; ähnliche Befunde (vor allem zum Jahr 1801) liegen für die Ämter Kühndorf, Schleusingen und Suhl vor. Nicht zuletzt ist die faktische Bevölkerungsstagnation im Neustädter Kreis zwischen 1791 und 1801 herauszustreichen, was mit dem geltenden Anerbrecht und einer nur ansatzweise ausgeprägten Heimindustrie erklärt werden könnte.

4.

Ausblick

Die vorindustrielle Bevölkerungsentwicklung ist nach wie vor ein weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld. Die Ursachen sind in der komplizierten Quellenüberlieferung zu suchen. Lokale Einzelstudien aufgrund ausgewerteter Kirchenbücher lassen sich kaum verallgemeinern. Tragfähiger sind hingegen jene Forschungen, wie sie von Fritz Körner, Hans Eberhardt, Georg Bartholomäus u. a. für einzelne Regionen bzw. konkrete Zeitabschnitte vorgelegt wurden. Sieht man einmal von der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorliegenden kursäch-

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sischen Protostatistik ab – die durchaus substantielle Aussagen für weite Teile Thüringens ermöglicht –, dann fallen vor allem fehlende Studien mit vergleichbaren Daten der ernestinischen Territorien, aber auch der Schwarzburger, Reußen oder des Erzstifts Mainz (Eichsfeld, Erfurt Landgebiet) ins Gewicht. Dies ist vor allem deshalb zu bedauern, da Thüringen aufgrund seiner politischen Vielgestaltigkeit und seiner wirtschaftlichen, verfassungsrechtlichen, sozialen und nicht zuletzt demographischen Disproportionen, eine hervorragendes Arbeitsfeld für eine vergleichende Regional- und Landesgeschichte darstellt. Zugegebenermaßen: Die Erhebung protostatistischen Materials aus vorindustrieller Zeit muss sich zwangsläufig an den zeitgenössischen Verwaltungseinheiten und historischen Landesgrenzen orientieren. Aber der Waidanbau im Thüringer Becken, die bäuerlichen Erbgewohnheiten, vor allem jedoch die regionalen Protoindustrien (Eisen, Kupfer, Glas, Leinwand, Energiesektor) haben sich unabhängig von der politischen Vielgestaltigkeit ausgeprägt, denn die wirtschaftliche, soziale und demographische Entwicklung des gesamten Landes war stets regional determiniert.

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Eva Kell

Der Brand des Saarbrücker Schlosses am 7. Oktober 1793 von Johann Friedrich Dryander – eine Bild(er)geschichte

Geschichte wird heute abgesehen von der historiographischen Fachliteratur in den Massenmedien überwiegend durch Bilder vermittelt. Geschichtliche Vorstellungen werden bildlich gedacht. Wenn zum Beispiel die Zeit des Nationalsozialismus vorwiegend in Schwarz-Weiß vor dem inneren Auge projiziert wird, so entspricht das dem damaligen technischen Standard von Film und Fotografie.1 Zugleich bleiben bisher viele Fragen im Umgang mit Bildern offen: »Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir an Geschichte denken? Welche Bildangebote haben Schulbücher [Zeitschriften, Filme, Dokumentationen, Ausstellungen etc.] in den 50er, 60er etc. Jahren gemacht und das visuelle Gedächtnis der jeweiligen Generation geprägt?«2 Werden Bilder als Quellen für den historischen Erkenntnisprozess betrachtet, so stellt sich vor allem deren Konkretheit als Schwäche heraus, denn sie halten nur einen engen räumlichen Ausschnitt aus einem temporalen und räumlichen Kontinuum fest. Die in ihnen dargestellten Situationen sind aus Sicht des Historikers zeitlos; im Bild werden sämtliche visuellen Elemente gleichzeitig präsentiert; das Bild ist begriffslos und kann keine Abstraktion bilden, keine Negationen ausdrücken, die Dimension der Wirklichkeit wird reduziert.3 Andererseits ist die Konkretheit des Bildes eine seiner Stärken. Es ist unmöglich, alle optischen Signale eines Bildes in Sprache auszudrücken. »Bilder, historische Bilder, sind die Aufnahme von Sinnlichkeit in die Narrativität von Geschichte. Sie füllen die sprachliche Abstraktheit mit sinnlicher Konkretheit.«4 Ein Bild, das über Generationen das regionale Bildgedächtnis und geschichtliche Vorstellungen in der Saarregion geprägt hat, ist das 1798 fertig gestellte Ölgemälde von Johann Friedrich Dryander »Der Brand des Saarbrücker 1 Michael Sauer: Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren, Seelze-Velber 2000, S. 9. 2 Hans-Jürgen Pandel: Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht. Bildinterpretation I, Schwalbach/Ts. 2008. 3 Ebd. S. 13ff, bes. S. 20. 4 Ebd. S. 22.

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Schlosses am 7. Oktober 1793«. Die Faszination für das Gemälde, das in der Alten Sammlung des Saarlandmuseums seinen festen Platz hat, führte zu zahlreichen Abbildungen in historiographischen Publikationen, Ausstellungskatalogen und Schulbüchern. Das Gemälde selbst ist zeitgenössisch und bis ins 20. Jahrhundert mehrfach aufwändig kopiert worden. In kunsthistorischen und historischen Fachbeiträgen zur Würdigung und Rezeption des Künstlers oder zur Französischen Revolution in der Saarregion wird es ausführlich besprochen.5 Ausgehend von der Rolle dieses Bildes im visuellen Gedächtnis der Region bis heute, wird hier in einem ersten Schritt zunächst die Frage nach der Verbindung zwischen dem Ereignis und dessen Darstellung auf dem Gemälde gestellt, wobei die schriftlichen Quellen zum Schlossbrand von 1793 herangezogen werden. Im zweiten Schritt wird die Historiographie zum Schlossbrand daraufhin untersucht, inwiefern die schriftlichen ebenso wie die bildlichen Quellen ihre Spuren hinterlassen und sich gegenseitig beeinflusst haben. Im dritten Abschnitt schließlich werden aktuelle kunsthistorische Deutungen der Bildikone Dryanders mit fachdidaktischen Überlegungen und Methoden zur Bildinterpretation verknüpft, die zeigen, wie im Sinne einer Betrachtung des Bildes als Quelle die optischen Signale unter historischen Fragestellungen weiter ausgeschöpft werden können.

1. Der Brand des Saarbrücker Stengel-Schlosses war Teil der Ereignisse rund um das Ausgreifen der Französischen Revolution auf die Territorien an der Saar und im gesamten linksrheinischen Reichsgebiet. Im Fürstentum Nassau-Saarbrücken hatte der Ausbruch der Revolution seit 1789 zunächst wie in anderen Kleinterritorien an der Grenze zu Frankreich zu verstärkten Unruhen geführt.6 Es kam zu Beschwerdekatalogen, Tumulten und vor allem zu einem Streit um die Landkasse, der allerdings noch beigelegt werden konnte und in dem Fürst Ludwig letztendlich nachgeben musste. Als die französischen Revolutionstruppen im September 1792 allerdings die Grenzen überschritten und seit dem 14. November mit ihrer Botschaft »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« auch die unmittelbar dies- und jenseits der Saar gelegenen benachbarten Saarstädte Saarbrücken und St. Johann erreichten und das Befreiungsdekret des Konvents 5 Die Auswertung dieser Publikationen ist wesentlicher Bestandteil dieses Beitrages und werden daher an entsprechender Stelle zitiert. 6 Vgl. zum Folgenden Johannes Schmitt: Französische Revolution an der Saar, in: Ders.: Revolutionäre Saarregion 1789 – 1850, Gesammelte Aufsätze, St. Ingbert 2005, S. 18 – 39, bes. S. 27 ff.

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Der Brand des Saarbrücker Schlosses

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Abb. 1: Johann Friedrich Dryander, Der Brand des Saarbrücker Schlosses am 7. Oktober 1793, 1795 – 1798, Öl auf Leinwand. Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarlandmuseum Saarbrücken, Foto: Tom Gundelwein.

publik wurde, flammten die Beschwerden um die Landkasse erneut auf. Fürst Ludwig wurde zu weiteren Zugeständnissen gezwungen, u. a. der Aufhebung der Leibeigenschaft. Weitere Forderungen folgten, immer verbunden mit der Drohung »widrigenfalls sich mit der französischen Nation zu vereinigen«. Die Beispiele der Reunionen der nassau-saarbrückischen Grafschaft Saarwerden, der Mairie Püttlingen und des pfalz-zweibrückischen Oberamtes Schaumburg zeigten, dass dies keine leere Drohung war.7 1793 wurde aus dem französischen Befreiungskrieg ein Eroberungskrieg. Im Frühjahr flüchteten die noch ausharrenden linksrheinischen Reichsfürsten, im Mai auch Fürst Ludwig von Nassau-Saarbrücken. Seitdem unterstanden die »pays conquis« wechselnden französischen Militär- und Zivilverwaltungen, welche die Region in den folgenden Kriegsjahren rücksichtslos ausbeuteten. Bis 1794 war die Saargegend unmittelbarer Kriegsschauplatz. Einerseits hatte das französische Militär die Eroberung Triers als Ziel, andererseits sollten preußische und österreichische Truppen dies verhindern und ihrerseits auf die fran-

7 Ebd, S. 30.

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Eva Kell

zösische Festung Saarlouis vorrücken.8 Im Herbst 1793 standen die preußischen Truppen unmittelbar an der Saar. Die Städte St. Johann und Saarbrücken waren französisch besetzt. »1793 Januar den 11. haben wir die erste Einquartierung der Franzosen hierher bekommen und bestund in der Legion de Kellermann, in Husaren, Chasseurs zu Fuß und zu Pferd. Diese hatten wir bis gegen Ostern. […] September den 27., 28. Haben die Preußen die Franzosen von Bagatell, Blieskastel und St. Ingbert vertrieben bis hierher oder an Halberg, Eschberg, Dutweiler die ganze Linie bis an die Saar ; den 29. Haben sie die Franzosen bis in die Stadt vertrieben und haben sich auf dem Bismisheimer Berg, Halberg, Eschberg, Schwarzenberg, Humburg und Ludwigsberg festgesetzt.«9

In dieser angespannten Phase des Krieges und der unmittelbaren Belagerung der Saarstädte brannten in Saarbrücken die Schlösser. Am 7. Oktober wurde zunächst das Lustschloss auf den Ludwigsberg, abends dann das Residenzschloss auf dem Schlossberg ein Raub der Flammen. Die Preußen rückten jedoch nicht weiter vor, sondern zogen sich im Winter Richtung Kaiserslautern zurück. 1794 zog sich Preußen dann komplett aus dem linksrheinischen Krieg zurück. Die Saarregion blieb französisch besetzt, war aber bis zum Frieden von Campo Formio immer wieder Austragungsort von Scharmützeln und Gefechten unter Spähtrupps sowie Durchmarschgebiet der französischen Truppen. Der Brand des Saarbrücker Schlosses wurde in den zeitgenössischen Quellen aus unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Ereignis zunächst vom pfalz-zweibrückischen Amtmann Moser von Tholey aus, seinem Amtssitz, überliefert. Er hielt sich, nachdem das Oberamt am 16. März 1793 vom Konvent offiziell reuniert worden war, als loyaler herzoglicher Beamter nur noch sporadisch dort auf, wenn die militärische Lage es zuließ, über die er stets gut informiert war.10 Er berichtete am 8. Oktober 1793: »In der Nacht vom gestrigen auf den heutigen sah man hier an den Wolken, welche über der Gegend von Saarbrücken stunden, den Widerschein eines starken Feuers. Ob die Stadt oder das dasige Schloß oder ein Magazin in Brand gesteckt worden sei, ist hier noch nicht bekannt.«11 Die in Abschrift durch seine Nachkommen als »Tagebuch« überlieferte sogenannte Chronik des St. Johanner Drechslers und zeitweiligen Bürgermeisters 8 Vgl. Johannes Schmitt: Eroberung oder Befreiung? Der Feldzug der Moselarmee zur Eroberung Triers (1792), in: Ders.: Revolutionäre Saarregion 1789 – 1850, Gesammelte Aufsätze, St. Ingbert 2005, S. 143 – 179; Ders.: Revolutionskrieg im Norden der Saarregion 1793/ 94, in: Ders.: Revolutionäre Saarregion 1789 – 1850, Gesammelte Aufsätze, St. Ingbert 2005, S. 207 – 240, hier S. 210ff und 218 f. 9 Firmondsche Chronik 1790 – 1801, in: August Krohn (Hg.): Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, 1900/7, S. 30. 10 Johannes Schmitt: »…der Sclaverei ledig …«! Die Freiheits- und Reunionsbewegung im Oberamt Schaumburg (1792/93), in: Ders.: Revolutionäre Saarregion 1789 – 1850, Gesammelte Aufsätze, St. Ingbert 2005, S. 198 – 206, bes . S. 198 ff. sowie Anm. 86. 11 Landesarchiv Speyer, B2 6406, fol. 230, zitiert auch in Schmitt (wie Anm. 10), S. 212.

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Der Brand des Saarbrücker Schlosses

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Heinrich Gottlieb (1736 – 1808), die für die Zeit der Französischen Revolution insbesondere über den Widerstand gegen die fürstliche Herrschaft berichtete, weist für die Zeit nach dem Einmarsch der französischen Truppen eine Lücke auf. Drei Seiten mit Aufzeichnungen zwischen dem 27. Januar 1793 und dem 21. September 1794 sind herausgeschnitten. Damit fehlt die Darstellung des Schlossbrandes. Zudem sind in der 1900 erfolgten Edition Veränderungen am Text erfolgt, die eine pro-französische Sicht verhindern sollten.12 Auch die bereits zitierte »Firmondsche Chronik« des angesehenen St. Johanner Kaufmanns und Gastwirtes Georg Ludwig Firmond (1733 – 1810) ist ein in Abschrift durch die Nachkommen erhaltenes Dokument. Nach Einträgen in größeren Zeitabschnitten und Abschriften fürstlicher Dekrete, die bis 1790 reichten und die auch die Unruhen bis zum Einmarsch der französischen Truppen thematisierten, wurde die Chronik ab dem September 1793 zum Tagebuch, das mit nahezu täglichen Notizen bis zum 13. Mai 1801 fortgeschrieben wurde.13 Sie setzt mit dem Satz ein: »Hat die Revolution auch hier ihren Anfang genommen, welche die französische Luft hierher geweht.«14 Firmond schilderte die Ereignisse des 7. Oktober und damit den Brand des Saarbrücker Schlosses nüchtern und sachlich mit präzisen Zeitangaben und ohne direkte Schuldzuweisungen bezüglich des in Flammen aufgegangenen Residenzschlosses: »Den 7. morgens haben sie das Schloß [Ludwigsberg] nebst den umherstehenden Gebäuden und Wohnhaus angesteckt und verbrannt, auf dem Ludwigsberg auch die Wappen und Statuen vom Schloß und den ganzen Berg umgeschmissen und verbrochen und alles ruiniert, was am ganzen Berggestanden; […] ; abends um 7 Uhr wurde auch Feuer in das Saarbrücker Schloß eingelegt in den Flügel gegen die Saar, daß es schon um 8 Uhr im völligen Brande war, doch wurde der linke Flügel noch gerettet. Der rechte Flügel mit dem Corps de Logis ist ganz bis auf die 4 Mauern abgebrannt; es brannte bis den 11., ungeachtet daß beide Städte Tag und Nacht daran löschten; […]«.15

Sehr viel stärker politisch – antifranzösisch gefärbt – ist dagegen die teils in Briefen, teils in Tagebuchform 1796/97 gedruckt vorliegende Schilderung der Ereignisse durch den damals in Saarbrücken lebenden Advokaten Philipp Bernhard Horstmann (1757 – 1816), der 1794 ins Rechtsrheinische emigrierte und der seit 1800 in nassau-weilburgischen Diensten stand. Anlass seiner Dar12 Vgl. Gottliebsche Chronik, in: August Krohn (Hg.): Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, Heft 7, Saarbrücken 1900, S. 1 – 11. Zur Edition vgl. Hans-Walter Herrmann: Erfahrungen mit der Französischen Republik als Besatzungsmacht. Die Saargegend in den Koalitionskriegen, Chroniken, Tagebücher, Memoiren, Nr. 131 – 136, in: Die Französische Revolution und die Saar. Ausstellung des Landesarchivs Saarbrücken. Saarbrücken Saarland-Museum 10. Dezember 1989 – 28. Januar 1990, St. Ingbert 1989, S. 129 f. 13 Vgl. Herrmann, Erfahrungen (wie Anm. 12), S.130 f. Diese Quelle wurde weitgehend unverändert ediert; Edition der Firmondschen Chronik (wie Anm. 9), S. 28 ff. 14 Firmondsche Chronik (wie Anm. 9), S. 28. 15 Firmondsche Chronik (wie Anm. 9), S. 32.

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stellungen war die von ihm angenommene Unkenntnis der rechtsrheinischen Bevölkerung über die konkrete Situation im Linksrheinischen, auf die er als regimetreuer Emigrant stieß. Auf eigene Kosten gedruckt, zieht sich durch die beiden Bände »die tiefe Abneigung gegen die Franzosen, die teilweise in Spott umschlägt«,16 entsprechend fiel seine Eintragung für den 7. Oktober 1793 aus, den er dramatisierend mit »den 7. October um Mitternacht« betitelte.17 »Dieser Tag war für mich und alle hiesigen Einwohner ein Tag des Schreckens und der bängsten Sorgen. […] Diesen Vormittag zog ein Trupp Kanoniers, zu welchem sich ein starker Haufen Tirailleurs und unbehostes Gesindel mit Galgenphysiognomien gesellet hatte, aus der Stadt gegen den Ludwigsberg. Da solche mit Pechkränzen, Stroh und anderen feuerfangenden Materien beladen waren, so konnten wir ihre Absicht errathen, ehe die vom Ludwigsberg auflodernden Flammen uns von solcher belehrten. […] Um 8 Uhr Abends ertönte ein fürchterliches Geschrei aux armes! aux armes! [in der Firmondschen Chronik wurde dies für den 8. Oktober morgens um 10 Uhr als blinder Alarm berichtet.18] auf den Straßen. Nicht einmal eine Minute blieb uns der Gedanke eines Angriffs der Deutschen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte uns die wahre Ursache: Das schöne fürstliche Schloß stand in hellen Flammen. Ich würde vergebens versuchen den Schrecken zu schildern, welchen dieser Anblick bei den Einwohnern verursachte, vergebens die Furcht, welche die Franzosen ergriff, und den Lärm von den Munitionswagen, welche von Saarbrücken nach St. Johann gebracht wurden, das Geschrei derjenigen, welche von St Johann nach Saarbrücken flüchteten, wozu alle Franzosen gehörten, welche nicht in Militärdiensten standen. Die Franzosen ergriffen das Gewehr und stellten sich in die Straßen, obwohl mit Furcht und Zittern, da einige alle Augenblicke einen Angriff von den Deutschen vermuteten, andere glaubten, daß die Armee im Abmarsch sei und das Verbrennen des Schlosses wie an anderen Orten z. B. in Homburg [Das Schloss Karlsberg bei Homburg war am 28. Juli 1793 zunächst geplündert, dann angezündet worden] noch die letzte Heldenthat vorstellen sollte. Wir glaubten das letzte und niemand unterstand sich aus Furcht vor Plünderung sein Haus zu verlassen, zumal da man sah, daß alle Rettung vergeblich war und man erfuhr, daß diejenigen, welche von St. Johann zum Löschen nach Saarbrücken geeilt, auf der Brücke durch die Wache zurückgewiesen worden waren. Endlich nach dreiviertel Stunden wurden die Bürger zum Löschen eingeladen.«

Seine Spekulationen über die Entstehung des Brandes waren eindeutig. Der französische Volkskommissar Johann Franz Ehrmann19 und »sein Kompagnon 16 Vgl. Herrmann, Erfahrungen (wie Anm. 12), S. 131 – 133, Zitat S. 132. 17 Horstmann: Die Franzosen in Saarbrücken /1792 – 94). Neuabdruck mit elf Beilagen. Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, 1890/5, Zitat S. 144 ff. Ursprünglicher Titel: Die Franzosen in Saarbrücken und den deutschen Reichslanden im Saargau und Westrich (1792 – 94) in Briefen von einem Augenzeugen, auf Kosten des Verfassers 1796. 18 Firmondsche Chronik (wie Anm. 9), S. 32. 19 Der Straßburger Jurist Johann Franz Ehrmann war nach seiner Tätigkeit am Conseil G¦neral in Straßburg 1792 D¦put¦ suppl¦ant im Konvent und wurde 1793 r¦presentant en mission — l’arm¦e du Rhin. Zugleich war er mit acht weiteren Kollegen für die Revolutionstribunale in

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Archier« hätten »Schurken von Kanoniers« angesichts des befürchteten Vorrückens der Preußen dazu veranlasst. Sie hätten Pechkränze und Stroh zum Schloss geschleppt und zusätzlich Löcher ins Dach geschlagen, um mit Zugluft den Brand anzufachen. Ebenso legte er sich in den Motiven für das von Saarbrücker Seite nicht erfolgte Löschen fest. Die Franzosen ihrerseits hätten von militärischer Seite aus intensiv nach den Urhebern gefahndet, da der Brand die Truppen erheblich gefährdet habe. Um von eigener Beteiligung abzulenken, sei dann aber das Gerücht in Umlauf gebracht worden, Fürst Ludwig selbst habe den Brand befohlen und die Einwohner hätten dies umgesetzt, was nicht wenige Soldaten auch glaubten. Insofern war Horstmann ein erster Gewährsmann für die Gerüchteküche, die nach dem Brand brodelte.20 Trotz des Schreckensszenarios seiner Briefe ließ sich Horstmann nach seinen eigenen Angaben ausgerechnet von seiner französischen Einquartierung nachts über die aktuelle militärische Lage und die Löscharbeiten berichten und beruhigen und fand sogar Nachtruhe »Also zu Bette. Gute Nacht!« endete sein Beitrag vom 7. Oktober.21 In zeitlicher Nähe zu den Aufzeichnungen Horstmanns entstand das Gemälde Johann Friedrich Dryanders (1756 – 1812) »Der Brand des Saarbrücker Schlosses«, über das er in seinem Arbeitsbuch am 22. Juni 1798 vermerkte: » 22 den Schloßbrand in Öhlfarb vollendet, welcher am 7ten Oct: 1793 abends nach 7 Uhr durch die Franzosen veranstaldt ward. Dieses Stück ist schon vor 3 Jahren angefangen worden.«22 Dryander, als Sohn eines Posamentenmachers aus einer Kunsthandwerkerfamilie stammend, wurde u. a. in Darmstadt zum Porträt- und Pastellmaler ausgebildet und war bis zu seiner Bestallung zum unbesoldeten Hofmaler des Fürsten Ludwig von Nassau-Saarbrücken 1787 zeitweise als Wandermaler an verschiedenen Fürstenhöfen tätig gewesen. Er wohnte in St. Johann in der Brückengasse, d. h. nahe dem Betrachterstandpunkt, den er für sein Gemälde wählte.23 Im Folgenden wird das Gemälde zunächst beschrieben als Voraussetzung zur Interpretation seines historischen Dokumentensinns, d. h. zur Erschließung

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den Ost-Departements zuständig. Vgl. Horstmann (wie Anm. 17), Vorbemerkungen bei der Neuherausgabe S. IV. Horstmann (wie Anm. 17), S. 147 – 149. Ebd., S. 146. An anderer Stelle berichtete er, dass die französischen Einquartierungen angesichts von Brotmangel, weil keine Mühle zur Verfügung stand, ihr Commissbrot mit den Bürgern teilten, da »viele mit ihren Wirthen speisen und solche ihr Brot und Fleisch und andere Lebensmittel, die sie im Magazin erhalten, zukommen lassen.«, ebd. S. 149 f. Elke Fegert: Johann Friedrich Dryander. Die Gemälde, Unveröffentlichte Magisterarbeit der Universität des Saarlandes 1996. Mit Erlaubnis der Verfasserin durfte die Arbeit eingesehen und das darin vollständig transkribierte Arbeitsbuch Dryanders kopiert werden; dafür herzlichen Dank. Zitat S. 131. Karl Lohmeyer: Johann Friedrich Dryander, der Malerchronist des bürgerlichen Saarbrückens um 1800, zugleich ein Beitrag zur saarländischen Familienkunde, Sonderdruck aus Saarheimatbilder, Illustrierte Monatsbeilage zum Saarfreund 6, Nr. 112, 1930, S. 2.

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auch von »Intentionen und unbewußte[n] Aussagen […], die sich […] gerade erst in der Gegenwart offenbaren.«24 Die Bildelemente werden in Beziehung zu den Beschreibungen des Ereignisses in den schriftlichen Quellen gesetzt. Zweckdienlich erscheint dazu eine Drittelung des Bildes. Das obere Drittel des Gemäldes wird beherrscht vom nächtlichen, von Flammen und Rauch eingenommenen Himmel, was den Beobachtungen des rund 30 Kilometer entfernt in Tholey weilenden Amtmanns Moser entspricht. Der saarseitige Flügel des Schlosses, welches zusammen mit dem Panorama der Landschaft, der Stadt Saarbrücken und des linken Saarufers das mittlere Bilddrittel ausfüllt, steht in Flammen. Aus den noch intakten Fensterscheiben des brennenden Schlosses, welches das mittlere Drittel des Bildes im Zentrum einnimmt, leuchtet der Flammenschein. Winzig und zugleich in hoher Detailtreue sind Einzelheiten auszumachen wie der abgeholzte Terrassengarten am Schloss, Feldlager der Franzosen auf den umliegenden Hügeln links des Schlosses und im Schlossgarten am linken Saarufer. Hilfreich zur Beobachtung der Details war hier der Vergrößerungsmodus der digitalen Aufnahme. Vieles davon ist ohne dieses technische Hilfsmittel auf dem Original im Museum nicht zu erkennen. Die Details müssen daher vor allem Dryander selbst wichtig gewesen sein. Dafür spricht die Signatur: »Nach der Natur g. von F. Dryander«.25 Im weiter entfernten Militärlager erscheint sogar, kaum ein Pinselstrich, ein Freiheitsbaum mit roter Jakobinermütze. Hausdächer, Häuserfassaden und -fenster bis hin zu Lattenzäunen am Flussufer kennzeichnen die Darstellung der Stadt Saarbrücken auf der rechten Seite des brennenden Gebäudes. Die vom Flammenschein erhellte Turmuhr der Schlosskirche zeigt schemenhaft sieben Uhr an. Damit wird die Bildzeit exakt bestimmt.26 Personengruppen sind erkennbar in unmittelbarer Nähe des brennenden Schlosses, an der Mauerkante der Schlossmauer, am im Schatten liegenden linken Saarufer rechts der Saarbrücke, links der Brücke am unteren Ende der Schlossterrasse und im Militärlager im Schlossgarten. Dort handelt es sich mit 24 Vgl. Rainer Wohlfeil: Das Bild als Geschichtsquelle, in: HZ 243/1986, S. 91 – 100, Zitat S. 98. 25 Die Entzifferung der rechts unten an einer Mauer erkennbaren Signatur ist nicht ganz sicher. Stefan Heinlein gibt als Signatur an: »gemalt von F. Dryander 1798«, in: Ralph Melcher (Hg.): bearbeitet von Stefan Heinlein unter Mitarbeit von Roland Augustin und Eva Wolf: Die Gemälde der Alten Sammlung im Saarlandmuseum, Saarbrücken 2009, S. 53. Die Maße des Gemäldes betragen 77x99,5 cm. 26 Der Sonnenuntergang wird für Saarbrücken am 7. Oktober nach Korrektur der Sommerzeit mit 17.57 Uhr angegeben, die bürgerliche Dämmerung dauert bis 18. 29 Uhr, so dass die nächtlichen Szenerie gerechtfertigt ist. Vgl. Internetagentur mindshape GmbH, Sebastian Erelhofer, Robert Neumcke: http://www.sonnenuntergang-zeit.de/sonnenuntergang:saarbruek ken:oktober.html,[03. 01. 2013].

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hoher Wahrscheinlichkeit um Soldaten, teils um ein Feuer herum oder unter den Bäumen als zwei Berittene im Trab und Galopp. Militärwagen oder Lafetten vervollständigen das Szenario. Panik oder hektisches Agieren der Figuren sind ebenso wenig zu erkennen wie Löscharbeiten oder deren Vorbereitung. In den Häusern der Stadt Saarbrücken und den Fenstern gibt es keine Aktivitäten von Menschen. Nur in einem Gebäude direkt rechts der Saarbrücke brennt Licht. Das deckt sich mit den Angaben Horstmanns, dass dort alle in den Häusern geblieben seien. Bis auf die Dynamik des Flammenspiels wirkt das Gemälde in den oberen beiden Dritteln statisch-kulissenhaft. Die Deutung des Ereignisses, um die es Dryander ging, der das Werk für ihn untypisch ohne Auftrag für sich selbst anfertigte, auch wenn er später noch eine gut bezahlte Kopie malte,27 erfolgte im unteren Drittel des Bildes, das vom Geschehen auf der rechten, St. Johanner Saarseite und dem auf der Saarbrücke bestimmt wird. Die dramatischsten Szenen unter den zahlreichen Figuren im Vordergrund/unteren Bilddrittel spielen sich auf der Saarbrücke ab, d. h. in Richtung des brennenden Schlosses. Die ¢ bis heute im Original erhaltene ¢ Feuerspritze aus St. Johann ist gerade auf die Brücke gefahren. Das zweispännige Fuhrwerk wird von einem Kutscher und einem Reiter auf dem linken Fuhrpferd gelenkt und von etlichen Menschen begleitet, auch Frauen sind auf der Brücke. Zwei Männer werfen gestikulierend die Arme empor. Nur wenige tragen Utensilien zum Feuerlöschen wie lederne Feuereimer, einen Feuerhaken oder eine Leiter, wie ein junger Mann mit Barett, der gerade zur Brücke hineilt. In unmittelbarer Nähe zur Spritze ducken sich zwei Burschen hinter dem Rücken eines großen Mannes beim Überqueren der Brücke. Die überwiegende Anzahl der Menschen im Vordergrund, d. h. auf der Brücke, auf dem Brückenvorplatz und auf dem rechten Saarufer rechts und links der Brücke sind jedoch Beobachter des Brandes. Sie sind vom Feuerschein erhellt, werfen entsprechende Schlagschatten und wenden dem Betrachter entweder den Rücken oder das Profil zu. Gesichtszüge, Kleidung, Figur und Gestik sind vielfach gut erkennbar, so dass Zeitgenossen sich auf dem Gemälde sicher wiedererkannten. Unter den in lockeren Gruppen angeordneten Personen sind Frauen und Kinder, Bürger und Handwerker, Menschen verschiedener Altersgruppen, französische Soldaten und Stadtbewohner, Angehörige aller Schichten, manche im Nachtgewand mit Zipfelmütze und Schlafrock, andere im Gehrock oder in Arbeitskleidung. Alle tragen eine Kopfbedeckung, die Frauen Hauben, die Männer Zylinder, Zweispitz, Hut oder Mützen. Die Soldaten tragen ihr Wehrgehenk mit Säbel, zum Teil Tornister und Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, 27 Vgl. Fegert (wie Anm. 22), S. 56 f. Die Kopie wurde in seinem Arbeitsbuch auf November 1806 datiert, erstellt für seinen Schwiegersohn G.L. Korn, zusammen mit einer weiteren, die eine Ansicht von St. Johann zur Revolutionszeit wiedergab, für 100 Francs.

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sind also sowohl abmarsch- wie kampfbereit. Dies entspricht der von Horstmann geschilderten Alarmbereitschaft in Erwartung eines preußischen Angriffs oder des möglichen Abzuges aus den Saarstädten. Die Gestik der Personen zeigt, dass sie im Bann des Ereignisses stehen. Der jeweilige Gesprächspartner wird am Unterarm gepackt, die Hand zum brennenden Schloss zeigend erhoben, die Arme werden vor der Brust verschränkt oder vor das Gesicht geschlagen. Einige gaffen, die Hände in den Hosentaschen; zwei der Männer rauchen Pfeife. Jenseits der Pilaster, die den Vorplatz der Brücke zur Saar hin begrenzen, befinden sich keine Zivilisten auf den Saarwiesen. Es dominiert das französische Militär, links der Brücke mit Zelten und einem Wagenzug, womöglich die aus Saarbrücken abgezogenen Munitionswagen, denn die Pferde sind erst zum Teil ausgespannt und zusammengetrieben. Auf der Saarwiese sind drei Gruppen von Soldaten erkennbar, ein Paar, das sich am Arm gefasst hat, vier weitere mit federgeschmückten Zweispitzen und Säbel im Gespräch miteinander, eventuell Offiziere, zwei Personen, von denen die linke auf die rechte zugeht und weitere zwei, schemenhaft erkennbar unmittelbar am Saarufer, der Schlagschatten des Feuers größer als sie selbst. Auffällig erscheinen zwei Berittene, ein Husar und ein weiterer Soldat im Galopp, die sich gestikulierend eine Botschaft übermitteln; sie zeigen die Dynamik der Ereignisse für das Militär. Horstmann berichtete, dass »Eclaireurs« zur Erkundung der preußischen Truppen ausgeschickt worden seien, die dann rapportiert hätten »qu’ ils dormaient comme des blairaux«.28 Auf der rechten Seite der Brücke finden sich auf den St. Johanner Wiesen ebenfalls mehrere Beobachtergruppen von drei bis vier Personen, überwiegend die an ihrer Kopfbedeckung erkennbaren Husaren. Mitten zwischen den Pilastern des Vorplatzes dargestellt erscheint auffällig ein berittener Husar, der mit seinem Pferd gerade eine Levade ausführt. Damit ist er der Einzige, der keinen Beobachterstatus innehat, da diese Dressurübung der Hohen Schule, die damals noch zur militärischen Verteidigung im Nahkampf diente, äußerste Konzentration erfordert. Angesichts dieser Ausbildung des Pferdes dürfte der Reiter einen Offizier verkörpern. Zwei weitere berittene Husaren haben ihre Pferde durchpariert und beobachten das Flammenspiel vom Pferderücken aus. Für Dryander selbst stand laut Arbeitsbucheintrag fest, dass »die Franzosen« den Brand verursacht hätten; das Gemälde als zeit- und begriffsloses Medium konnte diese Deutung nicht wiedergeben. Dryander, der als Hofmaler gutes Geld verdient hatte, blieb auch in den Revolutionsjahren ein gesuchter Künstler. Statt Pastellporträts und Miniaturen der Hofgesellschaft erstellte er seit 1793 mit zunehmendem Erfolg Ölgemälde von französischen Offizieren, obwohl seine Fertigkeit mit dem neuen Farbmaterial noch zu wünschen ließ. Bereits am 28 Horstmann (wie Anm. 17), S. 146.

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14. November 1792, d. h. am Tag des ersten Eintreffens französischer Truppen in den Saarstädten findet sich ein entsprechender Eintrag im Arbeitsbuch: »14. Vor ein National oficier ein Bild en miniature verbessert Molitor, nachher General de division 2/45.« Im gleichen Monat stellte er noch »ein militärisches Gemälde in Öhlfarben von 16 Figuren vor den fürst zu Saarbrücken« fertig und erhielt dafür 220 Gulden.29 Die Auswertung seines Arbeitsverzeichnisses zeigt,30 dass Dryander zwischen 1791 und 1793 insgesamt 52 Miniaturen, davon fast alle Hofbestellungen, ausführte und dafür durchschnittlich 30 Gulden erhielt. An Pastellen malte er 1791: 13, 1792: 7, 1793: 1 und nahm dafür je rund 20 – 30 fl. ein. Seine Preise berechnete er nach der Anzahl der porträtierten Figuren sowie des »Beiwerks«, das neben Tieren und Accessoires auch aus einer Landschaft oder einer Stadtansicht bestehen konnte; reine Landschaftsmalerei zählte nicht zu seinen Sujets. Insgesamt 118 Posten für den Saarbrücker Hof bis zum 3. Januar 1793 wiesen Dryander als äußerst produktiven Hofmaler aus, der eine ganz handwerkliche Auffassung von seinem Metier hatte. Mit dem Herrschaftswechsel und der französischen Besatzung hatte der Künstler kein Problem, wie der Eintrag vom 14. November 1792 gezeigt hat. Nach einer »Auftragsdelle« im Winter 1792/93, die er mit Kopieren und Malunterricht füllte, akzeptierte er für seine Porträts von französischen Offizieren die Assignatenwährung und reiste seiner durch Empfehlung schnell größer werdenden militärischen Kundschaft nach Saargemünd, Forbach, Saarlouis, St. Avold, Metz und bis nach Trier nach. Er produzierte nach Skizzen, von denen viele im SaarlandMuseum erhalten sind, Porträts und Ganzkörperdarstellungen, oft mit Pferden, in Ölfarben, außerdem ein Gruppenbild vor einer Bataille. Zwischen 1793 und 1796 hatte er 160 solcher Bildaufträge von französischen Offizieren, Militär- und Zollbeamten. Auch eine schwere Krankheit, »ein hitzig Faulfieber«, die ihn im Juni 1795 in Metz ereilte, warf ihn gerade um drei Wochen zurück.31 »Offenbar spielte für Dryander die inhaltlich – politische Ausrichtung überhaupt keine Rolle, da er die Aufträge mit einer gewissen ›Gleichbehandlung‹ ausführte.« Sein Schaffen spiegele damit »geradezu paradigmatisch den 29 Fegert ( wie Anm. 22), S. 115. 30 Vgl. zum Folgenden Hermann Keuth: Das Arbeitsverzeichnis des Saarbrücker Malers J. F. Dryander, in: Saarbrücker Hefte 1956/4, S. 30 – 44, hier S. 30 f. Keuth hatte bereits eine Transkription vornehmen lassen, diese aber nicht veröffentlicht. 31 Vgl. ebd. S. 33 f; Christoph Trepesch: Assimilationstendenzen in der Kunst in den beiden Saarstädten Saarbrücken und St. Johann im Zeitalter Napoleons, in: Ausstellungskatalog »Unter der Trikolore«, Städtisches Museum Simeonstift, Bd. 2, Trier 2004, S. 827 – 842, hier S. 830 – 832. Beispiele für die Offiziersporträts in: Stefan Heinlein: Johann Friedrich Dryander – Ein Künstler zwischen Fürstenhof und Bürgertum, in: Ralph Melcher (Hg.): Johann Friedrich Dryander – Ein Künstler zwischen Fürstenhof und Bürgertum. Ausstellung 16. September 2006 – 7. Januar 2007, Saarbrücken 2006, S. 25 – 38, Bilder S. 52 ff.

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künstlerischen und gesellschaftlichen Wandel zwischen Ancien R¦gime und napoleonischer Herrschaft wider«, es manifestiere sich in ihm »ein Assimilationsprozess, der sicherlich kein Einzelfall war.«32 Abgesehen von Dryanders eigener Kopie existieren mehrere weitere zeitgenössische Bildquellen, die den Brand des Saarbrücker Schlosses wiedergeben,33 insbesondere die Gemälde von Johann Ludwig Lex (1766 – 1820) und von Georg Heinrich Pitz (1788 – 1814). Lex, ein Maleramateur, der als Registrator in Saarbrücken tätig gewesen war und seit 1804 im Rechtsrheinischen lebte, kopierte Dryanders Gemälde 1803, d. h. mit zehn Jahren Abstand zum Geschehen, als Pendantbild zu einer ebenfalls zunächst von Dryander gestalteten Ansicht des vorrevolutionären Saarbrücken und St. Johann. Eine Schäferszene inszenierte die intakte Residenzstadt als Idylle; folglich geriet das Gemälde des Schlossbrandes zum Gegenbild eines barbarischen Zerstörungsaktes. Das Feuer wurde mit Lichteffekten noch dramatischer als bei Dryander gestaltet. Die antifranzösische und antirevolutionäre politische Deutung aus Sicht des Malers war damit bei Lex im Gegensatz zu Dryander eindeutig. Pitz Ansicht des Schlossbrandes entstand 1810 und bildete eine eigenständige Wiedergabe des Ereignisses. »Man hat den Eindruck, dass hier weniger der Schlossbrand selbst als die von einem Großfeuer erleuchtete Stadtansicht von Saarbrücken das Thema des Bildes ist.«34 Pitz Gemälde verzichtet völlig auf kommentierende Zuschauer. Das Gemälde erfüllt vor allem den Topos eines Nächtlichen Stadtbrandes.35 1810, als es entstand, gehörte das linke Rheinufer seit mehr als einer Dekade zu Frankreich; Napoleons Macht war auf dem Höhepunkt; die politischen Verhältnisse hatten sich stabilisiert und vor allem hatte sich dank des code civil die Rechtsgrundlage für die Bürger nachhaltig verbessert, hinzu kam ein wirtschaftlicher Aufschwung. Zwar war das Ereignis des Schlossbrandes nicht vergessen, jedoch die Deutung als Geschehen im Umfeld der französischen Besatzung im kollektiven Gedächtnis bereits verblasst. Pitz

32 Trepesch, Assimilationstendenzen (wie Anm. 31), Zitate S. 831, 832. 33 Vgl. Eva Wolf: Kopien und Reproduktionen von Werken Johann Friedrich Dryanders, in: Ralph Melcher (Hg.): Johann Friedrich Dryander – Ein Künstler zwischen Fürstenhof und Bürgertum. Ausstellung 16. September 2006 – 7. Januar 2007, Saarbrücken 2006, S. 39 – 52, hier S. 44, dort auch eine Schwarz-Weiß-Abbildung des inzwischen verschollenen Gemäldes. 34 Ebd. S. 45 f; vgl. Herrmann, Erfahrungen (wie Anm. 12), S. 143 – 145, der fälschlicherweise den bereits 1794 in Prag gestorbenen Maler Johann Caspar Pitz als den Schöpfer des Gemäldes angibt. Johann Caspar Pitz hatte Saarbrücken aber bereits 1792 als Begleitung des letzten Wadgasser Abtes Bordier ins Prager Exil verlassen und kam damit auch als Augenzeuge des Brandes nicht in Frage. Georg Heinrich Pitz war dessen Neffe und Sohn eines Bäckermeisters in Saarbrücken. Er hatte bei Dryander gelernt. 35 Vgl. Ralph Melcher (Hg.): Die Gemälde der Alten Sammlung (wie Anm. 25), S. 117 f. Beitrag Stefan Heinlein.

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war zur Zeit des Brandes gerade fünf Jahre alt gewesen; folglich steht sein Werk bereits an der Schwelle zum Historiengemälde.

Abb. 2: Georg Heinrich Pitz, Brand des Saarbrücker Schlosses, um 1810, Öl auf Papier. Historischer Verein für die Saargegend e.V., Foto: Tom Gundelwein.

Einfluss auf die mit dem zeitlichen Abstand einsetzende Historiographie zu den regionalen Ereignissen während der Französischen Revolution in den Saarstädten einschließlich des Schlossbrandes am 7. Oktober 1793 hatten neben den bisher aufgeführten Ereignisquellen auch vorrevolutionäre Darstellungen der Herrschaft und des Hofes im Fürstentum Nassau-Saarbrücken. Dies waren vor allem obrigkeitsfreundliche Beiträge, wie beispielsweise die als Reisebriefe von 1792 datierten, als Buch 1806 verlegten Eindrücke des Freiherrn Adolph von Knigge (1752 – 1796), der beste freundschaftliche Beziehungen zu Fürst Ludwig und seiner bürgerlichen Frau Katharina Kest unterhielt.36 Darin stellte Knigge sowohl die Herrschaft des Fürsten als auch die Hofhaltung und die Schlösser überschwänglich und als geradezu mustergültig dar. Bis heute wird diese Quelle gerne quasi als Faktum zitiert.37 »Das hiesige Schloß gehört mit zu den schönsten Fürstenwohnungen in Teutschland. Es besteht aus einem Corps de logis mit zwey Flügeln und einigen Nebengebäuden, liegt, nach der Stadt zu, an einem freyen Platze, wo es sehr gut in die Augen fällt und hat an zwey anderen Seiten, über einen geschmackvollen Schloßgarten hinaus, eine herrliche Aus36 Vgl. Gräfin Katharina von Ottweiler: Denkwürdigkeiten, Für ihren Bräutigam Heinrich Wilhelmi geschrieben zu Sauer im Winter 1809, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, Heft 7, Saarbrücken 1900, S. 268. Luise von Ottweiler, eine Tochter aus der unstandesgemäßen Ehe und ältere Schwester von Katharina, wurde im Haushalt Knigges in Bremen 1792/93 auf ihr gesellschaftliches Debüt vorbereitet. 37 Das folgende Zitat findet sich in: Freiherr von Knigge in Saarbrücken, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, 1900/7, S. 241. Gekürzt zitiert in: Melcher, Die Gemälde der Alten Sammlung (wie Anm. 25), S. 140, Beitrag Stefan Heinleins zu einer Ansicht des Saarbrücker Schlosses um 1760.

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sicht in die umliegende schöne Gegend. Neben dem Schlosse ist noch ein sogenannter Wintergarten angelegt, […]« Als dem entsprechende bildliche Darstellung lässt sich eine Ansicht des Saarbrücker Schlosses um 1760 heranziehen.38 Sie ziert als Titelbild bis heute die beiden seit 1989 erschienenen Stadtgeschichten Saarbrückens und zeigt auch Gebäude, die von Baumeister Friedrich Joachim Stengel (1694 – 1787) seit 1740 geplant, aber baulich nie ausgeführt worden waren.39

2. Der Übergang von darstellenden und schriftlichen Quellen zum Brand des Saarbrücker Schlosses zur Historiographie ist fließend. In den Memoiren der Fürstentöchter Luise und Katharina wurde er nur knapp erwähnt; Katharina, die damals Sechsjährige, verlegte das Ereignis in ihrer Erinnerung sogar in den Sommer 1793.40 Mit Friederich Koellners »Geschichte des vormaligen NassauSaarbrück’schen Landes und seiner Regenten« von 1841 setzte dann ausdrücklich die Historiographie ein, die deutlich von den neuen preußischen Herrschaftsverhältnissen und ihrem Geschichtsbild geprägt war.41 Die Französische Revolution wurde trotz der Fortdauer des Rheinischen Rechts und obwohl es 1815 zu einem tatsächlichen Herrschaftswechsel anstelle einer Restauration der Fürstenherrschaft Nassau-Saarbrücken gekommen war, als Gräuel gebrandmarkt. Das Leiden der ehemaligen Regenten stand in diesen Darstellungen stellvertretend für das der ganzen Region. Koellner gab die Ereignisse wie folgt wieder : »Das Schicksal des Herzogs von Zweibrücken, und die Plünderung des Karlsberges waren gleichsam ein Vorspiel von dem, was man hier zu erwarten hatte, und diese Befürchtung war um so gewisser als die Insubordination in der französischen Armee mit schnellen Schritten einzureißen begann. […] Von jetzt an brach eine lange Reihe von Unfällen über unser Land herein, das sich zum Kriegsschauplatz umgewandelt hatte, auf welchem Brand, Verwüstung, Schrecken und Entsetzen sich von Tag zu Tag erneuerten. Keine Person, kein Eigentum war sicher, jeder Morgen führte neue Greuelthaten [der Franzosen] herbei.« 38 Vgl. Melcher, Die Gemälde der Alten Sammlung (wie Anm. 25), S. 139 – 144, Abb. S. 139, Beitrag Stefan Heinleins zu einer Ansicht des Saarbrücker Schlosses um 1760. 39 Vgl. Anm. 62 und Text. 40 Vgl. Gräfin Katharina von Ottweiler (wie Anm. 36), S.268 f; Memoiren der Gräfin Luise von Ottweiler, in: Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, 1900/7, S. 312 f. 41 Zum Folgenden vgl. Friederich Koellner : Geschichte des vormaligen Nassau-Saarbrück’schen Landes und seiner Regenten. Erster Teil: Geschichte der Grafen und Fürsten von Saarbrück, Saarbrücken 1841, Neudruck Saarbrücken 1981, Zitate S. 483, 491. Das Gerücht, der Fürst selber habe den Brand veranlasst, wurde mit Verve zurückgewiesen, S. 487.

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Koellner gehörte selbst noch der Revolutionsgeneration an. Er war dem NassauSaarbrücker Erbprinzen Heinrich, der den Brand von preußischer Seite miterlebt hatte, noch persönlich begegnet und schilderte daher gerade dessen Befindlichkeit sehr emotional. »Erbprinz Heinrich, der mit seinem Regiment in der Nähe stand, und auf dem Halberge sein Quartier genommen, suchte beim Anblick des Brandes seiner väterlichen Wohnung, die Anführer der deutschen Truppen zu bewegen, einen Angriff auf den Feind, zur Rettung des Schlosses zu unternehmen. Unstreitig würde dieser von gutem Erfolge gewesen sein, da die demoralisierten republikanischen Horden, unter Schrecken und Verwirrung, eines Überfalls gewärtig waren.« Ein gutes halbes Jahrhundert später hatte die Schlacht von Spichern am 6. August 1870 zusammen mit der preußischen Reichsgründung einen Schub des konservativen Nationalismus und Patriotismus mit gleichzeitig zunehmender Frankophobie an der Saar ausgelöst. Die seitdem erschienenen historischen Darstellungen Albert Ruppersbergs (1854 – 1930)42 zur Geschichte der Grafschaft Nassau-Saarbrücken und zur Stadtgeschichte der inzwischen zur Großstadt zusammen gewachsenen Stadt Saarbrücken, die sich auf Friederich und Adolph Koellner beriefen, gingen entsprechend in ihrer antifranzösischen und antirevolutionären Haltung noch einen deutlichen Schritt weiter. Ruppersberg adaptierte die bereits entsprechend gefärbte Quelle Horstmanns und dramatisierte sie durch Verkürzungen, emotionale Einschübe sowie die Schilderung vergangener Pracht nach dem Vorbild Knigges zusehends. »Am 7. Oktober drängten die Franzosen die preußischen Schützen auf dem Ludwigsberge mit Übermacht zurück und steckten das Schlösschen mit der ganzen fürstlichen Herrlichkeit, der Orangerie, der Fasanerie, dem reizenden Dörfchen Schönthal und den Wohnungen der Bedienten in Brand. Am Abend desselben Tages wurde das schöne Schloss in Saarbrücken ein Raub der Flammen.« »Fürst Heinrich, der letzte seines Stammes, […] hier mußte er vom Halberg aus, wo er seine Jugendjahre verlebt hatte, zusehen, wie das Schloß seiner Väter in Flammen aufging. […] Schmerz und Zorn durchwühlten sein Herz, doch ohnmächtig stand er dem Verhängnis gegenüber.« Die Zerstörung des Schlosses wurde als »Verhängnis« zur nahezu biblischen Katastrophe stilisiert. Genauso verfuhr Ruppersberg in seiner Stadtgeschichte: »Geschrei und Tumult herrschten allerorts. Die Soldaten traten unter das Gewehr und besetzten die Straßen. Niemand wurde zum Löschen zugelassen; die von St. Johann her42 Zum Folgenden vgl. Albert Ruppersberg: Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken, nach Friedrich und Adolph Köllner, II. Teil. Von der Einführung der Reformation bis zur Vereinigung an Preußen 1574 – 1815, Saarbrücken 1913, Neudruck St. Ingbert 1979, Zitate S. 369, 373; Ders.: III. Teil, Geschichte der Stadt Saarbrücken. 1. Band. Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann bis zum Jahre 1815, Saarbrücken 1913, Neudruck St. Ingbert 1979, Zitat S. 334 f.

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beieilenden Bürger wurden auf der Brücke von der Wache zurückgewiesen. Endlich nach dreiviertel Stunden wurden die Bürger zum Löschen eingeladen […]«. Dryanders Gemälde des Schlossbrandes diente als Illustration in Ruppersbergs Geschichte der Grafschaft Saarbrücken und als Beleg dieser Darstellung.43 In dem Band abgebildet ist allerdings nicht Dryanders Original, sondern eine 1895 von Alwin Gotthilf Ziehme (1835 – 1915) angefertigte Kopie, sicher kein Zufall.44 Der seit 1849 in St. Johann ansässige Architekt Ziehme hatte eine Tochter des angesehenen Kaufmanns Thomas Koehl geheiratet und damit Zugang zur bürgerlichen Elite. Er war wie Ruppersberg aktives Mitglied im Historischen Verein für die Saargegend und betätigte sich amateurhaft als Heraldiker, Genealoge, entwarf gefälligkeitshalber Wappen und Stammbäume, zeichnete nach Vorlagen Stadtansichten und alte Uniformen. 1795 kopierte er gleich zwei Gemälde Dryanders, den Schlossbrand und das Familienbild der St. Johanner Brauerdynastie Bruch. Seine Kopie des Schlossbrandes ist heute verschollen, jedoch existieren einige Abbildungen in Publikationen in SchwarzWeiß, sogar, wie bei Karl Lohmeyer, in einem kunsthistorischen Beitrag zu Dryander. Ziehmes Werk sei »eine Kopie im Sinne einer kaum zu unterscheidenden Zweitfassung«,45 urteilt die Kunstgeschichte einerseits, er habe sich dicht an sein Vorbild gehalten, »das er als authentische Darstellung eines für die Stadtgeschichte bedeutsamen Ereignisses begriff«. Andererseits habe er einige »Fehler« Dryanders verbessert und sich darüber hinaus einige Freiheiten erlaubt.46 Angesichts der »Freiheiten« Ziehmes gegenüber dem Original und der Verwendung der Kopie statt des Originals in namhaften Publikationen wird zum einen deutlich, dass Bildern kein Quellen-, sondern allenfalls ein Illustrationsstatus zugemessen wurde. Zum anderen allerdings war das 19. Jahrhundert die Hochzeit der Historienmalerei, und diese verpflichtete sich selber dem Anspruch der historischen Treue. »Die dargestellten Sachverhalte sollten so in Erscheinung treten, wie sie in ihren Zeiten anzutreffen waren.«, während dokumentarische Treue nicht unbedingte Regel war.47 Ziehmes Schlossbranddarstellung geht als Historienbild noch einen dritten Weg. Er »verbesserte« als Kopist nicht nur den Schlagschatten eines Pferdes und veränderte die Propor-

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Ebd. Ruppersberg, Grafschaft (wie Anm. 42), S. 370. Zum Folgenden vgl. Wolf, Kopien (wie Anm. 35), S. 44 f. Fegert (wie Anm. 22), S. 104 f. Vgl. die Abbildung des Ziehme-Gemäldes in: Karl Lohmeyer: Malerchronist (wie Anm. 23), Cover S. 1, dort entnommen auch die Vorlage für diesen Beitrag; eine weitere in: Wolf, Kopien (wie Anm. 33), S. 45. Zitat S. 45. 47 Pandel (wie Anm. 2) S. 52 – 56, Zitat S. 52.

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tionen des Gemäldes im Sinne einer konstruktiven Perspektive.48 Vor allem fügte er Menschen seiner Zeit in die Beobachterszene an der Brücke ein. Auf diese Weise wurde Ziehmes Gemälde für das ausgehende 19. Jahrhundert buchstäblich zum Geschichts-Bild, das einen »virtuellen« Spaziergang gebildeter Schichten ins vergangene revolutionäre Szenario suggerierte. Dryanders Vorlage war dafür sozusagen die »Spieloberfläche«. Geschichte wurde gewusst, nicht gedeutet, und im Gemälde generiert. Entsprechend wurde Dryanders Original als Guckloch in eine vergangene Epoche angesehen. Der moderne Mensch besuchte das Schlossbrandszenario sogar mit seinem Hund. So erscheint auf dem Vorplatz der Saarbrücke ein dicker Mann mit einer Dogge, der, die Hände in die Hüften gestützt, zum Brand und der Brücke hinsieht. Die Figur interagiert nicht mit den anderen dargestellten Personen, so weit ging die »Zeitreise« nicht.

Abb. 3: Alwin Gotthilf Ziehme, Nach dem Oelgemälde von F. Dryander d. a. 1793, 1895, verschollen. Schwarz-Weiß-Fotographie in: Karl Lohmeyer: Johann Friedrich Dryander, der Malerchronist des bürgerlichen Saarbrückens um 1800, zugleich ein Beitrag zur saarländischen Familienkunde, Sonderdruck aus Saarheimatbilder, Illustrierte Monatsbeilage zum Saarfreund 6, Nr. 112, 1930, S. 1.

Andere Personengruppen Dryanders wurden verändert, ausgetauscht oder weggelassen. Der Mann mit Zylinder am linken Bildrand fehlt beispielsweise; aus der Soldatengruppe im Vordergrund wurden moderne Bürger mit Bowlerhüten, den verbliebenen Soldaten fehlt das Gewehr. Die auf Dryanders Gemälde galoppierenden Reiter zwischen den Pilastern links der Brücke legen gerade 48 Wolf, Kopien (wie Anm. 35), S. 45.

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noch einen gemütlichen Trab hin, und der an einen der Pilaster gelehnte Bürger mit verschränkten Armen umarmt auf Ziehmes Gemälde eine weibliche Gestalt. Dafür sieht man bei Ziehme Soldaten mit Tornister und Gewehr auf der Brücke und nicht mehr Dryanders Bürger mit den Löschgeräten. Auf den Saarwiesen auf der rechten Brückenseite tummeln nun gleich drei Soldaten ihre Pferde in Dressurlektionen, alle anderen Beobachter dort fallen weg, ebenso sämtliche Figuren, die Dryander auf der rechten Saarseite dargestellt hatte. Die Flammen schlagen geradezu expressionistisch in einer einzigen hellen Lohe aus dem Schlossdach; es entstand ein dramatisierender Effekt. Erst in Publikationen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde konsequent Dryanders Original in Publikationen zur Revolutionsepoche abgedruckt, auch Karl Lohmeyer kehrte zur Vorlagentreue zurück.49 Historiographisch beschäftigte sich neben seinem langjährigen Vorsitzenden Ruppersberg vor dem Ersten Weltkrieg vor allem der Historische Verein für die Saargegend mit den Zeugnissen für die Französische Revolution an der Saar. Er edierte etliche Quellen, im Falle der Gottliebschen Chronik mit signifikanten Veränderungen »als ein für die damalige Zeit durchaus typisches Beispiel von Geschichtsklitterung borussischer Provenienz«,50 ansonsten zumindest im Vorwort entsprechend kommentierend. In der Vorbemerkung zum Neudruck Horstmanns hieß es beispielsweise:51 »Es sind nun bald hundert Jahre seit der Zeit verflossen, als die republikanischen Scharen des westlichen Nachbarn in unser Grenzgebiet einbrachen […] Die Erinnerung an diese Tage der Drangsal, wie durch ruchlose und fast wahnwitzige Hand das Schloß zu Saarbrücken in Flammen aufging, wie den unglücklichen Einwohnern zweier kleinen Städte eine Million Franken abgepreßt ward, ist noch heute in der Bevölkerung lebendig.« Die Quellenpublikationen des Vereins dienten dazu, in einem patriotisch-nationalistischen Schub das preußische Anti-Frankreich-Bild zu zementieren, insbesondere in der wilhelminischen Epoche gegenseitiger Aufrüstung der europäischen Großmächte. Das Ereignis Schlossbrand wurde, nochmals in seiner Gräuel gesteigert, als eine Tat des Wahnsinns wiedergegeben, die Irrationalität eines unberechenbaren Feindes aufzeigend. Die Darstellung der Regionalgeschichte lag bis zum zweiten Weltkrieg fest in den Händen der bürgerlichen Eliten, das galt in besonderem Maße für Saarbrücken. In der Zeit der Völkerbundsverwaltung an der Saar änderte sich am frankreichfeindlichen Tenor nichts. Der hoch geschätzte Saarbrücker Kunsthistoriker Karl Lohmeyer (1878 – 1957), bis 1931 Direktor des Kurpfälzischen 49 Karl Lohmeyer: Johann Friedrich Dryander als Maler der Revolution, in: Die Schule. Zeitschrift für Erziehung und Unterricht 1954/7, Nr. 3, S. 65 – 71, Abbildung S. 66. 50 Herrmann, Erfahrungen (wie Anm. 12), S. 129. 51 Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend, 1890/V, Vorbemerkung, S. I.

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Museums der Stadt Heidelberg, danach ehrenamtlich in der Regionalgeschichte tätig, der 1930 erstmals das künstlerische Schaffen Dryanders würdigte, bildete darin keine Ausnahme. Auch für ihn geriet der Schlossbrand zum Symbol, das antifranzösische Ressentiments rechtfertigte:52 »Wie ein Fanal flammte der Schlossbrand von Saarbrücken im Jahre 1793 in all die echt süddeutsche Fürstenherrlichkeit […]«. Emotional bedauerte er, dass das Schloss »[…]sich in einen Flammenmantel hüllen mußte durch die Mißgunst der als Volksbeglücker in das Land eingefallenen französischen Revolutionsarmee.« Seine Beschreibung des Schlossbrandbildes von Dryander, für das er als Beleg in seiner Publikation allerdings die Kopie Ziehmes abdruckte, erfolgte gleichsam als Bilanz der Zerstörungen durch die Revolutionstruppen, die er gemäß den Angaben Horstmanns im Gemälde verifizierte, d. h. er nutzte es unter frankophoben Vorzeichen ohne quellenkritische Kontextanalyse als visuelle Quelle. »[…] das kostbare, verbindende Schmiedewerk dazwischen [zwischen den Pilastern auf dem Vorplatz der Saarbrücke] ist bereits eine Beute der Revolution geworden. […] der herrliche Schloßpark ist bereits verwüstet […]«, er erkannte »zum Löschen eilende St. Johanner Bürger mit ihren Geräten, die von den Wachen zurückgewiesen werden«.53 Lohmeyer identifizierte unter den Beobachtern des Brandes auf dem Gemälde den späteren St. Johanner Maire Sebastian Bruch und seinen Bruder, den Gastwirt und Bierbrauer Daniel Bruch mit Nachtmütze.54 Hier mischten sich Lokalkolorit, Anekdoten und Nostalgie in die kunsthistorische Betrachtung des Gemäldes. Diese Zuweisungen sind bis heute in der Bevölkerung präsent geblieben. Für Lohmeyer stand fest, dass Dryanders künstlerisches Interesse angesichts angeblich »oft nur mit der Pistole erzwungenen Bestellungen« von französischen Offizieren erlahmen musste, »die bestenfalls mit den fast wertlosen Assignaten bezahlt wurden«.55 Er blieb auch nach dem zweiten Weltkrieg in seine Formulierungen verliebt, es änderte sich aber allmählich sein Blick auf das regionale Geschehen zur Zeit der Französischen Revolution. Dryander wurde nun als Maler der Revolution gewürdigt, eingeleitet mit den Worten: »Wie ein Fanal leuchtet 1793 in all die westliche Fürstenherrlichkeit der Schlossbrand von Saarbrücken […]«.56 Zum Schlossbrandgemälde, für das er inzwischen das 52 Zitate Lohmeyer, Malerchronist (wie Anm. 23), S. 2. 53 Dies war für die Verfasserin selbst mittels Bildausschnittvergrößerung optisch nicht nachvollziehbar. 54 Die beiden waren zwar weitläufig verwandt, aber keine Brüder. Vgl. Eva Kell, »Heute back’ ich, morgen brau ich, übermorgen…« Zur Geschichte des Braugewerbes an der Saar vom 15. Jahrhundert bis heute, in: Hans-Christian Herrmann (Hg.): Saarbrücken — la carte. Die Geschichte der Genussregion Saarland, Dillingen 2012, S. 216 – 253, hier S. 230. 55 Lohmeyer, Malerchronist (wie Anm. 23), S. 4. 56 Ders., Maler der Revolution (wie Anm. 49), S. 65.

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Original als Abbildung heranzog, konstatierte er : »Das Schloßbrandbild von Saarbrücken zeigt uns zum ersten Mal ganz deutlich die Schwenkung des Malers aus der Welt des Puders und der Grazie ins Bürgerliche und in eine beginnende sachliche und nüchterne Neigung zum Klassizismus.«57 Während die Kunsthistoriker nach dem zweiten Weltkrieg dazu übergingen, die Malerpersönlichkeit Dryanders und sein Werk entweder als exemplarisch für die Umbruchszeit oder in seiner künstlerischen Individualität hervorzuheben, wurde das Gemälde des Schlossbrandes in Publikationen zur Geschichte der Stadt Saarbrücken bis in die Gegenwart ausschließlich zur Illustration verwendet.58 Die schriftliche Darstellung des Brandes folgte nach wie vor den Ausführungen Horstmanns, wobei allerdings versucht wurde, diese mittels Sachlogik zu revidieren. »Längst haben umsichtig urteilende Historiker von der älteren, immer noch volkstümlichen Meinung Abstand genommen, daß der in die Belagerungszeit fallende Schloßbrand von den verantwortlichen französischen Befehlshabern angestiftet worden sei. Am 7. Oktober 1793, abends um 7 Uhr, ging der rechte und nördliche Flügel des Residenzschlosses in Flammen auf (Farbtafel 22). Die Lage war höchst gefährlich. Im Schloßhof stand ein Munitionswagen, dessen Explosion die ganze Stadt hätte zerstören können. Die Franzosen hätten sich also, wären sie die Urheber gewesen, geradezu selbstmörderisch verhalten. […] Plausibel scheint angesichts der fehlenden militärischen Disziplin vieler Soldaten ein aus Unachtsamkeit und Leichtsinn entstandener Feuerausbruch.«59 In einem Ausstellungskatalog zur Französischen Revolution an der Saar von 1989 hatten die »umsichtig urteilenden Historiker« bereits deutlich weniger spekulativ geurteilt, indem die Angaben Firmonds, Horstmanns und Mosers herangezogen wurden. Allerdings diente auch hier ein Schlossbrandgemälde ausschließlich der Illustration, in diesem Fall das 1810 entstandene von Georg Heinrich Pitz, das noch fälschlicherweise dessen Onkel, dem Zweibrücker Hofmaler Karl Caspar Pitz zugeschrieben wurde.60 In der jüngsten, 2009 erschienenen »Illustrierte[n] Geschichte der Stadt Saarbrücken« von Karl August Schleiden (1928 – 2009) wurde dem Schlossbrand 57 Ders.: Johann Friedrich Dryander als bürgerlicher Maler, in: Die Schule. Zeitschrift für Erziehung und Unterricht 1954/11, S. 309. 58 Peter Burg: Saarbrücken im revolutionären Wandel (1789 – 1815), in: Rolf Wittenbrock (Hg.): Geschichte der Stadt Saarbrücken, Band 1, Von den Anfängen zum industriellen Aufbruch (1860), Saarbrücken 1999, S. 459, Abb. Farbtafel 22 und als Schattierung im Deckblatt des Kapitels S. 455. 59 Ebd. S. 459, vgl. auch die Angaben in Anmerkung 4, S. 685. 60 Herrmann (wie Anm. 12), S. 145, Abbildung des Pitzschen Gemäldes S. 144. Zur Zuschreibung an Georg Heinrich Pitz vgl. Eva Wolf, Kopien (wie Anm. 35), S. 45 f. Zum Schlossbrand sehr zurückhaltend urteilte der Kunsthistoriker Stefan Heinlein: »Die Ursache des Schlossbrandes ist nicht geklärt. Er diente vielmehr beiden Seiten für propagandistische Zwecke.« in: Ralph Melcher (Hg.): Die Gemälde der Alten Sammlung (wie Anm. 25), S. 53.

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ein Unterkapitel in der Darstellung der revolutionären Ereignisse in der Region gewidmet. Dabei wurden einerseits die propreußische Historiographie und deren Revision in der neueren Forschung beachtet. Andererseits ist in der Ereignisdarstellung des Schlossbrandes noch immer viel vom emotional gefärbten Tenor der älteren wertenden Historiographie präsent.61 »In diesen Tagen trat ein Ereignis ein, das eine tiefe Erschütterung in der städtischen Bevölkerung hervorrief und überhaupt für die Städte und das ganze Land einen immensen Verlust bedeutete: der Brand des Residenzschlosses. […] Über die Brandursache gibt es bis heute keine Klarheit. Selbstverständlich sprechen Horstmann und auch der Chronist Firmond von Brandstiftung durch die Franzosen, ebenso der Kriegsberichter von der anderen Seite der Saar. Sie hatten aber wohl alle keine gesicherten Erkenntnisse. […] Bleibt am Ende noch eine fahrlässige Brandstiftung als Ursache übrig. Vielleicht hatten Soldaten der Revolutionsarmee das Bedürfnis sich zu wärmen und entfachten in einem geschlossenen Raum ein Feuer, das dann außer Kontrolle geriet.« Den zeitgenössischen Spekulationen um die Ursache des Brandes wurde hier noch eine weitere Variante hinzugefügt, ansonsten schilderte Schleiden in bedauernden Worten die Zerstörungen der fürstlichen Gärten und vergaß gemäß der älteren historiographischen Tradition auch nicht die Anwesenheit des nassau-saarbrücker Erbprinzen als Zeuge des Geschehens auf der preußisch besetzten Saarseite. Die großflächig abgedruckte Abbildung des Schlossbrand-Gemäldes von Dryander diente hier zumindest ansatzweise als Bildquelle, jedoch nicht für das Ereignis, sondern als Vergleich zu der auf dem Buchtitel platzierten Abbildung einer idealen Stadtansicht mit Schloss, die einen Bauzustand wiedergebe, der nie vollendet wurde.62 Dryanders Gemälde des Schlossbrandes dagegen halte den tatsächlichen zeitgenössischen Baubestand der Residenzstadt fest. Nicht die Epochenwende und die Reaktionen der Bürger der Saarstädte, sondern der Zustand Saarbrückens als Residenzstadt stand im Focus der Bildinterpretation. Das deckt sich mit den Interpretationen Keuths und Fegerts für das Schlossbrandgemälde Dryanders, die besonders den architekturhistorischen Wert des Werkes angesichts der peniblen Genauigkeit des Künstlers hervorhoben.63

61 Karl August Schleiden: Illustrierte Geschichte der Stadt Saarbrücken, Dillingen/Saar 2009, S. 138 – 150 Kapitel »Revolution und französische Besetzung«, Unterkapitel »Der Schlossbrand« S. 142 – 144 mit halbseitiger Abbildung von Dryanders Gemälde, beachtenswert auch die erläuternde, an Lohmeyer angelehnte Bildunterschrift , S. 142, Zitat S. 142 f. 62 Ebd. S. 144 Bildunterschrift; vgl. das Titelbild des Bandes, das sich auch als Titelbild von Band 1 der von Rolf Wittenbrock herausgegebenen Geschichte der Stadt Saarbrücken (wie Anm. 59) wiederfindet. 63 Keuth (wie Anm. 30), S. 36; Fegert (wie Anm. 22), S. 55.

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3. Aus der Sicht der Kunstgeschichte hat Dryanders Gemälde zum Brand des Saarbrücker Schlosses einen anderen Stellenwert als für die regionale Geschichtsschreibung. Sie folgte allerdings in der Darstellung des Ereignisses den jeweils aktuellen historiographischen Vorlagen, wie bereits bei Lohmeyer deutlich wurde. Die beherrschende Fragestellung war jedoch stets die Bewertung Dryanders als Künstler bzw. die künstlerische Einordnung und Bewertung seiner Werke, zuletzt unter der Thematik von Assimilationstendenzen von regionalen linksrheinischen Künstlern während der Französischen Revolution und des napoleonischen Empire.64 Geradezu einhellig wurde das Gemälde als herausragendes Werk Dryanders betrachtet; seine Abbildung fehlt in keiner entsprechenden Publikation. Vielfach erwähnt wurde der Eintrag des Künstlers dazu in dem erst 1912 wieder aufgefundenen Arbeitsbuch Dryanders. Selbst den Kopien von Dryanders Werken ist ein eigener Beitrag gewidmet und das Leben des Künstlers wurde ausführlich wiedergegeben.65 In Dryanders Schaffen nach seiner Ausbildung in Darmstadt und als wandernder Pastellporträtist an kleinen Fürstenhöfen wurden für den in St. Johann geborenen Maler seit seiner Berufung zum Hofmaler für Fürst Ludwig von Nassau-Saarbrücken 1787 drei Phasen des Wirkens festgestellt: als Pastellmaler und Porträtist des Saarbrücker Fürstenhofes (1787 – 1793), als fleißiger und überaus produktiver Porträtmaler in Öl für die Offiziere und Zivilbeamten der Besatzungsphase (1793 – 1798/1800) und zuletzt als Maler des wohlhabenden Saarbrücker und St. Johanner Bürgertums, der neuen Notabelngesellschaft (1800 – 1812), der er selbst als Hausbesitzer und durch Familienbeziehungen, zeitweise sogar im Amt eines Munizipalrates, angehörte. Nicht zuletzt fertigte er in der napoleonischen Zeit für die Durchreisen des Empereurs Dekorationen im Auftrag der Saarstädte an und porträtierte den Kaiser mehrmals.66 1805 hatte er allerdings im Kundenauftrag auch nochmals ein Porträt von Fürst Ludwig angefertigt. Entsprechend seiner eher handwerklichen Auffassung von seiner Kunst lehnte der Maler keine Anfrage ab, wie bereits seine Aufzeichnungen aus 64 Christoph Trepesch, Assimilationstendenzen (wie Anm. 31), S. 827 – 842. 65 Vgl. die bereits aufgeführten Darstellungen von Lohmeyer, Keuth, Fegert, Wolf, Heinlein, Trepesch. 66 Stellvertretend vgl. Trepesch, Assimilationstendenzen (wie Anm. 31), S. 830 – 833. Vgl. Fegert (wie Anm. 22), S. 146, September 1804 »10te 2 Transparente Bildnisse und Inschriften auf die Ankunft des Kaysers Napolion für die beiden Städte gemacht nebst 4 großen Vasen mit Öhlfarb angestrichen und ein wenig gemalt. Am 22ten eine Rechnung daselbst dem Hl. Maire übergeben 33f28kr. Nach Abzug der Auslage empfangen 28,,/30«; oder S. 153: Juli 1807 »bey dem Durchzug des Kaysers auf di EhrenPforte welche auf der Brücke dem selben zu Ehren errichtet worden, um dessen Bildniß die Kleidung verändert, nebst einer Fama in lebens Größe in Öhlfarb auf Holz gemalt, 22,«.

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den Jahren 1792/93 zeigten, wo zu den höfischen Aufträgen die der französischen Offiziere und Beamten traten. Dryanders Fähigkeiten als Pastellmaler wurden in der Regel gewürdigt, während bei den Porträts in Öl der dokumentarische den künstlerischen Wert übersteige. Die architektonischen Darstellungen, sei es in Öl oder als Aquarell, oft nur als Hintergrund zu Porträts ausgeführt, genossen wegen ihrer Detailtreue kunsthistorisch hohe Wertschätzung. Dryanders Bewertung als Künstler bleibt bis heute ambivalent. Einerseits werde deutlich »wie viel Handwerk im Leben eines eher durchschnittlichen Künstlers lag«, andererseits wurde konstatiert: »Denn so wenig Saarbrücken Provinz war, so wenig war Dryander provinziell«.67 Hervorgehoben wurde stets die Produktivität Dryanders, der in seinem Arbeitsbuch von 1791 bis zu seinem Tod 1812 836 Werke verzeichnete. »Dryander rechnete genau, er hat kaum etwas gemalt, was unverwertbar blieb.«68 Dies galt für das Gemälde des Schlossbrandes erst, als er 1806 eine Kopie davon für seinen Schwiegersohn anfertigte; gemalt hatte er das Werk für sich selbst.69 In den kunsthistorischen Betrachtungen wurde das Werk unterschiedlichen Genres zugeordnet: als Nachtstück/Nachtszene, »dunkel gemalter Tag«70 als Landschafts-, Historien- oder Ereignisgemälde. Mit der Würdigung des Gemäldes als Ausnahmeerscheinung im Werk Dryanders ging stets eine nähere Betrachtung einher, die es auch als Bildquelle wahrnahm.71 Es galt, einsetzend mit Lohmeyers Abgesang auf die Residenzzeit, »heute als eines der wichtigsten und künstlerisch wertvollsten des Malers im SaarlandMuseum […]. Es steht durch die Darstellung einer Landschaft mit Architektur außerhalb dessen, was wir sonst von ihm kennen, denn er war ausschließlich Bildnismaler.«72 Davon ausgehend wurde die Intention des Gemäldes, d. h. ein Element der Quellenkritik, erstmalig 1954 von Volkskundler Hermann Keuth (1888 – 1974) thematisiert, der selber Künstler und im 3. Reich Landeskonservator und Direktor des durch Zusammenlegung entstandenen SaarlandMuseums war : »Der Schloßbrand war von Dryander gar nicht als 67 Heinlein, Dryanderausstellung (wie Anm. 31), Zitate S. 32, 25; vgl. auch Ders.: in: Melcher (Hg.), Die Gemälde der Alten Sammlung (wie Anm. 25), S.37 – 62, wo einzelne Werke Dryanders detailliert besprochen werden. 68 Keuth (wie Anm. 30), S. 40; vgl S. 43. Unter den Werken waren 79 Kopien, 51 Zeichnungen, 36 Scherenschnitte, 171 Miniaturen, 466 Ölgemälde, 29 Pastelle, 19 Aquarelle aufgeführt. 69 Fegert (wie Anm. 22), S. 151 Arbeitsverzeichnis: Nov 1806 »An Hl. SchwiegerSohn G.L. Korn den prospect von St. Johann welcher am 14ten July 1804 endigte, nebst einer Copie vom Schloßbrand, erlassen für 100 f 100«. 70 Fegert (wie Anm. 22), S. 55. 71 Kunsthistorisch hat vor allem die Bildanalyse nach Panofsky zu einer entsprechenden Betrachtung beigetragen. Vgl. Wohlfeil (wie Anm. 24), S. 93 f. 72 Keuth (wie Anm. 30), S. 35. Vgl. auch Wolf, Kopien (wie Anm. 35), S. 44 »Wichtiger als die Umsetzung einer glaubhaften Nachtszene war […] die Dokumentation eines historischen Ereignisses und der dafür als notwendig erachteten Erkennbarkeit von Ort und Figuren.«

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Landschaftsdarstellung gedacht. Ihm kam es darauf an, ein bestimmtes Geschehen, das die Bürger von Saarbrücken tief beeindruckte, im Bilde festzuhalten. Er tat es genauso, wie er seine Porträts malte, mit peinlichster Genauigkeit und Richtigkeit der vielen Dinge, mit denen das Bild belebt ist.«73 Die Beschreibung des Gemäldes durch Kunsthistoriker in der Folgezeit blieb weitgehend sachlich, es wurden lediglich die »erstaunlich gleichmütigen und gelassen wirkenden Menschen«74 auf dem Vorplatz der Brücke und die »eher behutsam« zum Brandort gehenden auf der Brücke besonders erwähnt. Unerwähnt blieb die Diskrepanz der Bilddarstellung zu den erzählenden Quellen und Darstellungen, Folgerungen im Sinne einer historischen Interpretation als Bildquelle wurden folglich noch nicht gezogen. Abgesehen von den Figuren erschien die Farbigkeit des Gemäldes bedeutsam für seine Komposition, vor allem das »intensive Rot über dem brennenden Schloß, daß den Blick auf das eigentliche Ereignis lenkt.«75 In der Auswertung des Gemäldes als Bildquelle ist Christoph Trepesch die bisher detaillierteste Interpretation gelungen. Sein Beitrag untersuchte die Assimilationstendenzen von Künstlern der beiden Saarstädte in der Französischen Revolution und in der napoleonischen Zeit.76 Dryander war für ihn geradezu ein Paradebeispiel gelungener Assimilation in der »schwer durchschaubare[n] Gemengelage pro- und antifranzösischer Haltungen« als Folge der angespannten Situation während der Besatzungsverhältnisse.77 Für die Einstellung der regionalen Künstler sei diese Haltung kein Einzelfall.78 Trepesch nannte Dryanders Schlossbrandgemälde ein »vielfältiges dunkeltöniges Historienbild«.79 Es knüpfe an die Tradition barocker Nachtstücke an, mit der Feuersbrunst als dramatischem Spektakel. Allerdings sei die Motivation für das Kunstwerk ein persönliches Interesse Dryanders, seine persönliche Memoria des Ereignisses, worauf die genaue Nennung des Datums und der Uhrzeit im Arbeitsverzeichnis hindeuteten. Zur Einordnung als historische Bildquelle, die der Interpretation vorausgeht, griff aber auch Trepesch unkommentiert auf die Wiedergabe des 73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 36. Heinlein, Schlossbrand (wie Anm. 61), S 54. Fegert (wie Anm. 22), S. 55. Vgl. zum Folgenden Trepesch, Assimilationstendenzen (wie Anm. 31), S. 824 – 842. Ebd., S. 824. Das bestätigt die Monographie von Hans Klaus Schmitt: Der Pastellmaler Nikolaus Lauer aus St. Wendel und seine Malerschule: Vom Hofmaler zum Porträtisten des Bürgertums, St. Wendel 1974, bes. S. 22 – 88. Als Hofmaler vom pfalz-zweibrückischen Herzog Karl II. August im Exil 1794 entlassen, kehrte Lauer nach St. Wendel zurück, fand allerdings im Gegensatz zu Dryander sein Auskommen weiter als Pastellmaler des Adels. Er reiste erfolgreich ins Rechtsrheinische und nach Berlin, bis er ab 1800 überwiegend die St. Wendeler Notabeln porträtierte, zu denen er als Schwiegervater des Maire Johann Carl Anton Cetto beste Kontakte hatte und zu Wohlstand gelangte. 79 Trepesch, Assimilationstendenzen (wie Anm. 31), S. 830.

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Ereignisses in der älteren Historiographie zurück, wobei er Adolph Köllner folgte, der sich wiederum auf Friederich Koellner berief. Beide stützten ihre Schilderung und Bewertung des Schlossbrandes einseitig auf das Zeugnis Horstmanns.80 Als Bildquelle erfülle Dryanders Schlossbrand die Kriterien eines Ereignisbildes. Diese zählten kunsthistorisch zu den Historienbildern, hielten aber Begebenheiten fest, die zur Lebenszeit des Malers stattfanden.81 Diese Einordnung als »Ereignisbild mit erzählerischen Details« entspricht auf den ersten Blick der von Pandel geforderten Herstellung eines Historischen Narrativs bei der Bildinterpretation, das mittels der Auswertung des Dokumentensinns einer Bildquelle und deren historischer Interpretation erreicht werden soll.82 Trepesch zählte aber die dargestellten Ereigniskomplexe lediglich sukzessive auf: die französischen Truppen an verschiedenen Stellen des Bildes als potentielle Brandstifter, die zum Löschen herbei eilenden St. Johanner Bürger auf und an der Brücke, die Beobachter auf dem Vorplatz der Brücke, darunter parlierende Soldaten. Auf der linken Bildhälfte seien hauptsächlich die Franzosen dargestellt mit ihrem Lager im Schlossgarten und auf dem Trillerhügel, im Bildzentrum die Debatte der St. Johanner Bürger über das Ereignis mit anekdotischen Details. Dies mache das Gemälde zu einem Ereignisbild.83 Kriterium für seine Definition der Bildgattung war demnach der im Bild angelegte Narrativ. Die Deutung des Gemäldes geschah durch die vorausgegangene ältere historiographische Schilderung des Ereignisses. Folglich steht noch immer die Frage im Raum, wie Dryanders Gemälde des Schlossbrandes vom 7. Oktober 1793 als eigenständige historische Bildquelle mit dem von Rainer Wohlfeil postulierten »Dokumentensinn« interpretiert werden kann. Für diese Interpretationsleistung bietet auch aus der Fachdidaktik Geschichte Hans-Jürgen Pandel produktive Ansätze, die auf seinen Überlegungen zum Visuellen Erzählen fußen. Zwar handelt es sich bei Dryanders Gemälde um ein Einzelbild, doch ergeben sich aus den dort dargestellten Szenen in Verbindung mit den schriftlichen Quellen zum Ereignis ähnliche Voraussetzungen wie die dem Visuellen Erzählen zugrunde gelegte Bildergeschichte. 80 Vgl. ebd., S. 834, dort auch das Zitat zum Ereignisbild. 81 Vgl. Pandel, Bildinterpretation (wie Anm. 2), S. 53, vgl. auch S. 52 – 56. Ziel der Historienbilder war es, Objektivität und historische Treue zu wahren. Diese Tendenz hatte sich mit Jaques Louis David Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet durch einen bewussten Verzicht auf illusionistisch verklärende Repräsentation in Historiengemälden. Im 19. Jahrhundertwurden die Historiendarstellungen einem Verzeitlichungsprozess unterworfen, der den Malern Quellenforschung abverlangte. 82 Vgl. zum Folgenden Pandel, Bildinterpretation (wie Anm. 2), S. 169 – 172, 206 – 213. Für Pandel ist Visuelles Erzählen allerdings immer an eine Bilderfolge gebunden. Vgl. Wohlfeil, Bild als Geschichtsquelle (wie Anm. 24), S. 98. 83 Trepesch, Assimilationstendenzen (wie Anm. 31), S. 835 f.

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Nach Pandel ist »Visuelles Erzählen ein methodisches Prinzip, um dem nicht narrativen Einzelbild eine erzählerische Qualität abzugewinnen. Der narrative Charakter des historischen Denkens wird dabei ernst genommen und versucht, ihn methodisch mit dem Medium Bild umzusetzen.«84 Die Erzählung von Geschichte mittels Bildern entstehe dann, wenn das Bild nicht Fragment sei, sondern indem der Betrachter den narrativen Sinn selbst finde, indem er produktiv mitarbeite, sich die Geschichte selbst erzähle. Voraussetzung sei die Fähigkeit, historische Fragen zu stellen und Hypothesen zu formulieren. Das Einzelbild werde mit Hilfe von von Kon-Texten in eine Geschichte integriert, d. h. im Wesentlichen müssten Bezüge hergestellt werden, etwa durch historisches Wissen oder Imagination.85 Die zitierten Interpretationsbeispiele zeigen, dass ein vergleichbarer Ansatz im Ansatz von Kunsthistorikern realisiert wurde, allerdings mit überwiegend kunsthistorischen Fragestellungen und ohne dezidiert kritische Berücksichtigung der Quellen und Historiographie. Die regionalen Historiographen dagegen ließen trotz inzwischen erfolgter Revision hergebrachter Geschichtsbilder und der kritischen Würdigung der vorliegenden Quellen den eigenen Quellenwert des Gemäldes bisher außer Acht und verwendeten es lediglich zu Illustrationszwecken. Um das Potential des Werkes weiter auszuschöpfen, bedurfte es zum Einen einer weit genaueren Beschreibung. Zum Anderen ergaben sich Interpretationsansätze etwa durch die Berücksichtigung der Bildzeit als eines der »Verstehens- und Aneignungsmuster des jeweiligen Bildes«.86 Trotz der Zeitlosigkeit des Bildes an sich in Bezug auf Handlungszeit kann im Bild selbst zeitverbrauchende Bewegung angezeigt werden, wie bei Dryanders Schlossbrand durch die Aktionen der Figuren. Außerdem benötigt die Wahrnehmung des Bildes selbst Zeit. Hier setzt eine didaktisch für besonders detailreiche Bilder verwendete Methode der Bildinterpretation durch Bildverfilmung an. Sie ist ein Versuch, ein Gemälde in einen Zusammenhang von Bildfolgen zu übersetzen.87 Wie beim Visuellen Erzählen entsteht dann mit dem sprachlichen Kommentar zur – scheinbaren ¢ Bilderfolge eine Interpretation. Professionelle historische Dokumentationsfilme nutzen diese Technik permanent zur Visualisierung historischer Sachverhalte. Mit dem Drehbuch, das Ausschnitte, eventuell deren Detailvergrößerungen, deren Abfolge und Einblendungsdauer festlegt, ergäben sich die jeweiligen 84 Pandel, Bildinterpretation (wie Anm. 2), S. 208. Vgl. auch S. 170, wo Pandel erläutert, dass » nicht der Sinn eines einzelnen Bildes, auch nicht die Summe aller einzelnen Beschreibungen« gemeint sei, sondern dass der Sinn sich durch die Gesamtheit aller Bilder in ihrer zeitlichen Abfolge konstituiere. 85 Vgl. ebd., S. 208. 86 Wohlfeil, Bild als Geschichtsquelle (wie Anm. 24), S.93, vgl. Pandel (wie Anm. 2), S. 15. 87 Vgl. Pandel (wie Anm. 2), S. 198 – 200.

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historischen Fragestellungen. Es macht sehr wohl einen Unterschied für die Interpretation, inwieweit, wie groß oder wie lange das brennende Schloss, die löschwilligen St. Johanner Bürger oder militärische Details betrachtet bzw. kommentiert würden. Daher wurden für die eigene Beschreibung des Gemäldes lediglich Ausschnittvergrößerungen als Hilfsmittel zur Betrachtung verwendet. Damit ließen sich auf dem Gemälde Details auffinden, die einem Betrachter des Originals verborgen bleiben müssen. Dass Sie vorhanden sind, unterstreicht ihre Wichtigkeit in den Augen des Künstlers, dem damit die dokumentarische Funktion des Gemäldes, und sei es nur für ihn selbst, ein Anliegen war. Das Dryander-Gemälde als historische Bildquelle weist noch weitere Besonderheiten auf. Durch seine Präsenz als Abbildung in zahlreichen Publikationen bis hin zu Schulbüchern und Websites88 wurde es zur regionalen Bildikone und damit Teil eines entsprechenden kollektiven Bildgedächtnisses.89 Dadurch wurde es sowohl kanonisiert als auch symbolisiert, es verdichtet komplexe Phänomene, gibt Geschichte stellvertretend wieder. Die Betrachtung eines solchen Bildes hat eine besondere emotionale Wirkung und stellt gleichzeitig die Tradition sicher. Dadurch, dass aktuelle Medien aus dem kollektiven Bildgedächtnis immer wieder ihre Vorlagen entnehmen, wird das kollektive Gedächtnis gefestigt.90 Dieses wandelt sich zwar für jede Generation durch neue Fragestellungen und Orientierungsbedürfnisse, enthält aber immer auch traditionelle Bilder. Schulbüchern wird geradezu ein versteinertes Bildgedächtnis zugeschrieben. Da das Bildmaterial des 18. Jahrhunderts für die Saarregion begrenzt ist und dies in noch größerem Ausmaß für die Epoche der Französischen Revolution gilt, wird die Rezeption von Dryanders Schlossbrand-Gemälde als Bildikone 88 Vgl. Thomas Berger, Karl-Heinz Müller, Hans-Gert Oomen (Hg.), Entdecken und Verstehen. Geschichtsbuch für Rheinland-Pfalz – Saarland, Band 2: Von den Entdeckungen bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1989, S.120 im Kapitel: Die Auswirkungen der Revolution auf das Rheinland. Bildunterschrift: Brand des Saarbrücker Schlosses am 7. 10. 1793. Gemälde von Dryander; Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Projekt Deuframat: http://www.deuframat.de/de/regionen/grenzueberschreitende-probleme-und-koope ration/die-saarfrage-in-historischer-perspektive/die-saar-zwischen-deutschlandund-frankreich.html [24. 05. 2014]. Andreas Rockstein: http://www.google.de/im gres?espv=210& es_sm=93& biw=1280& bih=932& tbm=isch& tbnid=8z4Us_JI ceNlJM%3A& imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.saarlandbilder.net%2Forte%2Fsaarbruek ken%2Fschloss%2Fansichten.htm& docid=UtzI_mQ-CzX0KM& imgurl= http%3A%2F%2Fwww.saarlandbilder.net%2Forte%2Fsaarbruek ken%2Fschloss%2Fstengel_schloss_sw.jpg& w=375& h=192& ei=FYnSUtnXMoLNtAaVz4 GIBQ& zoom=1& iact=rc& dur=3290& page=1& start=0& ndsp=27& ved= 0CGQQrQMwBg [24. 05. 2014]. 89 Vgl. Pandel, Bildinterpretation (wie Anm. 2), S. 159 f. 90 Als Beispiel für das Schlossbrand-Gemälde: Saarbrücker Zeitung, Lokalausgabe Saarbrücken, 26. 6. 2009: http://www.saarbruecker-zeitung.de/sz-berichte/saarbruecken/Saarbruek ken-Alte-Sammlung-Kunst-Schlossplatz-Kreisstaendehaus;art2806,2937914, [24. 05. 2014].

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bleiben. Trotz aller technischen Möglichkeiten zur Reproduktion entstand noch Ende des 20. Jahrhunderts eine weitere künstlerische Kopie des Werkes, die diesen Stellenwert belegt. Der Riegelsberger Künstler Stefan Reiher [Künstlername Chappla, geb. 1958], der überwiegend in Rötel, Acryl, etc. im surrealistischen Stil arbeitet, hat es als Auftragsarbeit übernommen. Seine Homepage zeigt ihn beim Kopieren im Atelier.91 An dem Foto zu seiner Biographie wird deutlich, dass es um reine Reproduktion geht, denn das Bild entsteht nicht als Komposition, sondern akribisch Zeile für Zeile. Dryanders Detailreichtum geht dabei verloren, dem Format der verwendeten Leinwand beispielsweise fällt der rechte Bildrand Dryanders zum Opfer. Der Auftraggeber, ein junger Saarbrücker, gab, als er sich 2012 nach etlichen Jahren von der für ihn mit 800 DM teuren Kopie trennte, an, er sei von Kind an von dem Gemälde Dryanders fasziniert gewesen. Letztendlich passe es aber nicht länger zu Einrichtung und Lebensstil.92 Als letztes Kriterium für die Deutung von Dryanders Schlossbrand soll abschließend die visuelle Rhetorik herangezogen werden.93 Bilder stellen nicht nur dar, sondern stellen zugleich eine kommunikative Beziehung zwischen sich und dem Betrachter her, wollen in einer bestimmten Weise auf ihn einwirken. Visuelle Rhetorik meint nach Pandel die Form, welche die Wirksamkeit der Bildaussagen erhöhe, und damit mehr als die politische Einstellung des Bildermachers in Person. Es gehe um die Stellung des Bildes zum historischen Prozess, den es darstelle. Bild und Bildsequenzen hätten eine Botschaft bzw. ideologische Implikationen. Sie machten Angebote von Sinndeutungen die nicht abstrakter Wissenschaftlichkeit oder absichtsloser Fabulierkunst entsprängen, sondern seien rhetorisch, d. h. sie wollten eine bestimmte Wirkung erzielen. In diesem Sinne kann Dryanders Schlossbrand-Gemälde als Historienbild, eine Epochenschwelle darstellend, verstanden werden, welches das Ereignis bereits bewusst historisch deutete, als ein Stück visueller Historiographie. Die Entstehungszeit des Gemäldes fiel in eine Zeit extrem beschleunigten historischen Wandels, der im Linksrheinischen mit der Französischen Revolution – an der Saar mit der französischen Festung Saarlouis und angesichts der Grenzlage in unmittelbarer Nähe zu St. Johann und Saarbrücken stets präsent ¢, den Revolutionskriegen und der Annektion durch Frankreich das Ancien R¦gime abrupt beendete. Als Dryander 1795 sein Gemälde begann, lag das Ereignis des Schlossbrandes bereits zwei Jahre zurück. 1795 war die radikale Phase der Französischen Re91 Vgl.Stefan Reiher : http://chappla.de [11. 1. 2014]. 92 Die Verfasserin hat diese Replik Ende 2012 über Ebay zum Spottpreis erworben. Der Verkäufer wusste in seiner Beschreibung recht gut über Dryander und sein Werk Bescheid und kannte das Original. Letztendlich ist auch sie als Historikerin der Emotionalität der Bildikone erlegen, was zugleich den Anstoß zu diesem Beitrag gab. 93 Vgl. zum Folgenden Pandel, Bildinterpretation (wie Anm. 2), S. 161.

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volution beendet. Preußen hatte sich aus dem linksrheinischen Krieg zurückgezogen und die Saarregion gehörte faktisch zu Frankreich. Das Kriegsgeschehen hatte sich bis auf kleine Gefechte in die Pfalz zurückgezogen. Noch vor der Fertigstellung des Werkes hatte Österreich mit dem Frieden von Campo Formio 1797 die Abtretung des linken Rheinufers akzeptiert. Im Frühjahr 1798, also noch vor der Fertigstellung des Gemäldes im November, war das französische Saardepartement als neue Verwaltungseinheit geschaffen worden. Strukturreformen in Wirtschaft, Gesellschaft, Verwaltung, Justiz waren in vollem Gange, nicht zum Nachteil der wohlsituierten Stadtbürger in Saarbrücken und St. Johann. FranÅois Joseph Rudler (1757 – 1837) hatte die Verwaltung nach dem Prinzip der Gewaltenteilung neu organisiert, Feudalstrukturen und Zunftzwang waren abgeschafft, Gleichheit vor Gericht hergestellt und die Gewerbefreiheit eingeführt, hinzu kam das Zivilstandsregister.94 Dies führte zu einer »sich festigenden Akzeptanz der neuen revolutionären Obrigkeit durch die Bevölkerung«.95 Dryanders im November 1798 vollendetes Gemälde vom Brand des Saarbrücker Schlosses am 7. Oktober 1793 ist angesichts der sich solcherart wandelnden Zeitumstände kein Schreckensszenario, sondern die bewusste künstlerische Darstellung der erlebten Zeitenwende aus der Retrospektive. Die visuelle Rhetorik des Gemäldes vermittelt die revolutionäre Dynamik durch die Feuersbrunst ebenso wie die Akzeptanz der Ergebnisse des Umbruchs durch die Bürger der Saarstädte. Die versammelten Bürger an der Saarbrücke agieren angesichts des Brandes, der symbolisch auch ihre bisherige Herrschaftsform vernichtete, nicht panisch, sondern kommentierend, sich arrangierend mit der französischen Besatzung. Angesichts des brennenden Schlosses erlauben sich einige sogar den Luxus, Pfeife zu rauchen. Somit ist die Botschaft des Gemäldes eine verhalten zukunftsoptimistische im Sinne des städtischen Bürgertums. Ein solches Bild konnte nicht gemalt werden, wenn mit der baldigen Wiederkehr der fürstlichen Herrschaft gerechnet worden wäre.

94 Vgl. Johannes Schmitt: Französische Revolution an der Saar (wie Anm. 6), S. 33; HansWalter Herrmann: Die Französische Revolution und die Saar. Zur Einführung, in: Ders. (Hg.): Die Französische Revolution und die Saar. Ausstellung des Landesarchivs Saarbrücken, Saarbrücken Saarland-Museum 10. Dezember 1989 – 28. Januar 1990, St. Ingbert 1989, S. 14. 95 Hans Stein: Vom eroberten Land zum Departement, in: Hans-Walter Herrmann (Hg.): Die Französische Revolution und die Saar. Ausstellung des Landesarchivs Saarbrücken, Saarbrücken Saarland-Museum 10. Dezember 1989 – 28. Januar, S. 179 – 185, Dokumentation S. 186 – 229, Zitat S. 184.

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Die werdende Industriestadt Saarbrücken im deutsch-französischen Grenzraum – genauer gesagt ein Kombinat zwischen der ehemaligen Residenzstaat Saarbrücken südlich der Saar und der seit 1859 selbständigen regen Handelsstadt St. Johann an ihrem nördlichen Ufer – stand im Sommer 1870 für einige Wochen im Zentrum des deutschen und internationalen Interesses. Der Raum um die beiden Saarstädte war Gegenstand strategischer Planung auf preußischer wie auf französischer Seite; in ihrem Süden fand die für den Verlauf des DeutschFranzösischen Krieges wichtige Schlacht bei Spichern statt; danach wurde Saarbrücken für einige Tage zum Sitz des preußischen Hauptquartiers mit König Wilhelm I. an der Spitze. Diese Erfahrung hat die beiden Städte, wie hier gezeigt werden soll, bis zu ihrem Zusammenschluss zur Großstadt Saarbrücken im Jahr 1909 und darüber hinaus nachhaltig geprägt.1 Die beiden Saarstädte befanden sich 1870 in der take-off-Phase der Industrialisierung. Der Eisenbahnanschluss, den St. Johann 1852 erhalten hatte, und die Eröffnung einer Schifffahrtsverbindung zum Rhein-Marne-Kanal 1865 hatten eine Vervielfachung des Kohleabsatzes und der Kohleproduktion ermöglicht. Gleichzeitig hatte die Ansiedlung Industriebetrieben, insbesondere die Eröffnung des Burbacher Hüttenwerks und der Ausbau der Halberger Hütte, zu einem massenhaften Zuzug von Arbeitern aus den umliegenden Landregionen geführt. Saarbrücken hatte seine Einwohnerzahl seit 1815 mehr als verdoppelt, auf 7.680 Einwohner. St. Johann war auf 8.143 Einwohner angewachsen; in dem rasch wachsenden Arbeiterdorf Malstatt-Burbach lebten 9.615 Menschen.2 1 In den bisherigen Darstellungen zur Geschichte der Stadt Saarbrücken wird der Einschnitt von 1870 kaum berücksichtigt. Vgl. etwa Rolf Wittenbrock, ›Die drei Saarstädte in der Zeit des beschleunigten Städtewachstums (1860 – 1908)‹, in: ders. (Hg.): Geschichte der Stadt Saarbrücken. Band 2: Von der Zeit des stürmischen Wachstums bis zur Gegenwart. Saarbrücken 1999, S. 11 – 130. 2 Die Daten nach Josef Bellot: Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft (1815 – 1918). Bonn 1954.

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Dass die beiden Saarstädte und ihr südliches Vorfeld zu einem der Schauplätze des Deutsch-Französischen Krieges wurden, war in erster Linie auf die Planungen des preußischen Generalstabschefs Helmuth von Moltke zurückzuführen. Moltke hatte sich seit dem Sieg über die österreichischen Truppen bei Königgrätz 1866 auf eine militärische Konfrontation mit Frankreich vorbereitet, und er hatte sich dabei den Ausbau der Eisenbahnverbindungen im Deutschen Zollverein zunutze gemacht. Nicht weniger als fünf Hauptlinien der Eisenbahn führten unterdessen bis an die französische Grenze. Damit konnten die Truppen der Preußen und ihrer Verbündeten in einem weiten Bogen aufmarschieren, der von Trier im Norden bis nach Karlsruhe im Süden reichte. Moltke organisierte seine Truppen in drei Armeen: Eine erste Armee unter dem Kommando von General Karl von Steinmetz, bestehend aus acht Infanterie- und Kavallerie-Divisionen wurde im Norden dieses Bogens, zwischen Trier und Saarlouis, positioniert. Die zweite Armee unter dem Kommando von Prinz Friedrich Karl, einem Neffen des Königs, sammelte sich mit 17 Infanterie- und KavallerieDivisionen nordöstlich von St. Johann und Saarbrücken. Die dritte Armee marschierte im Grenzraum zwischen der Pfalz und Baden bei Karlsruhe auf; mit zwölf Divisionen bestand sie im Wesentlichen aus den Truppen der süddeutschen Verbündeten und wurde von Kronprinz Friedrich Wilhelm, dem Sohn des Königs, kommandiert. Mit dieser Aufstellung hoffte Moltke, den französischen Gegner wie 1866 die Österreicher zu einer raschen Entscheidungsschlacht zwingen zu können, bei der dann die zahlenmäßige Überlegenheit der preußisch-deutschen Mobilisierung den Ausschlag geben sollte. Sollte Napoleon III. sich entscheiden, bei Straßburg anzugreifen oder sich auf die Verteidigung der Vogesen zu konzentrieren, würden die erste und die zweite Armee nach Südwesten vorstoßen, um ihn von der Seite und von hinten anzugreifen. Bei einem französischen Vorstoß ins Rheinland hingegen – oder bei einem Verharren der französischen Truppen in der Gegend um Metz – sollte die dritte preußisch-deutsche Armee die Rolle des Seitenangreifers übernehmen: über die Vogesen nach Nordosten marschieren und die Verbindungslinien der Franzosen nach Paris abschneiden. So oder so sollten die drei Armeen die französischen Truppen gemeinsam angreifen und deren Reste nach der großen Schlacht nach Norden abdrängen, wo sie dann kapitulieren würden.3 Der Plan hatte eine Schwachstelle: Was, wenn Napoleon III. sich nicht dazu verleiten ließ, seine Truppen an einem Punkt zu konzentrieren? Tatsächlich hatte 3 Vgl. Michael Howard: The Franco-Prussian War : The German Invasion of France, 1870 – 71. London 1961, Neuausgabe 1981, S. 42 – 44; Wolfgang von Groote / Ursula von Gersdorff (Hg.): Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg. Stuttgart 1970, S. 49 – 51; Geoffrey Wawro: The Franco-Prussian War. The German Conquest of France in 1870 – 1871. Cambridge 2003, S. 80 – 83.

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der Franzosenkaiser seine Armee ebenfalls in drei Teile aufgeteilt: Die Rheinarmee unter seinem eigenen Kommando sammelte sich auf einer breiten Front zwischen Metz und der Grenze zur preußischen Rheinprovinz; das 6. Korps unter Marshall FranÅois Canrobert blieb auf halbem Weg zwischen Paris und Metz in Ch–lons-sur-Marne stehen; das 1. Korps unter Marshall Patrice MacMahon wurde ins Elsass geschickt. Ein kohärenter strategischer Plan war mit dieser Aufteilung freilich nicht verbunden: Während der Rheinarmee offensichtlich offensive Funktionen zugedacht waren, sollte das 6. Korps vor einem Angriff auf die französische Hauptstadt schützen, und das 1. Korps sollte nach Süddeutschland marschieren, um sich mit den Truppen Österreich-Ungarns zu verbünden. Auf dessen Eintritt in den Krieg an der Seite Frankreichs setzte Louis Napoleon große, wenn auch gänzlich unbegründete Hoffnungen.4

1.

Ein Kampf um Saarbrücken

Im Saarbrücker Raum begann zunächst wie vorgesehen die Sammlung und Ausladung der zweiten preußischen Armee. Auf die Nachricht vom Transport starker französischer Verbände in den lothringischen Grenzraum hin verlegte Moltke die Ausladung der preußischen Truppen aber am 23. Juli zurück in das pfälzische Gebiet südlich von Mainz. Ein französischer Angriff vor der Vollendung des deutschen Aufmarschs sollte so vermieden werden. In Saarbrücken verblieben nur zwei Grenzregimenter : das 7. Ulanenregiment, das in Saarbrücken stationiert war und zunächst schon am 16. Juli zur Sammlung nördlich der beiden Saar-Städte aufgebrochen war, und das zweite Bataillon des Hohenzollern’schen Füsilierregiments Nr. 40, das bisher in Trier stationiert gewesen war und in der Nacht vom 17. zum 18. Juli in Saarbrücken eingetroffen war. Beide Einheiten sollten die Bewegungen des Gegners beobachten und durch Vortäuschen einer überlegenen Besetzung Saarbrückens den deutschen Aufmarsch absichern.5 Tatsächlich führten die Erkundungsvorstöße beider Seiten in den folgenden Tagen zu einigen kleineren Grenzscharmützeln. Am 23. Juli besetzte ein französisches Bataillon Gersweiler und zog dann hinunter bis zur Burbacher Hütte am anderen (nördlichen) Saarufer ; dort wurden sie von Kompanien des 40er Regiments aufgehalten. Am 25. Juli rückten französische Einheiten nach 4 Ebd. S. 66 – 75. 5 Grundlegend zum Kriegsgeschehen im Saarbrücker Raum ist die Sammlung von Zeitzeugenberichten bei Albert Ruppersberg: Saarbrücker Kriegs-Chronik. Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann sowie am Spicherer Berge. Saarbrücken 1895; Nachdruck mit einer Einleitung von Wilfried Loth. St. Ingbert 1978; zur Rückverlegung der Ausladung der zweiten Armee Groote / Gersdorff, Entscheidung 1870, S. 53.

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Großblittersdorf und Ludweiler vor. Am frühen Morgen des 28. Juli geriet eine preußische Offizierspatrouille bei einem Erkundungszug nach Stieringen unter französisches Feuer; am Nachmittag des gleichen Tages schlugen französische Granaten auf der Bellevue im Saarbrücker Süden ein. Moltke wertete das als Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff der französischen Rheinarmee und gab daher am 30. Juli den Befehl zum Rückzug der Ulanen-Infanterie auf Sulzbach oder Bildstock, lediglich die Kavallerie sollte zur Beobachtung zurückbleiben. Dem widersetzte sich der Kommandeur des Ulanenregiments, Major von Pestel mit dem Argument, dass Saarbrücken wohl zu halten sei. Da unterdessen einige Bataillone anderer Regimenter nahe genug an Saarbrücken herangerückt waren, um einen eventuell nötigen Rückzug abzusichern, wurde der Befehl tags darauf wieder zurückgenommen.6 Unterdessen hatte Napoleon III. am 29. Juli dem Drängen seines Lieblingsgenerals Charles Frossard nachgegeben, einen Angriff auf Saarbrücken zu starten. Für einen Überraschungsangriff vor Vollendung des deutschen Aufmarschs war es jetzt eigentlich schon zu spät, aber Frossard hielt die beiden Grenzregimenter, die die Saar-Städte zu verteidigen hatten, für eine leichte Beute, und Napoleon war vor allem auf die politische Signalwirkung eines ersten Erfolges bedacht. Am 2. August rückten sechs Divisionen von Frossards zweitem Korps und dem dritten Korps unter dem Kommando von Marshall Achille Bazaine vom Spicherer Berg und von Stieringen aus nach Saarbrücken vor. Angesichts der mehr als zehnfachen Überlegenheit der Franzosen blieb den Ulanen und den 40ern nach blutigen Scharmützeln an der Verteidigungslinie von der Lerchesflur bis nach St. Arnual nur der Rückzug auf das nördliche Saarufer. Von dort aus belegten sie die Franzosen mit Artilleriebeschuss. Napoleon, der der Vorhut unter Frossards Kommando mit einigem Abstand gefolgt war, konnte seinem vierzehnjährigen Sohn Louis zu der erhofften »Feuertaufe« verhelfen. Bataillone, die auf dem Rastpfuhl nördlich von St. Johann biwakiert hatten, verteidigten die beiden Saar-Brücken und den Bahnhof in St. Johann. Am Nachmittag musste auch die nördliche Saar-Stadt aufgegeben werden. Unter Artillerie- und Granatenbeschuss zogen sich die preußischen Bataillone nach und nach nach Hilschbach und nach Dudweiler zurück.7 Der Kampf um Saarbrücken und St. Johann kostete auf preußischer Seite 83 Tote und Verwundete, auf französischer Seite 86. Frossard sprach in seinem Bericht an den Kaiser von einem »großen Sieg«, und eine französische Zeitung schrieb am 5. August, Saarbrücken habe »eine neue Epoche in der Geschichte eingeleitet«. Der britische Militärattach¦ in Paris kommentierte das mit den Worten, darüber könne man nur lachen: »Die Franzosen haben einen außer6 Ruppersberg, Kriegs-Chronik, S. 76. 7 Ebd. S. 85 – 127; Wawro, Franco-Prussian War, S. 86 – 91.

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ordentlichen Sinn für das Lächerliche.«8 Tatsächlich hatten sich die Preußen fürs Erste in Sicherheit gebracht. Die Franzosen aber rückten nicht nach. General Frossard richtete sein Hauptquartier bei der preußisch-französischen Grenze an der Goldenen Bremm ein; ansonsten wurde lediglich St. Arnual westlich von Saarbrücken besetzt. Marschall Bazaine bestürmte den Kaiser, den Angriff fortzusetzen; doch der konnte sich, unsicher geworden, nicht dazu durchringen. Möglicherweise spürte er auch die Gefahr, bei einem weiteren Vormarsch zwischen die erste und zweite preußische Armee zu geraten und so rasch eingekreist zu werden. Damit verdüsterten sich die Aussichten auf eine Entscheidungsschlacht nördlich der Saarstädte. Dennoch standen die Chancen nach wie vor gut, dass Moltkes Feldzugplan aufgehen würde. Der Aufmarsch der deutschen Armeen war unterdessen vollendet. Die zweite Armee unter Prinz Friedrich Karl hatte auf ihrem Marsch vom Rhein in Richtung Saarbrücken am 2. August fast schon Kaiserslautern erreicht; die dritte Armee unter Kronprinz Friedrich Wilhelm schlug auf ihrem Weg von Karlsruhe zur lothringischen Grenze am 4. August bei Weissenburg das zahlenmäßig weit unterlegene erste französische Korps in die Flucht.9 Die Entscheidungsschlacht würde jetzt auf lothringischem Territorium stattfinden, das wegen der erforderlichen Saar-Übergänge etwas schwieriger zu beherrschen war ; aber unmöglich war es nicht. Ganz entspannt tat Prinz Friedrich Karl, ein erfahrener Feldherr, der schon bei Königgrätz die größte preußische Armee kommandiert hatte, Louis-Napoleon und Frossard als »Kinder der Halbheit« ab.10 Die schlechte Versorgungslage und die Freude über den leichten Sieg verführten die französischen Truppen dazu, in den Gärten, Kellern und Wirtshäusern der Saarstädte in großem Stil Bier, Würste, Brot und Wein zu requirieren. Dabei kam es gelegentlich zu brutalem Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung; in der Regel führten sich die Franzosen aber durchaus zivilisiert auf. »Die meisten«, berichtet Albert Ruppersberg, »waren, wenn ihnen das Verlangte gegeben wurde, ganz zutraulich.«11 Das änderte aber nichts daran, dass die Bewohner der beiden Saar-Städte jetzt mit Sorgen in die Zukunft blickten. Die Ulanen hatten ihnen zwar gesagt, dass sie bestimmt bald wiederkommen würden; aber die Franzosen, mit denen sie in Kontakt kamen, gingen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass ihr Sieg in Saarbrücken nur der erste Schritt auf dem Weg nach Berlin war, und dass Saarbrücken in Zukunft wieder 8 Ebd. S. 91. 9 Ebd. S. 95 – 106. 10 Wolfgang Foerster : Prinz Friedrich Karl von Preußen: Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, Band 2. Stuttgart 1910, S. 142. 11 Ruppersberg, Kriegs-Chronik, S. 143; vgl. auch Theodor Fontane: Der Krieg gegen Frankeich, 1870 – 71, Band 1 (1873). Neuausgabe Zürich 1985, S. 152 f.

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französisch sein würde. Ein, wie es schien, etwas angetrunkener französischer Offizier verlangte schon einmal mit vorgehaltener Pistole, auf dem Saarbrücker Rathaus die Trikolore zu hissen.12 Indessen waren die französischen Tage der Saarstädte bereits am Abend des 5. August schon wieder zu Ende. Frossard reagierte auf Nachrichten von Anmarsch der drei deutschen Armeen mit einer Zurücknahme der Front auf die Höhen von Spichern und nach Forbach. Auf einen entsprechenden Befehl Napoleons III. am 6. August zog sich Bazaine mit dem dritten Korps von Saargemünd nach St. Avold zurück, MacMahon blieb am Osthang der Vogesen bei Froeschwiller, ein geplanter Angriff auf Saarlouis wurde zugunsten der Verteidigung des Moseltals abgeblasen.13 Das hieß: Die Franzosen warteten den deutschen Angriff jetzt einfach ab, wenn auch auf einer breiten Frontlinie.

2.

Warum Saarbrücken nicht Sedan wurde

Nach Moltkes Plan sollte die 137.000 Mann starke zweite preußische Armee den Hauptangriff auf die französische Rheinarmee führen. Die erste Armee mit ihren 40.000 Mann sollte bei Saarlouis die Saar überqueren und dann von der nordwestlichen Seite und von hinten zusätzlich angreifen; und die dritte Armee sollte, nachdem sie MacMahons Korps endgültig erledigt hatte, die Einkreisung der Rheinarmee von Südosten her vollenden. Daraus wurde jedoch nichts, und zwar deswegen nicht, weil General Steinmetz, der 74jährige Kommandant der ersten Armee, am 5. August beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Obwohl Moltke ihm befohlen hatte, auf der Höhe von Lebach zu warten, bis die beiden anderen Armeen näher gerückt waren, schickte Steinmetz je eine Division nach Völklingen und nach Saarbrücken vor, darauf bedacht, möglichst schnell und ohne den Umweg über Saarlouis den, wie er meinte, abrückenden Franzosen nachzusetzen. Nachdem Moltke und Prinz Friedrich Karl offensichtlich nicht bereit oder nicht in der Lage waren, sich dieser Aufgabe zu stellen, sah er die Gelegenheit, sie selbst zu übernehmen. Damit schnitt er jedoch nicht nur Prinz Friedrich Karl von seinen VorausEinheiten ab und nahm ihm den Raum, den er für die Versorgung seiner sieben Korps benötigte. Er riskierte auch einen vorzeitigen Beginn der Schlacht, der Moltkes Plan zunichte machte.14 Und in der Tat: Die beiden Divisionen trafen im Laufe des Vormittags des 6. August in Völklingen bzw. in Saarbrücken ein und wurden dort mit lautem 12 Ruppersberg, Kriegs-Chronik, S. 149. 13 Wawro, Franco-Prussian War, S. 95, 106 f. 14 Ebd. S. 107 – 110.

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Jubel begrüßt. Generalleutnant Georg von Kameke, der Kommandeur der Division, die in Saarbrücken eingerückt war (der 14. Division), ließ seine Truppen um die Mittagszeit auf das Höhengelände von Spichern weitermarschieren, um die, wie er meinte, Nachhut der abziehenden französischen Truppen von dort zu vertreiben und den Übertritt der nachrückenden deutschen Verbände über die Saar abzusichern. Mit großer Mühe, vom 20 Kilometer langen Anmarsch von Lebach erschöpft, stürmten nun sieben Kompanien in der Mittagshitze durch den Gifertwald und über Stiring Wendel auf die Spicherner Höhen vor.15 Der Kugelhagel, der sie dort empfing, brachte sie noch nicht gleich auf den Gedanken, dass sie es mit mehr als mit einer Nachhut zu tun hatten. Erst in überaus blutigen Kämpfen Mann gegen Mann und unter heftigem Beschuss von oben, zum Teil im Waldhang und zum Teil an der oberen Grenze der Wälder, wurde ihnen allmählich klar, dass sie sich leichtfertig in die Übermacht des französischen Hauptheeres begeben hatten. Auch wenn jetzt die übrigen Einheiten der 14. Division nachrückten, wurden die Preußen (zum Teil auch ehemalige Hannoveraner) zumeist an den Fuß des Gifertwaldes zurückgedrängt; die Angreifer bei Stiring wurden über das offene Feld bis fast nach Saarbrücken zurückgeschlagen. Allein der heftige Artilleriebeschluss, mit dem Kameke nun den Vormarsch seiner Infanterie unterstützte, hinderte die Franzosen daran, noch weiter in Richtung Saarbrücken vorzudringen. Zu Beginn der Schlacht bei Spichern standen die Spitzen der zweiten preußischen Armee, durch den unbotmäßigen Vormarsch der ersten aufgehalten, noch bei Neunkirchen; die dritte Armee war in eine erneute Schlacht mit den Truppen MacMahons bei Wörth im Elsass verwickelt.16 Prinz Friedrich Karl ließ sogleich zwei seiner Korps (das dritte und das siebte) an die Front bringen, zum Teil zu Fuß, zum Teil per Bahn (auf der Linie Neunkirchen – St. Johann – Forbach), und die Kavallerie auch zu Pferd. Ebenso rückten die restlichen Teile der ersten Armee, die unterdessen bei Fischbach angelangt waren, eilig an die Front vor. General Konstantin von Alvensleben, der Kommandeur des dritten Korps, übernahm gleich nach seiner Ankunft gegen 15 Uhr das Oberkommando von Kameke und ordnete eine erneute Erstürmung der Spicherner Höhen an. Tatsächlich gelang es einem seiner Regimenter, bis gegen 17 Uhr durch den Gifertwald erneut auf die Höhe vorzudringen; nachrückende Truppenteile der ersten Armee, darunter auch Artillerie, eroberten die französischen Befestigungen am Roten Berg. An der Südwestspitze des Gifertwaldes vermochten sich die Franzosen jedoch zu halten; im Wald wurde heftig weitergekämpft, ohne 15 Zum Verlauf der Schlacht bei Spichern ebd. S. 110 – 119; Groote / Gersdorff, Entscheidung 1870, S. 62 – 66; Ruppersberg, Kriegs-Chronik, S. 174 – 232. 16 Wawro, Franco-Prussian War, S. 121 – 137.

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dass im Nachhinein noch ein genauer Frontverlauf rekonstruierbar wäre. Auch sonst kamen die Preußen nicht wirklich voran: Einige Bataillone rückten von der Folsterhöhe durch den Drahtzug nach Stiring vor. Nachdem sie Alt-Stiring genommen hatten, kam ihr Vormarsch aber zum Stillstand. Die französische Division, die schwere Verluste zu beklagen hatte, erhielt endlich Verstärkung und ging zum Gegenangriff über. Zur gleichen Zeit – etwa gegen 16 Uhr – eroberten preußische Truppen die Häusergruppe an der Goldenen Bremm. Haus für Haus, wieder unter zahlreichen Verlusten erkämpft, konnten sie sich freilich nur drei Stunden hier halten.

Abb. 1: Die Schlacht bei Spichern am 6. August 1870. Albert Ruppersberg, Saarbrücker KriegsChronik. Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann sowie am Spicherer Berge. Saarbrücken 1895 (Abbildung unpaginiert).

Die preußischen Truppen kämpften mit ungeheurem Einsatz. Sie waren aber zahlenmäßig immer noch unterlegen und zudem von dem hastigen Anmarsch ziemlich erschöpft. Ihr Einsatz erfolgte völlig unkoordiniert: Die halbstündlich mit der Bahn ankommenden Truppenteile wurden jeweils sogleich dorthin geschickt, wo es im Augenblick am Dringendsten erschien. Dass sie letztlich nicht vernichtend geschlagen wurden, hatten sie allein dem Zögern der französischen Seite zu verdanken: Bazaine, der mit dem dritten französischen Korps bei St. Avold stand weigerte sich zunächst, Frossard die erbetene Unterstützung zu schicken, weil er seine Truppen für einen Angriff aus Völklinger Richtung zu-

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sammenhalten wollte und nicht wusste, welche Dimension der Kampf um die Spicherner Höhen annahm. Die beiden Divisionen, die er schließlich losschickte, erhielten keine klaren Anweisungen. Als die Preußen kurz nach 17 Uhr eine Feuerpause einlegten, wollte Frossard eine der beiden sogar schon wieder zurückschicken.17 Um die Reste von Frossards Divisionen auf ihrer nordwestlichen Flanke anzugreifen, noch ehe Bazaines Verstärkung anrückte, schickte Alvensleben nach 18 Uhr sieben frisch angekommene Bataillone auf den Forbacher Berg vor, einen Ausläufer des Roten Bergs in Richtung Stiring. Das sollte sich als das entscheidende Manöver erweisen: Die Bataillone der zweiten Armee wurden zwar mehrmals zurückgeschlagen, konnten aber dank massivem Artillerie-Sperrfeuer bei Einbruch der Dunkelheit die Berghöhe erstürmen. Frossard konzentrierte seine Truppen auf einen erneuten Angriff auf den Roten Berg und den Gifertwald. Hier begannen die Preußen vereinzelt zurückzuweichen. Insgesamt leisteten sie aber genügend Widerstand, um den französischen Oberkommandierenden davon zu überzeugen, dass ein rascher Durchbruch unmöglich war. Da unterdessen auch der französische Vormarsch von Stiring beim Drahtzug zum Erliegen kommen war und die von Völklingen kommende Division der ersten Armee Forbach erreicht hatte, entschloss sich Frossard gegen 21 Uhr, den Kampf abzubrechen. Seine Truppen rückten nach Süden ab, in Richtung Saargemünd und St. Avold. Dabei stießen sie auf die beiden Divisionen Bazaines, die sich jetzt erst dem Kriegsschauplatz näherten. Die Preußen nahmen den französischen Rückzug mit Verwunderung zur Kenntnis. Sie besetzten die Spicherner Höhen und eroberten Stiring, wo der französische Rückzug etwas länger dauerte, mit Waffengewalt. Zum Nachrücken in der Dunkelheit waren sie freilich viel zu erschöpft. Verständlicherweise fühlten sich die Deutschen als Sieger auf dem Schlachtfeld. Bei näherem Hinsehen wird freilich deutlich, dass die Franzosen durch den Ungehorsam von Steinmetz und die Unvorsichtigkeit Kamekes der von Moltke geplanten großen Konfrontation mit den vereinten deutschen Armeen entkommen waren. Damit war entschieden, dass der Krieg nicht wie 1866 als kurzer Feldzug geführt werden konnte. Erst zwei Wochen später, nach zahlreichen weiteren taktischen Fehlern, Koordinationsschwierigkeiten der preußischen Generalität und zwei weiteren verlustreichen, aber unentschiedenen Schlachten (bei Colombey und Nouilly am 14. und bei Vionville und Marsla-Tour am 16. August) sollte es den vereinten deutschen Armeen in der Schlacht von Graveloote und St. Privat westlich von Metz am 18. August der entscheidende Durchbruch gelingen. Frossards Korps zog sich in die Festung Metz zu17 Ebd. S. 118.

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rück, wo sie nach langer Belagerung schließlich am 27. Oktober kapitulierte. Die zum Ersatz herangeführten Korps aus dem Elsass und von Ch–lon wurden am 1. September eingeschlossen; mit ihnen begab sich Napoleon III. in deutsche Kriegsgefangenschaft.18 Verlustarm wie 1866 blieb der neue Krieg auch deswegen nicht, weil das Chassepot-Gewehr mit dreifacher Reichweite und die Mitrailleuse (eine Vorform des Maschinengewehrs) auf französischer Seite und die Krupp-Kanonen der Preußen für wesentlich stärkere Feuerkraft sorgten. Zuletzt waren auf der preußischen Seite 26.000 Mann und 76 Geschütze im Einsatz, auf der französischen Seite 24.400 Mann und 90 Geschütze. Die Preußen hatten 840 Tote zu beklagen, 3.500 Verletzte und 370 Vermisste. Auf französischer Seite waren es 320 Tote, 1.650 Verletzte und 2.100 Vermisste. Die französischen Kriegsgefangenen wurden dazu eingesetzt, die Toten beider Seiten in Massengräbern zu beerdigen, die über das ganze Schlachtfeld verteilt waren. Danach wurden sie in Kriegsgefangenenlager jenseits des Rheins verbracht.

3.

Aufschwung nach dem Sieg

Mit dem Rückzug der Truppen Frossards in der Nacht zum 7. August war das Kampfgeschehen in Saarbrücken beendet. Die beiden Saarstädte wurden zur Etappe: Über 3.000 Verwundete mussten hier versorgt werden; die nachrückenden preußischen Truppen, über 12.000 Mann, wurden einquartiert und verproviantiert. Bei einer Einwohnerzahl von zusammen 16.000 ging das nur unter Anspannung aller Kräfte und tatkräftiger Mithilfe der Bevölkerung. Es fehlt nicht an Berichten über Opfermut und Einsatz der Zivilbevölkerung. Auch wenn man vermuten kann, dass die leuchtenden Beispiele dabei etwas isoliert hervorgehoben wurden, bleibt doch insgesamt der Eindruck, dass die Bevölkerung mit den preußischen Truppen litt und über den Rückzug der Franzosen sehr erleichtert war.19 Am 8. August wurde Saarbrücken preußisches Hauptquartier. Nicht nur König Wilhelm, auch Bismarck, Moltke und Kriegsminister Albrecht von Roon trafen am Nachmittag gegen 16 Uhr von Homburg kommend in St. Johann ein und wurden mit großem Jubel empfangen. Die Häuser waren, so gut das in der Eile möglich war, prächtig mit Fahnen geschmückt – nicht nur mit preußischen und norddeutschen, sondern auch bayerischen und schwarzrotgoldenen.20 Der 18 Zum weiteren Kriegsverlauf bis Sedan Groote / Gerdorff, Entscheidung 1870, S. 67 – 89; Heinz Helmert / Hans-Jürgen Usczek, Preußisch-deutsche Kriege von 1864 bis 1871, Berlin 1978, S. 205 – 235; Wawro, Franco-Prussian War, S. 183 – 229. 19 Rupersberg, Kriegs-Chronik, S. 239 – 250. 20 Ebd. S. 251; zum Aufenthalt des Königs insgesamt ebd. S. 251 – 258.

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preußische König wurde so bewusst als Einiger des Reiches begrüßt. Nachdem Wilhelm I. das Schlachtfeld besichtigt und die Krankenstationen ausgiebig besucht hatte, erließ er am 11. August eine Proklamation an das französische Volk, in der er der Zivilbevölkerung die Sicherheit ihres Eigentums versprach, wenn sie nicht feindlich gegen die nunmehr einmarschierenden deutschen Truppen zeigten. Danach verließ das Hauptquartier Saarbrücken in Richtung Forbach und St. Avold, wiederum von einer dichtgedrängten Menschenmenge bejubelt. Die beiden Saarstädte blieben Feldlazarett sowie Umschlagplatz für Informationen, Truppen und Material. Der königliche Zuspruch half, die wirtschaftlichen Zumutungen zu ertragen, die das Kriegsgeschehen mit sich brachte. Die Bürger St. Johanns und Saarbrückens mussten eine außerordentliche Lebensmittel-Teuerung hinnehmen, einmal wegen der Sommertrockenheit, dann durch die Verkehrssperre seit Mitte Juli, schließlich durch die Verdreifachung bis Vervierfachung der Menschen, die in Saarbrücken lebten. Kartoffeln kosteten das Fünffache des normalen Preises, Brot, Butter und Eier mehr als das Doppelte; Milch, Zucker und Salz waren eine Zeit lang überhaupt nicht zu haben. Bautätigkeit und Verkehr stockten, die Kohlengruben schränkten ihre Förderung ein, da es an Absatzwegen fehlte, und die Fabriken taten es ihnen nach. Nur die Hälfte der Bergbaubelegschaft konnte weiterbeschäftigt werden, freilich angesichts der geringen Förderung zu ebenso geringem Lohn. Viele Bergleute gingen zum Festungsbau nach Mainz und Koblenz, zum Eisenbahnbau nach Pont-—-Mousson oder in den Ruhr-Kohlenbergbau. Einige fanden beim Bau einer Zweigeisenbahn nach Püttlingen und zur Grube König neue Arbeit. Die Bergwerksdirektion, der preußische Staat und auch die Burbacher Hütte sorgten durch die Abgabe ermäßigter Lebensmittel für die Linderung der ärgsten Not; sie konnten aber nicht verhindern, dass die Bevölkerung die Wochen und Monate nach der Schlacht von Spichern als sehr hart erlebte. Neben den Arbeitern wurde der kleine Mittelstand durch den Verdienstausfall und die Teuerung hart getroffen. Hinzu kamen infolge der Kriegswirren und der vielen durchziehenden Soldaten die Ruhr, der Typhus und die Pocken, die zahlreiche Todesfälle forderten. Schließlich dienten mehr als 2.000 Saarbrücker im Feld; ihren Familien fehlte der Ernährer, bei manchen für immer. Auf die Dauer überwogen freilich die wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus dem Sieg gerade für die beiden Saarstädte ergaben. Die neu errungene Verbindung mit der lothringischen Montanindustrie und die Aussicht auf Zunahme der Gewinne in einem nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich geeinten Deutschland führten ab 1871 zu einem ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung. An den »Gründerjahren« hatte die Saarindustrie vollen Anteil. Die Preise für Kohle, Eisen, Glas (also für Alles, was im Saarbrücker Raum produziert wurde) stiegen, und damit stiegen auch die Löhne der Arbeiter. Nach dem

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Sulzbachtal wurde jetzt auch das Fischbachtal für die Kohleförderung durch den preußischen Bergfiskus erschlossen; nach den Hüttenwerken auf dem Halberg und in Burbach wurde jetzt auch in Völklingen eine Eisenhütte errichtet. Infolge allzu ungezügelter Investitionen und Überproduktion kam es zwar ab 1873 zu einer Krise in der Montanindustrie, doch konnte diese bis zum Ende des Jahrzehnts überwunden werden. Saarbrücken wuchs zu einer modernen IndustrieMetropole zusammen.21 Das Erlebnis des Krieges und des nachfolgenden Aufschwungs festigte die Stellung der Saarstädte als eine der Hochburgen des Bündnisses zwischen Bismarck und den Nationalliberalen. Traditionell waren die Saarstädte Domänen des freiheitlichen Liberalismus gewesen; in der Zeit des preußischen Verfassungskonflikt hatten sie Vertreter der liberalen Opposition wie Rudolf Virchow, Franz Duncker und Friedrich Sello in das Preußische Abgeordnetenhaus geschickt. Diese Mehrheit hatte nach 1866 zu kippen begonnen, zum einen wegen der Spaltung der Liberalen, zum anderen wegen der wachsenden Wahlbeteiligung der Arbeiter, die aufgrund der patriarchalischen Verhältnisse im Bergbau und in der Hüttenindustrie ganz überwiegend für regierungstreue Kandidaten stimmten. Nach 1870 stieg die Wahlbeteiligung, die noch 1863 nur 35 Prozent betragen hatte, auf über 70 Prozent. Freikonservative und Nationalliberale teilten sich nun die Mandate im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag; fortschrittsliberal oder demokratisch gesonnene Bürger wie der Brauereibesitzer Gustav Bruch sahen sich zur Minderheit degradiert.22 Für die Mehrheit der Saarbrücker Bürger und Arbeiter stand nicht nur die Zugehörigkeit zu dem neuen Deutschen Reich ganz außer Frage, sondern ebenso die Anerkennung der traditionellen Werte des preußischen Obrigkeitsstaates im Gegensatz zum Liberalismus des benachbarten Frankreich. Der Tag der Schlacht von Spichern wurde bis in den Ersten Weltkrieg hinein jedes Jahr als nationaler Gedenktag gefeiert, im ersten Jahr mit nicht weniger als 5.000 Teilnehmern. Im Deutschmühlental wurde ein »Ehrenfriedhof« für die nachträglich verstorbenen deutschen und französischen Verwundeten und die Leichen der Offiziere geschaffen, die in die Stadt gebracht worden waren. Zahlreiche Regimentsdenkmäler wurden errichtet, und nach einer überaus erfolgreichen Sammlung wurde zum vierten Jahrestag der Schlacht am 9. August 1874 ein pompöses Denkmal auf dem höchsten Berg des Stadtbildes, dem Winterberg eingeweiht. Die Saar-

21 Bellot, Hundert Jahre, S. 100 ff.; Richard van Dülmen (Hg.): Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeiten in einer Industrieregion 1840 – 1914. München 1989; Rolf Banken, ›Die Industrialisierung der Saarregion 1815 – 1913‹, in: Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2002, S. 59 – 101. 22 Bellot, Hundert Jahre, S. 89.

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brücker verstanden sich als Reichsbürger, die die Entstehung des neuen Reiches nicht nur miterlebt, sondern auch miterkämpft hatten.23

23 Wittenbrock, Die drei Saarstädte, S. 27 f. Zur weiteren Entwicklung der Saarbrücker Mentalität im Kaiserreich vgl. Wilfried Loth, ›Preußens Bastion im Westen. Wie Saarbrücken Großstadt wurde‹, in: Klaus-Michael Mallmann u. a. (Hg.): Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815 – 1955. Bonn 1987, S. 77 – 81; Jürgen Hannig, ›Im Schatten von Spichern. Militarismus und Nationalismus im Saarrevier vor dem Ersten Weltkrieg‹, in: Georg Jenal (Hg.): Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. München 1993, S. 257 – 276.

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Volker Wahl

Die Hassfigur »Doppelotto«. Zur Biografie des NS-Abgeordneten, Landrats und Kreisleiters Otto Recknagel (1897 – 1983) im Landkreis Schmalkalden

In der Zelle des Nürnberger Kriegsverbrechergefängnisses schrieb der vormalige NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter in Thüringen, Fritz Sauckel, für den amerikanischen Vernehmungsoffizier am 16. und 17. Oktober 1945 seinen Lebenslauf nieder, der von Biederkeit, Selbstverleugnung und Wahrheitsverdrängung durchsetzt ist. Zu seiner Verteidigungsstrategie gehörte sein Verhältnis zum christlichen Glauben. Er sei durch Erziehung und Erleben tief in religiösen Anschauungen verwurzelt, empfinde nun die Entfremdung vom Christentum als »schwersten Fehler«. Bis zum Jahr 1936 hatte er der evangelischen Kirche angehört. »Leider bin auch ich aus der Kirche ausgetreten. Ich bereue dies tief, obwohl ich mit meiner Familie immer tief religiös geblieben bin.«1 Zu dieser Zeit saß Otto Recknagel, ehemaliger Landrat und NSDAP-Kreisleiter im Parteikreis Schmalkalden-Suhl-Schleusingen und ein enger politischer Weggefährte von Sauckel seit Mitte der 1920er Jahre, in einem amerikanischen Interniertenlager in Hessen ein und wartete auf seine »Entnazifizierung«. Aus der Kreisstadt Schmalkalden, wo er seit 1938 als Landrat lebte, war er Anfang April 1945 vor den seit 1. April 1945 in Thüringen einrückenden Truppen der Alliierten in die Wälder am Rennsteig geflohen, wurde aber am 13. April 1945 gefangen genommen und blieb bis 9. Juli 1948 in deren Gewahrsam. In seine Heimat im Thüringer Wald konnte er nie wieder zurückkehren. Auch er konnte sich auf eine traditionelle Bindung an die Kirche berufen, die anders als bei Sauckel in seiner politischen Biografie tatsächlich eine ausschlaggebende Rolle in einer Konflikt- und Bewährungssituation in den letzten Jahren des Dritten Reiches gespielt hatte. Am 17. Oktober 1946 – am Tag zuvor waren die von den Alliierten zum Tode verurteilen Hauptkriegsverbrecher, darunter Fritz Sauckel, in Nürnberg hin1 Für Herrn Major Kelley : Über meinen Lebenslauf und meine Familie (1945) von Fritz Sauckel. Abdruck nach dem Original im Institut für Zeitgeschichte München bei Steffen Raßloff: Fritz Sauckel. Hitlers »Muster-Gauleiter« und »Sklavenhalter«. Erfurt 2008, S. 119 – 133, hier S. 131 – 132.

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Abb. 1: Otto Recknagel, Porträt als Kreisleiter der NSDAP, aus Fritz Sauckel: Kampf und Sieg in Thüringen. 1934, S. 72.

gerichtet worden – erschien in der Schmalkalder Lokalausgabe der SED-Zeitung »Thüringer Volk« eine publizistische »Anklageschrift« gegen den in der Amerikanischen Zone internierten Otto Recknagel aus Steinbach-Hallenberg. Unter der Überschrift »Otto Recknagel – ein Charakterbild« wurde dort die vermeintliche Hassfigur »Doppelotto« vorgeführt, der von 1927 bis 1942 an der Spitze der NSDAP im Landkreis Schmalkalden gestanden und hier von 1934 bis 1945 als Landrat amtiert hatte: »Es gab nur einen ›Doppelotto‹, der von vorn, von der Seite und von hinten gesehen ebenso aussah: und es gab nur einen Otto, der alle Schlechtigkeiten und Charakterlosigkeiten in sich trug und ebenso handelte, wie er aussah: Niederträchtig bis zur Gemeinheit, rücksichtslos bis zur Brutalität. Mit einem Satze: Wie sein Äußeres, so war der innere Mensch.«2 Wenn dieses veröffentlichte »Charakterbild« – der Verfasser wird nicht genannt – mehr propagandistisch-grobschlächtig als historisch-kritisch argumentiert, so ist das vor allem der Tatsache geschuldet, dass damit auch Wahlkampf für die SED im Hinblick auf die Landtagswahl in Thüringen am 20. Oktober 1946 getrieben wurde. Auf der Suche nach den Hauptschuldigen für »den beispiellosen Zusammenbruch, unsere Not, den Hunger und das Elend dieser Tage« könne man an diesem Otto Recknagel aus Steinbach-Hallenberg nicht vorübergehen. Es ist hier nicht der Platz für eine umfassende biografische Darstellung eines heute kaum noch bekannten, aber nicht vergessenen politischen Akteurs in der Weimarer Republik und in der Zeit des Dritten Reiches, der für den Aufstieg der 2 Otto Recknagel – ein Charakterbild, in: Thüringer Volk. Thüringer Landeszeitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Ausgabe Schmalkalden 1946/132 (17. Oktober 1946).

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Die Hassfigur »Doppelotto«

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NSDAP im lokalen und regionalen Rahmen in Südthüringen nicht unwichtig war. Er gehörte »zu den 300 ältesten politischen Leitern der Partei«, wie er 1934 in einem Lebenslauf angab.3 Aber was weiß man tatsächlich von ihm und von der historischen Entwicklung in dieser Zeit und in diesem Raum? Die heute verbreiteten Lexikonartikel wiederholen lediglich seine in der NS-Zeit bekannt gewordenen biografischen Daten.4 Historische Forschungen über seine Rolle als Parteifunktionär, der vor seinem Rücktritt 1942 dem Korps der Politischen Leiter in Thüringen angehörte, der über ein Jahrzehnt als Landrat der staatlichen Verwaltung im Landkreis Schmalkalden vorstand und der in der NS-Zeit Reichstagsabgeordneter war, somit zu den »Statisten in Uniform«5 zählte, haben bisher nicht stattgefunden. Zunächst können hier nur die Grunddaten genannt und der entstandene Konflikt für den 1942 vollzogenen Bruch in den parteipolitischen Beziehungen zwischen dem Gauleiter Sauckel und dem Kreisleiter Otto Recknagel erörtert werden. Einer vertieften Untersuchung zu Otto Recknagels NS-Karriere und seinem späteren Schicksal wird damit nicht vorgegriffen. Sie ist außerdem einzubetten in die Lokalforschung in Steinbach-Hallenberg und darüber hinaus, was »Kampf und Sieg«6 der NS-Bewegung im Gebiet zwischen Schmalkalden und Suhl, den beiden Verwaltungsmittelpunkten der preußischen Landkreise Herrschaft Schmalkalden (Regierungsbezirk Kassel) und Schleusingen (Regierungsbezirk Erfurt) in Südthüringen, betrifft, die bisher nicht ausreichend erforscht sind. Das nach dem in Württemberg erlassenen Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus (vom 5. März 1946) im Spruchkammerverfahren im Internierungslager Ludwigsburg über Otto Recknagel am 7. Juli 1948 ergangene Urteil hatte ihn als »Belasteten« eingestuft, so dass er wegen der

3 Siehe den Abdruck unten, dazu Anm. 19. 4 Vgl. Jochen Lengemann: MdL Hessen 1806 – 1996. Biographischer Index. Marburg 1996, S. 303; Dieter Pelda: Die Abgeordneten des Preußischen Kommunallandtags in Kassel 1867 – 1933. Marburg 1999, S. 165; Joachim Lilla: Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstages 1933 – 1945. Ein biographisches Handbuch. Düsseldorf 2004, S. 494. Bei Erich Stockhorst: Fünftausend Köpfe. Wer war was im Dritten Reich. Velbert 1967, S. 338 werden nur die Ämter als Landrat und NSDAP-Kreisleiter sowie seine Zugehörigkeit zum Preußischen Landtag seit 1932 und zum Reichstag 1933 angeführt. Die neueren Personenlexika zum Dritten Reich von Ernst Klee und Hermann Weiß enthalten ihn gar nicht. Als Landrat des Kreises Herrschaft Schmalkalden ist er enthalten in Thomas Klein (Hg.): Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815 – 1945, Reihe A, Bd. 11 Hessen-Nassau. Marburg 1979, S. 375 und Bildteil Nr. 108. 5 So der Titel des biographischen Handbuchs der Reichstagsabgeordneten in der NS-Zeit (wie Anm. 4). 6 »Kampf und Sieg in Thüringen« war der Titel der 1934 von Fritz Sauckel zum Gauparteitag der NSDAP herausgegebenen Erinnerungsschrift über die Geschichte der NSDAP in Thüringen (wie Anm. 31).

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Dauer der bisherigen Internierungshaft unmittelbar danach entlassen wurde.7 Das kommentierte die Zeitung »Thüringer Volk« am 16. August 1948 als »Treppenwitz westlicher Spruchkammer«8. Gegen diese Einstufung erhob vor Ort der Oberste Kläger Einspruch, der ihn in die Gruppe der »Hauptschuldigen« eingereiht sehen wollte. In der Berufungsverhandlung am 6. Juni 1950 in Ludwigsburg blieb es allerdings bei der bisherigen Einstufung als »Belasteter«, wobei die Sühnemaßnahmen gegen Recknagel wegen der drei Jahre und zwei Monate dauernden Internierungshaft abgegolten waren. In seiner Thüringer Heimat blieb er die Hassfigur »Doppelotto«. Hier wurde er am 11. Juli 1951 vom Landgericht Meiningen als »ehem.[aliger] Landrat und Kreisleiter der NSDAP« in Abwesenheit als »Hauptschuldiger« zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.9 Die Entnazifizierungskommission für den Kreis Schmalkalden hatte gegen ihn bereits am 10. Oktober 1947 die Zwangsmaßnahmen als »Hauptverbrecher« nach dem Befehl Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland verfügt, aber wegen dessen Abwesenheit nichts ausrichten können.10 Otto Recknagel war zu dieser Zeit Montageschlosser in einer Rohrleitungsanlagenfirma in Nordrhein-Westfalen, die beim Wiederaufbau zerstörter Energieanlagen tätig war.11 Seit seiner Entlassung aus dem Internierungslager Ludwigsburg wohnte er in Traisa bei Darmstadt, wo ihm ein Kriegskamerad aus dem 1. Weltkrieg Unterkunft gewährt hatte, bevor er 1957 nach Krefeld zog, wo sich sein ältester Sohn als Elektriker niedergelassen hatte. Otto Recknagel selbst ist in den Krefelder Adressbüchern als Schlosser bzw. Maschinenschlosser verzeichnet. Als Landrat a. D. ist er hingegen niemals aufgetreten. Nur in der Sterbeurkunde ist bei seinem Ableben am 23. Januar 1983 »selbständiger Kaufmann« angegeben, was er jedoch nach seiner Berufung zum Landrat 1937/ 38 nie mehr gewesen war.12 Das aber führt uns zu seinen beruflichen Anfängen in Steinbach-Hallenberg zurück, wo Otto Recknagel am 30. April 1897 geboren wurde. Das Erwerbsleben in dem kleinen Thüringer Waldort baute auf dem eisenverarbeitenden Handwerk auf, das in der Gründerzeit einen beträchtlichen Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. Ebd. Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Landgericht Meiningen Nr. 249. Vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand NS-Archiv des MfS, VgM 10128 A 1. Es handelt sich um die Allgemeine Rohrleitung Aktiengesellschaft in Düsseldorf-Reisholz. In der Spruchkammerakte ist eine von ihr am 10. Februar 1950 ausgestellte »Arbeitsbescheinigung« enthalten, dass Otto Recknagel am 9. September 1948 als Hilfsarbeiter eingestellt und seitdem auf der »Baustelle beim Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerk Betriebsverwaltung Goldenbergwerk A.G., Knapsack Bez. Köln, als Montagehelfer in unseren Rohrleitungs-Montierungs-Kolonnen« beschäftig wurde. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 12 Sterbeurkunde des Standesamtes Krefeld-Mitte Nr. 128/1983 vom 24. Januar 1983. Herrn Joachim Lilla vom Stadtarchiv Krefeld danke ich für Auskünfte und Vermittlung einer Kopie aus dem Personenstandsregister des Standesamtes. 7 8 9 10 11

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Die Hassfigur »Doppelotto«

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Aufschwung genommen hatte. Die Gemeinde gehörte damals in der Verwaltungsgliederung zum Landkreis Herrschaft Schmalkalden im Regierungsbezirk Kassel der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Ein Reisehandbuch von Thüringen aus dem Jahr 1899 stellt den Ort folgendermaßen vor : »Steinbach-Hallenberg, Bahnstation, 490 m [Höhe über NN], gewerbefleissiger Flecken; 4 000 Einw. […] Bahn nach Zella[-Mehlis] und Schmalkalden.«13 Noch bis 1944 existierte dieser Landkreis als hessische Exklave in Thüringen, bevor er am 1. Juli 1944 dem Regierungsbezirk Erfurt zugewiesen und mit ihm nach Kriegsende 1945 in das Land Thüringen eingegliedert wurde.14 In diesem Marktflecken – der größte im Landkreis neben der Kreisstadt Schmalkalden – wuchs Otto Recknagel auf. Der Großvater, Friedrich Wilhelm Recknagel (1833 – 1908) aus dem benachbarten Unterschönau, war 1858 als Nagelschmied nach Steinbach-Hallenberg gekommen und hatte hier Mitte der 1860er Jahre eine Firma gegründet, die zunächst hauptsächlich Nägel herstellte. Diese übernahm um 1900 sein Sohn August Wilhelm Recknagel (1864 – 1928), der zwei Söhne hatte, den älteren Bernhard Recknagel (1892 – 1949), der nach dem Abitur in Schmalkalden eine Banklehre absolvierte, und Otto Recknagel (1897 – 1983), der noch vor Kriegsbeginn 1914 eine kaufmännische Lehre durchlief. Letzterer war es auch, der nach Kriegsende in das väterliche Geschäft eintrat, das nunmehr als »Eisen- und Stahlwarenfabrikation« firmierte. 1921 wurde Otto Recknagel Mitinhaber dieser Firma, machte sich aber 1925 selbständig und gründete im Haus seines Schwiegervaters, des Schlossermeisters Karl Friedrich Häfner15, eine eigene Firma, deren Zweckbestimmung die Fabrikation und der Export von Eisen- und Stahlwaren sowie von Sportartikeln war. Diese Firma verkaufte er 1938, nachdem er zum hauptamtlichen Landrat in Schmalkalden berufen worden war. Sein älterer Bruder, Bernhard Recknagel, kehrte Ende 1922 aus Köln zurück, trat zunächst als Mitinhaber in die väterliche Firma ein und machte sich 1926 in einer eigenen Firma selbstständig, bis er 1933 als Bürgermeister von Steinbach-Hallenberg eingesetzt wurde.16 Unter ihm wurde 1936 der Gemeinde 13 Thüringen. Praktisches Reisehandbuch (=Griebens Reisebücher, Band 3, 20. Auflage). Berlin 1899, S. 131 – 132. 14 Vgl. Volker Wahl: Ein Gang durch die Geschichte von Steinbach-Hallenberg und Umgebung. Steinbach-Hallenberg 1990. 15 Er hatte am 30. Juni 1921 dessen Tochter Mathilde Lydia Häfner (1902 – 1990) geheiratet. Aus der Ehe gingen zwischen 1923 und 1940 vier Kinder (drei Söhne, eine Tochter) hervor. 16 Der am 7. Dezember 1892 in Steinbach-Hallenberg geborene Bernhard Recknagel schloss sich ebenfalls früh der NSDAP an (Nr. 43321, eingetreten am 23. August 1926). Er wurde am 11. März 1933 vom Landrat Ludwig Hamann kommissarisch mit der Wahrnehmung des Bürgermeisteramtes in Steinbach-Hallenberg betraut und am 31. Dezember 1933 von der Gemeindevertretung auf 12 Jahre zum Bürgermeister gewählt. Am 5. April 1945 wurde er von amerikanischen Truppen in Steinbach-Hallenberg interniert und am 25. Mai 1946 aus dem Interniertenlager in Darmstadt entlassen. Ein von der Spruchkammer Fritzlar-Homberg durchgeführtes Spruchkammerverfahren stufte ihn am 16. April 1948 als »Minderbe-

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Steinbach-Hallenberg das Stadtrecht verliehen (durch Urkunde des Oberpräsidenten der preußischen Provinz Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, ausgestellt am 30. Juni 1936 in Kassel). Von Otto Recknagel gibt es zwei von ihm selbst stammende Lebensläufe aus den Jahren 1934 und 1947. Der erste wurde am 13. November 1934 für das Preußische Ministerium des Innern verfasst, nachdem er ehrenamtlich die Geschäftsführung des Landratsamtes in Schmalkalden übernommen hatte.17 Den zweiten schrieb er im Februar 1947 in amerikanischer Internierungshaft in Ludwigsburg nieder.18 Sie sollen hier komplett wiedergegeben werden, weil sie einen weitgehend lückenlosen Überblick über seine persönliche Entwicklung bis zu seinem 50. Lebensjahr gewähren. Lebenslauf 193419 »Am 30. April 1897 wurde ich als der 2. Sohn des Kaufmanns Aug.[ust] Wilh.[elm] Recknagel in Steinbach-Hallenberg geboren und ev.[angelisch] luth.[erisch] getauft. Vom 6.–14. Lebensjahr besuchte ich die Volksschule in Steinbach-Hallenberg. Nach meiner Schulentlassung ging ich 12 Jahr auf die Privat-Handelsschule nach Meiningen und trat dann als kaufmännischer Lehrling in die Eisenhandelsfirma F. Walther Erfurt ein. Am 2. Mobilmachungstag [2. August 1914] meldete ich mich mit 17 Jahren freiwillig und wurde bei der 2. Ersatz M.[aschinen]G.[ewehr]K.[ompanie] 11. A.[rmee] K.[orps] in Erfurt angenommen. Im November 1914 rückte ich dann mit dem F.[estungs]M.[aschinen]G.[ewehr] Zug 21 ins Feld in die Vogesen. Im Herbst 1915 wurde ich Gefreiter und 1917 Unteroffizier. Im Sommer 1918 erhielt ich als Erster nach dem Komp.[anie]Führer das E.[iserne] K.[reuz] I. Klasse wegen hervorragender Patrouillengänge bei der 1. M.[aschinen]G.[ewehr]K.[ompanie] L.[andwehr]I.[infanterie] R.[egiment] 110. Als Patrouillenführer holte ich im Sommer 1918 am selben Tage mit einigen Kameraden einen fr[an]z.[ösischen] U[n]t[erof]f[i]z.[ier] aus der feindlichen Stellung, der wichtige Aussagen machte. Die Patrouille erhielt dafür 500 R[eichs]M [ark] Belohnung. Ich wurde mehrmals in den Regiments- und Divisionsbefehlen namentlich genannt wegen glänzender Patrouillentätigkeit. Nach dem Kriege trat ich ins väterliche Geschäft. Im Jahre 1925 machte ich mich selbständig und betreibe ich ein Fabrikations- und Exportgeschäft in Kleineisenwaren und Sportartikeln. Im Jahre 1922 trat ich dem Jungdeutschen Orden bei, trat aber 1924 wegen der Einstellung Mahrauns20 zu der Münchner Erhebung [9. November 1923] wieder aus und gründete mit einigen Kameraden im Frühjahr 1924 eine Ortsgruppe des Völk.[ischen] Blocks bzw.

17 18 19 20

lasteten« ein. Er verstarb bereits am 29. April 1949 in Kassel. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 520/FH (A-Z) Recknagel, Bernhard R. 4713 K. 259. Vgl. Geheimes Staatsarchiv PK Berlin, I. HA Rep. 77 Nr. 4860, Bl. 289. Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. Von Otto Recknagel, Kaufmann, Mitglied des Reichstags, datiert Steinbach-Hallenberg 13. November 1934. Überliefert als Abschrift im Ernennungsvorgang zum kommissarischen Landrat 1937 (wie Anm. 17). In der vorliegenden Abschrift steht fälschlich Masiaun; gemeint ist aber Arthur Mahraun, der Begründer und Führer (»Hochmeister«) des Jungdeutschen Ordens.

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der NS. Freiheitsbewegung. Im März 1925 trat die Ortsgruppe zur neugegründeten NSDAP über. Ich erhielt die Mitgliedsnummer 1517. Die Ortsgruppe bearbeitete unter meiner Führung das gesamte preußische Gebiet im Thür[in]g.[er] Wald, und Steinbach-Hallenberg war bald eine Hochburg der Hitlerbewegung. Im Jahre 1927 wurde ich Kreisleiter bezw. Bezirksleiter und bearbeitete vor allem die kommunistischen Hochburgen Zella-Mehlis und Suhl, die auch 1928 eine Ortsgruppe der NSDAP erhielten. Ich habe mich seinerzeit nicht gescheut, die Flugblätter von Haus zu Haus zu tragen. Im Jahre 1929 wurde ich in den Gemeinderat von Steinbach-Hallenberg gewählt. Im Jahre 1932 wurde ich in den preußischen Landtag gewählt, den ich bis zu seinem Ende angehörte. Außerdem gehörte ich dem Landesausschuß in Kassel an. 1933 wurde ich dann Mitglied des Reichstages. Seit [10.] April 1934 verwalte ich das Landratsamt Schmalkalden als Kreisdeputierter. Ich besitze das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP und gehöre zu den 300 ältesten politischen Leitern der Partei.«

Lebenslauf 194721 »Ich bin am 30.4.[18]97 in Steinbach-Hallenberg, Prov.[inz] Hessen-Nassau als 2. Sohn des Kaufmanns Aug.[ust] Wilh.[elm] Recknagel und seiner Ehefrau Helene, geb. Usbeck geboren, ev[an]g[e]l.[ischer] Konfession, und besuchte daselbst die Volksschule bis zur Konfirmation, danach besuchte ich die Private Handelsschule in Meiningen und war dann kaufm.[ännischer] Lehrling in der Eisengroßh[an]dl.[ung] Walther, Erfurt. Den Weltkrieg machte ich von 1914 – 18 als Infanterist zuletzt U[ntero]ff[i]z.[ier] mit und erwarb mir das Eis.[erne] Kreuz I. Kl.[asse] Nach Kriegsende arbeitete ich im väterlichen Geschäft und wurde im Jahre 1921 Mitinhaber. Im Jahre 1921 verheiratete ich mich mit Lydia, geb. Häfner. Aus der Ehe entsprossen 4 Kinder, der Älteste ist im Febr.[uar] 1945 in Ostpreußen gefallen. Im Jahre 1925 trat ich aus dem väterlichen Geschäft aus und machte mich selbständig und betrieb Fabrikation u.[nd] Export von Eisen- und Stahlwaren, Sportartikeln. In demselben Jahre trat ich der NSDAP bei und wurde im Jahre 1928 zum Bezirksleiter von der Parteiorganisation gewählt.22 Im Jahre 1932 wurde ich Mitglied des Preuß. Landtags und im Nov. [19]33 Mitglied des Reichstages. Im Frühjahr 1933 wurde ich durch die Wahl I. Kreisdeputierter des Kreises Herrschaft Schmalkalden. Als im Jahre 1934 der damalige Landrat versetzt wurde, mußte ich als Kreisdeputierter die Geschäfte des Landrates führen. Auf Vorschlag des Kreisausschusses wurde ich dann Anfang [19]37 als Landrat berufen. Mein Geschäft mußte ich verkaufen. Im Jahr 1933 wurde ich zum Kreisleiter der NSDAP berufen und führte die Geschäfte ehrenamtlich bis 1942. Im Jahre 1942 wurde ich abgesetzt, weil ich es ablehnte, aus der Kirche auszutreten. Ich habe dann kein politisches Amt mehr bekleidet.«

21 Von Otto Recknagel, datiert 12. Februar 1947. Überliefert als handschriftliches Originalschreiben in der Spruchkammerakte (wie Anm. 18). 22 Hier irrte Recknagel, denn die Einsetzung als Bezirksleiter im Parteikreis Schmalkalden erfolgte bereits 1927, wie im Lebenslauf von 1934 angegeben. Siehe auch Dienstrangliste der Politischen Leiter des Gaues Thüringen der NSADAP. Weimar 1938, S. 34 – 35. Dort ist als Berufungsdatum der 1. März 1927 angegeben.

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Die Anfänge seiner politischen Betätigung gehen nach eigener Bekundung auf den Jungdeutschen Orden zurück, den nach dem Weltkrieg 1920 in Kassel gegründeten nationalen Kampfbund für den Neuaufbau Deutschlands, der antiparlamentarische und antikapitalistische Ziele vertrat, in dem es aber auch reaktionäre bis antisemitische Tendenzen gab. In Steinbach-Hallenberg, wo seit den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung 1919 die politischen Gewichtungen im linken Parteienspektrum lagen, so dass in den frühen 1920er Jahren auch in der Gemeindevertretung die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen politischen Parteien (USPD, SPD, KPD) dominierten, bildete der Jungdeutsche Orden ein politisches Sammelbecken für die Personen – darunter vor allem die noch jüngeren Weltkriegsteilnehmer – , die deren linksgerichtete Politik ablehnten. Mitglieder in bürgerlichen Parteiorganisationen gab es in nennenswertem Umfang nicht. Bei den Wahlen zu den Gemeindevertretungen standen der Liste mit linker Parteizugehörigkeit lediglich bürgerliche Listen ohne erkennbare Parteienbindung gegenüber. Bei den Kommunalwahlen nach 1918 lag die Stimmenmehrheit immer bei den Linksparteien (bis 1929). Eine Feststellung von 1923 besagt: »Die Zusammensetzung der Gemeindevertretung in unserem Ort sowie die Zusammensetzung des Kreistages [in Schmalkalden] ist derart, daß eine sozialistische Majorität vorhanden ist.«23 Der Jungdeutsche Orden organisierte sich im Frühjahr 1922 in SteinbachHallenberg nach einem Werbeabend des Großmeisters Walter Peter aus Schmalkalden in einer lokalen Gefolgschaft, die zunächst von dem jungen kaufmännischen Angestellten Walter Hornig angeführt wurde. Die offenbar schnell wachsende Gruppierung war mindestens seit 1923 eine Bruderschaft mit einem Großmeister an der Spitze, als der im Herbst 1923 der Kaufmann Hugo Holland-Merten genannt wird, der bei den Gemeindevertreterwahlen 1924 eine bürgerliche Liste anführte und auch gewählt wurde. Bei den politischen Vorgängen im Herbst 1923 – in der sogenannten »Deutschen Oktoberrevolution« – stand die Bruderschaft des Jungdeutschen Ordens, für die ca. 200 Mitglieder angenommen werden, mitten in den Auseinandersetzungen mit den organisierten KPD-Vertretern, die in Steinbach-Hallenberg proletarische Hundertschaften für den bewaffneten Kampf zur Eroberung der politischen Macht aufstellen wollten, allerdings kläglich scheiterten.24 Eine dominierende Rolle in der Abwehr dieser Bestrebungen spielte hierbei der seit August 1921 in Steinbach-Hallenberg niedergelassenen Drogist Karl Schmückle, ein ehemaliger 23 Eingabe wirtschaftlicher Verbände und Organisationen in Steinbach-Hallenberg an den General von Seeckt vom 17. November 1923. Geheimes Staatsarchiv PK Berlin, I. HA Rep. 77 Nr. 4860, Bl. 30. 24 Vgl. Volker Wahl: Das Scheitern der »Deutschen Oktoberrevolution« im Herbst 1923 zwischen Steinbach-Hallenberg und Zella-Mehlis, in: Jahrbuch 2013 des HennebergischFränkischen Geschichtsvereins 2013/28, S. 225 – 254.

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Weltkriegsteilnehmer und Reichswehroffizier, der nach 1932/33 eine steile Karriere im Thüringer NS-Arbeitsdienst antrat.25 Die Ereignisse vom Herbst 1923 bildeten zweifellos einen Schub für die politische Radikalisierung in dem Thüringer Waldort; der Jungdeutsche Orden ist aber keinesfalls als Vorläufer der NSDAP in Steinbach-Hallenberg zu betrachten. Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass er eine erste Auffangbasis für nationale und völkische Gesinnungsfreunde war, bevor diese später ihre parteipolitische Verwurzelung in der Hitler-Bewegung fanden. Der Bruch vollzog sich im Laufe des Jahres 1924 und wurde durch die Wahlkämpfe für die Reichstagswahlen befördert, bei denen der Jungdeutsche Orden als nationaler Verband nicht wie die anderen politischen Parteien agieren konnte. Da aber ein kleiner Gründerkreis aus der lokalen Bruderschaft, der schon am 1. und 2. September 1923 auf dem »Deutschen Tag« in Nürnberg Adolf Hitler gehört hatte, eindeutig parteipolitisch wirken wollte, wandten sich diese Mitglieder – darunter Otto Recknagel – vom Jungdeutschen Orden ab und traten im April 1924 zunächst als Ortsgruppe des völkisch-sozialen Blocks (Vereinigte Nationalsozialistische und Deutschvölkische Freiheitspartei) in Erscheinung, bevor sie – angeregt durch den von der »Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands« veranstalteten »Deutschen Tag« vom 15. bis 17. August 1924 in Weimar – am 29. August 1924 eine Ortsgruppe der von Artur Dinter geführten Nationalsozialistischen Freiheitspartei in Thüringen gründeten. Einer dieser ehemaligen »Jungdo«-Mitglieder, Theodor Häfner, bekannte später, dass er 1922/23 mit Walter Hornig beim Jungdeutschen Orden war, »von dem wir damals das Heil Deutschlands erwarteten. Nachdem wir 1923 Adolf Hitler in Nürnberg [»Deutscher Tag« am 1. und 2. September 1923] gehört, auch im Jungdo hellhöriger geworden, gingen wir zur Freiheitspartei und machten dann im Frühjahr 1925 […] eine Ortsgruppe der NSDAP auf.«26

Nach Hitlers Entlassung aus der Festungshaft und der Neugründung der NSDAP am 26. Februar 1925 schloss sich die junge völkische Ortsgruppe in SteinbachHallenberg im März 1925 der NSDAP an. Bereits am 14. Februar 1925 hatte sie gegenüber der Kreisleitung der Nationalsozialistischen Freiheitspartei in Eisenach erklärt, »daß nur ein sofortiger Anschluß an Hitler für uns in Frage käme«.27 Otto Recknagel nahm zusammen mit Wilhelm Menz und Karl Usbeck 25 Vgl. Volker Wahl: »…ohne Amt und Rang«. Zur Biografie des Generalarbeitsführers im Arbeitsgau Thüringen, Thüringischen Staatsrats und Reichstagsabgeordneten Karl Schmückle (1895 – 1970), in: Jens Beger (Hg): Hessen und Thüringen. Festschrift für Jochen Lengemann zum 75. Geburtstag. Jena 2013, S. 397 – 424. 26 Aussage von Theodor Häfner in einem Schreiben an Rudolf Heß vom 30. Oktober 1934, in: Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Parteikorrespondenz Theodor Häfner. 27 Rede Recknagel am 10-jährigen Gründungstage [der NSDAP] in Steinbach-Hallenberg [am

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am 1. März 1925 an der Vertretertagung in Weimar teil, auf der der Gau Thüringen der NSDAP mit Gauleiter Artur Dinter und Gaugeschäftsführer Fritz Sauckel gegründet wurde und die Vertreter aus Steinbach-Hallenberg ihren sofortigen Anschluss erklärten. Bereits am 22. März 1925 waren die Gründungsmitglieder der neuen Ortsgruppe der NSDAP in Weimar zugegen, als Adolf Hitler auf einer Massenversammlung der NSDAP zum ersten Mal in Thüringen sprach. Sie wurden am 6. April 1925 offiziell in diese Partei (mit Mitgliedsnummern zwischen 1500 und 1517 in der Zentralkartei der NSDAP) aufgenommen und galten damit als »alte Kämpfer«. Die NSDAP-Gauleitung bestätigte Otto Recknagel am 26. Juni 1941, dass er »seit dem 27. Februar 1925 aktiv in der NSDAP« tätig war (NSDAP-Mitglied Nr. 1517 vom 6. April 1925).28 Otto Recknagel gehörte zwar zu den treibenden Kräften für die Gründung einer Ortsgruppe der NSDAP, nahm darin aber zunächst nur die Funktion des Kassierers und Schriftführers wahr. Der erste Ortsgruppenleiter war der Handlungsgehilfe Karl Usbeck (NSDAP-Mitglied Nr. 1516 vom 6. April 1925). Dagegen engagierte sich Otto Recknagel, der auf Grund der Weltkriegserfahrung ein draufgängerischer militärischer Typ war, zunächst in der paramilitärischen Sturmabteilung (SA). Bereits am 16. Juni 1925 erfolgte die Gründung eines SASturms in Steinbach-Hallenberg, der ihn zum Sturmführer bestimmte (bis zum Austritt 1928). Diese Formation trat am 28. Juni 1925 mit ihrer neuen Sturmfahne zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. Wenig später entstand ein eigener Spielmannszug und schließlich im Frühjahr 1928 aus dem Posaunenchor im benachbarten Unterschönau die erste SA-Kapelle in Thüringen.29 In Sauckels »Kampf und Sieg in Thüringen« von 1934 ist zu lesen: »Eine der ältesten Hochburgen Thüringens ist das Städtchen Steinbach-Hallenberg. Nach der Revolution [1918] hatten sich die Linksradikalen hier einen starken Stützpunkt geschaffen. Aber der gesunde Kern der dortigen Bevölkerung (von Beruf meistens Werkzeugschlosser und Nagelschmiede) bekannte sich gar bald zum Führer. Der unermüdliche Kreisleiter Recknagel, im Weltkrieg mit dem E.K. I ausgezeichnet, und seine Getreuen haben gar bald das ganze dortige preußische Gebiet für den Nationalsozialismus erobert. Vorbildlich war der Opfermut gerade dieser Kämpfer aus einem der am schwersten betroffenen Notgebiete des Thüringer Waldes. Der Führer selbst hat den Kampf dieser Braven schon am 4. Februar 1927 in einem Schreiben an

6. April 1935], Abschrift in der Akte Otto Recknagel, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand NS-Archiv des MfS, VgM 10128 A 1, Bl. 77. 28 Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 29 Vgl. Mit Pauken und Trompeten ins Dritte Reich. In: Beobachter. Parteiamtliches Nachrichtenblatt der Kreise Schmalkalden – Suhl – Schleusingen und des Stadtkreises ZellaMehlis, 1935/82 (8. Jahrgang, Sonderbeilage 6./7. April 1935). Nach den Erinnerungen von Walter Hornig schlossen sich später auch die Mitglieder im Posaunenchor der altlutherischen Gemeinde in Steinbach-Hallenberg der SA-Kapelle an.

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den damaligen Ortsgruppen- und SA-Führer Recknagel30 anerkannt. Hier entstand auch die erste SA-Kapelle im Gau Thüringen. Aus eigenen Mitteln haben diese Kämpfer sich ihre Instrumente aus Liebe zur Sache angeschafft.«31

Gezeigt wird ein Foto von dieser »Ersten SA-Kapelle« 1929 beim Einmarsch in Steinbach-Hallenberg nach der Rückkehr vom 2. Reichsparteitag in Nürnberg, und auch das Dankschreiben Hitlers vom 4. Februar 1927 nach seinen Auftritten im Thüringer Landtagswahlkampf im Januar 1927 wird abgebildet: »Der Ortsgruppe Steinbach-Hallenberg und insbesondere ihrer S.A. spreche ich hiermit im Namen der Bewegung Dank und Anerkennung für die unermüdliche Unterstützung des Wahlkampfes in Thüringen unter Opferung von Nachtruhe und Geldmitteln aus.«32 Der Tag der offiziellen Aufnahme der ersten Mitglieder aus Steinbach-Hallenberg in die NSDAP wurde später als Gründung der NSDAP-Ortsgruppe gefeiert. Zum 10jährigen Gründungstag am 6. und 7. April 1935 wurde dieses Jubiläum unter Anwesenheit von Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel sowie des Generalarbeitsführers und thüringischen Staatsrats Karl Schmückle, der 1924 in Steinbach-Hallenberg die erste Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Freiheitspartei mit begründet hatte33, begangen. In der Sonderbeilage des parteiamtlichen Nachrichtenblattes »Beobachter« hatte Otto Recknagel im Gruß des Kreisleiters geschrieben: »Die Ortsgruppe Steinbach-Hallenberg der NSDAP war in den Anfangstagen und in den Kampfjahren der Bewegung in der Ausbreitung der Idee unseres Führers immer führend und richtungsgebend in weitem Umkreise. Zum 10-jährigen Jubiläum geht mein Wunsch dahin, daß auch weiterhin, nachdem unser Banner über Deutschland

30 Otto Recknagel war zu keiner Zeit Ortsgruppenleiter. Auf den Handlungsgehilfen Karl Usbeck (NSDAP-Nr. 1516, bis August 1926) folgte der Schlosser Josef Capraro (NSDAPNr. 66322, bis April 1927), dann der Schlosser Karl König (NSDAP-Nr. 61984, ab 19. April 1927 bis 30. Januar 1933). Vgl. Werden und Wachsen der Ortsgr.[uppe] Steinbach-Hallenberg, in: Beobachter (wie Anm. 29). 31 Fritz Sauckel: Kampf und Sieg in Thüringen. Im Geiste des Führers und in treuer Kameradschaft gewidmet den thüringischen Vorkämpfern des nationalsozialistischen Dritten Reiches. Zum Gauparteitag 1934 herausgegeben vom Gauleiter der NSDAP. Weimar 1934, S. 44. 32 Ebd., S. 124 – 125. 33 Das wird in den 1984 verfassten Erinnerungen von Walter Hornig »Aus meinem Leben« überliefert. Schmückle, der im Juni 1925 Steinbach-Hallenberg verließ, um in den thüringischen Polizeidienst einzutreten, ging jedoch im Frühjahr 1925 nicht mit in die NSDAP, um seine Polizeikarriere nicht zu gefährden. Er trat erst fünf Jahre später am 1. Februar 1930 in Jena der NSDAP bei, nachdem Wilhelm Frick als erstes NSDAP-Mitglied Innenminister im Land Thüringen und damit Dienstvorgesetzter geworden war. Vgl. Wahl: »…ohne Amt und Rang« (wie Anm. 25), S. 398.

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weht, der Geist des Angriffs und des Opferns aus jener Zeit die Ortsgruppe beherrschen möge, zum Wohle unserer engeren Heimat und unseres gesamten Vaterlandes.«34

Vom März 1927 bis zur Abberufung 1942 war Otto Recknagel innerhalb des NSDAP-Gaus Thüringen Bezirksleiter im NSDAP-Bezirk Schmalkalden bzw. seit 1929 des NSDAP-Bezirks Schmalkalden-Suhl-Schleusingen, wobei sich die Geschäftsstelle bis nach 1933 in seiner Privatwohnung in Steinbach-Hallenberg, Hauptstraße 75 befand, die auch Sitz seiner Firma war. Nach 1933 war er Kreisleiter des nunmehrigen Parteikreises Schmalkalden-Suhl-Schleusingen, was in der Rangordnung der politischen Führer der NSDAP dazu führte, dass er zunächst zum Oberbereichsleiter und dann mit Wirkung vom 20. April 1942 vom Führer zum Hauptbereichsleiter der NSDAP befördert wurde. Das war aber auch das Jahr, in dem er als Kreisleiter infolge seiner Kirchenzugehörigkeit wegen ernsthafter Differenzen mit dem Gauleiter Sauckel zurücktrat und sich nicht mehr parteipolitisch in der NSDAP betätigte. Er blieb aber bis zum Ende des Dritten Reiches der am längsten in diesem Parteiamt wirkende politische Leiter in Thüringen. Für die propagandistische Arbeit in den preußischen Landkreisen Schmalkalden und Schleusingen konnte die NSDAP unter Recknagels Führung seit 1928 eine auf sie zugeschnittene eigene Zeitung nutzen, nachdem die schon länger bestehenden linken Tageszeitungen, vor allem die von der SPD in Schmalkalden unter dem Redakteur Ludwig Pappenheim herausgegebene »Volksstimme«, ihnen publizistisch überlegen waren. Begonnen hatte es mit der aus privater Initiative des in Steinbach-Hallenberg zugezogenen Kaufmanns Heinrich Schiller (seit Herbst 1927 Mitglied der NSDAP) verlegten »Thüringer Wochenschau. Christlich politische Zeitung für den Kreis Herrschaft Schmalkalden und die angrenzenden Gebiete«, die ab Jahresbeginn 1928 in einer eigens dafür gegründeten Druckerei in Steinbach-Hallenberg hergestellt wurde und als Wochenausgabe bis 11. Juli 1928 erschien. Im Anschluss daran gründete er die unter seiner Schriftleitung herausgegebenen Lokalzeitungen »Kreis-Beobachter« für den Kreis Schmalkalden und »Suhler Beobachter« für den Kreis Schleusingen, die später von Suhl aus für die NSDAP propagandistisch tätig wurden. In wirtschaftlicher Bedrängnis musste Schiller allerdings 1931 dieses Unternehmen in Suhl aufgeben, in das nun eine von Otto Recknagel und weiteren NSDAP-Mitgliedern am 24. August 1931 geschaffene »Verlagsdruckerei Kreis-Beobachter und Suhler Beobachter e.G.m.b.H. Steinbach-Hallenberg« eintrat und den Zeitungsverlag beträchtlich ausbaute.35 Die beiden Lokalblätter erschienen nun34 Beobachter (wie Anm. 29). 35 Heinrich Schiller ist nach den politischen Veränderungen von 1933 in verschiedenen Beschwerdeschriften dagegen vorgegangen, was ihm ein Strafverfahren nach dem HeimtückeGesetz vom 21. März 1933 vor dem Thüringischen Sondergericht in Weimar einbrachte,

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mehr als »Kampfzeitung des Kreises« mit der Unterzeile »Die nationalsozialistische Tageszeitung«, der für den Landkreis Schmalkalden zuständige »KreisBeobachter« unter der Schriftleitung von Karl Volkmar in Steinbach-Hallenberg. Nach 1933 wurden beide Zeitungen zum »Beobachter. Parteiamtliches Nachrichtenblatt der Kreise Schmalkalden – Suhl – Schleusingen und des Stadtkreises Zella-Mehlis. Amtliches Blatt der Kreise Schmalkalden – Schleusingen« zusammengelegt, wobei aber weiterhin zwei Ausgaben erschienen, für die es Geschäftsstellen in Schmalkalden und Suhl gab. Seit 1929 war Otto Recknagel für die NSDAP als Abgeordneter in verschiedenen parlamentarischen Vertretungen in der Gemeinde, im Land und im Reich tätig. Nachdem bei den Gemeindewahlen in Steinbach-Hallenberg36 seit 1919 die SPD den Gemeinderat dominiert hatte und seit 1925 auch den Bürgermeister stellte, änderte sich das mit den örtlichen Wahlen 1929 und 1933, bei denen die NSDAP die höchste Stimmenzahl erreichte und damit auch die meisten Gemeinderatsmitglieder aufwies. Otto Recknagel wurde am 17. November 1929 erstmals in den Gemeinderat gewählt. Auch bei der Wahl am 12. März 1933 wurde er erneut in den Gemeinderat entsandt. In der Gemeinderatssitzung am 30. März 1933 setzten die Vertreter der NSDAP die Verleihung des Ehrenbürgerrechts an den Führer der NSDAP und Reichskanzler Adolf Hitler und an den Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel durch.37 Im Schmalkalder Kreistag war die NSDAP bereits seit 16. März 1926 als Fraktion vertreten.38 Nachdem damals schon ein Mitglied der NSDAP, Wilhelm Hornig, aus Steinbach-Hallenberg als Kreisdeputierter in den Kreisausschuss gewählt worden war, nahm nach 1933 Otto Recknagel diese Stellung als ständiger Vertreter des Landrates ein. Bei der Wahl am 24. April 1932 wurde er in den Preußischen Landtag (in Berlin) gewählt, dem er nach der Wiederwahl am 5. März 1933 bis zu dessen Auflösung im Oktober 1933 angehörte. Seit 12. März 1933 war er für den Wahlbezirk Schmalkalden Mitglied des Kommunallandtags in Kassel und des Provinziallandtags Hessen-Nassau (in Kassel).39 Schließlich wurde er im November 1933

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nachdem Reichsstatthalter und Gauleiter Sauckel am 23. Dezember 1933 Strafantrag wegen Beleidigung gestellt hatte. Das Sondergericht verurteilte ihn am 2. März 1934 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand Sondergericht Weimar Nr. 2. Vgl. Beiträge zur Geschichte von Steinbach-Hallenberg. Beschreibung eines Jahrhunderts von 1900 bis 2000. Steinbach-Hallenberg 2003. Die Ehrenbürgerbriefe sind abgebildet in: Beobachter (wie Anm. 29). Bemerkenswert ist dabei, dass Steinbach-Hallenberg zu dieser Zeit noch kein Stadtrecht besaß. Die Kreisstadt Schmalkalden verlieh hingegen am 20. April 1933 Hitler das Ehrenbürgerrecht; Sauckel folgte dort erst am 22. August 1936. Aus Steinbach-Hallenberg waren es die Abgeordneten Josef Capraro, Wilhelm Hornig und Oskar Holland-Letz. Ebd. Vgl. Pelda: Die Abgeordneten (wie Anm. 4), S. 165.

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im Wahlkreis 12 (Thüringen) in den Reichstag (in Berlin) gewählt, dem er nach erneuten Reichstagswahlen 1936 und 1938 bis zum Ende angehörte.40 Obwohl Otto Recknagel seit 1934 die Geschäfte des Landrates für den Kreis Herrschaft Schmalkalden wahrnahm, behielt er weiter seine Firma und blieb auch in Steinbach-Hallenberg wohnen. Die Ablösung des bisherigen Landrates Ludwig Haman, die von der Ortsgruppe Schmalkalden der NSDAP bereits am 25. April 1933 gegenüber dem Preußischen Innenministerium gefordert worden war, erfolgte ein Jahr später, nachdem der Gauleiter und Reichsstatthalter in Thüringen, Fritz Sauckel, am 2. März 1934 beim Oberpräsidenten in Kassel »auf Bitten aller politischen Leiter dieses Kreises, einschließlich Kreisleiters, die sofortige Beurlaubung des Landrates Ludwig Hamann und seine endgültige Versetzung von Schmalkalden« gefordert hatte.41 Wie der Regierungspräsident in Kassel dem Preußischen Innenministerium in Berlin mitteilte, hatte der Kreisleiter Recknagel erklärt, dass die NSDAP mit dem erst im Herbst 1932 berufenen Landrat Hamann – dieser war Anfang 1933 in die SA eingetreten und hatte sich Ende April 1933 zur Aufnahme in die NSDAP gemeldet – politisch nicht mehr zusammenarbeiten könne. Von Kassel aus – der Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau und der Regierungspräsident waren sich darin einig – wurde gemutmaßt, »daß man den Kreis für thüringische Machtbestrebungen freimachen will und daß Hamann, der auf das loyalste die preußischen und kurhessischen Belange vertreten hat, darin im Wege stand. Als Nachfolger wird im Kreise der Kreisleiter Recknagel genannt, der allerdings nach Ansicht des Hamann bei der letzten, entscheidenden Aktion nicht der Führende, sondern der Geschobene gewesen ist.«42 Tatsache ist auch, dass Recknagel bereits am 27. Mai 1933 auf die Beschwerde der Ortsgruppe Schmalkalden über den Landrat in seiner Stellungnahme der Gauleitung in Weimar mitgeteilt hatte, dass die bisherige Zusammenarbeit mit diesem Verwaltungsbeamten immer korrekt war. Allerdings äußerte er auch: »Vom politischen Gesichtspunkt aus gesehen, hat natürlich die Ortsgruppe recht, wenn sie schreibt, daß an die Spitze des Kreises ein alter Nationalsozialist gehört, nachdem 60 % nationalsoz.[ialistische] Stimmen abgegeben worden sind.«43 Am 9. Juni 1934 informierte das Preußische Ministerium des Innern die 40 Vgl. Lilla: Statisten in Uniform (wie Anm. 4), S. 494. 41 Geheimes Staatsarchiv PK Berlin, I. HA Rep. 77 Nr. 4860, Bl. 243. In dem bereits erwähnten Zeitungsartikel vom 17. Oktober 1946 (wie Anm. 2) werden die Personen genannt, die im Februar 1934 bei der Gauleitung gegen den Landrat Hamann protestiert und die Einsetzung von Otto Recknagel als Landrat gefordert haben. 42 Regierungspräsident Konrad von Monbart an das Preußische Ministerium des Innern, Kassel 6. März 1934. Ebd., Bl. 237 – 238. 43 Recknagel an Gauleitung der NSDAP in Weimar, Steinbach-Hallenberg 27. Mai 1933. Ebd., Bl. 253.

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Regierung in Kassel, dass der Schmalkalder Landrat Ludwig Hamann in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden sei.44 Nach dessen Abberufung übernahm Otto Recknagel in seiner Funktion als Kreisdeputierter ehrenamtlich die Geschäfte des bisherigen Landrates in Schmalkalden. In der Jahreschronik 1934 heißt es am 10. April 1934: »Landrat Haman wird nach Marienwerder versetzt; der erste Kreisdeputierte Kreisleiter Pg. Otto Recknagel, Steinbach-Hallenberg, übernimmt die Leitung der Kreisverwaltung.«45 Am 12. Dezember 1936 schrieb Wilhelm Frick, der Reichs- und Preußische Minister des Innern, an den Ministerpräsidenten Hermann Göring, dass das Landratsamt in Schmalkalden seit 1934 unbesetzt sei und nur vertretungsweise verwaltet werde. »Dieser nun schon über 2 Jahre dauernde Zustand kann in dienstlichem Interesse nicht länger aufrecht erhalten werden. Es ist unbedingt erforderlich, daß das Landratsamt wieder endgültig besetzt wird. Der zuständige Gauleiter, Reichsstatthalter Sauckel tritt dafür ein, daß dieses Landratsamt mit dem Kreisleiter Recknagel besetzt wird, der alter Kämpfer ist und sich besonders in der Kampfzeit um den Kreis außerordentliche Verdienste erworben hat. Nachdem Recknagel die Landratsgeschäfte über 2 Jahre geführt hat, wird nicht bestritten werden können, daß er sich ein gewisses Maß von Verwaltungspraxis angeeignet hat, wobei ihm seine Kenntnis des Kreises und seine Stellung als Kreisleiter von besonderem Nutzen gewesen ist. […] Aus diesen Erwägungen und im Hinblick darauf, daß ein anderer Landratsamtsverwalter sich mangels des besonderen Vertrauens des Gauleiters dort kaum behaupten könnte, bitte ich, zuzustimmen, daß Recknagel mit der kommissarischen Verwaltung des Landratsamtes in Schmalkalden betraut wird.«46

Am 6. Februar 1937 wurde daraufhin der bisher amtierende Erste Kreisdeputierte Otto Recknagel zum kommissarischen Landrat im preußischen Landesdienst berufen.47 Nachdem der Kreisausschuss am 11. März 1937 dessen endgültige Ernennung zum Landrat vorgeschlagen hatte, wurde er am 7. August 1937 als Beamter auf Lebenszeit zum Landrat im Landkreis Herrschaft Schmalkalden ernannt.48 Der Regierungspräsident in Kassel wurde angewiesen, den berufenen Landrat »nunmehr zur schleunigen Aufgabe seines Geschäftes zu 44 Ebd., Bl. 254. 45 Ereignisse aus Stadt und Kreis Schmalkalden im Jahre 1934, in: Heimat-Kalender für den Kreis Herrschaft Schmalkalden auf das Jahr 1935, S. 59. 46 Geheimes Staatsarchiv PK Berlin, I. HA Rep. 77 Nr. 4860, Bl. 288. 47 Ebd., Bl. 291. 48 Unter den Landräten in Thüringen (Land Thüringen und preußischer Regierungsbezirk Erfurt, einschließlich Schmalkalden, vor 1944 Regierungsbezirk Kassel) gehörte er von April 1934 bis April 1945 zu den am längsten in diesem Verwaltungsamt tätigen Personen und war der Landrat mit dem frühesten Parteieintritt in die NSDAP. Lediglich der Landrat des preußischen Landkreises Schleusingen (Verwaltungssitz Suhl), Walter Sethe (NSDAP seit 1. Mai 1933), war von November 1933 bis April 1945 im Amt und damit der dienstälteste Landrat in der NS-Zeit in Thüringen. Bundesarchiv Berlin, R 1501/3819 und 3821.

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veranlassen«49. Am 24. Dezember 1937 berichtete dieser nach Berlin, dass der Landrat Recknagel, der zur Zeit noch in Steinbach-Hallenberg wohnen würde, nach der in Aussicht stehenden Aufgabe seines Geschäftes nach Schmalkalden umziehen werde.50 Das erfolgte dann 1938. Seine Firma für Eisen-, Stahl- und Sportwaren verkaufte Otto Recknagel am 28. Februar 1938 an Karl Rost in Viernau, der sie an gleicher Stelle in Steinbach-Hallenberg weiter betrieb.51 Da die bisherige Dienstwohnung des Landrates im »Hessenhof« in Schmalkalden mittlerweile für Verwaltungsräume genutzt wurde, bezog Otto Recknagel mit seiner Familie eine Villa in der dortigen Waldhausstraße. Die zum 1. Juli 1944 durch Führererlass erfolgte Herausnahme des Landkreises aus der Provinz Hessen-Nassau und seine Eingliederung in den Regierungsbezirk Erfurt, für den der Reichsstatthalter in Thüringen die Aufgaben des Oberpräsidenten übertragen bekommen hatte, brachte ihn erneut in ein dienstliches Abhängigkeitsverhältnis zu Sauckel, das aber nur noch bis Anfang April 1945 währte, als mit der Besetzung durch alliierte Streitkräfte für Thüringen der Krieg und das Dritte Reich zu Ende waren. In der Öffentlichkeit war nicht unbemerkt geblieben, dass Otto Recknagel und Fritz Sauckel in den zwei Jahrzehnten ihrer politischen Gesinnungsgenossenschaft auch persönlich freundschaftliche Bindungen eingegangen waren: »Beide standen sogar in familiären Beziehungen«, überliefert der Zeitungsartikel »Otto Recknagel – ein Charakterbild« vom 17. Oktober 1946.52 Richtig ist, dass »Herr Otto Recknagel aus Steinbach-Hallenberg« am 15. Dezember 1929 in der Kirche zu Oberweimar Taufpate bei dem vierten Kind von Fritz und Elisabeth Sauckel gewesen war.53 Dagegen ist Fritz Sauckel nicht als Taufpate bei einem der Kinder von Otto und Lydia Recknagel in Steinbach-Hallenberg ge49 Geheimes Staatsarchiv PK Berlin, I. HA Rep. 77 Nr. 4860, Bl. 301. 50 Bundesarchiv Berlin, R 1501/133699. 51 Sie existierte als industrieller Kleinbetrieb für die Herstellung von Nägeln unter der Firmenbezeichnung »Otto Recknagel o. H. Steinbach-Hallenberg« mit den Inhabern Richard Fuchs und Karl Rost auch nach 1945 weiter. Freundliche Auskunft von Dr. Klaus HollandLetz, Schmalkalden. 52 Vgl. Thüringer Volk (wie Anm. 2). Auch in der Klageschrift gegen ihn vom 22. Mai 1948 ist »als erwähnenswert« bemerkt worden, »daß zwischen dem Betr.[offenen] und dem durch das Nürnberger Urteil hingerichteten ehemaligen Gauleiter Sauckel familiäre Beziehungen bestanden.« In der Verhandlung des Spruchkammerverfahrens im Internierungslager Ludwigsburg am 7. Juli 1948 sagte Recknagel aus: »Ich hatte mit Sauckel eine persönliche Freundschaft. Er hat mir gefallen schon wegen seines Familienlebens. Das war bis etwa 1935. Ab 1936 hatte ich in religiöser Hinsicht Differenzen mit ihm. Die Verbindung ist dann von Jahr zu Jahr loser geworden.« Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 53 Es handelt sich um den am 18. Juni 1929 in Weimar geborenen dritten Sohn Heinz-Dietrich Otto Sauckel. Geburtenregister 1929 des Standesamts Weimar und Taufbuch der ev. Kirche zu Oberweimar, Band 2.

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beten worden.54 Der Gauleiter trat 1936 aus der evangelischen Kirche aus, bei seinen danach geborenen Kindern ist im Geburtsregister unter der Religionszugehörigkeit der Eltern seitdem »gottgläubig« eingetragen, die religiöse Identifikationsformel für Funktionäre und Mitglieder der NSDAP, die nun nicht mehr konfessionell-kirchlich gebunden sein und einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören wollten. Das aber stand für Otto Recknagel aus der Tradition seines Elternhauses in Steinbach-Hallenberg heraus, in dem der Vater dem Kirchenvorstand angehört hatte, und aufgrund einer in der Bevölkerung seines Heimatortes verwurzelten natürlichen Frömmigkeit, die er nicht verleugnen wollte, zu keiner Zeit infrage. 1941 verstärkte sich der Druck auf ihn, die Amtskirche zu verlassen. Zunächst in einer persönlichen Unterredung und dann auf einer Kreisleitertagung in Weimar, in deren Verlauf er von Sauckel öffentlich aufgefordert wurde, »nunmehr endlich aus der Kirche auszutreten, da es nicht mehr angängig sei, daß der älteste Kreisleiter als einziger noch derselben angehöre, und dies zum mindesten ein Schönheitsfehler innerhalb des Kreisleiterkorps sei.«55 In seinem persönlichen Brief vom 13. Dezember 1941 erinnerte Recknagel den Gauleiter daran, dass dieser seine ablehnende Einstellung kenne, »einen Schritt zu tun, von dem ich innerlich nicht überzeugt bin. Ich glaubte bisher noch, daß für einen Kreisleiter auch das Wort des Führers Geltung hätte, in Deutschland könne jeder nach seiner Fasson selig werden. Die letzte Kreisleitertagung hat mir gezeigt, daß dies nicht der Fall ist. Da auch die dort von Ihnen vorgebrachten Gründe meine bisherige Einstellung zu dieser Frage nicht erschüttern konnten, andererseits es aber auch klar ist, daß auf dieser Basis keine Kreisleiterarbeit mehr möglich ist, stelle ich hiermit mein Amt zur Verfügung und bitte ich, mich abzuberufen.«56

Da ihn die Tagung »innerlich ziemlich erschüttert« hatte, bat er Sauckel, ihn bis zur Erledigung seines Antrages von den Kreisleitergeschäften zu beurlauben. Offenbar wurde Otto Recknagel als Kreisleiter seinerzeit nicht beurlaubt. In einer einige Tage später stattgefundenen Aussprache wiederholte er seinen 54 In Frage gekommen wäre der am 29. Juli 1930 geborene zweite Sohn Otto Siegfried Recknagel, dessen Taufpate ein Verwandter der Familie aus Hamburg wurde. Kirchenbüro der ev. Kirche Steinbach-Hallenberg, Taufbuch. Es ist festzuhalten, dass die Eltern für die Patenschaft nicht Fritz Sauckel wählten, bei dessen Sohn zuvor Otto Recknagel Taufpate geworden war. Sauckel nahm allerdings als Gast an dem Taufakt am 7. September 1930 in der Kirche zu Steinbach-Hallenberg teil, wie in der Verhandlung des Spruchkammerverfahrens im Internierungslager Ludwigsburg am 7. Juli 1948 der Pfarrer Adam Kirchner (von 1923 bis 1933 evangelischer Pfarrer in Steinbach-Hallenberg) aussagte: »Fritz Sauckel ist mir bekannt. Er war bei einer Taufe eines Kindes des Betroffenen in der Kirche anwesend.« Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 55 Otto Recknagel an Gauleiter Sauckel, Schmalkalden 13. Dezember 1941. Als beglaubigte Abschrift in der Spruchkammerakte. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 56 Ebd.

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Abberufungsantrag gegenüber dem Gauleiter. Sauckel wollte die Angelegenheit spätestens bis 1. Februar 1942 entscheiden. Erfolgt ist zunächst allerdings nichts. Inzwischen wurde er sogar aus Anlass von Hitlers Geburtstag zum Hauptbereichsleiter der NSDAP befördert. Doch auch das konnte ihn nicht umstimmen. Otto Recknagel hatte seit Jahresbeginn 1942 nicht wieder an einer Kreisleitertagung teilgenommen und an seiner Stelle den ebenfalls aus Steinbach-Hallenberg stammenden Kreisorganisationsleiter Rudolf Holland, der sein ständiger Vertreter als Kreisleiter war, zur Gauleitung geschickt. Aus einem Schreiben an den Gauleiter vom 9. August 1942 geht hervor, dass er wegen des demonstrativen Nichterscheinens in Weimar nunmehr in einem Telefongespräch am 8. August 1942 von Sauckel für ein Vierteljahr beurlaubt wurde und in dieser Zeit sein Verhältnis zur Kirche regeln sollte.57 »Mein Standpunkt ist noch derselbe wie im Briefe v.[om] 13.12.[19]41 angegeben«, antwortete Recknagel trotzig am 9. August 1942, »und ich bitte nunmehr, der Bitte eines alten Parteigenossen zu entsprechen, und die Zwitterstellung eines beurlaubten Kreisleiters aufzuheben und mich als Kreisleiter zu entlassen.«58 Nunmehr gab Sauckel auf und beauftragte offenbar noch im August 1942 den Kreisleiter Wilhelm Mütze aus Arnstadt, das Amt des Kreisleiters in Schmalkalden kommissarisch zu übernehmen.59 Auf einer von diesem anberaumten Arbeitstagung von 57 Dazu gibt es eine bestätigende Aussage des Landrates a.D. Walter Sethe (Landrat des Landkreises Schleusingen in Suhl von 1933 bis 1945) in Oeslau (Oberfranken) vom 8. Januar 1947: »In den Jahren 1941–[19]42 beschwerte sich Recknagel oft bei mir, daß er von Sauckel fast in jeder Sitzung der Kreisleiter wegen seiner kirchlichen Einstellung angepöbelt würde. Das geschehe in einer derart unerträglichen Art und Weise, daß er keine Lust mehr habe, die Sitzungen zu besuchen. In Zukunft wolle er diese daher von einem Vertreter wahrnehmen lassen. Als er so wieder einmal einer Besprechung der Kreisleiter und Landräte fernblieb […], griff Sauckel zu den von Eingeweihten längst erwarteten Maßnahmen. Er eröffnete die Sitzung etwa eine halbe Stunde später als vorgesehen und teilte uns dann mit, daß er soeben telefonisch den Kreisleiter Recknagel aus disziplinären Gründen, er sei wiederholt den Sitzungen ferngeblieben, von seinem Amt als Kreisleiter beurlaubt habe. Nach dieser offensichtlichen Scheinbegründung folgte dann aber der Pferdefuß. Er habe ihn, so fuhr Sauckel fort, ein Vierteljahr Frist gegeben, löse er bis dahin seine Bindungen zur Kirche, dann könne er wieder eingesetzt werden, andernfalls sei die Trennung endgültig. Recknagel gab nicht nach und wurde deshalb auch nicht wieder mit der politischen Führung des Kreises beauftragt.« Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 58 Otto Recknagel an Gauleiter Sauckel, Schmalkalden 9. August 1942. Als beglaubigte Abschrift in der Spruchkammerakte. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 59 Er übte diese Funktion bis Ende Juni 1944 aus. Zu Wilhelm Mütze (NSDAP-Mitglied seit 1926 Nr. 35213) vgl. Dienstrangliste der Politischen Leiter des Gaues Thüringen der NSDAP (wie Anm. 22), S. 34 – 35. Im Zusammenhang mit der Übernahme des Kreises Schmalkalden in den Regierungsbezirk Erfurt berief der Gauleiter den bisher bei der Hitler-Jugend in Jena tätigen Oberbannführer Alfred Preißer (NSDAP-Mitglied seit 1928 Nr. 75755) zum neuen Kreisleiter der NSDAP im Parteikreis Schmalkalden-Suhl-Schleusingen, mit dem Sitz in Suhl, der bis zur amerikanischen Besetzung Suhls am 3. April 1945 im Amt war.

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Amtswaltern aus dem Parteikreis Schmalkalden-Suhl-Schleusingen am 13. September 1942 in Steinbach-Hallenberg, an der ca. 600 Personen anwesend waren, kam es zu einer scharfen öffentlichen Kontroverse, als sich Recknagel gegen die dort von Mütze gegebene Begründung für seine Absetzung als Kreisleiter wehrte. In Abstimmung mit dem Gauleiter hatte dieser den Teilnehmern mitgeteilt, Recknagels Entlassung sei wegen seiner Untätigkeit aus disziplinarischen Gründen erfolgt. Als sich dieser lautstark dagegen wehrte und zur Aufklärung die an den Gauleiter gerichteten Briefe mit der Weigerung des Kirchenaustritts verlesen wurden, brach die Argumentation des neuen Kreisleiters zusammen und Recknagels Standhaftigkeit wurde von der Mehrheit beifällig aufgenommen. Am folgenden Tag, dem 14. September 1942, wurde Recknagel vom Gauleiter aus Weimar angerufen, der ihm mitteilte, der kommissarische Kreisleiter habe ein Parteigerichtsverfahren wegen parteischädigenden Verhaltens gegen ihn beantragt.60 In einem an diesem Tag verfassten Schreiben an Recknagel als Landrat in Schmalkalden teilte Mütze diesem mit, daß er ihm bis auf weiteres, auch in seiner Eigenschaft als Landrat, keine Einladungen der NSDAP-Kreisleitung Schmalkalden-Suhl-Schleusingen zukommen lassen werde. Im letzten Satz hieß es: »Es ist im allgemeinen ja bei uns nicht üblich, Landräte im Amt zu belassen, wenn sie pflichtwidrig gehandelt haben.«61 Dass es danach Bestrebungen gab, Otto Recknagel als Landrat in Schmalkalden aus seinem Amt in der Verwaltung des Kreises zu entfernen, bestätigte später im Spruchkammerverfahren der ehemalige Regierungsdirektor Wilhelm LagrÀze bei der Bezirksregierung in Kassel: »[…] Herr Recknagel [hatte] nach seiner wegen seiner positiven kirchlichen Einstellung erfolgten Entlassung als Kreisleiter einen besonderen schweren Stand als Landrat des verwaltungsmäßig damals zu Kurhessen, parteimäßig zum Gau Thüringen gehörenden Kreises Schmalkalden […]. Es wurde mit allen Mitteln versucht, ihn auch aus seiner Stellung als Landrat zu entfernen. Nur den persönlichen Bemühungen des damaligen Regierungspräsidenten von Monbart ist es zu verdanken, daß er sein Amt als

60 Im Spruchkammerverfahren ist die Erklärung des Kreisorganisationsleiters der NSDAP, Rudolf Holland, vom 7. Juni 1948 enthalten, dass am 16. September 1942 der Gaurichter, Generalmajor Constantin Rembe, mit zwei weiteren Herren vom Gaugericht Weimar in der Kreisleitung Schmalkalden erschienen wäre und Recknagel verhört hätte. Über den Ausgang des Verfahrens sei ihm nichts bekannt. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 61 Wilhelm Mütze an Landrat Otto Recknagel, Schmalkalden 14. September 1942. Als beglaubigte Abschrift in der Spruchkammerakte. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311.

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Landrat behielt. […] Überhaupt konnte Herr Recknagel in seiner Eigenschaft als Landrat der Partei nichts mehr recht machen.«62

Und ein weiterer Mitarbeiter aus der Kommunalaufsicht in der Kasseler Bezirksregierung, Dr. Walther Kleeberg, nunmehr Ministerialrat in der Staatskanzlei des Landes Hessen in Wiesbaden, sagte 1947 aus: »Diese Maßnahme [d.i. die Entlassung als Kreisleiter] erfolgte, weil Recknagel sich weigerte, aus der evangelischen Kirche auszutreten. Es ist damals bei der Regierung in Kassel viel davon gesprochen worden. In der Folge habe ich auch dienstlich öfters mich mit den Schwierigkeiten befassen müssen, die Recknagel als Landrat dann mit seinem Nachfolger als Kreisleiter, einem gewissen Mütze, gehabt hat. Dieser hat wiederholt versucht, Recknagel auch in seiner Stellung als Landrat zu Fall zu bringen. Die Situationen waren, soweit ich mich erinnere, verschiedentlich recht prekär.«63

Über Otto Recknagels Eintreten für die Kirche und die zunehmende Entfremdung von der durch die NSDAP praktizierte Politik – aus dieser Partei ist er jedoch nicht ausgeschlossen worden und ist auch nicht ausgetreten, man hat ihn sogar wegen seiner ausgleichenden und aufrechten Haltung verschiedentlich zum Verbleib gedrängt – liegen zahlreiche Zeugnisse von Kirchenvertretern vor, die 1948 in seinem Spruchkammerverfahren im Interniertenlager Ludwigsburg verwendet wurden.64 Stellvertretend sollen hier lediglich zwei Aussagen von Mitgliedern der »Bekennenden Kirche« zitiert werden. Ernst Braune, 1930 bis 1951 Pfarrer in Steinbach-Hallenberg: »Mit in erster Linie Herrn Recknagel ist es zu danken, daß unsere Kirchengemeinde, deren Pfarrer im Gegensatz zu den ›Deutschen Christen‹ standen, Eingriffe von seiten des damaligen Staates und der Partei erspart blieben.«; Erich Döll, seit 1933 Pfarrer in Schmalkalden, seit 1936 Kreispfarrer und Dekan des Kirchenkreises Schmalkalden bis 1965: »Wenn Recknagel in seiner kirchenpolitischen Stellungnahme nicht den Weg der überwiegenden Mehrheit der Pfarrer des Kirchenkreises Schmalkalden mitging, so ist es doch unzweifelhaft seiner christlichen Gesinnung, seinem kirchlichen Verständnis und seiner besonnenen Berichterstattung zu verdanken, daß in der Zeit des Kirchen62 Erklärung Dr. Wilhelm LagrÀze, Kassel 20. April 1947. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 63 Erklärung Dr. Walther Kleeberg, Wiesbaden 19. April 1947. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 64 Dazu gehören Erklärungen von Pfarrern in Steinbach-Hallenberg: Ernst Braune (21. 6. 1946, 1. 8. 1946), Adam Kirchner (1. 7. 1946, auch Zeugenaussage in der Verhandlung am 7. 7. 1948), Gustav Rüppel (26. 6. 1948), Friedrich Wüpper (19. 7. 1946, 21. 5. 1948, auch Zeugenaussage in der Verhandlung am 7. 7. 1948), Johannes Landgraf (18. 6. 1946); in Schmalkalden: Dekan Erich Döll (20. 7. 1946), Hermann Paul Fischer (21. 6. 1946); in Zella-Mehlis: Ernst Thiem (6. 8. 1946); in Suhl: Martin Siedersleben (6. 8. 1946); weiterhin von den Bischöfen für die Evangelische Landeskirche in Thüringen Moritz Mitzenheim in Eisenach (5. 7. 1946) und für die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck Adolf Wüstemann in Kassel (3. 7. 1947, 15. 3. 1948).

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Die Hassfigur »Doppelotto«

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kampfes im Kreise Schmalkalden keine Gewaltmaßnahmen gegen Schmalkalder Pfarrer vorkamen.«65

Der Zahnarzt Felix Koczik aus Schmalkalden schilderte der Spruchkammer einen bereits 1937 erlebten Vorgang, als im Schloss Wilhelmsburg der Vortrag eines Referenten der NSDAP-Gauleitung über Kirchenfragen stattfand: »Der Vortragende nahm in seinen Aufführungen sehr scharf gegen die Kirche Stellung und forderte die Anwesenden ziemlich unverhüllt zum Kirchenaustritt auf. Der damalige Kreisleiter und Landrat des Kreises Schmalkalden Otto Recknagel, der nach meiner Erinnerung von den Anwesenden der Rangälteste war, unterbrach den Redner und wendete sich energisch gegen dessen Ausführungen. Recknagel erklärte vor der gesamten Versammlung, er dulde in seinem Kreise derartige Reden und Aufforderungen zum Kirchenaustritt nicht. Er würde selbst in der Kirche bleiben, auch auf die Gefahr der Amtsenthebung oder des Parteiausschlusses hin. Die Versammlung endete damit, daß Recknagel alle Anwesenden aufforderte, wenn sie mit ihm gleicher Meinung wären, den Saal zu verlassen. Dies geschah und die Versammlung war damit beendet.«66

In besonderer Weise wurde später auch Recknagels Auftreten als Entlastungszeuge in dem 1944 gegen den Pastor Johannes Landgraf der Altlutherischen Kirchgemeinde (Evangelisch-Lutherische Zionsgemeinde) in Steinbach-Hallenberg angestrengten Strafverfahren vor dem Sondergericht in Weimar, als dieser am 24. Januar 1944 nach dem »Heimtückegesetz« wegen »staatsabträglicher Äußerungen« zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt wurde, gewürdigt, weil seine Aussage zugunsten Landgrafs das Urteil abmilderte.67 Die zahlreichen Zeugnisse über Otto Recknagels kirchliche Haltung, insbesondere in der NS-Zeit, führten bei seinem späteren Spruchkammerverfahren am 7. Juli 1948 in Ludwigsburg dazu, ihn nur als »Belasteteten« einzustufen und nicht, wie es die Klageschrift des Öffentlichen Klägers angesichts seiner Parteikarriere und seiner öffentlichen Ämter gefordert hatte, ihn in die erste Gruppe der »Hauptschuldigen« einzureihen. Dagegen legte der Öffentlichen Kläger am 4. August 1948 Berufung ein, indem er erklärte: »Bei einem Hauptschuldigen müssen aber besonders hohe Anforderungen hinsichtlich seiner Eingruppierung in eine für ihn günstigere Gruppe gestellt werden, und es geht nicht an, ihn etwa lediglich wegen seines kirchlichen Verhaltens niedriger einzustufen.« Zu einer Revision der 1948 verfügten Einstufung als »Belasteter« kam es indessen 65 Erklärung Ernst Braune, Steinbach-Hallenberg 21. Juni 1946; Erklärung Erich Döll, Schmalkalden 20. Juli 1946. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/ 2 Bü 311. 66 Erklärung von Felix Koczik, Karlsruhe 6. Mai 1947. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 67 Die Anzeige bei der Gestapo in Suhl erfolgte durch den NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Mütze. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand Sondergericht Weimar, Register 1943; NS-Archiv des MfS, ZAI 10506, Akte 6.

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nicht. Bei der erneuten Prüfung des Falles und der vorliegenden Akten bemerkte der dafür zuständige Referent aus dem Ministerium für politische Befreiung Württemberg-Baden am 23. November 1948: »Der Betr.[offene] hat ganz zweifellos in seinen vielen Ämtern zum Wachsen, Blühen und Gedeihen des Nationalsozialismus beigetragen und ist Hauptschuldiger. […] Wenn der Betroffene als Christ öfters zur Kirche und auch zum Abendmahl gegangen ist, so mag daraus gerade zu entnehmen sein, daß sein Gewissen hinsichtlich seines Verhaltens im Sinne der Rassenlehre des NS und sein Verhalten politischen Gegnern gegenüber (Saalschlachten usw.) ihm doch öfters geschlagen haben muß.«68

Es blieb zunächst bei der bisherigen Spruchkammerentscheidung von 1948, auch nachdem 1953 die Verfahren der politischen Säuberung in Baden-Württemberg gesetzlich als beendet erklärt worden waren. Allerdings wurde Otto Recknagel ein Jahrzehnt später, er war inzwischen über 65 Jahre alt, nach einem Gnadengesuch des Landesbischofs der Evangelischen Kirche von KurhessenWaldeck (zu dem der Kirchenkreis Schmalkalden gehörte) an den Minister des Innern von Baden-Württemberg vom 24. Mai 1962 durch »Gnadenentscheidung« des Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger (CDU), des späteren Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland (1966 bis 1969), vom 21. Dezember 1963 in die »Gruppe der Mitläufer« umgestuft.69 Als in der Endphase des 2. Weltkrieges 1944 der Volkssturm gebildet wurde, zog der Landrat Otto Recknagel wieder eine Uniform an und übernahm in Schmalkalden ein Volkssturm-Bataillon, das er bis Februar 1945 führte.70 Am 16. Januar 1945 war sein 1923 geborener erster Sohn, Kurt Erich Recknagel, in Pfälzerort (zuvor Drutischken) in Ostpreußen (heute Rußland) gefallen, was die Familie aber erst nach der amerikanischen Besetzung im April 1945 erfuhr. Am 18. März 1945 ließen Otto und Lydia Recknagel ihren zweiten Sohn, Otto Siegfried Recknagel, in der Kirche zu Steinbach-Hallenberg konfirmieren. Der damalige Pfarrer, Friedrich Wüpper, sagte am 19. Juli 1946 aus: »Im Jahre 1945 ließ er [Otto Recknagel] seinen Sohn in seiner Heimatgemeinde durch mich konfirmieren und ging dann am Karfreitag mit Gattin und Sohn zum heiligen Abendmahl.«71 Karfreitag war der 30. März 1945. Am 3. April 1945, am Dienstag 68 Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 69 Kopie des Schriftwechsels aus Privatbesitz beim Verfasser. Die Mitteilung des Staatsministeriums in Stuttgart vom 23. Dezember 1963 an Otto Recknagel in Krefeld. 70 Nach einer Aussage von ihm in der Verhandlung des Spruchkammerverfahrens im Internierungslager Ludwigsburg am 7. Juli 1948. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 71 Als schriftliche Erklärung in der Spruchkammerakte. Hinzu kommt eine ebenfalls vorhandene Erklärung des Landesbischofs der Thüringer evangelischen Kirche, Moritz Mitzenheim, vom 5. Juli 1946 aus Eisenach für Otto Recknagel: »Er hat 1943 seinen Sohn Siegfried Recknagel, der in Eisenach die höhere Schule besuchte, zu mir, dem hart angegriffenen Bekenntnispfarrer in den Konfirmandenunterricht geschickt, obgleich der Junge gar nicht in

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Die Hassfigur »Doppelotto«

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nach Ostern, trafen Truppen der amerikanischen 3. Armee unter General Patton im Kreis Schmalkalden ein, die den aus Schmalkalden geflohenen Landrat Otto Recknagel noch in Thüringen aufspürten und verhafteten. Nach einer Erklärung des Forstmeisters Walter Tatter in Schmalkalden sei er am 13. April 1945 von einem Leutnant der US-Truppen von Waltershausen nach Schmalkalden gebracht worden. Da seine Dienstvilla inzwischen von den Amerikanern besetzt war, habe er bei ihm übernachtet und am nächsten Morgen das Landratsamt aufgesucht. Danach habe er sich zum amerikanischen Stadtkommandanten begeben und seine Haft angetreten.72 Vom 14. April 1945 bis 12. Februar 1947 wurde er in Internierungscamps der US-Besatzungsmacht in Schmalkalden, Molsdorf, Obersuhl, Schwarzenborn, Darmstadt und Ludwigsburg, danach in Interniertenlagern des Ministeriums für politische Befreiung WürttembergBadens in Ludwigsburg, Asperg (Hohenasperg), Kornwestheim und wieder Ludwigsburg (bis 9. Juli 1948) gefangen gehalten.73 Nach seiner Entlassung hat er sich als einfacher Arbeiter am Wiederaufbau in Nordrhein-Westfalen beteiligt. In seine Heimat im Thüringer Wald ist er bis zu seinem Tod im 85. Lebensjahr nie wieder zurückgekommen. Verstorben ist er am 23. Januar 1983 in Krefeld.74

meinem Seelsorgebezirk wohnte. Dadurch hat der Vater sich nicht nur zur evangelischen Kirche, sondern zur ›Bekenntniskirche‹ bekannt.« Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. 72 Erklärung von Forstmeister Walter Tatter vom 8. Mai 1945, enthalten in Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Nachlass Karl Wißler Nr. 26. 73 Nach dem »Arrestreport« in der Spruchkammerakte begann seine Internierung am 14. April 1945. Staatsarchiv Ludwigsburg, Spruchkammer Ludwigsburg EL 903/2 Bü 311. Die weiteren Daten nach einer Bescheinigung des Staatsarchivs Ludwigsburg für Otto Recknagel vom 6. August 1968 auf der Grundlage der dort überlieferten Entnazifizierungsakten, des Zentralregisters über die Internierten in der Amerikanischen Besatzungszone und einer amerikanischen Interniertenkartei. Kopie der Bescheinigung aus Privatbesitz beim Verfasser. 74 Sterbeurkunde des Standesamtes Krefeld-Mitte Nr. 128/1983 vom 24. Januar 1983.

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Der »Geist der Volksgemeinschaft im kleinen«. Eschwege, das Johannisfest und der Nationalsozialismus1

Städte sind soziale Räume, in denen Beziehungen und Netzwerke ausgebildet werden, Selbstdeutungen mit Fremddeutungen zusammenstoßen, Traditionen Kontinuität suggerieren, allerdings zugleich auch als Hülsen des Wandels dienen. Als soziale Räume tragen Städte manchmal schwer an ihrer Geschichte und ihren Traditionen, bieten sie aber zugleich den Halt der Beständigkeit, die dadurch vorgespiegelt wird. Und diese Beständigkeit wird vielfach bestärkt: durch Kulturpolitik, Baupolitik, Jubiläen, Namensgebungen oder Denkmalsetzungen ebenso wie durch lokale Feste, Familienerzählungen und private Erinnerungen. Solche Selbstverortungen tragen dazu bei, dass Städten Identität zugeschrieben wird, eine kollektive Selbstdeutung, die im Raum eingeprägt und an vielfältigen Indizien ablesbar ist, in Geschichten und Büchern forterzählt wird und es manchmal schwer macht, dem so erzeugten Bild zu entkommen: Selbst Zugereiste übernehmen durch Kommunikation und Partizipation Selbstbild und Habitus der Kommune.2 Der Festkultur kommt dabei zentrale Bedeutung für den inneren Zusammenhalt kommunaler Gemeinschaften und für die Identität einer Kommune zu. Im jährlichen Wiedertreffen, in der Wiederholung des Gemeinsamen bestärken sich Traditionen und Verbindungslinien. Feste stiften Gemeinschaft und vermögen Neubürger zu integrieren – oder ihnen auch ihre Außenseiterrolle vorzuführen. Feste wie beispielsweise der »Grenzgang« im hinterländischen Biedenkopf3 stehen insofern sinnfällig für Kontinuität, Tradition und Gemeinschaft 1 Dieser Beitrag basiert auf einer Untersuchung zur Geschichte Eschweges im Nationalsozialismus, die derzeit im Auftrag der Stadt Eschwege angefertigt wird. Mit Abschluss und Veröffentlichung ist im Herbst 2014 zu rechnen. 2 Siehe als Beispiel des Zusammenspiels von Tradition und städtischer Identitätspolitik: Petra Spona: Städtische Ehrungen zwischen Repräsentation und Partizipation. NS-Volksgemeinschaftspolitik in Hannover. Stuttgart 2010 (Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 10). 3 Über Biedenkopf (hier »Bergenstadt« genannt) der verfremdende Roman »Grenzgang« von Stephan Thome, Frankfurt a.M. 2009.

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einer Kommune, die im Zweifel auch die längst in alle Welt verstreuten Bürger der Stadt wieder emotional zusammenführt. Und derartige Feste überstehen oft scheinbar unbeschadet auch alle Zäsuren: An den Gewohnheiten und Ritualen kommunaler Feste scheinen auch Weltkriege und Diktaturen ihre Grenzen zu finden. Denn Feste behalten zugleich etwas Kontingentes, nicht Steuerbares und nicht Kontrollierbares. In Festzug und Ritualen, Musik und Ausgelassenheit spiegelt sich die Doppelgesichtigkeit jedes Festes: einerseits Planung und Inszenierung, andererseits Freiräume und Grauzonen. Die Attraktivität solcher kommunaler Jahresfeste besteht nicht zuletzt in diesen offenen Räumen, die sie schaffen, den gelebten Gegenwelten, den anarchischen Elementen, die ein Ausbruch aus dem Alltag mit sich bringt. Feste leben insofern aus der Spannung von Ritual und Ausbruch, von Erwartbarem und Überraschendem.4 Feste sind freilich immer auch Teil erfundener Traditionen. Sie sind nicht einfach da, sondern werden durch Praktiken und Aneignungen immer neu geformt. Und zugleich können sie neu gefüllt werden mit Deutungen und Funktionen. All das zeigt das Johannisfest in Eschwege, das in der Regel Anfang Juli jedes Jahres als »Fest der Freude« mehrere Tage lang gefeiert wird, eine fixierte Abfolge von Festelementen unter Einschluss aller Bürgergruppen und aller Generationen in der Stadt kennt und auf eine jahrhundertealte Vorgeschichte zurückgeht. In großen Teilen basiert es heute jedoch auf Elementen und Ritualen, die erst in den 1920er Jahren eingeführt wurden. Eschwege befand sich zu dieser Zeit in einer sozialen und mentalen Krise. Die Kleinstadt im Nordosten Hessens hatte eine lange Geschichte als bürgerliche Gewerbestadt, kleinerer Handelsmittelpunkt und Verwaltungssitz.5 Seit 1821 war Eschwege Kreisstadt. Im 19. Jahrhundert rangierte die an der Werra gelegene Stadt, was die Bevölkerungszahl anging, in Niederhessen an zweiter Stelle hinter dem 50 Kilometer entfernten Kassel. Dennoch blieb sie immer ein wenig isoliert, dabei wirtschaftlich relativ stabil und selbstzufrieden, auf der Basis vor allem von Textil-,

4 Grundlegende Gedanken zur Festkultur: Odo Marquard: Kleine Philosophie des Festes, in: Uwe Schultz (Hg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1988, S. 413 – 420. Zur historischen Festforschung vgl. Michael Maurer : Feste und Feiern als historischer Forschungsgegenstand, in: Historische Zeitschrift 1991/253, S. 101 – 130; Dieder Düding u. a. (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek 1988; Manfred Hettling / Paul Nolte (Hg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993. Zur städtischen Festkultur beispielsweise: Katrin Keller (Hg.): Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig. Leipzig 1994. Zur Festkultur im Nationalsozialismus: Werner Freitag (Hg.): Das Dritte Reich im Fest. Führermythos, Feierlaune und Verweigerung in Westfalen 1933 – 1945. Bielefeld 1997. 5 Vgl. als Handbuch und Einführung: Geschichte der Stadt Eschwege. Redaktion Karl Kollmann. Eschwege 1993.

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Leder- und Tabakgewerbe,6 von leidlich wohlhabendem Bürgertum getragen. Anfang 1933 hatte die Stadt laut offiziellen Angaben 12.868 Einwohner. Eine Besonderheit war der recht hohe Anteil von Juden an der Bevölkerung; in Eschwege war er mit gut drei Prozent jedenfalls deutlich höher als in anderen nordhessischen Kleinstädten. Und die Eschweger Juden waren alteingesessene Bürger. Als Geschäfts- und Firmeninhaber waren sie nicht nur angesehen, sondern auch unabdingbar für das materielle Wohlergehen der Stadt; über tausend nichtjüdische Angestellte und Arbeiter waren Anfang der 1930er Jahre in jüdischen Betrieben Eschweges beschäftigt. Was die politische Kultur anging, so war die Stadt seit der Industrialisierung sehr deutlich und relativ stabil in zwei Lager gespalten. Bei den Wahlen zur ersten Stadtverordnetenversammlung in der Weimarer Republik, am 24. Januar 1919, zeichnete sich dies bereits recht klar ab. Vier Listen traten an, nämlich die SPD, die USPD und zwei bürgerliche Wählerverbindungen, die jeweils wieder Kandidaten unterschiedlicher bürgerlicher Parteien versammelten, von der DDP bis zur DNVP. Bürgerlich-lokale Identität rangierte vor politischen Überzeugungen. Am Ende entstand eine Pattsituation: Je 18 Sitze errangen die beiden Arbeiterparteien und die beiden bürgerlichen Listen. Bei späteren Kommunalwahlen in der Republik (1924 und 1929) erreichten die bürgerlichen Listen die Mehrheit der Sitze, und bei den Kommunalwahlen vom 12. März 1933, nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, erhielt die NSDAP 12 Sitze, die SPD noch sechs und die KPD zwei. Einer der bürgerlichen Listenführer von 1924 und 1929, der Kaufmann Erich Döhle, war nunmehr als Führer der NSDAP-Liste angetreten. Am Ende der Republik wanderte das bürgerliche Lager Eschweges dem Anschein nach fast vollständig und reibungslos in den Nationalsozialismus ab. Eschwege verstand sich auch in nationalsozialistischer Zeit als eine bürgerliche Stadt. Das Johannisfest war Sinnbild des Eschweger Bürgergeistes und städtischer Traditionen. Es wurde auf das Spätmittelalter zurückgeführt, im späten 16. Jahrhundert wurde erstmals explizit in Quellen ein bereits traditionsreiches Fest erwähnt.7 Jährlich nach der Sommersonnenwende zogen die Schüler der Stadt mit ihren Schulmeistern von Eschwege auf den sogenannten Schülerberg, der zur Nachbargemeinde Grebendorf gehörte, holten dort das »Maienholz«, das heißt junge Birkenbüsche, und brachten es in die Stadt Eschwege, wo dann gefeiert wurde. Das Fest veränderte sich, es wurde je nach Konstellation auch politisch instrumentalisiert, beispielsweise schon 1803, als es anlässlich der 6 Vgl. Herbert Fritsche: Der Eschweger Handel und seine Verkehrswege, in: Geschichte der Stadt Eschwege, S. 244 – 263, hier S. 250 f. 7 Vgl. zum Folgenden: Gerhard Seib: Das Johannisfest, in: Geschichte der Stadt Eschwege, S. 385 – 393; Kurt Holzapfel: Das Eschweger Johannisfest, in: Eschwege. Wegweiser durch Stadt und Kreis. 5., neubearb. u. erweiterte Aufl. Eschwege 1970, S. 32 – 36.

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Erhebung der Landgrafschaft Hessen-Kassel zum Kurfürstentum zu einem größeren Feierereignis ausgeweitet wurde. Zunehmend wurde aus dem rituellen Maiengang der Schüler ein kommunales Fest, an dem nun auch Mädchen teilnehmen konnten, indem sie die rückkehrenden Schüler mit Tänzen empfingen, und bei dem sich regelmäßig die gesamte Einwohnerschaft der Kommune zum Feiern traf. Im 19. Jahrhundert verschmolzen wohl verschiedene Festtraditionen von Maienzug und Feiern zum Johannistag (24. Juni), und das kommunale Fest entwickelte sich zum Volksfest. Im 20. Jahrhundert wurde das nun durchgängig Johannisfest genannte mehrtägige Ereignis zum symbolischen Ausdruck kommunalen Stolzes, kommunaler Traditionen und des Anspruches auf Autonomie. Es begann am Donnerstagabend und umfasste Konzerte, Aufführungen und andere Veranstaltungen in der Stadt. Nach wie vor gehörte der Zug der Schüler am Samstag zum Grebendorfer Berg dazu, dann der Empfang der Rückkehrer auf dem Marktplatz, woran sich Tänze und Feiern anschlossen. Am Sonntag folgten Festgottesdienst, Platzkonzert und Festzug, der zum Werdchen, einer Werrainsel, führte, wo die Feiern ihren Fortgang nahmen. Am Festzug nahmen auch Kapellen, Fanfarenzug und Kostümierte teil, die die städtischen Traditionen symbolisierten. Die Feiern zogen sich in der Regel bis zum Montag hin. Während des Ersten Weltkriegs war das Fest ausgesetzt worden, in der Weimarer Zeit gewann es aber wieder an Bedeutung, nicht zuletzt als Vermittlung zwischen den Generationen, zwischen traditionellem Volksfest und Jugendkultur. In den 1920er Jahren wurde über eine Neugestaltung gesprochen. Das Fest sollte nun zur kulturellen Läuterung beitragen, wieder einen konturierten ideellen Kern erhalten und die kommunale Gemeinschaft festigen. Die Entwicklung des traditionsreichen, weiterhin in der Regel jeweils Ende Juni oder Anfang Juli über mehrere Tage begangenen Johannisfestes spiegelt das fortwährende und in der Weimarer Zeit sogar verstärkte Bemühen um bürgerliche Integration und Zusammengehörigkeitsgefühl – das Fest wurde auch in den Krisenjahren am Ende der Republik nicht ausgesetzt. Schon 1925 drängte die Stadtverwaltung – nach eigenem Bekunden erfolgreich – auf eine »reichere Schmückung der Straßen« durch die Bürger.8 1926 wurde das Fest noch einmal deutlich kommunalpolitisch aufgewertet. Es sollte nunmehr »zum ersten Mal als Heimatfest ausgestaltet« werden. Bürger und Schüler waren zur Vorbereitung aufgerufen. Neben dem üblichen Festzug, Auftritten der Gesangvereine und Konzert sowie abendlicher Beleuchtung von Bismarckturm und Schäferhalle sollte nunmehr vor allem ein Heimatfestspiel Besucher anziehen und städtische 8 Stadtarchiv Eschwege, Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Eschwege im Rechnungsjahr 1925. Erstattet vom Magistrat auf Grund des § 66 der Städteordnung. Eschwege 1926 (künftig zitiert: StAE, Verwaltungsbericht), S. 10.

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Identität vermitteln. Kreispfarrer Rudolf Clermont von der Neustädter Kirche, eine lokale Autorität, populär und einflussreich in der Stadt Eschwege bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1937, entwarf 1926 dafür ein Schauspiel unter dem Titel »Jutta von Eschwege – Ein Heimatspiel für das Johannisfest in vier Aufzügen und zwei Verwandlungen«, das auf das Jahr 1273 verwies und nunmehr von der örtlichen »Literarischen Vereinigung« zum Fest aufgeführt wurde; zu den sechs Aufführungen in der Festhalle des Stadtparks kamen insgesamt 7.000 Zuschauer. Auch die Einweihung des »Dietemanns« beim Johannisfest Anfang Juli 1927 unterstrich diese Tendenz der Bestärkung oder besser : Erfindung lokaler Traditionen.9 Die Dietemann-Figur stand für einen alten Eschweger Wächter. Der Dietemann, dessen Name auf ein Rittergeschlecht zurückgeführt wurde, galt als Wahrzeichen der Stadt, und auch die Bewohner Eschweges wurden und werden demgemäß gelegentlich als »Dietemänner« bezeichnet. Eine Bürgerinitiative unter dem Landrat hatte sich dafür eingesetzt, die Figur fast buchstäblich wiederzubeleben: Eine lebensgroße Holzfigur wurde hergestellt, die im Turm des Schlosses angebracht wurde und jeweils zur vollen Stunde mit dem Schlag der Turmuhr aus einer Öffnung heraustrat und in der anderen wieder verschwand. Auch davon versprach man sich die Stärkung kommunalen Traditionsbewusstseins.10 Ehemalige Eschweger, so berichtete die Stadt im Nachhinein stolz, seien »für die Festtage der Heimat in besonders großer Zahl zugeführt« worden.11 Indirekt vermittelte die Stadt damit ihre Zielsetzung, nämlich die Stärkung von Identität, Traditions- und Heimatbewusstsein in Eschwege und unter Eschwegern, weniger dagegen die Selbstdarstellung der Stadt nach außen. Zudem ergänzte Clermont den Formenkanon des Festes um drei sogenannte Johannisreiter und einen Herold der Stadt.12 Die Tradition des Festes wurde derart weit in das Mittelalter zurückverfolgt und zugleich das Fest noch enger in die Eschweger Stadtgeschichte eingebunden. Und die Beteiligung der Schüler wurde nicht nur beibehalten, sondern über die Organisation entlang der Schulen und Schulklassen, die auch beim Umzug gemeinsam auftraten, verstärkt. Kurz: Das Fest wurde gerade von den bildungsbürgerlichen Gruppen und kommunalen Interessenträgern im Sinne zeittypischer Heimatpflege wiederbelebt, neu gedeutet, erweitert und angesichts der sozialen Krise und der Spaltung der Eschweger Bevölkerung in zwei Lager – Bürgermilieu und Arbeiterbewegung – mit neuen Funktionen der lokalen Integration versehen. Auch in der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft hielt man an dem Ritual 9 Zum »Dietemann« mehrere Beiträge von Karl Kollmann in: Eschweger Geschichtsblätter 2002/13, S. 3 – 23. 10 StAE, Verwaltungsbericht 1927, S. 12 f. 11 StAE, Verwaltungsbericht 1926, S. 13 f. 12 Seib, Johannisfest, S. 388; Eschweger Tageblatt, 8. 7. 1926.

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fest. Ob nun das Fest nationalsozialistisch unterwandert und instrumentalisiert wurde oder im Fest sich ein Rückzugsraum der Bürgergesellschaft fand, der nur oberflächlich – durch Reden und Symbole – nationalsozialistisch überformt wurde, das ist schwer zu entscheiden und letztlich vielleicht auch nicht so bedeutsam. Wichtiger ist vielmehr die Verschmelzung kommunaler Traditionen und nationalsozialistischer Nutzung. So wie der Nationalsozialismus in Eschwege bürgerlich war, so konnte das Johannisfest bruchlos im Nationalsozialismus weiter gefeiert und mit der neuen Denkweise verschmolzen werden. Kommunale Tradition und politischer Aufbruch gingen in eins – dies jedenfalls aus stadtbürgerlicher Sicht, nachdem die pseudo-revolutionäre Unruhe der ersten Monate, sinnfällig an SA-Aufmärschen erkennbar, sich gelegt und im Sommer 1934 die Ordnung im Sinne des Eschweger Bürgertums wiederhergestellt war. Die Bürgermeister, zunächst noch bis 1934 Fritz Stolzenberg, der in der Weimarer Zeit der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahegestanden hatte, dann Alexander Beuermann, waren der NSDAP bereits im Mai 1933 beigetreten. Die Tradition des Johannisfestes hielten sie aufrecht. Wie in der Weimarer Zeit, als die lokale Integrationsfunktion des Festes betont wurde, wurde es allerdings seit 1933 erneut umgedeutet, in die neue Weltsicht eingefügt und als Nachweis praktizierter Volksgemeinschaft interpretiert. Nunmehr wurden die Festveranstaltungen mit schwarz-weiß-roten und Hakenkreuzfahnen geschmückt, die Mitglieder von NS-Organisationen bis hin zum Bürgermeister traten in Uniform auf. Jüdische Schüler dürften schon seit 1933 nicht mehr beim Johannisfest auftreten; der von Bürgermeister Stolzenberg geleitete Festausschuss hatte das beschlossen. In der Zeitung konnte man über die neue Ausrichtung am 1. Juli 1933 lesen: »Gesunde Kräfte echten Volkstums und tiefer Heimatliebe waren es, die auch in den Zeiten des Verfalls im Eschweger Johannisfest fortwirkten und den Geist der Volksgemeinschaft im Kleinen lebendig hielten. Eine Zeitenwende ist nun angebrochen. Was wir uns angesichts des Johannisfestes erträumten, geht seiner Verwirklichung entgegen: die große Volks- und Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen ist im Werden … So betrachtet, geht das Johannisfest über den Rahmen eines einfachen Kinderfestes, einer Volksbelustigung weit hinaus. Es erhält einen wahrhaft nationalen Sinn, den recht zu erkennen, zu pflegen und zu würdigen gerade unsere Zeit berufen ist.«13

Das Johannisfest war aus Sicht überzeugter Nationalsozialisten allerdings nicht ganz unbedenklich. Es enthielt christliche Traditionsstränge, es bezog sich ganz auf die kommunale Gemeinschaft, und es drohte auch und gerade als Heimatund Volksfest zur bloßen, unpolitischen Volksbelustigung zu werden. Deswegen wurde wiederholt auf Auswüchse hingewiesen, die in der Geschichte bekämpft 13 Zitiert nach Karl Kollmann: Das Jahr 1933 in Eschwege. Die Machtergreifung im Kulturbereich im Spiegel der Presse, in: Eschweger Geschichtsblätter 1995 /6, S. 46 – 63, hier S. 48.

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und beseitigt worden seien. So hieße es zum Johannisfest von 1934 in einem Rückblick der Lokalzeitung auf frühere Kritik an der Praxis der Feiern: »Ja, es möge als Kinder-, Schul- und Heimatfest weiterleben und nicht auf ’s neue ausarten! Die damaligen [1802] Volkserzieher haben es wohl gewusst, daß alle Feste, die nur noch eine materialistische Seite haben, sterben müssen; das Gemeine vergeht. Das Edle lebt.«14

Dagegen versuchten Nationalsozialisten immer wieder, das Fest als Bühne für ihr Programm zu nutzen, umgekehrt konnte man dort durch demonstratives Auftreten nationalsozialistische Gesinnung vorführen und die Jugend umwerben. So warb der neu gegründete Eschweger Flugsportverein beim Johannisfest 1933 mit den Worten um Spenden: »Deutschlands Jugend muß fliegen lernen, denn ein Volk, das sich willenlos feindlicher Willkür preisgibt, hat keine Existenzberechtigung. Ein Volk aber, das den Willen zur Selbsterhaltung in sich trägt, wird auch den Gefahren aus der Luft trotzen!«15

1935 besuchte NS-Gauleiter Karl Weinrich Eschwege zum Johannisfest. Aus diesem Anlass rief er zu Gemeinschaft und Aufbauarbeit auf und kritisierte – durchaus mit lokalem Bezug – den Kirchenstreit um die Bekennende Kirche, der in Kurhessen-Waldeck besondere Brisanz hatte und die Kirche spaltete.16 Im Bericht des Eschweger Tageblatts hieß es dazu: »Der Gauleiter wies auf die großen Erfolge hin, die seit der Machtübernahme des Nationalsozialismus auf allen Gebieten erzielt worden sind und hob besonders den Gedanken der Volksgemeinschaft hervor, der heute bei allen Feiern und Veranstaltungen zum Ausdruck kommt. Warnende Worte richtete er an die, die sich noch immer in diese Volksgemeinschaft nicht einordnen wollen. Das deutsche Volk sei ein gläubiges Volk, das festhalte an seinem Gott und seinem Christentum, das aber für konfessionelle Streitigkeiten kein Verständnis habe. Es sei deshalb höchste Zeit, daß die Kirche in ihrer Gesamtheit zurückfinde zur Volksgemeinschaft, wenn sie nicht zugrunde gehen wolle. Das deutsche Volk danke Gott, daß er uns einen Mann geschenkt habe, wie er nur in Jahrhunderten einmal seinen Volke gegeben würde: Adolf Hitler, auf dessen Worte heute die ganze Welt lausche. Niemand habe mehr für den Frieden getan als er. Dazu habe er aber auch seinem Volke seine Ehre wiedergegeben.«17

14 Eschweger Tageblatt, 30. 6. 1934. 15 Zitiert nach: Kollmann, Das Jahr 1933, S. 59. 16 Vgl. zum spezifischen Hintergrund in der Landeskirche, der hier nicht ausgeführt werden kann: Klaus Döll: Evangelische Kirche im Dritten Reich. Der Kirchenstreit im Kirchenkreis Eschwege, in: Eschweger Geschichtsblätter 1995 /6, S. 3 – 45; Hans Slenczka: Die evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck in den Jahren von 1933 bis 1945. Göttingen 1977. 17 Eschweger Tageblatt, 3. 7. 1935.

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NS-Kreisleiter Eduard Weiß brachte daraufhin einen »dreifachen Sieg-Heil« auf Hitler aus, »worauf das Horst Wessel-Lied gesungen wurde«. Anschließend sprach Weinrich noch einmal vor dem engeren Kreis der Parteimitglieder : »Er ermahnte alle, nicht müde zu werden, sondern mit gleichbleibendem Fanatismus weiter zu kämpfen, bis das Werk des Führers gelungen ist.«18

Dass Weinrich das Johannisfest lediglich nutzte, um im Kirchenkampf Stellung zu beziehen, Einheit anzumahnen und den Hitler-Kult zu befeuern, zeigt allerdings auch, wie wenig die alten Kämpfer der Partei und vor allem die Ortsfremden unter ihnen mit dem Johannisfest anfangen konnten. Das Fest blieb ein schwieriges Terrain. Deswegen versuchte man eine Umdeutung. Angesichts der vielen Traditionsstränge, die sich im Fest verbanden, schien es aus Sicht des Regimes und der Partei wichtig, einen religiös-christlichen Ursprung des Festes zu leugnen und ganz auf eine Art germanisch-heidnischen Maienbrauchtums zu verweisen. So veranstaltete die Eschweger Knabenschule am 24. Juni 1936, unmittelbar vor dem Johannisfest, einen Elternabend unter dem Motto »Unser Eschweger Maienfest, nordisch germanischen Ursprungs«. Das Maienfest, so hieß es dabei, das bisher Johannisfest genannt worden sei, gehe eigentliche auf »uraltes Brauchtum« zurück, »das im Laufe der Zeit verschüttet worden war«. Es sei eben nicht christlichen, sondern germanischen Ursprungs und müsse wieder zu seinen Wurzeln zurückgeführt werden. Nunmehr sollten wieder »zwei Schwertträger« »germanische Kurzschwerter« dem Zug vorantragen, und die 8. Klassen sollten mit »blumengeschmückten Vivat-hoch-Stäben« als »Sinnbild des Männlichen« auftreten.19 Diese germanische Umdeutung ließ sich letztlich nicht durchsetzen, der Name »Johannisfest« nicht mehr verdrängen. Das heißt aber nicht, dass sich die Stadt im Fest dem Nationalsozialismus entzog. Vielmehr nutzte die Stadt das Fest, um ihren Standort im neuen Reich zu dokumentieren und zu festigen. Sinnfällig drückte sich das in einer fast lapidaren Mitteilung im kommunalen Verwaltungsbericht von 1937 aus, indem die Stadt ihre neue Rolle und Bedeutung ansprach: »Die Entwicklung der Stadt Eschwege, insbesondere ihre Erhebung zur Flieger- und Infanteriegarnison [durch die Anlage von Flugplatz und Kaserne 1936] verpflichtet sie mehr als bisher zu Veranstaltungen repräsentativer Art. Die Stadtverwaltung nahm deshalb das Johannisfest als die größte und bedeutendste städtische Veranstaltung des Jahres zum Anlaß, um den Vertretern von Partei, Staat, Wehrmacht, Wirtschaft und Schulen ein einfaches Frühstück zu geben. Es fand nach Beendigung des Maienzuges in Verbindung mit einer festlichen Sitzung der Beigeordneten und Ratsherren im großen Sitzungssaal des Rathauses statt. Die im Jahre 1937 erstmals durchgeführte Veran18 Ebd. 19 StAE, Verwaltungsbericht 1936, S. 75.

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staltung soll von jetzt ab beibehalten werden und gleichzeitig als neues Brauchtum zum Johannisfest hinzukommen.«20

Besser konnte man kaum ausdrücken, wie sich die Stadt selbst durch ihre neu gewonnene Bedeutung in den Sog des Nationalsozialismus ziehen ließ und ihre eigenen Traditionen neu arrangierte. Zu den Widersprüchlichkeiten und Eigenartigkeiten der Spannung von Normalität und Ausnahme ebenso wie von Autonomie und Anpassung gehörte die Praxis des Johannisfestes im Krieg. Tatsächlich wurde es im Zweiten Weltkrieg, anders als im Ersten Weltkrieg, fortgeführt, wenn auch am Ende in reduzierter Form. Die Stadtführung um den Bürgermeister Beuermann wollte Normalität signalisieren, die Kommune als intakt und handlungsfähig präsentieren. Die Praktiken blieben erhalten, Botschaft und Funktion aber mussten sich verändern. Anlässlich des Johannisfestes 1941 beschwor Beuermann den militärischen Triumph des Reiches: »Das gebe der mächtige Lenker der Welten, der die Anstrengungen unseres Volkes belohnt und unsere Waffen so sichtbarlich gesegnet hat, der uns vor allem den Führer gab, der unser Volk wieder einig stark und frei gemacht hat.«21

»Eschwege bleibt dem alten Brauchtum treu«, hieß es im Bericht des Eschweger Tageblatts über das Johannisfest im Jahr 1943 zwar. Eingerahmt wurde der Bericht aber von Hinweisen, dass nun alle Kraft »heute dem einen großen Ziel unterstellt« sei: »den Sieg zu erringen«, und dass es um den »Endsieg« gehe, dem man »mit gläubigem Vertrauen« entgegensehen könne. Aber die »Lebensfreude« gehöre dazu, »denn sie bedingt ja, daß wir die seelische Kraft haben, um mit den Nöten des Alltags fertig zu werden«. Und die Birken seien »ein Symbol für die Fruchtbarkeit und eine belebende Zukunft unseres Volkes«. Geehrt wurden die Kriegstoten, gesungen wurden das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied, und Bürgermeister Beuermann hielt die Festansprache. Er hob hervor, wie wichtig »dieses uralte Fest der Volksverbundenheit« sei, das für »Leben und Heimat« stehe, und appellierte an die Zuhörer : »Je härter uns der Krieg anpackt, desto stärker soll unsere Kameradschaft sein«. Die dabei rituell propagierte Siegesgewissheit klang schon nicht mehr sehr überzeugt und überzeugend.22 Ein weiterer Artikel in derselben Zeitungsausgabe skizzierte noch einmal die Geschichte des Johannisfestes, das wie schon seit Jahrzehnten – nun allerdings mitten im Krieg – als »Fest der Freuden« bezeichnet wurde, und rief melancholisch die Festerlebnisse »aus unserer ruhigen und glücklichen Jugendzeit der 20 StAE, Verwaltungsbericht 1937, S. 11 f. 21 Heimatgrüße aus dem Kreis Eschwege. Hg. von der Kreisleitung der NSDAP, Juli 1941. 22 Alle Zitate aus dem Artikel »Das Johannisfest im vierten Kriegsjahre«, in: Eschweger Tageblatt, 3. 7. 1943.

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80er und 90er und der Jahre bis 1914« in Erinnerung.23 Wohl unbeabsichtigt deutete der Autor damit an, wo die Grenzen nationalsozialistischer Überformung der Kommune verliefen: bei den individuellen Erinnerungen, die anders als kollektive Traditionen nicht so einfach mit nationalsozialistischen Deutungen und Adaptionen verschmolzen werden konnten. Insofern zeigte sich gerade am Johannisfest auch der Eigensinn einer kommunalen Gemeinschaft. 1944 fand das Johannisfest erneut – und zum vorerst letzten Mal – statt, wenn auch beschränkt auf den Maienzug der Schüler am Samstag. Anschließend sangen »Jungen und Mädchen gemeinsam die alten Johannisfestlieder«, wiederum hielt der Bürgermeister eine Ansprache, und nach dem Singen von Deutschlandlied und Horst-Wessel-Lied zog eine Abordnung der FriedrichWilhelm-Schule zum »Heldenfriedhof«, um die gefallenen Mitschüler zu ehren.24 Der Aufruf vom 27. Juni, betitelt »Stimmt an mit hellem, hohem Klang«, beschwor das »Fest der Freude, das nun wieder erschienen ist«, und schwankte zwischen Melancholie und Optimismus im Blick auf den »5. Kriegsjohannisfesttag«: »Wir wollen den 5. Kriegsjohannisfesttag in der für das Leben unseres Volkes entscheidenden Zeit würdig begehen, unserer Ahnen würdig und uns selbst würdig. Wir wollen ihn begehen als Ausdruck des starken Glaubens an den Sieg des Lichtes und die Ewigkeit des Lebens und an die ungebrochene Kraft unseres Volkes, die zu uns spricht aus der Jugend, aus unseren Jungen und Mädeln.«25

Ausgelassene Feierstimmung kam nicht auf und sollte auch nicht vermittelt werden. Der Zeitungsbericht sprach davon, dass die Zuschauer »ernst und nur ab und zu einmal mit heiterem Winken einen frohen Jungen oder ein frisches Mädel grüßend an der Straße« gestanden hätten. Beuermann beschwor in seiner Rede die Kriegslage, den »erbitterten Kampf um die Existenz unseres Großdeutschen Reiches«, das »Ringen um Sein oder Nichtsein«, den »Kampf ums die Zukunft unseres Volkes, und er gab dem Glauben Ausdruck, »daß das Licht doch über die Finsternis siegen wird und daß der Sieg endlich doch uns gehören wird«. Als Kehrseite dieser in ihrer stereotypen Wiederholung fast verzweifelt wirkenden Siegeshoffnung hob Beuermann das Belebende des Festes hervor, die »frischen Maibäume in ihrer verschwenderischen Fülle« als »ein Zeichen und ein Gleichnis dafür, daß bei aller mörderischen Vernichtung, welche die Natur draußen ebenso wie der Krieg kennt, das Leben immer doch den Sieg davon trägt. Das Leben ist doch stärker als der Tod!« So setzte er, dann wieder ganz floskelhaft, auf »eine hoffnungsvolle, glaubensstarke Jugend […], welche die Vernichtung wieder überwindet und die Zukunft siegesgewiß in ihren Händen 23 »Zum Johannisfest«, in: Eschweger Tageblatt, 3. 7. 1943. 24 Eschweger Tageblatt, 30.6., 1. 7. 1944. 25 Eschweger Tageblatt, 27. 6. 1944.

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trägt«. Und zugleich wurde das Fest zum Ausdruck der Entgrenzung der kommunalen Gemeinschaft, die nun einerseits auch die Ahnen und die kommenden Generationen einschloss, andererseits diejenigen, die fern der Heimat waren. In der Symbolik des Weiterreichens der Maienbüsche von Generation zu Generation sah Beuermann das »Fortleben gesichert, das Leben unserer lieben Stadt und das Leben unseres deutschen Volkes«, und die Festgemeinschaft definierte er als gewissermaßen virtuelle: Er schloss »alle Eschweger [ein], die draußen kämpfen«.26 Ungeachtet aller Kriegsrhetorik signalisierte Beuermanns Rede schon einen gewissen Rückzug auf die kommunale Gemeinschaft und ihre Überlebens- und Beharrungskraft. Das hatte einen besonderen lokalen Hintergrund: Das Johannisfest als Fest der Schüler stand 1944 noch unter dem Eindruck der Nacht vom 3. Oktober 1943. Seit Anfang 1943 wurden Schüler für die Flugabwehr rekrutiert. Am 26. August 1943 wurden im Rahmen einer Elternversammlung an der Eschweger Friedrich-Wilhelm-Schule Einziehungsbescheide an die Schüler ausgehändigt. Es handelte sich um Schüler der Geburtsjahrgänge 1926 und 1927, sie waren also in der Regel 16 oder 17 Jahre alt. Die Schüler wurden nach Sandershausen bei Kassel gebracht und taten ihren Dienst in der Flakbatterie, die den Luftraum über Kassel sichern sollte. Am 3. Oktober 1943 wurde der Gefechtsstand getroffen, 23 Schüler der Friedrich-Wilhelm-Schule, davon 12 aus der Stadt Eschwege einschließlich dem 1936 eingemeindeten Niederhone, kamen ums Leben. Die Angehörigen wurden zwar informiert, die Öffentlichkeit in Eschwege erfuhr allerdings erst fünf Tage später durch eine relativ kurze Nachricht in der Zeitung davon: »Bei einem Terrorangriff auf Kassel in der Nacht vom Sonntag zum Montag haben auch 23 hoffnungsvolle Schüler der hiesigen Friedrich-Wilhelm-Schule den Heldentod für ihr geliebtes Vaterland gefunden. Wir werden sie morgen der Heimaterde übergeben.«27

Bei der Trauerfeier in Eschwege bestimmten Wehrmacht und Parteiorganisationen, vor allem die Hitlerjugend, das Bild. Die Reden variierten die Erzählung von Heldentum, Mut, Kameradschaft und Einsatz für Deutschland. Sie überhöhten den Tod der Jungen, wie auch das Eschweger Tageblatt im darauf folgenden Bericht, als Opfer im übertragenen, religiösen Sinn, als Opfer, das für Deutschland dargebracht sei und durch den »Sieg der deutschen Waffen über die brutalen Feinde, die auch diese jungen Menschen gemordet haben«, »seine letzte Erfüllung« finden werde: 26 Wiedergabe der Rede in: Eschweger Tageblatt, 1. 7. 1933. 27 Zitiert nach: Thorsten Wolf: Schule im Nationalsozialismus – am Beispiel eines Eschweger Gymnasiums. Staatsexamensarbeit Kassel 2000 (Ms.), S. 96. Zum gesamten Vorgang vgl. ebd. S. 57, 93 – 99.

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»Die, die in den frühen Gräbern schlummern, sind nicht tot, sie sind Kraft geworden für uns, sie sind hinausgetreten durch das eherne Tor des Schlachtentodes aus der Vergänglichkeit in die Unsterblichkeit. Sie sind den Quellen der Gottheit näher als wir. Immer wird der, der reinen Herzens zu ihren Gräbern kommt, ihre Stimme hören, die zu uns spricht: ›Wir wollen, daß Deutschland lebt!‹ Die Gottheit schmiedet die Herzen der Menschen in Not und Schmerz, und beides haben wir in den Schicksalstagen der Gegenwart gemeinsam zu tragen. So beugen wir uns vor dem Leide der Mütter und Väter, deren Söhne in den frühen Gräbern unseres Ehrenfriedhofes schlummern. Sie gaben das Höchste, was Menschen geben können, für uns.«28

1945 und 1946 konnte das Johannisfest nicht stattfinden. Seit 1947 durfte zwar wieder gefeiert werden, allerdings in kleinerem Rahmen; Marschmusik hatte die amerikanische Besatzungsmacht verboten, weil sie »als Militärmusik angesehen wurde«, wie der Verwaltungsbericht der Stadt mit merklichem Unverständnis feststellte. Dass die Besatzungsmacht dem Anschein nach nicht zwischen bürgerlicher Tradition und nationalsozialistischer Indienstnahme unterschied, sondern dem Bürgertum geradezu Mitverantwortung am NS-Regime unterstellte, war den Stadtverantwortlichen aus der Rückschau völlig unverständlich. Die Zeit von 1945 bis 1950 stellte die Stadt in ihrem Verwaltungsbericht vielmehr als mühsame Rückkehr zu Ordnung und Normalität dar, die durch Kriegsende und Besatzungszeit unterbrochen worden sei. Die Wiederbelebung des Johannisfestes gehörte dazu. 1948 entfielen die Einschränkungen, und 1949 wurde das Johannisfest mit der 700-Jahrfeier der Stadtrechtsverleihung verbunden; am Festzug nahmen nun schon wieder 4.800 Kinder teil.29 Gerade über die neuen Aktivitäten zur Pflege der lokalen Geschichte und Tradition berichtete man 1950. Der Dietemann am Schlossturm wurde wieder in Funktion gesetzt – allerdings musste der Stundenton nun statt durch den Blasebalg, der beschädigt worden war, durch eine Autohupe erzeugt werden. Seitdem wurde und wird das Fest wieder regelmäßig im Sommer mit großem Aufwand gefeiert. Es verbindet Junge und Alte, zieht Ehemalige und Neubürger gleichermaßen an und scheint für eine unvordenkliche, stabile, integrierende und apolitische Ordnung zu stehen. Tatsächlich war es – gerade weil es sich beständig wandelte, die Zeitläufte spiegelte und sich mit ihnen arrangierte – Ausdruck kommunaler Tradition und Integrationsfähigkeit zugleich. Es suggerierte Stabilität, weil es den Wandel, die Anpassung an Neues, möglich machte. Es suggerierte kommunale Autonomie, weil es – wie jedes Fest – Grauzonen und Ambivalenzen bestehen ließ. Und es suggerierte nicht zuletzt, dass auch der Nationalsozialismus kommunaler Identität nichts anzuhaben vermochte. Mehr als im Nachhinein bewusst ist, trug es dadurch allerdings dazu bei, dass der 28 Zitiert nach: Wolff, Schule, S. 98. 29 StAE, Verwaltungsbericht 1945 bis 1949, S. 181.

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Nationalsozialismus möglich wurde. Der Ausschluss jüdischer Kinder vom Fest schon 1933, der reibungslos und fast ohne öffentliche Aufmerksamkeit vollzogen wurde, macht deutlich, wie wenig das Johannisfest seiner Tradition verpflichtet, wie sehr es dagegen in seine Zeit eingebunden war. In den fortwährenden kommunalen Bemühungen um städtische Traditionspflege und angesichts der beständigen Beschwörungen städtischer Identität konnte und kann das leicht übersehen werden.

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Hessen in der Ära Zinn: Integrationspolitik und Landesplanung

Bei den Landtagswahlen am 19. November 1950 errang die SPD erstmals die absolute Mehrheit der Sitze im Landtag und nominierte Georg August Zinn zum Ministerpräsidenten. Damit begann eine neue Epoche in der Geschichte des Landes Hessen. So unterschied sich die politische, soziale und wirtschaftliche Lage, in der sich Hessen zu diesem Zeitpunkt befand, deutlich von der Situation vier Jahre zuvor, als der erste frei gewählte Hessische Landtag und die erste demokratisch legitimierte Regierung ihre Arbeit aufnahmen. »Damals stand das Land«, wie Zinn in seiner Regierungserklärung vom 10. Januar 1951 hervorhob, »noch ganz unter dem Eindruck des in unserer Geschichte beispiellosen materiellen und geistigen Zusammenbruchs des Jahres 1945«.1 Neben der Linderung der drückenden Not, dem Wiederaufbau der ruinierten Wirtschaft sowie der Unterbringung der Flüchtlinge und Vertriebenen zählte nicht zuletzt der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats zu den drängendsten Aufgaben der Landespolitik. Um der katastrophalen Lage Herr zu werden, hatten sich die großen Parteien trotz aller Meinungs- und Interessenunterschiede schon 1946 bei den Verfassungsberatungen zur Zusammenarbeit durchgerungen und gemeinsam die Verfassung auf den Weg gebracht. Nach der Wahl zum ersten Landtag stellten Sozialdemokraten und Christdemokraten ihre politischen Differenzen ein weiteres Mal zurück, bildeten unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Christian Stock und seinem christdemokratischen Stellvertreter Werner Hilpert eine Koalitionsregierung, suchten nach Mitteln und Wegen, um mit vereinten Kräften das Land aus dem Elend der unmittelbaren Nachkriegszeit herauszuführen und die parlamentarische Demokratie zu stabilisieren.2 Als vier Jahre später Ministerpräsident Zinn die Regierung übernahm, boten sich der Landespolitik bessere Perspektiven. Erstens war die Versorgungsnot, 1 Regierungserklärung: Landtagsdrucksachen II. WP, Regierungserklärung vom 10. Januar 1951, S. 17 – 27. 2 Vgl. Walter Mühlhausen, Hessen 1945 – 1950. Zur politischen Geschichte eines Landes in der Besatzungszeit, Frankfurt am Main 1985.

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die 1946/47 ihren absoluten Höhepunkt erreicht hatte, im Großen und Ganzen überwunden. Nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948 standen Lebensmittel, Heizmaterial und Kleidung bald wieder ausreichend zur Verfügung, konnte die Zwangsbewirtschaftung sukzessive aufgehoben werden. Manche Schwierigkeiten wie die Wohnraumnot ließen sich freilich nicht innerhalb weniger Jahre beheben. Zweitens befand sich die hessische Industrie wieder im Aufwind. Hatten Kriegszerstörungen, Demontagen, Rohstoffmangel und Absatzschwierigkeiten die Produktion zunächst fast vollständig zum Erliegen gebracht, setzte 1948 ein Gesundungs- und Kräftigungsprozess ein. In den 1950er Jahren gewann die Aufwärtsentwicklung weiter an Fahrt. Es begann die Zeit des »Wirtschaftswunders«, das während der gesamten Ära Zinn ungebrochen anhielt. Anfangs bestand allerdings noch die hohe Arbeitslosigkeit der Krisenjahre fort, am stärksten in den landwirtschaftlich geprägten Zonenrandgebieten. Drittens hatte sich unter der Regierung Stock/Hilpert der demokratische Verfassungsstaat konsolidiert. Schon damals konnte der institutionelle Ausbau des Verfassungswerkes im Wesentlichen abgeschlossen sowie der Großteil der Verfassungsregeln über die sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Pflichten umgesetzt werden, bevor sich mit der Gründung der Bundesrepublik die verfassungsrechtliche und politische Lage grundlegend veränderte. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes gingen nach Artikel 31 (Bundesrecht bricht Landesrecht) wichtige gesetzgeberische Kompetenzen an den Bund über. Im Zusammenhang damit verschoben sich die politischen Kräfteverhältnisse. Schon als mit dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rats die Weststaatsgründung Gestalt annahm und zu erkennen war, dass künftig der Bund und nicht mehr die Länder über die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung bestimmen würde, zeichnete sich der Niedergang der SPD-CDU-Koalition in Hessen ab. Gegenüber der Landtagswahl vom Dezember 1946 gingen die Stimmenanteile der Koalitionsparteien zurück, zuerst bei den Kommunalwahlen von April 1948, dann bei der ersten Bundestagswahl vom August 1949. Trotz der heftigen gegenseitigen Anfeindungen im Wahlkampf setzten SPD und CDU ihre Zusammenarbeit auf Landesebene fort. In beiden Parteien gab es sogar Bestrebungen, nach dem »Modell Hessen« auch in Bonn eine Große Koalition zu bilden. Aber nicht sie setzten sich durch, sondern die Befürworter einer bürgerlichen Koalition von CDU/CSU, FDP und DP. Nach dieser Entscheidung geriet das Wiesbadener Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten zunehmend unter Druck. Kritik aus dem Bund kam sowohl von der regierenden CDU auch als von der oppositionellen SPD. Damit erhöhten sich die ohnehin bestehenden Spannungen im hessischen Regierungslager. Die Landtagswahlen von 1950 besiegelten das Ende der SPD-CDU-Koalitionsregierung und leiteten die Bildung der SPD-Alleinregierung unter Ministerpräsident Zinn ein. »Es begann damit jene zwanzigjährige ungewöhnliche Asymmetrie in der hessi-

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schen Parteien- und Machtkonstellation, die ihre genau umgekehrte Entsprechung auf Bundesebene durch ein zeitlich gleiches Übergewicht der bürgerlichen Parteien unter der Führung von CDU/CSU fand.«3 »Heute stehen wir vor einem neuen Anfang.«4 Mit diesen Worten bekundete Ministerpräsident Zinn seine Entschlossenheit, die im Vergleich zu früher günstige sozioökonomische Ausgangslage und die eindeutigen Mehrheitsverhältnisse zum konsequenten Ausbau der sozialen Demokratie in Hessen zu nutzen. Er wollte das Land in einen sozialdemokratischen Musterstaat verwandeln, einen Gegenpol zum christdemokratisch geführten Bund schaffen. Zinn war sich bewusst, dass er, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, eine Menge Aufklärungsarbeit leisten musste. Denn weite Teile der Bevölkerung standen seinen sozialdemokratischen Vorstellungen mit Skepsis gegenüber. Vor allem in konservativen, kirchlichen und ländlichen Kreisen bestand gegenüber der Sozialdemokratie ein tief verankertes Misstrauen. Die Angst vor dem roten Schreckgespenst, das die Urheber des Sozialistengesetzes schon zur Bismarckzeit an die Wand gemalt hatten, war noch immer lebendig. Aus der Sozialistenfurcht ließ sich, zumal in den Jahren des Kalten Krieges und eines weit verbreiteten diffusen Antikommunismus, politisches Kapital schlagen. Nicht wenige Politiker und Publizisten machten von dieser Gelegenheit Gebrauch. »Gar manche dem Lande nicht wohlgesinnte Propaganda hat bei ängstlichen Gemütern ein Gruseln zu erwecken versucht. In den Köpfen mancher Kleinbürger spuken noch die Karikaturen von Sozialdemokraten aus den Witzblättern um die Jahrhundertwende.«5 Um derartigen Missverständnissen und Vorurteilen entgegenzuwirken, schickte Zinn in seiner Regierungserklärung den konkreten Punkten des Reformprogramms einige »mehr allgemeine und grundsätzliche Bemerkungen« voraus.6 Darin wird klargestellt, dass die hessische SPD-Regierung sich längst gelöst hatte von den veralteten sozialdemokratischen Vorstellungen, Dogmen und Lehren, »die nur aus ihrer Zeit verständlich sind«. Auch lehnte sie den »Sozialismus in der utopischen Form der reinen Verstaatlichung« entschieden ab und vertrat im Gegensatz zum Kommunismus des Ostblocks einen undogmatischen und reformerischen Sozialismus, »der die freie schöpferische Initiative des einzelnen, das selbständiges Handeln nicht nur nicht hindern will, sondern geradezu zur Voraussetzung hat«. Zinn ging noch einen Schritt weiter und erklärte, dass die Sozialdemokraten in Hessen »über die enge Vorstellung eines 3 4 5 6

Herbert Lilge. Hessen in Geschichte und Gegenwart, Wiesbaden 1980, S. 23. Wie Anm. 1. Wie Anm. 1. Wie Anm. 1. Zur Reformkonzeption Zinns vgl. Erwin Stein, Politische und verfassungsrechtliche Grundsätze in den Regierungserklärungen von Georg August Zinn, in: Ders. (Hg.), 30 Jahre Hessische Verfassung, Wiesbaden 1976, S. 80 – 100.

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Sozialismus, der nur eine andere Verteilung des Sozialprodukts erstrebt, die Auffassung von einem Sozialismus der produktiven Arbeit stellen. Ihm dient der Handarbeiter, auf dessen fachliche und menschliche Qualitäten wir stolz sein können, zugleich aber jeder, der von dem gleichen Arbeitsethos beseelt ist: der Landmann, der Wirtschaftler und Handwerker, der Techniker und Chemiker, der Wissenschaftler und Erzieher, kurz jeder, der seine ganze Kraft für den Aufbau eines neuen sozialen Landes einsetzte.«7 Mit dieser Öffnung der Sozialdemokratie zur politischen Mitte eilte Zinn der programmatischen Entwicklung der SPD voraus und nahm bereits wichtige Punkte des Godesberger Grundsatzprogramms von 1959 vorweg.8 Nichts erschien ihm wichtiger als das Streben nach sozialer Integration, das seine Reden und Handlungen während der gesamten zwanzigjährigen Regierungszeit durchzog. Neben dem Bemühen, allen Gruppen der Gesellschaft gerecht zu werden und sozialen Benachteiligungen entgegenzuwirken, bildete der Ausgleich zwischen den wirtschafts- und strukturstarken Ballungsgebieten im Süden und den ärmeren strukturschwächeren Landesteilen im Norden und Osten, besonders im Zonenrandgebiet, das zentrale Anliegen aller Regierungen unter Zinn. Mit der integrationspolitischen Zielvorstellung verband sich ein ausgeprägtes pragmatisches Politikverständnis: »Wir beabsichtigen keine Experimente. Wir sind weder Dogmatiker noch Utopisten. Die Politik der Regierung wird maßvoll sein. Sie wird sich Ziele setzen, die bei ernstem Wollen und einigermaßen günstigen Umständen erreichbar sind.« Und sie ist gewillt, die ihr gestellten Aufgaben »mit aller erdenklichen Tatkraft und Entschlossenheit in Angriff zu nehmen und gegen alle Widerstände mit Festigkeit durchzuführen«.9 Wie dies im Einzelnen geschehen sollte, legte Zinn in seiner Regierungserklärung vom 10. Januar 1951 dar. Einen breiten Raum nahm die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen ein. Zinn machte sich die kurz zuvor im hessischen Innenministerium entwickelten »Grundgedanken des Hessenplans« zu Eigen und erhob sie zu einem zentralen Programmpunkt der künftigen Landespolitik .10 Dieses zukunftsweisende Konzept verband flüchtlings- und integrationspolitische mit gesamtwirtschaftlichen und landesplanerischen Zielsetzungen. Es war vorgesehen, die »Neubürger« in die Städte zu bringen und 7 Wie Anm. 1. 8 Vgl. Kurtz Klotzbach: Die Programmdiskussion in der deutschen Sozialdemokratie 1945 – 1959, in: Archiv für Sozialgeschichte, 1976/XVI, S. 469 – 483; Michael Müller, Die hessische SPD als Regierungspartei in der Ära Zinn, in: Hessen. 60 Jahre Demokratie, hg. von Helmut Berding und Klaus Eiler, Wiesbaden 2006, S. 91 – 123; Markus Wedel, Die hessische SPD 1950 – 1959. Eine Volkspartei im Werden, Wiesbaden 2012. 9 Wie Anm. 1. 10 Abgedruckt in: Rolf Messerschmidt, Aufnahme und Integration der Vertriebenen und Flüchtlingen in Hessen 1945 – 1950, Wiesbaden 1994, S. 324 – 328.

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dort mit Wohnungen zu versorgen. Gleichzeitig sollte in den strukturschwachen Gebieten Industrie angesiedelt werden, um für Flüchtlinge und Vertriebene Arbeitsplätze zu schaffen. Mit diesem Doppelprogramm schoss der Hessenplan von Anfang an über seine ursprüngliche Zielsetzung der Flüchtlingshilfe hinaus: »Es ist leicht vorauszusehen, dass es nicht bei einem Hessenplan für die Vertriebenen allein verbleiben kann. Das Prinzip der sozialen Integration, das dieser Aktion zugrunde liegt, hat für die Gesamtwirtschaft und für die Gesamtbevölkerung größte Bedeutung. Wir können nicht dem einen Pendler den Weg zur Arbeitsstätte verkürzen, weil er Flüchtling ist, und den anderen Pendler ausschalten, weil er Altbürger oder Evakuierter ist, sondern wir müssen Arbeitseinsatz und Wohnraumbeschaffung so abstimmen, dass es für alle erträglich ist.«11 Die von diesem Leitgedanken geprägte Integrationspolitik verzeichnete beachtliche Erfolge. Für den Hessenplan waren in den drei Jahren zwischen April 1951 und April 1954 32 Millionen DM Landesmittel verwendet worden. Hinzu kamen weitere Gelder aus Sonderprogrammen des Landes und des Bundes. Ein Teil dieser Mittel ging in die Förderung von Klein- und Mittelbetrieben, namentlich in den Notstandsgebieten. Zu diesem Zweck wurden 1 960 Existenzaufbauhilfen und 154 Kleinkredite gewährt.12 Bis 1960 entstanden 14 000 Flüchtlingsbetriebe mit fast 90 000 Dauerarbeitsplätzen. Daneben wurden Hessenplan-Mittel zur Schaffung industrieller Arbeitsplätze eingesetzt; es konnten mehr als 7 800 Arbeitsplätze neu errichtet und 4 000 gefährdete Stellen gesichert werden.13 Sodann entstanden zur Unterbringung der umgesiedelten Flüchtlinge und Vertriebenen im Rahmen der zentralen Bauprogramme des Hessenplanes 35 500 Wohnungen (einschließlich des Baujahres 1954). Dabei bildeten sich zum Beispiel in Darmstadt, Frankfurt und Offenbach neue Stadtteile heraus, die vornehmlich Heimatvertriebene und Umsiedler beherbergten. Auch schossen sogenannte Wohnsiedlungen aus dem Boden, etwa in Allendorf, Bad Vilbel und Trutzhain.14 Diese Erfolge der Integrationspolitik wären nicht möglich gewesen ohne die wirtschaftliche Hochkonjunktur, die in den fünfziger Jahren die gesamte westliche Welt erfasste, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, wo das »Wirtschaftswunder« die höchsten Wachstumsraten erzielte, so dass die leid11 Wie Anm. 1; Zur Integration allgemein vgl. Bernd. Schneider, Die Integrationspolitik der Hessischen Landesregierungen unter Ministerpräsident Georg-August Zinn, o. O. 1995. 12 Insbesondere in der Glas-, Textil- und Musikinstrumentenindustrie sowie in der Bekleidungsherstellung konnten sich Flüchtlingsbetriebe etablieren. Vgl. Schneider, S. 98 f. 13 »Unsere Aufgabe heißt Hessen«. Georg August Zinn Ministerpräsident 1950 – 1969. Katalog zur Ausstellung des Hessischen Hauptstaatsarchivs im Auftrag der Hessischen Landesregierung, Wiesbaden 2001, S. 48. 14 Schneider, S. 90.

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vollen Jahre nach dem Zusammenbruch von 1945 rasch in Vergessenheit gerieten. In Hessen, auf vielfältige Weise mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Bonner Republik verbunden, übertraf das Wachstum den bundesdeutschen Durchschnitt, da hier mit der Automobilindustrie, der Chemischen Industrie, der Elektroindustrie und dem Maschinenbau die wichtigsten westdeutschen Wachstumsindustrien gut vertreten waren. Mit dem rasanten Aufschwung verschoben sich die Gewichte zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren. Die Landwirtschaft verlor an Bedeutung, Gewerbe und Industrie erhöhten ihren Anteil, und noch mehr nahmen die Dienstleistungen zu: Handel und Verkehr, Banken und Versicherungen. Das blieb nicht ohne Folgen für die Verteilung der Einkommensverhältnisse und für die Entwicklung der Wirtschaftsregionen. In den Zentren von Industrie und Dienstleistungen, hauptsächlich im Rhein-Main-Gebiet und Südhessen, wuchsen die Zahl der Beschäftigten und die Höhe des Einkommens beträchtlich. Demgegenüber war das flache Land besonders im Norden und Osten entlang der Zonengrenze vom Abzug der Bevölkerung bedroht.15 Diese Entwicklung lief der von Zinn stets propagierten Politik der sozialen Verantwortung zuwider. Es war mit seinen politischen Grundsätzen nicht vereinbar, benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Regionen sich selbst zu überlassen, vielmehr war sie verpflichtet, »das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gefälle zwischen den einzelnen Landesteilen oder zwischen Stadt und Land zu mildern und auszugleichen«.16 Diesem Ziel diente die schon im Hessenplan angekündigte Politik der staatlichen Wirtschaftsförderung und Industrieansiedlung in den ländlichen Regionen. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre waren es in erster Linie mittelständische Flüchtlingsbetriebe der Glasindustrie, Textilindustrie und Bekleidungsindustrie, die staatliche Fördermaßnahmen (Beihilfen, Kredite, Ausfallbürgschaften usw.) in Anspruch nahmen und sich mit dieser Hilfe in den strukturschwachen Landesteilen niederließen, vor allem in Nord- und Osthessen. In den folgenden Jahren verlagerte sich der Akzent auf die Ansiedlung von Filialbetrieben großer Konzerne. So errichteten das Volkswagenwerk ein großes Zweigwerk in Baunatal bei Kassel, die Stahlwerke Südwestfalen Betriebe im Dillenburger Raum und die Farbwerke Höchst ein Chemiefaserwerk in Bad Hersfeld. Auch die Subventionierung des Kalibergbaus im Werra-Fulda-Gebiet war Teil dieser Infrastrukturpolitik der hessischen Landesregierung.17 Doch begnügte sich die hessische Regierung nicht damit, in den vom wirt15 Gerd Hardach, Hessische Wirtschaft im Wandel 1945 – 2005, in: Hessen. 60 Jahre Demokratie (wie Anm. 8), S. 191 – 219. 16 Regierungserklärung des Hessischen Ministerpräsidenten Dr. Zinn, 30. Januar 1963, in: Hessischer Landtag. Landtagsdrucksachen V. Wahlperiode, Abt. III, , S. 15 – 27., hier S. 16. 17 Vgl. Schneider, S. 93 ff.; Müller, S. 101 f.

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schaftlichen Aufschwung benachteiligten Gebieten Industrie anzusiedeln. Ihre Ziele waren höher gesteckt gemäß der von Zinn verkündeten Devise: »Das Leben auf dem Lande muss lebenswert gemacht werden, auch für den Bauer und die Bäuerin und für deren Kinder. Nur so können wir die moderne Zivilisationskrankheit, die Landflucht, bekämpfen.«18 Von dieser Idee geleitet, legte die Regierung ein Programm zur »sozialen Aufrüstung des Dorfes« vor. Im Mittelpunkt stand der Bau von Dorfgemeinschaftshäusern, die arbeitserleichternd und gemeinschaftsbildend wirken sollten. Sie wurden ausgestattet mit Tiefkühlanlagen und Waschküchen, Fernseh- und Radioräumen, Volksbüchereien und Badeanlagen. Nachdem der Landtag am 3. April 195219 das Vorhaben einstimmig bewilligt hatte, schritt der Bau von Gemeinschaftshäusern rasch voran: 1960 waren es schon 150, 1988 beim Auslaufen des Programms 1 500 Häuser. Die »Soziale Aufrüstung des Dorfes« fand weit über Deutschland hinaus erhebliche Beachtung und erhöhte in einem nicht geringen Maße das Prestige der hessischen Regierung.20 Ebenfalls erfolgreich, wenn auch weniger spektakulär, verlief die »technische Aufrüstung des Dorfes«. Dieses zweite große Erneuerungsprogramm, das speziell auf den ländlichen Raum zugeschnitten war, trat am 1. April 1956 in Kraft und leistete einen wichtigen Beitrag zur Mechanisierung der Landwirtschaft. Hierzu zählte die Gründung von überbetrieblichen Landmaschinenhöfen. Ende 1961 bestanden bereits 4 750 solcher ländlichen Maschinen-Gemeinschaften; fünf Jahre später erhöhte sich die Anzahl auf 6 560. Die Gründung der Landmaschinenhöfe, wie auch die Schaffung von Aussiedlerhöfen, veränderten das Leben auf dem Lande nachhaltig. Ähnliches gilt für die diversen Infrastrukturmaßnahmen – angefangen von Bodenreform und Flurbereinigung über Wege- und Wasserbau bis hin zur Förderung des Fremdenverkehrs und der Verbesserung des ländlichen Schulwesens.21 In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre weitete die hessische Regierung die »Politik der sozialen Verantwortung« ständig aus.22 Das wirtschaftliche 18 Wie Anm. 1. 19 Landtagsdrucksachen, II. WP, 27. Sitzung; »Antrag der Fraktion der SPD betreffend Bereitstellung eines Förderbetrages von 1,5 Mill. DM im Etatjahr 1952/53 für die soziale Aufrüstung des Dorfes.« Zu Beginn der Debatte kritisierte der FDP-Abgeordnete Ernst Landgrebe den allzu militaristisch klingenden Ausdruck »Aufrüstung« im Programm-Titel, ohne jedoch etwas zu bewirken. 20 Näheres über die internationale Resonanz und das hohe Ansehen, das die soziale Aufrüstung des Dorfs in Deutschland genoss, bei Thomas Fuchs, »Soziale Aufrüstung des Dorfes«. Über das Dorfgemeinschaftshausprogramm der Regierung Zinn, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 2002/52, S. 181 – 199 , hier S. 139. 21 Schneider, S. 121 f. 22 Zinn bekräftigte in seiner Regierungserklärung vom 28. Januar 1959, dass er die in den Regierungserklärungen vom 10. Januar 1951 und 19. Januar 1955 propagierte »Politik der

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Wachstum, das zu steigenden Staatseinnahmen führte, schuf die notwendigen Voraussetzungen für den Ausbau der sozialen Leistungen.23 Es handelte sich, erstens, um den in der Regierungserklärung vom 1955 angekündigten und am 4. März 1958 beschlossenen Hessen-Jugendplan.24 Er zielte darauf ab, die Jugendfreizeit, Jugendsozialarbeit und Müttererholung zu verbessern, die Errichtung von Kindertagesstätten zu fördern, berufslose Jugendliche zu betreuen, erziehungsgefährdete Kinder und junge Menschen einzugliedern. Um die Durchführung der Beschlüsse zu garantieren, arbeitete die Landesregierung besondere fachliche Teilpläne sowie ständig fortgeschriebene Jahresförderprogramme aus. Allein bis 1966 entstanden 1 400 Kinderspielplätze, 89 000 Plätze in Kindertagesstätten und 1 570 Jugendheime, Häuser der Offenen Tür, Jugendherbergen und Wanderheime.25 Ähnlich aufwändig war, zweitens, der hessische Sozialplan für alte Menschen aus dem Jahre 1959. Ziel war ein »schöner Lebensabend« auch für diejenigen, die nicht in einer Familie betreut werden konnten. Für sie sah das Programm den Bau zeitgemäßer Altenwohnheime und Altenpflegeheime sowie die Modernisierung bestehender Einrichtungen vor. Innerhalb von zehn Jahren wurden 15 500 neue Altersheimplätze geschaffen, sodann Einrichtungen der offenen Altenhilfe wie »Essen auf Rädern« ins Leben gerufen, Vorlese- und Einkaufsdienste organisiert, Altenklubs und altengerechte Wohnungen unterstützt.26 Große Beachtung fand, drittens, das Rot-WeißeSportförderungsprogramm, das bereits in der Regierungserklärung vom 28. Januar 195927 angekündigt worden war und 1961 anlief. Das in enger Kooperation mit der Deutschen Olympischen Gesellschaft erarbeitete Programm beschritt mit der Finanzierung von Sportplätzen, Turnhallen und Schwimmbädern sowie mit der Ausbildung und Beschäftigung von Vereinsübungsleitern neue Wege der Sportförderung. Hessen war nicht nur das erste Bundesland, das auf diese Weise Verantwortung für den Sport übernahm.28 Es schritt auch am

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sozialen Verantwortung« konsequent fortsetzen werde. »Für uns ist der Einzelmensch Glied einer Gemeinschaft, die sich für ihn und der er sich verantwortlich fühlt. Wir wollen dem Menschen das Gefühl der Verlassenheit und Vereinsamung in der modernen Massengesellschaft nehmen. […] Im Mittelpunkt aller unserer Bemühungen steht immer der Mensch und sein Wohlergehen, der Mann an der Werkbank, am Schreibtisch, am Pflug, der Mensch in seiner Not, die Jugend, das Alter.« Landtagsdrucksachen IV. WP, 3. Sitzung vom 28. Januar 1959. Hardach, S. 200. Landtagsdrucksache III, 3. WP, 3. Sitzung vom 19. Januar 1955. Schneider, S. 142 f; Müller, S. 107; »Unsere Aufgabe heißt Hessen«, S. 62. Schneider, S. 144; der hessische Sozialplan für alte Menschen war eng verknüpft mit dem Landesgesundheitsplan, Schneider, S. 145 f. Landtagsdrucksachen IV. WP., 3. Sitzung vom 28. Januar 1959. »Das war der Modellfall für alle Länder der Bundesrepublik.« Minister Schneider in der Landtagsdebatte vom 14. 2. 1962 über das Sportförderungsprogramm. Siehe Landtagsdrucksachen IV. WP, S. 2047 – 2060.

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konsequentesten bei der Durchführung der Maßnahmen voran und erhöhte von Jahr zu Jahr seine Förderungsbeiträge.29 In der Öffentlichkeit weckte das populäre Programm hohe Erwartungen, die sich später zum größten Teil erfüllen sollten. Bis 1970 wurden über 900 Turnhallen, mehr als 1.500 Sportplätze, 50 Hallen- und 136 Freibäder errichtet.30 Die genannten Förderprogramme lassen erkennen, dass sich die hessische Landesregierung tatkräftig um Verbesserungen im Sozialbereich bemühte. Doch waren die einzelnen Pläne nicht genügend aufeinander abgestimmt, so dass die Hilfsmaßnahmen manchmal lückenhaft waren oder sich überschnitten. Um solche Mängel zu vermeiden, hätte es eines umfassenden Planungsinstrumentariums bedurft. Darum war die Regierung seit der Vorlage des Hessenplans bemüht. So legte im Jahre 1954 das in der Staatskanzlei angesiedelte Landesplanungsamt die vorläufigen Richtlinien für die Aufstellung von räumlichen Entwicklungsplänen vor.31 Drei Jahre später – das Landesplanungsamt war inzwischen dem Innenministerium unterstellt worden – wurde der Vorläufige Raumordnungsplan für das Land Hessen präsentiert.32. Starke Impulse gingen von ihm allerdings nicht aus, obwohl er in planungskonzeptioneller und -technischer Hinsicht erhebliche Innovationen aufwies.33 Um dem Vorläufigen Raumordnungsplan größere Wirksamkeit zu verschaffen, kündigte Zinn in seiner Regierungserklärung vom 28. Januar 1959 an, den vorläufigen in einen endgültigen Raumordnungsplan zu überführen. »Die grundlegenden Strukturuntersuchungen sollen auf alle Stadt- und Landkreise ausgedehnt werden. Die Koordinierung der Ergebnisse dieser Untersuchungen und die Einordnung der vielfältigen Fachplanungen, die unter anderem den Ausbau des Verkehrsnetzes zur besseren Erschließung der förderungsbedürftigen Landesteile, die Ansiedlung und Erweiterung von Industrien, den Ausbau der Energieversorgung und die Entwicklung des Fremdenverkehrs vorsehen, werden den Landesentwicklungsplan als einen das ganze Land umfassenden Plan kennzeichnen, der, ohne der Entwicklung Zwang antun zu wollen, richtungsweisend für die auf ein Jahrzehnt berechneten Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur sein soll.«34 Zwei Jahre später konnte der Entwurf eines 29 Wie Anm. 28; vgl. ferner Schneider, S. 143 f. 30 »Unsere Aufgabe heißt Hessen«, S. 62. 31 Der Hessische Ministerpräsident – Landesplanung –, Vorläufige Richtlinien für die Aufstellung von räumlichen Entwicklungsplänen, in: Karl Wittrock, Raumordnung, Raumplanung und Raumpolitik, Wiesbaden 1958, S. 48 ff. 32 Der Hessische Minister des Innern – Landesplanung –, Vorläufiger Raumordnungsplan für das Land Hessen, 7 Hefte, Wiesbaden 1957. 33 G. Bovermann, Landesentwicklungsplanung in Hessen, in: 30 Jahre Hessische Verfassung (wie Anm. 6), S. 341; Schiller, Die hessische Landes- und Regionalplanung und ihre Grenzen, in: 40 Jahre Hessische Verfassung, S. 119 – 134, hier S. 122. 34 Landtagsdrucksachen IV. WP, Landtagsdebatte vom 28. Januar 1959.

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umfassenden Landesplanungsgesetzes vorgelegt werden, das die Raumordnungsplanung neu konzipierte, Landes- und Regionalplanungsbeiräte einsetzte, die Aufnahme der Fachplanungen in die regionalen Raumordnungspläne bestimmte, kurzum: das Instrumentarium für die Raumordnung und Raumplanung erheblich ausbaute und verfeinerte. Nachdem der Landtag am 31. Januar 1962 den Entwurf in Erster Lesung beraten hatte35, wurde das Gesetz am 4. Juli desselben Jahres verabschiedet.36 Wie Hessen erweiterte auch der Bund sein Planungspotenzial. So folgte dem Bundesbaugesetz von 1962 das Bundesraumordnungsgesetz von 1965. Daran schlossen sich zwischen 1965 und 1969 weitere planungspolitische Entscheidungen zugunsten einer Ausgestaltung der wirtschafts- und finanzpolitischen Globalsteuerung an. »Hessen hat auf solche bundesweiten Entwicklungen zweifellos nicht nur reagiert, sondern seine eigenen planungspolitischen Überlegungen als aktiven Impuls in diesen Prozess eingebracht, doch hat die hessische Planungspolitik von dieser in den 1960er Jahren stark ausgeprägten Gesamttendenz auch einigen Rückenwind erhalten«.37 Das machte sich bemerkbar, als der hessische Ministerpräsident einen weiteren Anlauf unternahm, um die bisher noch nebeneinander bestehenden Programme zur Förderung strukturschwacher ländlicher Regionen, die unterschiedlichen Sozialpläne sowie die Raumordnungspläne und das Landesplanungsgesetz in einer gesamtplanerischen Konzeption miteinander zu verbinden. Hierzu diente der in Fortsetzung des »kleinen« Hessenplans entwickelte sogenannte Große Hessenplan, den Zinn 1965 vorlegte. In der Begründung wies der Ministerpräsident auf die Bedeutung des neuen Plans für eine vorausschauende Politik hin: »In einer Zeit großräumiger und langfristiger Planungen auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet muss auch die Politik großräumiger und langfristiger werden, um die Aufgaben der Zukunft schneller und besser durchführen zu können.«38 Der Plan sollte die Zielvorstellungen und Investitionsvorhaben aus den Bereichen der Kultur-, Sozial-, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik für zehn Jahre zusammenfassen, um in allen hessischen Regionen und für alle hessischen Bürger gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen. So war daran gedacht, durch antizyklische Konjunkturpolitik den Schwankungen des Wirtschaftsverlaufs entgegenzuwirken und »den nachteiligen Folgen [zu] begegnen, die neben dem unaufhaltsamen Fortschritt die Kehrseite der stürmischen technischen und wirtschaftlichen Entwicklung unseres Zeitalters sind.«39 35 36 37 38

Landtagsdrucksachen IV. WP, Landtagsdebatte vom 31. Januar 1962. GVBl 20, S. 311 – 313. Schiller, S. 121 f. Der Große Hessenplan. Ein neuer Weg in die Zukunft, hg. vom Hessischen Ministerpräsidenten (=Schriften zum Großen Hessenplan, Heft 1), Wiesbaden 1965, S. 5. 39 Landtagsdrucksachen V. WP, Regierungserklärung vom 30. Januar 1963, S. 15 – 27.

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Dieser Vorstellung entsprechend war der Große Hessenplan mit einer zehnjährigen Zielperspektive bis 1974 auf eine Zusammenfassung aller öffentlichen Investitionsplanungen gerichtet. Für die praktische Umsetzung wurde die Planung in mehrere Durchführungsabschnitte eingeteilt, damit die Ziele den wechselnden Situationen angepasst werden konnten. Im Unterschied zum Landesplanungsgesetz wies der Große Hessenplan keine Regionalisierung der Investitionsziele auf, so dass die beiden Stränge der Planungspolitik auseinanderliefen. Diesen Mangel sollte der 1970 unter Ministerpräsident Osswald verabschiedete Landesentwicklungsplan Hessen ’8040 beheben, der, anders als der Große Hessenplan, seine rechtliche Grundlage in dem Hessischen Landesplanungsgesetz von 1962 hatte. In dieser neuen Form hat sich der Große Hessenplan mit dem Grundsatz, langfristige Perspektiven für die öffentlichen Investitionen in die Sozial-, Kultur-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik zu koordinieren, zunächst durchaus bewährt. Doch dann erschütterte die nach der Ölkrise von 1973 einsetzende Konjunkturabschwächung das Vertrauen in wirtschaftliche Prognose und Planung. Seither verlor der Große Hessenplan zunehmend an Bedeutung »und wurde, nachdem der zweite Durchführungsabschnitt 1978 abgeschlossen war, nicht mehr weitergeführt«.41 Die mit dem »Wirtschaftswunder« anbrechende Zeit der Planungseuphorie war vorüber, auch im Bundesland Hessen, das unter Ministerpräsident Georg August Zinn auf dem Gebiet der Landesplanung und Strukturpolitik eine Spitzenstellung eingenommen hatte.42

40 Landesentwicklungsplan ’80, hg. vom Hessischen Ministerpräsident, Rahmenplan für die Jahre 1970 – 1974, Wiesbaden 1970. 41 Hardach, S. 211. 42 Schiller, S. 120; Zur Geschichte der Planungen vgl. zuletzt den Artikel von Dirk van Laak, Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie, in: Docupedia-Zeitgeschichte: http://docupe dia.de/docupedia/images/b/b1/Planung.pdf [30. 06. 2014].

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Die »Friedenswallfahrt« in Rohr 1983. Zum Verhältnis von Staat und Kirchen in der DDR

Das Jahr 1983 war für die DDR bzw. die SED ein Zwischenjahr, ein Jahr der Sondierung möglicher neuer Orientierungen im Inneren wie im Äußeren. Leonid Breschnew, der sowjetischen Partei- und Regierungschef, war im November 1982 gestorben. Die sowjetische Intervention in Afghanistan seit 1979 und der NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung von Mittelstrecken-Raketen im gleichen Jahr bereiteten den »Zweiten Kalten Krieg« seit dem Amtsantritt Ronald Reagans 1981 vor, der durch die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981, den Abschuss eines koreanischen Verkehrsfluges durch die Sowjetunion am 1. September 1983 und die Intervention der USA in Grenada am 25. Oktober 1983 eine weitere Zuspitzung erfuhr.1 Obwohl Juri Andropow in der Frage der Mittelstrecken-Raketen die Politik seines Vorgängers fortsetzte, wollte Erich Honecker sich jetzt nicht mehr ohne Widerspruch in diesen Kurs einfügen. Er forderte im November 1983 eine Politik des Dialogs, eine »Schadensbegrenzung« durch eine »Koalition der Vernunft«. Innenpolitisch kämpfte die SED vor dem Hintergrund zunehmender Versorgungsengpässe mit dem drohenden Staatbankrott, der im Sommer 1983 durch den von Franz-Josef Strauß vermittelten »Milliardenkredit« abgewendet werden konnte. Neues Selbstbewusstsein sollte der SED das Marx-Jahr 1983 bringen, als sie sich als legitimer Erbe des Stammvaters feierte, während sie gleichzeitig mit dem Luther-Jahr ihre Weltoffenheit demonstrieren wollte. Mit dem Luther-Jahr eröffnete sie gleichzeitig der Evangelischen Kirche neue Möglichkeiten der öffentlichen Selbstdarstellung, die sich der Friedensbewegung geöffnet hatte.2 Die Friedensdekade 1980 hatte unter dem Motto gestanden »Frieden schaffen ohne Waffen«, die von 1981 unter dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen«. Im Februar 1982 traten Robert Havemann und Rainer Eppel1 Michael Ploetz / Hans-Peter Müller : Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss. Münster 2004. Benno-Eide Siebs: Die Außenpolitik der DDR 1976 – 1989. Strategie und Grenzen. Paderborn u. a. 1999, bes. S. 230 – 280. 2 Erhard Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989. 2. Aufl. Berlin 1998, hier bes. S. 335 – 498.

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mann mit ihrem »Berliner Appell« für eine gesamtdeutsche Friedensbewegung ein. Die »Offene Arbeit« als eine Basis der Friedensbewegung, die Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst seit 1981 und die Öffnung kirchlicher Räume auch für nicht-kirchliche Gruppen waren eine weitere Herausforderung der Staatsführung.

1.

Planungen

Die Initiative zu der »Wallfahrt« ging von Gerhard Stöber (Jg. 1949) aus, Jugendseelsorger des katholischen Bischöflichen Amtes Erfurt-Meiningen seit 1981.3 Die katholische Kirche hatte alle zwei Jahre Sühnewallfahrten in Buchenwald organisiert. Seit den 1970er Jahren nahmen vermehrt protestantische Jugendliche an diesen Wallfahrten teil. 1983 verständigte er sich mit dem Leiter des protestantischen Jungmännerwerks Thüringen, Dieter Oberländer (Jg. 1939), an Stelle der Sühnewallfahrt gemeinsam einen ökumenischen Jugendsonntag durchzuführen. »Motiviert vom Lutherjahr, Reformationsfest und (kath.) Jahr der Versöhnung kam es zur inhaltlichen Überlegung: Bedeutung des Wortes Gottes für junge Christen.« Aus der Frage, »wo kommen wir her, wo wollen wir hin?« ergab sich die Wahl des Ortes Rohr bei Meiningen.4 Die dortige Krypta und Kirche als Ursprungsort des Christentums in Thüringen sollten Ausgangspunkt für eine »Wallfahrt« zu der 1972 geweihten katholischen Kirche 3 Das Folgende nach: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«, Jena (=ThürAZ), Privatsammlung Dieter Oberländer, P-OD-K-01.03/3 (Dieter Oberländer, Bericht über einen ökumenischen Jugendsonntag in Rohr am 30. 10. 1983, 01. 11. 1983); Bistum Erfurt, Bistumsarchiv, Amtsakten Generalvikar Sterzinsky, Bischöfliches Generalvikariat (Gerhard Stöber, Aktennotiz zum ökumenischen Jugendtag am 30. Oktober 1983 in Rohr, 31. 10. 1983) sowie telefonische Auskünfte von Gerhard Stöber am 21. 01. 2014 und von Dieter Oberdörfer am 24. 01. 2014. Beiden sei ebenso für die Bereitschaft zur Auskunft herzlich gedankt wie allen anderen, die durch mündliche und schriftliche Angaben behilflich waren, so besonders Prof. Dr. Josef Pilvousek und Torsten Müller, beide Erfurt. 4 Die Michaelis-Kirche (Krypta) in Rohr bei Meiningen wurde zwischen 815 und 824 erbaut und gilt als die älteste Kirche in Thüringen. Anfang des 10. Jahrhunderts diente sie als Pfalzkapelle der deutschen Kaiser und Könige. Die Kirche ist umgeben von einer Ringmauer mit Tor ; der Innenraum der Kirchenburg beherbergt ein weiteres Gebäude, die alte Schule, das damals als Rüstzeitheim diente. Das Rüstzeitheim in Braunsdorf (Walter Schilling) verzeichnete 1978 3000 Übernachtungen; dieses, wie die anderen kirchlichen Rüstzeitheime, spielte in den Augen des Ministerium für Staatssicherheit (=MfS) eine »nicht unbedeutende Rolle«, da in ihnen jährlich »Tausende von Kindern und Jugendlichen betreut und beeinflußt werden«. Walter Schilling: Die »Bearbeitung« der Landeskirche Thüringen durch das MfS, in: Clemens Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1996, S. 211 – 266, hier S. 230. Das 1978 hergerichtete Rüstzeitheim in der Kirchenburg von Rohr war, wie der 1975 fertiggestellte Bungalow beim Pfarrhaus, 1983 ganzjährig ausgebucht, wie Pfarrer Heinemann in seiner »Chronik von 1964 bis 1997« notierte. Für die Einsichtnahme in die Chronik danke ich Pfarrer Armin Pöhlmann, Rohr.

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in Meiningen sein.5 So entstand das Thema »Wert-Weg-Weisung«. Die Wahl des Ortes wurde zusätzlich damit begründet, dass in Südthüringen zentrale kirchliche Jugendveranstaltungen selten stattfanden. Das Programm sah einen evangelischen Abendmahlgottesdienst vor, mit anschließender »Wanderung« nach Meiningen »in kleinen Gruppen« mit drei Stationen auf dem ca. 7 km langen Weg mit vorbereiteten Meditations- und Gebetstexten, abschließend Abendmahlgottesdienst in der katholischen Kirche. Das Programm war für eine Dauer von 9.30 – 15.30 Uhr geplant. Nach den erinnernden Angaben von Stöber und Oberländer sollte es eine rein kirchliche Veranstaltung sein, ein ökumenischer Jugendsonntag, »so eine Kreuzweg-Geschichte«, ohne explizites politisches Programm, wie auch Ulrich Töpfer aus Meiningen erinnert.6 Nach der Aussage von Probst Heino Falcke hatten derartige Veranstaltungen durchaus eine politische Dimension. Sie wurden »neutral religiös tituliert«; aber intern habe immer das Bewusstsein bestanden, dass es sich um einen Teil der Friedensbewegung handelte. Es habe eine »Legierung« des Theologischen und des Politischen bestanden, wenngleich oft nur implizit. SED und MfS hätten insofern Recht gehabt, wenn sie einen »politischen Zusammenhang« unterstellten.7 Das habe besonders für die Jugendarbeit gegolten, die die Friedensbewegung als Partner inner- und außerhalb der Kirche suchte.8 Aus den Berichten der staatlichen Stellen mag man schließen, dass »Frieden« ein Thema der Veranstaltung war.9 5 Die Kirche »Unsere liebe Frau« ist einer der wenigen Kirchenneubauten in der DDR. Nach dem Abriss des Vorgängerbaues 1967 wurde mit Unterstützung des Bistums Würzburg das alte Pfarrhaus umgebaut. 6 Mündliche Auskunft Ulrich Töpfer, Meiningen, 10. 02. 2014. 7 Mündliche Auskunft Probst i.R. Dr. Heino Falcke, 30. 01. 2014. Allerdings war ihm in dem Fall die Dimension der Annahmen bzw. Befürchtungen dieser Stellen nicht bekannt. Joachim Garstecki, damals Studienreferent für Friedensfragen beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, der das Ereignis nur vom Hörensagen kannte, hält es für »naheliegend«, dass bei einer Veranstaltung dieser Art das Friedens-Thema »in irgendeiner Weise aufgegriffen« wurde. Mündliche Auskunft, 19. 02. 2014. 8 Zu den »negativen« Kräften in der Landeskirche Thüringen rechnete das MfS insbesondere »die meisten Jugendpfarrer und Jugendmitarbeiter«. »Deren Haltung wird, beginnend beim bisherigen Landesjugendpfarrer [Peter Spengler]/Eisenach, über die Mitarbeiter des Jungmännerwerks, die Kreisjugendpfarrer bis zu den Jugenddiakonen in den Gemeinden zu einem beträchtlichen Teil von oppositionellen Einstellungen charakterisiert, wobei ein Teil ihrer Aktivitäten eindeutig antisozialistische Stoßrichtung hat«. »Diese Kräfte erkennen die Kirchenleitung nicht als Autorität an« und suchten sich eine »Massenbasis« in der kirchlichen Jugendarbeit, aber auch außerhalb der Kirche zu schaffen. Dazu rechneten neben Pfarrer Schilling in Braunsdorf der genannte Spengler, der Studentenpfarrer in Ilmenau (Bräutigam?) und u. a. der Diakon in Meiningen. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Bd. 608, Bl. 4 – 11 (4. 2. 1983). Heino Falcke sah (nicht ohne einen Anflug von Respekt) die Konstellationen als »sehr gut beschrieben«. 9 Staatsarchiv Meiningen (=StAM), SED, BL Suhl, IV/E-2/14/337 (Böhringer, Information für das Sekretariat der BL, 4. 11. 1983). Für Ulrich Töpfer war der Friedensgedanke etwas »Nor-

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Verhandlungen

Durch die Einladung zu der Veranstaltung wurden die staatlichen Stellen aufmerksam, die Rückfragen stellten. Der Rat des Bezirks Suhl, d. h. der zuständige Stellvertreter für Inneres Gerhard Sommer, bat Oberkirchenrat Dietrich v. Frommanshausen und Superintendent Helmut Koch (Suhl) um Auskunft. Am 13. Oktober, als Bischof Christoph Demke von der Kirchenprovinz Sachsen (zu der Rohr gehörte, während Meiningen zur Thüringischen Landeskirche rechnete) seinen Antrittsbesuch bei Eduard Zimmermann, dem Vorsitzenden des Rats des Bezirks Suhl, machte, wurde das Thema von Sommer angesprochen. Aus der Einladung gehe hervor, dass Jugendkreise aus ganz Thüringen angesprochen worden seien; es werde »eine kirchentagsähnliche Veranstaltung ohne Information der staatlichen Stellen geplant«. Wenn 800 Jugendliche kämen, sei der »Jugendgottesdienst« in der kleinen Kirche rein technisch nicht durchführbar. Als der Bischof sich nicht bereit zeigte, den Gottesdienst abzusagen, kamen die tieferen »Befürchtungen« zum Vorschein. Die »Wanderung« von Rohr nach Meiningen könne den »Charakter einer Demonstration« gewinnen. Man könne nicht absehen, ob im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs Teilnehmer aus der Bundesrepublik »dazustoßen« würden. »Nach der Einladung handele es sich um eine ›Friedenswallfahrt‹ mit Demonstrationscharakter« – am Ende gar um eine gesamtdeutsche Demonstration. Das dementierte der Bischof, obwohl er keine Einzelheiten kannte. Der Gottesdienst könne nicht untersagt werden; der »Charakter einer Demonstration« werde »auf jeden Fall« vermieden.10 Am folgenden Tag wurde ein ähnliches Gespräch mit Bischof Werner Leich von der Thüringer Landeskirche geführt. Am 17. Oktober erhielt Bischofsvikar Dieter Hömer in Meiningen Besuch von Helmut Körner, dem Referatsleiter für Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes, um über die »Fußwallfahrt« zu sprechen. Der Bezirk Suhl als Grenzbezirk sei »besonderen Bestimmungen« unterworfen, »die die Sicherheit betreffen«. Der Weg vom Bahnhof zur Kirche in Rohr sei Hauptverkehrsstraße, so dass ein »beachtliches Sicherheitsrisiko« bestehe. Die Route von Rohr nach Meiningen »berühre« die Sicherheitszone der Grenztruppen; der Einmarsch nach Meiningen könne nur durch zwei »Nadelöhre« erfolgen. Der Rat des Bezirkes sei »entschieden« gegen die Veranstaltung und warne vor Konfrontationen mit Transport- oder Verkehrspolizei »bezw. gar mit den Grenztruppen«.11

males«, der stets dazugehörte. Dass das Thema Frieden auf der Wanderung eine besondere Rolle spielen sollte, ist ihm nicht erinnerlich. 10 Archiv und Bibliothek der Kirchenprovinz Sachsen, Rep. B 4, Nr. 66 (Vermerk über den Antrittsbesuch von Bischof Dr. Demke beim Rat des Bezirkes Suhl am 13. Oktober 1983). 11 Bistumsarchiv Erfurt, Amtsakten Generalvikar Sterzinsky, Staat-Kirche, Gespräche und

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Angesichts dieser Aufregung boten die Organisatoren ein klärendes Gespräch an. Das lehnte der Rat des Bezirks Suhl zunächst ab mit (dem etwas unverständlichen) Verweis auf die Zuständigkeit des Rats der Bezirks Erfurt. Nachdem der in einem Gespräch mit Generalvikar Georg Sterzinsky und Stöber am 19. Oktober keine Einwände gegen die Veranstaltung erhoben hatte, waren die Kollegen in Suhl »verärgert«, »da die sich von Erfurt nichts sagen lassen wollen, denn sie seien zuständig«. »Die Fronten seien verhärtet.«12 Der inzwischen einbezogene Chef der Suhler Volkspolizei behauptete, im gleichen Duktus wie Sommer, die Vorbereitungen seien »mit Unterstützung feindlich-negativer kirchenleitender Kräfte«13 betrieben worden. »Nach den uns vorliegenden Informationen […] war zu erkennen, daß die Kirchen ihre verfassungsmäßig zugesicherten Kompetenzen überschreiten.« Die staatliche Zustimmung war nicht eingeholt worden und wäre »angesichts des Ausmaßes und der möglichen Störung der Ordnung und der Sicherheit nicht erteilt worden«. Der Kreis der Teilnehmer sei nicht »überschau- und berechenbar«; »provokatorisches Auftreten einiger Jugendlicher«, die den kirchlichen Raum zu »Gesetzesverletzungen sowie staatsfeindlichen Verhaltensweisen nutzen«, sei möglich. So könnten die Kirchenvertreter nicht ausschließen, »daß die Veranstaltung zu Provokationen mißbraucht (Gruppen aus Jena und weitere Anhänger der sogenannten Friedenskreise)« werde; »der ›Gang‹ nach Meiningen und die in den Gruppen vorgesehene Meditation sind eindeutig als Demonstration anzusehen und können nicht gestattet werden«.14 Da man es nicht wagte, die gesamte Veranstaltung, also auch die Gottesdienste zu verbieten, folgten weitere Gespräche mit kirchlichen Amtsträgern. Am 20. Oktober wurden Hömer und Frommanshausen noch einmal »mit Verhandlungen, 1981 – 1989 (Aktennotiz: Fußwallfahrt Rohr-Meiningen. Gespräch mit Bischofsvikar Hömer am 17. 10. 1983). 12 Bistumsarchiv Erfurt, Amtsakten Generalvikar Sterzinsky, Staat-Kirche, Gespräche und Verhandlungen, 1981 – 1989 (Aktennotiz: Ökumenische Gottesdienste in Rohr und Meiningen. Telefonat von Bischofsvikar Hömer am 20. 10. 1983, 19.00 Uhr). 13 Die SED rechnete die Bischöfe Leich und Demke zu der »realistischen« Fraktion, die auch die Absage der Wallfahrt befürwortet hatten. Falcke, Oberländer und Sterzinsky seien dagegen »auf Konfrontation eingestellt und mit der Haltung der staatlichen Organe nicht einverstanden«. StAM, SED, BL Suhl, IV/E-2/14/337 (Böhringer an Albrecht, 31. 10. 1983). 14 StAM, Bezirkstag/Rat des Bezirkes (=BT/RdB) Suhl, K 653/3 [ehemals: VA 24415] (Information über die geplante Veranstaltung … am 30. 10. 1983 in Rohr und Meiningen, o.D.). So auch der Leiter der Volkspolizei Suhl in seiner Einsatzanordnung. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. VII, Nr. 6660, Bl. 1 – 9 (26. 10. 1983). Zu Jena vgl. Henning Pietzsch: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit Jena 1970 – 1989. Köln u. a. 2005. Schilling: Bearbeitung, S. 232 – 234, 249 – 251. Ulrich Töpfer glaubt, dass die Erwähnung von Jena auf der Einladung an erster Stelle bei den Abfahrtszeiten der Züge Alarm ausgelöst habe. Ins Visier des MfS sei man vielleicht auch dadurch geraten, dass er mit anderen die mögliche Strecke von Meiningen nach Rohr auf der Suche nach geeigneten Plätzen für die geplanten Stationen abgelaufen sei.

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Nachdruck« aufgefordert, die Veranstaltung abzusagen: Sie überschreite die kirchlichen Kompetenzen, die republikweite Versendung von Einladungen habe »bereits vom Ansatz her demonstrativen Charakter«. Die Kirchenvertreter gaben sich ebenso einsichtig wie einsilbig. Frommanshausen wollte nicht näher informiert sein; Superintendent Victor aus Meiningen war von seinem Sohn gebeten worden, die Marktkirche zur Verfügung zu stellen, was er getan habe;15 Bischof Leich verwies auf die Selbstständigkeit des Jungmännerwerks. Doch der Rat des Bezirks blieb unnachgiebig. An der Ablehnung werde sich nichts ändern, auch nicht bei Verlegung an einen anderen Ort. Leich und Hömer wollten nach Angaben von Sommer auf Organisatoren und Teilnehmer einwirken, die Veranstaltung abzusagen bzw. nicht zu besuchen.16 Zum 24. Oktober wurde zu einem neuen Gespräch nach Suhl eingeladen. Für dieses Gespräch bei Sommer in Suhl, das anderthalb Stunden dauerte, hatten sich am 21. Oktober Generalvikar Sterzinsky und v. Frommanshausen in Eisenach zu einem Vorgespräch getroffen.17 In Suhl anwesend waren auf evangelischer Seite v. Frommannshausen, Oberländer und Superintendent Koch, auf katholischer Seite Sterzinsky und Stöber. Zunächst wollte Sommer nur mit der protestantischen Seite reden; die katholischen Vertreter wurden nicht zugelassen. Sterzinsky wurde von Körner sowie einem Kriminalbeamten zurückgehalten und erst nach 30 Minuten auf Drängen von Frommannshausen und Oberländer hinzugebeten; Koch und Stöber mussten vor der Tür warten. Das »sehr scharfe« Gespräch wurde nach Sterzinskys Bericht von Sommer »oft in einer ganz unfreundlichen Weise« geführt. Der eröffnete das Gespräch, es sei keine Genehmigung eingeholt worden; die Veranstaltung müsse abgesetzt werden. Den Einwand, auf dem Weg von Rohr nach Meiningen seien »keine Veranstaltungen gemäß Veranstaltungsordnung« geplant, ließ Sommer nicht gelten. Es handele sich »komplex von der Bahnfahrt angefangen bis hin zur 15 Dass die evangelische Stadtkirche Ort der Abschlussveranstaltung sein sollte, ist sonst nicht belegt. 16 StAM, BT/RdB Suhl, K 653/3 (Information über die geplante Veranstaltung … am 30. 10. 1983 in Rohr und Meiningen, o..D.). Leich und Demke waren, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven, bestrebt, wie der Erfurter Bezirkssekretär Müller sehr wohl wusste, »eine verstärkte Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden«, obwohl auch Leich das Symbol ›Schwerter zu Pflugscharen‹ »anerkannte«. Heinz Mestrup u. Dietmar Remy : »Wir können ja hier offen reden …«. Äußerungen vom Politbüro-Kandidaten und Erfurter Bezirks-Chef Gerhard Müller, Erfurt 1997, S. 99. Zu Leich vgl. auch Schilling, Bearbeitung, S. 234 – 236. 17 ThürAZ, Privatsammlung Dieter Oberländer, P-OD-K-01.03/3 (Dieter Oberländer, Gedächtnisprotokoll von einem Gespräch beim Rat des Bezirks Suhl, Abt. Inneres, Herr Sommer, am Montag, den 24. 10. 1983, 11.00 Uhr bis ca. 12.30 Uhr); Bistumsarchiv Erfurt, Amtsakten Generalvikar Sterzinsky, Bischöfliches Generalvikariat (Generalvikar Sterzinsky, Aktennotiz: Ökumenischer Jugendtag am 30. Oktober 1983); Landeskirchenarchiv Eisenach, Landeskirchenamt, A-Abteilung Nr. A 852 – 3: Beziehungen der Thüringer evangelischen Kirche zum Land Thüringen, Allgemeines, 1965 – 1989 (Aktennotiz, 25. 10. 1983).

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Rückfahrt in organisierten Gruppen« um eine »perfekt organisierte«, daher genehmigungspflichtige Veranstaltung (da auf den Einladungen auch die Zeiten für die Züge nach Rohr angegeben waren!); »dazu hat die Kirche kein Recht«. Das Treffen sei »heute nicht überschaubar« und habe den »Charakter einer Großveranstaltung«; damit seien »Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« berührt. »Wenn mehr als zwei gehen, ist das eine Gruppe; eine organisierte Gruppe muß genehmigt werden; der Weg vom Bahnhof Rohr zur Kirche in Rohr [ca. 1,5 km] ist auf jeden Fall eine gefährliche organisierte Veranstaltung«! Bischof Leich habe daher eine Absage der Veranstaltung angekündigt. Da musste der Oberkirchenrat widersprechen: Leich sei nicht zuständig, weder für den Gottesdienst in Rohr, das zu einer anderen Kirchenprovinz gehöre, noch für den katholischen Gottesdienst in Meiningen. Jetzt griff der Generalvikar ein: Die Buchenwald-Wallfahrten seien stets unkompliziert in einem mündlichen Genehmigungsverfahren behandelt worden.18 Dann trieb er Sommer in die Enge, als er ihn »nach vor Jugendlichen verwendbaren Absagemotiven« fragte, »wenn es nicht zum Unmut der Jugendlichen kommen soll«. Sommer ließ nicht auf sich sitzen, er wolle Gottesdienste verbieten, und wiederholte seine Beurteilung der Veranstaltung; wenn die Jugendlichen deswegen aufgebracht seien, sei es allein Schuld der Kirchen. Auf die Rückfrage, wie man Gottesdienst halten solle, wenn die Teilnehmer nicht vom Bahnhof zur Kirche gehen dürften, kam die ebenso patzige wie hilflose Antwort: »Das ist ihre Sache. Sie wollen doch den Gottesdienst halten, nicht wir.« Schließlich räumte er jedoch ein, mit einer Einladung zum Gottesdienst nach Rohr »würde die Frage nach den Konsequenzen umgangen«. Da Sommer die Gottesdienste nicht untersagen und damit in Angelegenheiten der Kirchen eingreifen konnte, versteifte er sich zunächst auf formale Rechtsvorschriften wie die Veranstaltungsordnung.19 Als das nichts half, be18 Nach dem Bericht des Generalvikars waren sowohl die Sühnewallfahrten als auch ähnliche Wallfahrten im Norden und von Magdeburg zum Klüschen jeweils nur dem zuständigen Rat des Bezirks mitgeteilt worden. Das war hier offenbar versäumt worden. Das Referat Jugendseelsorge des Bischöflichen Amtes organisierte am 8. Mai 1983 eine Jugendwallfahrt unter dem Motto »Wage Dein Ja« in Erfurt mit ca. 5000 Teilnehmern. Der Gottesdienst fand auf der Severiwiese statt, die Nachmittagsveranstaltung im Dom. Bistumsarchiv Erfurt, Seelsorgeamt, Jahresberichte 1981 – 1987 (Jahresbericht 1983, S. 2 f.). Der Jugendsonntag der Evangelischen Kirche am 13. Juni 1982 in Eisenach hatte 10.000 Teilnehmer. Dort äußerte Oberkirchenrat Frommannshausen, wer das Zeichen ›Schwerter zu Pflugscharen‹ angreife, greife die Kirche an. Der Spiegel, Nr. 27/1982. 19 Die Veranstaltungsverordnung in der Fassung vom 30. 6. 1980 ist abgedruckt bei Achim Giering: Die DDR-Veranstaltungsverordnung als kirchenpolitisches Instrument, am Beispiel eines Prozesses im Jahre 1962. [Bernau 2003?], S. 15 – 20 [Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 24, 15. 08. 1980]. Christian Halbrock: Kirche und Kirchen im Vorfeld sowie in den Revolutionen, in: Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur. Göttingen 2011, S. 149 – 164. Die Ordnung sei zur »Diszi-

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mühte er als zweites Argument, wie schon gegenüber Bischof Demke, das Gebiet zwischen Rohr und Meiningen sei »doppeltes Sperrgebiet«, nämlich der NVA und der Roten Armee. Auch wenn die Teilnehmer der Veranstaltung von diesen Arealen Abstand hielten, »bleibt doch eine große Gefahr für eine Verletzung dieses Sperrgebietes«. In Meiningen gab es neben Truppen der Nationalen Volksarmee (mit einer Hubschrauber-Einheit der Grenztruppen auf dem Rohrer Berg, die den dort 1927 angelegten Flugplatz nutzte) zwei Einheiten der 8. Gardearmee der Roten Armee (Schützenregiment, Panzer- und Aufklärungsbataillon), die zwei der drei örtlichen Kasernen belegten. Die nutzten den nahe Rohr liegenden Berg Dolmar als Übungsplatz, der seit 1967 Sperrgebiet war. Die Behörden befürchteten, so notierte der Pfarrer von Rohr, Dr. Wolf-Dietrich Heinemann (Jg. 1931) in seiner Chronik, »daß Jugendliche mit Transparenten an den militärischen Objekten (Dolmar, Flughafen auf dem Rohrer Berg oder Kasernen in Meiningen) für den Frieden demonstrierten«. In der Tat galt die Veranstaltung staatlicherseits angesichts der bevorstehenden Stationierung von Mittelstrecken-Raketen als »besonders politisch bedeutsam«, »weil es die erste kirchliche Veranstaltung nach der Veröffentlichung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR […] zum Beginn von Vorbereitungsarbeiten zur Stationierung von Raketen« auf dem Territorium der DDR war.20 Dieser Beschluss war just an diesem 24. Oktober veröffentlicht worden. Dieses Argument wurde zwar erst vorgetragen, nachdem die Forderung nach Absage längst ausgesprochen worden war. Sie unterstreicht aber, auf welchem politischen Niveau der Rat des Bezirkes Suhl die Sache behandelte, die bei den Kollegen in Erfurt als eher harmlos eingestuft wurde, obwohl auch dort das Misstrauen vor den Friedensaktivitäten der Kirchen ausgeprägt war. Eine Furcht vor möglichen Zwischenfällen war in dem Argument zu erkennen, das ebenfalls gegenüber Demke vorgebracht worden war : »Der Bezirk Suhl ist die ›sensible Seite der DDR‹ (Honecker); auf der ganzen Linie offen für Tagesreisende aus der BRD, unter denen es viele gibt, die die DDR nicht lieben.« Es erscheint denkbar, dass man in Suhl eine unkontrollierbare, gar »gesamtdeutsche« Demonstration für möglich hielt. Nur so ist der Aufwand an Sicherungsmaßnahmen zu erklären, der zum Unverständnis beider Organisatoren von der Bezirksleitung in Rohr betrieben wurde. Der Rat des Bezirkes Suhl sei schon immer etwas »verrückter« als der in Erfurt gewesen, so Dieter Oberländer, bzw. »etwas schärfer«, so Heino Falcke, wo man sich gelegentlich über die Kollegen im Süden recht unverhohlen

plinierung« von Pfarrern genutzt worden. Genehmigungspflichtig waren Veranstaltungen »im Freien«. 20 BStU, MfS, BV Suhl, Abt. VII, Nr. 6660, Bl. 1 – 9 (26. 10. 1983). Ploetz u. Müller, Friedensbewegung, S. 174. Zu der Zeit fanden in den westlichen Staaten Großdemonstrationen gegen die Stationierung statt, u. a. im Bonner Hofgarten am 22.10. mit 200.000 Teilnehmern.

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lustig gemacht habe.21 Doch überall galt, dass keine unabhängige Friedensbewegung als möglicher Bündnispartner für den Westen geduldet wurde. Nach dem Stationierungsbeschluss des Bundestages im November 1983 wurden die Maßnahmen zu deren Repression deutlich verschärft. In einem Nachgespräch bei Superintendent Koch in Suhl einigten sich die Vertreter beider Kirchen, den Gottesdienst in Rohr »auf gar keinen Fall« abzusagen, wie Sterzinsky zusammenfasste. Dem stimmte Bischof Leich zu. Oberländer prüfte bei Pfarrer Heinemann in Rohr, »ob nach dem Gottesdienst noch eine Zwischenveranstaltung und ein Gottesdienst in der Kirche oder auf dem kirchlichen Gelände« möglich seien. Die Pfarrer der Orte, aus denen Jugendgruppen zu erwarten waren, wurden telefonisch informiert, dass der Gottesdienst stattfinden werde; »ob mehr sein kann, ist fraglich, der Weg nach Meiningen entfällt auf jeden Fall. Äußerste Disziplin auf der Bahn und auf dem Weg.«

3.

Sicherungsmaßnahmen: »eine Demonstration der Angst und des Mißtrauens«22

Dieter Oberländer fuhr bereits am Freitag, dem 28. Oktober, nach Rohr.23 Mit ihm trafen ca. 50 Personen als Vorbereitungsgruppe ein, die im Rüstzeitheim auf dem Kirchgelände übernachteten. Oberländer konnte daher verfolgen, dass auch »Sicherheitsorgane und Bereitschaftspolizei« an diesem Freitag ihren 21 Am 15. 04. 1983 referierte Paul Verner vor den für Kirchenfragen Zuständigen aus den Bezirken, um sie auf die Luther-Ehrungen und die begleitenden regionalen Kirchentage einzustellen. Die Luther-Ehrungen müssten »auf größtmögliche Weise die Friedenspolitik« der DDR unterstützen. Insbesondere die kirchlichen Veranstaltungen seien dann »sinnvoll, wenn sie einen Beitrag leisten zur weiteren Einbeziehung, Formierung und Aktivierung religiöser Kräfte für den Kampf gegen die Realisierung der Raketenbeschlüsse der NATO«. Von den Kirchenleitungen müsse man einfordern, dass die Kirchen keine eigenständige Friedensbewegung seien oder einer solchen Freiräume gewährten, sondern dass sie die Friedenspolitik des Staates »loyal« unterstützten, wenn sie keine neue Konfrontation riskieren wollten. Fr¦d¦ric Hartweg (Hg.): SED und Kirche. Eine Dokumentation ihrer Beziehungen. Bd. 2: 1968 – 1989. Neukirchen-Vluyn 1995, S. 467 – 478. In der Mitschrift, die der Mitarbeiter für Block- und Kirchenfragen bei der Bezirksleitung der SED, Ernst Böhringer, von den Ausführungen Verners anfertigte, waren vor allem die Passagen angestrichen, die darauf hinwiesen, »dass der Gegner versucht, reaktionäre Kräfte in den Kirchen zu antisozialistischen Handlungen zu aktivieren«. In seinem Fazit formulierte Böhringer Aussagen, die sich in dem Manuskript Verners so nicht finden: »Es gibt für die Kirchen keine Exterritorialität, Gesetze sind alleinige Grundlage für ihre Arbeit. Die Christen in der DDR sind in erster Linie Bürger der DDR.« StAM, SED, BL Suhl IV/E-2/14/337 (Böhringer an Albrecht, 19. 04. 1983). 22 Mit diesen Worten charakterisierte Pfarrer Heinemann den Einsatz in seiner Chronik. 23 Oberländer, Bericht; Stöber, Aktennotiz (beide wie Anm. 3).

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Einsatz begannen; die Schule und das Alte Kloster, eine ehemaliges Benediktinerinnenkloster aus dem späten 12. Jahrhundert, das nahe dem Bahnhof liegt, dienten der Unterbringung. Fernsprechanlagen wurden installiert; vor dem Bahnhof standen plötzlich »Bauwagen«. Am Veranstaltungstag, dem 30. Oktober, wurde der Ort eingekesselt. An den Zugangsstraßen wurden Straßensperren errichtet, PKWs und das Gepäck wurden »intensiv« kontrolliert, die Insassen mussten ihre Ausweise vorzeigen. Einwohnern, die den Ort verlassen oder dorthin zurückkehren wollten, erging es nicht anders. Eine Einwohnerin, die mit ihrem Mann im Wald Reißig sammeln wollte, wurde bei der Ausfahrt kontrolliert und im Wald von Sicherheitskräften »umzingelt«; auf deren Rat hin fuhren sie wieder nach Hause, nicht ohne erneut den Ausweis vorzeigen zu müssen.24 Den Polizeieinsatz erlebte Jugendseelsorger Stöber auf andere Art. Er bekam dafür die schon vor Erfurt in den Zügen einsetzenden Kontrollen zu spüren, als er am Sonntag um 6.30 Uhr nach Rohr aufbrach. Die Bahnpolizei befragte die Reisenden auf dem Bahnhof nach ihrem Reiseziel, auch ihn: Ob er zur »Friedenswallfahrt« nach Rohr wolle. Die Damen am Fahrkartenschalter wussten offenbar Bescheid und hatten Fahrkarten nach Rohr auf Vorrat ausgedruckt! Jugendliche waren auf der Fahrt von Jena nach Erfurt kontrolliert worden, ebenso auf dem Bahnhof von Weimar. Als der Zug einfuhr, tummelten sich auf dem Bahnsteig »erstaunlich viel Bahnpolizei und – wie es am Äußeren anzusehen war – auch Sicherheitsbeamte«. Einige von ihnen stiegen in den Zug ein und gingen öfter »unauffällig« durch. Kurz vor Oberhof kontrollierte die Transportpolizei erneut die Ausweise. Jugendliche, die angaben, zum »Gottesdienst« nach Rohr zu fahren, wurden nicht weiter behelligt; denjenigen, die zur »Wallfahrt« wollten, wurden die Ausweise abgenommen, so u. a. dreizehn Jugendlichen aus Arnstadt. Die mussten in Oberhof den Zug verlassen. Probst Heino Falcke, der nach dem Vorgeplänkel mit dem Rat des Bezirkes Suhl informiert worden war, hatte sich auch auf den Weg nach Rohr gemacht. Er stieg in Oberhof mit aus, gab sich zu erkennen und drohte mit »kirchenpolitischen Verwicklungen« – »bis nach Berlin«.25 Das wirkte, gegen 9.30 Uhr durften die Arnstädter Jugendlichen gehen, drei aus Erfurt müssten »noch einmal verhört« werden. Stöber blieb bei den Zurückgehaltenen, während Falcke mit den anderen weiter fuhr. Die kamen verspätet in Rohr an und wurden, so der Bericht des Rats des Bezirks, »in der Kirche mit starkem Beifall empfangen«, nach Falcke mit »Triumphgeheul«. In Oberhof drängte Stöber, er müsse zur Eröffnung in Rohr sein. Es würde dort »zu einem größeren Unverständnis« kommen, wenn er nicht anwesend sei. Die drei wurden bis 12 Uhr festgehalten. »Sie wollten nur 24 Auskunft Marion Müller, Rohr, 22. 01. 2014; Michael Heym, Rohr, 12. 01. 2014; Martin Montag, Meiningen, 15. 02. 2014. 25 Auskunft Heino Falcke, 30. 01. 2014.

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noch einmal den Grund von den Jugendlichen erfahren, warum sie gesagt hätten, sie wollten von Rohr nach Meiningen laufen.« Die mussten eine Erklärung unterschreiben, dass sie nicht »an einer Demonstration von Rohr nach Meiningen« teilnehmen würden.26 Diakon Montag aus Arnstadt fuhr mit dem PKW nach Oberhof, um Stöber und die Jungendlichen abzuholen.27 Für diese Verhöre hatte die Bezirksverwaltung Suhl des MfS einen fünf Seiten langen »Befragungsplan« ausgearbeitet.28 Der begann mit dem Hinweis, dass die Betroffenen »zur Klärung eines die öffentliche Ordnung und Sicherheit erheblich gefährdenden Sachverhalts zugeführt« worden seien. Der Erkundigung, weshalb sich die Person am 30. Oktober in Rohr aufhielt – mit dem Warnhinweis: »! Keine Fragen zur kirchlichen Veranstaltung selbst stellen !« –, folgte die Frage, ob die Absicht bestanden habe, an dem »nicht genehmigten Marsch nach Meiningen« teilzunehmen. Im Folgenden ging es vor allem darum zu ermitteln, wann, durch wenn und wie Kenntnis von der Veranstaltung erhalten wurde, was auf dem Marsch geplant war, wer ihn organisiert hatte, welche Personen teilnehmen wollten und was diese »planten«. Wenn bekannt war, dass der Marsch nicht genehmigt war, war zu fragen, wer wann warum und wie darüber informierte. Daraufhin durfte das Gepäck durchsucht werden, bei Weigerung »unter Anwendung einfacher körperlicher Gewalt«. Wenn »Pinnadeln, Fahnen, Losungen, Symbole usw. offen« mitgeführt wurden, war detailliert nachzufragen. »Unangemessene« Gegenstände durften eingezogen werden. Die Zuführung in Oberhof war Bestandteil der am 26. Oktober vorliegenden neunseitigen »Einsatzanordnung zur Verhinderung der sogenannten ›Friedenswallfahrt‹ von Rohr nach Meiningen und des Mißbrauchs des Gottesdienstes in Rohr und Meiningen am 30.10.83 zu feindlichen Aktivitäten und negativen Handlungen«.29 Die machte noch einmal deutlich, wie die Bezirksleitung Suhl die Veranstaltung bewertete. Jedwede »Feindtätigkeit, Provokationen und anderen Störungen«, »Zusammenrottungen und Ausschreitungen von labilen Elementen und negativen Personen und Personengruppen« sollten unterdrückt werden; zu erwarten seien 400 – 500 Personen vor allem aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl. Der »gesetzwidrige Fußmarsch nach Meiningen« sei zu verhindern und die »Staatsautorität zu wahren«. Teilnehmer, die durch ihr 26 Nach den Akten des MfS waren es zwei Schülerinnen bzw. zwei Studentinnen der Pädagogischen Hochschule Erfurt und ein Student der Theologie aus Leipzig. Es wurden auch Unbeteiligte verhaftet; ein junger Mann, weil er fotografierte, aber, wie die Entwicklung der Filme zeigte, nur die Landschaft, nicht die Ereignisse in Rohr. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. IX, Nr. 596, Bl. 1 – 3. 27 Auskunft Martin Montag, 15. 02. 2014. Montag ist heute Pfarrer der katholischen Kirche in Meiningen, dem Ziel der »Wallfahrt«. 28 BStU, MfS, BV Suhl, Abt. IX, Nr. 2149, S. 32 – 36. 29 BStU, MfS, BV Suhl, Abt. VII, Nr. 6660, Bl. 1 – 9 (26. 10. 1983); ebda., Abt. IX, Nr. 596, Bl. 4 – 7, der »Maßnahmeplan« (28. 10. 1983).

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»Verhalten die öffentliche Ordnung und Sicherheit« störten, waren »zurückzuweisen«, ebenso »Personen von negativ-dekadentem Aussehen« sowie »Personen, die pazifistische Symbole, Transparente und Losungen mit pazifistischem Inhalt mit sich führen«. Zu dem Zweck wurde ein mehrfacher Sicherungsring eingerichtet: Auf den Straßen begannen die Kontrollen in Oberhof, Wasungen (aus Richtung Eisenach), im Westen in der Vorderrhön. Ein zweiter Ring wurde am Ortsausgang der Nachbarorte aufgebaut. In Oberhof wurde der Wagen Montags, der Stöber abholte, um ihn noch zur Veranstaltung zu bringen, einer »technischen Prüfung« unterzogen; der Blick in den Kofferraum galt vorgeblich dem Ersatzrad. Die zweite »technische« Kontrolle gab es unmittelbar vor Rohr, wo jetzt auch nach dem Ziel der Fahrt gefragt wurde. Zugstreifen wurden auf den Strecken von Erfurt und Eisenach eingesetzt, Zuführungspunkte auf den Bahnhöfen Bad Salzungen, Meiningen, Suhl und Oberhof eingerichtet. Auf dem Rohrer Berg zwischen Meiningen und Rohr wurden rechts und links der Straße Zelte als Zuführungspunkte aufgebaut und Reservekräfte bereitgehalten. Es standen reichlich Wagen zur Verfügung, um Zugeführte abzutransportieren. Es kamen mindestens zwei Kompagnien der Volkspolizei und Aufklärungskräfte in Zivil zum Einsatz.30 Auf dem Weg vom Bahnhof zur Kirche standen nach dem Bericht von Oberländer »in sehr kurzen Abständen« Polizei und Polizeihelfer. Heino Falcke erinnert sich an den Weg durch ein »Spalier« von »unauffälligen« Herrn, die alle 30 – 40 Meter postiert waren. Gerhard Stöber berichtet von elf LKWs der Volkspolizei, die abends in Richtung Meiningen zurückfuhren. Er schüttelte den Kopf; »der Aufwand für diesen Tag [stand] wohl in keinem Verhältnis […] zu dem, was geschehen sollte«. Während der Veranstaltung befanden sich »beobachtend« Beamte auf dem Kirchengelände (und »unauffällig« in der Kirche), aber »auch für alle sichtbar, auf der Straße und um das Gelände herum«. Das provozierte Ortspfarrer Heinemann zu der Bemerkung, Rohr gleiche einer Festung. »Seit dem dreißigjährigen Krieg [sei] Rohr noch nie wieder so gut bewacht worden wie an diesem Wochenende«. Nach dem Bericht der staatlichen Stellen äußerte Heinemann; »so viel Militär habe es seit dem 30jährigen Krieg nicht mehr gegeben«; bei jeder Kirmes gebe es mehr Probleme.31 Heym und Montag sprechen von »Belagerungszustand«. Töpfer fand die Atmosphäre »bedrückend«; es sei die größte 30 An äußeren Kontrollpunkten waren ca. 50 Mann eingesetzt, dazu 24 an den Ortsausgängen von Rohr, eine Aufklärungsgruppe von 10 Mann in der Ortslage (inkl. »Freiwilliger Helfer«). »Abriegelungsgruppen« in Stärke von einer Kompagnie mit je 68 Mann wurden bereitgehalten. Dazu kamen die Beamten der Bahnpolizei in den Zügen und Verkehrspolizei. Das wären deutlich über 200 Polizisten, die Angehörigen des MfS nicht gerechnet. Pfarrer Heinemann berichtet in seiner Chronik gar von »Polizei u. Kampftruppen«. 31 StAM, SED, BL Suhl, IV/E-2/14/337 (Böhringer, Information für das Sekretariat der BL, 4. 11. 1983).

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Aktion dieser Art im Süden der Republik gewesen. Heinemann hatte wohl recht mit der Bemerkung in seiner Chronik, der Polizeiaufwand sei »eine Demonstration der Angst und des Mißtrauens« gewesen.

4.

Die Veranstaltung

Trotz aller Widrigkeiten und Behinderungen: Die Veranstaltung fand statt. Darauf waren die Organisatoren noch nachträglich stolz. Durch ihre Werbung hatten Stöber und Oberländer auf eine etwas größere Beteiligung als bei den Sühnewallfahrten in Buchenwald gehofft, an denen sich 80 – 100 Personen beteiligt hatten. Stöber hatte einen Informationszettel dem bischöflichen Amtsblatt beigefügt, Oberländer warb über die regelmäßigen Treffen der Jugendwarte. Es kamen weniger als erhofft. Ihre Berichte vermerkten nur ca. 150 – 200 Teilnehmer. Die staatlichen Stellen zählten ca. 450 Personen, von denen 150 mit dem Zug angereist waren, 50 mit dem Bus, 40 mit dem PKW, »aus Rohr 160«. Die Auswärtigen kamen aus Erfurt, Arnstadt, Eisenach, Bad Salzungen, Schmalkalden, Meiningen und Suhl. Nach einem anderen Bericht nahmen 100 Bürger aus Rohr teil, »überwiegend junge Menschen«. »Die sonst am Gottesdienst teilnehmenden 60 bis 70 älteren Bürger waren nur vereinzelt anwesend.«32 Auch Pfarrer Heinemann vermerkte in seiner Chronik die Zahl von ca. 450 Teilnehmern, was seine Frau bestätigt. Der Bericht über die Veranstaltung ist in allen Schilderungen der kürzeste Teil. Nach den staatlichen Angaben wurde zu Beginn den Teilnehmern durch Oberländer der Grund für den veränderten Ablauf erläutert, »ohne jegliche Aussage bzw. Angriffe auf staatliche Maßnahmen«, auch wenn er hinzufügte: »Dieser Tag sollte ein Tage der Ökumene sein und nicht ein Tag der Konfrontation.« Falcke habe in seinem Grußwort »Unverständnis« geäußert, warum die staatlichen Stellen einer solchen Veranstaltung nicht zustimmten, sondern sie »als Gefährdung des Friedens« ansähen.33 Kaplan Stöber habe später zu dem längeren Festhalten der Jugendlichen in Oberhof »eine sachliche Information ohne jegliche Aussagen bzw. Angriffe auf die staatlichen Maßnahmen« gegeben. Um 9.30 Uhr wurde mit dem »thematisch gestalteten« evangelischen Abendmahlgottesdienst begonnen. Oberländer »bezog sich in seiner Predigt auf den Reformationstag«, so der staatliche Bericht knapp. Wie Oberländer berichtet, saßen in der ersten Reihe zwei Herren, denen er die Blätter mit den zu singenden 32 StAM, BT/RdB Suhl, K 653/3 (RdB, Information über Verlauf der kirchlichen Veranstaltung [ökumenischer Jugendtag] am 30. 10. 1983, 31. 10. 1983); SED, BL Suhl, IV/E-2/14/337 (Böhringer, Information über den ökumenischen Jugendtag am 30. 10. 1983). 33 StAM, BT/RdB Suhl, K 653/3 (RdB, Information über Verlauf […], 31. 10. 1983); SED, BL Suhl, IV/E-2/14/337 (Böhringer, Information für das Sekretariat der BL; 04. 11. 1983).

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Liedern in die Hände drückte mit der Bitte, sie zu verteilen – was sie auch taten. Da sie etwas hilflos wirkten, ging er davon aus, dass sie der Staatssicherheit angehörten. Nach einer Pause im Kirchhof und im Rüstzeitheim wurde das Programm in der Kirche »in 3 inhaltlich vom Thema her bestimmten Stationen unter Einbeziehung der Krypta« fortgesetzt. Die »Wallfahrt« wurde auf »Gebet-Stationen« auf dem Kirchhof reduziert. »Gruppen von Jugendlichen gingen mit brennenden Kerzen auf einander zu und vereinigten sich.« Negativ wurde seitens der staatlichen Stellen vermerkt, dass es »keinerlei Positionen und Aussagen zur Friedenspolitik der DDR« gab und die Invasion der USA in Grenada nicht kritisiert wurde; aber es gab auf der anderen Seite auch keine »Provokationen«. Um 14 Uhr folgte der katholische Abendmahlgottesdienst, »ebenfalls thematisch gestaltet«. Nach der Erinnerung von Martin Montag waren es »normale« Gottesdienste, ohne besondere Betonung der Friedensfrage. Den staatlichen Stellen war der katholische Gottesdienst schon keiner Erwähnung mehr wert. Die Mittagsverpflegung war nach der Erinnerung der Pfarrersfrau in Meiningen vorbereitet worden – trotz der Absage der »Wallfahrt« eine Woche zuvor. Sie musste mit Hilfe anderer Frauen improvisieren und Brote schmieren, die der Bäcker gestiftet hatte und die mit im Dorf erbettelter Wurst belegt wurden.34 Während Heinemann am Nachmittag »alle Kontrollpunkte der Volkspolizei aufgesucht und sich auch mißfallend über das starke Aufgebot von Bereitschaftspolizei auf dem Rohrer Berg« geäußert hatte,35 schenkte seine Frau in christlicher Nächstenliebe den frierenden Sicherheitskräften Tee und Kaffee aus. Für Frau Heinemann war es eine Selbstverständlichkeit; jeder, der ins Pfarrhaus kam, wurde so versorgt, auch die Mitarbeiter der Staatssicherheit, die »alle 14 Tage« kamen, um ihren Mann zu ködern. Für Probst Falcke war es eine »wohlüberlegte Geste« des Friedens. Gegen 15.30 Uhr konnte die Veranstaltung wie geplant beendet werden. Die Teilnehmer blieben während der gesamten Veranstaltung auf dem Kirchengelände; die Jugendlichen verhielten sich »sehr diszipliniert«. Etwa 100 sollen bereits mittags wieder abgereist sein. Die letzten Teilnehmer verließen den Ort um 16 Uhr mit dem Zug. Heinemann, so erinnert sich seine Frau, fuhr viele Teilnehmer mit seinem Trabi zum Bahnhof, da er Zwischenfälle auf dem Rückweg durch das »Spalier« befürchtete. »Erst kurz vor Mitternacht wurde die Blockade aufgehoben, nachdem mit Scheinwerfern das ganze Gelände der Kirchenburg abgeleuchtet war«, notierte der Pfarrer. Der Bericht des Rats des Bezirkes vom 31. Oktober schloss zufrieden: »Die 34 Mündliche Auskunft Rosemarie Heinemann, 05. 02. 2014. 35 BStU, MfS, BV Suhl, Abt. VII, Bd. 3594, Bl. 1 – 2 (Informationen über Diskussionen in der Gemeinde Rohr zum Einsatz der Sicherungskräfte am 30. 10. 1983, 31. 10. 1983).

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Die »Friedenswallfahrt« in Rohr 1983

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sogenannte Friedenswallfahrt fand nicht statt.«36 Dass offenkundig keine Transparente, Symbole oder unerwünschte Zeichen beschlagnahmt worden waren, dass es keine Zwischenfälle und keine weiteren Zuführungen gegeben hatte, war nach der Vorgeschichte kaum anders zu erwarten gewesen. Zufrieden waren auch die Organisatoren. Kaplan Stöber äußerte die Auffassung, dass es trotz aller Umstände »gut war, daß wir bei den Gottesdiensten in Rohr geblieben sind«. Weniger zufrieden waren die Bürger der Gemeinde Rohr, wie Heinemann resümierte: »Diese Polizeiaktion wurde von der aufgebrachten u. empörten Bevölkerung als unrühmlicher Abschluß des Lutherjahres empfunden, wo man von Seiten der Regierung gegenüber den vielen ausländischen Gästen u. Touristen ein harmonisches u. gutes Verhältnis zwischen Staat u. Kirche demonstrieren wollte.« Nach Äußerungen, die den staatlichen Stellen hinterbracht wurden, sprach er nach der Veranstaltung von »einer ›offenen Provokation‹ des Staates gegen die Kirche«.37 Gegen Heinemann wurde aufgrund dieser Ereignisse im März 1984 eine Operative Personenkontrolle eingeleitet, weil das Rohrer Rüstzeitheim »in letzter Zeit verstärkt zur Durchführung zentraler Jugendrüsten genutzt« wurde. Letztlich richtete sich das Verfahren mehr gegen die Jugendrüsten und die Heime. Veranstaltungen wie die Friedenswallfahrt hätten gezeigt, »daß sich zu diesen Jugendrüsten negative Gruppierungen kirchlich gebundener Jugendlicher« trafen, dass diese »systematisch und organisiert« zur negativen Beeinflussung missbraucht wurden, um »Positionen einer staatlich unabhängigen Friedensbewegung bzw. Umweltschutzbewegung« zu vermitteln, pazifistisches Gedankengut zu verbreiten und die Wehrerziehung zu untergraben und zur Vorbereitung weiterer Aktivitäten. Heinemann, das war der Anfangsverdacht, unterstütze die Bestrebungen »feindlich negativer Jugendlicher / kirchlicher Kräfte, inspiriert sie zu solchen Aktivitäten und testet die Grenzen möglichen Wirksamwerdens«. Die Untersuchung wurde eingestellt; Heinemann beteilige sich nicht an den Jugendrüsten. Dafür gerieten jetzt Pfarrer Schlauraff und Kreisjugendwart Jürgen Wollmann38 (Jg. 1958) ins Visier des MfS, die für diese verantwortlich waren. Die Jungen Gemeinden aus Erfurt, Suhl, Gotha und Halle 36 Das Protokollbuch des protestantischen Kirchgemeindesrates in Meiningen vermerkt: »Trotz des Verbotes der Wanderung wurde sie durchgeführt; ausgelassen wurden die Wegstationen. Ein großes Aufgebot von Polizisten stand bereit.« Evangelisch-Lutherisches Pfarramt Meiningen, Protokollbuch Gemeindekirchenrat 1983 – 1992 (02. 11. 1983). Für die Einsicht in die Protokollbücher danke ich Pfarrer Christoph Knoll, Meiningen. Ulrich Töpfer kann sich diesen Passus nicht erklären. 37 BStU, MfS, BV Suhl, Abt VII, Bd. 3594, Bl. 3 – 6 (Information über Diskussionen in der Gemeinde Rohr zum Einsatz der Sicherungskräfte, 08. 11. 1983). 38 Mit Wollmann entwickelte sich die Jugendarbeit in Suhl »zunehmend in die Richtung Offene Arbeit«. Peter Wurschi: Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum 1952 – 1989. Köln u. a. 2007, S. 174.

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sowie das Jungmännerwerk veranstalteten ihre Rüstzeiten in Rohr. Heinemann wurde ein »korrektes Verhältnis« zu den staatlichen Stellen attestiert; die Gottesdienste mit in der Regel ca. 40 Teilnehmern – »meist Rentner« – trügen einen »rein kirchlichen Charakter«. Die Jugendarbeit habe er »seit mehreren Jahren« nicht mehr aktiv betrieben; eine Junge Gemeinde bestehe am Ort nicht.39 Auch der Rat des Bezirkes und die SED waren sich nicht sicher, wie sie die Auswirkungen auf die Bürger von Rohr einschätzen sollten. Sie gingen davon aus, dass die meisten Bürger den Anlass nicht gekannt, sondern eher eine Übung vermutet hätten. Erst durch Gespräche am Arbeitsplatz und im Ort werde nachträglich der wahre Grund bekannt werden. Aus Rohr wurde Unverständnis berichtet, dass »wegen so ein paar Leuten, die in die Kirche wollten«, ein solcher »Riesenaufwand« betrieben werde. Eine Woche wurde im Ort weiter diskutiert, vor allem Kritik an der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme geübt. »Am Sonntag war Rohr ein Polizeidorf. Sie sollen die Kirche in Ruhe lassen, wir tun nichts unrechtes.« Es kam aber auch ein 50jähriges SED-Mitglied aus einer Nachbargemeinde zu Wort, die Veranstaltung sei ein »Test der Kirche« gewesen, »wie weit sie gehen kann«. Angestrichen wurde die Aussage eines parteilosen 20jährigen Arbeiters, »es sei der Eindruck entstanden, daß die Polizei große Angst vor der Kirche haben muß, wenn sie wegen eines so unbedeutenden Anlasses mit einem so riesigen Aufgebot auftritt«. Wenn in Rohr Kirmes sei, so ein Reichsbahn-Angestellter, kämen »tausende von Menschen«, aber nicht ein einziger Polizist; »oder sie kommen, wenn alles vorbei ist«. Die Bezirksleitung der SED wunderte das Unverständnis der Einwohner Rohrs nicht. Dort sei ungenügende politische Arbeit geleistet worden, was der Pfarrer dazu nutze, »um den bereits vorhandenen kirchlichen Einfluß auszudehnen«. Das lasse sich daran ablesen, »daß der überwiegende Teil der 14jährigen zur Konfirmationsstunde geht«.40 Heinemanns Einfluss auf die Jugendlichen sei »groß«, hatte es schon 1962 geheißen, die Arbeit der FDJ sei »nicht die beste«; der Bürgermeister tue zu wenig.41 Daran hatte sich bis 1983 offenbar nicht viel geändert.

39 BStU, MfS, BV Suhl, AOPK 1473/85, Bl. 64 – 69. 40 StAM, SED, BL Suhl, IV/E-2/14/337 (Böhringer, Information für das Sekretariat der BL, 04. 11. 1983). Pfarrer Heinemann notierte 1983, dass von den 1054 Einwohnern noch ca. 80 % Kirchensteuer bezahlten. 41 BStU, MfS, BV Suhl, AOPK 1473/85, Bl. 16 – 18 (30. 03. 1962). Diese Akten von 1962 wurden angelegt, nachdem die Versuche seit 1958, ihn als IM anzuwerben, gescheitert waren, da er sich selbst »dekonspirierte«.

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Die »Friedenswallfahrt« in Rohr 1983

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Fazit 1. Aus den Akten sind die Motive nur zu erahnen, die die SED zu ihrem Vorgehen gegen den ökumenischen Jugendsonntag in Rohr veranlasste. Möglicherweise sollten am Ende des Luther-Jahres den Kirchen ihre Grenzen aufgezeigt werden. Am 26. Oktober beschloss das Politbüro Leitsätze für die künftige Politik gegenüber den Kirchen, die deren gesellschaftliche Wirkungsmöglichkeiten einschränken und sie »auf ausschließlich religiöse Fragen« begrenzen sollten.42 Rasch ließ sich an Beschwerden aus Kirchenkreisen der beginnende Vollzug des neuen Kurses ablesen. Am 5. Dezember kritisierte die Synode der EvangelischLutherischen Kirche in Thüringen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf dem Gebiet der DDR. Der Burgfriede des Luther-Jahres war vorbei. 2. Die Veranstaltung war ein lokales Ereignis, aber sie wirft ein bezeichnendes Licht auf das Binnenklima der DDR, auf die Angst und das Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern bereits zu einer Zeit, als die SED noch keine weitergehenden Befürchtungen um das Schicksal ihres States haben musste. Sie wirft mehr noch ein Licht auf die möglichen Lektüren staatlicher und kirchlicher Akten. Die staatlichen unterstreichen das Fehlen jeglichen Verständnisses für die Haltung der Kirchen und ihrer Vertreter in der Friedensfrage. Wenn, so der Erfurter Erste Bezirkssekretär Gerhard Müller, »die ganze DDR […] eine große Friedensbewegung« war, dann war eine unabhängige Friedensbewegung überflüssig, gar schädlich.43 Aus einer solchen Sichtweise hatte eine Veranstaltung wie die in Rohr unvermeidlich einen »feindselig-negativen« Charakter. Aber auch die kirchlichen Akten lassen einen Einblick in die Umstände und die Motive, die den Erwägungen und Handlungen der Kirchenvertreter zugrunde lagen, nur bedingt zu. Gerade in einer Diktatur mit ihren Grenzen des Sagbaren ist das stille Wissen um die Gemeinsamkeit von Handlungsweisen, Symbolen und Zeichen mit ihren Bedeutungszuweisungen und Aufladungen eine charakteristische, non-verbale Form der Kommunikation. Die Interpretation solchen Schriftguts ist für Nicht-Beteiligte ohne die »Übersetzung« durch Zeitzeugen eine methodische Herausforderung. Es wird doppelte Herausforderung, wenn der Zeitzeuge sich selbst interpretiert. Doch darin liegt ein Reiz der Zeitgeschichte.

42 Hartweg (Hg.): SED und Kirche, Bd. 2, S. 483 – 486. Der Kurs des 6. März 1978 habe sich »bewährt«, aber die Kirchenleitungen müssten auf ihre Rolle und ihre Rechte in der DDR hingewiesen werden; vor allem dürften die Kirchen nicht »für politisch-oppositionelle Tendenzen« missbraucht werden. 43 Mestrup u. Remy : »Wir können ja hier offen reden…«, S. 97, 100.

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Universität und Wissenschaft

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Manfred Rudersdorf

»Ohne Humanismus keine Reformation« – Zur kulturellen Dynamik des Universitätshumanismus im Zeichen von korporativer Konformität und nonkonformer Herausforderung

Anliegen dieses kleinen Beitrages soll sein, mit der Darlegung einer lange umkämpften universitären Grundkonstellation am Beginn der Neuzeit problemorientiert aufzuzeigen, wie sehr die Universitätsgeschichte imstande ist, über die Jahrhunderte hinweg ihren spezifischen Teil zur Aufklärung der allgemeinen Geschichte zu leisten.1 Geistig-weltanschauliche Auseinandersetzungen, politisch-gesellschaftliche Konflikte oder interterritoriale Umbruchsszenarien fanden in der Vergangenheit nicht selten ihren Niederschlag in intellektuellen Diskursen an der Universität, die auch heute noch, wenn auch fragmentarisch und selektiv, wie ein Seismograph die komplexe soziale Realität ihrer Umwelt aufnimmt, sie kontrovers verarbeitet und in ihrer Ambivalenz nach innen wie nach außen kommentierend widerspiegelt.2 Im Folgenden geht es nun um die 1 Ich widme diesen Beitrag Hans-Werner Hahn in alter Verbundenheit seit den Tagen der gemeinsamen Studienzeit an der Justus Liebig-Universität Gießen. Eine erste Fassung des Textes habe ich am 03. Juli 2012 im Rahmen der Plenarvorträge am DFG-Graduiertenkolleg »Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik« an der Universität Leipzig vorgetragen. Die in diesem Beitrag behandelte Problematik wird in weiteren Teilprojekten aufgegriffen und vertieft. Für Mithilfe bei den Korrekturarbeiten danke ich Frau Katja Wöhner und Herrn Johannes Bolte (beide Universität Leipzig). 2 Zur Diskussion über den sich wandelnden Standort der Universität in den Epochen der Geschichte und dessen Bedeutung für die historiographische Bewertung universitäts- und wissenschaftsgeschichtlicher Leistungen vgl. Peter Moraw: Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: ders. / Volker Press (Hg.): Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte. Marburg 1982, S. 1 – 43; Anton Schindling: Deutsche Universitäten in der Neuzeit: Eine Einführung in ihre Erforschung mit Würdigung der Arbeiten von Peter Baumgart, in: Peter Herde / ders. (Hg.): Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Würzburg 1998, S. 15 – 35; Rüdiger vom Bruch: Universitas semper reformanda. Grundzüge deutscher Universitäten in der Neuzeit, in: Manfred Rudersdorf / Wolfgang Höpken / Martin Schlegel (Hg.): Wissen und Geist. Universitätskulturen. Symposium anläßlich des 600jährigen Jubiläums der Universität Leipzig. Leipzig 2009, S. 19 – 41; Wolfgang Neugebauer : Zustand und Aufgaben moderner europäischer Bildungsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 1995/22, S. 225 – 236; Matthias Asche / Stefan Gerber : Neuzeitliche Universitätsgeschichte in Deutschland. Entwicklungslinien und Forschungsfelder, in: Archiv für Kulturgeschichte 2008/90, S. 159 – 201; Michael Maaser / Gerrit

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Manfred Rudersdorf

Grundstruktur einer fast schon klassisch zu nennenden Konstellation, nämlich um das Ringen des Einflusses des Humanismus auf die Reformation, die den Beginn einer neuen Epoche der europäischen Religions- und Geistesgeschichte einleitete und dabei ganz besonders die Rolle der Universitäten als exponierte Bildungs- und Ausbildungsstätten im Gefüge der altständischen Gesellschaft herausstellte.3 Die im mittelalterlichen »Christenheitseuropa«4 wurzelnde Einrichtung der Institution Universität kann dabei auf eine lange epochenübergreifende, über 800-jährige Vergangenheit zurückblicken. Die ersten Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden, von Magistern und Scholaren konstituierten sich um 1200 in Bologna und Paris, bereits im 13. Jahrhundert kamen weitere zehn dieser neuen Bildungskommunitäten in Süd- und Westeuropa hinzu. Erst mit deutlicher zeitlicher Verzögerung wurden im 14. Jahrhundert Universitäten und Hohe Schulen im mitteleuropäischen Kernraum errichtet. Den Anfang bildete die Prager Gründung im Jahr 1348, ihr folgten die Universitäten in Krakau, Wien, Heidelberg, Köln, Erfurt und 1409 in Leipzig. Mit wenigen städtischen Ausnahmen handelte es sich dabei um den alteuropäischen Typus einer vom Staat fundierten und kontrollierten landesherrlichen Vier-Fakultäten-Universität. Die unterste, die bisweilen unterschätzte, aber curricular grundlegende Fakultät, war die Artistenfakultät, die seit dem 16. Jahrhundert zunehmend als Philosophische Fakultät bezeichnet wurde. Erst die elementare artistische GrundausWalther (Hg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar 2011. 3 Der Zusammenhang von Humanismus und Reformation ist bereits in der älteren Historiographie mit unterschiedlicher Akzentsetzung in geradezu klassisch zu nennenden Beiträgen thematisiert worden. Hier eine Auswahl: Georg Kaufmann: Geschichte der deutschen Universitäten. Bd. 2: Entstehung und Entwicklung der deutschen Universitäten bis zum Ausgang des Mittelalters. Stuttgart 1896 (ND Graz 1958), S. 490 – 562; Paul Joachimsen: Renaissance, Humanismus und Reformation [1925], in: ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 1, hrsg. von Notker Hammerstein, Aalen 21983, S. 125 – 147. Ders.: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes [1930], in: ebd., S. 325 – 386; Gerhard Ritter : Die geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus, in: Historische Zeitschrift 1923/127, S. 393 – 453; Paul Oskar Kristeller : Die humanistische Bewegung, in: ders.: Humanismus und Renaissance. Bd. 1: Die antiken und mittelalterlichen Quellen. Hrsg. von Eckard Keßler, München 1974, S. 11 – 29; Erich Meuthen: Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus, in: Heinz Angermeier (Hg.): Säkulare Aspekte der deutschen Geschichte im 16. Jahrhundert. München 1983, S. 217 – 276; Lewis W. Spitz: Humanismus/Humanismusforschung, in: Theologische Realenzyklopädie 1986/15, S. 639 – 661; Walter Rüegg: Die Funktion des Humanismus für die Bildung politischer Eliten, in: Gerlinde Huber-Rebenich / Walther Ludwig (Hg.): Humanismus in Erfurt. Rudolstadt / Jena 2002, S. 13 – 32; schließlich der wichtige Aufsatz von Bernd Moeller : Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1959/70, S. 46 – 61, der das im Titel verwandte berühmte Diktum »Ohne Humanismus keine Reformation« (S. 59) geprägt hat. 4 Begriffsbildung bei Heinz Schilling: Die Neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten 1250 bis 1750. Berlin 1999.

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»Ohne Humanismus keine Reformation«

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bildung in den wichtigsten Kulturtechniken berechtigte zum Studium an einer der drei höheren Fakultäten – der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin. Nur an ganz wenigen Universitäten des Alten Reiches gab es neben der klassischen Fakultätenverfassung noch eine geographisch-regional orientierte Nationenverfassung als normative Regulierungsinstanz, wie dies im Gefolge von Prag seit 1409 in Leipzig der Fall war. Viele Universitätsbesucher waren Mitglieder in traditionellen Bursen- und Kollegiengemeinschaften. Die Institution Universität war also beileibe kein einheitlicher monolithischer Rechts- und Personenverband. Sie gliederte sich in verschiedenste Teilkorporationen – in Fakultäten, Nationen, Kollegien, Bursen und Konvikte, die ihr administrativ mehr oder weniger fest unterstanden, die über eigene Privilegien und Freiheiten verfügten und durchaus eigene akademische Interessen verfolgten. Gleichwohl blieben aber die korporativen universitären Teileinheiten häufig personell und rechtlich eng miteinander verknüpft.5 Die vorstehend beobachteten Einsichten und Trends der mitteleuropäischen Universitätsentwicklung haben unstrittig auch die Gestalt, das Profil und die Existenzweise der wettinischen Hochschulen in Leipzig, Wittenberg und Jena – trotz mancher ortsspezifischer Besonderheiten – im Jahrhundert der Reformation und konkurrierenden Konfessionalisierung ganz entscheidend mitgeformt. Aus der vielfältigen Entwicklungsgeschichte der Leipziger Universität, der ältesten unter den drei ernestinisch-albertinischen Hochschulen (von dem Sonderfall der noch älteren Erfurter Alma mater einmal abgesehen), soll in den folgenden Ausführungen ein spezifisches historisches Segment näher betrachtet werden, das über seine lokale strukturelle Dimension hinaus eine gemeineuropäische Bedeutung beanspruchen darf: die lange umkämpfte generationenübergreifende Gratwanderung zwischen konfessionellem Bekenntniszwang und akademischer Lehrfreiheit an der Universität. Zugleich wird damit ein zentraler weichenstellender Abschnitt der vormodernen europäischen Wissenschaftsgeschichte berührt, nämlich der Konflikt um die Vorherrschaft von kompromissloser Konfessionsorthodoxie oder universalem Humanismus, der sich über das 16. Jahrhundert hinaus im 17. Jahrhundert, neben vielen anderen Faktoren,

5 Zur Entwicklungsgeschichte und institutionellen Ausformung der vormodernen Universitäten vgl. vor allem Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1: Das Mittelalter. München 1993; Bd. 2: Von der Reformation bis zur Französischen Revolution 1500 – 1800. München 1996; Notker Hammerstein (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15.–17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996; Rainer A. Müller : Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule. München 1990; Wolfgang E. J. Weber : Geschichte der europäischen Universität. Stuttgart 2002; Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. München 2003; Anton Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650 – 1800. München 21999.

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in seinen geistigen Auswirkungen als ein Wegbereiter der barocken Gelehrsamkeit und der Aufklärung erwies.6 Der sogenannte pädagogisch orientierte Schul- und Universitätshumanismus, der am Beginn der Neuzeit das System der mittelalterlichen Lehrscholastik Schritt für Schritt abgelöst hat, ist lange Zeit zugunsten der großen Köpfe des europäischen Humanismus – etwa eines Konrad Celtis, Ulrich von Hutten, Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus, Justus Lipsius oder Johannes Kepler und deren individualistischen literarischen Projektionen – unangemessen vernachlässigt worden. Dabei war es gerade der universitär-verankerte, regional breit verwurzelte Schulmeisterhumanismus, der im Sinne einer longue dur¦e in der Ständegesellschaft Alteuropas auch abseits von Universitäten und Fürstenhöfen eine raumgreifende nachhaltige Resonanz und Wirkung erzielt hat, etwa in städtischen Lateinschulen, in landesherrlichen Fürsten- und Klosterschulen oder in voruniversitären Pädagogien.7 Die vormoderne, vorklassische Universität in Europa war jedoch die bevorzugte Bühne der wissenschaftlichen Entfaltung und der öffentlichen Profilbildung des christlichen Schulhumanismus; sie war der traditionelle Ort der kommunikativen Auseinandersetzung über Sakralität und Säkularität der damals höchst kontrovers diskutierten humanistisch-reformatorischen Moder6 Das angedeutete Spannungsfeld zwischen evangelischer Theologie und humanistischer Disziplinenvielfalt ist seit langem Gegenstand kontroverser Diskussionen im Kontext der Wittenberger Reformation und lutherischen Konfessionalisierung. Vgl. Helmar Junghans: Der Einfluß des Humanismus auf Luthers Entwicklung bis 1518, in: Lutherjahrbuch 1970/37, S. 37 – 101; ders.: Der junge Luther und die Humanisten. Berlin 1985; ders.: Martin Luthers Einfluß auf die Wittenberger Universitätsreform, in: Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea. Leipzig 2002, S. 55 – 70; ders.: Der mitteldeutsche Renaissancehumanismus. Nährboden der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2004. Mit einer anderen Akzentsetzung vgl. Heinz Scheible: Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform. Zum Quellenwert von Lutherbriefen, in: Michael Beyer / Günther Wartenberg (Hg.): Humanismus und Wittenberger Reformation. Leipzig 1996, S. 123 – 144; ders.: Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. Hrsg. von Gerhard May / Rolf Decot, Mainz 1996; ders.: Melanchthon. Eine Biographie. München 1997; ders.: Die Philosophische Fakultät der Universität Wittenberg von der Gründung bis zur Vertreibung der Philippisten, in: Archiv für Reformationsgeschichte 2007/98, S. 7 – 43. 7 Vgl. hierzu grundlegend: Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538 – 1621. Wiesbaden 1977; Matthieu Arnold (Hg.): Quand Strasbourg accueillait Calvin 1538 – 1541. Strasbourg 2009; Peter Baumgart: Universitäten im konfessionellen Zeitalter. Gesammelte Beiträge. Münster 2006 (mit den Schwerpunkten auf Helmstedt und Würzburg); Notker Hammerstein: Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Hrsg. von Ulrich Muhlack / Gerrit Walther, Berlin 2000; Matthias Asche: Humanistische Bildungskonzeptionen im konfessionellen Zeitalter. Ein Problemaufriß in zehn Thesen, in: Julius Oswald SJ / Rita Haub (Hg.): Jesuitica. Forschungen zur frühen Geschichte des Jesuitenordens in Bayern bis zur Aufhebung 1773. München 2001, S. 376 – 404.

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nisierungsperspektiven. Aus der Sicht der korporativ organisierten Universitäten lässt sich wie bei keiner anderen Institution Alteuropas der lange Weg aus der altständischen, sozialkonservativ geprägten Vormoderne in die Welt der Moderne, der zivilen Bürgergesellschaften und der konstitutionellen Verfassungssysteme in besonderer Weise nachzeichnen, freilich aber auch dessen Brüche, Verwerfungen und Diskontinuitäten.8 Drei Faktoren sind zu nennen, die den klassischen Universitätstypus der Reformationszeit, insbesondere den des konfessionellen Zeitalters bestimmt haben: 1. die Dominanz der Politik als Ausdruck früher deutscher Territorialstaatlichkeit, 2. der vom Humanismus geprägte Erfahrungs- und Bildungshorizont einer neuen Generation von Studierenden und 3. die Ausrichtung, ja der Zwang zur konfessionsgebundenen Orientierung der Hochschulen, sei es nach Rom, sei es nach Wittenberg oder nach Genf.9 Wenn im Folgenden neben dem reformatorischen Modell Wittenberg das Beispiel der 600-jährigen Leipziger Universität in den Blick genommen wird, so deshalb, weil wir es hier mit einer Hohen Schule im Spannungsfeld zwischen landesherrlicher Disziplinar- und Kontrollgewalt, korporativer Universitätsautonomie und der spezifischen urbanen Umgebung einer mobilen messe- und handelsstädtischen Gesellschaft zu tun haben, auf die die drei genannten Definitionsmerkmale zutreffen.10 Die Leipziger Universität, nach dem Auszug der Prager Magister und Scholaren 1409 gegründet, 1539 vergleichsweise spät protestantisch geworden, nach Melanchthons Tod 1560 auf dem Weg zu einer Schutz- und Trutzburg des orthodoxen (Konkordien-)Luthertums, stand im Reformationsjahrhundert ganz im Banne der benachbarten originären Musteranstalt in Wittenberg und ihrer prominenten Autoritäten, des großen Theologen Luther und des bedeutenden Humanisten Melanchthon.11 Trotz dieses temporären, durchaus real wahrge8 Vgl. Manfred Rudersdorf: Die Universität im alteuropäischen Kontext. Neuanfang 1539 – Reformation und Konfessionalisierung, in: Ders. / Wolfgang Höpken / Martin Schlegel (Hg.): Wissen und Geist. Universitätskulturen. Symposium anläßlich des 600jährigen Jubiläums der Universität Leipzig. Leipzig 2009, S. 61 – 77. 9 Vgl. auch Peter Baumgart: Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus [1991], in: Ders.: Universitäten im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 7), S. 5 – 30. 10 Im größeren Kontext vgl. weitere Einzelheiten bei Manfred Rudersdorf: Weichenstellung für die Neuzeit. Die Universität Leipzig zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg 1539 – 1648/1660, in: Enno Bünz / Ders. / Detlef Döring: Geschichte der Universität Leipzig 1409 – 2009. Bd. 1: Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit. Leipzig 2009, S. 326 – 515, 775 – 840; vgl. auch Enno Bünz / Franz Fuchs (Hg.): Humanismus an der Universität Leipzig. Wiesbaden 2008. 11 Dazu instruktiv: Thomas Töpfer : Die Leucorea am Scheideweg. Der Übergang von Universität und Stadt Wittenberg an das albertinische Kursachsen 1547/48. Eine Studie zur Entstehung der mitteldeutschen Bildungslandschaft. Leipzig 2004; ders.: Die Universitäten Leipzig und Wittenberg im Reformationsjahrhundert. Aspekte einer vergleichenden Uni-

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nommenen Schattendaseins bildete gerade im urbanen Leipzig das klassische Spannungsgefüge der Epoche, der gegenseitige Konformitätsdruck zwischen Humanismus und Reformation ein beziehungsreiches soziales Milieu- und Exerzierfeld, in dem sich nicht nur der Geist der Autonomie, sondern auch das korporative wissenschaftliche Profil der Universität in der unmittelbaren Nachbarschaft von Handel, Gewerbe und Ökonomie herausgefordert sah.12 Die Herausbildung von neuen flexibleren Strukturen in Staat, Kirche und frühneuzeitlicher Ständegesellschaft einerseits sowie die kollektive Prägung von Mentalitäten und Verhaltensweisen der Menschen andererseits sind ganz entscheidend durch die kirchlich-staatlichen Verdichtungsprozesse des konfessionellen Zeitalters, in einer wichtigen Scharnierfunktion zwischen Mittelalter und beginnender Neuzeit, mitbestimmt worden – nicht zuletzt durch die stark zugenommene Bedeutung des akademischen Studiums als frühmodernes Qualifikationsmerkmal für die »neuen« Eliten in der landesherrlichen Bürokratie und ihre administrativen Bedürfnisse.13 Die Hohen Schulen in Leipzig und Wittenberg stehen exemplarisch für diesen strukturellen, keineswegs krisenfreien langen Formierungsprozess im 16. Jahrhundert, der von einem engen Ineinandergreifen von Politik, Religion und Machtsicherung – von konfessionellen und säkularen Faktoren also – gekennzeichnet war. So wurde der Uniformitätszwang der lutherischen Rechtgläubigkeit von der weltlichen Obrigkeit bei der Ausübung ihres Kirchenregiments programmatisch als ein wesentlicher Staatszweck verstanden. Die Universitäten in ihrer Rolle als akademische Ausbildungsstätten waren daher für das frühneuzeitliche Territorium mit seiner Vorstellung von einem einheitlichen geschlossenen Konfessionsstatus von geradezu konstitutiver Bedeutung.14 versitätsgeschichte im territorialen Kontext, in: Detlef Döring (Hg.): Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen. Leipzig 2007, S. 41 – 83. 12 Vgl. Wieland Held: Leipzig in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Günther Wartenberg / Christian Winter (Hg.): Philipp Melanchthon und Leipzig. Ausstellungskatalog Leipzig 1997, S. 7 – 19; Helmut Bräuer: Von der Leipziger Teilung bis zum Westfälischen Frieden (1485 – 1648), in: Neues Leipzigisches Geschicht-Buch. Leipzig 1990, S. 72 – 99; Manfred Rudersdorf: Kirchenreformation und Universitätsreform in der sächsischen Messestadt Leipzig. Das Zäsurjahr 1539 und seine politischen Voraussetzungen, in: Thomas Heiler / Alessandra Sorbello Staub / Bernd Willmes (Hg.): »Der Weise lese und erweitere sein Wissen«. Beiträge zu Geschichte und Theologie. Festgabe für Berthold Jäger. Freiburg / Basel / Wien 2013, S. 277 – 291. 13 In vergleichender Perspektive hierzu Volker Press: Soziale Folgen der Reformation in Deutschland, in: Ders.: Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 22000, S. 435 – 479; ders.: Martin Luther und die sozialen Kräfte seiner Zeit, in: ebd., S. 590 – 621. 14 Zum Hintergrund vgl. Töpfer : Die Universitäten Leipzig und Wittenberg (wie Anm. 11), S. 41 – 83; Matthias Asche: Jena als Typus einer protestantischen Universitätsgründung im Zeichen des Humanismus, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 2009/63, S. 117 – 142.

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Allerdings rief dieser exklusive, für die Zeit typische antiplurale Alleinstellungsanspruch der Religionssuprematie sogleich deutlichen Widerspruch in Kreisen nonkonformer studierter Amtsträger in Staat und Kirche hervor, der nunmehr in das Zentrum meiner Darlegungen führt, nämlich in das Ringen um die Bewertung des politischen Grundkonflikts zwischen den Normen der neuen lutherischen Konfessionsorthodoxie und denjenigen der offeneren überkonfessionellen humanistischen Denkkultur. Im Kern geht es dabei um die umkämpfte vorherrschende Divergenz zwischen dem konfessionellen obrigkeitlichen Bekenntniszwang und dem, was wir heutzutage modern akademische Lehrfreiheit oder gesetzlich garantierte, professorale Lehr- und Forschungsautonomie nennen.15 Was war geschehen? 1574 kam es in Wittenberg und Leipzig zur offenen Konfrontation zwischen den rivalisierenden Meinungsführern des entstehenden orthodoxen Luthertums und den sogenannten Philippisten, den humanistischen Anhängern der von Philipp Melanchthon propagierten gemäßigteren Richtung im deutschen Protestantismus.16 Die noch junge lutherische Identität der Leipziger Universität geriet in diesem konfessionspolitischen Konflikt schnell in Gefahr. Die Protagonisten der orthodoxen Seite verdächtigten in denunziatorischer Absicht die sächsischen Philippisten der Nähe zum wenig geschätzten Calvinismus – allen voran Caspar Peucer, den Schwiegersohn Melanchthons, Christoph Pezel, den späteren Reformator Bremens und weitere namhafte Akteure in Dresden, Wittenberg und Leipzig.17 15 Vgl. dazu Manfred Rudersdorf: Luthertum, humanistische Bildung und Territorialstaat. Anmerkungen zu einem historischen Problemzusammenhang im Reformationsjahrhundert, in: Michael Beyer / Jonas Flöter / Markus Hein (Hg.): Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg. Leipzig 2008, S. 301 – 315; Thomas Töpfer : Landesherrschaft – fürstliche Autorität – korporative Universitätsautonomie. Die Anfänge der Universität Wittenberg 1502 – 1525, in: Karlheinz Blaschke / Detlef Döring (Hg.): Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt. Leipzig / Stuttgart 2004, S. 27 – 54. Vgl. auch die anregende Problemstudie von Klaus Schreiner : Disziplinierte Wissenschaftsfreiheit. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis freien Forschens, Lehrens und Lernens an der Universität Tübingen (1477 – 1945). Tübingen 1981. 16 Vgl. ausführlich Robert Calinich: Kampf und Untergang des Melanchthonismus in Kursachsen in den Jahren 1570 – 1574 und die Schicksale seiner vornehmsten Häupter. Leipzig 1866; August Kluckhohn: Der Sturz der Kryptocalvinisten in Sachsen 1574, in: Historische Zeitschrift 1867/18, S. 77 – 127; Herbert Helbig: Die Reformation der Universität Leipzig im 16. Jahrhundert. Gütersloh 1953, S. 108 – 133; Ernst Koch: Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren, in: Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – das Problem der zweiten Reformation. Gütersloh 1986, S. 60 – 77. 17 Umfassende Würdigung bei Ulrike Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576 – 1580). Münster 2009, S. 78 – 146; zu prominenten Einzelschicksalen vgl. Jens Bruning: Caspar Peucer und Kurfürst August. Grundlinien kursäch-

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Die Reaktion der Politik aus Dresden war im obrigkeitlichen Sinne konsequent und kompromisslos: Bücher und Streitschriften wurden beschlagnahmt, Zensurmaßnahmen verschärft, mit dem Mittel der Visitation strenge Verhöre durchgeführt. Sofortige Entlassungen von Professoren waren die Konsequenz einer frühabsolutistischen staatspolitischen Doktrin, die den konfessionellen Alleinstellungsanspruch des Wittenberger Luthertums mit dem Instrument der Observation, mit Amtsentzug und Landesausweisung strikt verteidigte.18 Der dadurch verstärkte Konformitäts- und Loyalitätsdruck auf Einhaltung der lutherischen Lehrnorm durch die Eliten des Landes ließ das Erbe der irenisch denkenden Humanisten und Bildungsreformer um Melanchthon in Wittenberg und Camerarius in Leipzig obsolet werden. Beide Protagonisten waren 1574 bereits tot, sodass ihre Nachfolger und Schüler das humanistische Erbe an der Universität Leipzig gegen die Meinungsmacht des strengen Luthertums, auch gegen Interventionen aus dem gnesiolutheranisch gesinnten Jena, verteidigen mussten.19 Im Angesicht der bedrohten Religionseinheit standen sich nach 1574 in gewisser Weise zwei konfessionelle Glaubens- und Lebensentwürfe zwischen lutherischer Orthodoxie und humanistischer Irenik gegenüber, die um Anerkennung und Erneuerung ihrer normativen und geistig-kulturellen Ausrichtung rangen. Aber selbst auf dem Höhepunkt der Krise 1580 gelang es den staatlichen Religionswächtern nicht, konfessionelle Indifferenz und humanistisch begründete Lehrvielfalt zugunsten der angestrebten landeseinheitlichen Konfessionsuniformität zu unterdrücken. Die davon ausgehende kulturelle Dynamik war eine Folge der produktiven Selbstbehauptung der Humanisten, denen es gelang, jenseits der Theologie dauerhafte Freiräume an der Universität zu öffnen, nicht zuletzt dank des Erfolgs der philologisch-philosophischen Bildungsreform, die mit ihrem neuen Sprachencurriculum und den neuen rhetorischen Vermittsischer Reichs- und Konfessionspolitik nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555 – 1586), in: Hans-Peter Hasse / Günther Wartenberg (Hg.): Caspar Peucer (1525 – 1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter. Leipzig 2005, S. 157 – 173; Jürgen Moltmann: Christoph Pezel (1539 – 1604) und der Calvinismus in Bremen. Bremen 1958. 18 Zum Hintergrund: Hans-Peter Hasse: Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569 – 1575. Leipzig 2000, hier S. 137 – 182; Jens Bruning: August (1553 – 1586), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089 – 1918. München 22013, S. 110 – 125. 19 Vgl. Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577. Leipzig 2011; Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum (wie Anm. 17), S. 147 – 301. Generelle Aspekte bei Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006.

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lungsformen säkularisierende Gegengewichte zur Exklusivität der lutherischen Orthodoxie schuf. Christliche Sakralität, humanistische Säkularität und konfessionell bedingte Mischformen aus beiden Elementen rangen am Ende des Reformationsjahrhunderts – lange Zeit mit offenem Ausgang für das Anliegen der Humanisten – um öffentlichen Einfluss, um kulturelle Hegemonie, um disziplinäre und institutionelle Normierung und nicht zuletzt um intellektuelle Wahrhaftigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz.20 Die Frage, die sich hieran konsequent anschließt, bleibt spannend: War die Kultur des erstarkten Universitätshumanismus mit seinen libertären Tendenzen überhaupt mit der Kultur der strengen dogmatischen Konfessionalisierung in Übereinstimmung zu bringen? Die Antwort lautet: Ja, sie war es durchaus, allerdings erst nach einer Phase heftigen Ringens mit der staatlichen Obrigkeit um regulierende Normbildung und disziplinäre Statusbehauptung in einem neu geschaffenen universitären Koexistenzsystem zwischen Theologischer Fakultät und konsolidierter verfachlichter Artistenfakultät, das von den fakultären Kommunitäten der Juristen und der Mediziner flankiert wurde.21 Den humanistisch denkenden Professoren gelang in ihren Disputationen und Vorlesungen beharrlich die Hinwendung zu Formen einer neuen philologischkritisch geschulten Bildung und Gelehrsamkeit im Geiste der christlichen (und überdies erfolgreich verteidigten paganen) Antikenrezeption und damit der Wiederbelebung der kommunikativen Kraft der klassischen alten Sprachen der Bibel. Die Ausbildung in der zentralen Artes-Disziplin der Rhetorik wurde schnell zu einer Leitwissenschaft im neugestalteten curricularen Unterricht – ganz im Geiste des humanistischen Reformideals der neuen Schulmeister im Gefolge der Reformation.22 Das alles war freilich nicht einfach durchzusetzen. 20 Dazu vgl. Manfred Rudersdorf / Thomas Töpfer : Fürstenhof, Universität und Territorialstaat. Der Wittenberger Humanismus, seine Wirkungsräume und Funktionsfelder im Zeichen der Reformation, in: Thomas Maissen / Gerrit Walther (Hg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen 2006, S. 214 – 261; Koch: Der kursächsische Philippismus (wie Anm. 16), S. 60 – 77. 21 Zum Spannungsgefüge innerhalb der gemeineuropäischen humanistischen Diskurskultur vgl. insbesondere Nicolette Mout (Hg.): Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler. München 1998; Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500 – 1800. Göttingen 2000, hier S. 43 – 171; Dieter Mertens: Deutscher Renaissance-Humanismus, in: Stiftung »Humanismus heute« des Landes Baden-Württemberg (Hg.): Humanismus in Europa. Heidelberg 1998, S. 187 – 210; Matthias Asche: Humanistische Distanz gegenüber dem »Konfessionalisierungsparadigma«. Kritische Bemerkungen aus der Sicht der deutschen Bildungs- und Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 2001/7, S. 261 – 282. 22 Vgl. Anton Schindling: Institutionen gelehrter Bildung im Zeitalter des Späthumanismus. Bildungsexpansion, Laienbildung, Konfessionalisierung und Antike-Rezeption nach der Reformation, in: Sabine Holtz / Dieter Mertens (Hg.): Nicodemus Frischlin (1547 – 1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Stuttgart / Bad Cannstatt 1999, S. 81 – 104, hier S. 93 – 100; Wolfgang Mährle: Academia

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Den engen Rahmenbedingungen, die der frühmoderne Territorialstaat mit seiner Religionspolitik vorgab, stand die überkonfessionelle humanistische Bildungsbewegung als komplementäres universales Angebot gegenüber. So mussten sich die Studia humanitatis neue Wege eröffnen, um sich gegen die drohende geistige Enge des Status confessionis im »durchkonfessionalisierten« sächsischen Territorialstaat am Ende des Konflikts zu behaupten.23 Die Konfrontation zwischen den irenisch gesinnten Philippisten und den Verfechtern einer hierarchisch-organisierten lutherischen Bekenntniskirche in den 1570er Jahren war nicht zuletzt auch ein Fanal für den heftigen Streit über das Verhältnis des humanistischen Fächerkanons der septem artes liberales zur Lehre und Systematik der reformatorischen Theologie. In der Tradition Melanchthons und Camerarius’ kam den humanistischen Fächern durchaus ein selbständiger Wert gegenüber der Theologie zu.24 Eine Ausnahme war indessen die Ausbildung in den antiken Sprachen, die für das Verständnis der Heiligen Schrift notwendig war. Die Gegner der humanistischen Tradition betonten dagegen die stärkere Besinnung auf die genuin theologisch-praktischen Disziplinen, auf Predigt und Seelsorge, die vor einem weitschweifigen und spekulativen humanistisch inspirierten Gelehrtentum schützen sollten. Unbedingte Bibeltreue und sanktionierende Konfessionseide wurden vor und nach 1580 zu Ausschlusskriterien für nonkonforme humanistische Schwarmgeister, aber auch für seriöse Gelehrte und bewährte Staatsdiener erhoben, die dem Druck nicht länger standhalten wollten oder konnten.25 Schließlich mündete die Auseinandersetzung im Zeichen der Konfessionalisierung in eine systemkonforme, insistierende Form begrenzten Widerspruchs ein, die den undogmatischen evangelischen Reformpädagogen half, den Gegensatz zwischen humanistischem Denken und reformatorischer Gläubigkeit zu mildern, und zwar zugunsten einer offensiven Indienstnahme der konformen, vor allem der pädagogischen Seiten des Humanismus als angewandte Lehr- und Lernmethode. Ihnen war es nach einer schwierigen Phase der Konfrontation über alle Brüche und Wandlungsprozesse hinweg gelungen, in der großen, obNorica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule Altdorf (1572 – 1623). Stuttgart 2000, hier S. 185 – 260 sowie zusammenfassend S. 517 – 535. 23 Grundsätzliche Aspekte bei Peter Baumgart: Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts [1984], in: Ders.: Universitäten im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 7), S. 31 – 60. 24 Vgl. Rainer Kößling: Joachim Camerarius und die studia humanitatis an der Leipziger Universität – Tradition und Neubeginn, in: Walther Ludwig (Hg.): Die Musen im Reformationszeitalter. Leipzig 2001, S. 305 – 314; Ders. / Günther Wartenberg (Hg.): Joachim Camerarius. Tübingen 2003. 25 Rudersdorf: Weichenstellung für die Neuzeit (wie Anm. 10), hier S. 396 – 429; Rudersdorf / Töpfer : Universität und Territorialstaat (wie Anm. 20), hier S. 243 – 261; Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum (wie Anm. 17), S. 302 – 412.

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rigkeitlich legitimierten Universitätsordnung von 1580 die säkular-humanistischen Bildungsinhalte endgültig in den reformatorischen Bildungskanon zu inkorporieren.26 Dies geschah trotz der weiterhin gültigen engmaschigen Kontrollvorkehrungen von staatlicher Seite im Hinblick auf die Religionspolitik. Visitationen, Disputationen, Konfessionseide, Zensur und Entlassungen blieben als Disziplinierungsinstrumente in Kraft und verstärkten den konservativ traditionalistischen Charakter der Leipziger Universität, die sich zu einem Hort der Orthodoxie mit neuscholastischen Lehrmethoden unter streng lutherischen Vorzeichen fortzuentwickeln begann. Auch dieser Status, vor allem dieser (!), wurde in dem lange währenden normativen Ordnungswerk von 1580 im Sinne einer eindeutigen lutherischen Konfessionsuniformität festgeschrieben.27 Und dennoch blieb davon die Zukunft der humanistischen Bildungsinhalte weitgehend unberührt. In den Artistenfakultäten fest verankert, wurden diese von zentraler Bedeutung für den curricularen Ausbildungsgang an der Universität. So trat nach den Wirren der 1570er Jahre neben die formale Verschulung gleichgewichtig die institutionelle Verstetigung der neuen humanistischen Bildungsinhalte – eine Verstetigung, die ihre identitätsstiftende Wirkung auf die Mentalität und die Ausbildungsstandards der späteren Amtsträger in Staat und Kirche auf Dauer nicht verfehlte. Gerade an den Universitäten als Stätten der Ausbildung war ein System funktionierender Koexistenzen geschaffen worden, in dem Raum für das vielfältige geistig-kulturelle Erbe – auch für das säkularhumanistische – des langen Reformationsjahrhunderts blieb, in dessen Zentrum die Entstehung der Konfessionen stand.28 Kontrolliertes nonkonformistisches Verhalten einzelner mutiger Individuen hatte letztendlich zu einer Reaktion, zur 26 Zu den territorienübergreifenden allgemeinen Aspekten der humanistischen Selbstbehauptung vgl. Anton Schindling: Konfessionalisierung und Grenzen der Konfessionalisierbarkeit, in: Ders. / Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500 – 1650. Bd. 7, Münster 1997, S. 9 – 44; Gerrit Walther : Humanismus und Konfession, in: Notker Hammerstein / Ders. (Hg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Göttingen 2000, S. 113 – 127. 27 Vgl. Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum (wie Anm. 17), S. 302 – 412; Sebastian Kusche: Konfessionalisierung und Hochschulverfassung. Zu den lutherischen Universitätsreformen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 2010/13, S. 27 – 44; Andreas Gößner : Die kursächsische Universitätspolitik, in: Helmar Junghans (Hg.): Die sächsischen Kurfürsten während des Religionsfriedens von 1555 bis 1618. Stuttgart 2007, S. 115 – 126. 28 Dafür bieten außerhalb des sächsischen Kulturraums die Studien von Peter Baumgart zur welfischen Landesuniversität Helmstedt einen eindrucksvollen Beleg: vgl. exemplarisch Peter Baumgart: David Chyträus und die Gründung der Universität Helmstedt [1961], in: ders.: Universitäten im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 7), S. 141 – 202; vgl. ebenso Matthias Asche: Von der reichen hansischen Bürgeruniversität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitäten Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit (1500 – 1800). Stuttgart 22010.

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allmählichen Ausformung einer pragmatischen, höchst praxisorientierten, dialogisch geprägten Konformität für das Zusammenwirken vieler Köpfe geführt, die sich im reformatorisch-humanistischen Bildungsideal des 16. Jahrhunderts ebenso handlungsleitend wie kulturell signaturstiftend wiederfand.29 Für den intellektuellen Kosmos der evangelischen Universitäten bedeutete das Ergebnis dieses bemerkenswerten Klärungsprozesses, dass sich die bildungshumanistische Forderung nach Rückbesinnung auf die Quellen des Altertums, in Abwendung von der traditionellen scholastischen Systematik der artistischen Wissenschaften, eng mit der Erneuerung der Kirche verband. Melanchthon in Wittenberg und Camerarius in Leipzig war es nach einer Phase der Auseinandersetzung gleichsam modellhaft gelungen, den Humanismus für die Reformation fruchtbar zu machen und somit jenseits aller Anfeindungen eine Symbiose von reformatorischer Theologie und humanistischer Bildung herzustellen.30 Ohne Humanismus keine Reformation – hier erweist sich noch einmal anschaulich und gut nachvollziehbar, wie tragfähig Bernd Moellers berühmtes Diktum für aktuelle Forschungsstrategien und empirische Deutungsmuster noch immer ist.31 Die politische Obrigkeit hatte gleichzeitig erkannt, dass die Sicherung des Bekenntnisses und damit auch die Stabilität der politischen Herrschaft ganz wesentlich von einem effizienten Schul- und Bildungswesen abhängig waren, das in der Lage war, die künftigen staatlichen und kirchlichen Funktionseliten adäquat nach einheitlichen Lehrplänen und didaktischen Zielvorgaben auszubilden. Mit der Konsolidierung des Kirchen-, Schul- und Universitätsregiments in der Hand der Herrschaft in Dresden, in der des säkularen Kurfürstenregiments ebenso wie in der des lutherischen Oberkonsistoriums, war somit der Weg Leipzigs – dem allgemeinen Trend der Zeit folgend – zu einer territorialisierten Landesuniversität im Gefüge der mitteleuropäischen Bildungslandschaft langfristig vorgezeichnet.32 Und dennoch blieb es schwierig, den Erneuerungskurs auf Dauer gegen bürokratische Restriktionsversuche der Regierung, gegen die Autorität der 29 An anderer Stelle weiter ausgeführt: Manfred Rudersdorf: Lutherische Orthodoxie und universaler Humanismus im Widerstreit? Zur Profilbildung der Leipziger Universität im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Nicolas Berg / Omar Kamil / Markus Kirchhoff / Susanne Zepp (Hg.): Konstellationen über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner. Göttingen 2011, S. 45 – 65. 30 Vgl. auch Torsten Woitkowitz: Die Freundschaft zwischen Philipp Melanchthon und Joachim Camerarius, in: Wartenberg / Winter : Melanchthon und Leipzig (wie Anm. 12), S. 29 – 39; Peter Walter : Melanchthon und die Tradition der »studia humanitatis«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1999/110, S. 191 – 208. 31 Moeller : Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation (wie Anm. 3), S. 46 – 61. 32 Dazu ausführlich Manfred Rudersdorf: Die Reformation und ihre Gewinner. Konfessionalisierung, Reich und Fürstenstaat im 16. Jahrhundert, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Bd. 6, Köln / Weimar / Wien 2002, S. 115 – 141.

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Theologen in Landeskirche und Universität zu verteidigen. Der eingeschlagene Weg, die theologische Krise des Philippismus durch die Dogmatisierung der lutherischen Konfessionskirche zu überwinden, verstärkte am Ende geradezu zwanghaft den beharrenden, ja bewahrenden Charakter der sächsischen Hohen Schule, die sich nach 1600 zu einem Zentrum der lutherischen Orthodoxie in Mitteleuropa fortentwickelte. Dies war zugleich eine handfeste Herausforderung für die Vertreter der Humaniora, die die Prägekraft der humanistischen Bildungskultur in der Konfrontation mit dem lutherischen Konfessionalisierungsprozess – mit dem Dominanzanspruch der Religion überhaupt – in besonderer Weise auf den Prüfstand stellte.33 In diesem säkularen geistesgeschichtlichen Grundkonflikt bewährte sich die Integrationskraft des Humanismus als weitgehend resistent und in hohem Maße als krisenfest, als eine gleichsam universelle, philologisch-literarisch gestaltende Kraft, die den Prozess der Akkulturation mit der Reformation unbeschadet überstanden hatte. Die damit korrespondierenden neuen, den geistigen Horizont erweiternden Kommunikations- und Wahrnehmungsformen, insbesondere die sich weiter ausbreitende, interpersonale filigrane Briefkultur, waren prägend für die Kultur des Humanismus in einer vom Meinungsstreit diktierten Zukunft.34 Humanistische Bildung und theologisches Studium erwiesen sich am Ende des Konflikts als komplementäre »Partner« einer relativ homogenen, an einheitlichen Leitbildern orientierten frühmodernen Elitenausbildung im Konfessionsstaat der frühen Neuzeit. Die humanistische Bildung war über die Streitkultur der konkurrierenden christlichen Konfessionen hinaus zu einem Gemeingut der europäischen Gelehrtenrepublik, der res publica litteraria, geworden, die bestehende oder neu errichtete konfessionelle Grenzen auch in anderen Ländern immer wieder zu überwinden vermochte. Das Maß an überregionaler Mobilität und an geistig-literarischer Korrespondenz über den engeren Kreis der Konfessionsverwandten hinaus war bemerkenswert und zeichnete die deutsche Universitätslandschaft des 16. und frühen 17. Jahrhunderts ungeachtet aller Barrieren, die die Territorialisierung und die Konfessionalisierung in ihrem offensiven Ausgrenzungsdrang zu bieten vermochten, besonders aus.35 33 Zu den konfessionsbestimmten Faktoren säkularer Territorial- und Reichspolitik und ihrer Rückwirkung auf die Religionspolitik allgemein vgl. die Beiträge in Heinz Schilling (Hg.): Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600. München 2007. 34 Mout: Kultur des Humanismus (wie Anm. 21), hier S. 11 – 26; Gerrit Walther : Humanismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit 2007/5, Sp. 665 – 692; ders.: Humanismus und Konfession (wie Anm. 26), S. 113 – 127. 35 Vgl. Baumgart: Die deutschen Universitäten (wie Anm. 9), S. 5 – 30; Hammerstein: Universitäten und Reformation [1994], in: Ders.: Res publica litteraria (wie Anm. 7), S. 388 – 401.

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Die Auseinandersetzung zwischen rechtgläubigem Luthertum und humanistischer Bildungsreform, zwischen Religion und grundständigen säkularen Kulturtechniken, hat zweifellos eine besondere kulturelle Dynamik mit Zukunftspotential entfaltet. Mit großer Schubkraft hat sie die weltliche Laienbildung in horizontaler wie in vertikaler Richtung gefördert und damit die jahrhundertealte Wirkkraft der kirchlich-klerikalen Ausbildung überwunden. Diese kulturelle Entfaltung ließ jenseits der dogmatischen Frontenbildung ein korporatives akademisches Autonomie- und Freiheitsverständnis entstehen, das neben der festgefügten konfessionellen Signatur der Epoche besonders der Verweltlichung, der Rationalisierung und Technisierung von Wissenschaft erheblich Vorschub geleistet hat. Dass dieser Akt der intellektuellen neuzeitlichen Formierung in einer von Kirche, Fürstenstaat und sozialer Ständeordnung geprägten Welt von Hierarchien einer schmalen Gratwanderung zwischen staatlicher Normativität und universitärer Autonomie gleichkam, vermag nicht eigentlich zu überraschen. Der Fortschritt brach sich bekanntlich in kleinen Schritten Bahn und dies beharrlich und konsequent. Die Dialektik der frühmodernen Erneuerungsdynamik auf dem Sektor der Bildungs-, Schul- und Universitätspolitik setzte dabei ein beträchtliches Kräftepotential frei, das den gesellschaftlichen Professionalisierungs- und damit ganz entscheidend den staatlichen Säkularisierungsprozess unter den Bedingungen der mobiler gewordenen alteuropäischen Ständegesellschaft unumkehrbar vorantrieb. Auf diese Weise hat der Humanismus, in besonderer Weise die Wirkkraft des universitären Späthumanismus, viel zum Entstehen und zur Ausformung der bürgerlichen Kultur in den Territorien und Städten des Ancien r¦gime beigetragen.36 Der Modernitätssprung der europäischen Aufklärung, ein Akt von epochaler Wirkungsmacht, wäre ohne den von Reformation, Konfessionalisierung und Humanismus geprägten strukturellen geistesgeschichtlichen Wandlungsprozess zwischen Renaissance und Barockzeitalter nicht denkbar gewesen. Die Kraft der Kontinuitätslinien des überkonfessionellen europäischen Universitäts- und Schulhumanismus reichte im Sinne einer longue dur¦e daher weit in das Jahrhundert der Aufklärung und der Vernunftrationalität hinein – in ein experimentierfreudiges, auf vielen Ebenen schon international vernetztes wissenschaftsförderndes Säkulum, das neue Konstellationen der intellektuellen Auseinandersetzung um innovative Reformideen hervorbrachte, die den Übergang

36 Vgl. auch Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, hier S. 332 – 435; Klaus Garber : Die bürgerliche Gesellschaft begann in kleinen Gruppen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012/9 (11. Januar 2012), Seite N 4.

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»Ohne Humanismus keine Reformation«

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von der alteuropäischen Vormoderne in die säkularhistorische Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts eröffneten.37 Nicht mehr vorrangig der Parameter des konfessionellen Wertekanons, sondern die Symbiose von Aufklärung, akademischer Bildung und individueller Selbstverwirklichung bestimmte von nun an das Bild von einer sich wandelnden, mobiler und bürgerlich werdenden Gesellschaft, die nach politischer Teilhabe, sozialem Aufstieg und ökonomischem Prestige trachtete. In diesem veränderten Wertekanon trat die Religion allerdings nur scheinbar in ihrer frömmigkeitskulturellen Bedeutung und sozialen Identifikationskraft zurück. Ihrer geistigspirituellen oder gar weltanschaulich-politischen Prägekraft in dem lange anhaltenden gesellschaftlichen Transformationsprozess am Ende der frühen Neuzeit vor und nach 1800 nachzuspüren, wäre gewiss lohnend, aber wieder ein anderes, ein neues Thema, das ohne die erkenntnisleitende Dimension der Universitäts-, Wissenschafts- und Bildungsgeschichte sowie der Konflikte, die stellvertretend für die Gesellschaft in der alten und doch so aktuellen Institution »Universität« ausgefochten wurden, nur schwerlich zu bewältigen wäre.

37 Anton Schindling: Bildungsreformen im Reich der Frühen Neuzeit – vom Humanismus zur Aufklärung, in: Armin Kohnle / Frank Engehausen (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast. Stuttgart 2001, S. 11 – 25; Peter Baumgart: Die Universität als europäische Bildungsinstitution, in: Ders.: Universitäten im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 7), S. 473 – 489.

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Joachim Bauer

Korporative Selbstdarstellung an Jenas »Salana« in der Frühen Neuzeit

Korporative Selbstdarstellung gehört zu den Kernbereichen universitären Lebens und kommt auf vielfältige Weise und über ganz unterschiedliche Medien zum Tragen. Das Spektrum reicht von den Festen bzw. Feiern und Universitätsbeschreibungen, über die korporativen Insignien und Ehrungen, die Bild-, Denkmals- und Festschriftenkultur bis zum Internetauftritt im 21. Jahrhundert. In der Frühen Neuzeit beanspruchten neben den Insignien und Feierlichkeiten vor allem genormte Verschriftlichungen, wie Universitätsbeschreibungen oder, wenn man so will, Chroniken, die aus der Korporation selbst heraus bzw. im nahen Umfeld entstanden sind, breite Aufmerksamkeit. Die altehrwürdige Salana verfügt über ein breites Spektrum solcher Darstellungen, von denen einige vorgestellt werden sollen.

1.

Jenas Zuschreibungen

»Jena ist oft getadelt, oft gelobt. Dieser Musensitz wird von allen Nationen besucht, und er leuchtet unter den übrigen Akademien als ein Stern der ersten Größe.« Dieses 1798 anonym veröffentlichte Urteil entstammt wohl der Feder des ehemaligen Jenenser Studenten Anton Kuehl aus Hamburg, der »Jünglinge (n) welche diese Akademie besuchen wollen« das Saaleathen zu beschreiben suchte.1 In gleicher Zeit hatte Johannes Falk, der seit 1797 eng mit dem Weimarer Dichterkreis verbunden war, in seiner Reisebeschreibung festgehalten: »Es dauerte nicht lange, so befanden wir uns mitten unter wild bebüschten Tälern und Felsen in einer reizenden Wildnis. Wenn Du einmal in den waldigen Gebirgen von Oliva gewesen bist, lieber David, so kannst Du Dir einen schwachen Begriff von dieser

1 Zeichnungen der Universität Jena. Für Jünglinge welche diese Akademie besuchen wollen. Leipzig 1798, S. 4.

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Joachim Bauer

romantischen Bergkette machen, die sich nach Jena hinzieht und nach meinem Gefühl alles übertrifft, was ich bisher von Schönheiten der Natur bewunderte.«2

Fast ein Säkulum zuvor, am Beginn des 18. Jahrhunderts, sah sich Martin Schmeizel, Professor der Philosophie in Jena, zum Urteil bewogen, dass die ganze lutherisch-evangelische Kirche den Ernestinern zu Dank verpflichtet sei. Durch die Gründung der Salana sei die »reine« Lehre erhalten worden, während es an anderen Orten in Deutschland noch »sehr mißlich in diesem Stücke ausgesehen« habe.3 Henrik Steffens, um 1800 Privatdozent in Jena, sah schließlich 1817 in den Weimar-Gothaischen Herzogtümern in erster Linie Orte »geistiger Liberalität«. Diese habe der Universität Jena »ein höchst frei nationales Gepräge« gegeben, »theils von da, nicht auf diese Länder [die ernestinischen Erhalterstaaten, d. Verf.] allein, sondern auf ganz Deutschland« zurückgewirkt.4 Das Abbild von Stadt und Universität, das hier mit wenigen Zitaten umrissen wurde, ist ein tief verwurzeltes, über Generationen gewachsenes, geformtes und tradiertes. Seine Ursprünge liegen in der Frühen Neuzeit, im 16. Jahrhundert, und sind eng mit der Gründung der Hohen Schule bzw. mit der Erhebung zur Universität verbunden. Schon Melanchthons Schüler, der Poet Johannes Stigel, hatte die Vorzüge in herausragender Weise in seinen humanistischen Dichtungen besungen: »Während die Gestade Sachsens, durch ihr Schicksal zerrissen und den Kriegen preisgegeben, ihren gefangenen Fürsten beweinten und auch die Kirchen trauerten und die ihnen beigegebenen Pflanzstätten, die Schulen, die dem Geiste das, was die wahren Güter sind, vermitteln; da hat jener, den Wissenschaften und schönen Künsten geneigt, hier – trotz seiner Abwesenheit – den aonischen Chören (= den neun Musen) erwünschte Ruh gegeben. Die drei Brüder, hochgesinnte Nachkommen des Vaters, ihm gleich an Gesinnung und an Frömmigkeit, schmückten diese Zierde noch weiter aus. Christus, du höchster Beschützer und Hüter deiner Gemeinde, verleihe Frieden, damit du durch gute Studien verherrlicht werdest.«5

Die Universitätsbeschreibungen der darauffolgenden Jahrhunderte aus der Hand Jenaer Akademiker greifen alle auf Stigels Dichtung zurück. Im Kern werden zwei zentrale Mythen vermittelt – der als »Stiftungsmythos« 2 Johannes Falks Reise nach Jena und Weimar im Jahre 1794. Mitgeteilt von Rudolf Eckart. Jena o. J., S. 6 f. 3 Martin Schmeizel: Monathliche Nachrichten Von Gelehrten Leuten und Schriften. Besonders dem gegenwärtigen Zustand der Universität Jena. Iavarius 1726 – 1727, November/ Dezember 1727, S. 539. 4 Henrik Steffens: Die Gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. 2. Teil, Berlin 1817, S. 552. 5 Luise und Klaus Hallof: Die Inschriften der Stadt Jena bis 1650 (=Die Deutschen Inschriften 33, Berliner Reihe, 5. Bd.). Berlin/ Wiesbaden 1992, S. 50 ff. Nr. 69.

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Korporative Selbstdarstellung an Jenas »Salana« in der Frühen Neuzeit

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zu bezeichnende vom »wahren« Luthertum, das in Jena nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes nun 1548 angesiedelt werden sollte und der Mythos vom »nationalen« Jena, wie er vor allem seit Beginn des 19. Jahrhunderts anzutreffen ist. Dass es zwischen beiden eine enge Korrespondenz gibt, bereits das »wahre« Luthertum auf nationale Wirkung zielt und somit im »nationalen« Aufbruch nach 1813 eine Erweiterung und Überformung erhält, sei hier, da es um Quellen aus der Frühen Neuzeit geht, nur am Rande erwähnt. Diese Mythen sind zentraler Bestandteil korporativer Entfaltung. Sie bringen nicht nur Rückhalt und Zuversicht zur Zeit der Gründung der Universität, die im Falle Jenas durch die Ernestiner auf dem Tiefpunkt ihrer Macht erfolgte und als Mittel der Krisenbewältigung praktiziert wurde. Sie fixieren sozusagen wesentliche Alleinstellungsmerkmale der Salana bis in die Gegenwart. Ihre An- und Aufnahme und schließlich ihre Propagierung durch die Mitglieder der Korporation bleibt ein grundlegendes Element des korporativen Selbstverständnisses bis in die Gegenwart. Um aber eine »kollektive Identität« ausprägen zu können – hier geht es eher um das angestrebte Ziel, nicht um das tatsächliche Erreichen kollektiver Identität – bedurfte es vor allem einer schriftlichen Fixierung, einer »fundierenden Erzählung«.6 Der Blick richtet sich auf die »Geschichtsbücher«, also auf die dauerhafte »schriftliche« Sicherung und weitere Ausformung des Mythos bzw. der Erinnerungsfigur. Aleida Assmann betonte in ihren Forschungen, dass im Gegensatz zur Fama, die ein für die »Unvergeßlichkeit« bestimmtes Ereignis dauerhaft für die Nachwelt verwahren soll, das Gedächtnis nach Verschüttetem sucht und die Wurzeln der Gegenwart zurück in die Vergangenheit verfolgt. Es gehe um die »Geschichte« der eigenen Herkunft und Identität. Diese Perspektive rückte, so Assmann, schon in der Renaissance und vor allem im 17. Jahrhundert ins Zentrum des Interesses, als die dynastische Geschichtsschreibung und genealogische Legitimierung als Privileg von den Königshöfen auf die Fürsten- bzw. Adelshäuser und Städte übertragen wurde. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft der Frühen Neuzeit differenzierte und Konkurrenzsituationen einen Legitimationszwang förderten, sei es zur Ausdifferenzierung von Geschichte, zur Entstehung vieler Geschichtserzählungen gekommen.7 Die hier ins Blickfeld gerückten Chroniken und Beschreibungen, insbesondere die Stadtchroniken, erfuhren in jüngster Zeit als Untersuchungsbereich für 6 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 18; zur kollektiven Identität vgl. Lutz Niethammer : Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg/ Wien/ u. a. 2000. 7 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 48 ff.

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kollektiv-öffentliche Erinnerung verstärkt Aufmerksamkeit. Die Städte des Heiligen Römischen Reiches, die eine Vielzahl solcher Selbstdarstellungen hervorbrachten, benötigten demnach solche Dokumentationen von Entstehung und Vergangenheit für ihre Identitätspflege und Selbstbehauptung und dies in doppelter Hinsicht. Einerseits offenbarte sich kommunales Selbstbewusstsein, andererseits mussten Defizite im Bereich politischer Mitsprache ausgeglichen werden. Demnach spielen Erinnerungszweck und -interesse bei einer Analyse ebenso eine Rolle, wie die konkreten Erinnerungsinhalte und die Erinnerungsweise bzw. die sprachliche Form.8 Dieser Ansatz ist für die Untersuchung der Erinnerungskultur einer Universität von ebensolcher Bedeutung. Denn Universitäten bzw. ihre sozialen Träger produzieren bis in die Gegenwart in engem Zusammenhang zum städtischen und staatlichen Umfeld Dokumente der Identitätsbildung. Neuere universitätsgeschichtliche Darstellungen haben bislang meist die »Moderne«, also das 19. und 20. Jahrhundert im Blick. Dies liegt nicht zuletzt an den interna-

8 Vgl. Thomas Fuchs: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung. Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen in Hessen, 1500 bis 1800 (=Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 21). Marburg 2006. Zum Problemfeld Geschichtsbewusstsein, Geschichts- und Erinnerungskultur grundsätzlich vgl. Aleida Assmann/ Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M. 1991; Aleida Assmann/ Jan Assmann/ Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München 21993; Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte, in: Aleida Assmann/ Anselm Haverkamp (Hg.): Stimme, Figur, Kritik und Restitution der Literaturwissenschaft (=Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft, Sonderheft 1994). Stuttgart/ Weimar 1994, S. 17 – 35; Kristin Platt/ Mihran Dabag (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Oldenburg 1995; Jan Assmann/ Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; Otto Gerhard Oexle (Hg.): Memoria als Kultur. Göttingen 1995; Klaus Füßmann: Historische Formen. Dimensionen der Geschichtsdarstellung, in: Klaus Füßmann/ Heinrich Theodor Grütter/ Jörn Rüsen (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln/ Weimar/ Wien 1994, S. 27 – 44; Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur?, in: Füßmann/ Grütter/ Rüsen (Hg.), Historische Faszination, S. 3 – 26; Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967; Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990; Anselm Haverkamp/ Renate Lachmann (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993; Lutz Niethammer : Die postmoderne Herausforderung. Geschichte als Gedächtnis im Zeitalter der Wissenschaft, in: Wolfgang Küttler/ Jörn Rüsen/ Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte. Frankfurt a.M. 1993, S. 31 – 49; ders.: Diesseits der »Floating Gap«. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs, in: Platt/ Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis, S. 25 – 50; Dieter Wuttke in Verb. mit Carl Georg Heise (Hg.): Aby M. Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Baden-Baden 1979; Dieter Wuttke: Aby M. Warburgs Kulturwissenschaft, in: Historische Zeitschrift, Bd. 256 (1993), S. 1 – 30.

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tionalen Trends, die die »permanente Erfindung« von Traditionen9 und die Entmythisierung älterer Überlieferung als Untersuchungsgegenstände deutlich aufwerten. Das die »deutsche« Universität nicht nur von Humboldt lebte, eine Entledigung vom »Mythos Humboldt«10 nicht alles bereinigt oder gar erklärt, ist Universitätshistorikern früherer Epochen sicher selbstverständlich. Was war aber bestimmend für die »deutsche« Universität, wenn es sie überhaupt gab? Diese Frage weist auf unseren Gegenstand. Bereits Peter Moraw hat 1982 in seinem Aufsatz »Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte« darauf hingewiesen, dass mit einer scheinbar zeitlosen, lexikonartigen Definition von Universität, noch keineswegs der Weg zur Geschichte der deutschen Universität geradlinig und problemlos erschließbar sei.11 Um diesen Prozess differenzierter darstellbar zu machen, bieten sich auch die Verschriftlichungen, die Chroniken, Stadt- und Universitätsbeschreibungen als Quellen zur kritischen Untersuchung an. Diese Geschichtsbeschreibungen stammen meist aus der Feder akademischer Lehrer, Wissenschaftler oder städtischer bzw. kirchlicher Beamter. Fixiert werden amtlich-statistische Angaben, topographische, städtebauliche, geologische sowie klimatische Informationen. Kunst, Kultur, Wissenschaft sowie konkrete historische Ereignisse, die das Territorium, die Stadt oder Akademie prägten, erfahren umfassend Aufmerksamkeit. Wichtiges Ziel der Beschreibungen war es, Wissens- und Gedächtnisinhalte als schriftlich geformten Text zu sichern und zu überliefern. Die Autoren griffen auf Grund- bzw. stereotype Vorstellungen zurück, um den zeitgenössischen Erwartungen entsprechen zu können. Im Resultat entstand nicht zwangsläufig ein verfälschtes Bild. Vielmehr vollzog sich eine Selbstverständigung, bei der manches unausgesprochen blieb, während anderes – eben das »Bedeutende« aus der Sicht der Schreiber – überhöht dargeboten wurde. Es lassen sich unterschiedliche »Erinnerungs-Schwerpunkte« erkennen, die eng mit den jeweiligen »Rahmenbedingungen« und den Schreibern bzw. ihren Auftraggebern in Verbindung zu bringen sind. Vor allem aber stellte die Pflege städtischer und universitärer Selbstbilder und Selbstdarstellungen eine der Wurzeln für Legenden- und Mythenbildungen dar. Auffällig ist, dass solche 9 Vgl. Sylvia Paletschek: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart 2001, S. 1 ff. 10 Vgl. u. a. Walter Rüegg: Der Mythos der Humboldtschen Universität in: Matthias Krieg (Hg.): Universitas in theologia – theologia in universitate. Festschrift für Hans-Heinrich Schmid, Zürich 1997, S. 155 – 174; Mitchel G. Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten. Wien u. a. 1999; Ullrich Herrmann: Bildung durch Wissenschaft? Mythos »Humboldt«. Ulm 1999. 11 Vgl. Vgl. Peter Moraw: Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: ders./ Volker Press (Hg.): Academia Gissensis: Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte. Zum 375jährigen Jubiläum dargebracht vom Historischen Institut der JustusLiebig-Universität Gießen. Marburg 1982, S. 1 f.

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Beschreibungen jedoch keineswegs durchgängig für alle Universitäten in der Frühen Neuzeit auszumachen sind. Wie muss man sich aber eine Fixierung und Formung von Erinnerung über Generationen hinweg konkret vorstellen. An einigen Jenaer Beispielen sollen Kernbereiche dieser Gedächtniskonstruktionen und Selbstbilder näher vorgestellt werden.

2.

Die frühen Beschreibungen zwischen 1650 und 1750 und ihre Autoren

In Jena wurden vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Beschreibungen verfasst.12 Daraus können für den Zeitraum von 1650 bis 1750 vier 12 Vgl. u. a. Herbert Koch (Hg.): Architectus Jenensis des Mag. Adrian Beier. Jena 1936 (Orginalausgaben 1681, 1685, 1687; Adrian Beier : Geographus Jenensis: Abbildung Der Jehnischen Gegend/ Grund und Bodens […] Jena 1665 (weiter Auflage 1672); Herbert Koch (Hg.): Chronologus Jenensis seu Annales Germano-Thuringo-Jenenses. Jehnische Chronika […] Jena 1914; Ilse Träger (Hg.): Magister Adrian Beiers Jehnsche Chronika. Chronologus Jenensis 1600 – 1672 (=Schriftenreihe der Städtischen Museen Jena). Jena 1989; Herbert Koch (Hg.): Mag. Adrian Beiers Jenaische Annalen (1553 – 1599). Jena 1928; Ernst Devrient (Hg.): Jenaische Stadt- und Universitäts-Chronik von Martin Schmeizel. Jena 1908; Martin Schmeitzel: Abriß zu einem Collegio Publico über die Historie der Stadt und Universität. Jena 1727; ders.: Anleitung zur Akademischen Klugheit, wie auf derselben ein auf Academien lebender Student sein Leben und Studien einzurichten habe. Jena 1731; ders.: Monathliche Nachrichten Von Gelehrten Leuten und Schriften. Besonders Dem gegenwärtigen Zustand der Universität Jena. Iavarius 1726 – 1727; [Johann Christoph Mylius:] Das in dem Jahr 1733 Blühende Jena. Darinnen von dem Ursprung der Stadt, Stifftung der Universität, und was sonsten zu dieser gehörig, besonders das Leben der Gelehrten erzehlet wird. Jena [1733]; ders: Das in dem Jahre 1743 Blühende Jena […] Jena [1743]; [Basilius Christian Bernhard Wiedeburg]: Ausführliche Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande der jenaischen Akademie. Jena bey Johann Adam Melchiors seel. Witwe 1751; Gottfr[ied] Albin v. Wette: Evangelisches Jena oder gesamlete Nachrichten von sämtlichen evangelischen Predigern in Jena und der darzu gehörigen Diöces von der gesegneten Reformation bis auf unsere Zeiten […] Jena 1756; Achatius Ludwig Carl Schmid: Zuverlässiger Unterricht von der Verfassung der Herzoglich Sächsischen Gesamtakademie zu Jena, aus Akten und andern Urkunden gezogen. Jena 1772; Friedrich Christian Schmidt: Historisch-mineralogische Beschreibung der Gegend um Jena. Nebst einigen Hypothesen, durch was vor Veraenderungen unsers Erdbodens diese Gegend ihre gegenwaertige Gestalt bekommen haben möchte. Gotha 1779; Johann Ernst Basilius Wiedeburg: Beschreibung der Stadt Jena nach ihrer TopographischPolitisch- Akademischen Verfassung […] 2 Bde, Jena 1785; [Johann Adolph Leopold Faselius]: Kurze Beschreibung von Jena für Reisende und Studierende, zu angenehmer und nützlicher Unterhaltung, während ihres Aufenthalts daselbst. Eisenach 1793; Johann Adolph Leopold Faselius: Neueste Beschreibung der Herzoglich Sächsischen Residenz- und Universitätsstadt Jena, oder historische, topographische, politische und akademische Nachrichten und Merkwürdigkeiten derselben. Jena 1805; Literarisches Museum für die Großherzogl[ich] Herzogl[ich] Sächsischen Lande. Hrsg. von Georg Gottlieb Güldenapfel, Jena 1816; Johann Christian Spangenberg: Handbuch der in Jena seit beinahe fünfhundert Jahren

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Beschreibungen aus der Hand ortsansässiger Akademiker ausgemacht werden. Die erste große Darstellung zur Geschichte, Topographie und Verfassung Jenas in der Frühen Neuzeit lieferte Adrian Beier.13 Es scheint, folgt man der Historiographie, überhaupt die erste für Jena gedruckt vorliegende gewesen zu sein. Beiers barocke und weit ausgreifende Beschreibungen prägen das Überlieferungsbild Jenas umfassend. Sie stellen geradezu einen archaischen Steinbruch für nachfolgende Beschreibungen dar. Adrian Beier wurde 1600 in Glauchau/ Sa. geboren. Der Großvater beaufsichtigte als Schwarzburgischer bzw. Witzlebischer Bedienter das Jagd- und Forstwesen. Beiers Vater, ein gelernter Schrifttafelmaler, erlangte 1570 in Weimar das Bürgerrecht, wanderte aber später in die Schönburg-Glauchau-Waldenburgische Herrschaft ab. Bis zu seinem Tode war er als Gotteskastenverwalter, Zoll- und Gerichtsschreiber hier tätig. Adrian Beier konnte, mit unterschiedlichen herrschaftlichen Stipendien ausgestattet, seit 1614 in Jena Theologie studieren. Später war er Adjunkt in der Philosophischen Fakultät und Archidiakon in Jena. Er begann höchstwahrscheinlich in den 1630er Jahren erste Informationen über Jena zu fixieren und wurde vom sächsischen Hofhistoriographen Friedrich Hortleder protegiert und motiviert. Seit den 1660 Jahren erschienen sowohl eine umfangreiche Beschreibung über das Umland, der Geographus Jenensis mit Auflagen 1665, 1672 und 1673, als auch eine sehr detailreiche Beschreibung von Stadt und Universität, der Architectus Jenensis, mit Auflagen 1681, 1685 und 1687. Der Umfang der beiden Beschreibungen beläuft sich auf ca. 1300 Seiten. Ergänzung erfährt der Zyklus durch die Jenaischen Annalen bzw. die Jehnsche Chronika sowie eine Beschreibung der in Jena wirkenden Professoren (»Syllabus rectorum et Professorum Jenae Syllabus«). Sein handschriftlich hinterlassenes Gesamtwerk »Athenae Salanae«, aus dem die Publikationen stammen, umfasst 20 Quartbände mit jeweils ca. 800 Seiten.14 Beiers Beschreibungen folgten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei weitere. Die erste, Fragment gebliebene, entstammt der Feder Martin Schmeidahingeschiedenen Gelehrten, Künstler, Studenten und andern bemerkenswerthen Personen, theils aus den Kirchenbüchern, theils aus andern Hülfsquellen gezogen und nach dem Jahre 1819 geordnet. [Jena] 1819; Annales Academiae Ienensis. Edidit Henr. Carolvs Abr. Eichstadivs. Volvmen Primvm Ienae 1823; Jonathan Carl Zenker (Hg.): Historisch-topographisches Taschenbuch von Jena und seiner Umgebung besonders in naturwissenschaftlicher und medicinischer Beziehung. Jena 1836; Über die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Jena im September 1836 von den Geschäftsführern derselben D.D.G. Kieser und D.J.C. Zenker, Weimar 1837; Carl Schreiber/ Alexander Färber : Jena von seinem Ursprunge bis zur neuesten Zeit, nach Adrian Beier, Wiedeburg, Spangenberg, Faselius, Zenker u.A., Jena 1850; Karl Hermann Scheidler (Hg.): Jenaische Blätter für Geschichte und Reform des Universitätslebens. Jena 1859 f. 13 Zu Beiers Biographie vgl. Ilse Träger (Hg.): Magister Adrian Beiers Jehnsche Chronika, Jena 1989, S. 4 – 10. 14 ThULB, HSA, Nachlass Adrian Beier : Athanae Salanae, Ms. Prov. q. 13 – 30.

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zels. Er wurde 1679 in Kronstadt (Siebenbürgen) geboren. Sein Vater war Pfarrer. Martin Schmeizel hatte seit 1700 in Jena, Greifswald und Halle Theologie studiert und bei Struve und Thomasius Vorlesungen gehört. Nach wechselvollen Jahren, u. a. wurde er als Hofmeister mit zwei Zöglingen von dänischen Piraten festgehalten, promovierte er zum Magister phil. 1712 in Jena, stieg zum Adjunkten und schließlich 1722 zum a.o. Professor in der Philosophischen Fakultät (Geschichte) und akademischen Inspektor der Bibliothek in Jena auf. 1731 wechselte er nach Halle, wo er sich endgültig zu einem bedeutenden Hochschullehrer entfalten konnte.15 Schmeizel gab u. a. die Zeitung »Neueste Historie der Welt« und die »Monathlichen Nachrichten Von gelehrten Leuten und Schriften« in Jena16 heraus. Seine in Jena 1731 veröffentlichte Schrift »Anleitung zur academischen Klugheit«17 erlangte große Beachtung. Aufgrund zahlreicher Aufforderungen, so Schmeizels Verlautbarungen im Jahre 1727, habe er sich entschlossen, einen »Abriß zu einem collegio publico über die Historie der Stadt und Universität Jena«18 zu verfassen. Diesen Stoff verarbeitete er zuerst in einer Vorlesung, die er später einmal ausformuliert, veröffentlichen wollte. Ergebnis war eine systematische Zusammenstellung der städtischen und akademischen Verfassung in 223 Paragraphen auf 24 Seiten. Doch lediglich einzelne Facetten dieser Vorlesung publizierte der Professor in seinen »Monathlichen Nachrichten«.19 Auch Schmeizel hatte eine Chronik verfasst, bemühte sich aber bis zu seinem Tod 1747 vergebens um Veröffentlichung.20 Kurz darauf, im Jahre 1733, veröffentlichte der spätere Jenaer Bibliothekar Johann Christoph Mylius eine umfassende Beschreibung mit dem Titel »Das in 15 Vgl. u. a. UAJ Bestand I, Nr. 1, Friedrich Stier : Lebensskizzen der Dozenten und Professoren an der Universität Jena 1548/58 – 1958. Jena 1960 (MS)Bd. 4, Bl.1807; ADB 31, S. 633; Lotte Hiller: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Jena in der Zeit der Polyhistorie (1674 – 1763). Jena 1937, S. 136 ff. 16 [Martin Schmeizel]: Einleitung Zur Neuesten-Historie der Welt: Darinnen die merckwürdigste von Ostern 1723 vorgefallene Begebenheiten, in gehöriger Connexion vorgetragen und erläutert warden, ThULB, 8 MS 23735; [Martin Schmeizel]: Monathlichen Nachrichten Von gelehrten Leuten und Schriften […], ThULB, HSA, 8 Bud. Hist. lit. 204 – 205. 17 Vgl. Anleitung zur Academischen Klugheit, wie nach derselben ein auf Academien lebender Studente Sein Leben und Studien einzurichten habe. Wenn er dermaleins dem gemeinen Besten rechtschaffene Dienste leisten, und sein Glücke nach Wunsche machen wolle ; Zum Gebrauch Eines Collegii Publici / entworffen Von Martin Schmeizel, P. P. Jena 1731. 18 Vgl. Martin Schmeizel: Abriß zu einem Collegio Publico über die Historie der Stadt und Universität Jena im Jahre 1727 zu Ostern. Jena 1727, ThULB, HSA, 8 Bud. Sax.140(2). 19 So Schmeizel u. a. in Monathliche Nachrichten, Januar/ Februar 1527, S. 52 – 56 »Historische Nachricht von der Universität Jena, betreffend derselben Ursprung, Fundation, Inauguration, Einrichtung und was dahin kann referirt werden«. 20 Handschriftliches Exemplar in ThULB, HSA, Ms. Prov. q.12 »Martin Schmeizel: Jenaische Stadt- und Universitäts-Cronic von 1002 – 1735 [darin ein Verzeichnis sämtlicher Professoren u. ein Brief Schmeizels an Diaconus Müller vom 10.XII. 1746], Druckausgabe: Devrient (Hg.), Jenaische Stadt- und Universitätschronik.

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dem Jahr 1733 blühende Jena, darinnen von dem Ursprung der Stadt, Stifftung der Universität, und was sonsten zu dieser gehörig, besonders das Leben der Gelehrten erzehlet wird«. Bis 1749 folgten zwei wesentlich erweiterte Auflagen.21 Mylius wurde 1710 in Buttstädt unweit von Apolda als Sohn eines Superintendenten geboren. Er studierte seit dem Wintersemester 1729 in Jena u. a. bei Struve und Stolle, dessen Kinder er betreute. 1734 erlangte Mylius den Titel eines Magisters in der Philosophischen Fakultät. Von 1738 bis 1756 leitete er die Jenaer Universitätsbibliothek, wurde 1741 Adjunkt der Philosophischen Fakultät und war 1734 Mitbegründer der Lateinischen Gesellschaft in Jena.22 Aus dem Jahre 1751 ist schließlich eine »Ausführliche Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande der jenaischen Akademie«23 überliefert. Ihr Verfasser ist Basilius Christian Bernhard Wiedeburg. Mütterlicherseits entstammte er der Jenaischen Gelehrtendynastie Schroeter, begründet durch den Medizinprofessor und Leibarzt Kaiser Ferdinand I., Johann Schroeter (1513 – 1593). Wiedeburgs Großvater war Mathematikprofessor in Helmstedt und sein Vater, Professor der Mathematik in Jena, las als Kirchenrat auch Theologie und war zugleich Inspektor des Konviktoriums sowie Beisitzer des Consilium arctioris in Jena.24 Basilius Christian Bernhard Wiedeburg, 1722 in Jena geboren, hatte die Stadt nie längere Zeit verlassen. Er wurde im Sommersemester 1728 an der Salana immatrikuliert, studierte hier seit 1737 und erlangte 1742 den Titel eines Magisters der Philosophie. Seit 1740 war er Mitglied der Deutschen Gesellschaft zu Jena. 1746 oder 1747 erfolgte der Aufstieg zum Adjunkt der Philosophischen Fakultät, 1751 zum außerordentlichen Professor für Philosophie und 1754 als Mathematiker zum ordentlichen Professor.25 Am Rande sei hier nur erwähnt, 21 Vgl.[Johann Christoph Mylius]: Das in dem Jahr 1733 blühende Jena, darinnen von dem Ursprung der Stadt, Stifftung der Universität, und was sonsten zu dieser gehörig, besonders das Leben der Gelehrten erzehlet wird. Jena 1733; weitere aktualisierte Nachauflagen 1738, 1743/44 und 1749; Mylius veröffentlichte eine weitere Quellensammlung unter dem Titel: Summarische Nachricht von der Verfassung der Gesetze, Rechte und Ordnungen in den Nachfürstlich Sächsischen Landen der ernestinischen Linie, in: Neue Beitraege zu den Geschichten, Staats-, Lehn- und Privatrechten der Lande des chur- und fürstlichen Hauses Sachsen. T. 1, Altenburg 1767, S. 146 – 151. 22 Vgl. u. a. Historia Myliana vel de variis Myliorum familiis earum ortu et progressu nec non de multis claris, celebrioribus et illustribus Myliis eorumque vita, fatis, meritis, scriptis : Adiectis variorum Myliorum imaginibus et variarum familiarum Mylianarum insignibus, sigillis, aeri incisis in suae et aliarum familiarum mylianarum memoriam et honorem […] concinnata a M. Ioh. Christoph. Mylio, Pars I, Jena 1751, S. 104 – 112 (ThULB, HSA, 4 Bud. Var. 112); Geschichte der Universitätsbibliothek Jena. 1549 – 1945. Weimar 1958, besonders S. 166 – 168; Stier, Lebensskizzen, Bd. 3, Bl. 1379. 23 Vgl. Wiedeburg, Ausführliche Nachricht. 24 Spangenberg, Handbuch, S. 80. 25 Vgl. u. a. Stier, Lebensskizzen, Bd. 4, Bl. 2230; ADB, 42, S. 345; DBE, 10, S. 478; [Johann Heinrich Zedler u. a.] Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […] Halle/ Leipzig 1748, Bd. 55, S. 1756 ff.

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dass auch sein Sohn, Johann Ernst Basilius W., 1785 eine zweibändige Beschreibung über Stadt und Universität Jena veröffentlichte und die Familientradition fortsetzte.26 Mit Blick auf die Beschreibungen und ihre Autoren lassen sich zwei Aspekte fixieren: Erstens fällt auf, dass es – ganz den eingangs umrissenen Theorien zur Erinnerungskultur entsprechend – in Jena 80 – 100 Jahre nach Erhebung der Salana zur Universität erste komplexe Verschriftlichungen mit einer Veröffentlichungsabsicht gab. Das Bedürfnis nach Fixierung dessen, was die ersten Generationen vollbracht hatten und wie sich die Korporation verstanden wissen wollte, tritt klar hervor. Damit scheint die Übertragung des Privilegs der Geschichtsfixierung von den fürstlichen Erhaltern auf die Universität bzw. Stadt vollzogen zu sein. Deutlich wird dies u. a. auch am persönlichen Verhältnis zwischen dem sächsischen Hofhistoriographen Hortleder und dem ersten Jenaer Chronisten der Neuzeit, Adrian Beier. Beier bemerkte im Geographus Jenensis dazu: »Solche Jenische Chronica oder Zeit-Bücher ; Solche Jenische Annales oder Jahr-Bücher ; solche Jenaische Calendaria und Daria […] sind oft gewünschet und wohl ehemals bey mir (unwürdigen) von gemeinen / will nicht sagen Fürnehmen Leuten / unter andern vom Herrn Fridrich Hordleder JC. Und von Hn. Joh. Michael Dilherren Theologo, gesuchet worden / weil sie aus meinen mit ihnen bisweilen gehaltenen Gesprächen […] abnehmen und mutmaßen können / daß ich eine Beliebung trüge zu den alten Uhrkunden […]«27

Zweitens entstammen die Autoren bis auf den ersten Chronisten, Beier, allesamt Akademikerfamilien. Aber auch Beier hatte durch die Tätigkeit seiner Vorfahren an verschiedenen Höfen frühzeitig Zugang zu Bildung erhalten. Alle Chronisten studierten in Jena und zählten zumindest zeitweilig zum akademischen Corps, wurden dabei auch im Bereich der Bibliothek gestaltend wirksam. Dieser Aspekt ist nicht unbedeutend, gehörten doch die Bibliotheken der Frühen Neuzeit zu den »Wissensspeichern« und Zentralorten kulturellen Gedächtnisses. Was wurde aber nun der kollektiven Erinnerung übertragen und weshalb geschah dies in so kurzen Abständen, geht man doch von einem eher langlebigen Generationengedächtnis aus. Dieser komplexe Vorgang kann hier freilich nur angerissen werden. Bei der systematischen Durchsicht der frühneuzeitlichen Beschreibungen wurden inhaltliche Schwerpunkte sichtbar : 1. Die »lutherische« Universität in den ersten zwei Jahrhunderten ihres Bestehens mit den Schwerpunkten Gründung der Hohen Schule 1548 und Fort26 Vgl. Wiedeburg, Beschreibung der Stadt Jena; weitere Hinweise u. a. S. 10 – 14. 27 Beier, Geographus, S. 4.

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führung der lutherischer Tradition, Erinnerungsmedien und lutherische Kanon-Bildung am Beispiel der kurfürstlichen Bibliothek (»Electoralis«) und der Jenaer Lutherausgabe seit 1555, Totengedenken und Professorenporträts, Säkularfeiern der Universität, sowie die lutherischen Erinnerungsorte (u. a. Stadt- und die Universitätskirche). 2. Das Selbstbild von Struktur- und Verfassung mit Schwerpunkten wie äußere Stellung der Universität als Prälatenstand und Rittergutsbesitzerin, der Innensicht der Universität durch Darstellung ihrer Verfassung und Struktur, der Wahrnehmung von Wissenschaftlichkeit und Fachentwicklung sowie einem wachsenden Frequenzbewusstsein. 3. Der Topos von der »schönen und gesunden Universitätsstadt« mit Darstellungen über topographische, geographische, klimatische und biologische Standortfaktoren sowie Aussagen zur Lebensqualität, die heute mit den Begriffen Freizeit und Erholung beschrieben werden. Diese inhaltlichen Schwerpunkte werden in unterschiedlicher Weise reflektiert, jedoch stets im Vergleich zu anderen akademischen Korporationen oder Städten thematisiert. Der Drang zur Offenlegung bzw. Vermittlung eines ganz markanten Profils der Salana wird dabei offensichtlich. Zentrales Element ist stets die Betonung des »lutherisch-protestantischen« Grundcharakters der Universität. Um sich dabei auch von anderen protestantischen Hochschulen absetzen zu können, wird das Argument gebraucht, dass Jena grundlegend, ja einzigartig zur Entfaltung und Festigung der lutherischen Konfession im Reich beigetragen habe. Dies geschah, so die Diktion, in erster Linie durch den Auftrag und Schutz seitens der Ernestiner, jedoch auch durch eigenverantwortliches Handeln der Korporation selbst. Adrian Beier streicht dies in seiner ersten Beschreibung, dem »Geographus Jenensis« klar heraus, denn die Stadt sei »wegen der wahren und reinen ChristLutherischen Religion/ Schöpfenstuhls/ Hofgerichts und Universität oder Hohen Schulen« berühmt.28 Legitimierend stützt er sich vor allem auf die übergreifend wirksam gewordenen historiographischen Werke von Friedrich Hortleder, Matthäus Dresser und Johann Frenzel.29 28 Beier, Geographus, S. 15 f. 29 Die von Beier benannten Stellen sind: [Friedrich Hortleder]: Der Römischen Keyser und Königlichen Maiesteten / Auch des Heiligen Römischen Reichs Geistlicher vnnd Weltlicher Stände […] Von den Vrsachen des Teutschen Kriegs Kaiser Karls des Fünfften / wider die Schmalkaldische BundtsObersteChur- vnd Fürsten / Sachsen vnd Hessen / vnd Ihrer Churvnd F.G.G. Mitverwandte / Anno 1546. vnd 47. Zu disen schwierigen Zeiten dem geliebten Vatterland Teutscher Nation zu gut / mit großem Fleiß / ordentlich zusammen bracht / An vielen Orten bewährt / erklärt / vnd an Tag geben Durch Herrn Friedrich Hortledern / Fürstlichen Sächsischen Rath zu Weimar[…]. 2. Teil, Frankfurt a. M., 1618, 3. Buch, 88. Kapitel, S. 732; [Matthaeus Dresser :] Von den fürnembsten Städten deß Deutschlandes.

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Auch Martin Schmeizel bezog 1727 eine klare Position. Er reicherte seinerseits die »lutherische« Identität Jenas mit konkreten und historiographisch kritisch hinterfragten Beschreibungen einzelner Erinnerungsorte an. Ziel war es, Jenas Verdienst nun möglichst fest schon in der frühen Reformation zu verankern. Die Disputation Luthers mit Karlstadt 1524 in Jena oder die Luther zugesprochene Redewendung vom »lieben Bruder Studio«, die er in Jena ausgesprochen habe, sollten dafür Zeugnis ablegen.30 Im Unterschied zu Beier, der weitausgreifende Details zu Stadt und Universität noch in gleichberechtigter Weise präsentierte, war Schmeizel sehr um eine Systematisierung und um eine klare Herausstellung der Universität als standortbestimmenden Faktor bemüht. Einen historiographisch kritischen Zugriff lässt bereits das Konzept seiner Vorlesung erkennen. Der Autor gab an, dass man ihn gebeten habe, jene Literatur zu benennen, die genaue Auskunft über Stadt und Universität geben könne. Das sei ihm schwer gefallen.31 Die wenigen vorgelegten Publikationen zur Stadt und Universität könne ein Interessierter, also auch ein Student, nur schwer finden. Andere kurze, die Akademie betreffende, wünschte man sich in besserer Qualität. Um Abhilfe zu schaffen, folge er dem Sprichwort: »qui nihil [ha(be)t] nihil dat, d.i. wo keine Bücher vorhanden muss man sich mit Collegiis helffen«.32 Der dritte Chronist, Johann Christoph Mylius, konnte auf ein festes Fundament bauen. Er verband nun die konfessionellen Gründungsumstände direkt mit einem zugeschriebenen fortwährenden Erfolg der Korporation und somit mit einer permanenten Zukunftszuversicht. Die Gründung, vollzogen in »trübseligsten Zeiten […] da Krieg und andere Land-Plagen die Herrschafften und Einwohner drückten«, sei »ein Wunder vor den Augen der Welt«. Hierbei habe nicht eitler Wille als Triebkraft gewirkt, sondern die Befestigung göttlicher Wahrheit. Der schwere Anfang dieser Universität sei es,

Ein kurtzer aber doch eigentlicher Bericht Matthaei Dresseri, Welcher ist der fünffte theil deß Buchs so genennet wird Isagoge Historica […], Leipzig 1607, S. 273; [Abraham Sauer]: Theatrvm vrbivm. Wahrhafftige Contrafeytung vnd summarische Beschreibung vast aller Vornehmen vnd namhafftigen Stätten, Schlösser vnd Klöster […] M. Abraham Saur von Franckenberg […] Gedruckt zu Franckfort am Mayn 1595, S. 225 f.; Johann Frenzel: Synopsis geographica. Oder Kurtze und Eigentliche Beschreibung des gantzen Erdkreis […], Dresden 1592, part. I. pag. 83v– 84r. Beier stützt sich in seinen Annalen auch auf eine ältere handschriftliche Chronik über Jena, die um 1530 beginnt und bis zum Jahre 1546 reicht. Ihr Verfasser ist unbekannt. Vgl. Herbert Koch (Hg.): Die älteste Chronik der Stadt Jena (1532 – 1546). Jena 1937. Zur weiteren, von Beier verwendeten Literatur, vgl. Koch, Annalen, S. V – XIX. 30 Vgl. Schmeizel, Chronik, S. 1 – 7; ders., Collegio Publico, S. 13 f. 31 Vgl. Schmeizel, Collegio Publico, S. A3, vgl. auch Monathliche Nachrichten, Januar/ Februar 1727, S. 53 f. 32 Schmeizel, Collegio Publico, S. A3 f.

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»welcher uns nunmehro reichen Trost und gegründete Hoffnung zu dauerhafften Wohlstande dieser zu Gottes Ehre und des Vaterlandes Wohlfahrt lediglich gestiffteten hohen Schule geben kann, welche nicht aus gewinnsichtigen und eiteln Absichten ihren Anfang genommen, sondern einig und allein aus einer wahrhafftigen Liebe, und von Gottes Geist entzündeten Eifer, zu Befestigung göttlicher Wahrheit ihren Ursprung erhalten.«33

Die Erfahrung bestätige, dass anfängliche große Schwierigkeiten, wenn sie erfolgreich durchbrochen werden, besondere Beständigkeit hervorbrächten. So habe man allen Grund, auch den Fortbestand und den Erfolg der Universität in der Zukunft erhoffen zu können. Das bestätige schließlich auch die Blüte, in der die Jenaer Universität heute stehe. Zentrale Bedeutung in seiner Beschreibung erhielt nun der Personalverband der Salana. Unter Universität verstand Mylius einen lebenden Körper, ein gut funktionierendes System aus Gelehrten, Lehrern, Studenten und akademischen Bürgern. Diese bestimmten, innerhalb einer vorgegebenen korporativen Struktur und unter einer Sinn und Zweck zuschreibenden Verfassung bzw. Gesetzgebung, über den Erfolgsgrad dieses Systems. Zweifellos lieferten die vorangegangenen Chronisten ebenso Informationen über Gelehrte und Studierende und über aktuelle Entwicklungen an der Universität. Mylius ging es aber in seinen Darstellungen nun in erster Linie um die rühmliche Ausweisung der Salana durch ihre gegenwärtigen Wissenschaftsleistungen und das Lehrangebot der hier wirkenden Personen. »Hier erblicket man einen Academischen Himmel, an welchem theils Sterne der ersten, theils der anderen und dritten Größsse gläntzen, und mit dem Schimmer ihrer Gelehrsamkeit und Verdienste weit genug bereits manche entfernte Länder bestrahlet, und sie zu einer gebührenden Ehrfurcht vor solche brauchbare und arbeitsame Männer aufgefordert haben.«34 Wiedeburg fasste schließlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts in einer aufgeklärt-rationalen Perspektive die Gründungsumstände zusammen. Das von seinen Vorgängern Schmeizel und Mylius entworfene Beschreibungskonzept, dass die Korporation in eine feste Tradition stellte und zugleich als wissenschaftsträchtige Einrichtung mit einem leistungsfähigen Personalbestand aufzeigen wollte, fand jetzt volle Ausprägung. Im Mittelpunkt stand für Wiedeburg eine durchkonstruierte Beschreibung der Universität in ihrem Gesamtumfang, ihrer Struktur, Geschichte, Verfasstheit und Funktionalität. Bereits zu Beginn des ersten Kapitels, welches von der Stiftung der Salana berichtet, orientierte der Verfasser auf das bevorstehende wichtige 200jährige Jubiläum der Universität. Damit wertete er die Zäsur der Erhebung zur Volluniversität im Jahre 1558 deutlich auf. In ähnlicher Weise wie Beier, der sich der Stadt Jena sehr verbunden 33 Das in dem Jahr 1743 Blühende Jena, S. 2. 34 Ebenda, Vorrede.

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gefühlt hatte, äußerte Wiedeburg seine Dankbarkeit darüber, viele Jahre Zeuge des Flors der Hochschule gewesen zu sein. Diesen Flor wolle und müsse er verschriftlichen. Auch er unterstrich das öffentliche Interesse, denn die Zeitgenossen verspürten ein Bedürfnis nach Information. Sein Vorhaben berge keineswegs die Gefahr in sich, parteiisch zu berichten. Ihm liege fern, seine Dankbarkeit durch Schmeicheleien oder über das Erzählen erdichteter Vorzüge zum Ausdruck zu bringen. Sein unparteiischer Standpunkt werde durch Ausführungen über die jedermann bekannte Stiftungsgeschichte sowie Verfassung garantiert, denn sie seien die unwandelbaren Stützen des Erfolges der Salana. Damit verwies Wiedeburg auf die aus zeitgenössischer Sicht wesentlichen, den Charakter der Universität ausmachenden Merkmale. Im Unterschied zu Mylius verzichtete er auf ausführliche biographische Beschreibungen des Personalbestandes. Das war von seinem Vorgänger in ausreichender Weise geleistet worden. Der Stiftungsmythos blieb jedoch auch bei ihm zentraler Bestandteil des Erinnerungskonzepts. Wiedeburg legte ihn ausführlicher und vor allem historisch argumentierend dar. Damit leistete der Verfasser den ersten Schritt hin zu einer Universitäts-»Geschichte«.35 Bei aller Zurückhaltung und quellenkritischen Wertung der hier kurz angeführten Darstellungen sollte das Argument der Autoren Beachtung finden, wonach es ein öffentliches Interesse der Zeitgenossen nach historischer wie aktuell legitimierender Information gegeben hat. Auf dem Hintergrund der eingangs reflektierten Gedächtnistheorien erscheint dies durchaus plausibel, suchen doch die einzelnen Generationen in jeder Epoche nach Selbstvergewisserung. Für die kurze Aufeinanderfolge der Jenaer Beschreibungen gibt es sicher mehrere Gründe. Während es in archaischen Kulturen, wie sie z. B. Jan Assmann in seinen Untersuchungen zum alten Ägypten im Blick hatte36, eine relativ stabile und klar strukturierte Erinnerungsgemeinschaft gab, überlagern sich in differenzierten Gesellschaften verschiedene Gemeinschaften mit sehr differenzierten Interessen. Das führt nicht nur zu einer ständigen Abgrenzung zwischen städtischer und universitär-korporativer Erinnerungskultur. Auch innerhalb der Korporation verändern sich in ständiger Korrespondenz zur frühneuzeitlichen Gesellschaft die Argumente und Perspektiven. Es ist weniger das permanente Bedürfnis nach Identität oder Selbstvergewisserung, das zur Disposition steht. Es geht vielmehr um eine Suche nach geeigneten »Erinnerungsorten« oder »Erinnerungsfiguren«, also nach Anknüpfungspunkten für kollektives Gedächtnis. In diesem dynamisch verlaufenden Prozess erfolgt die Ausformung und Aneignung allgemein anerkannter »Traditionen« bei gleichzeitiger ständi35 Vgl. ebenda, S. 1 – 19. 36 Vgl. Assmann, Gedächtnis; ders.: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a.M. 2000.

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ger Auseinandersetzung und Überformung der Gedächtnisinhalte durch die verschiedenen Generationen. Es gibt also keinen Stillstand im Erinnern und Vergessen und somit auch nicht in der Produktion von Verschriftlichung. Voraussetzung bleibt dafür ein öffentliches Interesse und der notwendige selbstbestimmte Spielraum für die Korporation und ihre Mitglieder. Ist dies nicht vorhanden, dominiert z. B. herrschaftliche Deutungshoheit in der Erinnerungskultur, kommen wohl auch selbstbewusste Beschreibungen aus der Korporation heraus nicht zustande. So betrachtet, eröffnen sich sehr differenzierte Perspektiven bei der Einbeziehung dieser »Quellengruppe« in universitätsgeschichtliche Darstellungen, die weit hinaus über die bislang praktizierte dokumentarisch-informative Verwendung der Beschreibungen reicht.

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»Das Amt, das den Hass der Welt nach sich zieht«. Zur Stellung des Universitätsrichters in Gießen

Als Ludwig Trygophorus die resignierende Feststellung traf, dass er ein »Amt [habe], das den Hass der Welt nach sich zieht«1, hatte er die Stellung des Universitätsrichters in Gießen seit viereinhalb Jahren inne2. Während dieser Zeit hatte der treue Gefolgsmann des konservativen hessen-darmstädtischen Staatsministers Karl Wilhelm Heinrich du Bois du Thil3 und des einflussreichen Ministerialbeamten Justin von Linde4 seine Amtsführung stets an dem restriktiven Kurs der Regierung gegenüber liberalen Elementen ausgerichtet. Sein energisches Vorgehen und seine meist unnachgiebige Haltung bei der Bestrafung studentischer Vergehen hatten ihm nicht nur bei den Studierenden, sondern auch bei einem Teil des Gießener Lehrkörpers Ablehnung und Anfeindungen eingebracht. Dabei richtete sich die Kritik sowohl auf die Persönlichkeit von Ludwig Trygophorus als auch auf das Amt des Universitätsrichters, denn seit 1 Brief von Trygophorus an Justin von Linde, 29. 08. 1839. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Justin von Linde, N 1759/53. 2 Ludwig Trygophorus, geboren am 18. 02. 1806 in Darmstadt, war am 24. 03. 1835 zum Universitätsrichter in Gießen ernannt worden. Biographische Daten zu seiner Person in: Michael Breitbach, Das Amt des Universitätsrichters an der Universität Gießen im 19. und 20. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zu den Doktorentziehungsverfahren zwischen 1933 und 1945, in: Archiv für hessische Geschichte 2001/59, S. 316, Fußnote 21. 3 Zu ihm vgl. Hans-Werner Hahn, Zwischen Rheinbund und Revolution 1848/49: Der Staatskonservatismus des hessen-darmstädtischen Ministers du Thil, in: Ewald Grothe (Hg.), Konservative deutsche Politiker im 19. Jahrhundert. Wirken – Wirkung – Wahrnehmung. Marburg 2010, S. 35 – 51. 4 Linde hatte im Großherzogtum Hessen-Darmstadt rasch Karriere gemacht. Seit 1823 war er zunächst als Professor der Rechte an der Landesuniversität Gießen tätig. Drei Jahre später – im März 1829 – wechselte er unter Aufgabe seiner Gießener Professur als Geheimer Regierungsrat ins Innenministerium in Darmstadt, wo er sich als Referent des höheren Schulwesens eine überaus einflussreiche Stellung als Kultusbeamter aufbaute. 1833 wurde er zum Kanzler und landesherrlichen Bevollmächtigten an der Universität Gießen ernannt, er war damit der unmittelbare Vorgesetzte des Universitätsrichters. Zu ihm vgl. Michael Breitbach, »…Für den Großherzoglichen Dienst ein zu bedeutender Mann…«. Justin von Linde – Konservativer Modernisierer des Bildungs- und Universitätswesens im Großherzogtum Hessen, in: Archiv für hessische Geschichte 2007/65, S. 79 – 96.

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dessen Einführung im Jahr 1831 war die Universität in ihrer bisherigen Ausübung der akademischen Gerichtsbarkeit stark eingeschränkt und verstärkter landesherrlicher Kontrolle unterworfen. An der 1607 gegründeten Universität Gießen5 gehörte die Aufsicht über die studentische Disziplin und die Handhabung der akademischen Gerichtsbarkeit, die zunächst auch die zivil- und kriminalrechtlichen Angelegenheiten der Universitätsmitglieder beinhaltete, von Anfang an zu den Aufgaben des Rektors und wurde damit universitätsintern ausgeübt. Vorschriften zur studentischen Disziplin waren bereits in den Statuten von 1629 enthalten, wobei sich diese Bestimmungen über das Verhalten und die Pflichten der Studierenden nicht nur auf den Universitätsbereich, sondern auf das gesamte Leben der Studenten erstreckten6. 1779 wurden die Disziplinarvorschriften auf Anordnung des Landesherrn neu formuliert und ergänzt und erschienen im Druck. Knapp dreißig Jahre später, im Jahr 1808, wurden neue Disziplinargesetze erlassen und erstmals ein Disziplinargericht geschaffen, dem zunächst neben dem Rektor der Universitätskanzler, der Syndikus und Vertreter der Fakultäten angehörten7. Vor allem durch die Hinzuziehung des Syndikus, der in Gießen stets aus den Mitgliedern der Juristischen Fakultät rekrutiert wurde, sollte der meist nicht juristisch vorgebildete Rektor mit dem nötigen Sachverstand bei der Ausübung der Gerichtsbarkeit unterstützt werden. Durch die stärkere Einbindung von Juristen in die universitäre Rechtsprechung – eine Entwicklung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an nahezu allen deutschen Universitäten zu beobachten ist8 – sollte der weit verbreiteten Disziplinlosigkeit der Studenten wirkungsvoller begegnet werden. Eine weitere Neuerung, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vielerorts vollzogen wurde, war die Reduzierung der akademischen Gerichtsbarkeit auf das Disziplinarrecht, womit die ursprünglichen Jurisdiktionsbefugnisse der Universitäten eine erhebliche Einschränkung erfuhren. In Gießen erfolgte diese Maßnahme durch landesherrliche Verordnung vom 11. November 18229, künftig waren alle zivil- und kriminalrechtlichen 5 Zur Gießener Universitätsgeschichte grundlegend: Peter Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen 1607 – 1982. Gießen 1982. 6 Von den 113 Titeln der Statuten behandelt Titel 75 (»De officii Studiosorum«) die Pflichten der Studenten. Vgl. Hans Georg Gundel (Hg.), Statuta Academiae Marpurgensis deinde Gissensis de anno 1629. Die Statuten der Hessen-Darmstädtischen Landesuniversität Marburg 1629 – 1650 / Gießen 1650 – 1879. Marburg 1982, S. 193 ff. 7 Ab 1831 gehörte auch der Universitätsrichter diesem Kollegium an, vgl. Justin Linde, Uebersicht des gesammten Unterrichtswesens im Großherzogthum Hessen, besonders seit dem Jahr 1829. Gießen 1839, S. 327. 8 Vgl. Friedrich Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland. Leipzig 1891, S. 115 ff. 9 Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt (künftig: GHR) 1822/36, S. 519 f. Die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Universitätsangehörigen waren nunmehr in erster Instanz dem Hofgericht zu Gießen übertragen.

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»Das Amt, das den Hass der Welt nach sich zieht«

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Belange vor den staatlichen Gerichten zu verhandeln. Nur die Schuldenangelegenheiten der Studierenden verblieben bei der Disziplinargerichtsbarkeit. Die Universitätsmitglieder – Professoren, sonstige Bedienstete und Studenten – verloren damit ihre bisherigen Sonderrechte, die sie von den übrigen Bürgern der Universitätsstadt abgehoben hatten. Es setzte die stärkere Eingliederung der Universität in den sich ausbildenden modernen Verwaltungsstaat ein. Noch gravierender waren die Veränderungen, die bereits zwei Jahre zuvor durch die Umsetzung der »Karlsbader Beschlüsse« erfolgt waren, durch die die Universitäten nach dem Attentat des Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand auf den russischen Staatsrat August von Kotzebue die auf Drängen Metternichs von den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes beschlossenen Überwachungsmaßnahmen zu spüren bekamen. Unter diesen »Beschlüssen« zielte das sogenannte »Bundes-Universitätsgesetz« auf die Überwachung der seit den Befreiungskriegen ins Visier der Staatsgewalt geratenen Universitäten und auf die Verfolgung der politisch aktiven Studenten10. Darin wurden nicht nur die Burschenschaften verboten und ihre Mitglieder von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, sondern es wurde auch die Einsetzung eines außerordentlichen landesherrlichen Bevollmächtigten angeordnet. Zu seinen Funktionen gehörte die Aufsicht über die Disziplin und vor allem über das politische Verhalten der Studierenden sowie die Überprüfung der von den Professoren vertretenen Lehre. Diese Maßnahme stellte einen tiefen Eingriff in die Autonomie der Universitäten dar. In Gießen wurde das Amt des Regierungsbevollmächtigten in Personalunion mit dem Amt des Universitätskanzlers verbunden. Zum ersten Amtsinhaber wurde der Rechtsprofessor Franz Joseph Freiherr von Arens bestellt11, womit die von staatlicher Seite angeordnete Aufsicht zumindest einem Mitglied des Gießener Lehrkörpers übertragen wurde12. Allerdings erwarb sich der äußerst konservative Arens schon bald den Ruf eines erbitterten Demagogenverfolgers. Nicht nur in Gießen, sondern auch als Mitglied der in Mainz eingesetzten Zentral-Untersuchungskommission des Deutschen Bundes, der er seit 1821 angehörte, galt sein Hauptaugenmerk der Verfolgung der an revolutionären Umtrieben Beteiligten. Unter seiner Ägide wurden die Gießener Disziplinargesetze 1827 abermals erweitert und verschärft, die nun u. a. ein striktes 10 Die »Karlsbader Beschlüsse« vom 20. September 1819 sind abgedruckt bei: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, Dritte neubearb. und vermehrte Auflage. Stuttgart 1978, S. 100 ff. 11 Allgemeine Deutsche Biographie Band 1, Neudruck der 1. Auflage von 1875, Berlin 1967, S. 517. 12 Bei der Ernennung von Arens zum landesherrlichen Bevollmächtigten wurde ausdrücklich hervorgehoben, dass es ein »erfreulicher Beweis des Landesväterlichen Wohlwollens« sei, dass dieses Amt einem Universitätsmitglied anvertraut werde. Universitätsarchiv Gießen (künftig: UAG), Allg. Nr. 1315, Protokollauszug vom 01. 10. 1819.

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Verbot zur Teilnahme an studentischen Verbindungen enthielten13. Für die Handhabung der akademischen Gerichtsbarkeit blieben weiterhin allein das Disziplinargericht und der Rektor zuständig. Dies sollte sich allerdings wenige Jahre später mit der Einführung des Universitätsrichteramtes ändern. Mit der Schaffung dieses Amtes reagierte die hessen-darmstädtische Regierung auf die neuesten Ereignisse im Gefolge der Julirevolution in Frankreich 1830, die auch in den Staaten des Deutschen Bundes zum Ausbruch politischer Unruhen geführt hatten und die die Universitäten als potenzielle Gefahrenherde erneut ins Blickfeld rückten. Um der Maßnahme besonderen Nachdruck zu verleihen, wurde der mit dem Richteramt Beauftragte nicht aus dem Kreis der Universitätsangehörigen gewählt, sondern es wurde ein im Staatsdienst stehender Jurist dazu bestellt. Mit der Einführung des Universitätsrichters, der zwar ständiges Mitglied des Disziplinargerichts war, aber weitreichende eigene Kompetenzen hatte, wurde somit die Aufsicht über die Landesuniversität deutlich verschärft und die akademische Gerichtsbarkeit der Kontrolle des Staates unterstellt14. Unter diesen Bedingungen kam es künftig entscheidend darauf an, ob die Universitätsmitglieder zur Person des Richters ein Vertrauensverhältnis würden aufbauen können, um Konflikte bei der Behandlung studentischer Disziplinarangelegenheiten nach Möglichkeit zu vermeiden. Über die Amtsführung des ersten Gießener Universitätsrichters Konrad Georgi15, der am 13. September 1831 mit der neugeschaffenen Stelle betraut wurde16, liegen kaum Unterlagen vor17. Einige Hinweise darauf, dass seine Persönlichkeit schon bald auf Kritik stieß, liefert jedoch eine Debatte, die in der Zweiten Kammer der hessen-darmstädtischen Landstände im Oktober 1834 zur Frage der Budgetbewilligung für die Universität Gießen geführt wurde18. Einige liberale Abge13 Disciplinar-Gesetze und Statuten der Großherzoglich Hessischen Universität Giessen. Gießen 1827. UAG, Allg. Nr. 1297. 14 Zur Stellung des Universitätsrichters vgl. Michael Breitbach, Das Amt des Universitätsrichters (wie Anm. 2), S. 267 – 274. 15 Biographische Daten zu ihm bei Michael Breitbach, Das Amt des Universitätsrichters (wie Anm. 2), S. 316, Fußnote 20. Georgi war zweifellos bemüht, jede politische Verschwörung rigoros zu verfolgen. Er erlangte später als Untersuchungsrichter traurige Berühmtheit durch seine brutalen Verhörmethoden gegenüber dem in Darmstadt inhaftierten oberhessischen Oppositionsführer Friedrich Ludwig Weidig. 16 Vgl. Justin Linde, Uebersicht des gesammten Unterrichtswesens (wie Anm. 7), S. 290. 17 Die Akten des Universitätsrichters sind vermutlich durch die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs vernichtet worden. Aus der Tätigkeit des Disziplinargerichts sind nur die Sitzungsprotokolle mit knappen Einträgen der studentischen Vergehen überliefert, vgl. Thorsten Dette / Lutz Schneider (Bearb.), Studentische Disziplin und akademische Gerichtsbarkeit in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Namensregister zu den in den Disziplinargerichtsprotokollen der Universität Gießen aufgeführten Studenten. Gießen 1997. 18 Verhandlungen der Zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen im Jahr 1834, Protokolle Bd. 4. Darmstadt 1834, Protokoll Nr. 69, 01. 10. 1834. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt hatte seit 1820 eine Verfassung, die für die landständische Repräsentation

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ordnete, darunter Ernst Emil Hoffmann, der zu den bedeutendsten Vertretern der Opposition in Hessen-Darmstadt gehörte, machten Georgi und dessen Handhabung der Disziplinargewalt für die Abnahme der Frequenz und für den schlechten Ruf der Landesuniversität verantwortlich. Die Universität sei »eine Dressiranstalt für Staatsdiener geworden, aber sei keine Akademie der Wissenschaften mehr«19. Konsequenzen hatten diese kritischen Äußerungen nicht. Der während der Sitzung anwesende Justin von Linde, der seit 1833 von Arens unter Beibehaltung seiner Stellung im Darmstädter Ministerium die Position des Gießener Universitätskanzlers und Regierungsbevollmächtigten übernommen hatte, zeigte hierfür keinerlei Verständnis. Der überzeugte Verfechter des Metternichschen Unterdrückungskurses setzte nicht auf Liberalisierung, sondern war angesichts der politischen Ereignisse eher auf weitere Verschärfung bedacht. Nach dem Frankfurter Wachensturm im April 1833, an dessen Planung und Durchführung vor allem Studenten aus Burschenschaftskreisen beteiligt waren20, griffen die Regierungen des Deutschen Bundes zu weiteren rigiden Maßnahmen. Der Einsetzung einer erneuten Bundeszentralbehörde zur Verfolgung der politischen Opposition am 30. Juni 1833 folgten die auf den Geheimen Wiener Ministerialkonferenzen im Juni 1834 beschlossenen sechzig Artikel, die mit einer Fülle von Vorschriften unter anderem eine schärfere Überwachung der Universitäten anordneten21. Sie sahen u. a. genaue Regelungen für die Immatrikulation und den Universitätswechsel von Studierenden vor, beides wurde von politischem Wohlverhalten abhängig gemacht, das durch entsprechende Zeugnisse zu belegen war. Die Umsetzung dieses Bundesbeschlusses erfolgte im Großherzogtum durch eine grundlegende Revision der Disziplinargesetze, die unter Federführung des Regierungsbevollmächtigten Justin von Lindes vorgenommen wurde. Die neuen Disziplinarstatuten, die in 158 Artikeln detailliert das Immatrikulationsverfahren und das Disziplinarrecht regelten, traten am 18. Mai 1835 in Kraft22. In ihnen wurden auch die Zuständigkeiten des Universitätsrichters umrissen, so dass dessen weitreichende

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ein Zwei-Kammern-System vorsah. Die Zweite Kammer, das eigentliche Abgeordnetenhaus, setzte sich aus 50 Abgeordneten zusammen, die vom niederen Adel sowie von der Stadt- und Landbevölkerung gewählt wurden. Vgl. Siegfried Büttner, Die Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das du Thilsche System. Darmstadt 1969. So der Abgeordnete Heinrich von Gagern in der Debatte. Vgl. u. a. Paul Krüger, »Hochverräterische Unternehmungen« in Studentenschaft und Bürgertum des Vormärz in Oberhessen (bis 1838), in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 1965/49/50, S. 100 ff. Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), S. 136 ff. Verordnung, die Disciplinarstatuten der Universität Gießen betreffend, in: GHR 1835/25, S. 225 ff.

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Kompetenzen deutlich werden23. Nach Artikel 104 hatte er alle Disziplinarvergehen selbstständig zu untersuchen, Anzeigen gegen Studierende in Disziplinarsachen waren nur bei ihm vorzubringen. Dabei umfasste die Disziplinargerichtsbarkeit nicht nur die rein »akademischen« Vergehen, die die innere Ordnung der Hochschule und hier vor allem ordnungswidriges Benehmen gegen die akademischen Behörden und Lehrer betrafen, sondern auch strafrechtliche Delikte, wie das Duellieren mit Waffen aller Art und Streitigkeiten unter den Studierenden. Strikt zu ahnden war zudem die Teilnahme an verbotenen Verbindungen und Gesellschaften. Bei leichteren Vergehen konnte der Universitätsrichter das Strafmaß selbst festlegen. Neben Geldstrafen waren es vor allem Ehren- und Freiheitsstrafen, die verhängt wurden. Die unterste Ehrenstrafe war der Verweis in einfacher und strenger Form. Mit der Unterschrift des »consilium abeundi« und dem Eintrag in das Strafbuch, dem sogenannten »Schwarzen Buch«, drohte dem Studenten bei jeder weiteren Verfehlung eine Strafverschärfung bis hin zur Aufkündigung des akademischen Bürgerrechts oder dem Vollzug des »consilium abeundi«, was die Entfernung von der Universität für ein halbes bis ein Jahr bedeutete. Die härteste Ehrenstrafe war die Relegation, bei der der betroffene Student für mindestens ein Jahr bzw. auf Dauer von der Universität entfernt wurde. Freiheitsstrafen mussten in aller Regel, sofern es sich nicht um Haus- oder Stadtarrest handelte, im Universitätskarzer verbüßt werden. Bei schwereren Vergehen, die schärfer als mit einem Verweis, einer achttägigen Karzerstrafe oder einer Geldstrafe bis zu drei Gulden zu ahnden waren, musste der Universitätsrichter nach Abschluss seiner Untersuchung die Angelegenheit zur Entscheidung vor das Universitätsgericht bringen. Außerdem war die Mitwirkung des Disziplinargerichts in allen den Fällen vorgesehen, in denen es sich um den Fleiß der Studierenden und ihr Betragen gegenüber den akademischen Behörden handelte. Da aber auch hier der Universitätsrichter die Untersuchungen durchzuführen und Bericht zu erstatten hatte, konnte er durchaus Einfluss auf die Entscheidungsfindung der Mitglieder des Disziplinargerichts ausüben. Die zentrale Bedeutung des Universitätsrichters wurde noch dadurch unterstrichen, dass ihm die Überwachung des Studierverhaltens und des Betragens der Studenten oblag. Er war neben dem Rektor und dem Kanzler an der Ausstellung von Zeugnissen für Studierende beteiligt, die in den Staats- oder Kirchendienst eintreten wollten. Der Regierungsbevollmächtigte hatte diese Zeugnisse, die u. a. Auskunft über den Fleiß oder die Teilnahme an verbotenen Verbindungen enthielten, zu unterzeichnen. Die laut der Verordnung von 1822 bei der Disziplinargerichtsbarkeit verbliebenen Schuldensachen 23 Ein Amtseid oder ein Anstellungsurkunde, die Aufschluss über die Machtbefugnisse des Universitätsrichters geben könnten, sind nicht überliefert. Zu den im Folgenden genannten Aufgaben des Universitätsrichters vgl. im Einzelnen die Disziplinarstatuten.

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der Studierenden wurden nun ebenfalls dem Universitätsrichter übertragen, der Prüfungszeugnisse solange zurückhalten konnte, bis die Forderungen der Gläubiger erfüllt waren. Der Universitätsrichter war damit mit einer Reihe von eigenständigen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, die er als staatliches Kontrollorgan zur Überwachung der Universität und ihrer Mitglieder nutzen konnte. Der Nachfolger von Konrad Georgi, der eingangs erwähnte Ludwig Trygophorus, der am 24. März 1835 – und damit kurz vor Inkrafttreten der verschärften Disziplinarstatuten – zum Universitätsrichter ernannt wurde24, war sich dieser Machtfülle bewusst und von Beginn seiner Tätigkeit an bemüht, gegen Fälle von Disziplinlosigkeit oder Anzeichen politischen Verschwörertums strikt vorzugehen25. Seine Beförderung zum Universitätsrichteramt mit dem Range eines Landrichters hatte er offenbar dem einflussreichen Ministerialbeamten Justin von Linde zu verdanken. Mit ihm, der als Regierungsbevollmächtigter der direkte Vorgesetzte des Universitätsrichters war, unterhielt Trygophorus eine rege Korrespondenz, die im Juni 1835 einsetzt und mit dem Ausscheiden Lindes aus hessen-darmstädtischen Diensten im Jahr 1847 endet26. Seine guten Kontakte zu Linde nutzte Trygophorus nicht nur zur Klärung dienstlicher Angelegenheiten – u. a. mussten die für die Studenten ausgestellten Zeugnisse dem Regierungsbevollmächtigten zum Unterzeichnen zugesandt werden und Fragen zur Immatrikulation von Studenten waren zu regeln –, sondern er berichtete in seinen Briefen auch ausführlich über Vorgänge an der Universität und über Konflikte, die er als Universitätsrichter vor allem mit den Mitgliedern des akademischen Disziplinargerichts auszutragen hatte. Trygophorus suchte durch diese Art informeller Berichterstattung Linde in seinem Sinne zu beeinflussen, denn nach Artikel 108 der Disziplinarstatuten von 1835 24 GHR 1835/18, S. 180. Mit der Bestellung zum Universitätsrichter wurde Trygophorus zugleich auch die Stelle eines Assessors am Stadtgericht Gießen übertragen, in welcher Funktion er vor allem die Verwaltung der Polizeigerichtsbarkeit für Studenten und Nichtstudierende wahrzunehmen hatte. Über diese Doppelbelastung beschwerte sich Trygophorus wiederholt bei Linde. Am 28. 02. 1837 wurde er daraufhin von seinen Aufgaben beim Stadtgericht entbunden. Vgl. GHR 1837/17, S. 204. 25 Bei Amtsantritt von Trygophorus in Gießen liefen noch die Ermittlungen wegen der Verbreitung des »Hessischen Landboten«, an der neben Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig noch eine Reihe weiterer Gießener Studenten und Bürger aus Oberhessen beteiligt waren. Vgl. u. a. Erich Zimmermann, Für Freiheit und Recht! Der Kampf der Darmstädter Demokraten im Vormärz (1815 – 1848). Mit einem Quellenanhang. Darmstadt 1987; Reinhard Görisch / Thomas Michael Mayer, Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831 – 1834. 1982. Daher war Trygophorus darauf bedacht, jedes Aufkeimen von Verbindungen, in denen sich die politisch führenden Köpfe der Studenten zusammenfanden, zu unterdrücken. 26 Die umfangreiche Korrespondenz ist im Nachlass Justin von Lindes überliefert: Bundesarchiv Koblenz N 1759/52, N 1759/53 und N 1759/54.

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hatte das Ministerium bei solchen Kompetenzkonflikten die letzte Entscheidungsbefugnis27. Die Korrespondenz ermöglicht daher Einsichten in das Selbstverständnis von Trygophorus in seiner Position als vom Staat beauftragter Universitätsrichter und zugleich geben die darin enthaltenen denunziatorischen Schilderungen der Gießener Verhältnisse einen amüsanten Blick auf das Leben in der kleinen Universitätsstadt an der Lahn. Wie ein roter Faden ziehen sich durch die Briefe von Trygophorus seine Beschwerden über den Geschäftsgang am Disziplinargericht und über die seiner Meinung nach völlig inakzeptablen Ansichten von dessen Mitgliedern hinsichtlich des Strafmaßes bei studentischen Vergehen. Ein halbes Jahr nach seiner Amtsübernahme in Gießen suchte er Linde in drastischen Worten von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass bei Unstimmigkeiten bezüglich der Höhe der zu verhängenden Strafen künftig der Regierungsbevollmächtigte entscheiden müsse: »In diesen Tagen wurde die zweite Sitzung des Disciplinargerichts in diesem Semester abgehalten. Es handelte sich unter Anderem darinn von der Bestrafung des Stud[enten] Osterhold aus Waldeck, welcher bei einem Tumulte bedeutende Drohungen gegen die Giessen ausgestoßen und ›Bursche heraus‹ gerufen hatte. Meine strengere Ansicht von dem Vergehen fand bei den Patres Misericordiae, wie sie sich theilweise nennen, keinen Beifall, und nur mit höchster Mühe wurde erlangt, daß eine 14 tägige Carcerstrafe und die Aufkündigung des akademischen Bürgerrechts – eine für ein solches Vergehen durchaus unpassende Art der Entfernung von der Universität – ausgesprochen wurde. Es bleibt Nichts andres übrig, als daß eine Verfügung erlassen wird, wonach in allen Fällen, in denen von dem Universitätsrichter auf die Strafe der Relegation, des Consiliums oder überhaupt Entfernung von der Universität (welche Strafen die Herrn aus Eigennutz wie das Feuer scheuen) angetragen wird, und in welchen der Gerichtshof nicht mit dem Antrage einverstanden ist, dem Regierungskommissär Vorlage darüber gemacht werde und dieser nun das, was eintreten soll, entscheide. Das Disciplinargericht bedarf überhaupt in manigfacher Beziehung einer Aenderung, und etwas sehr dringendes ist die Festsetzung einer Geschäfts-Ordnung, damit nicht Alles wie Kraut und Rüben bei diesem merkwürdigen College durcheinander geht«28.

Hier wird das Aufeinandertreffen völlig unterschiedlicher Ansichten deutlich. Während Trygophorus als Beauftragter der Regierung an der Universität für die Umsetzung der restriktiv gefassten Disziplinarstatuten und für Ruhe und Ordnung Sorge zu tragen hatte, waren die Professoren bei ihren Entscheidungen oft von anderen Motiven geleitet. Liberale politische Einstellung, Angst um den Ruf der Universität und deren Frequenz oder Schutz der eigenen von Disziplinarmaßnahmen betroffenen Söhne ließen sie häufiger milder urteilen und brachten sie in Konflikt mit dem Universitätsrichter. Widerstand erregte vor allem die 27 GHR 1835/25, S. 247. 28 Brief vom 24. 09. 1835, Bundesarchiv Koblenz N 1759/52.

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Verhängung des »consilium abeundi« und der Relegation, denn diese Strafen waren nicht nur für den betroffenen Studenten besonders hart, sondern schadeten auch dem Ansehen der Universität beträchtlich und konnten einen Rückgang der Frequenz bewirken. Hiervon waren die Interessen der Professoren unmittelbar betroffen, denn geringere Studentenzahlen bedeuteten den Wegfall von Hörergeldern und Prüfungsgebühren und waren somit mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden. Die ständige Auseinandersetzung mit den Mitgliedern des Disziplinargerichts veranlasste Trygophorus schließlich im Juli 1836 bei Linde nachzufragen, von welchen Grundsätzen er bei seinen Strafanträgen ausgehen solle. Seiner Ansicht nach war völlig klar, dass »des Gesetzes größte Strenge dabei eintreten und alle unzeitige Barmherzigkeit verbannt bleiben [müsse]«29. Obwohl Trygophorus in manchen Fällen, z. B. bei verspäteter Anmeldung zur Immatrikulation30, durchaus Milde gegenüber dem betroffenen Studenten walten ließ, wurde sein unnachgiebiges Vorgehen gegen jegliche Form von Disziplinlosigkeit als Charakteristikum seiner Persönlichkeit angesehen und brachte ihn nicht nur bei der Studentenschaft, sondern auch bei Teilen des Lehrkörpers in Verruf. Über sein Ansehen in der Universitätsstadt machte sich Trygophorus keine Illusionen und brachte seine Überlegungen gegenüber Linde auf den Punkt: »Das Amt des Universitätsrichters, wenn es seinem Zwecke gemäs verwaltet werden soll, ist überhaupt am Wenigsten zur Erwerbung des Beifalles der Menge geeignet. Dazu kam mit meiner Anstellung die Einführung eines neuen, den bedeutenden Rest der alten Burschen-Freiheiten gänzlich aufhebenden Gesetzes31, in Gefolge dessen Vergehen, die man früher belachte oder übersah, gestraft, oft doppelt gestraft werden mußten […]. Dazu kam der hier überall sich kund gebende, zur Gesetzlosigkeit geneigte Geist und die demselben allen Vorschub leistende Lauheit der meisten Behörden und Beamten; dazu die sehr nachtheilig gewirkt habende Eifersucht einzelner der Universität-Angehörigen über die mancherlei, gegen die frühere Gewohnheit von dem Universitätsrichter ausgeübten Reche und Befugnisse […]. Daß unter solchen Verhältnissen demjenigen, der dem Gesetze, der Natur der Sache und den erhaltenen Weisungen gemäs, das Amt des U[niversitäts]-Richters zu verwalten sich bestrebt und dem das öffentliche Intresse dabei das Höchste ist, von der Menge keine Lorbeeren gestreut werden, liegt in den Verhältnissen selbst begründet«32.

Ende der 1830er Jahre wurde die Kritik an der rigiden Handhabung der Disziplinargewalt lauter. Nicht nur Professoren der Universität, sondern auch 29 Brief vom 24. 07. 1836, Ebenda. 30 Nach Artikel 13 der Disziplinarstatuten durfte acht Tage nach Beginn der Vorlesungen ohne besondere Genehmigung keine Immatrikulation mehr vorgenommen werden, vgl. GHR 1835/25, S. 228. 31 Trygophorus bezieht sich hier auf die Neufassung der Disziplinarstatuten von 1835. 32 Brief vom 05. 01. 1837, Bundesarchiv Koblenz N 1759/53.

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Landtagsabgeordnete äußerten nun ihren Unmut über die restriktiven Maßregeln gegenüber den Studierenden. Diese waren schließlich in der Mehrzahl Landeskinder, stammten überwiegend aus vermögenden Elternhäusern, waren häufig Söhne von höheren großherzoglichen Beamten und gehörten damit denselben Kreisen an wie die Deputierten im Landtag. Nach einer öffentlichen Debatte in der Zweiten Kammer im April 1839 fassten die Abgeordneten den einstimmigen Beschluss, die Regierung zur Überprüfung der Disziplinarstatuten aufzufordern33. Die Gießener Studentenschaft nahm dies als Signal, sich mehr Freiheiten herauszunehmen. Über die wachsende Disziplinlosigkeit berichtete Trygophorus wenige Monate später an Linde: »[…] die traurigen Folgen der Landtags-Verhandlungen über unsere Disciplin entwickeln sich täglich mehr. Nächtliche Ruhestörungen von Studirenden in Masse begangen, dabei Verführungen, Beleidigungen der einschreitenden Polizeiofficianten, waren bisher nicht selten, dabei überall die trotzig ausgesprochene Erklärung ›die Polizei hat uns Nichts zu befehlen‹ und in einem Falle, in welchem es fast zu Thätlichkeiten gegen die Polizeiofficianten gekommen wäre, sogar die Androhung ›es soll jeden Abend besser kommen!‹ […] Aeusserungen daß die Stände die DisciplinarVorschriften nicht billigten, daß auch von den meisten Mitgliedern der Regierung dieselben nicht gebilligt würden, sollen ziemlich offen von den Studirenden in den Wirthshäusern gethan werden …«34.

Trotz der zunehmenden Kritik an seiner Amtsausübung schritt der Universitätsrichter auch dieses Mal energisch ein. Mitte Juli 1839 setzte er eine Reihe von Studenten, die Aussagen über etwaige bestehende Verbindungen verweigert hatten, im Karzer fest. In einer spontanen Nachtaktion wurden sie daraufhin von ihren erbitterten Kommilitonen befreit. Der Senat der Universität Gießen sah sich durch diesen »Karzersturm« veranlasst, nun ebenfalls auf eine Revision der Disziplinarstatuten zu dringen. Dies stieß jedoch bei Universitätskanzler Linde und der Regierung auf wenig Entgegenkommen. Die Disziplinargesetze blieben weiterhin formal in Kraft, wenn auch in der Praxis das erneute Aufkommen von Verbindungen geduldet wurde, die künftig allerdings keine politischen Ziele mehr verfolgten. Auch das Verhalten des Universitätsrichters wurde in diesem Zusammenhang kritischer denn je hinterfragt und sein Rückhalt im Ministerium begann zu bröckeln. Trygophorus, der sich offenen Anfeindungen in der Universitätsstadt ausgesetzt sah, bat wiederholt um seine Versetzung in die Residenz Darmstadt und wollte im August 1839 möglichst umgehend von dem »Amt, das den Haß der Welt nach sich zieht« entbunden werden35. Diesem 33 Verhandlungen der Zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen im Jahre 1838/39, Protokolle Band 3. Darmstadt 1839, Protokoll der 58. und 59. Sitzung. 34 Brief vom 14. 06. 1839. Bundesarchiv Koblenz N 1759/53. 35 Brief vom 29. 08. 1839. Ebenda.

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Wunsch wurde jedoch nicht entsprochen. Er verblieb weiterhin im Amt des Universitätsrichters. Allerdings war und blieb Trygophorus aufgrund seiner Stellung und seiner wenig beliebten Persönlichkeit ein Außenseiter nicht nur in Professorenkreisen, sondern auch in der Gesellschaft der Universitätsstadt. Der Chemieprofessor Justus Liebig brachte dies in einem Brief an den Universitätskanzler Linde im Juni 1847 auf den Punkt, in dem er von der »vollkommnen Isolirung« sprach, in der »der H[err] Universitätsrichter durch die Stellung, in die er sich versetzt hat« lebe36. Zugleich nutzte der anerkannte Wissenschaftler seine guten Kontakte zu Linde, um in diesem Schreiben deutliche Kritik an den seiner Ansicht nach völlig unzeitgemäßen Disziplinarstatuten und der darin festgeschriebenen Machtstellung des Universitätsrichters zu üben. Besonders empörte Liebig, der seit dem Sommersemester 1846 selbst dem Gießener Disziplinargericht angehörte, dass Trygophorus eine umfangreiche Privatkorrespondenz mit Linde und dem Ministerium unterhielt und darin seine individuellen Ansichten über die an der Universität herrschenden Verhältnisse äußerte. Dies würde »die Mitglieder des Disciplinargerichtes zu Strohmännern herabwürdigen« und zu einem »durchaus unwürdigen Denunciations- und Spionirsytem« führen37. Eine Lockerung der Disziplinargewalt erreichte Liebig mit seinen Worten nicht, aber er hatte den Geist der Zeit richtig erkannt. Wenige Monate später, am 8. Dezember 1847, schied Justin von Linde aus hessen-darmstädtischen Diensten aus. Sein Weggang leitete das Ende der restriktiven Ära im Großherzogtum ein. Es sollte nur noch kurze Zeit dauern, bis unter dem Druck der Märzrevolution von 1848 auch das Ende der »Karlsbader Beschlüsse« und der damit verbundenen Überwachungsmaßnahmen nahte. Am 2. April 1848 hob der Bundestag die umstrittenen Bundesgesetze auf. Der den Universitäten aufgezwungene landesherrliche Bevollmächtigte war damit Vergangenheit. In Hessen-Darmstadt reagierte die Regierung auf weitere Reformforderungen der Gießener Studenten, die durch Abgeordnete in der zweiten Kammer des Landtags Unterstützung erhielten38, und schaffte durch Erlass vom 26. Oktober 1848 die Immatrikulationskommission und die damit einhergehende Überwachung der Studierenden ab39. Das unbeliebte Amt des Universitätsrichters blieb allerdings weiterhin bestehen, wurde jetzt aber auf rein disziplinarische Angele36 Brief vom 08. 06. 1847, in: Eva-Marie Felschow / Emil Heuser (Bearb.), Universität und Ministerium im Vormärz. Justus Liebigs Briefwechsel mit Justin von Linde. Gießen 1992, S. 341 ff. 37 Ebenda, S. 347 f. 38 Vgl. Antrag zur Reform der Universität Gießen vom 08. 08. 1848: Verhandlungen der Zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen im Jahre 1847/49, Beilagen Band 5. Darmstadt 1849, Beilage Nr. 602. 39 GHR 1848/62, S. 385 ff.

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genheiten der Studierenden beschränkt. Ludwig Trygophorus übte es bis zum Mai 1851 aus, danach ging er als Hofgerichtsrat nach Darmstadt und durchlief dort weitere Karrierestufen bis zum Direktor des Darmstädter Hofgerichts. Sein Nachfolger Georg Haberkorn war bis zum Wintersemester 1878/79 Universitätsrichter, dann wurde das im Vormärz eingeführte Amt durch Verordnung vom 15. Januar 1879 aufgehoben40.

40 GHR 1879/2, S. 3 f.

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Wissenschaftsmanagement im Selbstbild der deutschen Universität seit dem 19. Jahrhundert

Nicht nur das Interesse an der Universitätsgeschichte verbindet Hans-Werner Hahn und mich. Wir haben auch beide unseren Teil zum Wissenschaftsmanagement in der Universität und außerhalb beigetragen. Bereitwillig, aber nicht immer freudig. Als wir uns auf den Weg zum Hochschullehrer und -forscher machten, war es noch nicht selbstverständlich, dass Beteiligung am Wissenschaftsmanagement erwartet wird. Doch nur Lehrer und Forscher waren Universitätsprofessoren nie. Ein gewisses Maß an Management hat immer dazu gehört, ohne jedoch das Selbstbild der Professoren und der Institution Universität zu prägen. Das ist heute anders. Der Wandel des Selbstbildes bietet ein Kriterium (selbstverständlich nur eins unter mehreren), die heutige Universität von jenem Universitätsmodell, wie es sich im deutschsprachigen Bereich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte und bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten trotz aller Veränderungen überdauerte, zu unterscheiden. Seit einigen Jahrzehnten pflegt man es das Humboldtsche zu nennen – eine junge Bezeichnung, das 19. Jahrhundert kannte sie nicht und auch in der ersten Hälfte des zwanzigsten war sie nicht üblich.1 Man sprach vom deutschen Universitätsmodell und kontrastierte es mit dem französischen und dem englischen, nach 1900 zunehmend auch mit dem nordamerikanischen. Die Rektoratsreden, Jahr für Jahr rituell an den Universitäten im deutschen Sprachraum gehalten, auch in der Schweiz und in Österreich, bezeugen es. Sie waren der Ort, an dem sich immer aufs neue die Universität präsentierte und den Repräsentanten von Staat und 1 Sylvia Paletschek: Verbreitet sich ein ›Humboldt’sches Modell‹ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert? In: R. C. Christoph Schwinges (Hg), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, 75 – 104; dies.: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10, 2002, 183 – 205. Langewiesche: Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011) 15 – 37; ders.: Die ›Humboldtsche Universität‹ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universitäten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 290 (2010) 53 – 91.

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Dieter Langewiesche

Gesellschaft, die zugegen waren, vor Augen stellte, wie sie sich als Institution wahrnahm und von der Gesellschaft wahrgenommen werden wollte. Welche Bedeutung wurde dabei dem Wissenschaftsmanagement zugemessen? An welche Art von Management dachte man und wie änderte sich dies?

1.

Worüber man früher nicht sprach

Auf die Frage, was man über die Rolle des Wissenschaftsmanagers erfährt, wenn man die Reden der Rektoren liest, war ich zunächst versucht zu sagen: nichts. Jedenfalls nichts zum Wissenschaftsmanager, wie wir ihn heute vor Augen haben. Um ihn als wissenschaftspolitische Idealgestalt mit einigen Strichen aufzurufen, Traum aller Universitätsrektoren und Wissenschaftspolitiker : Kopf einer mittelständischen Forschungsmanufaktur, langfristig angelegt, aber mit Drittmittel-Zeitarbeitskräften auf Projektdauer, einflussreiches Mitglied zahlreicher Institutionen, die für die Steuerung des Wissenschaftssystems unentbehrlich sind. Nicht jeder übernimmt solche Aufgaben, doch alle sind darauf angewiesen, dass hinreichend viele Kollegen diese Rolle ausfüllen. Ohne den Wissenschaftler im Wissenschaftsmanagement wären die Universitäten dort, wo über Strukturen und Geld entschieden wird, nicht präsent. Und das wäre schlecht für sie. Darüber haben die Rektoren früher nie gesprochen, wenn sie Jahr für Jahr bei der Amtsübernahme das Selbstbild der deutschen Universität entworfen haben. Der Professor als Wissenschaftsmanager spielte darin keine Rolle. Obwohl jeder Kenner wusste, dass er auch das war, vor allem der erfolgreiche Wissenschaftler. Als Beispiel sei Paul Ehrlich genannt, 1908 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet.2 Er gehörte zu den Pionieren einer Wissenschaft als arbeitsteiligem Prozess in einem größerem Unternehmen, finanziert aus unterschiedlichen Quellen, Staat, Wirtschaft, private Mäzene, auch eigenes Geld des Wissenschaftlers, der auf dem Markt als Inhaber von Patenten erfolgreich war. Ehrlich wirkte als Ideengeber und als Manager. Das Forschungsprogramm, das er selber entwarf, wurde in einem komplexen Prozess umgesetzt, der ohne die zeitaufwendig von ihm gepflegten Netzwerke in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft nicht funktioniert hätte. Er zerlegte das Projekt in Forschungsschritte und delegierte sie, organisiert mithilfe von Auftragszetteln, die er seinen Mitarbeitern gab und in denen diese ihre Untersuchungsergebnisse festhielten. Auf dieser Grundlage hat Ehrlich dann seine Ideen weiterentwickelt, seine Aufsätze geschrieben, über praktische Umsetzungen nachgedacht bis hin 2 Das Folgenden nach Axel C. Hüntelmann: Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke. Wallstein 2011.

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Wissenschaftsmanagement

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zu Patenten. Seit er Erfolg hatte und die Projekte zahlreicher wurden, hat er kaum noch selber im Labor geforscht. Er legte das Forschungskonzept fest, beschaffte die Mittel und formulierte die Ergebnisse. Das erforderte eine enorme Beziehungsarbeit in der internationalen wissenschaftlichen community, der staatlichen Wissenschaftsverwaltung und der Industrie. Dafür war Ehrlich zuständig, ein rastloser Wissenschaftsmanager, der auf der Grundlage der Forschungen, die andere als Auftragsarbeit für ihn durchführten, seine wissenschaftlichen Studien schrieb, die ihn berühmt und recht wohlhabend machten. In den Rektoratsreden taucht diese Art von Wissenschaftsmanagement nicht auf. Das hat sich bis in unsere Gegenwart kaum geändert. Dennoch haben die Rektoren früher immer auch über Wissenschaftsmanagement gesprochen. Aber über einen Ausschnitt, den wir in aller Regel nicht meinen, wenn wir dieses Wort verwenden. Es vollzog sich also in den letzten zwei Jahrhunderten ein Vorstellungswandel von Wissenschaftsmanagement.

2.

Werben für die Forschungsuniversität als Bildungsinstitution: Kern des Wissenschaftsmanagements von Rektoren im deutschen Universitätsmodell

Unter universitärem Wissenschaftsmanagement fasse ich alles, was darauf zielt, die Universität so zu organisieren und in ihr gesellschaftliches Umfeld einzufügen, dass sie ihre Kernaufgaben, Lehre und Forschung, möglichst optimal erfüllen kann. Das erfordert zunächst einmal, für die Universität als Forschungsinstitution zu werben – gegenüber der Gesellschaft insgesamt und vor allem bei den Entscheidungsmächtigen. Für diese Aufgabe war die Rektoratsrede das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bis in die Zeit um 1970 die wichtigste Bühne. Um 1970 brach die Tradition der Rektoratsrede als öffentlicher Akt in Deutschland und Österreich ab, nicht in der Schweiz. Heute wird sie vielerorts wieder aufgenommen, ohne jedoch erneut zum zentralen Forum für die Selbstdarstellung der Universität zu werden. Vor allem für ihre Kommunikation mit den Entscheidungsmächtigen in Staat und Gesellschaft nutzt man heute andere Kanäle. Sie sind in einer Vielzahl von Wissenschaftsorganisationen weitaus stärker institutionalisiert als früher, etwa der Wissenschaftsrat, Beratungskommissionen von Ländern, Hochschulräte und vieles mehr. Einige konnte ich als Mitglied beobachten. Werben für die Institution Universität auf dem Forum Rektoratsrede setzt voraus, ein Auditorium vor sich zu haben, in dem sich auch Entscheidungsmächtige, lange ausschließlich Männer, versammeln. Das war früher stets der Fall: Mitglieder der Regierung, in der monarchischen Zeit meist auch jemand

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aus dem Fürstenhaus, hohe Mitglieder aus der staatlichen Bürokratie, den Kirchen, der Stadt, dem Militär, auch aus der Wirtschaft. Das ist auch heute wieder der Fall. Der Kontinuitätsriss um 1970 in der Tradition der Rektoratsrede hat hier dank der veränderten Wiederbelebung dieses Rituals nicht zu einem dauerhaften Kontinuitätsbruch geführt. Alle diese Kreise wurden 2009 auch zur öffentlichen Feier des Rektoratwechsels in Bonn begrüßt. Hinzu kamen Repräsentanten von Wissenschaftsorganisationen. Das ist relativ neu. Da die Bonner Reden im Internet zugänglich sind, sollen sie hier als Beispiel dienen.3 Werben für die Universität hieß 2009 in Bonn, die Institution Universität als einen Pfeiler der Wissensgesellschaft auszuweisen, unverzichtbar trotz aller Mängel im einzelnen. Der scheidende und der neue Rektor teilten sich diese Aufgabe. So war es auch früher gewesen. Der alte Rektor zog Bilanz, angefüllt mit Ausführungen zum Wissenschaftsmanagement. Das neue Hochschulfreiheitsgesetz von Nordrhein-Westfalen, zwei Jahre zuvor in Kraft getreten (heute schon wieder in Abwicklung), erzwang, so der Rektor, einen »Paradigmenwechsel«: »institutionelle Unabhängigkeit, Output-orientierte Lehr- und Forschungsprofile, institutionalisierter Wettbewerb, leistungsbezogene Ressourcenzuteilung«, »neue interne Hierarchisierung der Organe«, Notwendigkeit von »Qualitätsmanagement«, ein »12-Punkte-Programm« für die eigene Universität mit »fächerbezogener Qualitätsdiskussion und Zielformulierung«, und mit Blick auf die Exzellenzinitiative: ein Cluster und zwei Graduiertenschulen, aber, so der Rektor bedauernd, »die Verleihung des Labels Eliteuniversität« blieb »vorerst versagt«. Sein Nachfolger sprach 2011 von »einer immer noch nicht ganz erledigten Trauerarbeit«. Letzteres war auch in anderen, knapp an diesem Label gescheiterten Universitäten zu hören. Solche Worte wären früher dem Rektor einer deutschen Universität nicht über die Lippen gekommen. Und dennoch, der Rektor als Wissenschaftsmanager, wie er hier im alten Ritual des Rektoratswechsels vor die Öffentlichkeit tritt, wirbt auf diesem Forum heute wie damals um gesellschaftliche Akzeptanz für die Institution Universität, wie sie sich in ihren Besonderheiten und in ihren Aufgaben selber wahrnimmt und von der Gesellschaft anerkannt werden möchte. Nämlich als eine Bildungsinstitution. 2009 sprachen in Bonn der scheidende und der neue Rektor von einem Bildungsbegriff, der geklärt werden müsse. Ein »Bildungsdiskurs« sei nötig, um zu erkennen, »was wir unter Bildung verstehen«. Als Voraussetzung dafür, dass die Institution Universität ihre Aufgabe erfüllen könne. 3 http://www3.uni-bonn.de/einrichtungen/rektorat/reden-und-vortraege [21. 05. 2014]. Dort alle folgenden Zitate: Ansprache des scheidenden Rektors der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Matthias Winiger, 23. April 2009; Ansprache von Prof. Dr. Jürgen Fohrmann zum Antritt des Rektorenamtes am 23. April 2009; Eröffnung des Akademischen Jahres am 18. Oktober 2011. Ansprache des Rektors Prof. Dr. Jürgen Fohrmann.

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Der Rektor als Wissenschaftsmanager verlangt heute von der Gesellschaft, sie möge klären, welche Art von Bildung sie denn wünscht. Früher, also bis um 1970, hat er stets, Jahr für Jahr aufs neue, der gesellschaftlichen Elite, die ihm zuhörte, gesagt, welche Art von Bildung die Universität vermitteln will. Ein Bildungsbegriff, dem alle zustimmten. Nur in Umbruchphasen wurde Unsicherheit und Kritik deutlich.4 Ansonsten gilt: die gesellschaftliche Elite, die sich zum jährlichen Ritual des Rektoratwechsels versammelte, und die Institution Universität waren sich einig, im Studium geht es um wissenschaftliche Bildung. Wissenschaftliche Bildung an der Universität hieß für die Rektoren5 : Jeder Student soll die Fähigkeit erwerben, mit den Methoden seiner Fächer offene Probleme zu erkennen und nach geeigneten Lösungen zu suchen, also in der Lage sein, Wissensgrenzen auf methodisch sicherer Grundlage zu überschreiten. Diese Fähigkeit sollte jeder Student als Verhaltensform verinnerlichen, lebenslang, ganz gleich welchen Beruf man später ausüben wird. Die Studenten auf das vorzubereiten, was man noch nicht weiß, erfordere wissenschaftliche Bildung, und deshalb müsse jede Universität und jedes Fach in ihr Lehre und Forschung verbinden. Das ist die bildungstheoretische Begründung für den innersten Kern des deutschen Universitätsmodells, die Einheit von Lehre und Forschung. Die Rektoren wussten, man kann beides auch trennen. Deshalb verglichen sie das deutsche Universitätsmodell häufig mit England und mit Frankreich. Das deutsche Universitätsmodell ist im internationalen Vergleich überlegen. So lautete die Dauerbotschaft des Rektors als Wissenschaftsmanager. Es bedarf der Reform, darüber wurde oft gesprochen, aber in seiner Substanz müsse dieses deutsche Universitätsmodell mit seiner Einheit von Lehre und Forschung erhalten werden. Darin waren sich alle einig, die Rektoren aller Universitäten und ihr Auditorium der Entscheidungsmächtigen. Die Art der Rektoratsrede spiegelte diese gemeinsame Überzeugung wider. Sie war darauf angelegt, die Einheit von Forschung und Lehre zu demonstrieren und somit nachvollziehbar zu machen, was wissenschaftliche Bildung bedeute. Das Auditorium sollte anhand ausgewählter Probleme erfahren, wie in dem Fach, für das der Rektor kompetent war, geforscht wurde, welche Ergebnisse erzielt wurden, mit welchen Methoden, und worum es derzeit an vorderster Forschungsfront geht, welche offenen Fragen dort erkundet werden. Forschung als ein offener Prozess der ständigen Grenzüberschreitung bisherigen Wissens, darauf wollte das deutsche Universitätsmodell mit der Verbindung von Lehre 4 Dazu detailliert Barbara Wolbring: Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945 – 1949), Göttingen 2014. 5 Näher ausgeführt habe ich das in: Bildung in der Universität als Einüben einer Lebensform. Konzepte und Wirkungshoffnungen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Edwin Keiner et al. (Hg.): Metamorphosen der Bildung. Historie – Empirie – Theorie. Bad Heilbrunn: 2011, 181 – 190.

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und Forschung antworten. Wie das konkret geschieht, einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen, war die Kernaufgabe der Rektoratsrede. Sie hatte zu demonstrieren, was wissenschaftliche Bildung bedeute. Die Rektoratsrede als Bildungsrede. Weil sie vorführt, wie in dem jeweiligen Fach Wissensgrenzen verschoben werden. Wer dies methodisch geschult begriffen habe, der sei wissenschaftlich gebildet. Und eine solche wissenschaftlich gebildete Persönlichkeit werde diese Verhaltensweise gegenüber neuen Herausforderungen auch in allen anderen Lebensbereichen praktizieren. Aus dieser Überzeugung – Forschung, auch der Nachvollzug von Forschung bildet – hielten die Rektoren ihre Reden. Der Rektor sprach als Wissenschaftler und zugleich als Wissenschaftsmanager, der für die Institution Universität wirbt, für ihren Anspruch, an der Spitze aller Bildungsinstitutionen zu stehen. Aus diesem Selbstbild leitete sie ihren Anspruch in Staat und Gesellschaft ab. Ihn immer wieder öffentlich zu präsentieren, war die Aufgabe des Rektors im öffentlichen Akt der Universitätsfeier. Wissenschaftsmanagement als Dauerplädoyer für das deutsche Universitätsmodell. Selbstverständlich sprach der Rektor auch über die konkreten Erfolge seines Managements. Da ging es in erster Linie um neue Gebäude, neue Institute, neue Professuren, um Spenden, Kooperationen. Und es wurde angemahnt, was alles fehlt. Eine Mischung aus Erfolgen und Defiziten. Aber das stand nicht im Zentrum. Das jährliche Ritual der Universitätsfeier war in erster Linie der Ort, an dem der Rektor die Universität als Bildungsinstitution vorstellte, unverzichtbar, so verkündete er, für das jeweilige Land, das die Universität finanzierte, und für die gesamte Nation. Dass dieses Selbstbild in der Gesellschaft und von ihren Entscheidungsmächtigen akzeptiert wurde, darin wird der Erfolg dieser Art von Wissenschaftsmanagement sichtbar.

3.

Zum Wandel der öffentlichen Selbstpräsentation

Der Vergleich mit heutigen Formen von Wissenschaftsmanagement wird nun auf einen einzigen Punkt begrenzt, der auf die heutigen Probleme im Gespräch zwischen Universität und Gesellschaft zielt. Die Reden beteuern weiterhin die Einheit von Forschung und Lehre als Ideal, sie sprechen auch von Bildung im Sinne von Formung der Persönlichkeit, aber Forschung und Lehre laufen in der heutigen Selbstdarstellung auf unterschiedlichen Bahnen. Da steht dann in den Berichten der Universität der Abschnitt über die Bologna-Reformen neben dem über die eingeworbenen Forschungsmittel und über die Exzellenz-Initiative. Der Rektor als Wissenschaftsmanager kann beide Stränge nicht mehr aufeinander beziehen, weil – so meine Hypothese – die Gesellschaft sich nicht mehr sicher ist,

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was als Bildung verstanden werden soll und welche Rolle der Universität im Bildungssystem zukomme. Um diese Unsicherheit zu konkretisieren, folgen nun Beobachtungen, die ich in Tübingen gemacht habe.6 Zunächst sei nochmals erinnert: Es gehörte zum eisernen Kern des Rituals der Rektoratsübergabe, dass ein Repräsentant der Universität sprach, um zu zeigen, wie Wissenschaft mit offenen Fragen umgeht und warum diese Fähigkeit für die Gesellschaft unverzichtbar sei. Diese Tradition der Fachrede wird in den heutigen Universitätsfeiern durchaus fortgesetzt, aber in einem gänzlich veränderten gesellschaftlichen Umfeld erhält sie eine neue Funktion. Gesellschaft und Universität wechseln ihre Rollen, sie öffnen sich wechselseitig: beide reden nun am Dies Universitatis und beide hören zu. Die Gesellschaft tritt ans akademische Rednerpult und sie sitzt im Auditorium. Und ebenso die Universität. Dieser Rollentausch hätte dem Selbstbild der alten Universität als Bildungsinstitution, als die sie sich öffentlich präsentieren wollte, widersprochen. Die Universität sprach zur Gesellschaft, diese hörte in Gestalt ihrer Entscheidungsmächtigen zu, mitunter der Regierungschef persönlich. Aber er sprach nicht. Anders 1996 in Tübingen, als dort die Tradition der Rektoratsrede wieder aufgenommen wurde. Manches blieb bestehen: die Fachrede, mit der sich die Universität als eine Forschungsinstitution vorstellt (damals wurde ich gebeten, sie zu halten), die Vergabe der Promotionspreise, mit denen die Universität ihre Fähigkeit dokumentiert, die Studierenden an die Forschung heranzuführen. Gänzlich neu war : der Ministerpräsident des Landes sprach. Ein tiefer Bruch mit dem Selbstverständnis der alten Universität. Der Ministerpräsident übermittelte der Universität seine Erwartung an sie, auch unter den »Überlastbedingungen«, die weiterbestehen werden, »ihren Beitrag zur materiellen Zukunftssicherung und zum Selbstverständnis der Gesellschaft zu leisten«. Seit dieser Wiederaufnahme der Tradition, in der sich die Universität als Institution an die Öffentlichkeit wendet, sprachen in Tübingen immer wieder Repräsentanten der Gesellschaft oder des Staates. In den beiden Universitätsfeiern des Jahres 2010 sprach die Geschäftsführerin eines großen Wirtschaftsunternehmens über die Rolle der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft und der langjährige Intendant des ZDF, ein Tübinger Absolvent, stellte seine Festrede unter den Titel »Was uns zusammenhält. Überlegungen im 20. Jahr der Deutschen Einheit«. Die heutige Universität lässt sich sagen, was man »draußen« über sie und die Welt denkt. Den fachwissenschaftlichen Vortrag gibt es weiterhin, aber er wird an die Peripherie gerückt, wo die Fakultäten und einzelnen Institute am Festtag der 6 Vgl. genauer dazu (mit den folgenden Zitaten) Langewiesche: Die Universität als Bildungsinstitution, in: Festschrift für Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth aus Anlass der Verleihung des Erwin-Stein-Preises 2011. Berlin 2012, 29 – 41

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Universität Veranstaltungen anbieten. Auch dies ist ein Indiz für das veränderte Selbstbild der Universität. Sie tritt nicht mehr als Einheit auf. Das war für die alte Universität ein Muss. Weil sie sich als Bildungsinstitution sah. Jedes Fach, das Lehre und Forschung verbindet, bilde, aber nur als universitas aller Fächer könne die Universität den gesamten Kosmos wissenschaftlicher Bildung anbieten. In den heutigen Universitätsfeiern wird wissenschaftliche Bildung nicht mehr als die Kernkompetenz herausgestellt, aus der die Daseinsberechtigung der Universität bzw. des deutschen Universitätsmodells begründet wird. Genau darauf war das Wissenschaftsmanagement des Rektors bis um 1970 ausgerichtet. Ihm dafür eine öffentliche Bühne zu schaffen, diente das Ritual der Rektoratsübergabe und der Rektoratsrede.

4.

Egalität im Bildungsauftrag versus Hierarchisierung nach Forschungsleistung – Folgen für das Wissenschaftsmanagement

Das Selbstbild der alten Universität, um sie grob so zu benennen, ließ wissenschaftliche Bildung aus der Teilhabe an Forschung hervorgehen. Die Distanz der Realität zu diesem Ideal verschwiegen die Rektoren keineswegs. Aber als Leitbild hielten sie daran fest, Jahr für Jahr dieselbe Botschaft, und die Spitzen aus Staat und Gesellschaft, die zuhörten, teilten offensichtlich diese regulative Idee. Das gab der Lehre in der Forschungsuniversität einen hohen Stellenwert. Denn die Universität leitete ihren gesellschaftlichen Anspruch aus ihrem Bildungsauftrag ab. Und das Postulat der Einheit von Lehre und Forschung erlaubte es, beides aufeinander zu beziehen. Das Ansehen des Universitätsprofessors hing auch damals von seinem Forschungserfolg ab. Doch das universitäre Leitbild integrierte diesen Forschungserfolg in den Bildungsauftrag. Und dieser Bildungsauftrag ließ alle Universitäten als ebenbürtig erscheinen. Deshalb finden wir im 19. Jahrhundert und bis zum vorläufigen Ende der Tradition der Rektoratsrede um 1970 keine Rede, die eine Hierarchie zwischen den Universitäten des deutschen Modells auch nur andeutet. Als Bildungsinstitution sahen sich alle als gleichwertig an, als Forschungsstätte keineswegs. Auf die Gleichwertigkeit war das Wissenschaftsmanagement des Rektors ausgerichtet, im scharfen Kontrast zum heutigen. Um es zuzuspitzen: Das Wissenschaftsmanagement im deutschen Universitätsmodell, wie es im 19. Jahrhundert entstanden ist, zielte auf Egalität im Bildungsauftrag, das heutige betont den Rang in der Forschungsleistung. Es hierarchisiert also. Darin fassen wir den tiefen Umbruch der Institution Universität

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in unserer Gegenwart. Und deshalb muss Wissenschaftsmanagement heute ganz andere Felder umfassen und andere Prioritäten setzen als es früher der Fall gewesen ist. Der Blick zurück nennt also auch hier kein Rezept für Probleme der Gegenwart und welche Zukunftskonzepte angemessen sein könnten.

5.

Die Tradition der Rektoratsrede in der heutigen Komplexität des universitären Wissenschaftsmanagements

Der Quellentyp Rektoratsrede hat zu keiner Zeit alle Aspekte des Themenfeldes Wissenschaftsmanagement erfasst. Schon im 19. Jahrhundert bedeutete Wissenschaftsmanagement für Universitätsprofessoren, sich auch außerhalb der Universität zu engagieren. An Paul Ehrlich wurde das mit Blick auf die Naturwissenschaften angedeutet. Geisteswissenschaftler waren in anderer Form ebenfalls daran beteiligt. Es sei nur an die Akademien erinnert. Theodor Mommsen war im Zusammenspiel mit Friedrich Althoff ein Virtuose des damaligen Wissenschaftsmanagements. Ihr kürzlich edierter Briefwechsel lässt den Umfang dieser Aktivitäten deutlich werden.7 Da geht es um Reichsinstitute, um nationale und internationale Kooperationen, es geht ständig um die Finanzierung von Forschung, aber auch um bildungspolitische Fragen, z. B. die preußische Schulpolitik, oder um Berufungen und generell um akademische Personalpolitik, etwa durch systematische Förderung der eigenen Schüler oder um Gehaltsaufstockung durch die Akademie bei Berufungen an die Universität, die sonst nicht gelungen wären. Überall war Theodor Mommsen aktiv. Er war ein omnipräsenter Wissenschaftsmanager. Wie auch Adolf von Harnack.8 Diese Form von Wissenschaftsmanagement vollzog sich vornehmlich innerhalb akademischer Zirkel und im Zusammenspiel mit staatlichen Behörden und auch mit Repräsentanten der Wirtschaft, vor allem wenn um es Finanzierung ging. Im Vergleich zu heute fehlten im damaligen Wissenschaftsbetrieb die zahlreichen Förder-, Beratungs- und Steuerungsinstitutionen, die in der Bundesrepublik eine zentrale Rolle im Wissenschaftsmanagement spielen: DFG, Wissenschaftsrat, die großen Stiftungen und viele andere. Bedeutende Stiftungen gab es damals auch, etwa die Stiftung Ernst Abbes, an deren Tropf die 7 Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Briefwechsel 1882 – 1903. Hrsg. u. eingeleitet von Stefan Rebenich u. Gisela Franke (Deutsche Geschichtsquellen des 19. u. 20. Jahrhunderts, 67), München 2012. Vgl. Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin/ New York 1997. 8 Vgl. etwa Kurt Nowak (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001; Adolf von Harnack. Wissenschaftspolitische Reden und Aufsätze. Zusammengestellt und hrsg. von Bernhard Fabian, Hildesheim u. a. 2001.

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Universität Jena in erheblichem Maße hing.9 Wissenschaftsmanagement in Jena hieß Kooperation mit dieser Stiftung. Die Reden ihrer Rektoren berichteten ständig davon.10 Sie erwecken den Eindruck, dass die Universität der gestaltende Teil war. Heutige Stiftungen wie die von Bertelsmann haben eine andere Vorstellung ihrer Aufgabe. Sie verstehen sich als eigenständige Mitspieler in der Wissenschaftspolitik, haben ihre eigenen Konzepte von der Zukunftsgestalt der Universität, und sie zögern nicht, dafür in der Öffentlichkeit und gegenüber der Politik zu werben. Insofern sind sie mit ihren Konzepten Konkurrenten zu den Universitäten im Wissenschaftsmanagement. Das Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann Stiftung nennt als sein Ziel die »›entfesselte Hochschule‹: autonom, wissenschaftlich und profiliert, wettbewerbsfähig und wirtschaftlich, international und aufgeschlossen gegenüber neuen Medien.« Es nehme »das gesamte Wissenschaftssystem mit seinen gesellschaftlichen Zielsetzungen und Entwicklungen in den Blick«.11 Was sich heute verändert hat im Wissenschaftsmanagement, lässt sich für den Bereich, der in den Rektoratsreden sichtbar wird, vor allem im Verhältnis zur Öffentlichkeit erkennen. Bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts versammelte die Universität im Ritual der Rektoratsübergabe entscheidungsmächtige Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft, um ihnen zu sagen, was die Universität für die gesamte Gesellschaft und vor allem für ihre Zukunftsfähigkeit bedeutet. Die Universität präsentierte sich als der Gipfel in einer hierarchisch gestuften staatlichen Bildungslandschaft. Dass diese oberste Ebene der Bildungsstätten nur für eine Minderheit in der Gesellschaft erreichbar sei, galt als selbstverständlich. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt diese Vorstellung Risse, weil sich die gesellschaftlichen Ansprüche an die Universität in der Republik veränderten, aber die Universitäten verteidigten doch im wesentlichen ihren Willen zur Exklusivität, die sie mit dem Auftrag der Universität zur wissenschaftlichen Bildung begründeten. Sie sei an Voraussetzungen gebunden, die nur eine Minderheit mitbringe. Das wurde in den Erneuerungsdiskussionen nach 1945 erneut in Frage gestellt12 und heute ist die Haltung der Gesellschaft gänzlich anders. Die Universitäten müssen sie als staatlichen Auftrag umsetzen. 9 Vgl. Wolfgang Wimmer : Das Verhältnis von Carl-Zeiss-Stiftung und Zeisswerk zur Universität bis 1933, in: »Klassische Universität« und »akademische Provinz«. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hg. von Matthias Steinbach u. Stefan Gerber unter Mitarbeit von Günter Schmidt, Jena/Quedlinburg 2005, 59 – 76. 10 Zu diesen Reden, aber nicht mit Blick auf die Stiftung Langewiesche: Selbstbilder der deutschen Universität in Rektoratsreden. Jena – spätes 19. Jahrhundert bis 1948, in: Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort? Köln 2007, 219 – 243. 11 http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-E23330 A4 – 9FC8F396/bst/hs.xsl/ 1595.htm [04. 02. 2014]. 12 Vgl. dazu ausführlich Wolbring, Trümmerfeld.

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Wissenschaftsmanagement

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Die Beziehungen zwischen Universität und Öffentlichkeit haben sich radikal verändert. Die Rektoratsübergabe ist zu einem Forum unter sehr vielen Foren im Gespräch zwischen Universität und Öffentlichkeit geschrumpft. Heute sind es viele, die ein Urteil über die Universität beanspruchen; etwa die vielen Produzenten von Universitätsrankings, die Presse, die sie verbreitet und kommentiert, oder Fernseh-Talk-Shows, in denen ebenfalls über ein Wunschbild Universität verhandelt wird. Die Universitäten und ihre Institutionen, etwa die Hochschulrektorenkonferenz, sind nur noch ein Akteur unter vielen, und keineswegs stets der, welcher am besten öffentlich zu hören ist. Darin zeigt sich ein genereller Entwicklungstrend, der, wie die Wissenschaftsforschung gezeigt hat, seit langem im Gang ist: Was Wissenschaft sein soll, wird nicht mehr vorrangig oder gar ausschließlich in der Wissenschaft ausgehandelt. Es ist ein umfassender gesellschaftlicher Prozess. Die Universität ist darin ein Akteur unter vielen. Deshalb ist Wissenschaftsmanagement heute ein viel komplexeres Feld als jemals zuvor. Die Wiederbelebung der Tradition der Rektoratsrede könnte ein Weg sein, der Hochschule in diesem unübersichtlichen Feld Universität und Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, um ein eigenes Bild von sich selbst zu entwerfen und dafür zu werben. Dezentral. Jede Universität für sich, und doch in dieselbe Richtung zielend. Ein Rückblick in die Geschichte wäre für diese Form von Wissenschaftsmanagement hilfreich. Sichtbar würde auch, wie erfolgreich sie gewesen ist und vielleicht auch künftig sein könnte.

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Jürgen John

Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator Wir wissen: Vieles ist noch ungetan. Wir reichen willig Steine durch die Hände, und immer höher türmen sich die Wände um uns – wir aber wissen nicht den Plan, nach dem sich alles wohlgefügt verbände. Denn Dinge werden, die noch nie geschahn. Wir stehen mitten in der Zeiten Wende. Wir kennen nicht den Anfang, nicht das Ende Und spüren nur: wir schreiten unsre Bahn, damit sich Alles Schicksal einst vollende. Carl Theil 1.XI.24

Auf dem Jenaer Johannisfriedhof – dem alten historischen Friedhof der Universitäts- und Industriestadt1 – befindet sich das Grabmal des am 25. August 1945 verstorbenen Universitätskurators Carl Theil, seiner Ehefrau Elisabeth (gest. am 7. Februar 1946) und ihrer mit jeweils 22 Jahren am 12. Mai 1940 bei Dinant, am 2. September 1942 bei Netertowka und am 6. März 1945 bei Breitscheid gefallenen Söhne Carl, Peter und Thomas. Am 27. März 1945 starb zudem Theils Schwiegermutter Helfrid Eigenbrodt, am 10. November 1946 seine Mutter Natalie Bodenburg. Sieben Todesfälle in kurzer Zeit, drei im Krieg gefallene Söhne – das ist zutiefst bewegend und verweist auf ein Schicksal von großer Tragik. Es löst viele Fragen nach der Persönlichkeit und dem Lebensweg Carl Theils aus, der im öffentlichen Gedächtnis Jenas kaum eine Rolle spielt, dessen Wirken aber in geradezu paradigmatischer Weise mit der deutschen Geschichte und Bildungsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden war. Das verdeutlichen zwei Exil-Nachfragen nach Theils Schicksal aus den Jahren 1945 und 1946 – jenen auf dem Grabstein genannten Todesjahren, die zugleich für eine Zeitenwende nach der nationalsozialistisch verursachten Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkrieges stehen. Am 9. Oktober 1945 erkun1 Ilse Traeger : Der Johannisfriedhof in Jena. Grabmäler erzählen aus Jenas reicher Vergangenheit. 2(Jena) 1991 (aber ohne Angaben zu Theils Grabmal und Biographie); der in kirchlicher Trägerschaft befindliche Friedhof wurde noch bis in die 1950er Jahre für Bestattungen genutzt und 1971 geschlossen; der Vf. dankt Herrn Pfarrer i.R. Eckhard Schack und Herrn Peter Große (beide Jena) für diese Informationen und weitere Unterstützung.

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Jürgen John

digte sich der 1938 nach Palästina emigrierte jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878 – 1965) aus Jerusalem bei dem Schweizer Psychotherapeuten Hans Trüb (1889 – 1949), ob sich denn nicht etwas über Carl Theil in Erfahrung bringen lasse, von dem er nur gehört habe, er wirke als Lehrer in Salem.2 Die zweite Anfrage kam von dem 1933 in die Türkei emigrierten jüdischen Psychologieprofessor und Sozialdemokraten Wilhelm Peters (1880 – 1963). Er schrieb am 10. April 1946 aus Istanbul an Hermann Brill (SPD) in Wiesbaden und fragte nach früheren Genossen und Freunden aus der Amtszeit des sozialdemokratischen Thüringer Volksbildungsministers Max Greil (1877 – 1939): »Ist Greil noch am Leben, und wie ist es ihm ergangen? Wissen Sie etwas von den Siemsens, Schwester und Bruder? Und von Schaxel? Was macht Theil?«3 Das waren offenkundig die für ihn wichtigsten Personen aus der Amtszeit Greils (1921/24), der damals tief greifende Schul- und Hochschulreformen begonnen und Peters 1923 gegen den Widerstand des Universitätsestablishments an die Jenaer Universität berufen hatte.4 Sein Brief-Adressat Hermann Brill (1895 – 1959) war unter Greil im Volksbildungsministerium tätig gewesen und von der anschließenden »Thüringer Ordnungsbund«-Regierung 1924 aus dem Staatsdienst entlassen worden. Wie Peters erhielt Brill 1933 Berufsverbot, saß jahrelang im KZ Buchenwald, amtierte in der amerikanischen Besatzungszeit als Thüringer Regierungspräsident und war seit Juli 1946 Chef der hessischen Staatskanzlei.5 Zum Zeitpunkt des an ihn gerichteten Peters-Briefes lebten von den Erfragten nur noch die in die Schweiz emigrierten Geschwister Anna (1882 – 1951) und August Siemsen (1884 – 1958). Der nationalsozialistisch verfemte Max Greil war 1939 verstorben, der in die Sowjetunion emigrierte Zoologe, Sozialist und Urania-Begründer Julius Schaxel 1943, der 1933 mit Berufsverbot belegte Carl Theil 1945. Brill antwortete denn auch, Theil habe sein Kuratoramt 1945 nicht ausüben können, weil er wegen der vielen Todesfälle ein »seelisch und 2 Martin Buber : Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hg. v. Grete Schaeder, Bd. III: 1938 – 1965. Heidelberg 1975, S. 92 – 95, hier S. S. 94; Theil stand mit Buber und mit Trüb in freundschaftlicher Beziehung und im Briefwechsel – vgl. Anm. 38 sowie UBFA, Na 65, 3 (NL Hans Trüb), in dem allerdings nur 4 Briefe Theils an Trüb aus dem Jahr 1928 erhalten sind. 3 BArchK, N 1086 (NL Hermann Brill), Nr. 57a. 4 Georg Eckardt: Der schwere Weg der Institutionalisierung – Wilhelm Peters, in: Ders. (Hg.): Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis 20. Jahrhundert. Frankfurt/M u. a. 2003, S. 303 – 335; zum Kontext der »Ära Greil« und ihrer Schul- und Hochschulreformen vgl. Paul Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform in Thüringen. Jena 1965: Jürgen John / Rüdiger Stutz: Die Jenaer Universität 1918 – 1945, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850 – 1995. Köln / Weimar / Wien 2009, S. 270 – 587, hier S. 316 – 364; dort auch Angaben und Titel zu den im Folgenden genannten, nicht gesondert belegten Personen. 5 Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895 – 1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht. Bonn 1992; Renate Knigge-Tesche / Peter Reif-Spirek (Hg.): Hermann Louis Brill 1895 – 1959. Widerstandskämpfer und unbeugsamer Demokrat, Wiesbaden 2011.

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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Abb. 1: Carl Theil 1937 mit seiner Frau Elisabeth. Familienbesitz (Marietta Horn, Augsburg)

körperlich gebrochener Mann« gewesen sei: »Er war nur von den Schatten der Toten umgeben und ist kurz nach seiner Ernennung zum Kurator gestorben.«6 Freilich erwies sich Brill als nicht besonders gut informiert. Er meinte irrtümlich, auch Theils Töchter und Schwiegersöhne seien tot. Und von einem »seelisch gebrochenen« und deshalb amtsunfähigen Theil konnte im Sommer 1945 keine Rede sein. Im Gegenteil. Theil drängte die Landesverwaltung zum Handeln, damit an der Jenaer Universität endlich ein neuer Geist einziehe.7 Dabei erinnerte er mahnend an die universitäre Abwehrhaltung gegen Greils Reformen, an denen er einst selbst aktiv beteiligt war.

6 BArchK, N 1086, Nr. 57a (Brill an Peters 15. 9. 1947). 7 ThHStAW, ThVbM, Abt. C, Nr. 128, Bl. 54r+v (Theil am 19. 7. 1945 an Landesdirektor Walter Wolf).

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1.

Jürgen John

Familie und Studium

Carl August Theil wurde am 17. Dezember 1886 als Sohn des königlich-preußischen Musikdirektors Carl Christian Hugo Theil (1853 – 1909) und dessen Ehefrau Natalie, geb. Neumann (1866 – 1946) in Danzig geboren.8 Eine jüngere Schwester starb schon mit 20 Jahren. Seine Eltern hatten 1884 in Danzig geheiratet. Die Mutter stammte aus Eisenberg/Ostpreußen, der Vater aus Seehausen/Altmark. Nach dem Studium an der Musikhochschule Berlin war Theils Vater seit 1877 in Danzig als Leiter der Kapelle des dortigen Grenadierregimentes tätig, seit 1904 als Musikdirektor. Mit seinen »populären Sinfoniekonzerten« erlangte der Militärmusiker große Beliebtheit.9 Ein schweres Augenleiden trieb ihn 1909 in den Freitod. Er war – schrieb die »Danziger Zeitung« am 30. August 1909 zu seinem öffentlichen Begräbnis – »der allgemeine Liebling des Danziger musikliebenden Publikums« und – so die für ihn damals angebrachte Gedenktafel – ein hochverdienter »Volksbildner im Reich der Töne« und eine »allzeit treue und feste Stütze der Danziger Musikpflege.« Vom Elternhaus bildungsbürgerlich geprägt, erbte Carl Theil von seinem Vater das musikalische Talent – er komponierte und war ein sehr guter Klavierspieler –, die poetische Begabung – er schrieb vorzügliche Gedichte – und – anfangs zumindest – auch eine gewisse Neigung zum Militärischen. Nach dem Besuch des Städtischen Gymnasiums Danzig (1895/1904) und dem Erwerb des Reifezeugnisses studierte er – unterbrochen durch Arbeit auf der Danziger Werft und Militärdienst – 1904/06 Schiffbau an der Technischen Hochschule Danzig und dann bis 1912 an den Universitäten Berlin, München und Jena klassische Altertumswissenschaft, Geschichte, Philosophie und Pädagogik.10 Nach eigenen Angaben bestimmten ihn die Erlebnisse und Eindrücke einer längeren Auslandsreise nach Dänemark, Holland, Island, Spanien, Ägypten, Italien und Griechenland, sich dem Studium des klassischen Altertums zuzuwenden.11 Im Anschluss an das Studium promovierte er 1912/13 in Jena bei dem Altertumswissenschaftler Heinrich Walther Judeich (1859 – 1942) über »Die Solonische 8 Ein Nachlass Theils ist nicht überliefert; biographische und familiäre Angaben entstammen, soweit nicht gesondert belegt, den Hinweisen aus der Familie – v. a. von Frau Marietta Horn (Augsburg) und Herrn Stefan Theil (Berlin), denen der Vf. zu besonderem Dank verpflichtet ist –, den Personenstandsakten im StAJ, den Personalakten Theils im ThHStAW und UAJ sowie den von Theil verfassten Lebensläufen (ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 5; MBA, Mappe 809: 52). 9 Peter Oliver Loew: Lexikon Danziger Komponisten (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert). Ein Beitrag zur lokalen Musikkultur, in: Danuta Popinigis / Klaus-Peter Koch (Hg.): Musikalische Beziehungen zwischen Mitteldeutschland und Danzig im 18. Jahrhundert. Sinzig 2002, S. 227 – 312, hier S. 301 f. (Carl Theil). 10 UAJ, Best. BA, Nr. 884 (Immatrikulationsakten), Eintrag Nr. 250 (Carl Theil 1909/12). 11 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 5.

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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Münzreform« zum Dr. phil., legte hier am 15. Dezember 1913 die Promotionsprüfung ab und nach dem Kriege am 13. Mai 1919 das Staatsexamen für den Gymnasiallehrerberuf mit der Lehrbefähigung für Latein, Griechisch, Geschichte und Philosophische Propädeutik.12 Den Militärdienst absolvierte Theil bei der Marine. Das scheint ihn habituell stark beeinflusst zu haben. Noch in seiner Salemer Zeit fiel den Schülern Theils »oft nautische, seemännische Terminologie« auf.13 Nach Abschluss des Studiums heiratete er am 24. Oktober 1912 Elisabeth Eigenbrodt – die Adoptivtochter des Schwedischlektors Wolrad Eigenbrodt (1860 – 1921)14 und seiner aus Schweden stammenden Ehefrau Helfrid, geb. Freiin Rappe (1856 – 1945). Das seit 1887 verheiratete, seit 1895 in Jena ansässige Ehepaar Eigenbrodt war kinderlos geblieben und adoptierte deshalb die am 24. Mai 1892 als 10. Kind des Ehepaars Wolfgang Adam und Margareta Bräutigam in Obernsees/Oberfranken geborene Elisabeth. Ihre Jenaer Trauung mit Carl Theil fand im kleinsten Kreis statt. Es waren nur Elisabeths Adoptiveltern und Theils unterdes von Danzig nach Jena umgezogene Mutter Natalie anwesend,15 die noch vor ihrem Sohn am 20. April 1912 in Jena eine zweite Ehe mit dem Danziger Kaufmann und Hotelbesitzer Wilhelm Bodenburg eingegangen war und fortan wechselnd in Jena, Danzig und Berlin lebte.16 Die Ehe von Carl und Elisabeth Theil – zwei geistesverwandten und pädagogisch hoch begabten Persönlichkeiten – muss von Anfang an sehr glücklich gewesen sein. Carl Theil – schrieb sein Schwiegervater Wolrad Eigenbrodt an das Ehepaar Bräutigam in Obernsees – »ist ein tüchtiger braver Mann und liebt Liesel sehr.«17 Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor – zunächst die in Heidelberg und Danzig geborenen Töchter Eveline Elisabeth (1913 – 1965) und Helfrid (1915 – 1966), dann die 12 UAJ, Best. M, Nr. 550 (Promotionsakten der Philosophischen Fakultät WS 1913/14), Bl. 240 – 249; ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 2, 3 (Abschrift des Prüfungs-Zeugnisses). 13 Erinnerungen an Dr. Carl Theil von Dr. Martin Fark (geb. 24. 5. 1931), Mai 2013; mit Zustimmung des Autors von Herrn Martin Kölling (Schule Schloss Salem) dem Vf. übergeben. 14 Der Philologe Eigenbrodt führte seit 1913 für die Jenaer Universität schwedische Sprachkurse durch und errichtete so das erste schwedische Lektorat in Deutschland; er schrieb und veröffentlichte auch zahlreiche Kinderlieder, die er zunächst für seine Adoptivtochter Elisabeth und ihre Kinder schrieb – vgl. Rosemarie Schmidt / Günter Schmidt: »Svenskhet« und Germanentum. Wolrad Eigenbrodt und die Entwicklung der Jenaer Nordistik, in: Matthias Steinbach/ Stefan Gerber (Hg.): »Klassische Universität« und »akademische Provinz«. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jena / Quedlinburg 2005, S. 337 – 356, hier S. 338 – 340. 15 Brief Helfried Eigenbrodts an das Ehepaar Bräutigam v. 10. 11. 1913 (im Besitz von Frau Marietta Horn/Augsburg). 16 Angaben nach dem im StAJ aufbewahrten Personenstandsakten und Adressbüchern; der Vf. dankt der Leiterin des Jenaer Stadtarchivs, Frau Constanze Mann, für diese und weitere Auskünfte zur Familie Theil. 17 Nachtrag zu dem Brief v. 10. 11. 1913 (wie Anm. 15).

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Söhne Carl (geb. 14. 12. 1917 in Berlin), Peter (geb. 9. 9. 1920 in Hellerau) und Thomas (geb. 2. 10. 1923 in Jena).

2.

Odenwaldschule 1912/14

Von 1. Mai 1912 bis Kriegsbeginn 1914 war Carl Theil an der Odenwaldschule in Ober-Hambach bei Heppenheim als Lehrer tätig. Neben seiner Lehrertätigkeit betreute er dort zusammen mit seiner Frau sieben Kinder in einer Wohngemeinschaft.18 Für Theil dürften die beiden Jahre an der 1910 von dem Reformpädagogen Paul Geheeb (1870 – 1961) nach den Prinzipien der Landerziehungsheim-Bewegung gegründeten Odenwaldschule19 zutiefst prägend gewesen sein. Damit kam Theil mitten ins Zentrum des damaligen »Aufbruchs der Pädagogik«.20 Hier herrschte ein neuer, ein liberaler, freier, experimentierfreudiger, dem Kinde zugewandter Geist, der sich zugleich den Prinzipien einer gesunden, naturnahen, jugend- und reformbewegten Lebensweise verpflichtet fühlte.21 Der 16 Jahre ältere, charismatische Geheeb hat zweifellos großen Eindruck auf den 1912 gerade erst 25jährigen angehenden Lehrer Theil gemacht. Er habe – schrieb Theil im März 1912 an Geheeb – nach einiger Zeit »ernsthafter Selbstprüfung« seine Befangenheit gegenüber der »Weite der neuen Aufgabe« überwunden, werde den Ruf an die Odenwaldschule annehmen, freue sich auf ein »auf die Tat gestelltes Leben« und grüße Geheeb »als den Meister am Werke mit treuem Gesellengruß«.22 In späteren Briefen betonte er mehrfach, er habe das Lehreramt an der Odenwaldschule mit großem Vertrauen, mit »Jugendmut, Kraft und ganzem Herzen« übernommen23 und verdanke Geheeb »das Glück (und die Not)«, die für ihn »wesentlichsten Dinge des Lebens« in jener Zeit vor dem Kriege kennengelernt zu haben, »als vieles noch im Werden und in der 18 Ebenda.. 19 Martin Näf: Paul Geheeb. Seine Entwicklung bis zur Gründung der Odenwaldschule. Weinheim 1998; ders.: Paul und Edith Geheeb-Cassirer. Gründer der Odenwaldschule und der Ecole d’Humanit¦. Deutsche, Schweizerische und Internationale Reformpädagogik 1910 – 1961. Weinheim / Basel 2006. 20 Friedrich Koch: Der Aufbruch der Pädagogik. Welten im Kopf. Hamburg 2000, S. 92 – 118 (Paul Geheeb und die Odenwaldschule). 21 Auf die missdeutenden Stimmen über einen angeblich von Anfang an verhängnisvollen »Geist der Odenwaldschule«, die geradezu reflexartig die nötige kritische Debatte seit 2010 über pädophilen Kindesmissbrauch in Internatsschulen begleitet haben, kann hier nur hingewiesen werden; als Beispiele sei neben zahlreichen Presseartikeln verwiesen auf Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim / Basel 2011; Christian Füller: Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln 2011. 22 PGA, Briefwechsel Theil-Geheeb 1912 – 1922, Schreiben Theils an Geheeb v. 25. 3. 1912. 23 Ebenda, Schreiben Theils an Geheeb v. 24. 7. 1916.

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ersten großen Blüte stand«.24 Theil wahrte in seinen Briefen an Geheeb einen auch in der Anrede stets respektvollen Ton. Die Protokolle der Schulgemeinde zeigen einen noch recht zurückhaltenden Junglehrer, der sich vor allem dann zu Wort meldete, wenn es um den Geist und das richtige Verständnis der Schule, um gesunde Lebensweise und um den Kampf gegen »Nachlässigkeit« und »Bummligkeit« ging.25 Das Verhältnis zwischen Geheeb und Theil blieb nicht ungetrübt, was angesichts der Schwierigkeiten Geheebs mit anderen selbstbewusst pädagogischen – in seinen Worten: »heterogensten«26 – Persönlichkeiten kaum verwundert. Da Theil gleich bei Kriegsbeginn 1914 zum Militär eingezogen wurde, entfremdete er sich in dieser »langen Zeit pädagogischer Entwöhnung«27 seinem Mentor Geheeb, der ihn 1916 aufforderte, aus seiner Anstalt auszuscheiden, weil er den Lehrkörper umbilden müsse.28 Das war sicher nicht der eigentliche Grund, der wohl in der angedeuteten Entfremdung zu suchen ist. Für Theil bedeutete der Weltkrieg – diese »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) – in jeder Hinsicht eine tiefe Zäsur. Er zwang ihn wie viele andere, »mehr als eine Brücke zu dem Leben ›hinter uns‹ abzubrechen.«29 Bis Kriegsende war Theil als Marineoffizier vor allem auf Minenräumbooten im Schwarzen Meer eingesetzt. Er kehrte als überzeugter Pazifist aus dem Kriegsdienst zurück. Fortan gehörte Theil zu denen, die konsequent dem Prinzip »Nie wieder Krieg« folgten und jenen entgegentraten, die in den Kategorien eines künftigen, weitaus radikaler zu führenden Revisions- und Neuordnungskrieges dachten. Seine politische Heimat fand er bei der Sozialdemokratie, die nach dem Irrweg der Unterstützung des Krieges nun zur Gründer- und Trägerpartei der Weimarer Demokratie geworden war und zudem der Schul- und Bildungsreformbewegung politischen Rückhalt gab. Formell trat Theil 1924 der SPD bei. Volkshochschule Thüringen und Heppenheimer Tagung 1919 Zwar fühlte sich Theil nach 1918 seinem pädagogischen Mentor Geheeb weiter verbunden. Eine Rückkehr an die Odenwaldschule kam aber nicht in Frage. Er musste sich nach einer neuen Tätigkeit umsehen. Diese fand er zunächst in Jena, wo seine nun schon fünfköpfige Familie bei den Schwiegereltern Eigenbrodt wohnte. Hier boten ihm die Anfang 1919 gegründete Volkhochschule und der 24 Ebenda, Schreiben Theils an Geheeb v. 2. 2. 1919. 25 AdOSO, Best. Schulgemeinde-Protokolle, 1912 – 1914; der Vf. dankt Herrn Dr. Alexander Priebe (Ober-Hambach) für die freundlicherweise zur Verfügung gestellten Kopien. 26 PGA, Briefwechsel Theil-Geheeb, Schreiben Geheebs an Theil v. 27. 3. 1916. 27 Ebenda, Schreiben Theils an Geheeb v. 30. 9. 1916. 28 Ebenda, Schreiben Geheebs an Theil v. 27. 3. 1916. 29 PGA, Briefwechsel Theil-Geheeb, Schreiben Theils an Geheeb v. 2. 3. 1919.

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Dachverein »Volkshochschule Thüringen«, zu deren Gründerkreisen u. a. Wilhelm Rein, Heinrich Weinel, Herman Nohl, Eugen Diederichs, Reinhard Buchwald und Wilhelm Flitner gehörten, ein neues, intellektuell höchst anregendes Betätigungsfeld. Sie verkörperten in besonders markanter Weise jene »neue Richtung« der Volks- und Erwachsenenbildung, die ihr Bildungsziel nicht in formaler Bildung, sondern in der Ausbildung von Fähigkeiten sah, die auf die intensive, nichthierarchische Arbeitsgemeinschaft von Dozenten und Hörern setzte, sich an alle Volksschichten wandte30 und sich – anders als das eher nüchtern und streng wissenschaftlich ausgerichtete Berliner Volkshochschulsystem – als eine »Jugendbewegung der Erwachsenen« (Reinhard Buchwald) verstand.31 Die Volkshochschule Thüringen griff so Kerngedanken der Lebensreform, der Reformpädagogik und der Jugendbewegung auf, was Theils Ansichten und seiner bisherigen Tätigkeit nahe kam. Theil war vom 1. April 1919 bis 31. März 1920 an der Volkshochschule Jena tätig. Er führte hier gut besuchte Kurse zur Deutschen Sprachlehre durch.32 Auf der ersten Arbeitstagung Thüringer Volkshochschulen vom 26. bis 28. September 1919 im Jenaer Volkshaus referierte er über »Die deutsche Sprache in der Volkshochschule«.33 Als Vertreter der Volkshochschule Thüringen nahm Theil Pfingsten (11. bis 14. Juni) 1919 an der Heppenheimer Tagung des »Arbeitskreises für Erneuerung von Erziehung und Unterricht« teil.34 Diese maßgeblich 30 Programmatisch für das nach innen wie außen integrierend und versöhnend gemeinte – im Gegensatz zum ausgrenzend-völkische Denken stehende – »Reichs«- und »Bildungseinheit«– »Volks«- und »Volksgemeinschafts«-Denken der frühen Weimarer Jahre: Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk. Berlin (1919); Carl Heinrich Becker : Kulturpolitische Aufgaben des Reiches. Leipzig 1919; Konrad Haenisch: Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der deutschen Republik. Stuttgart / Leipzig 1921; Wilhelm Paulsen: Die Schule der Volks- und Kulturgemeinschaft, in: Heinrich Deiters (Hg.): Die Schule der Gemeinschaft. Leipzig (1925) – vgl. auch Jürgen John: »Bildungseinheit« und »Bildungsföderalismus« – Von Weimar bis Berlin, in: Peter Fauser / Wolfgang Beutel / Jürgen John (Hg.): Pädagogische Reform. Anspruch – Geschichte – Aktualität. Seelze 2013, S. 112 – 148; Michael Wildt: Die Ungleichheit des Volkes. »Volksgemeinschaft« in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt/M 2009, S. 24 – 40. 31 Edith Glaser : Was ist das Neue an der »Neuen Richtung«?, in: 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule Jena. Rudolstadt / Jena 1994, S. 117 – 136; Bettina Irina Reimers: Die neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919 – 1933. Essen 2003. 32 ThHStAW, VHS, Nr. 208, Bl. 270, 275, 303, 321 – 323. 33 ThHStAW, VHS, Nr. 245, Bl. 169 – 271, hier Bl. 203, 204. 34 AdOSO, Best. Otto Erdmann, Protokoll der Heppenheimer Tagung und Referate; Hinweise auf die Tagung und Theils Teilnahme geben u. a. Näf: Paul und Edith Geheeb-Cassirer, S. 310, der ihn als Vertreter des nicht anwesenden Geheebs ansah sowie Martha Friedenthal-Haase: Martin Buber im andragogischen Gespräch: Jena 1924, in: Dies / Ralf Koerrenz (Hg.): Martin Buber : Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus. Paderborn u. a. 2005, S. 19 – 54, hier S. 27 f.

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von Martin Buber inspirierte und für den neuen »pädagogischen Aufbruch« nach der Weltkriegskatastrophe programmatische Tagung suchte nach Auswegen aus der »Kulturkrise des Abendlandes« durch volksnahe Bildung und Kultur. Sie befasste sich dabei auch mit der Volkshochschulbewegung. In seinem entsprechenden Grundsatzreferat sprach sich Buber entschieden für die intensivgestaltende »neue Richtung« der Volks- und Erwachsenenbildung aus und gegen eine extensive, aus seiner Sicht nur Kenntnisse verbreitende und deshalb verflachende Volksbildungsarbeit: »Ausdehnung ist Verflachung«. Das laufe auf bloße »university extension«, auf »volkstümliche Hochschulkurse« hinaus. Als Beispiel nannte Buber die weithin bekannten Jenaer Hochschulkurse Wilhelm Reins, von denen er irrtümlich annahm, dass sie auch die Tätigkeit der neuen Jenaer Volkshochschule prägten: »Bei über 2000 Hörern, wie sie die Volkshochschule in Jena hat, ist eine intensive Arbeit unmöglich.«35 Dem widersprach Carl Theil energisch. Die Jenaer Volkshochschule beschreite ganz entschieden den intensiv-gestaltenden Weg: »Für uns handelt es sich nicht um die Arbeit am Logos, sondern am BIOS. Wir glieder[te]n unsere Arbeit in Arbeitsgemeinschaften von 20 – 30 Menschen und arbeit[et]en in sokratischer Methode. Der Kern der Arbeit in Jena liegt darin, den materialistischen Gedanken zu bekämpfen« – gerade weil in Jena viele Hörer auch aus Arbeiterkreisen kämen.36 Gegen den Einwand eines Teilnehmers, man müsse sich ausschließlich an die Jugend wenden, plädierte Theil für das Prinzip »lebenslangen Lernens«; denn »Jugend« sei im Bildungssinne ein relativer Begriff.37 Die Kontroverse mit Buber auf der Heppenheimer Tagung beruhte auf einem Missverständnis. Tatsächlich zeigte sich schon während der Tagung, dass der 32jährige Vertreter der Volkshochschule Thüringen und der acht Jahre ältere Heppenheimer Religionsphilosoph sehr ähnliche Ansichten hatten und beide entschiedene Vertreter der »neuen Richtung« in der Erwachsenenbildung waren. Diese Begegnung stellte den Auftakt einer Freundschaft dar, die ihren Niederschlag in wechselseitigen Besuchen und einem regen Briefwechsel 1924 bis zu Bubers Emigration 1938 fand, der mit dem förmlichen »Sie« begann und schon bald zum herzlichen »Du« überging.38 Für die Festschrift zu Bubers 50. Geburtstag 1928 lieferte Theil eine Übersetzung der Schrift Nikolaus Cusanus’

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Protokoll (wie Anm. 34), Bl. 17 – 26, Zitate Bl. 19, 20. Ebenda, Bl. 20. Ebenda, Bl. 148. Theils Scheiben Theils an Buber (zahlreiche Briefe – auch in Latein –, Karten, Gedichte – darunter das eingangs zitierte – und andere Materialien) sind überliefert in: MBA, Sigla ms. Ac. Var. 350, Mappe 809; Bubers Briefe an Theil sind verschollen; die Edition des Briefwechsels Bubers (wie Anm. 2, Bd. 2: 1918 – 1938, 1973) enthält keine Korrespondenz mit Theil.

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»Von Gott dem Verborgenen«.39 Das war ein für das Denken Theils aufschlussreicher Beitrag. Denn die Schriften des Theologen und Philosophen Cusanus (vor allem seine Schrift »De pace fidei« 1453) stellten mit ihrem Plädoyer für religiöse und geistige Toleranz wichtige Referenzschriften für ein Philosophieren im Sinne der neuen Demokratie dar.

3.

Neue Schule Hellerau 1920/22

Als studierter Altphilologe bemühte sich Theil, auch das Gedankengut Platons für ihm wichtige geistige und pädagogische Zwecke zu nutzen, um den Gedanken der »platonischen Gemeinschaft des Lebens und Wirkens […] in die Wirklichkeit unserer Zeit« umzusetzen.40 Die Volkshochschule Thüringen bot ihm dafür nur begrenzte Möglichkeiten. Umso freudiger nutzte er deshalb 1920 die Möglichkeit, in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden41 eine Schule nach den Prinzipien der Landerziehungsheim- und Arbeitsschul-Bewegung aufzubauen. Die 1908 von namhaften Protagonisten der Gartenstadt- und Werkbund-Bewegung gegründete Werkstätten-Siedlung Hellerau schien dafür günstige Bedingungen zu bieten. Hier zeichneten sich schon vor 1914, erst recht nach 1918 Konturen einer besonderen »pädagogischen Provinz« ab,42 die sich freilich – wie viele damalige Reformbewegungen43 – weltanschaulich und politisch polarisierte. In Hellerau standen sich die Verfechter einer völkisch-nationalistischen »Blut-und-Boden«-Bildung und einer weltoffenen »pädagogischen Provinz« auf engstem Raum gegenüber.44 Zu letzterer gehörten die 1910 geschaffene, später 39 Carl Theil: Nicolaus Cusanus: De Deo abscondito. Von Gott dem Verborgenen, in: Aus unbekannten Schriften. Festgabe für Martin Buber zum 50. Geburtstag. Berlin 1928, S. 75 – 84; ein weiterer Jenaer Beitrag zu dieser Festschrift[Aus Georg Simmels nachgelassener Mappe »Metaphysik«, S. 221 – 226] stammte von Gertrud Simmel (1864 – 1938), Malerin, Schriftstellerin (Pseudonym: Maria Luise Enckendorff) und Witwe des Soziologen Georg Simmel, die 1920/29 bei ihrem Sohn, dem Mediziner Hans Simmel, in Jena lebte, mit dem auch die Theils verkehrten; als Schüler Georg Simmels blieb Buber ihr eng verbunden; bei seinem Jena-Aufenthalt 1924 wohnte er bei ihr. 40 PGA, Briefwechsel Theil-Geheeb, Schreiben Theils an Geheeb v. 2. 3. 1919. 41 Thomas Nitschke: Geschichte der Gartenstadt Hellerau. Dresden 2009. 42 Ders.: Die Gartenstadt Hellerau als pädagogische Provinz. Dresden 2003; der Begriff wurde bereits zeitgenössisch verwendet (Anm. 54) und später aufgegriffen – so bei Peter de Mendelssohn: Marianne. Der Roman eines Films und der Film eines Romans. München (1955) , S. 54 – 57; ders.: Hellerau. Mein unverlierbares Europa. Dresden 1993, S. 14 f. 43 Dietmar Kerbs/ Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933. Wuppertal 1998. 44 Justus H. Ulbricht: Keimzellen »deutscher Wiedergeburt« – die Völkischen in Hellerau und Dresden, in: Dresdner Hefte 15 (1997), Hf. 3 (Hf. 51 Gesamtzählung), S. 80 – 86; Thomas Nitschke.: Die Gartenstadt Hellerau: weltoffene »pädagogische Provinz« und Gründungsort für völkisch gesinnte Bildungsinstitute, in: Claus Ciupke/ Klaus Heuer/ Franz-Josef Jelich/

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mehrfach umgestaltete, international bekannte »Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze für rhythmische Gymnastik«,45 die 1914 gegründete, 1919/20 als Versuchsschule anerkannte »Volksschule Hellerau«46 – und das schon vor 1914 einsetzende Bestreben, Geheeb nach Hellerau zu holen oder hier zumindest eine reformpädagogische Schule nach dem Vorbild der Odenwaldschule zu schaffen. Das ließ sich aber erst nach 1918 verwirklichen. Die Initiative ging von einem im November 1919 gebildeten »Schulverein Hellerau« und seiner Denkschrift über die »Errichtung einer privaten höheren Lehranstalt« aus: »Die Gartenstadt Hellerau ist eine durch soziale, handwerkliche und pädagogische Impulse veranlaßte Siedlung. […] Ein solcher Ort braucht eine höhere Schule.«47 Diese »Neue Schule Hellerau« wurde Ostern 1920 im Gelände der »Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze« als erste staatlich genehmigte höhere Versuchsschule Sachsens mit den Klassen Sexta bis Untertertia Ostern 1920 eröffnet, um dann jährlich zu einer neunstufigen höheren Lehranstalt für Knaben und Mädchen ausgebaut zu werden. Deren Unterrichts- und Erziehungsarbeit sollte pädagogisch offen sein und so dem sozial gemischten Charakter der Gartenstadt Rechnung tragen.48 Ein zunächst als Schulleiter ins Auge gefasster Studienrat aus Chemnitz49 erkrankte. Carl Theil, der sich als Lehrer beworben hatte, sprang ein, übernahm die Leitung der »Neuen Schule« und zog mit seiner Familie nach Hellerau. Die Anfänge der »Neuen Schule Hellerau« waren viel versprechend. »Hellerau« – so der Schriftsteller Peter de Mendelssohn (1908 – 1982) – »war ein Sproß der Odenwaldschule. Es lebte aus ihrem Geist und übernahm ihre pädagogischen Prinzipien. Carl Theil, ein hochgewachsener Mann mit einem rötlichen Knebelbart, der eines Tages als Leiter der neuen Schule bei uns erschien, war ein ehemaliger Mitarbeiter Geheebs und für uns sein Apostel und Abgesandter. Mit ihm kamen einige Lehrer aus verschiedenen anderen, bewährten Landerziehungsheimen. Bald folgten allerlei Kinder, die vordem in der Oden-

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Justus H. Ulbricht. (Hg.): »Die Erziehung zum deutschen Menschen«. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. Essen 2007, S. 217 – 241. Nitschke: Hellerau als pädagogische Provinz, S. 92 – 127. Ebenda, S. 59 – 71; Max Nitzsche: Die Volksschule zu Hellerau, in: Franz Hilker (Hg.): Deutsche Schulversuche. Berlin 1924, S. 277 – 291; die Schule bestand bis 1933. RASchD, NL Curt Thomas, Denkschrift über Errichtung einer privaten höheren Lehranstalt in Rähnitz-Hellerau; Thomas war Mitglied des Vorstandes des Schulvereins Neue Schule Hellerau; der Vf. dankt Frau Monika Pohl vom Schulmuseum Dresden für die Kopien aus diesem Nachlass; der Autor der Denkschrift war Kurt v. Boeckmann, 1915/17 Leiter der »Neuen Schule für angewandte Rhythmik« (Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze); ein 1912 gegründetes privates »Schulheim für eine Höhere Schule« hatte sich als unzureichend erwiesen und ging in der Neugründung auf. RASchD, NL Curt Thomas, Mitteilungen des Schulvereins Hellerau 1/Februar 1920, 3. Blatt: Programm der Neuen Schule Hellerau. Dr. Fritz Schimmer, Studienrat an der Oberrealschule Chemnitz, 1924/36 und 1945/50 Leiter der Sächsischen Landesbildstelle (später »Deutsche Fotothek«).

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waldschule, in Wickersdorf und anderwärts gewesen waren.«50 Theil äußerte sich gegenüber Geheeb51 und in mehreren Publikationen geradezu euphorisch über die Ziele und Gestaltungsmöglichkeiten der »Neuen Schule«. Sie knüpfe an die »starken Hellerauer Überlieferungen auf künstlerischem, handwerklichem und erzieherischem Gebiet« an, wolle eine »Arbeits- und Erziehungsschule« sein und sehe ihre Aufgabe darin, »ein heranwachsendes Geschlecht mit einem ernsthaften verantwortlichkeitsbewußten Kulturtatwillen zu erfüllen.«52 »Arbeitsschule« werde dabei nicht als bloßer »methodischer Hilfsbegriff« verstanden, sondern als »ernsthafte Lebenseinstellung«.53 Theils »Neue Schule« plante eine »Erziehungsgemeinde Hellerau« (Dalcroze-Schule, Volksschule, »Neue Schule«) mit dem Ziel, Hellerau zu einer »›pädagogischen Provinz‹ im Kleinen« auszugestalten und dafür eine eigene Zeitschrift »Hellerauer Blätter« herauszugeben.54 1922 nahm sie am ersten informellen Treffen der Landerziehungsheime in Neudietendorf/Thüringen teil.55 Freilich holte bald die rauhe Wirklichkeit der Nachkriegs- und Inflationsjahre die »Neue Schule« ein. Sie geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Hinzu kamen innere Konflikte – vor allem mit dem schottischen Pädagogen Alexander Sutherland Neill (1883 – 1973), der 1920 die Redaktion der Zeitschrift »Education for the New Era« übernahm und im gleichen Jahr als Lehrer an die »Neue Schule Hellerau« kam.56 Neill vertrat einen ganz anderen, lockeren und genussvollen Schul- und Lebensstil als der – so Mendelssohn – »romantisch-herrische Carl Theil, ein Mann, hinter dessen strahlender, herzlicher Offenheit sich eine geheimnisvolle Undurchdringlichkeit verbarg«57 und von dem eine »mystische, ja fast mythische Autorität«58 ausging. Neill waren die »Idealisten« um Theil, die 50 Mendelssohn: Marianne, S. 54 f.; ders.: Hellerau, S. 14 (wortgleich). 51 PGA, Briefwechsel Theil-Geheeb, Schreiben Theils an Geheeb v. 15. 2. 1921. 52 Neue Schule Hellerau in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden. Erziehungsschule für Knaben und Mädchen vom zehnten bis achtzehnten Lebensjahre. Gegründet vom Schulverein Hellerau. Leitung Dr. Carl Theil. (Hellerau 1920), S. 3; das Porträt der »Neuen Schule« bei Nitschke (wie Anm. 42, S. 71 – 78) ist auf der Grundlage dieser vom Schulverein herausgegebenen Schrift geschrieben und enthält auch unzutreffende Aussagen – etwa, Theil habe die Schule gegründet und sie 1923 wegen eines Lehrauftrages an die Jenaer Universität verlassen. 53 Carl Theil: Neue Schule Hellerau, in: Internationale Erziehungs-Rundschau 2 (1921), Hf. 11/ 12, S. 87 – 90, Zitat S. 89; vgl. auch Anm. 84. 54 RASchD, NL Curt Thomas, Erziehungsgemeinde Hellerau. 55 Das Treffen war Ausgangspunkt der späteren Gründung der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime – vgl. Dokumentation Landerziehungsheime / Vereinigung deutscher Landerziehungsheime: http://www.die-internate-vereinigung.de/fileadmin/redakteur/pdf/Brachmann-ChronikLEH1309.pdf [23. 05. 2014]. 56 Axel D. Kühn: Alexander S. Neill in Hellerau – die Ursprünge Summerhills, in: Dresdner Hefte 15 (1997), Hf. 3 (Hf. 51 Gesamtzählung), S. 73 – 79. 57 Mendelssohn: Hellerau, S. 53. 58 Ders.: Marianne, S. 56.

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aus der Jugend- und Lebensreformbewegung kamen, auf »ernsthafte Erziehung« und »Kulturtatswillen« pochten und »Tabak, Alkohol, Foxtrott und Kinos verurteilten«,59 suspekt. Hinzu kamen Interessengegensätze. Zusammen mit der Amerikanerin Christine Baer-Frisell (1887 – 1932), die 1919/25 die zur »Neuen Schule für Rhythmik, Musik und Körperbildung« umgebildete Dalcroze-Schule leitete, plante Neill Ende 1921 eine »International School« als Dach der Hellerauer Schulen mit dem Ziel einer »complete education in Eurhythmics«. Dafür entwarf er ein Schulschema, das bereits Elemente seiner später zur Symbolstätte »antiautoritärer Erziehung« werdenden Summerhill-School (1924) enthielt: »self-governing body« der Schüler und Lehrer, eigene Entscheidung der Schüler über Unterrichtsteilnahme etc.60 Dafür brauchte Neill freilich die Schüler der von Theil geleiteten »Neuen Schule«, die er als »part of the scheme« in seinem Projekt auswies. Neill und Baer-Frisell gründeten eine Aktiengesellschaft mit britischamerikanischem Kapital und verhandelten mit dem finanziell angeschlagenen Schulverein, um die »Neue Schule« zu übernehmen – aber ohne ihren Lehrkörper und ihren Schulleiter Theil.61 Denn mit diesen »Idealisten« glaubte Neill seine pädagogischen Ziele nicht erreichen zu können. So wurde Theil Opfer einer gleichsam »feindlichen Übernahme« der »Neuen Schule« durch Neills Aktiengesellschaft. Er legte im April 1922 sein Amt als Schulleiter nieder. »Fremdes Kapital« – schrieb er an Geheeb – »erwies sich stärker als die Idee der Neuen Schule – wir werden verdrängt.«62 Er wollte – gab er in seinem Lebenslauf für das Thüringer Volksbildungsministerium an – »seine pädagogische Autonomie« nicht den Interessen eines privatkapitalistischen Unternehmens preisgeben.«63 Die »Neue Schule als Gegenstand eines privatkapitalistischen Unternehmens« sei für sie »undenkbar« gewesen, bestätigten auch die mit ihm verdrängten Mitglieder des Schulkollegiums und verbanden das mit einem emphatischen Bekenntnis zu Theil »als unserem Führer aus Verpflichtung zum gemeinsamen Werk«. Es bleibe die alte »Verbundenheit, wenn wir auch auf der Suche nach Neuland, wo die Neue Schule werden könnte, verstreut im Lande sind.«64 Ihre frühere Schule erreichte nach der Übernahme durch die »Neue Schule Hellerau AG« keine Stabilität und büßte ihre Aura ein. 59 Zitiert nach Axel D. Kühn: Alexander S. Neill. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 56. 60 RASchD, NL Curt Thomas, International School Hellerau/Dresden. Christmas MCMXXI. 61 RASchD, NL Curt Thomas, Schreiben des Schulvorstands-Mitglieds Schulze an Thomas v. 20. 1. 1922, Rundschreiben Carl Theils, Bertl Locherers und Rudolph Götzes an die Eltern und Schüler der »Neuen Schule« v. 12. 4. 1922, Schreiben Thomas an Schulze v. 12. 4. 1922, Mitteilungen des Schulverein-Vorstandes an die Elternschaft der »Neuen Schule« v. 20. 4. 1922 u. 2. 5.1922. 62 PGA, Briefwechsel Theil-Geheeb, Schreiben Theils an Geheeb v. 22. 4. 1922. 63 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 5. 64 ThHStAW, PAV, Nr. 31094 (PA Carl Theil. Beiakte), Bl. 73r–74v (Schreiben vom Januar 1924 an das Thüringer Volksbildungsministerium, hs. Abschrift), Zitate Bl. 73r, 74v.

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Theils Nachfolger Hermann Harless (1887 – 1961), der ebenfalls an Geheebs Odenwaldschule als Lehrer gearbeitet hatte, wurde von den Schülern – so Mendelssohn – zwar als eher »nüchterner, weniger tyrannischer« Pädagoge und Schulleiter wahrgenommen. »Aber der magische Bann, in dem die faszinierende Persönlichkeit Carl Theils uns gehalten hatte, war gebrochen, ließ sich nicht von neuem heraufbeschwören oder übertragen, und hinfort war die pädagogische Provinz nicht mehr, was sie einst gewesen.«65 Auch Harless geriet in Konflikte mit Neill. Beide verließen 1923/24 Hellerau.66 Harless’ Nachfolger als Schulleiter – der zuvor an der Bildungsanstalt Hellerau tätige Kunsthistoriker Alois Schardt (1889 – 1955) – konnte den Niedergang der »Neuen Schule« nicht aufhalten.67 1925 wurde sie aufgelöst.

4.

Wilhelm-Ernst-Gymnasium Weimar 1923/24

Nach dem Ausscheiden aus der »Neuen Schule Hellerau« bewarb sich Carl Theil am 5. August 1922 beim Weimarer Volksbildungsminister Max Greil um Einstellung in den Thüringer Schuldienst. Er wolle mitwirken an der »grundlegenden Erneuerung unseres Schulwesens, besonders des höheren, im Geiste der Einheitsschule«68 und habe dafür dem Ministerium bereits den »Plan einer als Einheitsschule vom Kindergarten bis zur Vollanstalt aufzubauenden freien höheren Versuchsschule« vorgelegt. Damit war er Greil hoch willkommen, der gleich auf das Schreiben notierte, er lege »auf die Gewinnung Dr. Theils für unser Thüringer Schulwesen ganz besonderes Gewicht«;69 Theil sei zweifellos »eine ausgeprägte pädagogische Persönlichkeit«. Ab 1. Oktober 1922 stellte er Theil als Studienrat an der neuen Aufbauschule (dem früheren Lehrerbildungsseminar) Weimar an; ab 1. April 1923 berief er ihn als Studien- und Gymnasialdirektor an das Wilhelm-Ernst-Gymnasium Weimar.70 Dort fand Theil mit seinem Bemühen um eine offene, tolerante, das selbstständige Denken fördernde Schulatmosphäre zwar Sympathien unter den Schülern, stieß aber von Anfang an auf eisige Ablehnung unter der Lehrer- und Elternschaft. Man wollte ihn gar nicht an die Schule haben. Das Wilhelm-Ernst-Gymnasium – hieß es in den Eingaben des 65 Mendelssohn: Marianne, S. 65. 66 Neill gründete 1924 die Summerhill-School in Schottland; Harless gründete und leitete 1928/ 43 das Landschulheim Marquartstein. 67 Nitschke: Die Gartenstadt Hellerau als pädagogische Provinz, S. 87 – 90; vgl. auch Ruth Heftrig/ Olaf Peters / Ulrich Rehm (Hg.): Alois J. Schardt. Ein Kunsthistoriker zwischen Weimarer Republik, »Dritten Reich« und Exil in Amerika. Berlin 2013, wo Schardts HellerauAufenthalt allerdings nur beiläufig und zudem unpräzise erwähnt wird (S. X). 68 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 4. 69 Ebenda. 70 Ebenda, Bl. 10, 28, 29, 66; ThVbM, Abt. B, Nr. 3407, Bl. 16; Theil wohnte wieder in Jena.

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Lehrerkollegiums und des Elternrates an das Ministerium vom 16./22. Januar 1923 – sei bislang von Persönlichkeiten geführt worden, die sich »fast ausnahmslos durch wissenschaftliche Leistungen, pädagogische Befähigung oder erfolgreiche Tätigkeit in leitender Stellung einen Namen gemacht haben«. Theil mit seiner pädagogischen Vorgeschichte und seinen Hellerauer Konflikten biete keine Gewähr, dass er das Gymnasium »in einem Geiste und in einer Weise leiten werde, wie seine Geschichte es von ihm zu fordern berechtigt«. Die Berufung Theils an die Spitze des Gymnasiums sei »mit der Tradition der Anstalt nicht vereinbar«.71 Der Konflikt mit dem neuen Direktor war so vorprogrammiert. Wie schon im Streit um das Bauhaus,72 das schließlich Weimar 1924 verlassen musste, prallten auch im Falle Theils »zwei Welten« aufeinander, wie sich Lux Feininger (1910 – 2011) – der Sohn des Bauhaus-Künstlers Lyonel Feininger – an seine Schulzeit am Wilhelm-Ernst-Gymnasium erinnerte: auf der einen Seite der »liberale Dr. Theil«,73 auf der anderen Seite eine deutschnational, meist noch monarchistisch gesinnte Lehrer- und Elternschaft, die vor keinem Mittel zurückschreckte, um diesen ihr »von Greil aufgezwungenen linken« Reformpädagogen, den sie politisch wie pädagogisch als Bedrohung ihrer Autorität empfand, wieder loszuwerden. Theil bekam so Milieu und Geisteswelt damaliger deutscher Gymnasien und weiter Kreise des überwiegend republikdistanzierten bis republikfeindlichen deutschen Bildungsbürgertums in aller Härte zu spüren. Die Gelegenheit, Theil wieder loszuwerden, bot sich seit Ende 1923, als in Thüringen Ausnahmezustand herrschte, vorgezogene Landtagwahlen anstanden und die sozialistische Landesregierung nur noch geschäftsführend im Amt war. Am 8. Januar 1924 forderte das Lehrerkollegium Theils sofortige Amtsenthebung, weil er weder die für einen Gymnasiallehrer noch für einen Schulleiter erforderlichen Fähigkeiten besitze. Er wolle – warf man Theil vor – den bewährten Griechisch-Lehrplan ändern; das Gesamtergebnis seines Griechisch71 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 23r–25v, Zitate Bl. 24r, 24v ; zu Geschichte und Traditionsverständnis des Weimarer Gymnasiums vgl. Otto Francke: Geschichte des Wilhelm-ErnstGymnasiums in Weimar. Weimar 1916, zum Namensgeber – den letzten Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach – vgl. Bernhard Post / Dietrich Werner : Herrscher in der Zeitenwende. Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach 1876 – 1923. Jena 2006 . 72 Ute Ackermann / Kau Uwe Schierz / Justus H. Ulbricht (Hg.): Streit ums Bauhaus. Jena 2009. 73 Theodore Lux Feininger : Zwei Welten. Mein Künstlerleben zwischen Bauhaus und Amerika. Halle 2006, S. 47; 1924, als das Bauhaus von Weimar nach Dessau umzuziehen begann, wurden die Feininger-Kinder zunächst an der nun von Alois Schardt geleiteten »Neuen Schule« in Hellerau eingeschult, was Lux Feininger gegenüber dem Weimar Gymnasium als »seelische Befreiung« (S. 50) empfand, obwohl die Schule schon 1925 geschlossen wurde; vgl. auch Andreas Feininger, Laurence Feininger und Theodore Lux Feininger, drei namhafte ehemalige Gymnasiasten, in: Mitteilungsblatt der Vereinigung früherer Schüler des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums, Nr. 25 (1999), S. 9 – 11; der Vf. dankt Frau Christiane Schneider (Goethe-Gymnasium Weimar) für den Hinweis auf diese Schrift.

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Unterrichtes sei »geradezu trostlos«; er fordere, das Christentum anders – den Lehren Christi wortgetreu folgend – zu lehren und verletzte dabei das »religiöse Empfinden der Schüler«; die Schule wünsche er »von Grund aus umzugestalten, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Schüler aus Familien stammen, die am alten Gymnasium hängen und umstürzenden Neuerungen abgeneigt sind«; um die Schüler »für seine Ansichten und Reformen zu gewinnen«, gewähre er ihnen Freiheiten, die die »Schulzucht« untergrüben; er fordere sie auf, selbst nachzudenken und sich nicht alles bieten zu lassen; er verändere sogar die Klassenzimmer, indem er die Bänke »behufs Erzielung grösserer Zwangslosigkeit« im Halbkreis um den Lehrer herum stelle; politisch trete er radikal auf, fordere die Abschaffung der Todesstrafe, eifere gegen nationale Verbände, gegen Hitler und die Nationalsozialisten, die er als Hochverräter bezeichne und scheue nicht einmal davor zurück, das deutsche Heer und die Kriegspolitik während des Weltkrieges »ohne Schonung der heiligen Gefühle Andersdenkender« zu kritisieren.74 Am 14. Januar 1924 erkundigte sich der Reichswehr-Befehlshaber in Thüringen beim Ministerium, was denn gegen den Dr. Theil wegen seiner »Pflichtwidrigkeiten im Dienst« und seiner »Beschimpfung unseren früheren Heeres im Weltkrieg« unternommen werde.75 Ein vom Umfeld des Gymnasiums lancierter Artikel in der »Weimarischen Zeitung« (23. 1. 1924) diffamierte Theil als »Jugendbildner«, der »seine pädagogischen Sporen an einer Feld-, Wald- und Wiesenschule verdient hatte« und dann in Hellerau »nach den Grundsätzen der glorreichen Revolution« gewirkt habe: »er hetzte die Kinder gegen die Eltern auf, verekelte seinen Kollegen das Leben und unterrichtete im allermodernsten Sinne, indem er z. B. Tendenzromane als ›Geschichtsquellen‹ benutzte«; damit sei er dann »reif für das Reich des Herrn Greil« geworden und verhalte sich nun am Weimarer Gymnasium wie in Hellerau; »statt mit den Jungen zu arbeiten«, halte er ihnen »stundenlange politische und ›pädagogische‹ Vorträge« und suche sie »für die Internationale, Edelkommunismus und schulbolschewistische ›Reformen‹ zu gewinnen.«76 Das Ministerium beauftragte die 1923 von Greil als Schulrätin für das Schulgebiet Weimar-Jena eingesetzte Sozialdemokratin Anna Siemsen77 mit der 74 ThHStAW, PABV, Nr. 31094, Bl. 1 – 3; Abschrift in: ThHStAW, ThVbM, Abt. B, Nr. 3407, Bl. 2 – 4. 75 ThHStAW, PABV, Nr. 31094, Bl. 6. 76 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 80 (Abschrift), 84 (Zeitungsausschnitt); Theil äußerte sich am 5. 2. 1924 in einem Schreiben an das Ministerium zu dem Hetzartikel – ebenda, Bl. 83.. 77 Anna Siemsen gehörte zu dem Gründern des Bundes entschiedener Schulreformer ; sie wurde Ende August 1923 von Greil zur Schulrätin und Schulleiterin des Lyzeums Jena und im Oktober 1923 zur Honorarprofessorin an die Jenaer Universität berufen – vgl. ThHStAW, PABV, Nr. 26674 (PA Anna Siemsen) u. UAJ, Best. D, Nr. 2738 (PA Anna Siemsen) sowie Inge Hansen-Schaberg: Anna Siemsen (1882 – 1951). Leben und Werk einer sozialistischen Pä-

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Untersuchung der Vorwürfe und des Konfliktes. Sie führte zahlreiche Gespräche mit Schülern, Lehrern und Eltern, holte unterschiedliche Stellungnahmen – darunter auch von Carl Theil – ein und legte die Untersuchungsergebnisse in drei Berichten an das Ministerium nieder.78 Ihre Bilanz war eindeutig: Die Lehrer- und Elternschaft des Gymnasiums habe mit ihrer Kampagne »eine Atmosphäre von Klatsch und Gehässigkeit geschaffen, die in der Tat ein gedeihliches Arbeiten z. Zt. unmöglich macht.« Es müsse vom Ministerium entschieden werden, »ob eine Umgestaltung des Kollegiums in nächster Zeit möglich« sei.79 Das war freilich nicht mehr möglich. Das Kollegium weitete seine Attacken über Carl Theil hinaus auf Anna Siemsen aus – sie sei parteiisch.80 Die Landesregierung und Greil waren nur noch kurze Zeit im Amt. Ihnen folgte Ende Februar 1924 die von einer völkisch-nationalsozialistischen Landtagsfraktion mitgetragene (parlamentarisch tolerierte) Bürgerblock-Regierung des »Thüringen Ordnungsbundes«. Sie revidierte Greils Reformen und entließ oder versetzte viele sozialistisch und republikanisch gesinnte Beamte. So auch in diesem Konfliktfall. Anna Siemsen wurde vom neuen Volksbildungs- und Justizminister Richard Leutheußer (DVP) als Schulrätin und Lyzeumsdirektorin entlassen. Theil erhielt am 1. März 1924 einen Verweis wegen »pflichtwidrigem« und die »Gefühle Andersdenkender verletzendem« Verhalten.81 Er wurde als Direktor des Weimarer Gymnasiums abgelöst und als Lehrer nach Jena versetzt. Die Kampagne gegen Carl Theil gehört wahrlich nicht zu den Ruhmesblättern in der Geschichte des Weimarer Gymnasiums. Dessen Chronisten sahen das damals freilich anders. Das Schuljahr 1923/24 sei – hieß es 1927 in einer Schrift

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dagogin, in: Gisela Horn (Hg.): Die Töchter der Alma matere Jenensis. Neunzig Jahre Frauenstudium an der Universität Jena. Rudolstadt / Jena 1999, S. 113 – 136; Cornelia Amlacher : Anna Siemsen – eine Sozialistin zwischen den Stühlen, in: Gisela Horn (Hg.): Entwurf und Wirklichkeit. Frauen in Jena 1900 bis 1933. Rudolstadt/ Jena 2001, S. 267 – 286; Paul Mitzenheim: Humanistische Erziehung als oberstes Gebot. Anna Siemsen (1882 – 1951), in: Mario Hesselbarth/ Eberhart Schulz/ Manfred Weißbecker (Hg.): Gelebte Ideen. Sozialisten in Thüringen. Jena 2006, S. 398 – 407. Die drei Berichte Anna Siemsens v. 22.1., 28.1. und 7. 2. 1924, die Protokolle und Stellungnahmen sind überliefert in: ThHStAW, PABV, Nr. 31094 u. ThVbM, Abt. B, Nr. 3407, die Stellungnahmen Theils v. 21.1., 5.2. und 6. 2. 1924 in: PABV, Nr. 31094, Bl. 10 – 17, 68r+v, 72r+v. ThHStAW, PABV, Nr. 31094, Bl. 45 – 46 (Bericht v. 28. 1. 1924), Zitat Bl. 46; Entwurf in: ThHStAW, ThVbM, Abt. B., Nr. 3407, Bl. 7 – 9. ThHStAW, ThVbM, Abt. B, Nr. 3407, Bl. 27 – 29v. Ebenda, Bl. 30r+v (Verweis v. 1. 3. 1924); ThHStAW, PABV, Nr. 31094, Bl. 99 – 100v (SPDLandtagsanfrage v. 17. 3. 1924 zu Verweis und Amtsenthebung Theils; Antwort des Ministeriums v. 9. 4. 1924): Theil habe seine Befugnisse als Schulleiter überschritten, als er vom Griechisch-Lehrplan abwich; er habe durch verschiedene Äußerungen das Ansehen der Schule und seiner Amtskollegen geschädigt; und er habe durch herabsetzende Äußerungen über den Krieg die Gefühle andersdenkender Schüler verletzt und so gegen Art. 148 der Weimarer Reichsverfassung verstoßen.

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des neuen Direktors – das »unerfreulichste« in der Gymnasialgeschichte gewesen. Das lastete er Theil an, den er als Störenfried in der »heilen Welt« des Gymnasiums schilderte. Nur die »besonnene und charaktervolle Haltung des Lehrerkollegiums« habe die Schule vor dem »völligen Zusammenbruch« bewahrt. Erst die neue Regierung habe wieder »Ruhe, Ordnung und Sicherheit« geschaffen und damit die Möglichkeit, die Wunden aus der Zeit des »Schädlings Greil« zu heilen.82 Theil zog seinerseits eine recht bittere Bilanz der Jahre 1922/23 in Hellerau und Weimar, als er am 4. Januar 1924 an Martin Buber schrieb, der gerade im Begriff stand, zu Vorträgen an der Volkshochschule nach Jena zu kommen:83 »Ich sollte Ihnen Gutes von meiner Schule berichten – und es gab in diesen ganzen nun anderthalb Jahren des Schweigens nichts, was ich wirklich wüßte, gut nennen zu können, […] So schwere Bedingung hat mir noch nie jemand auferlegt, und ich habe sie zu tragen versucht, immer in der Hoffnung, vielleicht doch einmal etwas davon erfüllen zu können.[…] Ein Haus haben wir, aber noch kein Zuhause, fremd sind mir die Stadt und die Menschen der Stadt, und meine Arbeit außer mir, losgelöst; dieses schönste, erhabenste: daß Arbeit und Leben zusammengehen, noch fand ichs nicht wieder – und die Menschen, mit denen man’s könnte, sind in alle Winde zerstreut.« Umso mehr freue er sich auf Buber, auf das »stille verschwiegene Gespräch« mit ihm, auf das »Ringen um das Wort und mit dem Wort«. Da Elisabeth Rotten84 am 9./10. Januar bei ihnen sei, bat er Buber, »einen dieser Abende uns zu schenken und nach dem Vortrag im ganz kleinen Kreise bei uns zu sein. Der Flügel wartet mit Bach und Beethoven auf«.

82 Georg Siefert: Geschichte des Wilhelm Ernst-Gymnasiums in Weimar von Ostern 1914 bis Ostern 1927. Weimar 1927, S. 31 – 33. 83 MBA, Mappe 809:1, Brief Theils an Buber v. 4. 1. 1924, mit dem die im MBA aufbewahrten Schreiben Theils an Buber (Anm. 38) beginnen; zu Bubers Jenaer Vorträgen im Januar 1924 vgl. Friedenthal-Haase: Martin Buber im andragogischen Gespräch: Jena 1924. 84 Elisabeth Rotten (1882 – 1964) gehörte zu den Gründern des »Bundes entschiedener Schulreformer« (1919) und der New Education Fellowship (1921, später : Weltbund zur Erneuerung der Erziehung); 1920/21 gab sie im Auftrag der Pädagogischen Abteilung der Deutschen Liga für Völkerbund die »Internationale Erziehungs-Rundschau« als Beilage der Zeitschrift »Die Neue Erziehung« (als Organ des Bundes entschiedener Schulreformer hg. v. Paul Oestreich) und als deren Fortsetzung seit 1922 »Das Werdende Zeitalter« als deutschsprachige Zeitschrift der New Education Fellowship heraus; 1921 veröffentlichte Theil in der »Erziehungs-Rundschau« sein Porträt der »Neuen Schule Hellerau« (Anm. 53) und 1928 in »Das Werdende Zeitalter« ein Porträt Paul Oestreichs (S. 89) – vgl. auch Hermann Röhrs: Der Weltbund für Erneuerung der Erziehung. Wirkungsgeschichte und Zukunftsperspektiven. Weinheim 1995; Dietmar Haubfleisch: Elisabeth Rotten – eine (fast) vergessene Reformpädagogin. Marburg 1997; Das Werdende Zeitalter (Internationale Erziehungs-Rundschau). Register sämtlicher Aufsätze und Rezensionen einer reformpädagogischen Zeitschrift in der Weimarer Republik. Zusammengestellt von Dietmar Haubfleisch und Jörg.-W. Link. Marburg 1996.

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Carl-Alexander-Gymnasium Jena 1924/33

Am Jenaer Carl-Alexander-Gymnasium, an dem Theil seit dem 1. April 1924 – weiterhin mit dem Titel »Studiendirektor« – Griechisch, Latein, Deutsch, Geschichte und Spielturnen in der Sekunda und der Tertia unterrichtete,85 herrschte kein grundsätzlich anderer Geist als in Weimar. Festakt und Festschrift zum 50jährigen Gründungsjubiläum des »Carolo Alexandrinum« 1926 atmeten ganz den »nationalen Geist« staatsbürgerlicher Erziehung zu »Deutschtum« und »Heldengedenken« an den Weltkrieg.86 Aber es scheint doch etwas toleranter als in Weimar zugegangen zu sein. Den überlieferten Schulakten und -berichten87 zufolge gab es keine größeren Konflikte mit dem nun ja auch nicht mehr so exponiert wie in Weimar tätigen Theil. Gelegentlich war er als Pazifist und einziger Sozialdemokrat im Lehrkörper aber auch hier Angriffen ausgesetzt. Ein damaliger Schüler schilderte später eine Episode aus seiner Schulzeit am »Carolo Alexandrinum«, als Schüler bei der Behandlung von Caesars »Gallischem Krieg« Theil mit Kriegsrufen gegen Frankreich provozierten.88 1928/29 hatte Theil einen speziellen »Kampf mit der Regierung« auszufechten: Leutheußer verhängte eine Ordnungsstrafe gegen ihn, weil er einen Schüler, der sich in einem Klassenaufsatz spöttisch über Lehrer geäußert hatte, nicht zur Rechenschaft zog; allerdings erfuhr der Minister eine »blamable Niederlage«, weil Theil durch ein förmliches Dienststrafverfahren die Rücknahme der Strafe erzwang.89 Theils öffentlichem, pädagogischem, schul- und parteipolitischem Engagement tat der Wechsel an das Jenaer Gymnasium keinen Abbruch. Seine Zeit war – wie er 1928 Hans Trüb schrieb – randvoll gefüllt »mit Arbeit in Schule, Haus, Beruf, Partei und sonstigen Verpflichtungen des Lebens, oft nicht leicht, mitunter schon schwer bedrückend, Persönliches und Außerpersönliches untrennbar einbezogen«.90 Dazu gehörten ein großer Freundeskreis, viele Kontakte

85 ThHStAW, ThVbM, Abt. B, Nr. 3051 (Schuljahresberichte des Gymnasiums Jena 1922 – 1925), Bl. 22, 61v, 65; Nr. 3052 (Gedruckte Schuljahresberichte des Gymnasiums Jena 1926 – 1940), Bericht 1926/27, S. 4, Bericht 1928/29, S. 4, Bericht 1929/30, S. 5, Bericht 1930/31, S. 3, Bericht 1932/33, S. 2, Bericht 1933/34, S. 2. 86 Festschrift zur Erinnerung an die Fünfzigjahrfeier des Gymnasiums Carolo-Alexandrinum zu Jena. Vom 7. Bis 11. Oktober 1926, hg. vom Festausschuß. (Jena 1926); vgl. auch ThHStAW, Best. Höhere Schulen, Nr. 9 (Fünfzigjahrfeier Gymnasium Jena) . 87 ThHStA, Best. Höhere Schulen, Nr. 13, 102, 103, 238; ThVbM, Abt. B, Nr. 3051, 3052, 3054. 88 Karl Kujath: Rückblicke auf 70 Lebensjahre. Von der Weimarer Republik zur Europäischen Integration. Erlebtes – Begegnungen – Gedanken – Betrachtungen, Teil I: Die Zeit bis zum Krieg 1939. Bad Breising 1986 (MS-Druck im UAJ), S. 36 f. 89 ThHStAW, Dienststrafkammer Weimar, Nr. 814, Bl. 1r+v ; PABV, Nr. 31094, Bl. 105 – 109; MBA, Mappe 809: 17, Schreiben Theils an Buber v. 4. 1. 1929 (Zitate). 90 UBFA, Na 65, 3, Brief Theils an Hans Trüb v. 10. 12. 1928 (mit einem angefangenen Brief v. 15. 10. 1928).

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– darunter zu unterschiedlichen sozialistischen Gruppen91 – und häufige Tagungsreisen, so 1925 zur dritten Tagung der New Education Fellowship in Heidelberg, auf der Martin Buber »Über das Erzieherische« sprach.92 Muse fand Theil vor allem beim Schreiben von Gedichten, von denen er viele Buber widmete – »als lange stummen Dankes späte Formung – nicht spätes Fühlen«.93 Die Freundschaft, die Begegnungen und die inhaltlich breit gefächerte, oft religionsund erziehungsphilosophische Fragen, aber auch viel Privates berührende Korrespondenz mit Buber spielten eine wachsende Rolle für Theil. Wichtig wurde ihm auch der gemeinsame Kontakt zum Frankfurter jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig (1886 – 1929), dessen im Dialog mit christlichen Freunden gewachsene Philosophie Theil besonders schätzte und dessen Tod ihm – wie er Buber schrieb – »die Welt verfinsterte«.94 Reformpädagogisch konsequent, schickte Theil seine Töchter und den ältesten Sohn Carl auf die 1924 eingerichtete Universitätsschule des 1923 von Greil an die Jenaer Universität berufenen Reformpädagogen Peter Petersen.95 Dort wirkte Theil aktiv im Elternrat und im Freundeskreis der Universitätsschule mit, der sich bemühte, die an dieser Schule entwickelte »Jenaplan«-Pädagogik im öffentlichen Schulwesen zu verbreiten. Dabei kam es 1929 allerdings zum Konflikt mit Petersen.96 Denn der zwar religionswissenschaftlich engagierte, aber konfessionslose Theil97 setzte sich im Rahmen des linkssozialistischen »Bundes Freier Schulgesellschaften« für weltliche Schulen ein98 und wollte Petersens (christliche) Gemeinschaftsschule in eine (bekenntnisfreie) weltliche 91 MBA, Mappe 809:9, Schreiben Theils an Buber v. 5. 5. 1928 über einen »sozialistischen Aussprache« 31.05.–02. 06. 1928 in Heppenheim, zu der der religiöse Sozialist Emil Fuchs, der flämisch-deutsche Sozialist Hendrik de Man und andere eingeladen hatten, an der er aber nur teilnehmen werde, wenn er auch Gelegenheit habe, mit Buber zusammenzutreffen. 92 MBA, Mappe 809:7, Schreiben Theils an Buber v. 17. 6. 1928 über seine Teilnahme an der Heidelberger Tagung 1925; Röhrs: Der Weltbund, S. 18. 93 MBA, Mappe 809: 6, Martin Buber gewidmetes Gedicht »Begabung« v. 23. 1. 1927. 94 MBA, Mappe 809: 22, Schreiben Theils an Buber v. 24. 10. 1930. 95 Jürgen John: »Eine Schule – ein Lehrerstand«. Lehrerbildung, Erziehungswissenschaftliche Anstalt und Universitätsschule als Peter Petersenes Jenaer Handlungsfelder 1923 bis 1933, in: Peter Fauser / Jürgen John / Rüdiger Stutz (Hg.): Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik. Historische und aktuelle Perspektiven. Stuttgart 2012, S. 77 – 160. 96 Ebenda, S. 123 f.; UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312 (Protokoll der Mitgliederversammlung des Freundeskreises v. 29. 1. 1929) u. Nr. 314 (»Das Volk« v. 22. 6. 1929, Zeitungsausschnitt). 97 In seinem »Lebenslauf in Daten« gab Theil unter »Konfession« an: »Dissident« – MBA, Mappe 809: 52. 98 Der Volkslehrer 12 (1930), Nr. 13, S. 159 – 161 (Bericht über den Görlitzer Verbandstag der Allgemeinen Freien Lehrergewerkschaft Deutschlands, auf dem Carl Theil über den Lehrerstand an weltlichen Schulen sprach); Heidi Behrens-Cobet / Norbert Reichling: »Wir fordern die freie Schule, weil sie den Schule des Sozialismus ist.« Die Bewegung für freie weltliche Schulen in der Weimarer Republik, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung 23 (1987), S. 485 – 505.

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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Schule umwandeln. Ein Jahr später griff Theil den »bürgerlichen« Petersen auch wegen dessen Rolle in der Lehrerbildung öffentlich-publizistisch an.99 Bei den Wahlen zum Stadtschulvorstand kandidierte Theil auf einer von sozialistischen Eltern eingereichten Liste »Schulfortschritt« und kam so 1929 als Nachfolger August Siemsens in dieses Gremium.100 Im Januar 1929 konnte Theil dem Ministerium einen Fortbildungslehrgang für Lebenskundelehrer »abringen«,101 auf dessen Grundlage er 1930 »Richtlinien für den Lebenskundlichen Unterricht« veröffentlichte.102 Zur Verfassungsfeier der Stadt Jena hielt Theil am 11. August 1930 im Stadttheater den Festvortrag »Vom Geiste der Verfassung«. Er gab einen Überblick über das Verfassungsleben von der Antike bis zur Gegenwart, um zu belegen, dass am 11. August 1919 ein »Wendepunkt deutschen Schicksals« liege, dass »aus dem Geiste der Verfassung von Weimar etwas erstehen und erwachsen kann, wenn dieser Geist willige Träger, Herzen, Köpfe und Hände findet, die ihm den Weg bereiten helfen«.103 Zu solch republikanischem Bekenntnis gehörte damals für einen im Thüringer Staatsdienst stehenden Lehrer allerdings schon Mut. Denn in Weimar amtierte seit Januar 1930 der Nationalsozialist Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister und begann in seinen Ressorts eine rigorose nationalsozialistische Personal- und »Säuberungs«-Politik. Theil musste also mit Sanktionen rechnen. Diese städtischen Verfassungsfeiern kontrastierten zudem mit den Reichsgründungsfeiern der Landesuniversität Jena, die diese – wie alle deutschen Universitäten – auf Beschluss des Deutschen Hochschulverbandes jährlich am 18. Januar durchführte und so die Reichsgründung 1871 und nicht die Republikgründung 1919 würdigte.104 Für städti99 Carl Theil: Thüringer Lehrerbildung von 1922 bis 1930. Oder : von Greil bis Frick, in: Aufbau 3 (1930), Nr. 4/5, S. 131 – 138, v. a. S. 135. 100 StAJ, B XVIIe, Nr. 189/1 (Wahlen zum Ortsschulvorstand), Bl. 201, 202v, 240, 242; Theil kandidierte für die Westschule, in die sein zweitjüngster Sohn Peter ging. 101 MBA, Mappe 809: 17, Schreiben Theils an Martin Buber v. 4. 1. 1929. 102 Carl Theil (Hg.): Richtlinien für den Lebenskundlichen Unterricht mit Literaturverzeichnis, aufgestellt von einer Arbeitsgemeinschaft Thüringer Lehrer. (Jena 1930, Privatdruck Theils mit einer Annonce der Lichtbildstelle der Gewerkschaft deutscher Volksschullehrer). 103 StAJ, DIb, Nr. 38 (Verfassungsfeiern 1922 – 1932), Bl. 80, 84 (»Das Volk« [SPD] v. 13. 8. 1930, Beilage mit Wortlaut der Rede Theils). 104 John/Stutz: Die Jenaer Universität 1918 – 1945, S. 332; als Fallstudie zum republikdistanzierten Geist universitärer Reichsgründungsfeiern vgl. Jan Gerber : Die Reichsgründungsfeiern der Universität Halle-Wittenberg in der Zeit der Weimarer Republik, in: Hermann-J. Rupieper (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle –Wittenberg 1502 – 2002. Halle 2002, S. 407 – 431; zu den Ausnahmen vgl. Ralf Poscher (Hg.): Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung. BadenBaden 1999; zu der Reichsgründungsfeier der Jenaer Universität am 18. 1. 1931 im Beisein Fricks hielt der Wirtschaftsrechtler Justus Wilhelm Hedemann die Festrede »Jugend und Alter. Die Folge der Generationen. Ein Blick auf unsere Zeit« und zitierte dabei im positiven Sinne aus Hitler »Mein Kampf« als Geistesausdruck der »jungen Generation«.

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sche Verfassungsfeiern standen nur Festredner aus dem kleinen Kreis republikanisch gesinnter Studienräte zur Verfügung, kaum Universitätsprofessoren.

6.

Berufsverbot 1933

Musste Theil schon 1930 mit möglichen Repressalien rechnen, so erst recht nach dem NS-Machtantritt im Reich. Im Juni 1933 wurde er auf Grund des berüchtigten »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (07. 04. 1933) aus dem Thüringer Staatsdienst mit der Begründung entlassen: »Die linkspolitische und extreme schulpolitische Betätigung schließen die Gewähr dafür aus, daß Theil sich rückhaltlos für den nationalen Staat einsetzt.«105 Wie der befreundete Hans Simmel106 erfuhr er von der Entlassung aus der Zeitung und erhielt erst neun Tage später das amtliche Entlassungsschreiben ohne förmliches Verfahren – das seien nun die »grundsätzlich neuen Regierungsmethoden«: reine »Willkür- und Gewaltakte«, schrieb er Martin Buber.107 »Es ist ganz still und leer in mir«, wie in einem Vakuum unter großem Druck. Er mache sich große Sorgen um seine Familie und um Buber, dem die Lehrbefugnis entzogen war und der als jüdischer Intellektueller mit offenen Repressalien rechnen musste. »Was überhaupt weiter werden soll oder kann, weiß ich nicht«. Keinesfalls wolle er verzweifeln: »Wie aber, wenn das Dunkel wächst und nach mir greift und das Verführerische verführend mich überwältigt in den Trugeingebungen lähmender Schwermut?«108 Dagegen brauche man »Mut in den Wegen Gottes« und müsse handeln. Er werde »jede Arbeit annehmen, die Arbeit ist« und traue sich auch zu, sich in »bislang fremde oder ferner liegende Gebiete einzuarbeiten«.109 Angesichts beginnender Judenverfolgungen erwog er, zusammen mit Buber eine »freie Schule für jüdische Kinder« zu gründen,110 zweifelte aber selbst an dem Projekt, weil er möglicherweise zur Belastung für die Bedrängten werden könne. Auch das Exil schien ihm keine Option zu sein: »›Ausland‹ scheint, so viel ich sehe, ausge105 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 181; auch überliefert in: ThHStAW, ThVbM, Abt. A, Nr. 221, Bl. 108. 106 Vgl. Anm. 39 sowie Thomas Grieser : Jüdische Ärzte in Thüringen während des Nationalsozialismus 1933 – 1945. Diss. med. Jena 2003 (MS), S. 112 – 115; Hans Simmel trage sein Schicksal mit einer »gewissen fröhlichen Tapferkeit«, schrieb Theil am 13. 6. 1933 an Martin Buber (MBA, Mappe 809: 26). 107 MBA, Mappe 809: 27 – 29, Schreiben Theils an Buber v. 20.6., 26.6. u. 29.6. 1933. 108 MBA, Mappe 809:29, Schreiben Theils an Buber v. 29. 6. 1933, die anderen Zitate stammen aus den Schreiben v. 20. u. 26. 6. 1933. 109 MBA, Mappe 809: 30, Schreiben Theils an Buber v. 25. 7. 1933. 110 Ebenda.

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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Abb. 2: Carl Theil in seinem Arbeitszimmer, 1930er Jahre. Familienbesitz (Marietta Horn, Augsburg)

schlossen«111 – jedenfalls für eine Großfamilie wie die seine, die nur schwer eine materielle Basis im Ausland finden werde. Später versuchte er zwar, Arbeitsmöglichkeit im Ausland zu finden. Doch die Projekte scheiterten – so der Plan, mit Schweizer Partnern eine freie Schule in der Schweiz zu gründen112 oder der Versuch, in Schweden eine Stelle als Fachreferent für deutschen Unterricht in einer Verwaltungsbehörde für höhere Schulen zu erhalten.113 Auch Absichten, mit seiner Blockflötenmusik beim Rundfunk unterzukommen114 oder in der Verlagsarbeit tätig zu werden,115 ließen sich nicht verwirklichen. Letztlich blieb es bei resignierenden Feststellungen einer »hoffnungslosen« Lage, weil alle Versuche, »irgendwo wieder Arbeit zu finden«, fehlschlügen.116 Theil hatte Berufsverbot, war arbeitslos und musste sehen, wie er sich und seine Familie über Wasser hielt. Die älteste Tochter Eveline studierte in Bonn Medizin. Die jüngere Tochter Helfrid besuchte eine Textilfachschule in Berlin. Der ältere Sohn Carl absolvierte in Halle eine Konditorlehre. Die beiden jüngeren Söhne besuchten das Jenaer Gymnasium. Nach wie vor wohnte die seit 1921 verwitwete Schwiegermutter Helfrid Eigenbrodt bei den Theils, Theils Mutter Natalie Bo111 MBA, Mappe 809: 31: Schreiben Theils an Buber v. 14. 8. 1933. 112 MBA, Mappe 809: 38 – 45, Schreiben aus der Schweiz v. 26. 11. 1934 u. 6. 3. 1935, Schreiben Theils an Buber v. 12., 18., 21. u. 30.12. 1934,4.1., 26.3.u. 10. 4. 1935 . 113 MBA, Mappe 809: 44, Schreiben Theils an Buber v. 26. 3. 1935. 114 Ebenda; nur in einem Hallenser Arbeitskreis für Hausmusik konnte Theil seine »Sonate für 3 Blockflöten« – »ein kleines Meisterwerk polyphoner Kompositionskunst«, wie es in einer Zeitungsnotiz v. 11. 2. 1935 hieß – aufführen lassen (MBA, Mappe 809:51, 53). 115 MBA, Mappe 809: 55, Schreiben Theils an Buber v. 6. 5. 1936. 116 MBA, Mappe 809: 32, 35, Schreiben Theils an Buber v. 15. 12. 1933 u. 28. 5. 1934.

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denburg hingegen mit ihrem Mann in Berlin. Nach dessen Tod (1935) zog sie wieder nach Jena. Die Theils konnten die Berliner Wohnung nutzen. Denn die beiden Töchter heirateten: die jüngere Helfrid am 24. Oktober 1937 den Ingenieur Heinz Meinecke, die ältere Eveline am 17. August 1939 den Buchhändler Carl Souchay.117 Am 30. August 1938 wurde den Theils in Berlin ihr erstes Enkelkind geboren und nach Mutter und Urgroßmutter Helfrid genannt. Die schmalen Bezüge eines zwangspensionierten Studiendirektors reichten für eine solche Familie nicht aus. Die Weimarer Personalakte enthält zahlreiche Anträge Theils auf Beihilfe für seine Kinder.118 Nur das Haus- und Grundbesitzvermögen der Schwiegermutter und der Mutter Theils – zwei Häuser in der Beethovenstraße und Baugrundstücke – sicherte der Familie die wirtschaftliche Existenz. Geistig und sozial führte die Familie Theil das Leben »innerer Emigranten«. Darüber und über den Familienalltag geben vor allem Theils gerade in dieser Zeit zahlreiche Briefe an Martin Buber Aufschluss. In erster Linie suchte und fand Theil wohl Halt in seiner geistigen Welt, in der Musik, der Poesie, der Philosophie und im entsprechenden Briefwechsel mit Freunden – vor allem mit Buber, mit dem er ebenso fachsimpeln wie seine Sorgen teilen konnte. Als die Theils im Sommer 1936 wochenlang um Leben und Gesundheit ihres bei einem Unfall schwerverletzten Sohnes Peter bangten, schrieb Theil nahezu täglich lange Briefe an Buber.119 Der Abschied von dem zur Emigration entschlossenen Martin Buber fiel Theil – wie die Briefe 1937/38 – zeigen, äußerst schwer : das werde ein »Abschied, ernster und schwerer als je einer zuvor«.120 Der Erinnerungsbericht eines von 1935 bis 1937 bei den Theils wohnenden Philosophiestudenten aus befreundetem Hause121 beschreibt den Carl Theil jener Jahre als eine »Respektsperson im guten Sinne« und – anders als seine eher »unpathetisch« wirkende Ehefrau mit ihrem trockenen Humor – als »pathetische Natur«. Obwohl gelegentlich etwas »knurrig« und »unwirsch«, sei er doch ein »gütiger Herr« gewesen und habe eine »glückliche Hand mit der Jugend« gehabt.122 Zwar gab es Konflikte mit seinem ältesten Sohn Carl, der partout nicht studieren wollte. Doch akzeptierte Theil schließlich dessen Wunsch, Konditor zu werden. Als Carl am 12. Mai 1940 als erster der drei Söhne bei Dinant in Belgien fiel, hatte er bereits Hochzeitspläne.123 Für seinen gefallenen Sohn verfasste und Briefe Theils an Buber, Auskünfte des StAJ und von Frau Marietta Horn (Augsburg). ThHStAW, PABV, Nr. 31093. MBA, Mappe 809: 57 – 76, Schreiben Theils an Buber v. 16.06.–25. 08. 1936. MBA, Mappe 809: 84, Schreiben Theils an Buber v. 3. 5. 1937; der letzte Brief Theils an den abreisenden Buber stammt vom 07. 09. 1938. 121 Martin Ritzel: Erinnerungen aus den Jahren 1935 bis 1937 an das Haus Theil in Jena (1989), im Besitz von Frau Marietta Horn (Augsburg). 122 Ebenda. 123 Seine Verlobte gebar nach seinem Kriegstod einen Sohn, der Theils Nachnamen erhielt – Auskunft vom Urenkel Stefan Theil (Berlin).

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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veröffentlichte der Vater Carl Theil »Verse zum Gedenken eines Toten«,124 die zu den bewegendsten Totenklagen der Dichtkunst gehören. Der Tod seines Sohnes musste ihn umso mehr treffen, als Carl in einem Kriege ums Leben kam, den Theil als überzeugter Pazifist und Hitler-Gegner zutiefst verabscheute.

7.

Schule Schloss Salem 1941/44

Im Januar 1941 erhielt Theil die Möglichkeit, an der Privatschule Salem am Bodensee als Griechisch- und Lateinlehrer auf Schloss Hohenfels tätig zu werden.125 Die 1920 von Prinz Max v. Baden, Kurt Hahn und Karl Reinhardt gegründete Schule wurde von 1934 bis 1943/44 von Heinrich Blendinger (1881 – 1957) geleitet, der zwar NSDAP-Mitglied war und manche NS-Vorschriften und -Rituale einführte, grundsätzlich aber das Ziel verfolgte, den »Salemer Geist« und die pädagogischen Vorstellungen der Schulgründer zu wahren.126 Dazu passte, dass Blendinger dem mit Berufsverbot belegten Theil eine Arbeitsmöglichkeit bot und ihm offensichtlich auch in seiner Arbeit und im Unterrichtsstil freie Hand ließ. Aus den wenigen überlieferten Schriftstücken lässt sich nur schwer ein Bild der Salemer Zeit Carl Theils rekonstruieren, in der zudem sein zweiter Sohn Peter am 2. September 1942 an der Ostfront fiel. Erinnerungsberichte zeigen, wie Theil versuchte, seinen Unterricht von NS-Einflüssen frei zu halten. Theil – erinnert sich ein damaliger Salemer Schüler – grüßte niemals mit »Heil Hitler«. Er umging das elegant. Die Schüler grüßten zwar mit dem römischen Gruss, riefen aber dabei »Salve Magister Pars« (»Seien Sie gegrüßt, Lehrer Teil«).127 Zwei Vorgänge fallen auf. Der erste: Am 12. November 1942 fragte der NSPädagoge und SS-Sturmbannführer Bernhard Pein128 nach einer Inspektion der Salemer Schulen beim Thüringer Volksbildungsministerium an, ob man ihm etwas Näheres über Carl Theil berichten könne, den er bei der Hospitation einer Griechisch-Stunde erlebt habe. Vielleicht könne man angesichts des Lehrermangels und der Tatsache, dass Theil »zwei Söhne in diesem Kriege hergegeben hat«, seine mögliche Wiederverwendung im Schuldienst prüfen.129 Die Stel124 Carl Theil: Zwiesprache. Verse zum Gedenken eines Toten. Leipzig 1942. 125 PAAS, Sammelakte T_Mitarbeiter vor 45_. 126 Ruprecht Poensgen: Die Schule Schloß Salem im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), Hf. 1, S. 24 – 54. 127 Erinnerungen (wie Anm. 13). 128 Der SS- Unter-, dann Obersturmführer Bernhard Pein (1891 – 1970) war u. a. als Direktor des Ludwig-Meyn-Gymnasiums Uetersen, an der Wichernschule Hamburg und als Professor und Leiter der Hansischen Hochschule für Lehrerbildung tätig – vgl. http://www. uetersen-geschichte.de/index.php?id=6. [20. 05. 2014]. 129 ThHStAW, PABV, Nr. 31093, Bl. 227.

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lungnahme aus dem Thüringer Volksbildungsministerium war deutlich ablehnend: Theil sei vor 1933 politisch und pädagogisch in »fanatischer Weise« aufgetreten; ein solcher »Jugenderzieher« habe 1933 aus seinem Amte entfernt werden müssen; ob er sich seitdem gewandelt habe und man sich überhaupt mit seinem Fall befassen solle, müsse von der Berliner Parteikanzlei entschieden werden.130 Der zweite Vorgang: Im Frühjahr 1943 erkrankte der Salemer Direktor Blendinger so schwer, dass er arbeitsunfähig wurde. Vom 1. Juni 1943 bis zu den Weihnachtsferien 1943 vertrat Carl Theil den erkrankten Blendinger als Schulleiter.131 Der Markgraf Berthold v. Baden als Schulträger und ein Teil der Lehrerschaft hofften, die Privatschule Salem mit einer solch internen Lösung dem Zugriff der SS zu entziehen, die diese Schule zu einer »Deutschen Heimschule« unter SS-Aufsicht umbilden wollte. Für ein halbes Jahr leitete so der HitlerGegner Carl Theil die Geschicke der Schule – als eine »unbestechliche Säule im Sturm«, wie es eine Altsalemerin später formulierte.132 Der Plan ging freilich nicht auf. Das Lehrerkollegium war gespalten. Im Januar 1944 kam es doch zu der befürchteten externen Lösung: der SS-Obersturmführer Walter Schmitt wurde kommissarischer Schulleiter. Der von den Schicksalsschlägen der letzten Jahre und vom Verlust seiner beiden Söhne ohnehin schon schwer angeschlagene Carl Theil erkrankte. Seit Sommer 1944 hielt er sich wieder in Jena auf. Offiziell schied Theil am 14. Februar 1945 mit Wirkung vom 31. März 1945 aus dem Salemer Schuldienst.133

8.

Jenaer Universitätskurator 1945

In jenen Wochen des bald bevorstehenden Endes des NS-Regimes und des Krieges wurde das Jenaer Stadtzentrum durch Bombenangriffe (9. Februar bis 19. März 1945) weitgehend zerstört. Am 6. März 1945 kam Theils dritter Sohn Thomas ums Leben. Am 27. März verstarb seine Schwiegermutter Helfrid Ei130 Ebenda, Bl. 227 – 229v (hs. Entwurf); das badische Kultusministerium forderte im Oktober 1943 Theils Personalakte zur Einsicht an (ebenda, Bl. 230). 131 PAAS, Sammelakte T_Mitarbeiter vor 45_. 132 KHA–NO 8.1.1. (Salemer Feldpostbriefe Nr. 9 v. August 1943 u. Nr. 16 v. Januar 1944, Brief Altsalemer Bund v. 1. 2. 1944); Hildegard Disch: Die Schule Schloß Salem in den Jahren 1933 – 1945, in: Schule Schloß Salem (Salemer Hefte): Bericht über die Zeit von 1933 – 1948, Nr. 28/Sonderhf. April 1949, S. 13 f.; Aus der Rede des Markgrafen Berthold von Baden zur Wiedereröffnung der Schule Schloß Salem am 12. November 1945, ebenda, S. 18 – 20; Martin Kölling: »Eine Säule im Sturm«. Dr. Carl Theil (1886 – 1945) und Friedrich-Wilhelm von Sell, in: Salem. Das Magazin, Nr. 65/Dezember 2013, S. 19; bei Poensgen (Anm. 126) werden Carl Theil und seine Amtszeit als stellvertretender Schulleiter nicht erwähnt. 133 PAAS, Sammelakte T_Mitarbeiter vor 45.

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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genbrodt. Trotz dieser erneuten Schicksalsschläge dürften die Theils das Regime- und Kriegsende und den Einmarsch amerikanischer Truppen in Jena am 13. April 1945 mit Erleichterung aufgenommen haben. Die in Weimar entstehende Thüringer Provinzialregierung unter Hermann Brill, der der ebenfalls aus dem KZ Buchenwald befreite Kommunist Walter Wolf (1907 – 1977) als Regierungsdirektor für Volksbildung angehörte,134 wandte sich an Carl Theil und zog ihn zur Mitarbeit heran. Theil war keinesfalls gewillt, gerade jetzt die Hände in den Schoß zu legen. Bitter dürfte der Neubeginn für ihn und für den Rest seiner Familie dennoch gewesen sein. »Wir sind hier äusserlich wie im Frieden«, schrieb seine Frau Elisabeth am 24. Juni 1945 an ihre Urspungsfamilie in Obernsees, »das Haus, das ganze Stadtviertel unversehrt – aber sonst nur Leid.[…] – Wir hatten 17 Amerikaner im Haus – jetzt ist’s wieder leer – ach wie bitter leer seit auch Mutter am 27.3. eingeschlafen ist. – Überall kommen jetzt die Soldaten heim, nur bei uns bleibt es leer u. ich weiss nicht wie ich’s aushalten soll ohne meine drei Jungens. – Carl ist wieder in Tätigkeit (Ministerium) u. all das strömt uns zu (Rehabilitierung, befriedigende Arbeit u. gs. Einkommen), was wir uns gewünscht hätten um der Söhne willen u. das uns jetzt nur schmerzt.«135 Vom 1. bis 6. Juli 1945 (in Jena vom 2. bis 4. Juli) vollzog sich der alliiert vereinbarte Besatzungswechsel in Thüringen. Am 4./5. Juli führte eine Inspektionsgruppe der Sowjetischen Militäradministration Sondierungsgespräche in Jena.136 In einem nächtlichen Gespräch im Hotel »Ölmühle« traf sie sich am 5. Juli mit eilig zusammengerufenen Universitätsvertretern – dem kommissarischen Rektor Friedrich Zucker (Altphilologe), dem Pädiater Jussuf Ibrahim und den Wirtschaftswissenschaftlern Erich Preiser und Erich Gutenberg –, um Schritte zur möglichen Wiedereröffnung der Universität137 zu prüfen. Zu den Jenaer Teilnehmern dieser nächtlichen Beratung gehörte auch Carl Theil,138 der 134 Michael Eckardt: Zwischen Schule, Universität und Politik: Zum Wirken des kommunistischen Pädagogen Walter Wolf in Thüringen vor und nach 1945, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 48 (2006), Hf. 2, S. 81 – 94. 135 Schreiben im Besitz von Frau Marietta Horn (Augsburg). 136 Die Gruppe wurde von deutschlandpolitischen Experten geleitet: vom (zunächst noch stellvertretenden) Politischen Berater des SMAD-Chefs Wladimir Semjonowitsch Semjonow und vom Vertreter des sowjetischen Außenministeriums Andrej Andrejewitsch Smirnow; ihr schloss sich auch der aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurückgekehrte Walter Ulbricht als Vertreter des provisorischen Zentralkomitees der KPD an. 137 Wie überall im besetzten Deutschland waren die Schulen und Hochschulen Thüringens zu diesem Zeitpunkt bis zu ihrer Entnazifizierung für den Lehrbetrieb geschlossen; die Jenaer Universität wurde als eine der ersten deutschen Universitäten und als erste der sowjetischen Besatzungszone am 15.10. (Festakt) / 1. 12. 1945 (Lehrbetrieb) wiedereröffnet. 138 Über Inhalt und Teilnehmerkreis dieser Beratung geben nur ein Schreiben Zuckers an den kommissarischen Oberbürgermeister v. 7. 7. 1945 sowie der Gedächtnisbericht eines Teilnehmers v. 18. 4. 1958 Auskunft; beide abgedr. in: Jürgen John / Volker Wahl / Leni Arnold (Hg.): Die Wiedereröffnung der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1945. Dokumente und

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von dieser Beratung und von dem, was er von den Vorgängen an der Universität hörte, offenkundig den Eindruck bekam, dort werde nicht »nach vorn« gedacht und gehandelt, sondern nur versucht, Bisheriges zu sichern. Es sei bezeichnend – schrieb er am 19. Juli an Walter Wolf, der auch der neuen Landesverwaltung unter Rudolf Paul139 als Landesdirektor für Volksbildung angehörte –, dass in jener Nachtsitzung mit den russischen Offizieren der Prof. Ibrahim gleich danach gefragt habe, ob das alte Universitätsstatut aus der Zeit der »Ordnungsbund«-Regierung (1924) wieder in Kraft gesetzt werden könne. Die russischen Offiziere könnten unmöglich die näheren Zusammenhänge kennen und würden sich täuschen lassen. Sie hätten denn auch geantwortet: »Wenn aus der Zeit der Weimarer Republik, dann gut!«140 Theil empfahl Wolf mit diesem Brief, das 1922 abgeschaffte Kuratoramt wieder einzurichten. So könne man ein Gegengewicht gegen den Senat und den »Stahlhelm-Rektor« Zucker schaffen, der im unseligen Geiste früherer Kampagnen gegen Greil agiere. Tatsächlich hatte Friedrich Zucker (1881 – 1973) bis 1933 dem deutschnationalen »Stahlhelm« angehört.141 Sein jetziges Bemühen um die Universität erschien Theil als Fortsetzung früherer Universitätspolitik. »Wir kennen« – schrieb er Wolf – »jene unterirdischen Geheimkorrespondenzen zur Genüge aus der Ära Greil.« Dem müsse man einen Riegel vorschieben. »Errichten Sie also das Kuratoramt neu und betrauen Sie mich damit – meinetwegen vorübergehend«.142 Wolf leuchtete das ein. Am 20. Juli 1945 teilte er Zucker mit, Dr. Theil sei als Kurator für die Universität vorgesehen.143 Zucker war das überhaupt nicht recht. Er brachte einen Gegenkandidaten ins Spiel. Mit Rückhalt des Senats schlug Zucker den Oberlandesgerichtsrat Lothar Frede vor, der weitaus besser für das Kuratoramt geeignet sei.144 Theil habe zweifellos seine

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Festschrift. Rudolstadt / Jena 1998, S. 156 – 158, 417 – 421; am 6. 7. 1945 berichtete Zucker dem Senat lediglich, er habe mit hohen russischen Offizieren »Rücksprache über Universitätsfragen« gehabt – UAJ, Best. BB, Nr. 36, Bl. 23. Rudolf Paul (1893 – 1978), vor 1933 DDP, 1945 parteilos, 1946/47 SED; 1933/45 Berufsverbot, Mai 1945 Oberbürgermeister von Gera, 16. 7. 1945 – 01. 09. 1947 (Flucht in die US-Zone) Landes- bzw. Ministerpräsident von Thüringen. ThHStAW, ThVbM, Abt. C, Nr. 128, Bl. 54r+v, abgedr. in: John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 159 f. Helmut G. Walther (Hg.): Erinnerungen an einen Rektor. Friedrich Zucker (1881 – 1973). Rudolstadt / Jena 2001; ders.: Die ersten Nachkriegsrektoren Friedrich Zucker und Friedrich Hund, in: Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945 – 1990). Köln / Weimar / Wien 2007, Bd. 2, S. 1911 – 1928. Brief Theils an Wolf v. 19. 7. 1945, zit. nach John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 159. UAJ, Best. BB, Nr. 24, Bl. 4r+v ; abgedr. in: John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 161 f. UAJ, Best. BB, Nr. 36, Bl. 24r+v, 26r+v (Senatsprotokolle v. 8. u. 13. 7. 1945); ThHStAW, MfV, Nr. 169, Bl. 79 (Schreiben Zuckers an Wolf v. 20. 7. 1945). Dr. jur. Lothar Frede (1889 – 1970) war von 1922 bis 1933 Referent für das Thüringer Gefängniswesen im Justizministerium, seit 1933 Oberlandesgerichtsrat und NSDAP-Mitglied, von 1945 bis 1949 Rechts-

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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Verdienste als Philologe und Lehrer, aber keine Verwaltungserfahrungen und stehe der Universität eher fern gegenüber.145 Wolf blieb bei seiner Entscheidung. Am 2. August ließ er Zucker mitteilen, der Oberlandesgerichtsrat Frede komme wegen seiner einstigen NSDAP-Mitgliedschaft nicht als Kurator in Frage.146 Theil trat dieses Amt an. Zucker blieb nichts weiter übrig, als das zu akzeptieren und sich auf einen Kurator einzustellen, der aus einer völlig anderen Denk- und Verhaltenstradition kam und in der NS-Zeit Berufsverbot hatte. Es entbehrt nicht der Ironie, wenn Zucker am 17. August in einem Schreiben an Wolf, in dem er sich darüber beklagte, dass Wolf tags zuvor in einem Vortrag von den »Verbrechen der Wehrmacht« gesprochen hatte, ausgerechnet auf Theils Schicksal verwies: »Ich kann es nicht glauben, daß Sie diejenigen unter uns, die ihre Söhne dahingegeben haben – ich selbst habe meinen einzigen Sohn verloren, und was soll Herr Kurator Theil wenn ich ihn nennen darf, sagen, der seine drei Söhne hat opfern müssen? – daß Sie den Angehörigen all der zahllosen Gefallenen ihren Schmerz unerträglich machen wollen durch jenen Vorwurf gegen die Toten.«147 Auch hier prallten Welten aufeinander. Der frühere KZ-Häftling Wolf antwortete Zucker denn auch, er verstehe seinen Schmerz als Vater. Doch habe die Wehrmacht nun mal den verbrecherischen Krieg Hitlers geführt.148 In welcher Weise Theil das Kuratoramt in den wenigen Wochen bis zu seinem Tode am 25. August führte, lässt sich aus den überlieferten Akten allenfalls bruchstückhaft erkennen.149 Als »seelisch gebrochen« und deshalb handlungsunfähig150 erscheint er darin jedenfalls nicht. Er verhandelte mit Stadt- und Landesverwaltung, kümmerte sich um Wiederaufbau, Entnazifizierung, Wiedereröffnung und Semestervorbereitung der Universität, setzte sich für den von sozialistischen Studenten gebildeten provisorischen Studentenausschuss ein151

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anwalt und Notar in Weimar, im Juni/Juli kommissarischer Leiter des Oberlandesgerichtes Jena (und bis 1946 nebenamtlicher Referent in der Gesetzgebungsabteilung beim Landespräsidenten). UAJ, Best. BB, Nr. 24, Bl. 5 – 8 (Schreiben Zuckers an Wolf v. 30. 7. 1945), abgedr. in: John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 167 – 170. ThHStAW, MfV, Nr. 3225, Bl. 7 (Entwurf). Abgedr. in: John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 176 f., Zitat S. 177. Antwortschreiben Wolfs an Zucker v. 24. 8. 1945, ebenda, S. 177 f. Theils Personalakte im UAJ (Best. D, Nr. 2876) enthält nur wenige Blätter, v. a. Einstellungsunterlagen und Briefwechsel zu Witwen- und Hinterbliebenenbezügen sowie einen kurzen Presse-Nachruf. Vgl. Anm. 6. John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 172 f. (Schreiben des Ausschuss-Vorsitzenden Rolf Lindig an Kurator Theil v. 9. 8. 1945), S. 327 – 329 (Erklärung Lindigs v. 24. 10. 1945 über die Bildung des Ausschusses unter Leitung Theils); StAJ, F 30 (Büro des Oberbürgermeisters/ Allgemeiner Schriftwechsel), Bd. 2, Bl. 153 (411) (Schreiben Lindigs an den Rektor v. 19. 9. 1945 über seine Mitarbeit im Ausschuss auf Bitten Theils); vgl. auch Robert Gramsch: Der

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Jürgen John

und unterstützte Rektor, Senat und Oberbürgermeister bei ihren – letztlich vergeblichen – Versuchen, die vom Landespräsidenten Paul betriebene Verlegung des Oberlandesgerichtes von Jena nach Gera zu verhindern.152 Nach Theils Tod schrieb der Oberbürgermeister Heinrich Troeger (1901 – 1975) an die Witwe, wie sehr ihn dieser plötzliche Tod des Kurators getroffen habe, »der das volle Verständnis für gemeinsame Aufgaben bei dem Wiederaufbau von Jena mitbrachte« und so ein »fruchtbares Zusammenwirken zwischen der Universität und der Stadtverwaltung« gewährleistete; Theil sei »als Mensch und Erzieher« ein Vorbild gewesen.153 Dass sich der gesundheitlich bereits angeschlagene Theil mit all diesen Aktivitäten übernahm, ist anzunehmen. Sein Tod kam aber doch überraschend.154 Auf der stark besuchten Trauerfeier sprachen ein – namentlich nicht genannter – »Freund des Toten«, ein Sprecher ehemaliger Schüler Theils, ein Vertreter der Landesverwaltung, der Oberbürgermeister, Rektor Zucker, der Theils große Verdienste beim Wiederaufbau der Universität betonte – natürlich ohne zu erwähnen, dass er Theil eigentlich als Kurator verhindert wollte – und ein Vertreter des Antifaschistischen Jugendausschusses, der Theil als »Freund der Jugend und der Studenten« würdigte. »Im Herzen seiner Freunde und Mitbürger wird sich Dr. Theil ein dauerndes Andenken bewahren«, schloss der Pressebericht über die Trauerfeier auf dem Nordfriedhof. »Auch die jungen Studenten, denen er neue Wege wies, werden ihn nie vergessen.«155 Für Theils Witwe Elisabeth war das kaum ein Trost. Nun hat das Schicksal – schrieb sie am 16. November 1945 an ihre Schwester – »auch noch meinen Lebensgefährten genommen. Unbarmherzig! – Besonders schwer traf mich dieses, da die letzten Monate erfüllt waren von der grössten Gemeinschaft – so innig haben wir zusammen gelebt u. gearbeitet wie kaum vorher in den 33 Jahren. […] Es war so schön mitzuerleben, wie Carl an seine neue Arbeit heranging – wie alle guten starken Kräfte in ihm wach wurden nach den letzten Jahren des Abseitsstehens. […] Und dann in

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Jenaer Studentenausschuß und die Wiedereröffnung der Friedrich-Schiller-Universität 1945, in: John u. a.: Die Wiedereröffnung, S. 103 – 114. BArchB, DP 1, Nr. 16, Bl. 2r+v (Besprechung zwischen Kurator Theil, Oberbürgermeister Heinrich Troeger und Landgerichtsdirektor Dr. Bloch in Gera am 11. 8. 1945); StAJ, B III 1a, Nr. 98 (Besprechung zwischen Oberbürgermeister Troeger, Kurator Theil und Landesdirektor Wolf am 16. 8. 1945). StAJ, F 30, Bd. 2, Bl. 71 (327); das Kondolenzschreiben enthält kein Datum. Theils Nachfolger als Kurator der Jenaer Universität wurde vom 1. 10. 1945 bis 14. 8. 1946 der 1946 habilitierte Physiker, Philosoph, Wissenschaftstheoretiker und Publizist Max Bense, 1946/48 Professor für philosophische und wissenschaftliche Propädeutik an der Sozialpädagogischen Fakultät der Jenaer Universität – vgl. Michael Eckardt: »… sich in die wissenschaftliche Welt allerbestens einführen können.« Max Bense, Walter Wolf und Georg Klaus zwischen Kooperation und Konflikt an der Universität Jena in den Jahren 1945 bis 1949, in: Hoßfeld u. a.: Hochschule im Sozialismus, Bd. 2, S. 1929 – 1970, hier S. 1931 – 1936. Bericht auf der Lokalseite der »Thüringer Volkszeitung« v. 2. 9. 1945.

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Carl Theil (1886 – 1945). Reformpädagoge – Sozialist – Universitätskurator

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wenigen Tagen alles aus. […] Und nun bin allein in diesem Haus, das immer ein ›Haus des Lebens‹ war – unvorstellbar allein.«156 Elisabeth Theil starb am 7. Februar 1946 mit 52 Jahren.

156 Schreiben im Besitz von Frau Marietta Horn (Augsburg).

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Wolfgang Müller

»Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität« – eine gerade entdeckte Denkschrift Eugen Meyers über den »Ausbau einer neuen deutschen Universität im Westen des deutschen Kulturbodens«

Während gegenwärtig in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion des von der Regierung des Saarlandes erbetenen Gutachtens des Wissenschaftsrates über die »Weiterentwicklung des Hochschulsystems im Saarland« geführt wird, zeigt ein Blick in die Geschichte der Universität des Saarlandes, wie seit ihren Anfängen intensiv und durchaus kontrovers ihr Profil und die mit ihrer Gründung verbundenen politischen Ziele ebenso erörtert wurden wie die verschiedenen Entwicklungspläne oder die Struktur- und Sparvorschläge seit den 90er Jahren. Zeitgeschichtlich besonders reizvoll erscheinen die Auswirkungen des durch das Ergebnis der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 ausgelösten politischen Umbruchs an der Saar mit seinen Konsequenzen für die Universität und damit ihren Weg von der »europäischen« zur Landesuniversität. Dieses facettenreiche Themenfeld ist bereits aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet worden.1 Eine gerade von Archivdirektor Michael Sander2 im Bestand Staatskanzlei des Landesarchivs Saarbrücken in der Akte »Universität des Saarlandes und kulturelle Wünsche Frankreichs an der Saar« ermittelte Denkschrift »Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität« bietet dazu jetzt weitere markante Impressionen und teils verblüffende Bewertungen eines prominenten Autors. Verfasst hat dieses 16-seitige, am 30. April 1956 abgeschlossene Memorandum der Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität des Saarlandes, Begründer der »Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung« und parteilose Direktor des Ministeriums für Kultus, Unterricht und Volksbildung im zweiten Kabinett Johannes Hoffmann sowie in den Kabinetten

1 Vgl. dazu Wolfgang Müller: Die Universität des Saarlandes in der politischen Umbruchsituation 1955/56, in: Rainer Hudemann / Burkhard Jellonek / Bernd Rauls (Hg.): Grenzfall: Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945 – 1960 (Schriftenreihe Geschichte, Politik und Gesellschaft der Stiftung Demokratie Saarland Band 1). St. Ingbert 1997, S. 413 – 425. Die Schreibweise der Quellenzitate folgt strikt dem Original. 2 Ich danke ausdrücklich meinem langjährigen Kollegen für seinen Hinweis auf diese Akte mit der Signatur LA SB StK 1067.

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Wolfgang Müller

Welsch und Ney, Eugen Meyer.3 Am 17. Februar 1893 in Püttlingen geboren, hatte er Geschichte sowie deutsche und lateinische Philologie in Heidelberg und Berlin studiert und war 1920 in der Reichshauptstadt bei Michael Tangl nicht nur mit einer Studie über »Die Pfalzgrafen der Merowinger und Karolinger« promoviert worden, sondern hatte auch das Staatsexamen für das höhere Lehramt in Geschichte, Deutsch und Latein abgelegt. Nach dem Examen für den wissenschaftlichen Archivdienst 1921 wirkte er zunächst am Geheimen Staatsarchiv sowie als Dozent am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Weiterbildung. 1932 wurde er zum Direktor des Staatsarchivs Münster und 1939 zum außerordentlichen Professor für Hilfswissenschaften auf den Lehrstuhl seines Lehrers Tangl an der Preußischen Friedrich-WilhelmsUniversität berufen. Seit 1942 mit der Edition der Diplomata Ludwigs des Frommen durch den Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica beauftragt4 und seit 1946 ordentlicher Professor für Historische Hilfswissenschaften an der Berliner Universität, folgte er 1948 – zunächst als Gastprofessor – dem Ruf der gerade gegründeten Universität seiner saarländischen Heimat und wurde dann 1951 aus dem Lehrkörper der Humboldt-Universität entlassen. Gegenüber seinem Studienfreund Ernst Posner hatte er seine nicht zuletzt durch die BerlinKrise 1948 beschleunigten Überlegungen zur Rückkehr an die Saar nach den Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Heimweh sowie der Sehnsucht nach Ruhe und den »heimatlichen Wiesen und Kartoffeläckern« begründet.5 Auch in seiner Korrespondenz mit dem Kultusministerium des Saarlandes betonte er seine Heimatverbundenheit und verwies auf die 3 Vgl. Wolfgang Müller : Die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung. Eine bio-bibliographische Übersicht, in: Brigitte Kasten (Hg.): Historische Blicke auf das Land an der Saar. 60 Jahre Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Band 45). Saarbrücken 2012, S. 589 – 591. Außerdem die Nekrologe: Hans-Walter Herrmann: Eugen Meyer 1893 – 1972. Eine biographische Skizze, in: Saarheimat 1973/17, S. 74 – 79. Alfons Becker : Eugen Meyer †, in: Historische Zeitschrift 1973/217, S. 252 – 254. 4 Vgl. Peter Johanek: Probleme einer zukünftigen Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen, in: Peter Godman / Roger Collins (Hg.): Charlemagne’s Heir. Oxford 1990, S. 409 – 424. Gegenwärtig widmet sich der Bonner Mediävist Prof. Dr. Theo Kölzer diesem Arbeitsfeld. Vgl. unter anderem Theo Kölzer : Kaiser Ludwig der Fromme (814 – 840) im Spiegel seiner Urkunden (Vorträge Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften G Geisteswissenschaften Band 401). Paderborn 2005. 5 Vgl. Wolfgang Müller : »Eine Pflegestätte des Geistes, der die Enge zu überwinden sucht und nach europäischer Weite strebt.« – Impressionen zur Geschichte der Universität des Saarlandes, in: Bärbel Kuhn / Martina Pitz / Andreas Schorr (Hg.): ›Grenzen‹ ohne Fächergrenzen. Interdisziplinäre Annäherungen (Annales Universitatis Saraviensis Philosophische Fakultäten Band 26). St. Ingbert 2007, S. 265 – 302. Vor allem 3. »Einen Weg zur Überwindung von Grenzen zu finden«- Die Berufung Eugen Meyers an die Universität des Saarlandes 1948 – 1950, S. 287 – 299. Zitat S. 293.

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»Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität«

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»kulturpolitische Aufgabe, die von größter Bedeutung für die Zukunft nicht nur unserer engeren Heimat sein wird, die Aufgabe, endlich einen Weg zur Überbrückung von Grenzen zu finden, die von der Geschichte gezogen wurden, für deren Überwindung aber die Zeit reif ist in den Augen aller, die guten Willens sind. Und ich glaube, daß zur Mitarbeit an der Lösung dieser Aufgabe ein Saarländer geeigneter sein könnte, als mancher andere, der vielleicht nicht in gleicher Weise die Fragwürdigkeit aller politischen Gebilde und der nationalen Phraseologie am eigenen Leibe erlebt hat wie wir. Hierbei mitzuhelfen, dem heranwachsenden akademischen Nachwuchs klar zu machen, daß die Menschen diesseits und jenseits der Grenzen heute vom Schicksal vor einen Wagen gespannt sind, und daß wir versuchen müssen, vom Geiste her zu einem Miteinandergehen zu gelangen, dazu fühle ich mich berufen, und ich glaube, daß die Zukunft uns dabei einmal recht geben wird.«6

1950 wählte ihn die Philosophische Fakultät, in der er mit dem Altgermanisten Josef Quint, dem Althistoriker Jacques Moreau, dem Philosophen Bela von Brandenstein oder dem Kunsthistoriker Adolf Schmoll genannt Eisenwerth enge Verbindungen pflegte,7 als ihren Repräsentanten in den eher als Konsultationsund weniger als Entscheidungsgremium einzuschätzenden Universitätsrat. Am dritten Jahrestag der Verfassung des Saarlandes, am 15. Dezember 1950, beschwor Meyer als »Bürger der ersten europäischen Universität« die Aufgabe, »dem Vaterland Europa den Weg zu bereiten«.8 1951/1952 agierte er als parteiloser Direktor des Ministeriums für Kultus, Unterricht und Volksbildung im zweiten Kabinett Johannes Hoffmann. Am 23. April 1951 beglückwünschten der französische Rektor der Universität Prof. Joseph-FranÅois Angelloz, der Dekan der Philosophischen Fakultät Prof. Laurent Champier und der Präsident der Studentenschaft Hermann Weiand Meyer bei einem Empfang in der Aula zu seinem neuen Amt. Interessanterweise betonte der Rektor dabei, »dass das hiesige Volk, so wie sie selbst, deutscher Abstammung und deutscher Sprache sind und […] Sie diesem Lande nicht untreu werden. Sie wissen ja, daß dieses Saarland nicht der Gefahr der Entdeutschung ausgesetzt ist, und durch die französische Bildung bereichert, dazu berufen ist, ein einzigartiges Land der Synthese und der Zusammenarbeit zu werden, wenn alle den Mut dazu besitzen.«

In seinen Dankesworten bekundete Meyer seine Absicht, »sein Programm auf einer europäischen Basis in abendländisch-christlicher Tradition aufzubauen.«9 Allerdings scheute Meyer in seinem neuen Amt nach Heinrich Küppers »den

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Ebenda, S. 290. So Hans-Walter Herrmann: Eugen Meyer (wie Anm. 3), S. 76. Der entsprechende Artikel befindet sich in UniA SB PA Meyer, Eugen. Vgl. Empfang des Direktors des Kultusministeriums, Prof. Dr. E. Meyer, in der Universität, in: UniA SB PA Meyer, Eugen. Der Bericht über den Empfang am 23. April 1951 wurde auch in das »Mitteilungsblatt« der Universität aufgenommen.

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Wolfgang Müller

politischen Konflikt ebenso wie die politische Entscheidung«, und es gingen von ihm keine »bildungspolitischen Impulse« aus, abgesehen »von der von ihm veranlaßten überfälligen Entschärfung des Zentralabiturs und der Annäherung des universitären Prüfungswesens an deutsche Traditionen sowie von seinen Initiativen zur Bildung einer Kommission für saarländische Landesgeschichte«.10

Vor der Neuwahl des Dekans der Philosophischen Fakultät im Sommer 1953 war intern bekannt geworden, »que M. Eugen Meyer d¦sirait beaucoup devenir doyen. Ce go˜t bizarre m’¦tonne et me navre«, kommentierte der Professor für Alte Geschichte Jacques Moreau.11 Doch nach Beratungen mit einigen Kollegen unterstützte Meyer die Wahl Moreaus, der dann in einer bewegten Zeit bis 1957 die Philosophische Fakultät leiten sollte. Zweieinhalb Jahre später, am 2. November 1955, informierte Moreau in seiner vertraulichen Korrespondenz seinen ihm freundschaftlich verbundenen Amtsvorgänger als Dekan, den Professor für Neuere Geschichte Jean-Baptiste Duroselle, über die Eröffnung des Wintersemesters und bemerkte: »La rentr¦e universitaire aura lieu le mardi 8, inutile de vous munir d’une cotte de mailles. Pour l’instant, les FranÅais sont encore bien vus. Avec Eugen au MinistÀre, les solutions violentes me paraissent peu vraisemblables.«12

10 Heinrich Küppers: Bildungspolitik im Saarland 1945 – 1955 (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Band 14). Saarbrücken 1984, S. 206. Vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Hans-Walter Herrmann: Eugen Meyer (wie Anm. 3), S. 77. Meyer hatte demnach das Amt unter anderem nur unter den Bedingungen übernommen, weiter an der Universität lehren zu können und dass mit dem Amt kein Eintritt in die Christliche Volkspartei und nicht der Titel eines Ministers verbunden sei. – Zu Meyers Rolle bei der Gründung der Kommission für Saarländische Landesgeschichte Kurt-Ulrich Jäschke: Die Gründungszeit der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, in: Hans Walter Herrmann / Rainer Hudemann / Eva Kell (Hg.): Forschungsaufgabe Industriekultur. Die Saarregion im Vergleich (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Band 37). Saarbrücken 2004, S. 23 – 56. Außerdem jetzt auch Maria Elisabeth Franke: Die Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 1951/1952 – 2012, in: Brigitte Kasten (Hg.): Historische Blicke auf das Land an der Saar. 60 Jahre Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Band 45). Saarbrücken 2012, S. 15 – 37. 11 UniA SB Sammlung Duroselle. Korrespondenz Moreau an Duroselle 6. Mai 1953. Zu Jacques Moreau ausführlich Wolfgang Müller : »Le ma„tre qui repr¦sente si dignement l’humanisme belge — l’Universit¦ Europ¦enne de la Sarre« – Jacques Moreaus Wirken an der Universität des Saarlandes, in: Klaus-Martin Girardet (Hg.): »50 Jahre Alte Geschichte« an der Universität des Saarlandes (Universitätsreden 47). Saarbrücken 2001, S. 59 – 83. 12 Ebenda, Korrespondenz Moreau an Duroselle 2. November 1955.

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»Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität«

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Denn nach dem durch den Ausgang der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 und der Absage der Saar-Bevölkerung an eine Europäisierung ausgelösten politischen Machtwechsel übernahm Eugen Meyer im Kabinett Heinrich Welsch und bis zum März 1956 auch im Kabinett Hubert Ney erneut die Aufgabe als parteiloser Direktor im Ministerium für Kultus, Unterricht und Volksbildung. Er hatte sich selbst zur »Ablehnung des Statutes entschieden«, jedoch keinen entsprechenden Aufruf unterzeichnet und in einer kulturpsychologisch interessanten Interpretation das »klare Ergebnis des Referendums begrüßt, […] weil es erlaubte, die Hinneigung zu französischer Kultur und Lebensart […] säuberlich von der p¦n¦tration culturelle zu scheiden« und er nun nach seiner Meinung »wieder mit Anstand frankophil sein« konnte.13 Im Zeichen aufflackernder publizistischer und politischer Diskussionen um die künftige Struktur oder eventuelle Schließung der Universität setzten Eugen Meyer und sein als parteiloser Minister für Finanzen und Forsten agierender Professoren-Kollege Adolf Blind ein politisches Signal. Bei der traditionellen Immatrikulationsfeier zu Beginn des neuen Wintersemesters am 8. November begleiteten sie den französischen Rektor Angelloz Seite an Seite und bekannten sich damit als Repräsentanten der neuen Regierung zur Universität. In einem Vortrag vor der Katholischen Hochschulgemeinde der Universität reflektierte Meyer am 23. November – und damit einen Monat nach dem Referendum – über »Wesen und Wert der Hochschulausbildung«. Dabei diagnostizierte er »eine tiefe und gesellschaftliche Krise« der »abendländischen Gegenwart« sowie einen aktuellen Kulturzerfall und widmete sich den Herausforderungen für die Ausbildung der künftigen Akademiker, wobei die Universität für die Studierenden die »größtmögliche Freiheit der Forschung, der Lehre und des Lernens« anstreben müsse. Abschließend erinnerte der Referent an die Gründung der Sorbonne vor 700 Jahren, an der »das Nationale stark zugunsten einer allgemeinen abendländischen Bildungstradition in den Hintergrund getreten« sei. »Auch die Universität des Saarlandes habe eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen. Sie, an der Nahtstelle zweier Völker gelegen, sei dazu berufen, über die Grenzen hinaus zu gehen und zu empfangen und somit einen besonderen Beitrag zur Erhaltung dieser europäischen Bildungstradition zu leisten.«14

Bei einem Presseempfang für pfälzische Journalisten drei Tage später wertete Meyer privatim das Ergebnis der Volksabstimmung als Zeichen, »daß das Volkstum eine Grundtatsache sei, die man nicht einfach umgehen könne. Die Saar sei bisher immer nur Objekt der Politik gewesen.« Außerdem bezeichnete 13 Vgl. Hans-Walter Herrmann: Eugen Meyer (wie Anm. 3), S. 77. 14 F.B.: Europäische Bildungstradition erhalten! Professor Meyer sprach über Wesen und Wert der Hochschulausbildung, in: Saarländische Volkszeitung 26. November 1955.

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Wolfgang Müller

er das Referendum als »eine Unsittlichkeit […] Denn wenn sich nicht einmal die Experten über seinen Inhalt hätten einigen können, dann sei es eine ungerechtfertigte Zumutung gewesen, das Statut dem Volk zur Entscheidung vorzulegen.« Intensiver beleuchtete er die Situation der Universität des Saarlandes, an die »große europäische«, jedoch »nicht erfüllte« »Hoffnungen geknüpft worden […] seien«. Gleichwohl sei die »Universität keineswegs »erfolglos geblieben« und habe »sich mit ihrem internationalen Lehrkörper relativ vernünftig entwickelt, wenngleich ein Weiterbestehen in der gegenwärtigen Struktur kaum noch tragbar sei. Man müsse den Anschluss an die deutsche Universitäts-Tradition, die vom Humanismus eines Humboldt begründet worden sei, finden. Dazu gehöre vor allem die Autonomie der Hochschule, die freie Wahl des Rektors, die Gestaltung des akademischen Lebens von den Fakultäten her und vor allem Freiheit der Forschung, der Lehre und des Studiums. Der Student soll sich ohne festen Lehrplan am Schluss eines freien Studiums als Akademiker ausweisen. Die Universität müsse vor einem Fachschul-Betrieb bewahrt bleiben. – Die Existenz einer Hochschule an der Saar sei sehr wohl berechtigt. Sie biete besonders den Kindern einer zahlreichen, auf engem Raum konzentrierten Bergarbeiter-Bevölkerung die Möglichkeit des billigen Studiums an Ort und Stelle. Bei der internationalen Zusammensetzung des Lehrkörpers könne die Hochschule aber auch weiterhin eine Keimzelle der Supranationalität bleiben. Wichtig für dieses Industrie-Gebiet sei vor allem aber eine Technische Fakultät.15 Meyer hatte damit zentrale Reformforderungen für die künftige Universitätsstruktur aufgenommen, die er in seinem Memorandum vom April 1956 noch weiter begründen und zuspitzen sollte. Unter dem Motto »Universität in deutsche Hände« griff auch die »Deutsche Saar«, die den prodeutschen Parteien während des Abstimmungskampfes als publizistische Speerspitze gegen das Hoffmann-Regime gedient hatte, die Ausführungen Meyers beim Presseempfang auf. Aus der Perspektive der »Deutschen Saar« war die Hochschule keine europäische Universität, sondern »ein ausgesprochen französisch-separatistisches Kulturinstrument«. Deutsche Professoren an der Saar-Universität strebten schon lange an, »den deutschen Einfluß zu verstärken und die französische Vorherrschaft in der Verwaltung und bei der personellen Besetzung der Universität zu beseitigen. Es ist damit zu rechnen, daß in Kürze ein Arbeitskreis der deutschen Professoren in Zusammenarbeit mit der vorwiegend deutschen Studentenschaft und dem saarländischen Kultusministerium Vorschläge zu einer stufenweisen Reform ausarbeitet […] Alle Reformpläne aber werden auf den Willen der deutschen Saarbevölkerung Rücksicht 15 Prof. Meyer : Saar-Universität nötig – Aber Anschluß an die deutsche Hochschul-Tradition, in: Neueste Nachrichten 28. November 1955.

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»Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität«

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nehmen müssen. Und die Deutschen an der Saar fordern über die Neuordnung von Einzelfragen hinaus eine deutsche Universität, wie sie auf deutschem Boden mit einer ausschließlich deutschen Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit darstellt. Die Autonomie der Universität, die Einrichtung einer Senatsverfassung, die Wahl des Rektors durch die Fakultäten sind Forderungen, über die kein Wort zu verlieren ist. Das Wesentliche aber ist, daß der deutsche Charakter der Universität gewahrt oder richtiger : endlich hergestellt wird, daß der Zwang der Zweisprachigkeit und die Unterwerfung der deutschen Studenten unter die fremdartige französische Prüfungsordnung fortfällt und die fast monopolartige Machtstellung der Franzosen im Verwaltungsrat beseitigt wird. […] Es darf kein Zweifel daran bestehen, daß ein neues Universitätsstatut trotz einer vertretbaren Hinzuziehung anerkannter ausländischer Professoren für eine deutsch-saarländische Universität erarbeitet werden muß, für eine Universität, die in erster Linie für die deutschen Studenten da ist.«16

In der Sitzung der Philosophischen Fakultät am 15. Dezember 1955, an der Eugen Meyer nicht teilnahm, erörterte das Gremium ausführlich die »Zukunft der Universität« und bejahte einmütig den Wunsch, »daß der gegenwärtige internationale Charakter der Universität und Fakultät beibehalten wird«.17 In Anwesenheit Meyers folgten dann am 2. Februar 1956 »die nicht-französischen Mitglieder der Fakultät […] mit lebhaftem Beifall dem Antrag von Herrn Dekan, indem sie ihre tiefe Entrüstung über die Anwürfe18 ausdrücken, die von gewissen Saarbrücker Zeitungen gegen die französischen Kollegen erhoben werden. Sie bedauern diese Auswüchse auf das lebhafteste und versichern die französischen Kollegen ihrer lebhaften Sympathie.«19

Während die publizistischen Debatten um die zukünftige Orientierung der Universität an Schärfe zunahmen, erörterten auch verschiedene Universitätsgremien und Gesprächskreise – etwa der Juristischen Fakultät – Ideen zur Reform der Universitätsverfassung.20 Flankiert von begleitenden Voten international renommierter Wissenschaftler wie Adolf Butenandt, Otto Hahn, Henri Gregoire oder Joseph Vogt präsentierten Mitte März 1956 die aus den neutralen, nicht aus den am Saarkonflikt beteiligten Ländern kommenden Dozenten und Professoren eine durch den Physiologen Robert Stämpfli initiierte Denkschrift zur »Wahrung des übernationalen Universitätscharakters«21. 16 Manfred Kirschner: Saar-Universität in deutsche Hände. Forderungen der Saarbevölkerung – Rektor Angelloz erörterte Reformpläne, in: Deutsche Saar 15. Dezember 1955. 17 UniA SB Protokoll der Philosophischen Fakultät 15. Dezember 1955, S. 4 – 5, Zitat S. 5. 18 Im Original »unflätigen« gestrichen. 19 UniA SB Protokoll der Philosophischen Fakultät 2. Februar 1956, S. 5. 20 Vgl. Werner Maihofer: Vom Universitätsgesetz 1957 bis zur Verfassungsreform 1969. Persönliche Erinnerungen an eine bewegte Zeit der Universität des Saarlandes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 1996/22, S. 373 – 403. Vor allem S. 373 – 387. 21 Vgl. ausführlich Wolfgang Müller: »Nur unter Beibehaltung des übernationalen Universitätscharakters. Eine Denkschrift über die Universität des Saarlandes 1956, in: Wolfgang

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Wolfgang Müller

Wenige Tage später, am 26. März 1956, widmete sich der saarländische Ministerrat der »Frage der zukünftigen Gestaltung der Universität«22 und vertrat dabei »grundsätzlich die Auffassung, dass die bisher als europäische Einrichtung geführte saarländische Universität zukünftig als Deutsche23 Universität auszurichten und demgemäss ihre Verfassung neu auszuarbeiten ist. Das schliesst jedoch nicht aus, dass im Rahmen der Universität die Institute eingerichtet werden, die notwendig sind, Lehre und Forschung in Richtung auf eine europäische Zusammenarbeit durchzuführen.«

In markanter Abgrenzung zu den bisherigen Gepflogenheiten engte man dabei aber gleichzeitig das mögliche Engagement ausländischer Wissenschaftler massiv ein. Denn: »Ausländischen Gastprofessoren steht die Universität zur Mitarbeit an diesem Ziel jederzeit offen, jedoch wird ihre Verwendung in führender Stelle, z. B. als Institutsdirektoren, allgemein als nicht erwünscht angesehen, insbesondere wenn qualifizierte deutsche Universitätsprofessoren gewonnen werden können.«

Insgesamt betrachtete es der Ministerrat als »dringend erforderlich, dass unverzüglich ein Plan über die zukünftige Arbeitsgestaltung der Universität unter Berücksichtigung der […] aufgezeigten Richtung ausgearbeitet wird, der die Grundlage für die von der Regierung zu treffenden Massnahmen bilden soll.«

Mit diesem binnen 25 Tagen bis zum 30. April vorzulegenden Gutachten beauftragte man – verbunden mit einem Honorar von 100.000 Franken – den Ende März als Direktor im Ministerium für Kultus, Erziehung Volksbildung ausgeschiedenen Professor Eugen Meyer. Meyer informierte übrigens auch Rektor Angelloz über seinen »Sonderauftrag« der »Bearbeitung der z. Zt. diskutierten Probleme unserer Universität« und freute sich, »damit noch weiter im Sinne der Erhaltung und Ausgestaltung unserer Universität arbeiten« zu können.24 Unter dem Titel »Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität« entwickelte er auf 16 Seiten seine Betrachtungen25 und verwies dabei auf seine

22 23 24 25

Haubrichs / Wolfgang Laufer / Reinhard Schneider (Hg.): Zwischen Saar und Mosel. Festschrift für Hans-Walter Herrmann zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Band 24). Saarbrücken 1995, S. 473 – 485. Vgl. die folgenden Zitate aus LA SB Staatskanzlei Nr. 1067. Aufzeichnung vom 5. April 1956 und Auszug aus der 13. ordentlichen Sitzung des Ministerrats vom 26. März, fortgesetzt am 28. März 1956. Großschreibung im Original. Meyer an Rektor Angelloz 12. April 1956. UniA SB PA Meyer. Die erwähnten Anlagen wie der Entwurf einer neuen Verfassung der Universität, der Text des Memorandums der neutralen Saarbrücker Hochschullehrer, die Unterlagen über die gerade in Straßburg diskutierten Vorschläge und die Schreiben deutscher und ausländischer

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»Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität«

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Gespräche mit Saarbrücker und Bonner Regierungsstellen sowie deutschen und verschiedenen aus den neutralen Ländern kommenden Professoren der Universität des Saarlandes. Wie die amtierende Regierung Ney bekannte er sich grundsätzlich zum Erhalt der Universität, forderte aber gleichzeitig, dass »die Rechtsgrundlage der Universität, ihre innere und äußere Organisation und ihr Betrieb wesentliche Änderungen erfahren müssen«.26 In einer umfangreichen »Vorbemerkung« erschien Meyer »die Erhaltung einer Hochschule im saarländisch-moselländischen Raum, im Grenzgebiet der deutschen gegen die romanische Kultur […] sinnvoll und kulturpolitisch bedeutsam«. Denn »sie sollte auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften die gleiche kulturelle Funktion erfüllen wie auf dem Gebiete der technischen Wissenschaften die Technische Hochschule in Aachen«. Den zeitweise diskutierten Vorschlägen einer kostengünstigeren Ausbildung des akademischen Nachwuchses an der Saar durch die Vergabe von Stipendien für auswärtige Universitäten erteilte Meyer eine Absage und betonte demgegenüber die Bedeutung der Universität als »geistiger Mittelpunkt der Landschaft« und ein insbesondere im Grenzgebiet besonders bedeutendes »kulturelles Ausstrahlungszentrum« einer künftigen »aktive[n] Kulturpolitik«. Anschließend erörterte Meyer die eigentlich obsolete Standortfrage bei der Neugründung »eine[r] Universität in unserem Raume« und unterstrich angesichts der hier bereits erfolgten Investitionen die Bedeutung Saarbrückens und den Nutzen der Universität für die Region: »Die Saarbrücker Universität arbeitet und lebt mitten unter den Menschen, die sie erfassen und heranbilden will, sie soll einmal ein lebendiges Organ dieses Landes und seiner Bevölkerung, nicht nur eine Art Sommerfrische für Kinder des gehobenen Mittelstandes werden wie so manche rheinische Hochschule27, sie soll dem Nachwuchs aus dieser saarländischen und moselländischen Bevölkerung, die um Saarbrücken herum massiert ist, eine den übrigen deutschen Universitäten ebenbürtige und auch für den Nichtbemittelten finanziell tragbare Ausbildung ermöglichen.«28

Angesichts der universitären Leistungen und weiterhin günstiger sozialer Bedingungen könne sich wegen des erwarteten stärkeren Zuzugs aus Deutschland die Zahl der Studierenden rasch von 2.000 auf 3.000 und damit auf das Niveau der benachbarten Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität erhöhen. Bemerkenswerterweise verschwieg Meyer bei seinen Betrachtungen aber die Tatsache, dass – aus Familientradition, wegen politischer Vorbehalte oder aus welchen Hochschullehrer fehlen allerdings in der entsprechenden Akte. Vgl. dazu vor allem meinen in Anm. 21 genannten Aufsatz mit weiteren Nachweisen. 26 Ich folge dem Gutachten Meyers »Über die zukünftige Gestalt der Saarbrücker Universität« in LA SB Staatskanzlei 1067, S. 1. 27 Zusätzlich zur Unterstreichung am Rand mit Ausrufezeichen hervorgehoben. 28 S. 3.

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Gründen auch immer – über die Hälfte des saarländischen akademischen Nachwuchses an den bundesdeutschen Universitäten und nicht an der HeimatUniversität studierte. Dieser »Vorbemerkung« folgte der eigentliche Hauptteil über »Die zukünftige Gestalt der Universität«. Dabei erinnerte der Autor zunächst an den mit der Universitätsgründung verbundenen, inzwischen aber »so arg missbraucht[en] Gedanken der europäischen Einheit« und zog einerseits »rein arbeits- und leistungsmäßig« durchaus eine positive Bilanz der sechsjährigen Entwicklung. Dennoch bestehe andererseits Konsens über die Notwendigkeit einer »neue[n] Grundlage für die Verfassung und den Betrieb der Universität« und zwar nicht wegen »mangelnder fachlicher Leistungen«. Während Meyer im Vorfeld seine Berufung nach Saarbrücken 1948 noch mit seiner Mitarbeit an der neuen kulturpolitischen Überwindung von Grenzen begründet und in seinem Beitrag zum Verfassungstag 1950 das europäische Vaterland beschworen hatte, argumentierte er bemerkenswerterweise fünfeinhalb Jahre später aus einer dezidiert nationalen, mit einer Rückblende ins Mittelalter untermauerten und später auch noch Begriffe aus der nationalkonservativen Volkstums-Ideologie aufgreifenden Perspektive. Keinesfalls dürfe man »in unserm Grenzgebiet einen kulturellen Abbröcklungsvorgang – denn das ist die Universität in ihrem jetzigen Zustand – wieder einmal in Gang kommen […] lassen, so wie er in den Jahrhunderten seit Philipp dem Schönen29 bis auf die Gegenwart schon so oft mit mehr oder weniger Erfolg ausgelöst wurde. Es ist unmöglich, auch wenn man die Idee der europäischen Gemeinschaft entschieden bejaht, im deutschen Grenzgebiet eine Hochschule hinzunehmen, deren Rechts- und Verfassungsgrundlagen nicht eindeutig deutsch sind. In unserer hiesigen besonderen Situation erheben sich gegen das, was hier mit dieser Gründung versucht worden ist, auch für den europäisch orientierten Menschen schwere Zweifel.«30

Zwar bezeichnete er die »Pflege des Europa-Gedankens« als »lebensnotwendige Forderung«, aber er sah – so die erstaunliche Diktion – in den »Urtatsachen der Volkstumsgemeinschaft und der Nation sehr viel stärkere« und »auch heute noch lebensbestimmende« Kräfte, die nicht »durch ausgedachte und gemachte und von oben her auferlegte Konstruktionen (zu) beseitigen« seien. »Zum mindesten erfordert ein solches Vorhaben sehr viel Zeit, besonders günstige Umstände und« interessanterweise »eine starke Überlegenheit des einen Volkstums über das andere, was hier alles nicht der Fall ist.«

Die Volksabstimmung vom 23. Oktober wertete Meyer als Beweis, »daß unser Volkstum hier ungefährdet und seiner selbst sicher ist«, aber er verband damit 29 Für die frühere deutsche mediävistische Forschung repräsentierte dieser Herrscher den das Reich bedrohenden französischen Expansionismus. 30 Zitat S. 5.

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»die Frage, ob ausgerechnet in dieser immer kritischen und neuralgischen Grenzsituation, 5 km von der Landesgrenze und wenige Dutzend Kilometer von der Volkstumsgrenze entfernt, der richtige Platz für ein europäisches Experiment war, dessen Bedeutung man ruhig anerkennen kann und das in Göttingen oder Angers oder Bologna sinnvoll und erfolgversprechend sein könnte, das aber hier an der Grenze mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes Abwehrreaktionen hervorrufen muß.«31

Insbesondere stelle sich ohnehin »die Frage, ob denn hier in Saarbrücken wirklich eine europäische Universität sich entwickeln sollte und wollte«. Der gerade am 17. März 1956 im »Intransigeant« erschienene Artikel Ren¦ Dabernats sprach übrigens »mit naiver Unverfrorenheit von »notre Universit¦ de Sarrebruck««, die ein »centre d’influence franÅaise« bilde und nun »zum Nachteil der französischen Interessen in eine europäische oder deutsche Universität« umgewandelt werden solle. In seinem Fazit folgte Meyer der seit der Universitätsgründung von den prodeutsch orientierten Teilen der saarländischen Öffentlichkeit und der Bundesregierung kontinuierlich propagierten Einschätzung: »So ist doch allen Sachkennern klar, daß tatsächlich die Saarbrücker Universität bis jetzt wesentlich nicht unter »europäischem« sondern unter französischem Einfluß gestanden und gearbeitet hat, daß sie ein Instrument der französischen P¦n¦tration culturelle und alles dessen, was dahinter steht, gewesen ist.«32

Meyer verwies bei diesem überraschend scharfen anti-französischen Verdikt auch auf die Äußerung eines Mitglieds des universitären Verwaltungsrates und eines »der entschiedensten saarländischen Verfechter[s] der »europäischen« Universität«, […] es ginge doch nun wirklich nicht an, daß man den deutschen Nationalismus zwar beseitigt habe, daß dafür nun aber ein französischer Nationalismus sich ungehindert bei uns breitmachen könne.«33 31 Zitate S. 6. Hervorhebung am Rand. 32 Zitat S. 7. Vgl. dazu auch weiterhin ausführlich Wolfgang Müller : »Primär französisch gesteuerte und orientierte Einrichtung« oder »wesentliche Stütze des Deutschtums an der Westgrenze«. Die Perzeption der Universität des Saarlandes aus der Bonner Perspektive in den frühen fünfziger Jahren, in: Wolfgang Haubrichs / Kurt-Ulrich Jäschke / Michael Oberweis (Hg.): Grenzen erkennen – Begrenzungen überwinden. Festschrift für Reinhard Schneider zur Vollendung seines 65. Lebensjahrs. Sigmaringen 1999, S. 425 – 441. Meyer bezieht sich vermutlich auf Luitwin von Boch, der im April 1954 in einem Brief Ministerpräsident Johannes Hoffmann über »mancherlei Mängel« und »die damit verbundenen Gefahren« für die Universität informierte und dieses Schreiben übrigens auch dem Leiter des Saarreferates des Auswärtigen Amtes in Bonn in Kopie übermittelte. Darin heißt es unter anderem: »Es wird immer mit viel Stimmenaufwand das Wort »europäische Universität« propagiert. Ich muß feststellen, daß es sich bei unserer Universität nicht einmal um eine saarländische handelt.« (S. 430). 33 Gutachten Meyer Zitat S. 7.

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Außerdem erinnerte Meyer auf die durch das »Statut« von 1950 vorgegebene französische Dominanz im zentralen universitären Entscheidungsgremium, dem Verwaltungsrat, wobei übrigens 1954 bei der Nachfolge des bisherigen französischen Präsidenten an eine aus den Niederlanden kommende »europäische Persönlichkeit« und nicht an einen Saarländer gedacht worden war, »ohne daß sich übrigens die saarländische Regierung über ein solches Ansinnen damals empörte.« Allerdings betonte Meyer demgegenüber, dass keineswegs »alles, was in diesen letzten Jahren an der Saarbrücker Universität erarbeitet worden ist, jetzt zerschlagen werden müsse.« Er warnte vor »den Verirrungen einer noch nicht lange vergangenen Epoche«, »übersteigertem Nationalismus« sowie »beschränkter Krähwinkelei« und betonte die »Internationalität der Wissenschaft«, die sich allerdings »hier an der Grenze« nur auf einer klaren »Verfassungsgrundlage« errichten lasse. Bisher habe man in Saarbrücken zuerst das »europäische« Dach errichtet, das Fundament durch Improvisationen ersetzt und die Universität als »centre d’influence franÅaise« politisch instrumentalisiert. »Man sollte sie endlich aus der Umklammerung durch das Machtpolitische herauslösen und aus ihr einen von Deutschland und der Saar in freier Entscheidung dargereichten Beitrag zur europäischen Zusammenarbeit machen.«34

Aus dieser zentralen Forderung entwickelte Meyer dann diverse Einzelvorschläge in neun Punkten. So sollte die Universität des Saarlandes erstens »als eine autonome Körperschaft des öffentlichen Rechtes eine deutsche Landesuniversität« und »in ihrer inneren und äußeren Struktur, in ihrem Betrieb und in ihrem Lehrkörper« den für das »deutsche Hochschulwesen« geltenden »Normen unterworfen« sein. Daraus resultierte zweitens die Garantie der »Freiheit der Forschung, der Lehre und des Lernens«, ein am deutschen Qualitätsstandard orientierter Lehrkörper, die »grundsätzlich« deutsche Unterrichtssprache sowie den deutschen Universitäten folgende »Lehrpläne, Studienorganisation und Prüfungswesen« und wechselseitige Studien- und Prüfungsäquivalenz zwischen Saarbrücken und den deutschen Universitäten. Dementsprechend sollten drittens »Einrichtungen und Zustände an der jetzigen Universität, die die Durchführung der vorstehenden Grundsätze unmöglich machen, abgeschafft oder diesen Grundsätzen entsprechend geändert werden.« Die Universitätsleitung dürfe diese Grundsätze nicht gefährden, außerdem müsse »das Verwaltungspersonal der Universität und aller ihrer Einrichtungen grundsätzlich deutsch« sein. Mit diesen Forderungen wurde auch eine vollständige Abkehr vom 1950 verabschiedeten »Statut« der Universität vollzogen, das ein hierarchisch-zentralistisches Rektoratssystem französi34 Zitat S. 9.

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scher Prägung mit herausgehobenen Kompetenzen des Rektors und des Verwaltungsrats und geringen Mitwirkungsrechten der Fakultäten etabliert und in zahlreichen Punkten immer zur Kritik herausgefordert hatte. Trotz des »Ausbaus der Universität zu einer deutschen Landesuniversität« sollten ihr viertens auch »übernationale und internationale Aufgaben in Forschung und Lehre übertragen« und »sie zu einem aus dem Bereich des Politischen herausgehobenen Zentrum der deutschromanischen Begegnung auf kulturellem Gebiet und zu einem Instrument der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit ausgebaut werden«,

wobei aber der »deutsche Status der Universität« nicht gefährdet werden dürfe. Ausführlich erörterte Meyer fünftens35 verschiedene Modelle einer »ausländischen Beteiligung durch Lehrkräfte« und favorisierte dabei eine Integration der »ausländischen Lehrstuhlinhaber in den Lehrkörper« und die Fakultät oder ausländischer Institute in die Universität, wobei jedoch »bei keiner Entscheidung in gleich welchen Universitätsangelegenheiten der deutsche Einfluß, der durch die Stimmen der deutschen Mitglieder in den Fakultäten und im Senat gegeben ist, majorisiert werden kann«36

oder die »ausländischen Institute […] der vollen Kontrolle und Aufsicht der Universitätsleitung unterliegen« sollten. Ohnehin sah Meyer eine Begrenzung der ausländischen ordentlichen Professoren auf 30 Prozent vor, und im Senat musste nach seinen Vorstellungen »eine Mehrheit von 70 Prozent der deutschen stimmberechtigten Mitglieder garantiert sein«.37 »Für die innere Verfassung der Universität« verwies Meyer siebtens als Diskussionsgrundlage auf die entsprechenden Entwürfe der Professoren der Juristischen Fakultät und der neutralen Dozenten und deren Grundforderung, »daß durch die Umwandlung der Universität in eine Staatsuniversität der übernationale Charakter ihrer Arbeit in Lehre und Forschung nicht beeinträchtigt wird.«38 Wegen der begrenzten finanziellen Ressourcen plädierte Meyer siebtens für »Schwerpunkte in Forschung und Lehre« wie die »Funktion in der internationalen Zusammenarbeit«, die Wirtschaftswissenschaften oder die vergleichende Literatur- oder Rechtswissenschaft. Außerdem diskutierte er die Frage der Zukunft der der Universität verbundenen Institute (wie das Europa-Institut, das Dolmetscher-Institut, das Institut für Metallforschung, das Institut für Leibeserziehung) und fällte über das 1951 als »Krone und Symbol« der Universität von Rektor Angelloz aus der Taufe gehobene »Europa-Institut« ein vernichtendes Urteil: »Das Europa-In35 36 37 38

Vgl. S. 11 und 12. Hervorhebung am Rand. Zitate S. 12. Zitat S. 13.

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stitut jedenfalls könnte in seiner jetzigen Gestalt ganz verschwinden, ohne eine Lücke zu hinterlassen«39, zumal »sein Betrieb und seine Leistungen anfechtbar sind und […] die an ihm Studierenden nur deswegen sich einschreiben lassen, weil sie dort ein hohes Stipendium bekommen.«40 Wegen der Bedeutung der Saar als Industrierevier plädierte Meyer neuntens für eine intensivere Pflege der »technischen Wissenschaften«, auch um – wohl doch sehr optimistisch – den Andrang der Studierenden an den Technischen Hochschulen in Aachen oder Karlsruhe abzufangen. Zwar lasse sich eine »vollständige technische Fakultät« in Saarbrücken aus finanziellen Gründen nicht realisieren, gleichwohl aber ein Ausbau der Naturwissenschaftlichen Fakultät zur Naturwissenschaftlich-Technischen Fakultät41 mit drei Instituten für Eisenhüttenkunde, Metallforschung und Bergbau. Daraus ergab sich als Fazit neuntens, dass die so neu strukturierte und den deutschen Hochschulen »ebenbürtige« Universität mehr als 3.000 Studierende aufweise, »sie als Ausbildungsstätte für den akademischen Nachwuchs und als geistiges Zentrum einer deutschen Grenzlandschaft ihre Aufgabe erfüllen wird« und »übernationale Funktionen mit übernehmen kann, ohne daß dadurch ihr Grundcharakter als deutsche Landesuniversität Schaden erleidet«.

Abschließend verwies Meyer auf den Verlust der Universitäten Königsberg und Breslau. Außerdem seien »Ostberlin, Greifswald, Rostock, Leipzig, Halle und Jena für die freie Lehre und Forschung verloren gegangen. Die Erhaltung und der Ausbau einer neuen deutschen Universität im Westen des deutschen Kulturbodens erscheint daher« – so sein Fazit – »als eine nicht nur für unsere Landschaft, sondern für Gesamtdeutschland wichtige und wesentliche kulturelle Aufgabe.«

Nachdem die Beratung des Memorandums zunächst zurückgestellt worden war, beschäftigte sich der Ministerrat zu Beginn seiner 21. Sitzung am 14. Juni mit dem Meyerschen Memorandum und hielt in seinem Beschluss »daran fest, daß die saarländische Universität ab dem Zeitpunkt der politischen Eingliederung des Saargebietes in die Bundesrepublik als deutsche Landesuniversität

39 Das auch im Abstimmungskampf heftig attackierte Europa-Institut wurde unter der Ägide des neuen deutschen Rektors in ein »Europäisches Forschungsinstitut« umgewandelt und das »Institut für Metallforschung« 1963 aufgelöst. 40 Zitate S. 13 und 14. 41 Vgl. dazu die Akten UniA SB U 143 Überlegungen zur Errichtung einer Technischen Fakultät (1953 – 1956). Daraus geht hervor, dass Eugen Meyer am 12. Dezember 1955 den Saarbrücker Experimentalphysiker Prof. Dr. Ernst Plötze mit einem entsprechenden Gutachten »Über die Möglichkeiten zur Errichtung einer Technischen Fakultät an der hiesigen Universität« beauftragte.

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auszurichten und daß demgemäß beschleunigt mit der Ausarbeitung einer neuen, dem zukünftigen Charakter der Universität entsprechenden Verfassung zu beginnen ist.«42

Es ist zwar in diesem Rahmen nicht möglich, die Etappen der weiteren Entwicklung der Universität des Saarlandes im Übergang von der einst »europäischen« zur deutschen Landesuniversität nachzuzeichnen.43 Aber das von Eugen Meyer im April 1956 kurzfristig erarbeitete und manche ambivalenten Wertungen enthaltende Gutachten zur »zukünftigen Gestalt der Saarbrücker Universität« bündelt wie in einem Brennglas die scharfen Konfliktlinien jener Zeit und dokumentiert wohl auch einen Teil von Meyers eigenem Weg vom »Bürger der ersten europäischen Universität« zum – wenn auch parteilosen – Direktor des Kultusministeriums der prodeutschen Parteien und zum am 1. November 1956 beförderten »ordentlichen Professor der Sonderklasse«. Denn aus heutiger Sicht überrascht seine überaus kritische Bewertung der frühen Jahre der Universität, deren Entwicklung er miterlebt und mitgestaltet hatte. Da sich das Konzept einer »europäischen« Universität nach dem 23. Oktober 1955 nicht mehr fortsetzen ließ und übrigens auch die neuen Pläne für ausländische Stiftungsprofessuren und Institute Chimären blieben, folgte er mit seinen in dezidiert nationalkonservativem Vokabular vorgetragenen Forderungen nach einer nun vollkommen nach deutscher Tradition reorganisierten Hochschule der politischen und publizistischen Mehrheit an der Saar. Dass aber auch moderatere Töne möglich waren, beweist die Ansprache des neuen Vorsitzenden des Verwaltungsrates und Vizepräsidenten des Landtages des Saarlandes Wilhelm Kratz bei seiner Amtsübernahme am 31. Juli 1956: »Wir streben weiterhin an, dass unsere Universität Saarbrücken, wenn sie demnächst in den bunten Kranz der deutschen Universitäten eingereiht wird, unter diesen als beachtliches wissenschaftliches Institut anerkannt wird. Es soll unser Bestreben sein, dahin zu wirken, dass die Universität Saarbrücken als deutsche Grenzlanduniversität ihre grosse Aufgabe bewältigen kann, die im wesentlichen darin besteht, die Beziehungen zwischen den Völkern zu pflegen. In diesem Rahmen ist es uns eine ganz besondere Herzensangelegenheit, dass die Universität Saarbrücken zur Aussöhnung und Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland beitragen möge.«44

42 LA SB Staatskanzlei Nr. 1713 21. ordentliche Sitzung des Ministerrates der Regierung des Saarlandes am 14. Juni 1956. Tagesordnungspunkt 1: Zukünftige Gestaltung der Universität des Saarlandes. 43 Vgl. dazu Wolfgang Müller : Die Universität des Saarlandes in der politischen Umbruchsituation 1955/56 (wie Anm.1). 44 UniA SB Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates vom 31. Juli 1956, S. 1.

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Matthias Steinbach

Römische Reise 1991

Irgendwann im Frühjahr hing die Ausschreibung am schwarzen Brett im 21. Obergeschoss des Jenaer Universitätshochhauses: Rom-Kurs für fortgeschrittene Studierende und Doktoranden der Geschichte. Bewerbungen mit Thema bei Prof. Dr. Arnold Esch, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Via Aurelia Antica, 391, 00165 Roma, Italia. Es war jene Phase politischer Umbrüche, in denen Altes und Neues noch bunt durcheinander gingen und Bekanntmachungen, da ihre Halbwertszeiten kurz waren, wenig Aufmerksamkeit erfuhren. Kurzerhand bewarb ich mich und schlug etwas zur Renaissance und den Borgias vor. Bei Ernst Bloch hatte ich von den »Riesen des Verbrechens« gelesen und war in dessen Leipziger Vorlesungen zur Renaissance noch über den schönen Satz gestolpert: »Auf dem Klavier der kalten Macht spielen können und dennoch ein schönes Stück dabei hervorbringen, das ist Politik nach Machiavelli.«1 Machiavelli wurde es zwar nicht, aber Esch schrieb mir Anfang Juli 1991 zu meiner Überraschung, ich könne kommen und zum Thema »Renaissancepäpste und ihre Familien« vortragen. Ob Quotenossi oder nicht: Zwei Wochen Rom kostenfrei in einem Hotel gleich am Petersdom, mit Fahrgeldzuschuss und ein wenig Taschengeld sogar für »Teilnehmer aus den neuen Bundesländern«, unter lauter Experten für die ewige Stadt und ihre Geschichte, das war einfach großartig. Nur beunruhigte mich, dass mir neben Programm und Verzeichnis der wichtigsten Literatur noch Auszüge lateinischer Quellen, Inschriften aus S. Maria in Aracoeli und S. Marco2 sowie Legenden aus den Mirabilia Urbis Romae3, ins Haus flatterten. Ich dachte an meinen gestrengen Lehrer Sauermann 1 Ernst Bloch: Christliche Philosophie des Mittelalters und Philosophie der Renaissance (= Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950 – 1956, Bd. II., hrsg. von Ruth Römer u. a.). Frankfurt am Main 1985, S. 226. 2 Von denen hatte Frau Doris Esch, wie wir dann auf den Exkursionen erfuhren, viele entschlüsselt und übersetzt. 3 Mirabilia Urbis Romae, ed. R. Valentini u. G. Zuchetti, in: Codice Topografico della Cittä di Roma 1946/3, S. 1 – 65.

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Matthias Steinbach

und dessen Monita: »Steinbach, Sie raten schon wieder!« oder : »Ich werde der Mann Ihre schlaflosen Träume!«, begann Krautheimer und Gregorovius zu lesen und quälte mich – motivierter denn je – durch die letzten Cicero-Sitzungen im Semester. Dessen »Quo usque tandem …« sollte ich dann in Rom auf einem Balkon hoch über den Vatikanischen Gärten noch einmal hören.

1. Mitte September saß ich im Zug. Station machte ich in Garmisch bei meinem Großonkel, dem Konditormeister Franz Raubal. In meinen Tagebüchern finde ich Notizen. Franz holte mich mit seinem Opel vom Bahnhof ab und erklärte mir unentwegt die Welt, seine und meine. Für ihn war ich noch irgendwie »Russe«, aber ein, wie er betonte, durchaus sympathischer. Der »Russe« stand ihm, was mir später bei der Lektüre seiner Briefe an meine Eltern aufging, weniger für den verhassten Bolschewismus als vielmehr für die steigende Zahl von Osteuropäern, die in die westdeutschen Sozialsysteme einwanderten. Dazu kamen nun noch die Ostdeutschen. Indes bekannte er zu meiner Überraschung, Kommunist immer dort zu sein, »wo es um Gerechtigkeit« ginge, wobei mir nicht klar wurde, um welche. Von meinem Sächsischen Urgroßvater wurde der Satz kolportiert: »Bevor der Kommunismus kommt, müssen wir alle Engel werden.« Mir gegenüber war Franz Raubal der liebste und gastfreundlichste Onkel, den man sich denken kann. Den wunderbaren Geschmack der Brezeln, die er mir am nächsten Morgen für die Reise aufschnitt und kunstvoll mit Butter und Wurst bestrich, habe ich, wenn ich zurückdenke, immer noch im Mund. Er erzählte noch von seiner Zeit als Fallschirmjäger und Nachrichtenmann im Krieg, von Kreta, Russland und Italien – die »Spaghettis« mochte er auch nicht. Im Mai 1945 hatten ihn die Amerikaner kurz vor der Haustür geschnappt, nachdem er glücklich zu Fuß über die Alpen zurückgekehrt war. Die Kriegsgefangenschaft dauerte aber nur kurz. Gegen Zerstörung und Vernichtung habe er seither grundsätzlich etwas. Die überregionale Gefahr des Jugoslawienkonflikts sah er bereits ganz deutlich. Und noch etwas habe ihm die Erfahrung von Krieg und Gefangenschaft eingeschärft: »Was du im Kopf hast, kann dir kein Ami und kein Russe nehmen.« Den Geist, so erklärte er wohl auch mit Rücksicht auf meine historischen Studien, respektiere er, obwohl diesem, wie er im selben Atemzug erklärte, zugleich »Falschheit« eigen sei. In dem Zusammenhang: »Die Juden sind alle schlau …«, und: »der Lafontaine, dieser gerissene Jesuitenzögling!« So kam das im tiefen Bayern damals über mich. Am nächsten Morgen ging es über Mittenwald und Innsbruck weiter nach Bozen. Der Grenzübertritt verlief unpreußisch: »Gruiß di, Servus, Basskontrolle!« Die Grenzer haben kaum einen Blick für meinen Ausweis. »Was würde

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man hier wohl, mitten im strahlenden Grün der Almwiesen, mit einer Mauer machen? Allein der Gedanke ist grässlich.«4 Bozen war noch deutsch, deutsch mit seinem Walter-Denkmal, deutsch mit seinen Touristen. Lautstarke Bayern wiederum. Wie ich meinen Aufzeichnungen von damals entnehme, fielen mir aber hier und dann im vollgestopften zweit- oder drittklassigen Romzubringer, den ich benutzen musste, vor allem die schwarzhaarigen, dunkeläugigen Frauen und Männer auf, zumeist mit Sonnenbrillen und Pomade im Haar. Der Süden war etwas Neues für mich. Abends in Rom: Vom Bahnhof im Taxi zum Hotel Bramante, Vicolo delle Palline (nähe Vatikan). »Small but nice«, hatte der Taxifahrer noch gesagt. Der Anblick war dann allerdings wenig anheimelnd: schmuddelige Gasse, abgeschabte Fassade, schlaff herabhängende italienische Fahnen. Ein farbiger Portier – auf der Engelsbrücke verblüfften mich am nächsten Tag die ihren Klimbim feilbietenden »Neger« – übergab mir den Schlüssel: »Ventisette«, meine erste italienische Zahl. Das Ehepaar Esch hatte die Kursteilnehmer an jenem Abend zur Begrüßung in seine Wohnung, Via della Lungara 18, zwischen Vatikan und Trastevere eingeladen, ein von außen wiederum abgeblätterter, heruntergekommen wirkender Bau, den ich fast nicht betreten hätte. Dass die Fassaden in Rom fast alle diesen verwitterten Charme haben, wusste ich damals noch nicht. Ich kam zu spät, weil ich vom Hotel noch durch dunkle Gassen irrte und mich verlief. Man saß an zwei Tafeln in der allerdings wunderschönen Wohnung mit riesiger Bibliothek. Die Begrüßung war herzlich, die Atmosphäre etwas steif. Mir schienen die Westdeutschen im ersten Moment dünkelhaft, wahrscheinlich aber auch deshalb, weil man mich sogleich fragte, ob ich aus Sachsen, oder Dresden (?), stamme. Esch fragte hier und da nach den Kollegen in Deutschland, erzählte dann vor allem von den römischen Lebensgewohnheiten, etwa in den Cafeterien, wo man seinen Espresso besser stehender Weise zu sich nehmen solle, weil es im Sitzen das Doppelte koste. Die Italiener seien freundliche Leute und freuten sich über ein »Buongiorno«, »Grazie« oder »Prego« gerade des Ausländers. Die wichtigste Instruktion des Abends aber lautete: In den Bussen, vor allem der zwischen Bahnhof Termini und Petersplatz pendelnden Touristenlinie Nr. 64, sei Vorsicht vor Dieben geboten. »Die römischen Meisterdiebe kennt nicht nur die Literatur. Sie sind echt!« Man solle seine Habseligkeiten da schon gut festhalten und – um Gottes Willen – keine Geldbörsen in den Gesäßtaschen herumtragen. Ich ahnte bei dieser ersten Begegnung nicht, dass mich, der ich die Vergangenheit nur als Hörsaal- und Bibliotheksangelegenheit, als laues Text- und Theorielüftchen kannte, die Geschichte hier wie eine Sturmflut treffen, mich packen, mir durch alle Poren gehen würde. Das lag nun aber weniger an den täglichen Vorträgen, die im strengen 15-Minuten-Takt mit anschließender 4 Tagebuchnotiz, 16. September 1991.

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Diskussion – Esch rügte mich für einen unscharfen Nepotismusbegriff – zumeist vormittags im DHI stattfanden. Vielmehr waren es die Exkursionen und Ausflüge, die unmittelbaren Begegnungen mit der ewigen Stadt und ihren Monumenten, die sich tief einsenkten. »Keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist«, heißt es irgendwo bei Nietzsche. Am Tiber verhalf uns dazu ein Geschichtsenthusiast wie Arnold Esch. »Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.«5 Unruhig führte er zu entlegenen Plätzen, stieß uns mit der Nase auf die Objekte, zog, trieb an, ließ nur kürzeste Espresso-Pausen zu. Woran es dem Historiker immer am meisten fehlt, ist Zeit. Manche Kursteilnehmer litten entsetzlich – der römische September war noch heiß – unter dem fast fanatischen Erkenntniseifer unseres Cicerone, an dessen Vermittlungsintensität mich Jahre später der päpstliche Latinist Reginald Forster erinnerte, von dem ich las, dass er seinen Schüler mit dem Satz gekommen sei: »Wenn Sie kein Latein können, können Sie nichts!«6 Esch hatte uns gleich gewarnt: »Ein Leben ist für Rom nicht genug.« Und da wir keine zwei Wochen hatten, wanderten wir, »manchmal wie Kaninchen gehetzt«7, unentwegt durch Stadtviertel und Zeiten, umkreisten Kirchen und Palazzi, gingen hinein, stiegen hinab und kraxelten hinauf, zumeist fernab der Touristenströme. Mir kam als passabel trainiertem, ehemaligem Leistungsfußballer meine Fitness zugute, so dass ich mich zumeist in der Nähe des unermüdlichen Duce halten und jede seiner Erläuterungen auffangen konnte. Esch, lang, hager, »drahtig« (öfter vermerkt), mit hoher Stirn und großer Brille, in seiner Haltung bisweilen etwas ironisch, ja hochmütig erscheinend, war außer um die Sache selbst nur um seinen gelegentlich vom Wind derangierten Scheitel bemüht. Was er eigentlich trieb, war »Spaziergangswissenschaft«8, aber nicht flanierend, sondern im Sturmschritt. Der Gang in die Landschaft war wie bei Schiller Gang in die Geschichte9, aber eben einer ohne viel Zeit zum Träumen oder gar zum Dichten. Eschs Lieblingsmotiv : Fabrizio Clericis »Der römische Schlaf« (1955), das waren die schlafenden und dann, irgendwann durch die Sonne wach geküsst, neu und anders verwertbaren Statuen und Skulpturen der Antike; das war eine jeweilige Moderne, die mit ihren wärmenden Strahlen ältere Substanz wiederbelebte, darauf zurückgriff, sie zerstörte, entfremdete, aber eben auch kulti5 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zit. nach: Alexander Demandt: Geschichte bei Goethe, in: Merkur 2006/4, S. 317 – 327, hier S. 327. 6 Alexander Stille: Reisen ans Ende der Geschichte. Über die Zukunft der Vergangenheit. Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Sieber, München 2002, S. 246. 7 Tagebuchnotiz, 18. September. 8 Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Hrsg. von Markus Ritter und Martin Schmitz, Berlin 2006. 9 Friedrich Schiller : Der Spaziergang, in: Schillers Werke in fünf Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Joachim Müller, Berlin / Weimar 1974, 1. Bd., S. 106 – 114.

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vierte, rettete. Und ich, gerade noch in Jenaer Studentenkellern mit Brechtprogrammen aufgetreten, mochte »die Dinge, denen man ihren Gebrauchswert ansieht«. Allein die Benutzung einer Sache, auch artfremd, so lehrten der Historiker und seine Stadt, ließ diese überleben oder besser nachleben, gab ihr aus Sicht des Historikers eine (das Wort hörte ich damals zum ersten Mal) »Überlieferungschance«. Der ambulante Geschichtsarbeiter Esch veranschaulichte uns derlei wie nebenbei an den Resten antiker Kapitelle, die in Mittelalter und früher Neuzeit vor den Haustüren der Römer standen, um ihnen das Besteigen ihrer Pferde zu erleichtern. Ein Caesarkopf konnte als Schusterunterlage dienen, ein Amphitheater zur Kirche werden, Leda plötzlich Maria sein. Ins ruinierte Kolosseum pflanzten sich Adelstürme. »Sehen Sie doch nur«, und er hätte uns bei solchen Sätzen am liebsten geschüttelt, »wie das Mittelalter auf die Antike losgeht!«10 Diese Mischung aus antiquarischer und kritischer Historie des bedeutungs- und nutzungsgeschichtlich differenzierenden Augenmenschen quer und längs der Epochen wirkte befreiend auf mich und meine ganze Weltanschauung. Das Politische, auch Theoriegeleitete, das mein geschichtliches Wachwerden begleitet hatte, verlor seine Anziehungskraft. Der einzelne Mensch an seinen Orten und in seinen Werken wurde mir wichtiger. In Rom wurde ich Historiker. In meiner Dissertation zu Alexander Cartellieri, der 1897 für die Badische Historische Kommission in den Vatikanischen Archiven gesessen hatte, finde ich den bezeichnenden, die eigene Erfahrung einschließenden Satz: »[…] und fast gehörte es ja zum guten Ton, unter dem Eindruck der ewigen Stadt den Beruf des Historikers zu ergreifen.«11

2. Selbstverständlich kam 1991 in Punkto Überlieferung auch noch Brechts lesender Arbeiter ins Spiel, den ich mochte, weil er so provokant gefragt hatte, ob Caesar, während er Gallien eroberte, nicht wenigstens einen Koch bei sich gehabt hätte. Esch nahm die Angelegenheit nicht ideologisch12, sondern methodisch ernst. Freilich habe auch ein Koch seine Würde, aber dass er nicht in den Akten und folglich nicht in der Welt sei, war nicht Ausdruck bösen Willens irgendeiner herrschenden Klasse, die derlei Fragen nicht zuließ. Um in eine historische 10 Vgl. dazu Arnold Esch: Wiederverwendung von Antike im Mittelalter. Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers, Berlin / New York 2005. 11 Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867 – 1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland. Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 60. Zit. nach: Johannes Haller : Lebenserinnerungen. Stuttgart 1960, S. 157 f. 12 Wie Golo Mann, der sich ein Gegengedicht ausdachte. Ders.: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt am Main 1986, S. 243 f.

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Quelle zu kommen, hätte er schon das Unerhörte tun und Caesar vergiften13, oder die Macht ergreifen müssen, vielleicht. In meinem Kopf spukte noch Lenins Köchin herum, die lernen sollte, den Staat (wie ein Mann) zu regieren – ein vorweg genommenes Plädoyer für die Frauenquote in Wirtschaft und Politik und insofern auch nach dem Untergang des Sowjetkommunismus ein in anderen politischen Kontexten wiederverwendbares Ideologem. Der Blick in meine Aufzeichnungen von damals holt das atemberaubende Bildungserlebnis zurück. Ich hatte viel nachzuholen und tat dies mit Lust und Freude und allen Sinnen. Jeden Tag fühlte ich mich heimischer zwischen Petersdom und Piazza Navona, verliebte mich mehr und mehr in die gelb-rötlich verwitterten Fassaden der Palazzi, die engen Gassen, den Efeu, die Katzen. Romantische Emphase mag das auch gewesen sein, vor allem aber war es die Lust auf eine andere Ästhetik, die Rom mir bot. Öfter erzählte uns Esch vom abusiven Bauen der Italiener, je südlicher, desto unverfrorener. Häuser stürzten hier sehr viel häufiger ein als im Norden. Mir gefiel indes das Unerlaubte, das eben doch getan wird. Später fand ich diesen Eigensinn, stark idealisiert freilich, in Nietzsches südlichen Stadtschilderungen wieder. So waren dem Verächter des Nordens Genuas Paläste wie »Gesichter aus vergangenen Geschlechtern« erschienen. Hier fühlte sich Nietzsche unter lauter »Abbildern kühner und selbstherrlicher Menschen«, die »für Jahrhunderte und nicht für die flüchtige Stunde« gebaut hatten. An der nördlichen Bauweise hingegen – damals wäre mir wohl die Platte, später das Reihenhaus eingefallen – missfielen ihm »das Gesetz und die allgemeine Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam«.14 Die Instruktionen der Experten, die uns führten, habe ich, um bloß nichts zu verlieren und mitunter hoffnungslos hinter dem Informationsgalopp her schreibend, festzuhalten versucht. Manchmal verlor ich dadurch den Anschluss, wie auf dem Kapitol, als Esch, der nie lang wartete und blitzartig in einer Gasse oder einem Hinterhof verschwunden sein konnte, die Truppe bereits hinunter ins Forum entführt hatte, während ich noch die Blumenkinder einer Hochzeitsgesellschaft vor der Aracoeli bestaunte und zur Luxuswohnung des Multimillionärs Getty hinüber sah. Ein halber freier Tag – ich geriet unter Taschenspieler und (unvermeidlich) bayerische Touristen (»Bass ner auuf Fraau, dos sie di net oasziehn!«). Offenbar war das aber kein großes Problem für Esch, der am nächsten Morgen nur zu mir sagte: »Schön, dass Sie uns wieder gefunden haben.« Wie gesagt, ich schrieb wie der Teufel die an tausend Orten anfallenden Begebenheiten, Namen, Zahlen und Anekdoten mit, fotografierte eifrig, saß abends dann mit schweren Beinen bei Wein und Nudel in irgendeiner Trattoria 13 Vgl. Arnold Esch: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart. München 1994, S. 51 f. 14 Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 531 f.

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am Petersplatz und konnte das alles gar nicht fassen. Vieles ist unter den Horizont von damals gesunken, und doch bin ich heute, angesichts meiner Texte und Bilder, rasch wieder in den Dingen: »Professor Frommel (Bibliotheca Hertziana), schütteres, weißgelocktes Haupt mit kunsthistorischem Superhirn hinter der Stirn, führt durch die Renaissancepaläste Riario und Massimo; in ihren Innenhöfen, Theatern und Gärten, zwischen Portalen und Säulengängen erzählt er uns die Zeit, und dass er sich bei seinen Grabungen sogar von Träumen inspirieren lasse. Bauherren: korrupte, aber kunstsinnige und gar nicht kriegerische Päpste. Alberti, ihr ganz großer Baumeister. Raffaelo Riario (1460 – 1521) hatte sich seinen prachtvollen Palast als Kardinal, Kunstmäzen und päpstlicher Vizekanzler (daher auch »Cancelleria«) hingestellt. An diversen Verschwörungen gegen die Medicis beteiligt, wählte er zu seinem Leitmotiv : »Wenn mir das Glück günstig ist, werde ich herrschen.« Das Anwesen mit kleiner, völlig eingeschlossener Kirche (Nebensache!), aber riesigem Hof für ein griechisches Theater. Vasari malte die Innenräume (Partyräume) in nur 100 Tagen aus, wozu Michelangelo meinte: »Das sieht man aber auch«. […] Im Palazzo Massimo der berühmten römischen Patrizierfamilie wurden um 1460 die ersten Bücher Europas gedruckt.« [18. September 1991]

Johannes Gutenberg und die kirchenarme deutsche Reformation brauchten das Kapital und den praktischen Sinn italienischer Kaufleute. Rom war moderner, aufgeklärter als die Romkritik. Beim Eintrag finde ich noch das Stichwort »Hirtius«. Ich habe nichts hinzugefügt, weil das Erlebnis unverlierbar ist. Im Hof des Palazzo Riario schien alles gesagt, da lotste uns Esch noch zu einer Tür, von der eine Treppe nach unten führte. Es war feucht, roch moderig, an der Wand klebte ein Skorpion, mein Sternzeichen. Acht Meter tiefer dann, schon im Grundwasser stehend, fanden wir uns am Grabmal eines gewissen Aulus Hirtius (90 – 43 v. Chr.) wieder, Parteigänger Caesars und nach dessen Tod Verfasser des letzten, achten Buches des Gallischen Krieges. 1500 Jahre rückwärts, von der Renaissance bis in die Zeit der späten Republik, das waren acht Meter Kulturaufschüttung. Das folgende halbe Jahrtausend hinterließ kein historisches Schwemmland mehr, zumindest hier nicht. Mir fällt wieder ein, dass ich dem untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaat angesichts solcher Momente damals besonders ankreidete, meinem Gesichtsfeld die Antike – die wirkliche, nicht die Formation als permanenter Spartakusaufstand – und eben die alten Sprachen ferngehalten und mich stattdessen im Russisch- und Englischunterricht in tröge Sprachkabinette gezwungen zu haben. Diese aber waren, weil Big Ben und selbst der Kreml für den ostdeutschen Jugendlichen unerreichbar blieben, mindestens genauso »tot« wie das uns vorenthaltene Latein oder Griechisch. Ein unzeitgemäßer Vorwurf, gewiss, so kurz nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, als es ja die wirklichen, die harten Anklagepunkte gab: die von der Reiseunfreiheit, der Stasi, den Mauertoten, dem jahrzehntelangen Warten auf ein Auto und (nicht ganz so hart) von den fehlenden

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Südfrüchten. Glücklicherweise hatten meine Eltern (Abitur 1955 in Schneeberg/ Sachs.) ihre alten Lateinhefte noch nicht entsorgt und auch einen Büchmann im Regal, aus dem ich die klassischen Zitate auswendig lernen konnte. Praktische Tipps gab Esch immer unter dem Hinweis, dass jetzt etwas »Unhistorisches« käme. Für Picknicks eigneten sich die Hügel Roms, insbesondere der nahe gelegene Gianicolo, von dem man eine wunderbare Übersicht das Tiberufer entlang vom mittelalterlichen Rom über die Engelsbrücke bis zum Vatikan hatte. Gelegentlich unterhielt ich die Gruppe da oben mit Kinderliedern Gerhard Schönes zum Mitmachen, sang den Dorfgendarm und das Auto von Lucio. Einmal hatten wir Glück im Unglück: »Die römische Müllabfuhr arbeitet glücklicherweise ohne protestantische Arbeitsethik. Rom ist wohl auch zu groß und zu mülltonnenreich dafür, und ganz sicher ist es hier auch viel zu warm für preußische Disziplin. Gestern hatten wir mit unserem Picknickabfall versehentlich auch Rainers Geldbörse in eine schon überquellende Tonne geworfen. Nachdem er den Verlust heute Morgen bemerkt hatte, machten wir uns – ohne große Hoffnung freilich – noch einmal auf den Weg. Die Müllabfuhr war aber untätig geblieben. Nach kurzem Suchen stießen wir dann auf unsere Mülltüte und staunten nicht schlecht, alles, inklusive Portemonnaie, noch am Platz zu finden. Oh’, die armen römischen Meisterdiebe! Plagen sich in vollen Touristenbussen, auf Märkten und in Museen, immer die Carabinieri im Nacken, und könnten doch so einfach in einer Mülltonne fette Beute machen.« [21. September 1991]

Gleich bei einem der ersten Ausflüge empfahl uns Esch ein hübsches einfaches Restaurant »Mario« am Rande der Via Julia, das wir dann öfter aufsuchten: »Einfaches Holzmobiliar, karierte Tischdecken, Kunstblumen und eine rustikale Kellnerin prägen das Bild. Menü — la carte, 14 000 Lire (billig). Wasser und Wein kommen sofort, nach wenigen Minuten der erste Gang: Gefüllte Makkaroni mit reichlich Knoblauch. Es folgen Kartoffelkroketten und eine Art Gemüsesalat, ein viertel Huhn und zuletzt ein dicker römischer Apfel, der Anlass zu Geschichten um den Sündenfall und Schneewittchen gibt. Mir gegenüber Christine, Studentin aus Bonn. Klare, sachliche Art zu reden. Sie erzählt uns, dass sie in Rom zum katholischen Glauben konvertieren wolle, wie einst Christina von Schweden. Allenthalben Unverständnis. Auch ich bin erstaunt. Wer wechselt denn heute noch die Religion, wo alle Welt im christlich verwohlständigten Mitteleuropa die Kirchensteuern sparen will, zweitausend Jahre nachdem, so Nietzsche, der einzige Christ am Kreuze starb? Sie sagt, es gäbe Leute, Katholiken, die ihr Vorbild seien, die sie überzeugt hätten. Natürlich, denke ich, es sind immer Figuren, die ein Ideal lebendig, eine Sache attraktiv und durchsichtig machen. Sie erzählt von einem Pater Boyel, einem Iren, der hier in der Kirche St. Clemente predigt. Er sei ein toller Mensch und ihr Bürge bis zur Taufe im nächsten Frühjahr. Dann will sie zu Fuß nach Rom pilgern, über Avignon und jenen Weg, den vor ihr schon so viele Gläubige gingen, aus welchen Beweggründen auch immer. Sie wirkt nicht ganz sicher in ihren Argumenten den Zweiflern gegenüber, aber weil sie selbst nicht frei von Zweifeln ist, haben ihre Argumente doppeltes Gewicht.« [17. September 1991]

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Es gibt noch andere Stellen, die mein von Rom und den dortigen Begegnungen angeregtes Interesse am Christentum bezeugen. Möglich, dass es um kompatiblen Ersatz des verdämmernden marxistischen Welt- und Geschichtsbildes ging, um ein alternatives (kollektivistisches) Identitätsangebot. Abgesehen davon, dass ich dem damaligen Kardinal Ratzinger in der St. Maria Maggiore anlässlich einer Eucharistiefeier fast in die Arme gelaufen wäre, finde ich etwa die hübsche Anekdote, die uns Esch am Lateran, dem »heiligsten Ort auf der Welt«, erzählte. »Auf der Piazza di Porta und den Wiesen zwischen der Mutter aller Kirchen und der Aurelianischen Mauer fanden regelmäßig Kundgebungen und Wahlkampfveranstaltungen der italienischen Kommunisten statt. Einmal, in einer langen Juninacht von 1976, hätten sie fast gewonnen, und Enrico Berlinguer, Generalsekretär der KPI, wurde einen Moment nicht nur als Chef der stärksten Partei im Parlament, sondern auch als potentieller Regierungschef gefeiert. Ein begeisterter Anhänger soll in jener Nacht immer wieder ausgerufen haben: »Bei der heiligen Maria, lasst mich Berlinguer sehen!« [24. September 1991]

Auf dem Campo de’ Fiori, am Denkmal Giordano Brunos, höre ich Eschs Instruktionen (vor der Mittagspizza, die ich mir dann zwischen Tauben auf dem Sockel schmecken lasse) und denke an Blochs Sprüchlein: »Das Beste an der Religion ist, dass sie Ketzer hervorruft.«15 1889 zum Entsetzen der Kurie von Ettore Ferrari, einem Garibaldi-Anhänger, geschaffen und hier aufgestellt, erinnert der mächtige, bronzene Kapuzen-Bruno an ein freches, widerborstiges Rom, das auf dem Platz lebt und fortlebt. Aus Angst vor einer letzten öffentlichen Rede, sollen ihm die Henker vor seiner Hinrichtung im Februar 1600 die Zunge festgebunden haben. Als man ihm das Kreuz hinhielt, wandte er den Blick ab. Auch darin lag Identitätspotential für den Atheisten. Bemerkenswert noch eine Begegnung im Zug von Rom nach Hause: »Im Abteil sitzt eine ältere Frau, die aus Bayern stammt und schon lange in Italien lebt. Wir kommen ins Gespräch, und es stellt sich heraus, dass sie einer katholischen Kongregation angehört, die in der Nähe von Rom wirkt. Wir sprechen über den Papst und die katholische Kirchenhierarchie, über die Idee Christi und Interessen, an denen sie, wie auch jene des jungen Marx16, scheiterte. Sie glaubt an ihre Mission und an die Fähigkeit der Menschen, sich zu helfen, erzählt von großartigen Persönlichkeiten im Vatikan und dessen gewachsene Rolle und Glaubwürdigkeit in der Welt. Wir können gut miteinander reden, aber auf meine kritischen Bemerkungen über die Mitschuld des Papstes am Völkermord des faschistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg mag sie nicht recht eingehen. Andererseits hat sie gute Argumente für die große Bedeutung und Fortexistenz des Kirchenstaates und der päpstlichen Hierarchie bis in deren entlegene Glieder.« [26. September 1991] 15 Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, Motto. 16 Die Frühschriften waren damals der letzte Schrei unverdrossener Marxisten.

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Marx meets Jesus. Das war ja vielleicht nichts Besonderes, gerade in Italien. Ich kannte noch die (auswendig zu lernenden) Thesen aus dem Neuen Deutschland: Luther und Müntzer als Teil einer bis zum Erzbischof Romero reichenden revolutionären Theologie der Befreiung, »Wegbereiter« des Sozialismus. Päpste – Karol Wojtyła, den wir vom Castel Gandolfo öfter einschweben sahen, galt als reaktionärer Antikommunist – gehörten nicht dazu. Dass ich die arme Frau mit meinen unverdauten Stellvertreter-Lesefrüchten behelligt hatte, ist mir heute peinlich, auch weil mich die Fragerei an gestanzte Parolen angelernter antifaschistischer Semantiken erinnert.

3. Im Vatikan war es angenehm kühl. Esch hatte uns nachmittags auf den Petersplatz, rechter Brunnen (so entnehme ich es meinem Plan) bestellt, nicht ohne die Ermahnung, in angemessener Kleidung zu erscheinen. Man neigte ja in der römischen Hitze zu kurzen Hosen und ärmellosen Oberteilen und kam so ohne Weiteres in die meisten großen und kleinen Kirchen hinein. Während Esch uns in die komplizierten Besitzverhältnisse des Kirchenstaates und seiner exterritorialen Gebiete einführte, auch etwas über den päpstlichen Wohnbereich und Papageien als Hausvögel der Päpste (daher Cortile del Papagallo) erzählte17, fiel mir der merkwürdige alte Reisekoffer auf, den er mit sich führte. Vor dem Grenzübertritt öffnete er ihn, sichtlich erleichtert über die allgemein befriedigende Anzugsordnung, und zeigte uns fast verschämt drei Oberteile seiner Frau, die er für den Fall unheiliger Bekleidung unserer Damen vorsorglich mitgebracht hatte. Er wird in früheren Kursen so seine Erfahrungen gemacht haben, wobei Frau Esch, so sie davon wusste, sicher gesagt hätte: »Arnold, das kannst du doch nicht machen.« »Grenzübergang Vatikanstadt. Die Schweizer Garde hier in einfacher Dienstkleidung, während sie auf der anderen Seite der Peterskirche, wo nur Angestellte des Kirchenstaates passieren dürfen, in ihrer gestreiften Festuniform steht. Lustiger, karnevalistischer Eindruck, der sie zur Touristenattraktion macht. […] Die wohl einzige Armee der Welt mit gutem Ruf, zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Papst Julius II. zu seiner Leibwache auserkoren, nicht etwa aus Sympathie für das eidgenössische Staatswesen, sondern weil die Schweizer gute und kampfstarke Söldner waren […]. Wir treffen den Präfekten des Vatikanischen Geheimarchivs. Pater Metzler, ein kleiner Mann von etwa Sechzig18, begrüßt uns freundlich, mit warmer, leiser Stimme und einem Augenausdruck, der aufmerksam und beruhigend zugleicht ist. Unter Hinweis auf die umlie17 Vgl. Silvio A. Bedini: Der Elefant des Papstes. Stuttgart 1997, S. 106 f. 18 Prof. Dr. Josef Metzler (1921 – 2012), Präfekt des Vatikanischen Geheimarchivs von 1984 – 1995.

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genden Paläste, jeder Papst baute etwas, um sich und seine Familie zu verewigen, und oft wirkt das unorganisch, ungleichmäßig, bereitet er uns auf das Geheimarchiv vor, dessen Inhalte wir alle mit Spannung erwarten. Bevor wir eintreten, erzählt Metzler uns mit einem vielsagenden Lächeln von einem Architekten, der angesichts des Vatikanischen Ensembles einmal gesagt haben soll: ›Der Vatikan ist total verbaut, aber doch eine wunderbare Einheit.‹ Wir steigen hinauf in die Räume, die noch bis vor einhundert Jahren ›geheim‹ waren, also der Öffentlichkeit nicht zugänglich.19 Auch heute wäre öffentlich zu viel gesagt, aber zumindest sind die meisten Bestände inzwischen wissenschaftlicher Arbeit zugänglich. Metzler weist darauf hin, dass sämtliche Archive der Souveräne noch bis zur französischen Revolution Geheimarchive waren. Leibniz forderte schon Anfang des 18. Jahrhunderts in einem Brief an den Papst die Öffnung des Vatican Secret Archives, weil es europäisch sei. […] Napoleon öffnete das Archiv 1810 auf seine Weise: Abtransport auf Pferdekarren nach Paris. Ein Drittel war verloren, als es später auf Papstkosten zurückkam. Heute etwa 100 Regalkilometer Papier. Der Präfekt stellt uns einen Katalog von Bittschriften an Alexander VI. sowie Briefe des Borgiapapstes an Pilger und Missionare in der Neuen Welt vor. Mahnung: Als wahre Kreuzfahrer sollten sie nicht als zerstörende und mordende Barbaren auftreten.« [20. September 1991]

Bis dahin war ich, vom Genius Loci des Lesesaales abgelenkt, nur mit halbem Ohr bei der Sache; Mönche, teils die Kapuzen übergezogen, hockten in den Holzbänken über dicken Wälzern, riesige Globen standen an den Seiten. Bilder wie aus »Der Name der Rose«, die mir auch in den Sinn kamen, wenn ich aus meinem Fenster im Bramante-Hotel auf den Passetto di Borgo sah, jenen Fluchtgang, über den Päpste und Kardinäle bei Gefahr aus dem Vatikan in die sichere Engelsburg gelangt waren. Sacco di Roma 1527! Clemens VII., mit Gefolge über den Passetto türmend, entgeht den plündernden und mordenden Söldnern Frundsbergs nur knapp. Zurück im Papstpalast findet man Graffitis der Deutschen, in ein Raffael-Fresko ist »Lutherus« eingeritzt.20 Im Archiv nun hegte ich den leisen Verdacht, Metzler würde uns an gezielt ausgewählten Dokumenten ein geschöntes Bild des römischen Papsttums vermitteln. Doch zeigte sich bald, wie »europäisch« im Sinne Leibniz’, ja weltgeschichtlich Material und Ort ausstrahlten. »Vor unseren Augen schlägt Metzler einen Band handgeschriebener Folianten auf, einer von duzenden weiteren, in denen die Papstwahlverfahren seit dem späten Mittelalter minutiös protokolliert sind. Tabellarisch aufgeführt die jeweiligen Skrutinien (Wahlgänge) mit den zu wählenden Kardinälen sowie der durch Striche sichtbar gemachten Stimmzahl der einzelnen Kandidaten. Aufgenommen auch die Angaben der Summen und Versprechen, mit denen insbesondere die Renaissancepontifikate erkauft wurden. Plötzliche Veränderungen von Stimmzahlen, beispielsweise seit Ausgang des 19 Öffnung durch Papst Leo XIII. 1882. 20 Vgl. Arnold Esch: Wege nach Rom. Annäherungen aus zehn Jahrhunderten. München 2003, S. 109.

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15. Jahrhunderts, erklären sich aus dem Nepotismus der Papstfamilien Borgia, della Rovere oder Medici. Metzler macht uns mit einem Novum in der Geschichte der neueren Papstwahlverfahren vertraut. Fast fünf Monate dauerte das Konklave von 1774, ehe ein gewisser Kardinal Braschi21 die notwendige Zweidrittelmehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnte. Das Kuriose dieses Konklaves bestand darin, dass die ersten drei Monate erschöpfender Wahlgänge nicht eine Stimme für den nachmaligen Papst Pius VI. gebracht hatten, bevor es die überraschende Wende gab und der weiße Rauch das ›Habemus papam‹ signalisierte.« [20. September 1991]

Höchst erstaunt hörten wir noch die Geschichte vom zurückgetretenen Papst Coelestin V., einem weltfremden Eremiten, der nicht in Rom, sondern auf Sizilien residierte und 1294 nach nur sechsmonatiger Amtszeit einfach keinen Spaß mehr daran hatte, Papst zu sein. Den großen, heroischen Verzicht ahmte dann Benedikt XVI. im Februar 2013 erfolgreich nach. Auch für die Ausnahme gibt es also immer ein Vorbild. Im Netz findet sich ein Foto, das den deutschen Papst 2009 in L’Aquila vor dem Grab Coelestins zeigt. Metzler nahm sich viel Zeit für uns. Der Fundus des Archivs schien unerschöpflich und führte ins Große, Weite, aber auch zu den kleinen, ansonsten namenlosen Leuten.22 Esch hatte öfter vom »Historiker als Allesfresser« gesprochen. Wie viel aber war verdaulich? Es ging Schlag auf Schlag: dem Original der Urkunde des Wormser Konkordats (1122) folgten ein Goldsiegel Kaiser Barbarossas von 1164 und dann die Siegel der Bittschriften englischer Lords, die 1530 bei Clemens VII. angefragt hatten, ob ihr König sich regulär (Heinrich VIII. tat’s auch ohne päpstlichen Segen) von Katharina von Aragon scheiden lassen könne. In einer anderen Vitrine lag das Schreiben des preußischen Kronprinzen Friedrich zum Ableben seines Vaters, Kaiser Wilhelms I., an Papst Leo XIII. Dann stehen wir am Ort der Gregorianischen Kalenderreform von 1582, im Sala della Meridiana. Durch ein winziges Loch in der Wand bestreicht der Sonnenstrahl eine Skalierung auf dem Fußboden, die den Unterschied zum alten Julianischen Kalender aufzeigt. Die russische Oktoberrevolution war gregorianisch gesehen eine Novemberrevolution und auch sonst ganz anders als gedacht. Ehe wir noch recht zum Nachdenken kommen, führt uns Metzler hinauf in den Turm der Winde, wo Christina von Schweden, Tochter Gustav II. Adolf, sehr aufgeklärt und »keine Betschwester«, nach ihrem Übertritt zum katholischen Glauben wohnte. Meinem Tagebucheintrag weiter folgend, hatte: »[…] der heilige Stuhl seine liebe Not mit der spröden Skandinavierin. Doch ließ man im Türmchen eine Inschrift ›Alles Schlechte kommt aus dem Norden‹ übertünchen. Metzler bemüht sich um eine neutrale Erklärung. […] Es sei wohl, so meint der 21 Giovanni Angelo Graf Braschi (1717 – 1799). 22 Eine Sammlung derartiger Archivfrüchte bei Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. München 2010.

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Geistliche, der zu jeder Jahreszeit unschöne Nordwind gemeint, wobei ich eher an eine politische Botschaft denke, als an irgendetwas Anderes. Schließlich stehen wir auf der kleinen Aussichtsplattform des Turmes, fast auf Höhe der Kuppel des Petersdoms. Phantastischer Blick über die Stadt. Von den zu unseren Füßen liegenden Vatikanischen Gärten und ihrem kurz geschorenen Golfplatzrasenflächen streift mein Blick zu den Kuppeln, Dächern und Kirchtürmen Roms. Ich höre, wie Esch sich bei Metzler mit den Worten bedankt: ›Wir haben Ihre Geduld nun schon quo usque tandem strapaziert.‹ Mein staunendes Schweben verfliegt erst, als ich die leise Stimme des Präfekten vernehme, die mich bittet, während des Abstiegs doch darauf zu achten, dass alle wieder mit hinunter kommen, die Türen verschlossen und die Lichter gelöscht werden. Verblüfft über das in mich gesetzte Vertrauen, sorge ich pflichtgemäß im Vatikan für Ordnung.« [20. September 1991]

4. Wir hatten das antike und das mittelalterliche Rom gesehen, das der Renaissance, des Barock, des Risorgimento, das Rom Mussolinis und Berlinguers, das der Juden, der Bibliotheken und der deutschen Landsmannschaften – ehe wir das ganze Rom sahen, und zwar gebündelt in einer Straße. Im Kursplan war es der letzte Ausflugstag: »Mi, 25. IX., 8.30. Ganztägige Exkursion: von der antiken Via Cassia zur mittelalterlichen Via Francigena (Picnic mitbringen. Treffpunkt Institut)«. Mit dem Kleinbus ging es nach Norden in Richtung Sutri, Viterbo, Montefiascone. Prächtiger Sonnentag noch einmal. Von diversen Haltepunkten entlang der Fahrstraße suchen wir zu Fuß, Esch wie immer unermüdlich an der Spitze, den antiken bzw. mittelalterlichen Straßenverlauf im Gelände. »Wozu ist die Straße da? Zum Marschieren, zum marschieren um die weite Welt!« Imperiale Infrastruktur. Manchmal sind es nur einzelne Steine, die von der ursprünglichen Wegführung zeugen, manchmal ein längeres gut erhaltenes Stück, so als ob darauf eben noch die Legionen nach Norden oder Prälaten, Pilger, Kaufleute nach Süden unterwegs gewesen wären. Wer sich nicht auskennt, findet freilich nichts. Man braucht eine spezielle, zwischen moderner Autostraße und historischer Infrastruktur vermittelnde Kartografie, die auch nicht immer stimmt, und muss dann vor Ort Sträucher und Zweige zur Seite biegen und durch Gestrüpp kraxeln. Man sieht und findet tatsächlich nur, wovon man bereits eine Vorstellung hat. Esch in seinem Element, erzählt die Straße in die Landschaft und – anekdotenreicher als sonst – in die Geschichte hinein.23 Im Anfang schnurgerade angelegt, amerikanischer Luft23 Itinerare und Geschichten finde ich wieder in: Arnold Esch: Römische Straßen in ihrer Landschaft. Das Nachleben antiker Straßen um Rom mit Hinweisen zur Begehung im Gelände. Mainz 1997.

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bildaufklärung im Zeiten Weltkrieg sei Dank, hat die Streckenführung in Phasen des Verfalls ihren Verlauf immer wieder geändert. Richtungswechsel und Differenz bei fester Struktur. Geschichte, so war es einst dem Italienreisenden Goethe aufgegangen, ist »Dauer im Wechsel«.24 Spuren und Überreste verweisen auf die antiken Straßenstationen, vor allem aber auf den späteren Nordsüddrift: »Sutri mit seiner Festungskathedrale, in der Heinrich III. drei Päpste absetzte, Vorposten Roms […]. Antike und mittelalterliche Straßenführungen der Cassia laufen hier bereits auseinander. Dann eine spätantike Kirche, in einen Tufffelsen gesteckt, gebaut aus römischen Gräbern des Mitraskultes. […] Umgeben von Haselnusshainen und Weinplantagen die Überreste mächtiger Grabtürme, wie Wachtürme in der Landschaft. Ein Ruinenensemble in schöner Natur. Römische Tote wollten sehen und gesehen werden. Sie waren neugierig auf später. […] Wie aus dem nichts stehen wir plötzlich auf antikem Pflaster. Die Steine sind so glatt und gut verfugt, dass Vater Goethe, als er 1740 hier entlang kam, seinen Degen nicht in die Ritzen bekam. Manche Steine liegen noch wie gezogene Zähne am Wegesrand. Findige Bauern aus der Umgebung haben die Rudimente zusammengetragen und ihr eigenes kleines, touristenattraktives Stück Cassia gepflastert.« [25. September 1991]

Unser Exkursionsführer kennt sie und sagt von den Gesprächen mit Anwohnern, dass diese »nicht das Schlechteste an historischer Straßenforschung im Gelände« seien.25 Geschichte ist Konstruktion und Dialog zwischen Menschen und Zeiten. Am authentischen Ort marschieren sie nun auf und vorbei, die großen und kleinen Leute der römischen Straßenweltgeschichte. Da ziehen Könige zur Kaiserkrönung, Pilger zu den Apostelgräbern, da muss Barbarossa 1155 den demütigenden Stallknechtsdienst leisten und Konradin, der letzte Staufer, 1268 unter den Augen des ihn verfluchenden Papstes im festen Viterbo nach Süden und in den Tod ziehen; da ist aber auch ein Bürgermeister, der, um den Anspruch seiner Gemeinde auf den seltenen Eichenwald am Rande der Trasse zu bekräftigen, nach alter Tradition alljährlich im Mai zwei Bäume heiratet. Viele der Geschichten und Anekdoten, die Esch uns präsentiert, auch Teile unserer Route vom September 1991, finde ich in seinem grandiosen Führer zum Nachleben antiker Straßen um Rom26 wieder. Wissenschaft ist Arbeit und Abenteuer. Allerdings bleibt der Liveact gegenüber dem Text unschlagbar, und beim Vergleich fällt mir noch auf, dass eine Reihe anekdotischer Begebenheiten, die uns der Verfasser damals im Gelände erzählte, im Buch nicht mehr oder (wohl der wissenschaftlichen Disziplin gehorchend) nur noch in den Fußnoten auftaucht. Mein Notizbuch ist voll davon: 24 Vgl. Alexander Demandt: Geschichte bei Goethe, in: Merkur 2006/60, S. 323. 25 Esch: Römische Straßen (wie Anm. 23), S. 28. 26 Ebd., Kap. Die Via Cassia, S. 26 – 58.

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»Im heiligen Jahr 1350 humpelte Petrarca, vom Hufschlag des eigenen Pferdes verletzt, die Francigena nach Viterbo. Michelangelo zog, die Renaissance im Rucksack, 1496 aus Florenz hier vorbei in die ewige Stadt, Machiavelli 1503, um als florentinischer Gesandter das Konklave der Papstwahl zu beobachten. Alexander der VI., der heidnischste aller Päpste, war gestorben. Auch Luther pilgerte 1510 auf der Trasse nach Rom, um es zu bestaunen, was er später nicht mehr zugab. Goethes italienische Reise fand in der Kutsche holpernd zu einem großen Teil hier statt. […] Mittagspicknick an den heißen Schwefelquellen bei Viterbo, ›Aqua Bullicame‹, beliebter Ausflugs- und Badeort der Römer. Man meint, einen Swimmingpool mitten in freier Landschaft zu sehen, so blau, klar und von feinweißem Tuffgestein umrahmt. Das Heilwasser umspülte und untergrub schon die antike Cassia. Mancher Papst vergnügte sich dort, während Dante die Quellen als Teil der Hölle besang. Später gab es Badeordnungen, die beispielsweise Prostituierten und Hunden bestimmte Plätze zuwiesen. Ich stecke die Beine ins Wasser, neben mir abgekämpfte Kursteilnehmer. Esch, immer noch hin und her gehend, erläuternd, gestikulierend, nimmermüde.« [25. September 1991]

Montefiascone, knapp hundert Kilometer nördlich von Rom, ist unsere letzte Station entlang der Cassia, strategisch und politisch wichtig, oft umkämpft und im 16. Jahrhundert, unter Paul III. Farnese, mit dem Zeug zur Hauptstadt eines vergrößerten Kirchenstaates. Der Tross ist jetzt nur noch durch Geschichten rund um den Muskatellerwein, für den Montefiascone berühmt ist, bei Laune zu halten. Laut Wikipedia war das Erntejahr 1990/91 mit nur 16.498 Hektolitern ein eher dürftiges. Die Geschichte des Ortes wie der Straße indes ist auch die Geschichte zahlloser (deutscher) Herbergen, in denen immer ordentlich gezecht wurde. Faustregel: Wo Päpste und Könige und diesen auf dem Fuße folgend Pilger und Soldaten waren, da war auch Wein, und wo Wein ist, ist bekanntlich Wohlstand. Als die Päpste nach ihrem Avignonesischen Exil nach Rom zurückkehrten, rollten die Weinfässer hinterdrein. »Der Papst lebt herrlich auf der Welt. Es fehlt ihm nie an Ablassgeld. Er trinkt den allerbesten Wein. Ich möchte auch der Papst wohl sein!«, sangen wir zu Studentenzeiten auf den Jenaer Kernbergen. Von der Weinsteuer, so erzählte uns Esch noch, hätten in Rom sogar die Professoren gelebt. »Je mehr getrunken wurde, desto leichter ließ sich die Universität finanzieren – leider auf heutige Verhältnisse nicht anwendbar.«27 »In der Doppelkirche San Flavino finden wir die Grabplatte eines gewissen Johannes Fugger, auf der folgende Inschrift zu lesen ist: ›Est est est pr(opter) nim(ium) est hic Jo (hannes) de Fu(kris) do(minus) meus mortuus est.‹ Der Prälat, so will es die Legende, soll auf dem Weg nach Rom stets einen Diener vorausgeschickt haben, um die Plätze zu erkunden, an denen der beste Wein ausgeschenkt wurde. Wo dem so war, schrieb er ›Est‹ ans Tor. In Montefiascone habe er begeistert ›Est! Est!! Est!!!‹ angekreidet und dem dortigen Muskateller so seinen Namen gegeben. Sein Herr aber sprach dem Rebensaft daraufhin so heftig zu, dass er daran zu Grunde ging. Beste Werbung! Esch weist auf die 27 Vgl. Esch: Wege nach Rom (wie Anm. 20), S. 29.

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Mischung an Dichtung und Wahrheit hin, auch auf das Testament (das zwar kein Lokalhistoriker je gesehen hat), wonach jährlich an Fuggers Todestag ein Fass Wein über dem Grab auszugießen sei.28 [25. September 1991]

Auf dem Braunschweiger Campus ist es dem Studentenwerk neuerdings durch den Suchtbeauftragten der Universität untersagt, alkoholische Getränke auszuschenken. Der Norden eben. Am Tiber tranken wir an diesem letzten Abend im September 1991 noch ein Gläschen mit dem Direktor und seinen Mitarbeitern, auf Rom und die Geschichte und die Exkursion als den besten aller Zugänge zu ihr. Ob es der Montefiasconer Muskateller war? Vielleicht hätte ich, zurück in Jena, ans besagte schwarze Brett im 21. Obergeschoss des Jenaer Universitätshochhauses dreimal »Est« schreiben sollen. Aber auf die Idee kam ich damals nicht.

28 Vgl. ders., Römische Straßen (wie Anm. 23), S. 45/ 58, Fn. 97.

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Tabula gratulatoria

Astrid Ackermann, Jena Matthias Asche, Tübingen Carla van Baalen, Nijmegen Sven Ballenthin, Erfurt/Gotha J. Friedrich Battenberg, Darmstadt Joachim Bauer, Jena Tilde Bayer, Jena Walter Bayer, Jena Bernhard Becker, Homburg (Saar) Frank Becker, Trittau Winfried Becker, Passau Helmut Berding, Gießen Heinrich Best, Jena Andreas Biefang, Berlin Frank Boblenz, Sömmerda Rudolf Boch, Chemnitz Holger Böning, Bremen Thomas Bohn, Gießen Ursula Braasch-Schwersmann, Marburg Franziska Brockmann, Jena Rüdiger vom Bruch, Berlin Enno Bünz, Leipzig Peter Burg, Münster Susann Burger, Jena Falk Burkhardt, Jena Christoph Cornelißen, Frankfurt am Main Uwe Dathe, Jena Katja Deinhardt, Weimar Klaus Dicke, Jena Eva-Maria Dickhaut, Marburg Axel Doßmann, Jena Guido Dressel, Jena Hendrik Ehrhardt, Berlin Hartmut Ellrich, Jena

Andreas Fahrmeir, Frankfurt am Main Elisabeth Fehrenbach, Saarbrücken/Köln Eva-Marie Felschow, Gießen Marie-Luis Folwaczny, Nordhausen Norbert Frei, Jena Stephan Freund, Magdeburg Stefanie Freyer, Osnabrück Leonhard Friedrich, Jena Gottfried Gabriel, Jena Lothar Gall, Frankfurt am Main Jörg Ganzenmüller, Jena Dominik Geppert, Bonn Stefan Gerber, Jena Charlotte Glück-Christmann, Zweibrücken Robert Gramsch, Jena Werner Greiling, Jena Rainer Gries, Wien Ewald Grothe, Gummersbach Achim Hack, Jena Christoph Hänel, Jena Karl-Eckhard Hahn, Erfurt Christian Hain, Weimar Gabriele Haug-Moritz, Graz Ulrich von Hehl, Leipzig Dieter Hein, Frankfurt am Main Karl Heinemeyer, Erfurt Armin Heinen, Aachen Birgitt Hellmann, Jena Manfred Hettling, Halle Hans Günter Hockerts, München Andrea Hopp, Schönhausen Uwe Hoßfeld, Jena Helmut Hühn, Jena

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Tabula gratulatoria

Steffi Hummel, Jena Sebastian Hunstock, Celle Josef Isensee, Bonn Kurt-Ulrich Jäschke, Saarbrücken Anke John, Jena Jürgen John, Jena Michael Jung, Saarbrücken Mathias Kälble, Dresden Henning Kästner, Jena Tobias Kaiser, Berlin Georg Kalmer, München Eva Kell, Saarbrücken Martin Olaf Klause, Altenburg Andreas Klinger, Jena/Erfurt Michael Klostermann, Eisenach/Erfurt Volkhard Knigge, Jena/Weimar Ernst Koch, Jena/Leipzig Jürgen Kocka, Berlin Hans-Christof Kraus, Passau Marko Kreutzmann, Jena Thomas Kroll, Jena Carsten Krüger, Jena/Milda Alexander Krünes, Jena Dirk van Laak, Gießen Jeannette van Laak, Gießen Eva Labouvie, Magdeburg Sven Lachhein, Weimar Manfred Lange, Neustadt an der Orla Dieter Langewiesche, Tübingen Timo Leimbach, Hamburg Jochen Lengemann, Kassel Friedrich Lenger, Gießen Jörn Leonhard, Freiburg Volker Leppin, Tübingen Stephan Lessenich, München Andreas Lesser, München/Nordhausen Harald S. Liehr, Weimar Clemens Lindemann, Homburg (Saar) Werner Link, Köln Bernhard Löffler, Regensburg Wilfried Loth, Saarbrücken Franziska Maaß, Jena Gunther Mai, Erfurt Klaus Manger, Jena Konrad Marwinski, Weimar Christoph Matthes, Jena

Stefan Matuschek, Jena Michael Maurer, Jena Thomas Mergel, Berlin Heinz Mestrup, Münster Gisela Mettele, Jena H¦lÀne Miard-Delecroix, Paris Matias Mieth, Jena Harald Mittelsdorf, Erfurt Norbert Moczarski, Meiningen Frank Möller, Greifswald/Kiel Horst Möller, München/Berlin Johannes Mötsch, Meiningen Rudolf Morsey, Neustadt an der Weinstraße Gerhard Müller, Jena Heribert Müller, Frankfurt am Main/Köln Johannes Müller, Jena Jürgen Müller, Frankfurt am Main Wolfgang Müller, Saarbrücken Elisabeth Müller-Luckner, München Jörg Nagler, Jena Lutz Niethammer, Jena/Arendsee Torsten Oppelland, Jena Werner J. Patzelt, Dresden Helmut-Eberhard Paulus, Rudolstadt Walter Pauly, Jena Werner Plumpe, Frankfurt am Main Bernhard Post, Weimar Joachim von Puttkamer, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Steffen Raßloff, Erfurt Peter Rauch, Wien/Köln Marie-Luise Recker, Frankfurt am Main Jens Riederer, Weimar Oliver Riegg, Jena Klaus Ries, Jena Gerhard A. Ritter, München/Berlin Petra Roscheck, Saarlouis Johannes Roth, Jena Manfred Rudersdorf, Leipzig Hagen Rüster, Greiz Wiebke Rutz (geb. von Häfen), Falkensee Silke Satjukow, Magdeburg Peter Schäfer, Jena Rudolf Schieffer, Bonn Uwe Schirmer, Jena

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Tabula gratulatoria

Tobias Schläger, Jena Alexander Schmidt, Jena David Schmidt, Jena Georg Schmidt, Jena Julia A. Schmidt-Funke, Jena Barbara Schneider, Kulmbach Hannelore Schneider, Eisenach Michael C. Schneider, Düsseldorf Ulrike Schramm-Häder, Jena Marco Schrul, Erfurt Suzanne S. Schüttemeyer, HalleWittenberg Andreas Schulz, Berlin Günther Schulz, Bonn Winfried Schulze, Essen/München Erich Schunk, Landau Ronny Schwalbe, Neustadt an der Orla Hans-Peter Schwarz, Bonn/Gauting Rainer Christoph Schwinges, Bern Wolfram Siemann, München Winfried Speitkamp, Kassel Matthias Steinbach, Braunschweig Sybille Steinbacher, Wien Willibald Steinmetz, Bielefeld Matthias Stickler, Würzburg Timo Stickler, Jena Barbara Stollberg-Rilinger, Münster Gerald Stourzh, Wien

Brigitte Streich, Wiesbaden Rüdiger Stutz, Jena Dietmar Süß, Augsburg Margit Szöllösi-Janze, München Stefan Tebruck, Gießen Holger Thuß, Jena Eckhardt Treichel, Frankfurt am Main Volker Wahl, Weimar Rolf Walter, Jena Gerrit Walther, Wuppertal Helmut G. Walther, Jena Uwe Jens Wandel, Gotha Florian Weber, Jena Reinhard Wegner, Jena Petra Weigel, Erfurt/Gotha Felix Weigner, Bad Zwischenahn Matthias Werner, Jena Siegrid Westphal, Osnabrück Michael Wettengel, Ulm Wolfgang Wimmer, Jena Andreas Wirsching, München Helge Wittmann, Mühlhausen Barbara Wolbring, Frankfurt am Main Eike Wolgast, Heidelberg Thomas Wurzel, Frankfurt am Main Heiko Ziemer, Jena Klaus Zimmermann, Münster Olaf Zucht, Erfurt

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Personenregister Das Register verzeichnet in alphabetischer Folge alle in den Texten namentlich erfassten Personen. Nicht aufgenommen wurden Personen, die lediglich in den Anmerkungen oder in tabellarischen Übersichten genannt werden.

Abbe, Ernst 212, 220, 261, 271, 767 f. Abel, Carl August von 412 Abel, Sigurd Friedrich 488 Abresch, Johann Philipp 363 Adalbert I., Erzbischof von Bremen und Hamburg 479 Adelung, Johann Christoph 85 – 87 Adickes, Franz Bourchard Ernst 239 – 259 Adolf Magnus Graf von Hoym 570 Alberti, Leon Battista 17 f., 825 Albrecht, Hzg. von Sachsen-Eisenach 567 Alcazaba, Simûn de 58 Alewyn, Richard 286 f. Alexander I., Zar von Russland 308 f., 314 Alexander VI., Papst 329 Alighieri, Dante 477, 479, 485, 833 Almeida, Francisco de 66 f, Althoff, Friedrich Theodor 241, 245 f., 767 Alvensleben, Konstantin von 637 – 639 Amberger, Christoph 58 Andr¦, Christian Karl 48 Andrian-Werburg, Victor Freiherr von 366, 368 Andropow, Juri 696 Angelloz, Joseph-FranÅois 805, 807, 810, 815 Anna Amalia, Hzgn. von Sachsen-WeimarEisenach 211, 213, 223, 310, Anschütz, Gerhard 252 Arens, Franz Joseph Freiherr von 749, 751

Aretin, Johann Adam Freiherr von 355, 357, 553 Aristoteles 17 Arminius 331 Arndt, Ernst Ludwig 530 Arndt, Ernst Moritz 339 Arnim-Suckow, Heinrich von 412 Assmann, Aleida 733 Assmann, Jan 744 Auersperg, Anton Alexander Graf von 91 Auriol, Vincent 814 Bach, Alexander Freiherr von 505 Baden, Berthold Markgraf von 796 Baden, Max Prinz von 795 Baden, Wilhelm Markgraf von 416 Baer-Frisell, Christine 783 Balabanoff, Angelica 543 Baltzer, Eduard 425 – 450 Banno, Stefan 501 Barlösius, Eva 428, 431, 442 Bartholomäus, Georg 599 Basedow, Johann Bernhard 38, 40 Bassermann, Friedrich Daniel 175 f., 437 Bassewitz, Friedrich Magnus von 516 Bauer, Fritz 273 – 279 Baum, Vicki 167 f., 172 Baur-Breitenfeld, Anton von 413 Bazaine, Achille 634 – 639 Beauharnais, Auguste 300 Beauharnais, EugÀne-Rose de 300 Beauharnais, Stephanie 300

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Personenregister

Bebel, August 543 – 549, 551, 553 – 555, 557 Beche, Henry Thomas de la 233 Becher, Johannes Robert 286 Bechstein, Johann Matthäus 48 Beck, Karl 91 f. Becker, Gottlieb Joachim 36 Becker, Hermann 471 Becker, Johann Philipp 364 Beethoven, Ludwig van 152, 788 Begas, Reinhold 217 Behaim, Martin 69 Behaim, Michael 69 Behn, Friedrich Daniel 37 Beier, Adrian 737, 740 – 743 Bell, Gerda Elizabeth 226 – 228, 234, 237 Benedikt XVI., Papst 830 Bennigsen, Karl Wilhelm Rudolf von 125 Berckheim, Karl Christian Freiherr von 354 f. Berg, Günther Heinrich von 353 Berks, Franz von 412 – 414 Berlinguer, Enrico 827, 831 Berlusconi, Silvio 541 Bermbach, Udo 140 f. Bernstein, Eduard 545, 556 f. Bernus, Franz Alfred Jakob 80 f. Bertuch, Carl 183 Bertuch, Friedrich Johann Justin 37, 177, 180, 182 f., 312 Beseler, Wilhelm von 417 Bethmann-Unzelmann, Friederike 158 Beuermann, Alexander 674, 677 – 679 Beust, Friedrich Ferdinand von 531 – 538 Bismarck, Otto von 73, 81, 108, 115, 117 f., 123 – 126, 130, 173, 203, 209, 294 f., 525 f., 538, 640, 642 Blasche, Bernhard Heinrich 44 Blechen, Karl 95 Blendinger, Heinrich 795 f. Blind, Adolf 807 Bloch, Ernst 819, 827 Blücher, Gebhard Leberecht Fürst von 515 f. Blum, Robert 434 Blümel, Bartholomäus 70

Blumenberg, Hans 309 Bockelmann, Johann Otto 184 Bodenburg, Natalie 771 Bodenburg, Wilhelm 775 Bodenhausen, Melchior von 564 Boeckh, August 258 Bonaparte, Lucien 300 Bopp, Franz 323 Borchmeyer, Dieter 141 Börne, Ludwig 147 f., 150 – 161, 293 Bosch, Robert 263 – 265, 269 Bose, Friedrich Ernst von 456 f. Böttcher, Georg Gottlieb 459 Böttiger, Karl August 309 f., 312 Brandenstein, Bela von 805 Brandt, Willy 558 Braudel, Fernand 63 Braun, Karl 51 Braune, Ernst 664 Bräutigam, Adam 775 Bräutigam, Margareta 775 Brecht, Bertolt 823 Brentano, Auguste 158 Brentano, Lujo 262 Breschnew, Leonid 695 Brill, Hermann 772 f., 797 Bruch, Daniel 619 Bruch, Gustav 642 Bruch, Sebastian 619 Brüggemann, Karl Heinrich 370 f. Brühl, Marie Anna Gräfin von 571 Bruno, Giordano 827 Buber, Martin 772, 779, 788, 790, 792 – 794 Büchner, Georg 87, 91, 225 f., 229 Buchwald, Reinhard 778 Buol-Schauenstein, Johann Rudolf Graf von 349 Burckhardt, Carl Jacob 237, 267 f. Butenandt, Adolf 809 Büttner, Christiane Henriette Sophia 178 Büttner, Friedrich Gottlieb 178 Cabral, Pedro Ýlvares 64 Caesar, Julius 789, 823 – 825

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Personenregister

Camerarius, Joachim (d. Ä.) 722, 724, 726 Canrobert, FranÅois 633 Carl Alexander, Ghzg. von SachsenWeimar-Eisenach 212 – 214, 216 Carl August, Ghzg. von Sachsen-WeimarEisenach 119, 179, 181, 187, 212 – 214, 216 f., 223, 301, 305, 307 f., 311 f., 316, 479 – 482, 485, 492, 774 Carl Friedrich, Ghzg. von SachsenWeimar-Eisenach 213 Carletti, Francesco 57 Carlyle, Thomas 207 Cartellieri, Alexander 823 Carus, Carl Gustav 293 Catilina, Lucius Sergius 332 Celtis, Konrad 718 Chamberlain, Houston Stewart 295 Chamisso, Adelbert von 91 Champier, Laurent 805 Chateaubriand, FranÅois-Ren¦ de 317 Christian IX., König von Dänemark 536 Christina, Königin von Schweden 826, 830 Christmann, Philipp 362 Cicero, Marcus Tullius 820, 822 Clemens VII., Papst 829 f. Clericis, Fabrizio 822 Clermont, Rudolf 673 Cluet, Marc 426 Coelestin V., Papst 830 Cohen, Yves 541 Coler, Johannes 18 Colquhoun, Glenn 226, 228 Comenius, Johann Amos 20 Cook, James 230 Costa, Andrea 544 Cotta, Ida von 183 Cotta, Johann Friedrich 180, 182 f., 150, 154, 156, 177 Cotta, Johann Georg von 183 Cramer, Ludwig Ehrenfried Friedrich 35 Craxi, Bettino 558 Crusius, Siegfried Leberecht 38 Cusanus, Nikolaus 779

Dalfinger, Ambrosius 70 f. Danz, Johann Ernst Friedrich 352, 354 Darjes, Joachim Georg 15, 28 – 40, 50 Darjes, Martha Friederica 30 Darwin, Charles 226, 230, 233 f., 527 Deinhardstein, Johann Ludwig Ferdinand 142 f. D¦lacroix, EugÀne 102 Delbrück, Adelbert 121 Delbrück, Berthold 121 f., 125 f. Delbrück, Clemens 121 Delbrück, Friedrich 121 Delbrück, Gottlieb 121 Delbrück, Rudolph 115 – 130 Demke, Christoph 698, 702 Diederichs, Eugen 212, 263, 778 Dieffenbach, Anna 236 Dieffenbach, Christiane 228 Dieffenbach, Ferdinand 237 Dieffenbach, Johann Friedrich 229, 235, 237 Dieffenbach, Johann Karl Ernst 225 – 238 Dieffenbach, Johann Philipp 228 f. Dieffenbach, Klara 236 Dieffenbach, Ludwig Adam 228, 235 Dieterici, Carl Friedrich Wilhelm 106 f. Dilherren, Johann Michael 740 Dingelstedt, Franz 214 Dinter, Arthur 653 f. Dinter, Christian Gustav Friedrich 179 f., 184, 190 Ditfurth, Jutta 428 Döhle, Erich 671 Dohrn, Anton 264, 270 Döll, Erich 664 Döllinger, Ignaz von 490 Donndorf, Adolf 216, 220 Donndorf, Karl 219 Drake, Friedrich 219 Drechsler, Heinrich Gottlieb 604 Dresser, Matthäus 741 Drouyn de Lhuys, Êdouard 532 Droysen, Johann Gustav 322, 475, 477, 483, 485, 493 Droysig, Gotthelf Adolf Graf 572

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Personenregister

Dryander, Johann Friedrich 601 – 603, 607 – 612, 616 – 629 Dufraisse, Roger 300 Duncker, Franz 642 Duroselle, Jean-Baptiste 806 Duttlinger, Johann Georg 383 Eberhardt, Hans 599 Ebert, Friedrich 295 Eckermann, Johann Peter 91 Ehinger, Georg 71 Ehinger, Heinrich 68 f. Ehinger, Jörg 70 Ehrenberg, Christian Gottfried 234 Ehrlich, Paul 241, 246, 760 f., 767 Ehrmann, Johann Franz 606 Ehses, Stephan 488 Eichendorff, Joseph Karl Benedikt Freiherr von 98 Eigenbrodt, Elisabeth 775 Eigenbrodt, Helfrid 772, 793 Eigenbrodt, Wolrad 775 Einhard 325 Einsiedel, Detlev Heinrich Graf von 569 Elisabeth von Thüringen 214, 491 Elster, Gottlieb 217 Elster, Ludwig 252 Engel, Ernst 103, 106 f., 111 Engels, Friedrich 545 Eppelmann, Rainer 695 f. Epstein, Jacob Hermann 172 – 174 Ernst I., Hzg. von Sachsen-Gotha 567 f. Esch, Arnold 55, 819, 822, 828 Eschwege, Urban von 564 Ester, Carl Ludwig Johann de 467 Eulenburg, Friedrich Graf zu 108 Eyben, Friedrich Graf von 454 Falcke, Heino 697, 702, 704, 706 – 708 Falconette, Adolfo 501 Falk, Johannes Daniel 217 Falk, Johannes 732 Farr, William 111 Feininger, Lux 785 Feininger, Lyonel 785

Ferdinand I., Kaiser von ÖsterreichUngarn 405, 739 Fernandes, Valentim 66 Fernow, Carl Ludwig 311 Ferrari, Ettore 827 Ferri, Enrico 543, 550, 554 f. Fichte, Johann Gottlieb 383 Ficker, Adolf 111 f. Ficker, Julius 491 Firmond, Georg Ludwig 605, 620 f. Fischer, Adolf 572 Fischer, Gustav Eduard 478 Fischer, Kuno 524 Fleischer, Carl Friedrich 187 Flesch, Karl 242 Flitner, Wilhelm 778 Fontane, Theodor 93 f. Forster, Reginald 822 Fortlage, Karl 490 Fouch¦, Joseph 496 Francisco, Juan 70 f. Francke, August Herrmann 30 Franz I., Kaiser von Österreich-Ungarn 496 Franz I., König von Frankreich 63 Franz Joseph I., Kaiser von ÖsterreichUngarn 498, 505 Franz, Carl 246 Franz, Günther 592 Frede, Lothar 798 f. Freilingrath, Ferdinand 294 Freising, Otto von 325 Frenzel, Johann 741 Freytag, Gustav 523 Frick, Wilhelm 659, 791 Friedrich August I., Kurfürst von Sachsen 570 Friedrich I., Ghzg. von Baden 222 Friedrich I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 327, 331 f., 371, 479 f., 830, 832 Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 492, 562 Friedrich II., König von Preußen 328 Friedrich III., dt. Kaiser 632, 635, Friedrich VII., König von Dänemark 533

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Personenregister

Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 121, 234, 408 f., 440, 470, 472, 489, 524 Friedrich, Caspar David 95 Fries, Jakob Friedrich 219, 383 Fröbel, Julius 114 Frommann, Friedrich Johannes 486 Frommanshausen, Dietrich von 700 Frommel, Christoph 825 Froriep, Ludwig Friedrich von 183 Frossard, Charles 634 Fuchs, Eugen 412 Fugger, Anton 57 – 59, 63 Fugger, Bartholomäus 63 Fugger, Jakob 57, 63 Gagern, Hans Christoph Reichsfreiherr von 354 Gagern, Heinrich von 380, 402, Gailus, Manfred 423 Gall, Lothar 376 Gama, Vasco da 64 Garve, Christian 38 Gasser, Hans 216 Gäßler 419 Geheeb, Paul 776 f., 781 – 784 Geibel, Carl 492 Geibel, Emanuel 293 Geiger, Theodor 274 Gellert, Christian Fürchtegott 98 George, Stefan 777 Georgi, Konrad 750 f., 753 Gerlach 529 Gervinus, Georg Gottfried 142, 293, 477 f., 480 Gessler, Heinrich 70 Gibbon, Edward 157 Giustiniani, Esteban 71 Glatz, Jakob 48 Gleichen, Erdmuthe Juliane Gräfin von 566 f. Gleichen, Hans Ludwig Graf von 563, 565, 568 Gleichen, Magdalene Gräfin von 563 Gleichen, Wolrab Graf von 563

GleizÀs, Jean Antoine 443 Globig, Hans August Fürchtegott von 355 Glotz, Peter 243 Gneisenau, August Graf Neidhardt von 515 Goethe, Johann Wolfgang von 86 f., 90 f., 95, 102, 142, 156, 177, 180 f., 189 f., 207 f., 210, 212 – 216, 222 f., 284, 286, 288 – 297, 299 – 301, 303 – 318, 320, 324 f., 333, 482, 493, 832 f. Gollwitzer, Heinz 422 Goltz, August Friedrich Ferdinand Graf von der 353 – 355, 357 Gontard, Barbara 158 Göring, Hermann 659 Gregoire, Henri 809 Gregor VII., Papst 327 Gregorovius, Ferdinand 820 Greil, Max 772 f., 784 – 791, 798 Gries, Johann[es] Michael 354 Grimm, Hermann 294 Grimm, Jacob 584 Grimm, Johann 564 Grimm, Johann Andreas 565 Grimm, Reinhold 292 Grimm, Wilhelm 584 Grubissi, Anton 501 Gruner, Karl Justus 496 Guesde, Jules 543, 551, 555 Guhr, Carl 152 Gustav II. Adolf, König von Schweden 830 Gutenberg, Erich 797 Gutenberg, Johannes 811, 825 GutsMuths, Johann Christoph Friedrich 43 f., 48 Haast, Julius von 235 Haberkorn, Georg 758 Hach, Johann Friedrich 354, 356 Hachtmann, Rüdiger 411 Haeckel, Carl Gottlob 515 – 528 Haeckel, Carl Heinrich Christoph Benjamin 516 Haeckel, Charlotte 516 f.

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Haeckel, Ernst Philipp Heinrich August 212, 225, 233, 271, 515 – 528 Häfner, Karl Friedrich 649 Häfner, Theodor 653 Hagen, August 142 Hahn, Hans-Werner 12, 52 – 54, 73, 83, 203, 261, 290, 426 f., 437, 487, 759 Hahn, Hermann 217 Hahn, Kurt 795 Hahn, Otto 809 Hahn, Theodor 442, 444 Haller, Carl Ludwig von 216, 334 Haman, Ludwig 658 f. Harless, Hermann 784 Harnack, Adolf 254, 767 Harring, Harro 362 Härtel, Robert 219 Hartmann, Eugen 242 Hartmann, Markus 70 Hase, Karl von 219, 285 Hatzfeld und Gleichen, Sebastian Graf von 565 Hatzfeld, Melchior Graf von 564 Häusser, Ludwig 477, 480, 490, 492 Havemann, Robert 695 Haym, Rudolf 373 Hebbel, Friedrich 214 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 208, 293, 299, 323, 383 Hehn, Viktor 294 Heilbrunn, Ludwig 171 f., 251, 255 Heilbrunn, Rudolf Moritz 165, 168, 171 f. Heine, Heinrich 91, 148, 293, 427 Heinemann, Rosemarie 708 Heinemann, Wolf-Dietrich 702 f., 706 – 710 Heinrich I., ostfränk. König 145, 327, 331 Heinrich III., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 832 Heinrich IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 327 Heinrich VIII., König von England 830 Henner, Theodor 488 Herder, Johann Gottfried 212, 215 f., 221, 223, 233, 297, 310, 379, 383 Hermand, Jost 292

Herold 463 Hertfelder, Thomas 268 f. Herwart, Christoph 71 Herwart, Jörg 67 Herwart, Matthäus 67 Herwegh, Georg 88 Hesiod 17 Hessen, Philipp Prinz von 650 Hessen-Darmstadt, Emil Prinz von 416 Heuss, Theodor 261 – 272 Heym, Michael 706 Hiller, Ferdinand 153 Hilpert, Werner 683 f. Hinckeldey, Karl Ludwig Friedrich von 471 f. Hirschvogel, Lienhart I. 66 f., 69 f. Hirtius, Aulus 825 Hitler, Adolf 284, 286, 538, 653 – 655, 657, 662, 671, 675 f., 786, 799 Hochdörfer, Johann Heinrich 363, 371 Hochstetter, Ferdinand von 66, 235 Hoddis, Jakob van 101 Hodgkin, Thomas 230 Hoffbauer, Wilhelm 434 Hoffmann, Ernst Emil 751 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 142 Hoffmann, Johannes 803, 805, 808 Hohenlohe, Felicitas Gräfin von 562 f. Hohenlohe, Georg Friedrich Graf von 565 Hohenlohe, Heinrich Friedrich Graf von 565, 568 Hohenlohe, Kraft Graf von 563 Hohenlohe, Philipp Ernst Graf von 563 – 565 Hohenlohe, Wolfgang Graf von 563 Hohenlohe, Wolfgang Julius Graf von 565 Hohenlohe-Ingelfingen, August von 572 f. Hohenlohe-Ingelfingen, Friedrich Ludwig von 562, 572 Hohenlohe-Langenburg, Constanze Prinzessin von 575 Hohenlohe-Neuenstein-Oehringen, Ludwig Friedrich Karl von 567

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Personenregister

Hohenlohe-Oehringen und Ujest, Christian Kraft von 574 Hohenlohe-Oehringen und Ujest, Hugo von 573 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig von 575 f. Hohenlohe-Schillingsfürst, Franz Fürst von 575 Hohenlohe-Schillingsfürst, Philipp Ernst von 576 Hohenthal, Peter Graf von 30 Hohmann, Anton 490 Holland, Rudolf 662 Holland-Merten, Hugo 652 Hömer, Dieter 698 – 700 Honecker, Erich 695, 702 Hörl, Veit 58 Hornig, Walter 652 f. Hornig, Wilhelm 657 Horstmann, Philipp Bernhard 605, 607, 609 f., 615, 618 – 621, 625 Hortleder, Friedrich 737, 740 f. Hoym, Christiane Gräfin von 571 Hoym, Ludwig Gebhard I. Freiherr von 570 Hoym, Ludwig Gebhard II. Graf von 571 Hoym, Marianne Gräfin von 562, 571 – 573 Huber, Ernst Rudolf 436 Humboldt, Alexander von 225, 235 Humboldt, Wilhelm von 244, 249, 254, 309 f., 322, 383, 735, 808 Hummel, Johann Nepomuk 153, 217 Hutten, Ulrich von 479, 718 Ibrahim, Jussuf 797 f. Imhoff, Jörg 66 f. Jacob Heinrich Graf von Flemming Jacob, Johann 67 Jagemann, Caroline 307 Jagow, Gustav Wilhelm von 108 JaurÀs, Jean 543, 551 – 556 J¦rúme Bonaparte, König von Westphalen 300

570

Johann Casimir, Hzg. von SachsenCoburg 566 Johann Ernst, Hzg. von SachsenEisenach 566 Johann Friedrich I. von HohenloheNeuenstein-Oehringen 567 Johann Friedrich, Kurfürst von Sachsen 218, 223 Johann Georg IV., Kurfürst von Sachsen 570 Johann, Erzherzog von Österreich 402, 405 Johann, Hzg. von Sachsen-Weimar 563 Jonas, Ludwig 517 Joseph II., Kaiser von ÖsterreichUngarn 379 Judeich, Heinrich Walther 774 Jügel, Carl Christian 246 Jügel, Carl Franz 246 Jügel, Friedrich August Martin 246 Julius II., Papst 828 Kameke, Georg von 637, 639 Kamen, Henry 56 Kant, Immanuel 375, 380, 383, 387, 389 Karl III. von Gleichen 562 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 58, 63, 70 Katharina von Aragon 830 Katharina, Königin von Westphalen 300 Kathe, Johann Karl 178 Keller, Gottfried 95, 97 – 99 Kempen, Johann Freiherr von 498 Kennan, George Frost 777 Kepler, Johannes 718 Kerner, Justinus 95 – 98 Keßler, Harry Graf von 212 Kest, Katharina 613 Keuth, Hermann 621 – 623 Kiesinger, Kurt Georg 666 Kirchberger, Ulrike 232 Kleeberg, Walter 664 Kleist, Heinrich von 316 Knigge, Adolph Freiherr von 613, 615 Knoeringen, Waldemar von 273

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Koch, Alfred 700, 703 Koch, Helmut 698 Koch, Jörg 70 Koch, Richard 168 – 173 Koczik, Felix 665 Koehl, Thomas 616 Köler, Hieronymus 71 Köllner, Adolph 615, 625 Köllner, Friedrich 614 f., 625 Kolowrat-Liebsteinsky, Franz Anton von 405 Kolumbus, Christoph 56, 72 Konarski, Johann 501 Körner, Christian Gottfried 156 Körner, Fritz 599 Körner, Helmut 698, 700 Koselleck, Reinhart 268, 374 Kossuth, Lajos 406 Kotzebue, August von 155 f., 749 Krackrügge, Goswin 466 f., 471 Kratz, Wilhelm 17 Kraus, Gerlinde 570, 572 Krautheimer, Richard 820 Kromayer, Johannes 20 Krug, Wilhelm Traugott 488 Kuehl, Anton 731 Kühne, Ludwig 519, 526 Kummer 458 Küpper, Heinrich 805 Kurz, Sebastian 58 Labriola, Arturo 550 Labrousse, Ernest 584 Lafontaine, Oskar 820 LagrÀze, Wilhelm 663 Landgraf, Johannes 665 Langenbucher, Wolfgang Rudolf Langewiesche, Dieter 74 Lassalle, Ferdinand 544 Lässig, Simone 157 Leber, Julius 273 Legoyt, Alfred 111 Lehmann, Orla 417 Leich, Werner 698 Leiningen, Karl zu 414

273

Leist, Winfried 234 Lenau, Nikolaus 99 Leo XIII., Papst 830 Leo, Heinrich 319 Leonhardi, Jacob Friedrich Freiherr von 351 Lepel, Georg Ferdinand Freiherr von 354 f. Lessing, Otto 217 Leutheußer, Richard 787, 789 Levin, Rahel 160 Lex, Johann Ludwig 612 Liebig, Justus von 225, 229, 234, 264, 268, 757 Lier, Andrea 71 Lier, Leonardo 71 Liliencron, Rochus Freiherr von 476, 483, 485, 492 f. Linde, Justin von 416, 747, 751, 753 – 757 Lindner 529 Lipsius, Justus 718 List, Friedrich 87, 89, 100 f. Liszt, Franz 212, 214, 217 Lohmeyer, Karl 616, 618 f., 622 f. Lohri 467 Lortzing, Albert von 142 f. Lotze, Hermann 102 Löwe, Friedrich 71 Löwenstein, Scipio 65 Luden, Heinrich 319 – 335, 340, 478, 492 Ludwig, Fürst von Nassau-Saarbrücken 602 f., 607, 622 Ludwig I., König von Bayern 412 – 416, 422 Ludwig II., König von Bayern 144 Ludwig XIV., König von Frankreich 300 Luise, Hzgn. von Sachsen-WeimarEisenach 305, 310 Luther, Martin 18 f., 214, 284, 287, 534, 719, 742, 828, 833 Lützow, Elisa von 341 Lützow, Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von 341 Luxemburg, Rosa 273, 544, 556 f. Lyell, Charles 225, 233

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Maaß, Otto 464, 469 Machiavelli, Niccolý di Bernardo dei 819, 833 MacMahon, Patrice 636 f. Malss, Karl Balthasar 154, 156 f. Mandelslohe, Curt von 564 Mann, Golo 493 Mann, Thomas 271, 295 f., 315 f. Manuel I., König von Portugal 66 Marco Datini, Francesco di 56 Marcuse, Ludwig 273 Maria Pawlowna, Ghzgn. von SachsenWeimar-Eisenach 212 f., 217, 308, 313, 341 Marschall von Bieberstein, Ernst Freiherr 355 Martens, Georg Friedrich von 350, 352 f., 355 f. Marx, Karl 452, 497, 545, 827 f. Maurer, Georg 412 Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 143 Maximilian II., König von Bayern 489, 562 Mazzini, Giuseppe 497, 503, 558 Mehring, Franz 546 Meinecke, Friedrich 283 – 286, 295 f. Meinecke, Heinz 794 Melanchthon, Philipp 19, 719, 721 f., 724, 726, 732 Mendelssohn, Peter de 781 f., 784 Mendes, Ruy 68 Menz, Johannes 575 Menz, Wilhelm 653 Menzel, Adolph von 95 Menzel, Wolfgang 292 Merton, Wilhelm 239 f., 242, 244, 248, 254, 259 Mesenhöller, Peter 237 Meyer, Eugen 803 – 817 Meyer, Georg 121 Meyer, Hermann Weiand 805 Meyer, Johannes 25 Meyr, Melchior 221 Michelangelo Buonarroti 825, 833 Michels, Robert 542

Michelsen, Andreas Ludwig Jacob 485 f., 493 Mignet, FranÅois-Auguste 157 Millin, Aubin-Louis 309 f. Miquel, Johannes 239, 245 f. Mitterand, FranÅois 558 Moeller, Bernd 726 Moltke, Carl Graf von 632 – 636, 639 f. Moltke, Helmuth von 130 Mommsen, Theodor 767 Montag, Martin 705 – 708 Montez, Lola 412 – 416, 421 Moraw, Peter 735 Moreau, Jaques 805 f. Morus, Thomas 718 Mounier, Jean Joseph 310 Mozart, Wolfgang Amadeus 153, 217 Müffling, Carl von 313, 316 Müller, Amalie Christiane 178 Müller, August Wilhelm 178 Müller, Gerhard 711 Müller, Johannes von 312 f. Müller, Mathäus Joseph 364 Müller, Sigmund 535 Münchhausen, Otto Freiherr von 461 – 463 Mundt, Theodor 373 Münter, Balthasar 36 f. Müntzer, Thomas 828 Mussolini, Benito 550, 555, 558, 831 Mütze, Wilhelm 662 – 665 Mylius, Johann Christoph 738 f., 742 – 744 Napoleon Bonaparte 74, 77, 208, 291, 294, 308 – 318, 370, 373, 375, 404, 496, 515, 612, 829 Napoleon III., Kaiser der Franzosen 532, 534, 640 Nassau-Saarbrücken, Heinrich Erbprinz von 615 Nassau-Saarbrücken, Katharina von 614 Nassau-Saarbrücken, Luise von 614 Naumann, Friedrich 263 f., 268 Naumann, Otto 252

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Neidhart, Sebastian 71 Neill, Alexander Sutherland 782 – 784 Netto, Heinrich 344 f. Neufville, Therese 158 Neuhaus, Carl Eduard 462, 468 f., 472 Ney, Hubert 804, 807, 811 Nietzsche, Friedrich 101, 207, 315, 822, 824, 826 Nipperdey, Thomas 203 – 205, 304, 432 f., 449 Nohl, Hermann 778 Nürnberg, Georg von 55 Nürnberger, Kasimir 70 Nürnberger, Lazarus 57, 69 – 72 Oberländer, Dieter 696 f., 700, 702 f., 706 f. Oken, Lorenz 219, 229 Oppenheim, Moritz Daniel 172 Oppenheimer, Leopold Heinrich 149 Ossietzky, Carl von 273 Osswald, Albert 693 Osten, Friedrich Graf von der 573 Osten-Sacken, Carl Graf von der 571, 573 Osterhammel, Jürgen 104 Österreich, Sophie Friederike Erzherzogin von 405 Otto I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 327, 331 Owen, Richard 230 Palacky´, Frantisˇek 319 Paletschek, Sylvia 427, 432 Pandel, Hans-Jürgen 625 f., 628 Pappenheim, Ludwig 656 Patow, Robert Freiherr von 519, 525 Patton, George Smith jr. 667 Paul III., Papst 833 Paul, Ernst 219 Paul, Rudolf 798 Paz, Manuel de 57 Pein, Bernhard 795 Pest, Jacob Gotthardi 498 Pestel 634 Peter, Walter 652

Peters, Wilhelm 772 Petersen, Peter 790 f. Petrarca, Francesco 833 Peucer, Caspar 721 Pezel, Christoph 721 Pfizer, Gustav 380 Pfuel, Ernst von 407 Pitz, Georg Heinrich 612, 620 Pitz, Karl Caspar 620 Pius VI., Papst 830 Pizarro, Francisco 58 Platon 17, 780 Plessen, Leopold von 352 f., 355 f. Plutarch 443 Pock, Jörg 70 Poelzig, Hans 264 Pölnitz, Joseph Anton von 366, 369, 371 f. Ponninger, Franz Xaver 217 Popper, Raimund Karl 273 Posner, Ernst 804 Preiser, Erich 797 Preußen, Friedrich Karl Prinz von 632, 635 – 637 Prittwitz-Gaffron, Karl von 407 Probst, Rudolf 534 Pufendorf, Samuel 27 Pythagoras 443 f. Quetelet, Adolphe Quint, Josef 805

107

Raabe, Wilhelm 96 Raleigh, Walter 56 Ranke, Leopold von 284, 319, 324, 491 Rasch, Gustav 470 Rathenau, Walter 273 Ratke, Wolfgang 20 Raubal, Franz 820 Reagan, Ronald 695 Recknagel, August Wilhelm 649 f. Recknagel, Bernhard 649 Recknagel, Friedrich Wilhelm 649 Recknagel, Kurt Erich 666 Recknagel, Lydia 651, 660, 666 Recknagel, Otto Siegfried 666

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Recknagel, Otto 645 – 668 Redslob, Edwin 267 Reichardt, Christian 30 Reichardt, Martha Friederica 30 Reichenbach, Eduard Graf von 467 Reiher, Stefan 628 Rein, Wilhelm 778 Reinhard, Wolfgang 61 Reinhardt, Karl 795 Reischek, Andreas 235 Rethberg, Gottlob Friedrich 185 f., 189 f. Reuning, Katharina Emilie 236 Reuße, Felix 208 Reuter, Fritz 219 f. Reyher, Andreas 20 Riario, Raffaelo 825 Richard Maria Ferdinand, Graf Du MoulinEckart 476, 485, 488 Richel, Wilhelm 184 Richter, Eugen 236 Riemer, Friedrich Wilhelm 305 – 307 Ries, Klaus 337 Rietschel, Ernst 217, 222 Ritter, Carl 232 Rittmann, Herbert 75 Rochow, Friedrich Eberhard von 38 Romero, Oscar 828 Röntgen, Wilhelm Conrad 268 Roon, Albrecht von 240 Rosenzweig, Franz 169, 171, 790 Rossini, Gioachino Antonio 154 f. Roth, Joseph 505 Rotteck, Carl von 366, 373 f., 377 – 389 Rotten, Elisabeth 788 Rotterdam, Erasmus von 718 Rousseau, Jean-Jacques 156, 380 f., 387, 443, 479 Rückert, Heinrich 483, 486 Rudler, FranÅois Joseph 629 Ruhl, Moritz 188 Rühle von Lilienstern, Johann Jacob Otto August 316 Ruppersberg, Albert 615 – 618, 635 Rüstow, Alexander 267

Sachs, Hans 133, 135 – 138, 142 – 145 Sachsen-Weimar-Eisenach, Bernhard Prinz von 316 Sachsen-Weimar-Eisenach, Marie Luise Alexandrina Pawlowna Prinzessin von 313 Sagittarius, Caspar 492 Sailer, Hieronymus 69 Salzmann, Christian Gotthilf 15, 38 – 50 Sand, Karl Ludwig 749 Sander, Michael 803 Sauckel, Elisabeth 660 Sauckel, Fritz 645, 647, 654 – 662 Sauerländer, Johann David 155, 157 Savigny, Friedrich Carl von 333 Schaeffer, Friedrich 220 Schaeffer, Hermann 475 Schäfer, Dietrich 475 Schaller, Ludwig 216 Schardt, Alois 748 Schaumann, Adolf 478 Schaxel, Julius 772 Scheele, Ludvig Nicolaus von 417 Scheider, Reinhold 273 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von 306 Schieder, Wolfgang 229 Schiller, Friedrich 156, 177, 212, 214 – 217, 222 f., 288 – 297, 309 f., 531, 822 Schiller, Heinrich 656 Schinkel, Karl Friedrich 95 Schlauraff, Günther 709 Schleiden, Karl August 620 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 249, 517 Schlitz, Karl Graf von 355 Schlosser, Friedrich Christoph 477, 480 Schmeizel, Martin 732, 738, 742 f. Schmerling, Anton Ritter von 505 Schmidt, Adolf Wilhelm 120 Schmidt, Adolf 478 Schmidt, Erich 219 Schmitt, Walter 796 Schmoll, Adolf 805 Schmückle, Karl 652, 655

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Personenregister

Schöne, Gerhard 826 Schopenhauer, Arthur 450 Schoppmann, Johann Jakob 372 Schott, Otto 212, 265 Schroeter, Johann 739 Schubert, Friedrich Wilhelm 123 Schüler, Gottlieb Christian 478 Schulthes, Martin Volkmar 568 Schulze-Gaevernitz, Friedrich Gottlob 219 Schünemann, Friedrich 434 Schwabe, Rudolph 124 – 130 Schwarz, Johann Karl Eduard 486 Scott, Walter 155 – 157 Sedlnitzky, Josef von 406, 416 Seebach, Marie 217 Seebeck, Moritz 477 f., 483, 485 – 489 Seffner, Karl 220 Seibt, Gustav 306 f., 309 Seitz, Simon 65 Sello, Friedrich 642 Sembeck, Johann Gottlob Lorenz 37 Sethe, Christoph Wilhelm Heinrich 516 Seuffert, Bernhard 479, 488 Shakespeare, William 156, 214, 217 Siebenpfeiffer, Jacob 362, 364, 369, 385 Siemens, Werner 268 Sieveking, Karl 232 SieyÀs, Emmanuel Joseph 137 Simmel, Hans 792 Simon, Josef 500 Slevogt, Karl 121 Smidt, Johann 348, 354, 356 Smith, Adam 63 Sommer, Gerhard 698 – 701 Sophie, Ghzgn. von Sachsen-WeimarEisenach 212 f., 223 Souchay, Carl 794 Spamer, Otto 188 Speyer, Franziska 248 Speyer, Georg 248 Spohr, Louis 152 f. Sprenger, Balthasar 67 Srbik, Heinrich Ritter von 379 Stahl, Georg Anton von (Bischof von Würzburg) 490

Stämpfli, Robert 809 Stark, Karl Bernhard 486 Stark, Karl Wilhelm 485 Steensgaard, Niels 57 Steffens, Henrik 732 Steinacker, Karl 383 Steinberger, Franz Carl 185 – 187, 189 Steinmetz, Karl Friedrich von 632, 636, 639 Steinschneider, Moritz 410 Stengel, Friedrich Joachim 614 Stephani, Heinrich 188 Stephenson, George 89 Stern, Fritz 174 Sternberger, Dolf 89 Sterzinsky, Georg 699 f., 703 Stigel, Johannes 732 Stöber, Gerhard 696 f., 699 f., 704 – 709 Stock, Christian 683 f. Stockmann, Carl Oswald 451 – 473 Stockmann, Hermann Theodor 461 Stockmann, Johann Christian 456 Stockmann, Wilhelmine Auguste 456 Stolle, Gottlieb 739 Stolzenberg, Fritz 674 Stoy, Karl Volkmar 219, 270 Stoy, Stephan 487 Strauss und Thorney, Lulu von 263, 271 Strauß, David Friedrich 439, 449 Strauß, Franz-Josef 695 Strauss, Salomon 148, 161 Striegnitz, Gustav 452, 465 Stromeyer, Franz 362, 364 Struve, Burkhard Gotthelf 738 f. Struve, Gustav 425 f., 445 f. Stumpff, Johann Andreas 90 Sybel, Heinrich von 491 Sydow, Adolf 517 Tacitus 324 Talleyrand-P¦rigord, Charles-Maurice de Tangl, Michael 804 Tatter, Walter 667 Temple, Philipp 235

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314 – 316

851

Personenregister

Tempsky, Gustav von 235 Tetzel, Jobst 71 Theil, Carl August 774 Theil, Carl Christian Hugo 771 Theil, Carl 771, 774, 794 Theil, Carl 771 – 801 Theil, Elisabeth 771, 800 Theil, Eveline Elisabeth 771, 775 Theil, Helfrid 775 Theil, Natalie 774 Theil, Peter 771 Theil, Thomas 771, 796 Thil, Karl Wilhelm Heinrich Freiherr du Bois du 747 Tholey, Moser von 604, 608 Thomas, Albert 551 Thomasius, Christian 25, 738 Thomasius, Jacob 27 Thon-Dittmer, Freiherr Gottlieb von 415 Tieck, Wilhelm 142 Töpfer, Ulrich 697, 706 Tours, Gregor von 324 Treitschke, Heinrich von 294, 304 Trepesch, Christoph 624 f. Troeger, Heinrich 800 Trott zu Solz, Adam von 250 Trüb, Hans 772, 789 Trygophorus, Ludwig 747, 753 – 758 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 29 Turati, Filippo 543, 550, 552 – 556 Uhland, Ludwig 380 Umbach, Anselm Casimir Wambolt von, Kurfürst von Mainz 563 Usbeck, Karl 653 f. Vaillant, Êdouard 551, 555 Valentin, Veit 404, 416, 420 Val¦ry, Paul 315 Varnhagen von Ense, Karl August Velde, Henry van de 212, 220 Venedey, Jakob 412 Vergil 17 Victor, Gerhard 700

317

Viktor Amadeus, Landgraf von HessenRotenburg 575 f. Viktor I. von Hessen-Rotenburg 575 Viktor II. von Hessen-Rotenburg 575 Virchow, Rudolf 427, 444, 524, 642 Voelcker, Johann Friedrich 362 Vogt, Carl 235 Vogt, Joseph 809 Vöhlin, Konrad 65 f. Voigt, Andreas 242, 258 Voigt, Christian Gottlob von 305 f., 311, 317 Voigt, Georg 258 Volkmar, Karl 219, 657 Vulpius, Christiane 306 f. Wachsmuth, Wilhelm 214, 293 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 142 Wagener, Hermann 319 Wagner, Amalie Christiane 178 Wagner, Antonie 187 f. Wagner, Carl Joseph Ehrenfried 183 Wagner, Christiane Henriette 178 Wagner, Erich Friedrich 190 Wagner, Friedrich Ludwig Leberecht 176, 183 – 189, 191 Wagner, Fritz 190 Wagner, Johann Christian Traugott 178 Wagner, Johann Ehrenfried 178 Wagner, Johann Karl Gottfried 178 – 184, 186, 188 – 190 Wagner, Maria Sophie Amalie 184 Wagner, Richard 88, 133 – 146 Wagner, Wilhelm Benjamin 183 Waitz, Georg 488 Waldeck, Benedikt 435 Waldow-Meinhövel 418 Wangenheim, Karl August Freiherr von 352 – 356 Warlo, Johannes 278 Wassermann, Rudolf 273 f. Watt, James 90 f. Watzdorf, Bernhard von 478, 487 – 489 Weber, Max Maria von 89 f. Weber, Max 19, 507

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852

Personenregister

Wegele, Agnes 485 Wegele, Franz Xaver 475 – 493 Weigel, Erhard 15 – 28, 43, 50 Weinel, Heinrich 778 Weinrich, Karl 675 f. Weis, Eberhard 303 Weiß, Eduard 676 Weiße, Christian Felix 38 Welcker, Carl Theodor 380 f., 383, 385 f. Welsch, Heinrich 804, 807 Welser, Anton 57, 65 Welser, Bartholomäus 57, 63 f., 69 f. Welser, Jacob 66 f. Wendehorst, Alfred 490 Wendler, Paul Franz Anton 184 Wernicke 410 Westergaard, Harald 104 Wiedeburg, Basilius Christian Bernhard 739, 743 f. Wiedeburg, Johann Ernst Basilius 739 Wiedeburg, Tobias 739 Wieland, Christoph Martin 86, 212, 215, 223, 297, 299, 309 f., 316 Wilhelm I., dt. Kaiser 117 f., 121 f., 631, 641, 830 Wilhelm II., dt. Kaiser 549, 562, 153 Wilhelm, Hzg. von Sachsen-Weimar 564 Willms, Johannes 300 Wirth, Johann August 372, 385 Witzleben, Cäsar Dietrich von 537 Witzleben, Hartmann Erasmus von 461 f., 468, 470

Wohl, Fanny 149 Wohl, Henriette 149 Wohl, Jeanette 149 – 161 Wohl, Merle 149 Wohl, Therese 149 Wohl, Wolf David 149 Wohlfeil, Rainer 625 Wojak, Irmtrud 274 Wojytyla, Karol 828 Wolf, Walter 797 f. Wolff, Christian 29, 50 Wolfskehl, Karl 228 Wolfskehl, Marie-Luise 228 Wolzogen, Karl Wilhelm von 305, 308 Wrede, Carl Philipp von 368 Wüpper, Friedrich 666 Xenophon

17

Zahnert 462 Zeiss, Carl 263 Zeller, Eduard 28 Zetkin, Clara 546 Ziehen, Julius 242 Ziehme, Alwin Gotthilf 616 – 619 Zimmermann, Eduard 698 Zinn, Georg August 683 – 693 Zollikofer, Georg Joachim 38 Zucker, Friedrich 797 – 800

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